Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Steuersenkungsgesetz, das wir heute hier
verabschieden werden, ist der Ausdruck einer verantwortungsvollen und zukunftsweisenden Steuerpolitik. Wir
sollten alle daran mitwirken, dass es am 1. Januar 2001 in
Kraft treten kann;
({0})
denn die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft
brauchen Klarheit über die Rahmenbedingungen für die
nächsten Jahre. Sie müssen wissen, wo es langgeht. Das
Steuersenkungsgesetz ist der Höhepunkt der bisherigen
steuerpolitischen Reformvorhaben dieser Bundesregierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit.
({1})
- Herr Repnik, das Steuersenkungsgesetz ist ein Steuerentlastungsgesetz für alle Steuerpflichtigen, nicht nur für
eine bestimmte Klientel.
({2})
- Sie machen mich ja jetzt richtig wach. - Es entlastet Private und die Wirtschaft. Das Steuersenkungsgesetz ist
aber vor allem ein Gesetz für den Mittelstand.
({3})
Das Steuersenkungsgesetz wird einen wichtigen Beitrag zum Aufschwung und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten. Wir werden die Arbeitslosigkeit
Schritt für Schritt zurückführen. Dabei hilft uns auch dieses Steuersenkungsgesetz.
({4})
Weil es nicht nur auf die Steuern ankommt, müssen
viele andere Maßnahmen wie die Qualifizierung, die Neugründung von Unternehmen und auch die Rundumerneuerung des traditionellen Mittelstandes hinzukommen.
Es darf nicht nur die „new economy“, sondern es muss
auch die „old economy“ in den Blick genommen werden.
Die Bedingungen für Angebot und Nachfrage müssen
verbessert werden. Die Vielfalt bringt es, nicht die Einfalt
ideologischer Betrachtung, die sich auf den Spitzensteuersatz konzentriert.
({5})
Durch die Steuerpolitik der Koalition werden die Steuerzahler im Zeitraum von 1998 bis 2005 um rund 75 Milliarden DM entlastet. Davon entfallen auf Private rund 55
Milliarden DM und auf den Mittelstand rund 20 Milliarden DM. Die Wahrheit ist nämlich, meine Damen und
Herren: Wir hatten in der Ära Kohl/Waigel eine Schieflage zwischen kleinen und mittleren Betrieben einerseits sowie größeren Unternehmen andererseits. Wir sind
Präsident Wolfgang Thierse
dabei, diese Schieflage zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen zu korrigieren. Das machen wir mithilfe
dieses Steuersenkungsgesetzes.
({6})
Allein das heute zu verabschiedende Gesetz hat ein
Entlastungsvolumen in Höhe von rund 45 Milliarden DM.
Der Mittelstand profitiert davon mit rund 14 Milliarden
DM. Diese Zahlen sprechen für sich und widerlegen die
abwegigen Behauptungen der Opposition, wir würden
eine mittelstandsfeindliche Politik machen. Richtig ist dagegen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen durch
das Steuersenkungsgesetz massiv entlastet werden.
({7})
Das wäre aber nicht der Fall, wenn man - wie das die
Opposition macht - seine ganze Kraft allein auf die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent konzentrieren würde. Den Spitzensteuersatz erreichen die meisten
Mittelständler in Deutschland nämlich überhaupt nicht.
({8})
Der größte Teil wäre froh, wenn seine Einkünfte so hoch
wären, dass er den Spitzensteuersatz zahlen müsste.
Was ist das eigentlich für eine Volkspartei CDU/CSU,
die die Höhe des Spitzensteuersatzes zur zentralen Frage
der deutschen Innenpolitik macht?
({9})
Das zeugt von einem Realitätsverlust, denn die Realität ist
eine andere: Rund zwei Drittel der deutschen Personenunternehmen zahlen keine Gewerbesteuer, das heißt, dass
ihr Gewinn unter der Freibetragsgrenze in Höhe von
48 000 DM liegt. Ich frage Sie: Was nützt in diesen Fällen eine Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer? Ein noch niedrigerer Spitzensteuersatz
nützt Privaten mit hohen und höchsten Einkommen, aber
nicht den Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten Sie die Leute nicht hinters
Licht führen.
({10})
Das Gros der Unternehmen, also die nicht gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen, können deshalb nur
durch eine Senkung im unteren Bereich der Einkommensteuer entlastet werden, und genau das tun wir schwerpunktmäßig mit dem Steuersenkungsgesetz. Das ist übrigens angesichts der Struktur, mit der wir es dort zu tun haben, für ostdeutsche Unternehmen besonders günstig.
({11})
Wir erhöhen den Grundfreibetrag bis 2005 in Stufen
auf rund 15 000 bzw. 30 000 DM und senken den Eingangssteuersatz in diesem Zeitraum schrittweise auf
15 Prozent ab und - das ist besonders wichtig für die kleinen und damit die Mehrzahl der Unternehmen -: Wir ziehen die Stufe 3 des Steuerentlastungsgesetzes mit einem
Gesamtentlastungsvolumen von über 27 Milliarden DM
um ein Jahr auf den 1. Januar 2001 vor.
({12})
Die davon begünstigten Unternehmen können sich also
schon Anfang des nächsten Jahres auf steuerliche Entlastungen freuen.
Die Unternehmen, die mehr als 48 000 DM Gewinn
haben und daher gewerbesteuerpflichtig sind, werden
selbstverständlich auch durch die allgemeine Senkung der
Einkommensteuer entlastet. Außerdem werden sie ab
2001 faktisch von der Gewerbesteuer befreit.
Weil Sie so lebhaft sind, Herr Waigel: Bei Ihnen konnte
man von dem, was wir heute hier beschließen, nur träumen. Das muss man doch wohl einmal deutlich feststellen.
({13})
Wer so viel steuerpolitischen Murks gemacht hat wie Sie
und einen so gigantischen Schuldenberg hinterlassen hat,
der sollte heute Morgen hier ganz ruhig sein.
({14})
Wir befreien diese Unternehmen also faktisch von der
Gewerbesteuer. Wir erreichen das durch eine Möglichkeit
zur pauschalen Verrechnung der Gewerbesteuer mit der
Einkommensteuer.
Die von uns gewählte Konstruktion hat den Vorteil,
dass die Gewerbesteuer kein Kostenfaktor für die Betriebe mehr ist, die Gewerbesteuer aber andererseits als
Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen erhalten bleibt,
und das ist wichtig. Wir wollen die Investitionsfähigkeit
der Kommunen erhalten, denn das ist wichtig für Mittelstand, Handwerk und mittelständische Unternehmen.
({15})
Das ist bei den Vorschlägen der Union nicht der Fall.
Ihre Vorschläge greifen in den Bestand der Gewerbesteuer
ein. Das ist eine Politik, die keine Rücksicht auf die Belange unserer Städte und Gemeinden nimmt, und die machen wir nicht mit.
Nicht nur den Gewerbetreibenden, auch Ärzten,
Rechtsanwälten, also Freiberuflern, bieten wir schließlich
an, sich wie eine Kapitalgesellschaft besteuern zu lassen.
({16})
Diese Option ist nur ein Angebot.
({17})
Das Angebot richtet sich vor allem an diejenigen, die
durch eine Option ihre durchschnittliche Einkommensteuerlast senken können. Wenn die durchschnittliche
Einkommensteuerbelastung höher als 38,6 Prozent liegt,
dann lohnt sich rechnerisch eine Option; denn 38,6 Prozent beträgt die Durchschnittssteuerlast - Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer - von Kapitalgesellschaften. Einen durchschnittlichen Steuersatz von
38,6 Prozent erreicht ein Personenunternehmen aber erst
bei einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 DM
bzw. 400 000 DM. Das heißt, 95 Prozent aller Steuerpflichtigen haben Einkünfte von unter 250 000 DM. Für
diese aber ist die Gleichbehandlung mit Körperschaften,
also eine Option, kein Thema.
Es wäre aber verantwortungslos, wenn die Opposition
mit einer Fundamentalablehnung des Optionsmodells
({18})
diejenigen 5 Prozent, die durch eine Option steuerliche
Vorteile haben, brüskieren würde. Wir halten jedenfalls an
diesem Modell auch im Vermittlungsverfahren fest; denn
wir wollen eine Steuerreform, die alle entlastet, kleine,
mittlere und große Unternehmen.
({19})
Sie sind übrigens gut beraten, das Steuersenkungsgesetz
nicht abzulehnen, denn außer Ihren ideologischen Vorurteilen haben Sie gar keinen Grund dafür.
({20})
Ich habe nachgewiesen, dass der Vorwurf falsch ist, das
Gesetz benachteilige den Mittelstand. Dass das Gesetz
auch Großunternehmen begünstigt, werfen Sie uns ja fast
schon vor, und dass wir Private mit einem Volumen von
über 23 Milliarden DM entlasten und damit die im
Steuerentlastungsgesetz begonnene Trendwende für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fortsetzen, kann ja auch wohl von Ihnen nicht ernsthaft kritisiert werden, meine Damen und Herren.
({21})
- Das wird von Ihnen überhaupt nicht zu bestreiten sein,
Herr Thiele, obwohl Sie bekanntermaßen sehr kunstreich
im Verbiegen der Wahrheit sind.
({22})
Der Oppositionsführer hat am Donnerstag letzter Woche anlässlich der Debatte zur Regierungserklärung des
Bundeskanzlers wieder einmal erfolglos versucht, mit
Halbwahrheiten von der erfolgreichen Politik der Koalition abzulenken. Friedrich Merz hat erstens gesagt, dass
in Verantwortung dieser Bundesregierung im Laufe des
Jahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastung auf einen
neuen Höchststand gestiegen ist. Richtig ist: Die Regierung Kohl ist im September 1998 abgewählt worden. Bis
zu diesem Zeitpunkt, also bis 1999, ist sie aber auch noch
für die rechtlichen Rahmenbedingungen verantwortlich,
die zu dem von Herrn Merz zitierten Höchststand der Belastung geführt haben.
({23})
Es gehört schon viel Unverfrorenheit dazu, einer Regierung, die nach 16 Jahren Opposition
({24})
erst Ende 1998 die Regierung übernommen hat, die volle
Verantwortung für Abgaben- und Steuerbelastungsquoten
im Jahre 1999 zuzuschieben.
({25})
- Die deutsche Einheit hat nichts damit zu tun, dass man
mit Zahlen nicht manipulieren soll, wie das Herr Merz getan hat. Was hat das mit der deutschen Einheit zu tun?
({26})
Zweitens - und das ist noch gewichtiger - hat Herr
Merz verschwiegen, dass ab dem Jahre 2000 sowohl die
Staatsquote als auch die Steuer- und Abgabenlast wieder
sinkt, und zwar stetig und nachhaltig. Alle Berechnungen
und Prognosen zeigen das. Das Sinken der Staatsverschuldung und der Abgabenquote, Herr Merz, ist die
Folge der von uns zu verantwortenden Politik. Dafür sind
wir dann in der Tat verantwortlich.
({27})
Unsere Steuerpolitik beginnt, Früchte zu tragen. Wenn
der neue stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der
CDU/CSU, Rauen, Ende April die Menschen Glauben
machen wollte, die vom Finanzministerium errechneten
Entlastungen für Arbeitnehmer und Mittelstand seien nur
vorgegaukelt und damit falsch, so hat auch er manipuliert.
Herr Rauen hat künftige Lohnsteigerungen in eine Beispielsrechnung einbezogen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Steuerlast der Betroffenen entgegen den Berechnungen des Bundesfinanzministeriums überhaupt
nicht sinkt. Herr Rauen vergleicht aber nicht die Steuerlast auf ein gleich hohes Einkommen im Jahre 2000 und
im Jahre 2005. Das allein wäre aber der Maßstab für einen seriösen Vergleich. Herr Rauen wirft uns also vor,
dass ein Arbeitnehmer, der heute zum Beispiel 50 000 DM
verdient und in fünf Jahren aufgrund von Lohnsteigerungen mehrere tausend DM mehr verdient, im Jahr 2005
die gleichen Steuern zahlt wie heute. Mit diesem Vorwurf
können wir gut leben, Herr Rauen.
({28})
Die entscheidende Frage ist doch, was der betroffene Arbeitnehmer im Jahre 2005 ohne unsere Steuersenkung
zahlen müsste. Weil Sie keine Argumente haben, greifen
Sie zu solchen Tricks, um die Bevölkerung zu verunsichern. Das ist nicht nur unseriös, das zeigt Ihre ganze
Hilflosigkeit.
({29})
Unseriös ist auch Ihr Gesamtkonzept, das zustande gekommen ist, weil der bayerische Professor Faltlhauser
Herrn Merz, den Sauerländer - nichts gegen Sauerländer;
ich schätze sie ansonsten sehr -, über den Tisch gezogen
hat.
({30})
- Auch nach dem 14. Mai. Im Sauerland haben wir für unsere Verhältnisse ganz gut abgeschnitten, falls Sie sich
Sorgen machen, Herr Thiele.
({31})
Die von Ihnen veranschlagten Steuerausfälle in Höhe
von 50,5 Milliarden DM bis 2003 nimmt Ihnen keiner ab.
({32})
Allein der von Ihnen vorgeschlagene Einkommensteuertarif für 2003 würde nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums gegenüber dem geltenden Recht zu
Steuerausfällen in der Größenordnung von 76,5 Milliarden DM führen. Das ist die ganze Wahrheit. Sie wissen,
dass das nicht zu finanzieren ist. Sie arbeiten an einem
steuerpolitischen Wolkenkuckucksheim. Kehren Sie mal
zur Realität der harten Zahlen zurück!
({33})
Versuchen Sie nicht nur, mit der Schokoladenseite schöner Steuertarife eine Welt vorzugaukeln, in der wir nicht
leben!
({34})
Ihre Vorschläge zur Gegenfinanzierung sind ebenfalls
nicht seriös. Sie schimpfen über maßvolle Steigerungen
bei der Mineralölsteuer, wollen den Autofahrern aber die
Kilometerpauschale für die ersten 15 Entfernungskilometer ganz und darüber hinaus teilweise streichen,
({35})
wohl wissend, dass die Entfernung zwischen Wohnung
und Arbeitsstätte bei der Mehrzahl der Pendler weniger
als 15 Kilometer beträgt. Das ist Ihre Politik: Steuerentlastung für Spitzenverdiener, Steuererhöhung für Arbeitnehmer durch die Hintertür.
Wir haben einen anderen Ansatz, den wir heute durchsetzen werden. Wir betreiben Steuerpolitik auf der Basis
seriöser Berechnungen.
({36})
Daran ändert auch die heutige Steuerschätzung nichts, die
nur geltendes Recht berücksichtigt. Die Steuermindereinnahmen, die durch das Steuersenkungsgesetz verursacht
werden, und die Steuerausfälle, die es im Jahr 2002 durch
den Familienleistungsausgleich und durch die Neuregelung der Besteuerung der Altersvorsorge - um nur einige
Punkte zu nennen - noch geben wird, dürfen nicht vergessen werden.
Die Einnahmen aus der Ökosteuer werden zur Senkung des Rentenbeitrags genutzt. Auch dadurch werden
die Steuerzahler entlastet. Wer jetzt trotzdem aufgrund der
positiven Schätzwerte wieder reflexartig - wie zum Beispiel Herr Thiele - weitere Steuersenkungen fordert, der
lässt die finanzpolitischen Zusammenhänge von Haushaltsfinanzierung und Kreditaufnahme außer Acht.
({37})
Wer im Übrigen wie CDU/CSU und F.D.P. eine so gigantische Staatsverschuldung hinterlassen hat, sollte sich
mit solchen Vorschlägen zurückhalten, die Mehrausgaben
oder einen weiteren Einnahmeverzicht bedeuten. Er sollte
schweigen, wenn er aus der Vergangenheit, so wie Sie,
Herr Waigel, offenkundig nichts gelernt hat.
({38})
Wir können die Steuern auch dann nicht erhöhen, wenn
die Schätzungen einmal nach unten tendieren. Deshalb ist
der Vorwurf, die positiven Schätzzahlen belegten, dass
wir die Steuern nicht senkten, sondern erhöhten, nichts als
dummes Geschwätz.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition
halten unbeirrt an einem politischen Ziel fest, nämlich auf
seriöse Art und Weise Haushaltskonsolidierung und Senkung von Steuern und Abgaben gleichzeitig zu erreichen.
Diese Strategie wurde im Frühjahrsgutachten hoch gelobt
und zeigt zunehmend Wirkung: Die Arbeitslosenzahl
sinkt stetig. Das Wirtschaftswachstum gewinnt an Dynamik. Einzig und allein eine solide Haushaltswirtschaft ermöglicht uns mittel- und langfristig massive Steuerentlastungen mit Konjunktur stimulierender Wirkung. Steuerentlastungen auf Pump haben den gegenteiligen Effekt
und sind vor den nachkommenden Generationen nicht
verantwortbar; denn Steuersenkungen auf Pump sind die
Steuererhöhungen der Zukunft. Das ist mit uns nicht zu
machen.
({39})
Das Markenzeichen dieser Koalition - das ärgert Sie;
das merkt man auch heute Morgen wieder ({40})
ist eine nachhaltige Finanzpolitik der ruhigen Hand und
nicht eine verantwortungslose Finanzpolitik der leichten
Hand, für die Sie gestanden haben. Die Menschen wissen
inzwischen, auf wen sie sich verlassen können.
({41})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Poß, es ist wahr: Wir
brauchen dringend eine durchgreifende große SteuerJoachim Poß
strukturreform. Darüber sind wir uns einig. Aber damit
sind unsere Gemeinsamkeiten angesichts dessen, was Sie
eben ausgeführt haben, auch schon weitestgehend erschöpft.
({0})
Mir ist aufgefallen, dass Sie erstaunlich lange über den
Mittelstand gesprochen haben. Ich werde dies ebenfalls
tun. Nur, im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich etwas davon.
({1})
Mir ist auch aufgefallen, dass Sie praktisch überhaupt
nicht über die Entlastung der Arbeitnehmer durch die geplante Steuerreform gesprochen haben.
({2})
Die größte Steuerreform aller Zeiten, wie Sie sie nennen, mit einer angeblichen Entlastung von 74,6 Milliarden DM ist in großen Teilen ein steuertechnischer Trick
und der untaugliche Versuch, die Steuerzahler zu täuschen. In Ihrem Zahlenspiegel listen Sie Preise, Löhne
und Gehälter von 1998 und 1999 sowie die Einkommensteuertarife auf, die in den Jahren 1999, 2001, 2003 und
am Sankt-Nimmerleins-Tag 2005 in Kraft treten. Sie unterschlagen in Ihren Berechnungen, dass in diesen sieben
endlosen Jahren, die Ihr Reformpaket benötigt, bis auch
seine letzte Stufe in Kraft getreten ist, die Inflation gestiegen sein wird, dass Löhne und Gehälter gestiegen sein
werden und dass dadurch die Grenz- und Durchschnittssteuerbelastung der Arbeitnehmer und der Unternehmer
stetig gestiegen sein werden.
({3})
Herr Poß, dass Sie meine Berechnungen angezweifelt
haben, zeigt mir, dass Sie immer noch nicht kapiert haben,
dass es nicht einen anonymen Arbeitnehmer gibt, der in
den nächsten fünf, sechs oder sieben Jahren das gleiche
Gehalt erhält. Er hat Lohnsteigerungen und kommt ständig in eine höhere Progression.
({4})
- Herr Poß, die Entlastungen in Höhe von 35,2 Milliarden DM durch den Tarif 2003 und 2005 werden durch die
heimlichen Steuererhöhungen, das heißt durch die kalte
Progression, fast vollständig aufgefressen.
Im Einkommensteuertarif 2005 wird der Spitzensteuersatz bei einem zu versteuernden Einkommen von
98 000 DM erreicht.
({5})
Ein großer Teil der deutschen Facharbeiter in der Steuerklasse I kommt in die Nähe des Spitzensteuersatzes bzw.
erreicht diesen. Von 1 DM Lohnerhöhung kassieren dann
der Fiskus 45 Pfennig und die Sozialversicherungskassen 21 Pfennig, sofern die Beiträge bis dahin stabil bleiben. Das heißt, von 1 DM Lohnerhöhung bleiben dem Arbeitnehmer dann noch ganze 34 Pfennig. Das ist gerade
ein Viertel der Kosten, die sein Arbeitgeber aus dieser
D-Mark Lohnerhöhung hat.
Wer vor diesem Hintergrund glaubt, dass diese Reformschritte wachstums- und beschäftigungsfreundlich
sind und dass damit die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb sowie im Kampf gegen die Schwarzarbeit bestehen kann, ist ein hoffnungsloser Träumer.
({6})
Herr Kollege Rauen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Bitte schön, Herr Poß.
Herr Kollege Rauen, würden
Sie auch gegenüber der Öffentlichkeit bestätigen, dass das
Problem der so genannten heimlichen Steuererhöhungen,
das Sie hier beschrieben haben, bei einem progressiven
Tarif immer gegeben ist und dass nach der Verabschiedung des Steuersenkungsgesetzes bei den von Ihnen genannten Beispielfällen den Arbeitnehmern auch bei gestiegenem Einkommen im Jahre 2005 viel mehr in der
Lohntüte bleibt - auch wenn wir alle Beispielfälle durchrechnen -, sodass ihre Durchschnittssteuerbelastung und
ihre Grenzsteuerbelastung im Jahre 2005 noch deutlich
niedriger sind als im Jahre 2000?
({0})
Herr Poß, ich bin Ihnen für
diese Frage sehr dankbar. Ich bestätige Ihnen gerne, dass
es die heimlichen Steuererhöhungen immer gegeben hat
und dass alle Finanzminister - auch unserer Regierung bei diesen Berechnungen diese kalte Progression verschwiegen haben.
({0})
Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied, Herr
Poß: Vor 1950 wurde der Spitzensteuersatz erst beim
12,5-fachen und vor zehn Jahren beim 3,5-fachen der
durchschnittlichen Erwerbseinkommen erreicht.
({1})
Falls Ihre Reform umgesetzt wird, wird der Spitzensteuersatz bereits beim 1,2-fachen des durchschnittlichen
Einkommens erreicht.
({2})
Der steile Progressionsverlauf trifft dann die Leute
immer stärker. Das ist die Wahrheit! Wer einen solchen
Tarifverlauf will, provoziert im Kern, dass die heimlichen
Steuererhöhungen immer stärker zunehmen. Das müssen
Sie einfach zur Kenntnis nehmen.
({3})
Die Behauptung, die Arbeitnehmer hätten nach Ihrem Tarif mehr in der Tasche, ist wirklich blanker Unfug. Ich
habe Gott sei Dank noch die Fähigkeit, eine simple Lohnabrechnung zu verstehen; diese Fähigkeit haben Sie offenbar nicht mehr.
({4})
Ich verstehe ja Ihre Unruhe. Ihre Berechnungen sind
falsch und irreführend und sie werden auch durch ständiges Wiederholen nicht besser. Ich brauche für meine Ausführungen nicht die makroökonomischen Daten des Finanzministeriums. Mir reichten die Steuertabelle, die Sie
dankenswerterweise den Gesetzentwürfen beigeheftet haben, und die simple Kenntnis einer Lohnabrechnung.
Ich wiederhole es: Ein Facharbeiter in der Steuerklasse I, der im Jahr 2001 ein Jahreseinkommen von
70 000 DM zu versteuern hat, wird feststellen, dass sein
Durchschnittssteuersatz von 23,81 Prozent nach dem Tarif 2001 auf 24,15 Prozent nach dem Tarif 2005 ansteigen
wird und dass er - unterstellt, er hat in fünf Jahren nur jeweils 2,5 Prozent Lohnerhöhung - in den fünf Jahren
2 490 Mark mehr Steuern bezahlen wird, als er nach dem
Tarif 2001 bezahlen müsste.
({5})
Ich will noch ein weiteres Beispiel anführen: Wenn
dieser Facharbeiter verheiratet ist und seine Ehefrau
3 300 Mark verdient - das Einkommen also nach der
Splitting-Tabelle besteuert wird -, steigt sein Durchschnittssteuersatz im Jahr 2005 gegenüber 2001 von
20,49 Prozent auf 20,64 Prozent und damit seine Steuerzahlung um 3 132 DM.
Ich will die Beispiele aus der Steuertabelle komplettieren, Herr Eichel, damit Sie sehen, dass ich auch das anrechne, was Ihnen zugute gehalten werden kann: Nur
wenn die-ser Facharbeiter Alleinverdiener mit Steuerklasse 3 ist, dann sinken sein Durchschnittssteuersatz von
14,78 auf 14,58 Prozent und seine Steuerzahlung pro Jahr
um 1 200 DM.
Meine Damen und Herren, bei einem Einkommensteuertarif nach unserem Gesetzentwurf hat der ledige
Facharbeiter mit einem zu versteuernden Jahreslohn von
70 000 DM in den Jahren 2001 und 2002 monatlich
86 DM mehr, in den Jahren 2003 und 2004 monatlich
255 DM mehr und selbst im Jahre 2005 gegenüber Ihrem
glorreichen Tarif monatlich 229 DM mehr. Um diese
Nettolohnerhöhung ohne unseren Einkommensteuertarif
zu erzielen, müsste dieser Facharbeiter in den Jahren
2003, 2004 und 2005 jährlich eine Lohnerhöhung von
11 bis 12 Prozent bekommen. Damit wird deutlich, welch
enorme Spielräume auch die Tarifpartner durch eine endlich durchgreifende Tarifreform bekämen.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn am Ende der Rentenkonsensgespräche feststehen wird, dass es zukünftig ohne
kapitalgedeckte Eigenvorsorge nicht gehen wird, dann
muss auch von hier die Frage erlaubt sein, wovon denn die
Arbeitnehmer die Beiträge zur Finanzierung dieser kapitalgedeckten Eigenvorsorge bezahlen sollen.
({7})
Ich weiß, dass die Regierung diese nackten Wahrheiten
einer simplen Lohnabrechnung nicht gerne hört. Aber
vielleicht machen sie doch den einen oder anderen von Ihnen, der aus dem Gewerkschaftslager kommt, nachdenklich. Jedenfalls kann ich jetzt gut verstehen, dass die Bundesregierung plant, die amtlichen Steuertabellen abzuschaffen.
Herr Finanzminister Eichel, Sie wollen in Wahrheit
überhaupt nicht die Staatsquote senken, weil Sie offenbar nicht bereit sind, über den Einkommensteuertarif
Arbeitnehmer, Unternehmer und Unternehmen zu entlasten. Es ist bezeichnend, dass im ersten vollen Jahr der
Schröder-Regierung, 1999, die Staatsquote um einen
vollen Prozentpunkt und die Steuer- und Abgabenquote
auf die Rekordhöhe von 43,7 Prozent gestiegen sind.
({8})
Sie befinden sich jedoch in guter Tradition mit den Vorvorgängern in den 70-er Jahren, Herr Eichel. Von 1969 bis
1983 stieg die Staatsquote in Deutschland von 39 auf
51 Prozent.
({9})
Sie sind offenbar wie Ihre Vorvorgänger der Auffassung, dass im Zweifelsfall der Staat besser weiß, was für
den Einzelnen gut ist, als der Einzelne selbst. Mehr Beschäftigung in Deutschland werden wir aber nur bekommen, wenn den arbeitenden Menschen mehr Geld zur eigenen Entscheidung verbleibt, wie es in der ersten Hälfte
der Regierungszeit unter Helmut Kohl war, als die Staatsquote um 5 Prozent sank und von 1983 bis zur deutschen
Wiedervereinigung in den alten Bundesländern 3 Millionen zusätzliche steuer- und versicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden sind.
({10})
Aber auch mit der Unternehmensteuerreform stehen
Sie, Herr Eichel, in guter Tradition mit Ihrem direkten
Vorgänger Lafontaine. Seine ideologisch belasteten Vorstellungen wollen Sie jetzt umsetzen. Ich sage bewusst
„wollen“, weil die Union in großer Einigkeit in Bund und
Ländern dies im Bundesrat nicht mitmachen wird.
({11})
Sie wollen Unternehmen entlasten, nicht aber die Unternehmer. Sie wollen Gewinne, die im Betrieb verbleiben,
in der Annahme begünstigen, dass dadurch mehr Arbeitsplätze geschaffen würden. Damit maßen Sie sich genau
wie Lafontaine an, selektiv zu entscheiden, was gute und
schlechte Einkommen sind.
Ich empfehle Ihnen, Herr Eichel, die Berechnungen der
Deutschen Bundesbank über die Vermögensbildung
und die daraus abgeleiteten Investitionen der deutschen
Wirtschaft im Jahre 1998 nachzulesen. Ich möchte Sie
jetzt mit diesen Zahlen nicht beschäftigen; sie waren gestern auch im „Handelsblatt“ nachzulesen. Ich gehe jedoch
davon aus, Herr Eichel, dass Sie Ihrem ehemaligen Finanzminister und heutigem Bundesbankpräsidenten noch
glauben.
Die Schlussfolgerung aus diesem Bericht der Deutschen
Bundesbank ist eindeutig: Wer Investitionen und damit
Arbeitsplätze fördern will, darf sich mit der steuerlichen
Förderung nicht auf unternehmensinterne Ersparnisse beschränken. Die Fremdfinanzierung über den Kapitalmarkt
muss ebenfalls durch eine Senkung der Steuerlast auf Ersparnisse gefördert werden. Das gilt besonders für den
Mittelstand, der die Arbeitsplätze schafft und leider im
Vergleich zu Unternehmen, die Kapital auf dem Parkett
der Börsen beschaffen können, eine sehr schwache Eigenkapitalquote hat und auf Fremdfinanzierung angewiesen ist. Sparen können die Leute aber nur, wenn ihnen von
ihrem schönen Bruttolohn bzw. -gehalt und ihrem Gewinn
netto nach Steuern wieder mehr in der Tasche verbleibt.
({12})
Ich halte es, mit Verlaub gesagt, für blanken Unfug und
für volkswirtschaftlich äußerst bedenklich, wenn in einer
Zeit, in der sich Wissen alle fünf Jahre verdoppelt und
Schnelligkeit entscheidet, wer in Zukunft die Märkte beherrscht, Kapital in bestehende Strukturen eingemauert
wird.
({13})
Bei der Unternehmensteuerreform berufen Sie sich auf
die Zustimmung der Wirtschaftsverbände. Denjenigen,
die nicht zustimmen und Beifall klatschen, wie dem Zentralverband des Deutschen Handwerks,
({14})
der mit 7 Millionen Arbeitnehmern immer noch mehr
Mitarbeiter hat, als in der Industrie beschäftigt sind, haben Sie den Krieg erklärt.
({15})
Ich kann das ursprüngliche Verhalten der Verbände gut
verstehen. Nachdem 1997 die große Steuerreform in einer
unverantwortlichen Art und Weise aus rein machtpolitischen Gründen
({16})
von Lafontaine verhindert wurde, die Unternehmen von
Ihrer Regierung in den Jahren 1999 und 2000 nur belastet
wurden
({17})
und die Unternehmensteuerreform ohnehin erst ein Jahr
später kommt als versprochen, sind die Verbände froh,
dass überhaupt etwas passiert. Ihnen ist der Spatz in der
Hand lieber als die Taube auf dem Dach.
Ich gebe zu, dass ich als Unternehmer früher genauso
gedacht habe. Nur, Herr Eichel, täuschen Sie sich nicht,
der Beifall ist längst verhallt. Uns gegenüber äußern die
gleichen Verbände heute drei Wünsche: Erstens. Blockiert
um Gottes Willen die Reform nicht!
({18})
Zweitens. Lasst für die Kapitalgesellschaften nach Möglichkeit alles so, wie im Regierungsentwurf vorgesehen!
Drittens. Setzt euch in Bezug auf die Personengesellschaften mit eurem Konzept durch! Das ist zusammengenommen zwar unpolitisch, aber verständlich pragmatisch
gedacht.
({19})
Meine Damen und Herren, blockieren werden wir die
Reform nicht. Wir wissen allzu sehr, wie dringend notwendig sie ist, damit die größte Wirtschaftsnation in Europa wieder zum Motor für Wachstum und Beschäftigung wird, statt Schlusslicht zu bleiben, und der außenwirtschaftlich bedingte Konjunkturaufschwung durch
eine bessere Binnenkonjunktur an Fahrt gewinnt. Der
schwache Außenwert des Euro verbietet es jeder verantwortungsbewussten Partei in Deutschland, Reformen zu
behindern.
({20})
Auch wir wollen die Kapitalgesellschaften nicht
schlechter stellen als im Regierungsentwurf. Aber eines
möchte ich doch sagen: Als ich davon hörte, dass der Verkauf von Kapitalbeteiligungen völlig steuerfrei gestellt
würde, habe ich das zunächst nicht glauben wollen. Die
begünstigten Banken, Versicherungen und Konzerne
übrigens auch nicht. Ich hätte gerne das Geschrei und
in diesem Hause von Gewerkschaftsvertretern gehört,
wenn wir das gemacht hätten.
({21})
Zugleich sage ich als Unternehmer auch ganz deutlich:
Wenn es so gelingt, die Deutschland AG endlich aufzulösen, wenn so unüberschaubares Beteiligungsgeflecht
durchschaubar wird und sich die im weltweiten Wettbewerb stehenden Konzerne auf Kernbereiche konzentrieren, indem sie Beteiligungen abstoßen, die anderswo effizienter eingesetzt werden, kann man dagegen nichts haben. Nur eines geht nicht, meine Damen und Herren: Sie
können nicht beim Verkauf von Kapitalbeteiligungen die
Steuerbelastung von 100 Prozent auf Null zurückfahren
und gleichzeitig Personengesellschaften, die genauso umstrukturieren müssen, um Zukunft zu gewinnen, mit einem lächerlichen Freibetrag von 100 000 DM abspeisen.
Da brauchen wir wirklich eine Gleichheit der Kampfmittel, um Zukunft zu gewinnen.
({22})
Ich will eines ganz klar sagen, Herr Eichel: Sie sollten
sich im Nachhinein schämen, dass Sie im letzten Jahr
für die Mittelständler, die ihren Betrieb aus Altersgründen verkaufen und den Erlös zur Alterssicherung brauchen, die Steuerbelastung verdoppelt, also von 50 auf
100 Prozent hochgetrieben haben. Andererseits gab es
Entlastungen von 100 auf 0 Prozent. So kann es einfach
nicht gehen!
({23})
Die Reform, die Sie heute mit Ihrer Mehrheit beschließen werden und die wir ablehnen, ist für Personengesellschaften, für die mittelständischen Unternehmer
und für Freiberufler nicht nur untauglich, nein, sie ist vor
dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung
unabhängig von der Herkunft des Einkommens und seiner Verwendung diskriminierend. Wer den Mittelstand in
Deutschland entlasten will, muss auch den Unternehmer
entlasten. Das geht nur über den Einkommensteuertarif,
nicht nur hinsichtlich des Spitzensteuersatzes, sondern
auch hinsichtlich des Tarifverlaufs. Die obere Proportionalzone darf erst viel später erreicht werden.
Um überhaupt behaupten zu können, auch den Mittelstand entlasten zu wollen, haben Sie in Ihrem Entwurf Herr Poß spricht immer sehr beredt davon - zwei Krücken
eingebaut, auf die Sie sich spätestens nach der Anhörung
der Sachverständigen nicht mehr stützen können. Das Optionsmodell ist untauglich
({24})
und die teilweise Anrechnung der Gewerbeertragsteuer ist
verfassungsrechtlich bedenklich und für Freiberufler ohnehin völlig unwirksam.
({25})
Ich kann Ihr Gerede, dass auch der Mittelstand entlastet
würde, beim besten Willen nicht mehr hören. Er wird belastet und nicht entlastet.
({26})
Diese Feststellung bleibt wahr, auch wenn Sie ständig das
Gegenteil behaupten.
({27})
- Herr von Larcher, ich weiß es wirklich besser.
Dass es keinen Sinn hat, mit Ihnen darüber zu streiten,
wurde mir endgültig klar, als ich vor einer Woche die Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder er ist mittlerweile anwesend - hörte. Herr Schröder, Sie
haben ausgeführt, dass circa 1 650 000 Betriebe einen zu
versteuernden Gewinn von unter 50 000 DM und etwa
345 000 Betriebe einen Gewinn zwischen 50 000 und
100 000 DM hätten. Sie sagten ferner, dass diese Betriebe
nur durch den Grundfreibetrag und durch eine Senkung
des unteren Tarifverlaufs entlastet werden könnten, weil
sie nicht in die Nähe des Spitzensteuersatzes kämen. Herr
Bundeskanzler, Sie mögen ja Ahnung von VW und Holzmann haben, aber vom deutschen Mittelstand haben Sie
keine Ahnung.
({28})
Erstens. Ihre Zahlen, die richtig sind, stammen aus der
Umsatzsteuerstatistik von 1996.
({29})
Zweitens. Der Gewinn dieser Firmen wird durch die
geänderten Gewinnermittlungsvorschriften und durch die
verschlechterten Abschreibungsbedingungen unter Ihrer
Regierung automatisch wesentlich höher belastet, erst
recht, wenn noch die neuen, unerträglich verschlechterten
AfA-Tabellen gelten.
({30})
Drittens. Herr Schröder, Sie unterstellen, dass ein
Selbstständiger wie ein Arbeitnehmer Jahr für Jahr etwa
das gleiche Einkommen hat. Ich bin 34 Jahre als Selbstständiger tätig und war mit meinem Einkommen schon in
jeder Rubrik der Umsatzsteuerstatistik vertreten: schöne
hohe Gewinne, schmerzliche Verluste und Jahre, in denen
es gerade so aufgegangen ist. Ich habe am Jahresanfang
nie gewusst, was am Jahresende herauskommt. Ich will
Ihnen eines sagen - deshalb ist das Optionsmodell so völlig untauglich -: In guten Jahren rechnet es sich; in
schlechten Jahren schießt man sich damit selbst ins Knie,
({31})
ganz zu schweigen von dem Problem der Auflösung stiller
Reserven und den verschlechterten Bedingungen im Erbfall.
Viertens. Die Anpassung des Grundfreibetrages - Herr
Poß, Sie haben das heute ebenfalls gesagt - gemäß Inflationsrate und damit Freistellung des Existenzminimums
hat Verfassungsrang und gilt für jedermann. Das hat also
mit einer Sonderregelung für den Mittelstand überhaupt
nichts zu tun.
({32})
Fünftens. Herr Schröder, glauben Sie wirklich, dass
1,7 Millionen Mittelständler und ihre Familien mit einem
Gewinn unter 50 000 DM auf Dauer die Belastung und
das Risiko der Selbstständigkeit tragen können? Wenn das
wirklich so wäre, dann hätten unsere Sozial-ämter noch
viel mehr Kunden als heute.
Meine Damen und Herren, wir brauchen endlich eine
durchgreifende Steuerentlastung für Arbeitnehmer, für
Unternehmer und für Unternehmen.
({33})
- Vielleicht können Sie eine Frage stellen, damit mir die
Zeit nicht wegläuft. Ihr Zuruf zeigt: Sie haben beim
Schwarzgeld immer noch nichts verstanden.
({34})
Sie haben nicht verstanden, dass die Gewinnerwartungen eines Unternehmens Jahr für Jahr sehr unterschiedlich sind. Dieser dümmliche Zwischenruf zeigt mir,
wie wenig Sie überhaupt von dieser Materie begriffen
haben.
({35})
Wir brauchen eine schnelle und massive Senkung des
Einkommensteuertarifs. Diese Notwendigkeit lehnen Sie
ab, Herr Eichel, mit dem Argument, dies sei nicht finanzierbar.
Wir von der Union finden es auch richtig, dass Sie die
enormen Sondereinnahmen in diesem Jahr zur Schuldentilgung verwenden.
({36})
Sie sollen diese Sondererlöse aus der Privatisierung der
Bundesunternehmen - Sie waren damals mit Herrn
Schröder dagegen -, die wahrscheinlich über 100 Milliarden DM betragen werden, ruhig zur Schuldentilgung verwenden.
({37})
Wir möchten aber nicht, dass wir dieses Geld im Jahre
2002 als Konjunkturprogramm oder als Arbeitsbewirtschaftungsmaßnahmen wiedersehen
({38})
oder dass damit konsumtive Ausgaben getätigt werden.
Insofern schützen wir Sie gerne vor den Begehrlichkeiten
Ihrer eigenen Partei.
({39})
Aber die laufenden Steuereinnahmen rechtfertigen,
ja, sie erzwingen nahezu eine durchgreifende Einkommensteuerreform; es sei denn, Sie wollen die staatliche
Bevormundung der Bürger ausweiten. Sie hatten in den
Jahren 1998, 1999 und 2000 einen Aufwuchs der Steuereinnahmen von über 110 Milliarden DM. Die Steuereinnahmen sind damit wesentlich deutlicher gestiegen als
das Bruttoinlandsprodukt. Ich frage mich, Herr Finanzminister, wie Finanzminister Waigel in den Jahren 1995,
1996 und 1997 überhaupt zurecht kommen konnte,
({40})
als die Steuern von 814 über 800 Milliarden DM auf
796 Milliarden DM gefallen sind, wenn Sie bei dem heutigen Aufwuchs nicht in der Lage sind, eine vernünftige
Einkommensteuerreform in Gang zu setzen.
({41})
Die neueste Steuerschätzung zeigt, dass 2004 die
Steuereinnahmen um weitere 200 Milliarden DM über denen des laufenden Jahres liegen werden. Es ist nicht hinzunehmen, dass Sie vor diesem Hintergrund den Unternehmen und Bürgern eine wirklich wachstums- und beschäftigungsfördernde Steuerreform vorenthalten wollen.
Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen und ihm im
Vermittlungsausschuss unsere bessere Alternative entgegenstellen.
({42})
Wir wollen die Reform nicht blockieren, aber wir
gehen mit einer Bedingung in die Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss, die unser Fraktionsvorsitzender
Friedrich Merz bereits letzte Woche hier formuliert hat:
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die unionsgeführten Bundesländer werden der Steuerreform der
Regierung nur zustimmen, wenn der bewährte, wirtschaftspolitisch richtige und ordnungspolitisch gebotene
Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller
Einkunftsarten gewahrt bleibt.
({43})
Wir werden dabei darauf achten, dass im Zuge der Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich sichergestellt
wird, dass auch die schwächeren Länder nicht in eine
Haushaltsnotlage geraten.
Es wäre gut, wenn die Bundesregierung sich ab heute
darauf einstellt, dass sich die Bundestagsfraktion von
CDU und CSU und die von CDU und CSU geführten
Bundesländer in ihrer Kernforderung auf keinen Fall im
Vermittlungsausschuss auseinander dividieren lassen.
Darauf sollten Sie sich einstellen.
Danke schön.
({44})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr
Kollege Rauen, ich möchte zu drei Punkten, die Sie in den
Mittelpunkt Ihrer Ausführungen gestellt haben, kurz
vorab Stellung nehmen.
Erstens. Nach dem Motto: „Wer im Glashaus sitzt“: Sie
haben der Frage der kalten Progression eine große Bedeutung zugemessen. Das ist richtig; das ist ein Problem,
mit dem alle zu kämpfen haben. Nur, der Seriosität halber
({0})
sollten Sie doch auch sagen, dass die kalte Progression
nach Ihren Petersberger Beschlüssen genauso festgeschrieben worden wäre. Bei 90 000 DM wäre der Spitzensteuersatz erreicht worden. Deshalb haben Sie an diesem
Punkt jegliche Legitimation verloren.
({1})
Zweitens, Herr Kollege Rauen. Ich weiß, dass Ihnen
Folgendes nicht passt. Sie haben uns vorgehalten, wir
wollten bezüglich der Entwicklung der Nettoeinkommen
den nackten Wahrheiten nicht ins Gesicht schauen.
Die nackte Tatsache ist, dass im ersten Jahr unserer
Regierung, 1999, die durchschnittlichen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer zum ersten Mal seit acht Jahren
um über 3 Prozent gestiegen sind, nachdem sie in Ihrer
Regierungszeit ständig stagnierten oder sogar fielen.
({2})
Drittens, Herr Kollege Rauen. Wenn Sie uns vorhalten,
dass die Erhöhung des Grundfreibetrags eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit ist,
({3})
dann kann ich nur sagen: Wem hat denn das Verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben, den Grundfreibetrag
zu erhöhen? - Ihrer Regierung!
({4})
Und was haben Sie gemacht? - Sie haben den Grundfreibetrag damals hochgesetzt und das damit finanziert, dass
Sie die Einkommensteuersätze erhöht haben. Das waren
Ihre Taschenspielertricks!
Da sind wir sehr viel seriöser. Wir lassen uns das nicht
vom Verfassungsgericht ins Stammbuch schreiben, sondern wir erhöhen die Grundfreibeträge aus eigenem Antrieb, weil das nämlich die kleinen und mittleren Einkommen sowie diejenigen der Mittelständler am besten entlastet.
({5})
Mit unserem Steuersenkungsgesetz setzen wir den eingeschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung und
der Steuererleichterung fort. Wir verbinden mit dieser Politik finanzielle Nachhaltigkeit und Seriosität mit sozialer
Fairness und ökologischer Erneuerung.
({6})
Diese drei Dinge gehören zusammen, um die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken und unser Land zukunftsfähig
zu machen. Ohne finanzielle Seriosität kann der Sozialstaat nicht dauerhaft finanziert werden; ohne soziale Fairness bleibt diese Republik in der sozialen Schieflage der
alten Regierung; ohne ökologische Erneuerung sägen wir
an dem Ast, auf dem wir sitzen, und wir verspielen die
Chance auf neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze.
({7})
Mit dem heutigen Steuerentlastungsgesetz gehen wir
einen weiteren großen Schritt hin zu weniger Steuern, zu
mehr Gerechtigkeit und mehr Beschäftigung. Bereits die
ersten beiden Stufen unserer Steuerreform haben, wie ich
ausgeführt habe, die Privathaushalte und den Mittelstand
spürbar entlastet. Statt jedes Jahr weniger haben die Menschen seit 1999 netto endlich wieder mehr in den Taschen,
Herr Rauen. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen.
({8})
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Rauen: Das ist für die
Menschen eine völlig neue Erfahrung. Von Ihnen waren
die Menschen gewohnt, dass nach Waigels Griff in die
Taschen der Bürger noch nicht einmal von den stetig steigenden Bruttolöhnen etwas übrig geblieben ist. An diesem Punkt bin ich gerne ein Träumer, weil ich nach der
Statistik real nachvollziehen kann, dass die Nettoeinkommen der Bürgerinnen und Bürger im Jahre 1999
nach acht Jahren zum ersten Mal gestiegen sind.
({9})
Herr Kollege
Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rauen?
Gerne.
Herr Schlauch, ich wüsste
gerne, von welchem Arbeitnehmer Sie sprechen. Ich
denke an einen ganz normalen Maurer, der bei mir arbeitet. Nach der Reform, die 1999 gegriffen hat, hat ein normaler Maurer netto pro Monat 4,10 DM mehr. Das
reicht nicht einmal aus, um die Mehrkosten beim Sprit,
von denen gerade Menschen im ländlichen Raum betroffen sind, auszugleichen. Von welcher Entlastung Sie
also sprechen, ist mir unerklärlich.
({0})
Herr Schlauch, ist Ihnen eventuell entgangen, dass
mittlerweile im progressiven Bereich unter der Führung
der Arbeiterpartei SPD
({1})
aus dem früheren Mittelstandsbauch, der unter
Stoltenberg abgeschafft wurde, ein Arbeitnehmerbauch
geworden ist?
({2})
Herr Rauen, darauf kann ich Ihnen nur antworten:
({0})
Wir haben damit begonnen, die Steuern zu senken, Schritt
für Schritt.
({1})
Das führen wir heute konsequent fort. Das haben Sie
16 Jahre lang versäumt.
({2})
Ich kann Sie nur fragen: Wo leben Sie denn? In den
16 Jahren Ihrer Regierung sind die Bruttolöhne ständig
gestiegen
({3})
und bei den Menschen ist davon nichts übrig geblieben.
Wir setzen an diesem Punkt an und haben die Trendwende
eingeleitet.
({4})
Das steuerfreie Existenzminimum - Herr Rauen, auch
das kommt Ihrem Maurer unmittelbar zugute - steigern
wir auf 15 000 DM. Der Eingangssteuersatz sinkt um satte
10,9 Prozentpunkte und der Spitzensteuersatz um 8 Prozentpunkte. So entlasten wir tatsächlich alle Steuerpflichtigen, und zwar die privaten Haushalte und den Mittelstand. Beide profitieren deutlich von diesen gesenkten
Steuersätzen.
({5})
Der Mittelstand profitiert zusätzlich von der Anrechnung
der Gewerbesteuer. Mit der Senkung der Körperschaftsteuer auf 25 Prozent entlasten wir schließlich die großen
Unternehmen in unserem Land.
({6})
Insgesamt entlasten wir um 45 Milliarden DM. Davon
entfallen 23 Milliarden DM auf die privaten Haushalte,
14 Milliarden DM auf den Mittelstand und 7 Milliarden
DM auf die Körperschaften.
({7})
Hauptbegünstigte sind also - allen Unkenrufen und aller
Propaganda Ihrer Mittelstandskampagne zum Trotz - die
Privathaushalte und der Mittelstand. Ein Drittel des
gesamten Entlastungsvolumens entfällt nämlich auf den
Mittelstand.
Insbesondere für diese Mittelstandskomponente hat
sich meine Fraktion von Anfang an stark gemacht. Die
Senkung der Steuersätze und die Anrechnung der Gewerbesteuer werden die Situation von kleinen und mittleren
Unternehmen spürbar verbessern.
Nun sagen Sie, das ist ja Ihr Credo, trotz dieser Zahlen - Zahlen lügen bekanntlich nicht; sie sind ja nachzuvollziehen -, der Mittelstand werde benachteiligt. Weil es
nicht so genau darauf ankommt, wird kurzerhand die Körperschaftsteuer mit dem Spitzensteuersatz verglichen.
Dass die Körperschaftsteuer in Höhe von 25 Prozent ein
fester Steuersatz und der Spitzensteuersatz in Höhe von
45 Prozent ein Grenzsteuersatz ist, diesen Unterschied,
Herr Rauen, sollten Sie der Seriosität wegen machen. Diesen Unterschied kennen Sie so gut wie ich.
Entscheidend für die Steuerbelastung der kleinen und
mittleren Unternehmen ist aber der Durchschnitts- und
nicht der Spitzensteuersatz. Auch hier wissen Sie so gut
wie ich, dass ein Großteil der kleinen und mittleren Unternehmen unter dem Durchschnittssteuersatz von 25 Prozent liegen.
({8})
Während Sie sich - insbesondere die F.D.P. - in der
politischen Diskussion auf den Spitzensteuersatz kaprizieren, haben wir den Grundfreibetrag erhöht und den
Eingangssteuersatz gesenkt. Das sind die Maßnahmen,
die dem Mittelstand helfen, und nicht eine weitere Reduzierung des Spitzensteuersatzes.
({9})
Auch die Unternehmen, Herr Rauen, deren Durchschnittssteuersatz über 25 Prozent liegt, sind noch lange
nicht schlechter gestellt als die Körperschaften. Denn um
genau dies zu verhindern, haben wir Grünen uns für die
Anrechnungsfähigkeit der Gewerbesteuer stark gemacht.
Erst ab einem Gewinn von 200 000 DM bei Ledigen bzw.
ab 400 000 DM bei Verheirateten könnte die von Ihnen
erdachte Situation eintreten, dass eine Personengesellschaft höher besteuert wird als eine Körperschaft. Was Sie
hier als Regelfall darzustellen versuchen, betrifft theoretisch gerade einmal 5 Prozent aller Personengesellschaften. Ich sage bewusst „theoretisch“, denn auch diesen Fall haben wir berücksichtigt, indem wir die Möglichkeit der Option einräumen.
({10})
Zugegeben, die Senkung des Spitzensteuersatzes
bringt natürlich die dicken Schlagzeilen. Entscheidender
aber ist doch - das habe ich von Ihnen gelernt -, was hinten herauskommt.
({11})
Und bei dieser Steuerreform kommen hinten mehr Kaufkraft für die Bürgerinnen und Bürger, spürbare Entlastung
für den Mittelstand und internationale Wettbewerbsfähigkeit für die Großunternehmen heraus. Das ist der
Dreiklang, mit dem wir die Zukunft gewinnen und durch
den wir neue Arbeitsplätze schaffen.
({12})
Nun kann man sagen - das ist Ihr gutes Recht und eigentlich auch das einzige Mittel in der Opposition -: Das
alles ist nicht genug. Wir wollen noch stärkere Steuersenkungen.
({13})
Aber wenn Sie, Herr Rauen und meine Damen und Herren von der Opposition, dies sagen, dann beweisen Sie
damit einen beachtlichen Mut zur Lücke, und zwar was
die Erinnerung an Ihre Regierungszeit - für die
CDU/CSU 16 Jahre, für die F.D.P. 29 Jahre - angeht.
({14})
In den Jahren Ihrer Regierung ist der Eingangssteuersatz
erhöht und nicht gesenkt worden; bei uns sinkt er. Bei Ihnen haben die Sozialabgaben unerschwingliche Höhen erreicht; bei uns werden sie wieder zurückgeführt. Der Spitzensteuersatz, der Ihnen ja so wichtig ist, wurde in den
Jahren Ihrer Regierung nicht ein einziges Mal auf unter
50 Prozent gesetzt. Die Senkung des Spitzensteuersatzes von 56 auf 53 Prozent wurde damals sozusagen als
Sicherung des Standorts verkauft. Da kann ich nur lachen.
({15})
Das ist Ihre Bilanz der Steuersenkungen. Sie haben in diesem Punkt überhaupt nichts vorzuweisen. Und deshalb
fehlt Ihnen jede Berechtigung, hier die Backen aufzublasen.
({16})
Wie gesagt, man kann sagen: Die Steuern müssen weiter sinken. Wer will das nicht? Auch wir wollen das.
({17})
Nur, wenn man das ernsthaft will, muss man auch sagen,
wie man das seriös finanzieren will. Auf diese Frage sind
Sie jede seriöse Antwort schuldig geblieben.
({18})
Was sagen denn eigentlich Ihre Landesminister zu all
den Wohltaten, die Sie hier in Berlin versprechen? Die
Spatzen pfeifen doch längst von den Dächern, dass das,
was Sie hier an Vorschlägen für eine Steuerreform unterbreiten, den finanziellen Kollaps der Länder verursachen
würde. Wer seriös rechnet, der kommt zu dem Ergebnis das ist Ergebnis der Berechnungen des Finanzministeriums in Baden-Württemberg -, dass aufgrund Ihrer Vorschläge Baden-Württemberg 7 Milliarden DM weniger
im Haushalt hätte, Bayern 7,5 Milliarden DM und Hessen
4 Milliarden DM. Und da sind wir auch beim Punkt: Dadurch werden die Länderhaushalte gesprengt. Deshalb ist
Ihr Vorschlag äußerst unseriös.
({19})
Wollen Sie denn wieder die Neuverschuldung erhöhen? Darin waren Sie ja Weltmeister. Das haben Sie
Jahr für Jahr gemacht, und zwar bis zu einer Höhe von
1,5 Billionen DM. Wir werden das nicht machen. Wir
werden den Konsolidierungskurs dieser Regierung, der
erfolgreich ist und auch von allen Seiten respektiert und
gelobt wird, beibehalten. Ich kann nur sagen - das ist ein
Appell an die eigene Adresse -: Wir sind gut beraten, bei
dieser Konsolidierung kein Jota preiszugeben.
({20})
Ich möchte
({21})
zu dem noch weitergehenden Modell der F.D.P., dem noch
ehrgeizigeren Modell der F.D.P.
({22})
nicht viel sagen.
({23})
Ich denke, ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ sagt
da das Richtige. Die „Süddeutsche Zeitung“
({24})
schreibt:
Dass die F.D.P.-Vorschläge in der aktuellen Diskussion keine Rolle spielen, hat einen einfachen Grund.
Fromme Wünsche sind noch keine Realität. Im Ergebnis will die F.D.P. ein gigantisches Steuersenkungsprogramm auf Pump. Im Schuldenstaat Bundesrepublik wäre das ein unverantwortlicher Hokuspokus. Es ist ein in der Praxis widerlegter Unsinn,
dass der Staat nur kräftig die Steuersätze senken
muss und am Ende einfach mehr in den Kassen hat.
({25})
Dem ist eigentlich überhaupt nichts hinzuzufügen.
({26})
Herr Thiele, ich verstehe ja, dass die Opposition, was
Steuersenkungen angeht, nach dem Motto, das dem Sport
entnommen ist, „Höher,
({27})
schneller, weiter“ verfährt.
({28})
Aber die Seriosität sollte dabei nicht auf der Strecke bleiben.
({29})
Wir werden Konsolidierung und Steuersenkung parallel, Hand in Hand, durchführen, sodass die Konsolidierung nicht in Gefahr gerät und die Steuersenkungen vertretbar sind und bei den Bürgern ankommen.
({30})
Die Arbeitsmarktzahlen zeigen, dass wir auf dem
richtigen Weg sind, die übrigen Wirtschaftsdaten genauso. Im April hatten wir wieder weniger als 4 Millionen
Arbeitslose. Der Wert ist zwar zu hoch, aber er ist der
niedrigste seit Jahren. Durch das Steuersenkungsgesetz das besagen alle Prognosen und das sagen alle Institute wird diese Entwicklung weiter an Dynamik gewinnen.
Nach Jahren schwarz-gelber wirtschaftlicher Dürre
({31})
stehen wir vor einer Phase - ({32})
Einer hat geschrieben: Es waren sieben magere Jahre und
jetzt kommen die sieben fetten Jahre.
({33})
Ich bin nicht so euphorisch, dass auch ich eine solche Voraussage mache. Nur, dass Ihre Jahre dürr und mager waren und Ihre Politik bei den Leuten nicht angekommen ist,
das hat doch nun wirklich die Bundestagswahl gezeigt.
Wir haben diesen Trend umgekehrt. Ich weiß, dass es
wehtut; auch Sie hätten gern den Aufschwung gehabt.
Aber Sie haben ihn nicht bekommen. Wir gestalten ihn
mit unserer Steuersenkung und mit unserer Haushaltskonsolidierung.
({34})
Dass Ihnen das wehtut, verstehe ich gut, weil Sie auf
Ihrem ureigensten Feld Niederlage für Niederlage einstecken müssen.
({35})
Wir machen Schluss mit dem lähmenden Streit zwischen Angebots- und Nachfragepolitik.
({36})
Wir verbessern die Rahmenbedingungen für Unternehmen und stärken die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Wir werden diesen Weg konsequent
weitergehen und so unser ehrgeiziges Ziel, die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken, erreichen.
Danke schön.
({37})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „Berliner
Zeitung“ titelt heute: „Unisono Kritik von Flensburg bis
Garmisch“. Das ist das Urteil der Steuerberater,
({0})
die die Gesetze anzuwenden haben, die Sie hier verabschieden wollen, die keine Vereinfachung, sondern eine
Verkomplizierung bringen. Von der Systematik im Steuerrecht haben Sie sich leider meilenweit entfernt.
({1})
Wir hätten eine gute Steuerreform mit einer deutlichen
Steuerentlastung unserer Bürger und Betriebe mit Wirkung ab 1998 schon 1997 im Gesetzblatt haben können.
Durch die parteipolitisch geprägte Blockade von Oskar
Lafontaine und den Grünen hat Deutschland wertvolle
Zeit bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes verloren.
({2})
Die Blockade ging vom Bundesrat aus. Sie ging auch von
Ihnen, Herr Finanzminister aus, der Sie seinerzeit noch
Ministerpräsident von Hessen waren. Deshalb tragen Sie
eine Mitverantwortung dafür, dass unser Land in diesen
Jahren nicht die nötigen Reformen hat durchsetzen können.
({3})
Es ist aber gut, dass Sie in Teilen dazugelernt haben das bestreiten wir auch nicht - und nach der rot-grünen
Blockade den Grundgedanken einer Steuerreform aufgenommen haben. Die F.D.P. hat in dieser Frage immer getrieben. Wir haben immer erklärt, dass es in Europa und
in der Welt auch einen Wettbewerb um das beste Steuersystem gibt. Die F.D.P. hat immer darauf gedrängt, dass
unser Steuersystem wettbewerbsfähiger wird. Deshalb
haben wir uns im Dreistufenmodell dafür eingesetzt, den
Eingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent zu senken. Steuern sollen nach den
Vorstellungen der F.D.P. niedrig, einfach und gerecht sein.
({4})
Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass die Koalition in ihrem Steuermodell den Eingangssteuersatz Senkung auf 15 Prozent - von der F.D.P. übernommen
hat.
({5})
Wenn Sie im letzten Sommer auf Ihren Fraktionsvorsitzenden Struck gehört hätten, dann wären wir schon heute
bei einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent
({6})
und die Problematik der unterschiedlichen Besteuerung
von Einkünften wäre vom Tisch.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzentwurf geht von einem falschen ideologischen
Ansatz aus:
({7})
Rot-Grün behauptet - das tun der Bundeskanzler und der
Bundesfinanzminister -, Unternehmen müssten begünstigt werden, Unternehmer nicht. Hierbei übersehen Sie,
dass 85 Prozent der Betriebe in unserem Land Personengesellschaften sind und von eigenverantwortlichen Unternehmern geführt werden.
({8})
Wie Sie den eigenverantwortlichen Handwerkern, Selbstständigen und mittelständischen Unternehmern erklären
wollen, dass ihre Tätigkeit steuerlich schlechter behandelt
wird - und somit als schlechter zu bewerten ist - als die
Tätigkeit der großen Kapitalgesellschaften, das bleibt uns
ein Rätsel. Ich halte diese Argumentation für abenteuerlich.
({9})
Gleiches gilt für die Arbeitnehmer mit etwas höherem
Einkommen: Dass sie einen höheren Steuersatz zu zahlen
haben als Kapitalgesellschaften, werden Sie ebenfalls
nicht erklären können.
({10})
Bei Ihren Vergleichen - der Kollege Rauen hat schon
darauf hingewiesen - bezüglich der angeblichen Nettoentlastung unterstellen Sie, dass es bis zum Jahre 2005 zu
keiner Lohn- und Gehaltssteigerung und zu keiner Inflation kommt. Das geht voll an der Wirklichkeit vorbei.
Deshalb führt Ihre Reform dazu, dass der normale Facharbeiter, die Krankenschwester, die Arbeitnehmer und
Leistungsträger in unserem Staat durch Ihre Reform überhaupt nicht entlastet werden.
({11})
Das werden die auch merken, und zwar schon vor der
nächsten Wahl. Das wird Ihr Reden von einer Nettoentlastung Lügen strafen.
Sie schaffen mit dieser Steuerreform eine zusätzliche
Belastung der Leistungsträger in unserem Land. Sie reduzieren die Einkommensgrenze für das Erreichen des
Spitzensteuersatzes bis zum Jahre 2005 um 20 000 DM.
Wenn Sie Wachstum und Inflation berücksichtigen würden - um die heimliche Steuerprogression herauszurechnen -, dann müssten Sie die Grenze von derzeit
120 000 DM um 20 000 DM erhöhen, statt sie zu senken,
also nicht, wie jetzt, 98 000 DM, sondern 140 000 DM
vorsehen.
({12})
Im Wahlkampf haben Sie die neue Mitte zur Zielgruppe erklärt. Mit diesem Steuergesetz machen Sie die
neue Mitte zur Zielscheibe Ihrer Politik. Das werden die
Bürger merken. Dadurch werden leider nicht mehr
Arbeitsplätze entstehen. Wir freuen uns über das Sinken
der Arbeitslosigkeit, aber wir wünschen uns mehr Arbeitsplätze in unserem Land. Auf diesem Feld muss etwas geschehen; da geschieht zu wenig.
({13})
Dass jetzt gerade die Grünen die höheren Belastungen
kritisieren - Frau Kollegin Scheel heute im „Frühstücksfernsehen“ -, ist natürlich absolut schizophren. Denn gerade unter Ihrem Vorsitz, Frau Kollegin Scheel, wurde
dieses Steuergesetz im Finanzausschuss des Deutschen
Bundestages beschlossen
({14})
und mit Ihrer Stimme werden Sie es heute im Deutschen
Bundestag beschließen. Reden Sie doch nicht davon, was
man ändern kann; nehmen Sie doch Ihre Verantwortung
im Finanzausschuss wahr und ändern Sie die Dinge, die
Sie geändert haben wollen!
({15})
Dazu kann ich nur sagen: Ihnen und Ihrem Koalitionspartner von der SPD muss doch Ihr Spagat abenteuerlich
vorkommen. Kaum beschließen Sie etwas, erklären Sie,
dass Sie damit gar nichts zu tun haben und alles wieder
ändern wollen. Die Grünen müssen sich schon zwischen
Regierung und Opposition entscheiden;
({16})
denn als Opposition in der Regierung können Sie eine verantwortliche Politik nicht betreiben.
({17})
Ich empfinde es als unfair und als Zumutung Ihren sozialdemokratischen Koalitionsabgeordneten gegenüber,
zu den vereinbarten und beschlossenen Gesetzen einfach
nicht zu stehen. Sie wollen doch heute darüber abstimmen
und beschließen,
({18})
dann können Sie sie doch nicht gleichzeitig kritisieren.
Herr Minister Eichel, der Grundfehler Ihrer Reform
besteht darin, dass Sie sich von den ideologischen Vorgaben Ihres Vorgängers Lafontaine nicht getrennt haben.
Große Kapitalgesellschaften werden gegenüber kleinen
und mittelständischen Betrieben und gegenüber den Arbeitnehmern bevorzugt. Unternehmen sollen gefördert
werden, Unternehmer dagegen nicht. Einbehaltene Gewinne sollen begünstigt werden, ausgeschüttete dagegen
nicht. Sie verletzen den marktwirtschaftlichen Grundsatz
der Gewinnverwendungsfreiheit.
({19})
Gerade dieser Punkt zeigt, dass Sie immer noch der Irrlehre anhängen, dass der Staat durch das Steuerrecht wertend in Unternehmensentscheidungen eingreifen soll. Die
F.D.P. ist hier grundsätzlich anderer Auffassung. Der Staat
soll keine Investitionslenkung betreiben. Dazu bekennen
wir uns. Ich fände es gut, wenn Sie diesen Grundsatz beherzigen würden.
({20})
Mit diesem Gesetz sollen Wachstum und Beschäftigung angeregt werden. Das kann aber nur erfolgen, wenn
durch eine echte und deutliche Nettoentlastung Antriebskräfte in unserem Land für Investitionen frei werden. Deshalb lehnen wir eine Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen durch eine Veränderung der Abschreibungstabellen, wie Sie sie vorgesehen haben, ab;
denn dieses wirkt wie eine Desinvestitionsteuer. Wir aber
wollen, dass investiert und nicht desinvestiert wird. Wir
wollen, dass Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen
werden und die Wirtschaft modernisiert wird.
({21})
Deshalb fordern wir Sie an dieser Stelle noch einmal auf:
Nehmen Sie von den geplanten Verschlechterungen der
Abschreibungstabellen endlich Abstand!
({22})
Die Kritikpunkte der F.D.P. an diesem Gesetzentwurf
bleiben leider bestehen: Erstens. Der Gesetzentwurf führt
zur unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Einkunftsarten. Große Kapitalgesellschaften werden gegenüber kleinen Betrieben und Arbeitnehmern bevorzugt.
Zweitens. Die rot-grünen Steuerpläne sind nicht rechtsformneutral. Kapitalgesellschaften werden weitaus stärker entlastet als Personenunternehmen. Daran ändert auch
das hoch komplizierte Optionsmodell nichts, welches
mit Fallstricken sondergleichen versehen ist.
Sie haben zum Beispiel beschlossen, dass nach einer
erfolgten Option eine Änderung für das gleiche Jahr nicht
mehr erfolgen kann. Wenn sich aber die wirtschaftlichen
Voraussetzungen anders darstellen, wenn Betriebsprüfungen zu anderen Ergebnissen kommen, können die Betriebe überhaupt nicht mehr zurück. Das kann nicht richtig sein. Sie bauen die Kompliziertheit des Steuerrechts
aus, anstatt es zu vereinfachen. Sie überschütten die Finanzämter und die steuerberatenden Berufe mit ineffizienter Arbeit. Der Unternehmer eines Betriebes hat in unserem Land etwas anders zu tun, als sich mit den wirtschaftlich ineffizienten Überlegungen herumzuschlagen,
({23})
ob er eine Option nutzen soll oder nicht und welche Auswirkungen das haben wird. Das kann nicht die Aufgabe
der Betriebsinhaber in unserem Land sein.
Deshalb fordern wir als F.D.P.: Streichen Sie die Optionslösung! Sie verkompliziert, sie ist nicht brauchbar, sie
muss weg.
({24})
Drittens. Durch die Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns bei Kapitalgesellschaften und optierenden Unternehmen maßen Sie sich eine volks- und
betriebswirtschaftlich schädliche Beeinflussung der Gewinnverwendung durch das Steuerrecht an. Dies widerspricht sämtlichen steuerrechtlichen Grundsätzen.
Viertens. Die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens - das sind zwar technische Begriffe, die jedoch für
den Kleinaktionär direkte Auswirkungen haben - führt
dazu, dass gerade der Kleinaktionär zusätzlich belastet
wird. Wir wollen, dass es mehr Menschen in unserem
Land gibt, die sich an den Werten unserer Gesellschaft beteiligen können. Wir fordern, dass neben der Rentenversicherung zusätzliche Altersvorsorge aufgebaut werden kann. Aber Sie belasten gerade die kleinen Bürger mit
einem Steuersatz bis zu 40 Prozent durch das Halbeinkünfteverfahren.
Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zum Vollanrechnungsverfahren zurück. Das ist seinerzeit unter der sozialliberalen Koalition beschlossen worden. Dies führt zu einer
gleichmäßigen und leistungsgerechten Besteuerung in
diesem Bereich. Deshalb: Verabschieden Sie sich von
dem Halbeinkünfteverfahren!
({25})
Fünftens. Statt die Gewerbesteuer zu senken und
schließlich abzuschaffen, mutet die Koalition den Betroffenen eine komplizierte Verrechnung von Einkommenund Gewerbesteuer zu. Diese Verrechnung löst die Probleme aber nicht; sie schafft enorme Schwierigkeiten bei
der Anwendung. Deshalb plädieren wir als F.D.P. dafür,
die Gewerbesteuer komplett abzuschaffen, wenn auch
nicht auf einen Schlag; das geht nicht. Man muss aber das
Ziel im Auge haben, denn wenn man das Ziel im Auge hat,
kann man in diesem Bereich auch etwas erreichen.
({26})
Wir leisten uns in Deutschland mit der Gewerbesteuer
eine im internationalen Vergleich einzigartige Sondersteuer auf die Arbeitsplätze in unserem Land. Deshalb
freuen wir uns auch darüber, dass in der letzten Legislaturperiode als erster Schritt die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wurde. Wir müssen die gesamte Gewerbesteuer
abschaffen. Dann haben wir auch eine erheblich bessere
Struktur im Steuerrecht. Dann werden viele Brüche entfallen und diese Sonderlast kann endlich die Arbeitsplätze
in unserem Land nicht mehr belasten.
({27})
Sechstens. Am heutigen Tag wird das Ergebnis der
Steuerschätzung bekannt gegeben. Schon jetzt steht aber
fest, dass spätestens im Jahre 2003 die Steuereinnahmen
mehr als 1 000 Milliarden DM pro Jahr betragen werden.
Das ist 1 Billion DM. Das zeigt auch, dass wir in unserem
Land nach wie vor nicht zu wenig Staatseinnahmen, sondern zu viele Staatsausgaben haben. Dort muss angesetzt
werden. Deshalb müssen die Staatseinnahmen reduziert
werden. Das ist die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben.
({28})
Herr Kollege Thiele,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel
von der PDS-Fraktion?
Gerne.
({0})
Herr Kollege Thiele,
Sie haben soeben in Ihrem Beitrag für die zumindest mittelfristige Abschaffung der Gewerbesteuer plädiert. Über
die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen kann
man streiten. Meine Frage ist: Welche Alternativen haben
Sie, um die daraus resultierenden erheblichen Einnahmeausfälle für die Städte und Gemeinden in Höhe von
jährlich rund 45 Milliarden DM dauerhaft zu kompensieren? Sie können doch nicht zulassen, dass die Städte und
Gemeinden ihre Investitionen nicht mehr finanzieren
können, dass so genannte soziale Aufgaben nicht mehr
durchführbar sind und ökologische Aufgaben nicht mehr
bewältigt werden können. Welche Alternativen haben Sie,
die Sie in die politische Debatte einbringen können?
Ein Teil der Alternativfinanzierung ist schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen worden. Wir fordern eine aufkommensneutrale
Steuerreform bei Abschaffung der Gewerbesteuer für die
Kommunen. Die Kommunen sollen sich nicht schlechter
stehen als bisher. Deshalb sollen die Kommunen einen eigenen Anteil an der Einkommensteuer mit Hebesatzrecht
erhalten und der Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer soll erhöht werden. Sagen Sie doch nicht, dass eine
Reform nicht machbar sei. Bekennen Sie sich dazu zu sagen: Die Gewerbesteuer ist ein Bruch in unserem Steuersystem. Dieser Bruch muss beseitigt werden. Ich sage Ihnen: Wenn der Wille dazu besteht, wird auch die Lösung
gefunden werden. Sie wird dann sogar mit einer breiten
Mehrheit in diesem Hause gefunden werden können. Es
ist nur erforderlich, das Ziel im Auge zu haben.
({0})
Der Herr Kollege
Rössel will noch einmal nachfragen. Gestatten Sie das?
Ich bin der Auffassung,
dass die Zwischenfrage ausführlich beantwortet wurde.
Ich möchte in meinem Konzept fortfahren.
({0})
Zur Steuerschätzung und zu den Steuerbelastungen: In
der letzten Legislaturperiode haben die Grünen eine Steuerreform vorgelegt. Die Grünen - Frau Kollegin Scheel,
Herr Kollege Metzger - haben erklärt, es müsse gegen die
Nettoentlastungslüge vorgegangen werden. Das heißt, die
Steuerreform der Grünen sah nie eine Nettoentlastung
vor. Frau Scheel, Herr Kollege Schlauch, ich muss Ihnen
dazu schon gratulieren, denn die Nettoentlastung dieser
Steuerreform soll 45 Milliarden DM betragen. Die Mehrbelastung aufgrund der Ökosteuer beträgt bis zum Jahre
2003 35 Milliarden DM. Jeder Bürger kann sich ausrechnen, wie hoch dann überhaupt noch die Nettoentlastung
ist. Das wollten Sie erreichen und das haben Sie erreicht.
({1})
Gerade diese Zahlen zeigen, dass die Steuerlast der
Bürger aufgrund der Mehrbelastung durch die Ökosteuer
nicht gesenkt, sondern erhöht werden sollte. Sie wollen
mehr Staatseinnahmen, Sie wollen mehr Staat, um mehr
für die Verwirklichung Ihrer Ideologie ausgeben zu können.
({2})
Das lehnen wir als F.D.P. ab. Dazu haben wir eine komplett andere Auffassung. Der Bürger muss netto stärker
entlastet werden, damit er diese Entlastung auch spürt.
({3})
Das ist auch der Grund, warum wir bei unserem Konzept
bleiben. Das ist von den Sachverständigen gelobt worden.
Dieses Steuergesetz von Ihnen muss systematisch geändert werden. Alle Einkunftsarten sind gleich zu behandeln. Der Mittelstand muss deutlich stärker entlastet werden. Die steuerliche Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften wird von uns
nicht hingenommen werden, auch nicht im Vermittlungsausschuss - das erkläre ich hier für die F.D.P. -, und
die Steuern für Bürger und Unternehmen müssen deutlich
und gleichmäßig gesenkt werden. Das Steuerrecht muss
grundlegend vereinfacht werden.
Deshalb kann ich Sie nur auffordern, Herr Finanzminister Eichel: Berücksichtigen Sie diese Grundsätze. Berücksichtigen Sie diese Grundsätze auch im anstehenden
Vermittlungsausschussverfahren, denn eine Steuerreform
um jeden Preis machen wir nicht mit. Hier müssen deutliche Verbesserungen erreicht werden. Wenn sie nicht erreicht werden, dann wird das erste Vermittlungsausschussverfahren noch nicht zum Erfolg führen. Dann werden wir hier zeigen, dass systematisch etwas verändert
werden muss.
So billig und so falsch und so schlecht für den Mittelstand lassen wir dieses Gesetz nicht durchgehen.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
soll ja die größte Steuerreform der Koalition und der Bundesregierung in der jetzigen Legislaturperiode werden.
Das nehme ich zumindest an. Insofern ist die heutige Debatte wichtig.
Ich finde erstens, dass die Voraussetzungen der Debatte
dadurch falsch angelegt sind, weil man sich, bevor man
über Steuersätze und ein Steuersenkungsgesetz spricht,
eigentlich über die notwendigen Aufgaben eines Staates
verständigen müsste, um dann wiederum sagen zu können, welche Mittel der Staat braucht und welche Mittel er
nicht braucht.
({0})
Diese Verständigung hat in diesem Hause eigentlich nie
stattgefunden.
Wenn ich dann die Herbstdebatte nehme und sehe, dass
die Nettolohnanpassung bei Renten, Arbeitslosenhilfe,
Arbeitslosengeld etc. ausgefallen ist, dann muss sich einfach die Befürchtung auftun, dass unter Einsparungen in
diesem Zusammenhang letztlich Sozialabbau verstanden
wird und das kann keine Richtung sein, die wir legitimieren.
({1})
Aber es geht ja viel weiter. Was will der Staat künftig
zur gesetzlichen Rentenversicherung dazuzahlen? Wie
will er mit Mitteln in die Gesundheitsreform eingreifen?
Welche Aufgaben hat die Polizei, welche der öffentliche
Dienst generell? Wann soll es eine Angleichung der
Löhne und Gehälter Ost und West im öffentlichen Dienst
geben?
Alle diese Fragen müsste man eigentlich vorher stellen, damit man weiß, wie viel Geld der Staat braucht, bevor man sich dann über Steuersenkungspläne verständigen kann. Diese Fragen sind nie erörtert worden und das
ist - zumindest nach unserer Auffassung - der Grundmangel der Herangehensweise.
({2})
Ich sage Ihnen zweitens, dass dieses Gesetz selbstverständlich auch Vorteile hat - das werden wir gar nicht bestreiten -, die Senkung des Eingangssteuersatzes bei der
Einkommensteuer, auch die Erhöhung des Existenzminimums.
Ich darf nur daran erinnern, dass gerade die jetzige Regierung in ihrer damaligen Rolle als Opposition eine viel
höhere Anhebung des Existenzminimums gefordert hat,
als sie jetzt realisiert wird. Jetzt setzen Sie eher auf die
Entlastung von Veräußerungsgewinnen bei Aktiengesellschaften, anstatt das Geld zu nutzen, um das Existenzminimum deutlich stärker zu erhöhen.
({3})
Aber immerhin, es wird erhöht. Das findet auch unsere
Unterstützung.
Aber es gibt auch schwere Nachteile. Lassen Sie mich
jetzt zu den Nachteilen kommen, denn schließlich müssen
Sie Opposition von zwei Seiten erleben, sonst könnten Sie
ja gar nicht Mitte sein und das wollen Sie ja so gerne.
Deshalb sage ich Ihnen als Erstes: Wir haben im Moment weltweit in der Wirtschaft eine Art Krankheit: die
Sehnsucht nach Fusionen. Der große Schrei der Konzerne, Banken und Versicherungen heißt nur noch Kaufen
und Verkaufen. Man macht eigentlich gar nicht mehr so
sehr mit Wirtschaft und mit Dienstleistungen Gewinn,
sondern in erster Linie durch Spekulation, durch Verkäufe
und Käufe.
Nun könnte man ja sagen: Na und? Sollen sie doch
kaufen und verkaufen. Das birgt aber mehrere Probleme.
Erstes Problem: Wir erleben dadurch eine ungeheure
Konzentration von Wirtschafts- und Finanzmacht, was im
Grunde genommen Marktwirtschaft aushebelt. Die F.D.P.
müsste aufkreischen, denn durch diese Monopolbildung
gibt es natürlich keinen regulären Wettbewerb mehr.
({4})
Es gibt dadurch auch wirklich eine Machtkonzentration.
({5})
Zweites Problem: Jedes Mal ist bisher eine Fusion,
sind Verkäufe dieser Art mit einem enormen Abbau von
Arbeitsplätzen verbunden gewesen.
Allein bei der Fusion der Deutschen und der Dresdner
Bank sollten 16 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Dennoch hat die Bundesregierung diese Fusionspläne begrüßt, anstatt sie schwer zu kritisieren, und hinterher hat
der Kanzler lediglich gesagt, er habe schon besser vorbereitete Fusionen erlebt. Aber, dass 16 000 Arbeitsplätze
vielleicht erhalten bleiben - das war für mich das Ausschlaggebende am Scheitern der Fusion -, fand keine positive Erwähnung.
Es geht aber noch weiter. Auch Mitbestimmungsrechte
werden abgebaut. Die Degussa hat zum Beispiel erlebt,
dass durch die Fusion Rechte verloren gegangen sind. Arbeitnehmervertreter können bei Käufen, bei Verkäufen,
bei Fusionen überhaupt nicht mehr mitbestimmen. Dies
ist ein Recht, das sie früher hatten.
Wenn ich all diese negativen Seiten nehme, dann frage
ich mich: Weshalb muss diese Entwicklungen eine Regierung, die sie nicht verhindern kann - das weiß ich auch -,
auch noch begünstigen, indem sie die Verkaufserlöse im
Rahmen von Fusionen von der Steuer freistellt? Das kostet Milliarden.
({6})
Diese Freistellung von der Steuer kostet bis zum Jahre
2005 17 Milliarden DM, die an anderer Stelle fehlen.
Jetzt komme ich ins Schleudern. Wir haben eine sozialdemokratisch geführte Regierung. Ich frage Sie: Wie
soll ich den Bürgerinnen und Bürgern Folgendes erklären? Wenn ein Bäckermeister seine Bäckerei aus gesundheitlichen Gründen oder Altersgründen verkauft hat,
dann musste er unter Kanzler Kohl nur die halbe Steuer
zahlen. Die jetzige Bundesregierung unter Führung der
SPD sagt: Das ist ungerecht, er muss die volle Steuer zahlen. Wenn aber die Deutsche Bank verkauft worden wäre,
wäre dies unter Kanzler Kohl voll zu versteuern gewesen.
Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung sagt
nun, dass sie dafür keinen Pfennig Steuern sehen möchte.
Das geht einfach nicht in meine Birne rein.
({7})
Was soll daran sozialdemokratisch sein? Wie soll ich das
jemandem erklären? Es fällt mir schwer, dies verständlich
zu machen. Ich hoffe, Herr Bundesfinanzminister, Sie
werden das erklären.
Ich habe gerade von 17 Milliarden DM gesprochen.
Dabei habe ich mich versprochen. Die Steuerfreistellung
kostet 14 Milliarden DM. Durch die Senkung der Körperschaftsteuer kommen noch 59 Milliarden DM hinzu. Aber
auch das betrifft in erster Linie Banken, Versicherungen
und Konzerne und nicht Personengesellschaften. Das wissen Sie. Hier hilft die Spielkasinovariante - bei der hat
man ein Optionsmodell; wenn man sich aber einmal entschieden hat, kommt man nicht wieder zurück - nicht weiter. Was machen Sie aus einem Unternehmer, der in der
Wirtschaft tätig sein soll? Soll er zum Steuerspieler und
-spezialisten werden? Wie soll er auf Jahre entscheiden,
welche Vor- und Nachteile mit den Modellen verbunden
sind? Das ist abenteuerlich.
Sehen wir uns doch einmal die Struktur der Personengesellschaften an. Für 5 Prozent würde sich das Ganze
vielleicht lohnen, für 95 Prozent würde sich das auf gar
keinen Fall lohnen. Hier bleibt eine tiefe Gerechtigkeitslücke bestehen. Letztlich kommt heraus, dass Sie durch
die Senkung der Körperschaftsteuer und durch den Verzicht auf jede Steuer bei Gewinnen im Hinblick auf die
Veräußerung von Kapitalanteilseigentum an Kapitalgesellschaften die Großen ganz extrem begünstigen. Es geschieht nichts Vergleichbares für kleine und mittelständische Unternehmen, nichts Vergleichbares für Selbstständige und Freiberufler und damit nichts Vergleichbares in
dem Bereich, in dem tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen
werden könnten. Das ist einfach nicht akzeptabel. Das
stößt auf unsere fundamentale Kritik.
({8})
Dazu sage ich auch: Es ist nicht nachvollziehbar. Wir
haben Ausfälle in Höhe von 74 Milliarden DM. Ich frage
Sie: Wo ist die Kompensation? Sie haben noch keinen
Vorschlag gemacht, wie Sie das gegenrechnen. Sie stellen
eine Rechnung mit einer großen Unbekannten auf. Welche Einsparungen sind vorgesehen? Es mag ein bisschen
platt sein, aber hier mache auch ich jetzt eine „Milchjungenrechnung“, Herr Bundesfinanzminister. Wenn Sie
jetzt 74 Milliarden DM verschenken können, dann können Sie nicht glaubwürdig machen, weshalb Sie im
Herbst die 10 Milliarden DM für die normale
Nettolohnanpassung bei Rente, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und indirekt auch bei der Sozialhilfe nicht
hatten, die es bis dahin immerhin Jahr für Jahr gegeben
hat, auch unter der früheren Regierung. Sie haben das ausfallen lassen. Dann hätten Sie nicht 74 Milliarden DM,
sondern nur 64 Milliarden DM verschenken können und
schon hätten Sie die 10 Milliarden DM für die normale
Nettolohnanpassung gehabt.
({9})
Das heißt, diese Steuersenkungen haben die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger zum Teil jetzt
schon bezahlt. Ich sage: Auf deren Kosten darf ein Staat
nicht sparen. Das ist unsozial und nicht hinnehmbar.
Wenn dies Kohl gemacht hätte, hätte ich mich in meinen
ideologischen Ansichten bestätigt gefühlt und wäre damit
durch das ganze Land gereist. Da Sie es gemacht haben,
bringen Sie mich einfach durcheinander. Ich lasse mich
nicht gerne durcheinander bringen und schon gar nicht in
diese Richtung.
({10})
Auch Ihre Vorstellung zu den einbehaltenen Gewinnen überzeugt mich überhaupt nicht. Ich bin im Unterschied zur F.D.P. der Meinung, dass Steuern Steuern
heißen, weil man damit steuern kann. Man kann auf bestimmte Verhaltensweisen orientieren oder man kann sie
delegitimieren, je nachdem, was man politisch will. Insofern verstehe ich den Grundgedanken. Nur eines verstehe
ich nicht, Herr Bundesfinanzminister: Wenn Sie einbehaltene Gewinne bei der Besteuerung besser stellen als ausgeschüttete, dann müssen Sie natürlich wissen, dass Sie
damit, was Kleinaktionäre usw. betrifft, Kaufkraft einschränken. Das widerspricht eigentlich der Theorie der
SPD.
Warum unterscheiden Sie nicht - das ist viel entscheidender - wenigstens bei den einbehaltenen Gewinnen danach, ob sie tatsächlich investiert werden oder ob sie für
Spekulationen genutzt werden? Wenn Sie hier unterscheiden würden, dann würde eine pauschale Besserstellung
von einbehaltenen Gewinnen keinen Sinn machen. Jetzt
fördern Sie Investitionen genauso wie Spekulationen. Das
ist keine arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Es ist maximal eine Hoffnung auf Belebung des Arbeitsmarktes, die
Sie mit dieser Politik verbinden, die sich aber nicht erfüllen wird.
Ihre Behauptung, dass ein Hauptgrund für den Mangel
an Arbeitsplätzen in Deutschland die nicht ausreichende
Eigenkapitaldecke der Unternehmen sei, stimmt nicht.
Die Eigenkapitaldecke der Unternehmen in Deutschland
hat sich 1998 im Vergleich zu 1991 mehr als verdoppelt.
Trotzdem sind keine neuen Arbeitsplätze geschaffen worden. Ihre Behauptung trifft nur - das ist das Problem mit
pauschalen Beurteilungen - auf einen Teil der Unternehmen zu. Die Unternehmen in Ostdeutschland sowie Existenzgründerinnen und Existenzgründer haben ein riesiges
Problem mit der geringen Eigenkapitaldecke. Das ist
wahr. Deshalb hätten Sie diese Gruppen fördern müssen.
Aber mit der generellen Behauptung, die Eigenkapitaldecke deutscher Unternehmen sei zu niedrig, leugnen
Sie die Tatsache, dass die großen Aktiengesellschaften
bereits eine riesige Eigenkapitaldecke haben. Sie haben
sich nichts Spezifisches für Existenzgründerinnen und
Existenzgründer sowie für die ostdeutschen Unternehmen
überlegt, deren Eigenkapitaldecke tatsächlich so niedrig
ist, dass man hätte etwas verändern müssen. Deshalb können wir Ihre Vorschläge in der jetzigen Form nicht akzeptieren.
({11})
Lassen Sie mich auch noch etwas zur sozialen Frage
sagen. Es ist wahr: Die Klein- und auch die Normalverdienenden werden steuerlich etwas entlastet. Sie profitieren von der Erhöhung des Existenzminimums und der
Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent. Das
unterstützen wir. Hierüber scheint es einen Konsens im
Haus zu geben. Wir würden uns natürlich ein höheres
Existenzminimum wünschen. Aber das sind nicht Ihre
einzigen Maßnahmen.
Eine weitere Maßnahme ist die Senkung des Spitzensteuersatzes. Ich habe Herrn Poß geradezu mit Leidenschaft zugehört, als er sagte - jetzt beginnt natürlich der
scharfe Konflikt mit der CDU/CSU und der
F.D.P. -, dass eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes völlig unsozial und falsch sei. Das kann ich unterstützen. Aber das gilt genauso für die von Ihnen, Herr Eichel,
geplante Senkung des Spitzensteuersatzes um 8 Prozent
bis zum Jahr 2005. Das ist unsozial; denn im Durchschnitt
werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem
Jahreseinkommen von bis zu 100 000 DM um etwa
1 400 DM entlastet. Aber wenn das durchschnittliche Jahreseinkommen über 100 000 DM liegt, dann beträgt die
Entlastung über 4 000 DM. Das heißt - Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen -, die Spitzenverdiener
werden viermal begünstigt: durch die Anhebung des
Existenzminimums, durch die Senkung des Eingangssteuersatzes, durch die Abflachung des Tarifverlaufs und
durch die Senkung des Spitzensteuersatzes.
Natürlich werden durch die Senkung des Eingangssteuersatzes und durch die Erhöhung des Existenzminimums immer auch Besser- und Bestverdienende mit begünstigt. Auch wenn wir den Eingangssteuersatz senken
und das Existenzminimum erhöhen würden, könnten wir
das nicht verhindern. Das ist ganz klar. Aber durch die
Senkung des Spitzensteuersatzes machen Sie aus den
Besser- und Bestverdienenden doppelt und dreifach Begünstigte.
Wenn das Ergebnis einer Steuerreform ist, dass jemand
wie ich einen Jahresvorteil von 4 000 DM hat und der
Maurer nur einen von 1 000 DM, der zum Beispiel durch
die Ökosteuer wieder verringert wird, dann ist das letztlich die Fortsetzung der Umverteilung von unten nach
oben, wenn auch etwas abgeschwächt; denn solche Spitzenverdiener wie ich sind die deutlich Begünstigteren im
Vergleich zu den Normalverdienerinnen und Normalverdienern und erst recht im Vergleich zu den Geringverdienern. Das ist die unsoziale Komponente Ihres Steuersenkungsgesetzes, das wir deshalb auch nicht unterstützen
können. Das möchte ich hier ganz klar formulieren.
({12})
Wenn ich mir die zukünftigen Auswirkungen der gesamten Steuerreform anschaue, dann sehe ich noch ein
weiteres Problem, das bisher nur am Rande erwähnt
wurde, nämlich die Steuerausfälle, die gerade die finanzschwachen Bundesländer treffen. Mecklenburg-Vorpommern wird Steuermindereinnahmen in Höhe von
rund 580 Millionen DM im Jahr haben, SachsenAnhalt 660 Millionen DM und Brandenburg 500 Millionen DM. Es sind keine Alternativen in Sicht. Angesichts
dieser Steuermindereinnahmen schlägt der Bundesfinanzminister diesen finanzschwachen Bundesländern
vor, einmal darüber nachzudenken, ob es nicht möglich
sei, im Rahmen der Länderhoheit eine Vermögensteuer zu
erheben. Sie wissen doch selbst, wie viele Vermögende in
diesen Bundesländern leben! Mit einer Vermögensteuer
könnten diese Bundesländer gerade einmal dreieinhalb
Leute besteuern. Das können Sie vergessen. Diese dreieinhalb Leute würden sofort nach Bayern umziehen,
wenn eine Vermögensteuer auf Länderebene erhoben
würde.
({13})
- Ich lebe ja nicht dort; ich lebe in Berlin, Herr Bundeskanzler. Ich weiß ja nicht, wo Sie Ihren Hauptwohnsitz
haben.
(
In Hannover!)
- Immer noch in Hannover! Ist es dort steuerlich noch immer am günstigsten?
Angesichts der eben aufgelisteten Steuerausfälle
möchte ich fragen: Welche Kompensationsmaßnahmen
sind für die Bundesländer vorgesehen? Wir können die
Probleme doch nicht einfach verschieben. Deshalb sage
ich Ihnen: Mecklenburg-Vorpommern wird Ihrer Steuerreform im Bundesrat nicht zustimmen - das ist doch
klar -; denn Sie bieten keine Kompensation für die Steuerausfälle an. Das heißt im Klartext, dass die Länder noch
weniger Geld haben werden, dass sie noch weniger als
Wirtschaftsfaktoren auftreten können. Sie können den
Kommunen noch weniger Geld geben. Die Folge ist, dass
wir gerade in den neuen Bundesländern keine Wirtschaftskreisläufe zustande bekommen. Das heißt, eine positive Wirtschaftsentwicklung für den Osten geht von diesem Steuergesetz ganz bestimmt nicht aus. Ganz im Gegenteil: Die Abstände werden sich noch vergrößern.
({0})
Damit wird auch die Angleichung der Löhne und Gehälter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
Das ist nicht hinnehmbar.
Trotz einiger Vorzüge des Gesetzes, die ich nicht bestreite, werden wir zu diesem Gesetzesvorhaben aus folgenden Gründen Nein sagen: Die Steuerausfälle sind
nicht gegengerechnet und wurden schon bisher durch
Sozialabbau bei Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitslosen
sowie Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern bezahlt und werden künftig erst recht durch Sozialabbau finanziert. Die Großen, das heißt die Banken,
Versicherungen und Konzerne, werden im Vergleich zu
kleinen und mittelständischen Unternehmen, Freiberuflern und Selbstständigen dauerhaft und extrem begünstigt. Letztere werden entweder in geringerem Umfang
oder letztlich gar nicht entlastet bzw. müssen sogar noch
draufzahlen. Die Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener werden im Vergleich zu Gering- und Normalverdienenden mindestens vierfach begünstigt. Das ist die
Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben.
Ihr Vorhaben ist eine Steuerreform, die den Osten nicht
voranbringt, die Bundesländer insgesamt und vor allem
die finanziell schlecht gestellten Bundesländer schwächt.
Dies können wir nicht hinnehmen, weil es zugleich eine
Schwächung der Kommunen bedeutet. Das alles wird uns
wirtschaftlich nicht voranbringen. Wir hätten statt einer
Förderung einen Widerstand gegen das internationale
Spielkasino gebraucht, in dem insbesondere die Aktiengesellschaften begünstigt werden. Diese brauchen nicht
Ihre Hilfe, diese kommen alleine klar und von denen hätten Sie die Versteuerung des Veräußerungsgewinns durchaus erwarten können.
Ihre Hilfe dagegen brauchen die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie die sozial Bedürftigen. Diese bekommen die Hilfe nach diesem Steuergesetz nicht. Das ist unser Problem damit und deshalb werden wir Nein dazu sagen.
({1})
Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in
der Tat bemerkenswert, wie diese Gesetzgebung die Fronten im Deutschen Bundestag durcheinander bringt. Ich
stelle fest: Fundamentalopposition von der PDS und der
F.D.P. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Gemeinsamkeit!
({0})
Ich gehe jede Wette ein, dass Herr Kollege Möllemann,
der sich erfolgreich aus dem Bundestag verabschiedet hat,
der Erste wäre, der diesem Gesetz zustimmten würde,
wenn er in Nordrhein-Westfalen in der Regierung säße.
({1})
- Ja, so wäre das.
Als Zweites sage ich zur CDU/CSU: Verehrter Herr
Rauen, es ist eine spannende Veranstaltung. Anderthalb
Jahre sind Sie in der Opposition und halten solche Reden.
Sie waren 16 Jahre in der Regierung und ich will Ihnen
einmal sagen, was Sie in den 16 Jahren gemacht haben:
({2})
Sie haben in den ganzen 16 Jahren den Spitzensteuersatz
um drei Punkte gesenkt; wir dagegen senken ihn um acht
Punkte in sechs Jahren.
({3})
Den Eingangssteuersatz haben Sie einmal um drei
Punkte gesenkt und dann wieder um drei Punkte heraufgesetzt. Wir dagegen senken ihn um rund 11 Prozentpunkte im Laufe von sechs Jahren.
({4})
Das steuerfreie Existenzminimum haben Sie so gering
gehalten, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen die
Verfassungswidrigkeit bescheinigen musste.
({5})
Die Familien haben Sie so hoch besteuert, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen auch hierfür die Verfassungswidrigkeit bescheinigen musste. Wir mussten das in
Ordnung bringen.
({6})
Übrigens: In den Petersberger Beschlüssen - Ihre Krokodilstränen sind toll; Herr Schlauch hat das zu Recht bemerkt - setzte der Spitzensteuersatz mit einem zugegebenermaßen niedrigeren Satz schon bei 90 000 DM ein, bei
uns erst bei 98 000 DM. Wie glaubwürdig ist denn all das,
was Sie erzählt haben?
({7})
Wenn es Ihnen, sehr verehrter Herr Rauen, so um das
Wohl der arbeitenden Menschen geht: Was haben Sie
denn mit dem Wohngeld gemacht, was haben Sie mit dem
Kindergeld gemacht,
({8})
was haben Sie mit dem BAföG gemacht? Alles haben Sie
gedeckelt! In keinem einzigen Fall haben Sie die Leistungen entsprechend der Inflationsrate angepasst, sodass der
Kreis der Berechtigten immer kleiner geworden ist und
wir, verehrter Herr Gysi, müssen das alles mit unserer
Sparpolitik wieder anheben. Wir können das aber nicht in
zwei oder drei Jahren in Ordnung bringen, was Sie in 16
Jahren an Sozialabbau geleistet haben. So glaubwürdig
sind Sie mit Ihrer ganzen Debatte!
({9})
Von der kalten Progression, mit der Sie völlig Recht
hatten und die wir von Zeit zu Zeit immer wieder korrigieren müssen, war doch in Ihrem Konzept überhaupt
nicht die Rede. Das ist doch die Wahrheit. Sozialabbau auf
der ganzen Front!
Was den Eingangssteuersatz anbetrifft, so ist dies eine
wunderbare Geschichte. Herr Merz ist zuerst mit 19 Prozent gekommen und Herr Faltlhauser musste ihn auf unsere Linie von 15 Prozent bringen. Das ist doch alles die
Wahrheit, mit der wir es zu tun haben, meine Damen und
Herren.
({10})
Wenn in Ihrer Regierungszeit alles so wunderbar gewesen ist, dann stellt sich doch die Frage, warum wir jetzt
die höchste Staatsverschuldung in Deutschland haben,
die wir nach dem Kriege je hatten.
({11})
Warum ist denn in Ihrer Zeit die höchste Arbeitslosigkeit
erreicht worden, die wir jemals in Deutschland hatten?
Warum müssen wir denn die Sozialsysteme in Ordnung
bringen, wenn alles in Ihrer Zeit so wunderbar gewesen
ist?
({12})
Warum eigentlich müssen wir Deutschland im internationalen Wettlauf um höhere Wachstumsraten wieder nach
vorne bringen? Warum steht seit 1995 Deutschland an
zweitletzter Stelle in der Europäischen Union, wenn Sie
so prächtige Arbeit geleistet haben, meine Damen und
Herren?
({13})
Wenn Sie sich wenigstens einigermaßen in der Kontinuität Ihrer Politik bewegt oder auf die Sache eingelassen
hätten, müsste ich jetzt nicht so einsteigen. Aber so geht
es wirklich nicht. Eine solche Regierungsbilanz nach
16 Jahren, und anderthalb Jahre später halten Sie in der
Opposition solche Reden! So geht es doch nicht.
({14})
Meine Damen und Herren, zu den Spezialitäten dieser
Debatte gehört auch - insoweit hat Herr Gysi übrigens
Recht -, dass Sie hier immer noch viel größere Steuersenkungen fordern. Wenn Ihre Rechnungen richtig wären,
Herr Rauen, warum sagte dann der saarländische Ministerpräsident in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit mir, mehr Entlastung könne das Saarland gar
nicht vertragen? Sie schreiben also doch offenbar
Schimären in Ihr Steuerentlastungspapier.
({15})
Warum sagt denn der hessische Finanzstaatssekretär, Hessen sei mit dieser Steuerreform an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt? Das ist doch öffentlich nachzulesen. Warum sagt mir ein Finanzminister mit Ihrem Parteibuch - den Namen werde ich jetzt nicht nennen -, sein
Bundesland könne das überhaupt nicht tragen? Unserer
Politik stehen Ihre Schimären gegenüber und Sie tun so,
als hätten die Länder mit Ihrem Konzept keine Probleme.
Aber das ist Unsinn und Sie wissen das auch ganz genau.
Deswegen möchte ich jetzt zum wirklichen Sachverhalt kommen. Hier müssen wir, meine Damen und Herren, drei Dinge zur gleichen Zeit sehen. Erstens müssen
wir raus aus der Schuldenfalle.
({16})
Übrigens ist das in Deutschland sehr populär. Wenn ich
mir den Luxus leiste - ich leiste ihn mir des Öfteren, wenn
ich abends Zeit habe -, mich in eine Kneipe zu setzen, was
glauben Sie, wie oft ich von Leuten angesprochen werde,
die sagen, sie seien Anhänger oder sogar Parteigänger von
Ihnen? Aus Ihrem Wahlkreis, Herr Kollege Waigel, haben
mich gerade vorgestern Abend am Potsdamer Platz Leute
angesprochen.
({17})
Sie haben mir gesagt: So wie Sie jetzt die Politik einleiten, indem Sie wirklich aus der Schuldenfalle herausgehen, ist es endlich gut. - Das ist die Wahrheit und das wissen Sie auch.
({18})
Das ist die eine Seite der Sache. Von dieser Seite redet - das halte ich für einen schweren Fehler - allerdings
Herr Kollege Gysi gar nicht. Wir können MecklenburgVorpommern nicht helfen, wenn wir es nicht schaffen, aus
dieser Schuldenfalle herauszukommen. Wissen Sie denn,
wo wir sind? Wir zahlen mehr Zinsen auf unsere Schulden, als wir Investitionen tätigen, und zwar seit der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P.
({19})
- Regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Repnik. Ich beschreibe einen Sachverhalt, den Sie kennen.
Wir nehmen nur noch Kredite auf, um Zinsen für alte
Schulden bezahlen zu können. Getilgt wird nichts. Das
nennt sich solide Finanzpolitik der Bundesrepublik
Deutschland. Sie sollten sich schämen, dass Sie uns so etwas hinterlassen haben!
({20})
Weil man nicht von dieser Stelle aus immer nur sagen
kann, man müsse mit den Steuern herunter, ohne die andere Seite zu bedenken, muss man - da hat Herr Gysi ja
Recht - in der Tat einmal fragen, was zwischen den Einnahmen, die wir nicht erlangen können, und den Ausgaben, die wir nicht tätigen können, weil alles zu zusätzlicher Staatsverschuldung führt, passiert. Dazwischen geschieht folgendes: In allen Haushaltsberatungen sagen
Sie, hier und da und dort würden wir zu wenig ausgeben
und alles kaputtsparen. So kann doch keine vernünftige
und seriöse Finanzpolitik betrieben werden, meine Damen und Herren.
({21})
Deswegen ist es überhaupt die erste Voraussetzung,
wenn man einen glaubwürdigen Beitrag zu dieser Debatte
leisten will, dass man sich Gedanken darüber macht, wie
man sich Spielräume für Steuersenkungen verschafft. Das
heißt, die Ausgabenseite des Haushaltes in Ordnung zu
bringen. Als ich dieses Vorhaben im vorigen Sommer angefangen habe, habe ich auf Ihrer Seite keine Leidenschaft dafür festgestellt.
({22})
Die ganze Bundesregierung arbeitet daran gemeinsam
und geschlossen. Von Ihnen aber habe ich nur gehört, es
gehe nicht und sei an vielen Ecken nicht zu machen. Wenn
Sie sich so leidenschaftlich für die Senkung der Staatsschulden einsetzen würden, wie Sie sich hier für die Senkung der Steuern für Spitzenverdiener einsetzen, würden
wir uns viel besser verstehen.
({23})
Das ist die eine Flanke. Natürlich sind wir zu Kompromissen bereit. Wer keine eigene Mehrheit hat, muss das
mit dem Bundesrat aushandeln. Das ist keine Frage.
({24})
- Darauf komme ich, Herr Kollege Repnik, sofort noch
einmal zurück. - Die Grenze unserer Kompromissfähigkeit hierbei steht fest: Es wird mit uns keine Steuerreform
geben, die gleichzeitig dazu führt, dass sich das Tempo
der Staatsverschuldung wieder erhöht. Wir müssen aus
der Schuldenfalle heraus und zu ausgeglichenen Haushalten kommen. Ich richte nun an Ihre Adresse die Frage:
Wollen Sie das auch?
({25})
Ich habe jetzt gerade die Steuerschätzungen vorliegen. Eine Reihe von Leuten haben bei diesen Schätzungen ja ihre finanzpolitische Reputation verloren. Wir haben nämlich inzwischen seriöse Grundlagen für Steuerschätzungen; das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Diese kommen zu dem Ergebnis, dass es keine nennenswerten Abweichungen gibt. Ich lese es Ihnen gleich vor:
Im Jahr 2000 beträgt die positive Schätzabweichung für
den Gesamtstaat 5,1 Milliarden DM, davon entfallen
1,8 Milliarden DM auf den Bund. Manche sagen jetzt, das
könne man sofort zur Steuersenkung einsetzen. Ich weise
aber auf eine Kleinigkeit hin: Wir machen in diesem Jahr
50 Milliarden DM neue Schulden. Man muss sich doch
einmal vor Augen führen, was vor diesem Hintergrund für
Debatten geführt werden. Als privater Schuldner könnten
Sie sich eine solche Diskussion gar nicht leisten.
Im Jahre 2001 betragen die Steuermehreinnahmen
im Gesamtstaat 3 Milliarden DM, davon entfällt 1 Milliarde DM auf den Bund; im Jahre 2002 sind es 4,1 Milliarden DM für den Gesamtstaat und 1,1 Milliarden DM für
den Bund,
({26})
im Jahre 2003 sind es 7,1 Milliarden DM für den Gesamtstaat und 2,5 Milliarden DM für den Bund. Das sind
aber Abweichungen, die sich im Rahmen des Üblichen bei
Schätzungen bewegen. So sieht die Wirklichkeit aus, mit
der wir es zu tun haben. Nachdem wir jetzt seriöse Grundlagen haben, werden wir nicht mehr den Reinfall erleben,
den wir früher bei jeder Steuerschätzung erlebt haben. Wir
spielen nämlich kein Roulette, sondern hier wird seriös
gearbeitet. Nichts anderes. Deshalb können Sie auf diesen
Punkt nicht setzen.
({27})
Auf der einen Seite müssen wir heraus aus der Schuldenfalle. Ich möchte wissen, wie Sie das machen wollen.
Auf der anderen Seite müssen wir die Steuern und Abgaben senken; aber nur dann, wenn Sie die Ausgabenseite im
Griff haben - ich weiß nicht, welcher Kollege es gesagt
hat, aber er hat Recht damit -, sind doch Steuer- und Abgabensenkungen überhaupt glaubwürdig. Ich glaube,
Herr Kollege Poß war es, der zu Recht gesagt hat, dass
wir, wenn wir jetzt Steuersenkungen auf Pump finanzieren, damit Steuererhöhungen für die Zukunft beschließen.
Das wäre völlig unglaubwürdig. So können Sie doch kein
Vertrauen schaffen, weder bei den Bürgern noch bei der
Wirtschaft.
({28})
Nun zur Entlastung: Erstens müssen wir - Sie blenden
da eine ganze Menge, übrigens auch aus Ihren eigenen
Reden, bewusst aus - die gesamte Steuer- und Abgabenpolitik dieser Regierung, seit sie angetreten ist, zusammennehmen. Dann ist der Fall völlig eindeutig, denn es
gibt eine massive Entlastung. Natürlich gibt es, Herr
Rauen, die kalte Progression, sie führt allerdings auch zu
Kostenerhöhungen für alle. Das möchte ich nur nebenbei
sagen, denn auch Sie selber wissen das. Natürlich bewegt
sich die Entlastung genau in der Größenordnung, wie wir
sie errechnet haben. Deswegen stöhnen ja auch die Länder. Es gibt also zunächst fast 57 Milliarden DM für die
privaten Haushalte. Nach und nach baut sich das nachhaltig in drei Stufen auf.
Wir bekennen uns allerdings dazu, dass wir den
Schwerpunkt bei den unteren Einkommen gesetzt haben.
Mit dem Schwerpunkt auf den unteren Einkommen tragen
wir zur Steigerung der Binnennachfrage bei, mit dem
Schwerpunkt auf den unteren Einkommen geben wir den
Menschen eine Chance, mehr Eigenvorsorge für die Zukunft und für die Rente zu betreiben, was nötig ist. Wir
setzen den Schwerpunkt auf die unteren Einkommen, weil
wir den Umstieg aus der Abhängigkeit von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in normale Beschäftigungsverhältnisse erleichtern müssen.
Kommen Sie mir im Zusammenhang mit diesem Punkt
doch nicht mit Ökosteuer und Lohnnebenkosten. Sie haben beides hoch getrieben: Die Mineralölsteuer wurde
von 1989 bis 1994 um 50 Pfennig und die Lohnnebenkosten wurden um 3 Prozent erhöht. Wir treiben die Mineralölsteuer nicht so hoch und senken noch die Lohnnebenkosten. Wegen Ihrer eigenen Regierungspraxis sind
Sie die ungeeignetsten Kritiker in diesem Punkt.
({29})
Da Sie so am Spitzensteuersatz hängen, weise ich auf
folgenden Punkt hin. Seit den 50er-Jahren haben Sie zwei
Drittel der Zeit den Finanzminister gestellt. In dieser Zeit
ist das Zusammenschnurren von oben und unten, das Sie
an dieser Stelle richtig beschrieben haben, doch von Ihnen
zu verantworten gewesen. Es gab keinen Versuch, das zu
verändern; auch nicht in den Petersberger Beschlüssen.
Bleiben Sie doch redlich und geben Sie dieses angesichts
der Tatsache zu, dass Sie dieses Thema plötzlich zum
Zentrum Ihrer Debatte machen! Das ist doch mehr das Ergebnis Ihrer als unserer Politik. Das muss einmal festgehalten werden.
({30})
Im Übrigen befinden wir uns mit unserem Vorschlag
bezüglich des Spitzensteuersatzes an zweitniedrigster
Stelle in der Europäischen Union.
({31})
Was den Eingangssteuersatz anbelangt, liegen wir im Mittelfeld. Dieser Punkt muss festgehalten werden. Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie zum Beispiel die rund
30 Milliarden DM, die Sie im Rahmen Ihres Steuermodells für die Absenkung des Spitzensteuersatzes auf
35 Prozent zusätzlich brauchen, finanzieren wollen. Ich
bin da auf den Vermittlungsausschuss gespannt.
Sie haben Recht, dass ich den Vermittlungsausschuss
von innen kenne: Ihre Vorschläge halten Sie nur so lange
aufrecht, wie sie öffentlich diskutiert werden und so lange
klar ist, dass es im Vermittlungsausschuss keine Mehrheit
dafür gibt. Genauso lange bestehen Ihre Vorschläge und
keinen Augenblick länger.
({32})
Ich war schon auf dem Petersberg dabei. Damals haben
Ihre Kollegen Finanzminister von CDU, CSU und F.D.P.
gesagt: Ihr bleibt doch standhaft! - Das ist die Wahrheit.
({33})
Die Länder konnten es nicht finanzieren. Das wissen Sie
ganz genau. Deswegen haben Sie die Vorschläge am Ende
der Wahlperiode vorgelegt, weil Sie wussten, dass Sie
diese Vorschläge am Ende der Wahlperiode nicht mehr
umsetzen konnten.
({34})
Wir legen unsere Vorschläge am Anfang der Wahlperiode
vor. Bei Ihnen gab es diesbezüglich ein großes Versäumnis.
({35})
Zweitens: Entlastung der Unternehmen. Sie, Herr Kollege Merz, müssen nur Ihre eigenen Reden vom Frühjahr
des vorherigen Jahres nachlesen. Damals haben Sie genau
das Gegenteil von dem behauptet, was jetzt Herr Rauen
erzählt. Herr Rauen sagt nämlich: Ihr entlastet die Großen
und die Kleinen kommen schlecht weg. - Im vorigen
Frühjahr haben Sie genau das Gegenteil erzählt.
({36})
Sie haben gesagt, wir würden eine Steuerpolitik machen,
um die Großen zu vertreiben. Was denn nun?
Die Wahrheit ist einfach. Es ist beides richtig und beides falsch. Das heißt, die Großen sind in der Tat durch das
Steuerentlastungsgesetz belastet worden. Sie werden aber
entlastet durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes.
Am Schluss geht es für diese Unternehmen praktisch null
für null auf. Die 20 Milliarden DM Entlastung für die Unternehmen kommen ausschließlich bei den kleinen und
mittleren Unternehmen an.
({37})
Übrigens ist es eine spannende Frage, welche Unternehmen Sie als kleine und mittlere Unternehmen definieren. Wir nehmen die Definition des Instituts für Mittelstandsforschung: Kleine und mittlere Unternehmen sind
solche, die bis 500 Arbeitsplätze und bis 100 Millionen DM Umsatz haben. Ich kenne aber Betriebe von
ganz anderer Größenordnung, die noch als Personengesellschaft geführt werden und die den von ihnen aus verständlichen, von mir aus aber nicht hinnehmbaren Versuch machen, durch Kombination die Vorteile aller Besteuerungssysteme für sich zu nutzen. An diesem Punkt
mache ich allerdings nicht mit.
Herr Kollege Eichel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Ja, von
mir aus gerne.
({0})
Herr Bundesfinanzminister,
ich habe nur eine ganz kurze Frage: Würden Sie einräumen, dass die Belastungen der Großen entweder zeitlich
befristet oder nur einmalig sind, während die Entlastungen dauerhaft sind, sodass letztlich für die Großen eine
sehr viel größere Entlastung herauskommt? Einmalige
oder zeitlich befristete Belastungen kann man nicht Entlastungen gegenüberstellen, wenn die Großen über Jahre
und Jahrzehnte dauerhaft entlastet werden.
Sehr verehrter Herr Kollege Gysi, Sie haben Recht und auch wieder nicht Recht. Die Entlastung gilt für alle Unternehmen.
Die Abschreibungen sind nur Streckung der Steuerschuld.
Sie sind ein Finanzierungsinstrument und kein Steuererlass. Insofern gilt diese Regelung für den gesamten Unternehmensbereich, also für die kleinen und mittleren genauso wie für die großen Unternehmen. Es gibt in diesem
Bereich eine Entlastung.
({0})
Nun komme ich zu einer Frage, auf die ich von Ihnen
eine Antwort hören möchte. Ich gehe ein auf das Thema
Gleichmäßigkeit der Besteuerung der verschiedenen
Einkunftsarten und Verwendungen. Wir regeln hier etwas,
was seit 50 Jahren das Handwerk und den Einzelhandel
massiv belastet und ärgert. Ich kenne dieses Problem, weil
mein Vater Freiberufler, nämlich Architekt war. Er hätte
sich nie im Leben damit einverstanden erklärt, Gewerbesteuer zu zahlen.
Der Handwerksmeister hat aber immer gesagt: Wir
verstehen überhaupt nicht, wieso wir Gewerbesteuer zahlen und der Anwalt und der Zahnarzt zahlen sie nicht. Wir
beseitigen diesen Missstand. Jetzt erklären Sie mir einmal, warum Sie nicht zustimmen, wenn wir diesen Missstand beseitigen. Das möchte ich von Ihnen jetzt wissen.
({1})
Wir werden in jede einzelne Handwerksversammlung
gehen und sagen: Genau das, was ihr seit 50 Jahren beklagt, dass ihr nämlich mehr Steuern zahlen müsst als die
Freiberufler und als der normale Arbeitnehmer, weil es für
euch die Sonderbelastung Gewerbesteuer gibt, beseitigen
wir für euch als Kostenfaktor. Aber - das werden wir ihnen auch sagen - CDU, CSU und F.D.P., die klassischen
„Mittelstandsparteien“, sind dagegen. Das werden Sie ihnen erklären müssen. Da werden Sie noch viel Zeit brauchen.
({2})
Da hilft mir der Hinweis, man müsse die Gewerbesteuer abschaffen, überhaupt nicht. Selbst wenn ich darüber nachdenke, muss ich Ihnen sagen: Die Vorschläge, die
ich von Ihnen zur Einkommensteuer gehört habe, sind
schlicht verfassungswidrig. Sie wissen genau, dass wir in
der Verfassung die Garantie einer wirtschaftsbezogenen,
mit Hebesatzrecht ausgestatteten Steuer haben. Also
wird es nur funktionieren - da liegt übrigens in Wirklichkeit ein Weg über das Optionsmodell, meine Damen und
Herren -, wenn wir zu einer wirtschaftsnahen Steuer kommen, bei der auch die Kommunen ein Hebesatzrecht kriegen. Ich würde das an Ihrer Stelle nicht wegwerfen. Das
ist nämlich in Wirklichkeit eine richtige Schneise in die
Zukunft. Da läge eine Chance. Sie werden es über die Einkommensteuer nicht machen können; das ist verfassungswidrig.
Im Übrigen gibt es aus gutem Grund eine wirtschaftsbezogene Steuer der Kommunen,
({3})
weil die Kommunen nämlich Interesse am Wohlergehen
der Wirtschaft vor Ort haben sollen. Ergo gab es für uns
nur die Situation, entweder auf Ihre Forderung einzugehen und die Gewerbesteuer abzuschaffen - das hätte bedeutet, diese Steuerreform mindestens um vier oder fünf
Jahre zu vertagen, weil man sie dann mit einer Gemeindefinanzreform verbinden muss -, oder sie jetzt zu machen und das große Problem, die besondere Belastung des
Handwerks und der mittelständischen Betriebe durch die
Gewerbesteuer, zu beseitigen. Genau das tun wir, und Sie
werden erklären müssen, warum Sie das nicht wollen.
({4})
Damit komme ich zum Thema Kapitalgesellschaften
und Personengesellschaften. Dass das, was Sie erzählen,
falsch ist, wissen Sie ganz genau. Ich habe es hier schon
ein paar Mal erklärt, ich werde es auch in jeder Versammlung wieder sagen. Ich nehme übrigens an vielen
Mittelstandsversammlungen teil. Da komme ich ganz
prima klar, die können nämlich rechnen.
({5})
38 Prozent Definitivbesteuerung als Durchschnittssatz erreicht der Mittelständler, der einzelne Unternehmer, unverheiratet, erst, wenn er einen steuerpflichtigen Gewinn
von mehr als 200 000 DM ausweist, wenn er verheiratet
ist, von mehr als 400 000 DM.
({6})
Ich sehe die Mittelständler jedes Mal vor mir: Die rechnen dann einen Moment und sagen, davon sind wir gar
nicht betroffen. Richtig. Nur 5 Prozent der mittelständischen Personengesellschaften kommen über diesen Gewinn hinaus und sind davon betroffen. Alle anderen haben
eine niedrigere tarifäre Belastung als die Körperschaften,
meine Damen und Herren. Das ist die schlichte Wahrheit.
({7})
Dass übrigens dennoch die Körperschaften keine
schlechte Form für die kleinen Betriebe sind, das wissen
Sie auch. Es gibt nämlich eine Fülle von kleinen Unternehmen, die Körperschaften sind. Deswegen ist das, was
Sie erzählen, falsch. Das Optionsmodell ist doch kein
Steuersparmodell, mal rein, mal raus. Das macht übrigens
auch kein Betrieb; das ist ja völliger Unsinn.
({8})
Er entscheidet sich einmal, und zwar bereits am Anfang,
für eine Rechtsform. Deswegen ist die Frage nach der Option nichts anderes als die Frage nach seiner Rechtsform,
von gleicher Schwierigkeit. Nur muss er sie dieses Mal
gar nicht beantworten.
({9})
Er kann nämlich - das ist doch eine Stärkung der Personengesellschaften - Personengesellschaft bleiben und
kann, wenn er es will, alle Vorzüge der Körperschaftsteuer
in Anspruch nehmen. Das ist eine Wahlfreiheit für die Unternehmen, verehrter Herr Thiele.
({10})
Weshalb das die F.D.P. stört, verstehe ich überhaupt nicht.
({11})
Außerdem funktioniert das in Frankreich und in den Vereinigten Staaten. Es gibt eine Reihe europäischer Länder,
die ihre Personengesellschaften steuerlich grundsätzlich
wie Körperschaften behandeln.
Ich sage Ihnen: Denken Sie noch einmal über den
Punkt nach, dass hier in Wirklichkeit - und zwar rechtsformunabhängig - eine Chance für die Zukunft des Steuerrechts und für die Zukunft einer rechtsformneutralen
Unternehmensbesteuerung liegt. Ich würde das an Ihrer
Stelle nicht ablehnen. Eine Reihe Klügerer haben das inzwischen sehr genau begriffen. Deswegen ist das alles
falsch. Die Personengesellschaften werden tarifär weniger belastet, und die 20 Milliarden DM an Einnahmeausfall kommen ja auch irgendwo her.
({12})
Nun zu einem anderen Punkt: Gleichmäßigkeit der
Besteuerung. Wer wie Sie für eine Abgeltungssteuer bei
Kapitaleinkünften plädiert, soll doch von der Gleichförmigkeit der Besteuerung unabhängig vom Einkommen
nicht mehr reden; denn die Abgeltungssteuer ist nichts anBundesminister Hans Eichel
deres als eine niedrigere Besteuerung der Kapitaleinkünfte bei höheren Einkommen als die normale Besteuerung der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitstätigkeit.
({13})
Auch das wollen wir einmal festhalten.
Dann zu dem entnommenen und im Unternehmen verbleibenden Gewinn. Die Sache ist doch anders: Bis
heute - das haben Sie zu vertreten - benachteiligen wir
den im Unternehmen reinvestierten Gewinn. Der Ausschüttungssteuersatz bei der Körperschaftsteuer beträgt
30 Prozent, die Steuer für den einbehaltenen Gewinn
40 Prozent. Auch so kann man Unternehmen kaputtmachen! Wundern Sie sich nicht über die hohe Zahl von Insolvenzen, die wir in Deutschland haben.
({14})
Wer über die Frage nachdenkt, wie wir zu einer stabileren Unternehmensstruktur und zu weniger Insolvenzen
kommen - übrigens gehen sie in unserer Zeit zurück;
({15})
darauf will ich einmal hinweisen -, kommt direkt zum Bericht der Deutschen Bundesbank vom Oktober vergangenen Jahres, der im Vergleich Deutschland/Frankreich
klargemacht hat, dass - übrigens nicht nur im Osten, Herr
Kollege Gysi, aber da besonders - die Unternehmen eine
zu geringe Eigenkapitalausstattung haben. Es ist Unsinn,
die Entnahme steuerlich zu privilegieren. Genau das haben wir aber vorgefunden. Jedes Unternehmen muss anständig investieren; sonst hat es keine Zukunft. Ein Unternehmen ist doch keine spekulative Veranstaltung, sondern hat auch eine Verantwortung.
Deswegen wollen wir von Ihnen ganz genau beantwortet bekommen, wie Sie das regeln wollen. An der
Stelle haben wir eine völlig klare Position.
Nun komme ich zur Frage der Entlastungsvolumina.
Auch hier ist die Frage an Sie ganz einfach. Wenn Sie der
Meinung sind, Sie könnten noch mehr tun, und wenn Sie
das ernst meinen, fordere ich Sie auf: Beziffern Sie, woher Sie das nehmen wollen! Das würde ich gerne genau
wissen. Und dann bringen Sie mir mit Unterschrift der Finanzminister, die das CDU- oder das CSU-Parteibuch haben, und zwar aller, die Bestätigung, dass die zusätzlichen
Einnahmeausfälle, die Sie nach Ihrem Gesetzentwurf planen, von Sachsen, Thüringen, Berlin, Bremen usw. auch
finanziert werden können!
All das sind Fragen, auf die Sie keine Antwort geben;
das sind Schaugefechte für die Öffentlichkeit. Insofern ist
es gut, dass der Vermittlungsausschuss hinter verschlossenen Türen tagt. Das erleichtert Ihnen nachher ein bisschen den Rückzug.
({16})
Eines jedenfalls ist zwingend erforderlich - das ist eine
Frage der Offenheit und Ehrlichkeit einer Debatte -:
Wenn Sie höhere Einnahmeausfälle akzeptieren wollen,
dann möchte ich ganz gerne, dass Sie auch öffentlich sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen,
({17})
ob Sie es durch weitere Ausgabeeinschränkungen einnehmen wollen, was ein redlicher Weg wäre, denn auch Sie
sagen, dass Sie keine höheren Staatsschulden wollen.
Aber Sie müssen sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen. Ich komme gleich noch auf die Risiken zu sprechen.
Das ist ja eine Gespensterdebatte, wenn man die Finanzlage einmal ernsthaft betrachtet. Deswegen wird Ihr Gesetzentwurf den Tag auch nicht überstehen.
Über zusätzliche Steuereinnahmen bekommen Sie das
Geld nicht; das zeigt die Steuerschätzung. Übrigens sind
Sie auch mit Ihren Summenangaben völlig unredlich.
Darin sind zum Teil sogar Ihre eigenen Steuererhöhungen
enthalten. Wir haben Ihnen doch mit einem Punkt Mehrwertsteuererhöhung zum 1. April 1998 aus der Patsche
geholfen, damit Sie nicht eingestehen mussten, dass der
Rentenversicherungsbeitrag auf über 21 Prozent steigt.
Auch wir wollten das nicht, weil das Gift für die deutsche
Wirtschaft ist. Aber das sind doch die Steuererhöhungen,
die Sie gewollt haben! Weil Sie das in Ihrer Koalition
nicht über die Mineralölsteuer regeln konnten, sind Sie zu
uns gekommen und haben gesagt: Unterstützt uns bei der
Mehrwertsteuererhöhung. Das haben wir getan. Aber
dann können Sie doch nicht behaupten, der Staat hätte dadurch mehr Geld, sondern dieses Geld haben Sie genommen, um den Rentenversicherungsbeitrag wenigstens stabil zu halten. Was ist nun dagegen einzuwenden, wenn wir
das Geld aus der Ökosteuer nehmen, um den Rentenversicherungsbeitrag zu senken? Sie müssen sich wenigstens
einmal mit Ihrer eigenen Praxis konfrontieren. So kurz
kann Ihr Kurzzeitgedächtnis gar nicht sein!
({18})
Zu den Privatisierungserlösen. Ich denke, jeder, der
einigermaßen seriös Finanzpolitik macht - da stimme ich
auch mit öffentlichen Äußerungen von Finanzministern
Ihrer Seite und zum Beispiel vom Kollegen Biedenkopf
oder vom Kollegen Diepgen überein -, weiß, dass Privatisierungserlöse nicht für dauerhafte Ausgaben zur Verfügung stehen. Das ist doch völlig klar. Darüber brauchen
wir unter seriösen Leuten hoffentlich keinen Streit anzufangen. Im Übrigen brauchen wir sie alle für die Telekom
und die Post-Unterstützungskassen. Ich habe übrigens einen tollen Ratschlag von einem Professor gelesen, ganz
abenteuerlich: Ich könnte jedes Jahr alleine von der Telekom 100 Milliarden DM holen. Da hat er sich wohl nicht
die Aktienkurse angeschaut. Wer das machen will, treibt
die Kurse in den Keller. Mit solchen Dingen muss man
doch seriös umgehen.
Die Debatte zu den Privatisierungserlösen verstehe ich
nicht. Wir haben das Geld noch nicht und wissen auch gar
nicht, wie viel wir bekommen. Aber ich habe lauter Vorschläge auf dem Tisch, nach denen es schon dreimal ausgegeben ist. So sieht dann auch die Finanzlage dieses
Staates aus. Eine solche öffentliche Debatte dürfen wir
alle nicht mitmachen, wenn wir ernst genommen werden
wollen.
({19})
Deswegen geht an dieser Stelle nur eines - das ist der
einzige seriöse Vorschlag; der Bundeskanzler hat das öffentlich betont -: Das Geld, das durch Privatisierungen
zur Verfügung steht, wird zur Schuldentilgung eingesetzt.
Ich weiß ja noch gar nicht, wie hoch die Erlöse sein werden. Wenn wir dann vernünftig vorgehen und die Zinsen
nicht sehr steigen, dann haben wir geringere Zinsausgaben. Wir müssen dann also nicht die Ausgaben erhöhen.
Vielmehr verbessern wir unsere Ausgabenstruktur.
Die dann zur Verfügung stehenden Mittel können wir
für die Infrastruktur einsetzen. In diesem Zusammenhang
gibt es noch eine Reihe von Aufgaben, zum Beispiel den
Aufbau Ost. Das ist überhaupt keine Frage. Deswegen
sollten Sie sich nicht nur hier herstellen und weitere Steuersenkungen fordern. Sie sollten vielmehr Ihre sonstigen
Forderungen auf den Tisch legen.
Ich bin zu den Rentengesprächen eingeladen worden.
Ich will bei dieser Gelegenheit zu diesem Thema nur einen Satz sagen. Es tut mir Leid: Ich wollte bei der Frage,
die ich in diesem Zusammenhang zu beantworten habe,
kein Missverständnis anrichten. Aus Ihren Reihen kommt
doch der Vorschlag - er ist ja nicht falsch -, das Rentenproblem zusammen mit den damit in Verbindung stehenden steuerlichen Fragen zu bearbeiten. Darauf habe ich
gesagt: Ich würde gerne alle Rechtsrahmenbedingungen
dieses Bereiches kennen. Das ändert nichts an dem Fahrplan von Walter Riester; wir sind uns darin völlig einig.
({20})
Die andere Frage aber ist - um nichts anderes geht es -:
Erledigen wir den Teil, den ich bearbeiten muss, im Blindflug und warten wir nicht ab, was das Bundesverfassungsgericht hinterher dazu sagt, oder ist es nicht vernünftiger, das so hinzubekommen, dass die Vorgaben aus
Karlsruhe gleich mit eingearbeitet werden?
({21})
Meine Damen und Herren, im Moment bestehen für
mich drei große Risiken. Es handelt sich um drei Urteile
aus Karlsruhe. Es geht erstens um diejenigen, die von
1945 bis 1949 enteignet worden sind und die jetzt auf
höhere Entschädigungszahlungen klagen. Zweitens geht
es um die Einmalzahlungen im Bereich Arbeitslosengeld
und Arbeitslosenhilfe, denen keine Leistungen gegenüberstehen, und drittens um die Frage, wie künftig Renten und Pensionen besteuert werden. Hier gibt es also riesige Risiken.
Wenn ich noch ein wenig Geld hätte - das habe ich leider nicht -, dann würde ich gerne Reserven bilden, um
diese in der Zukunft bestehenden Risiken abdecken zu
können. Das sollten auch Sie von einem vorsorgenden Finanzminister erwarten. Die finanzpolitischen Sprecher
aller Fraktionen müssten sich eigentlich so verhalten.
Man kann doch nicht finanzpolitisch von der Hand in den
Mund leben.
({22})
Deswegen sage ich Ihnen zum Schluss: Es gibt nur
dann eine gemeinsame Linie, wenn wir auf der einen Seite
aus der Schuldenfalle herauskommen und auf der anderen
Seite die Steuern und Abgaben seriös senken. Wir sollten
den Menschen nicht etwas vorgaukeln, was man in Wirklichkeit gar nicht durchhalten kann, und sollten bei all diesen Maßnahmen eine Politik definieren, die dieses Land
wirklich nach vorne bringt und seine Ausgabenstruktur
zukunftsgerichteter gestaltet.
Folgende Frage macht mir große Sorgen: Fürchten Sie
angesichts Ihrer einseitigen Konzentration auf weitere
Steuerentlastungen - die werden übrigens die Länder
nicht mitmachen, auch die von Ihnen regierten nicht nicht auch, dass uns unsere Kinder, wenn wir im Jahre
2010 - vielleicht auch ein bisschen früher - den Höhepunkt der Staatsverschuldung erreicht haben, die Dänen
aber längst keine mehr haben und inzwischen auch der
ehemals hoch verschuldete amerikanische Staat völlig
schuldenfrei ist, fragen werden: Welche Lasten habt ihr
uns da aufgebürdet und wieso haben wir so viel mehr zu
tragen als die jungen Dänen oder die jungen Amerikaner?
Fürchten Sie das nicht auch?
({23})
- Lieber Herr Repnik, die Frage ist, ob Sie diese Lasten
in die Zukunft bzw. auf unsere Kinder verschieben, indem Sie den Menschen vorgaukeln, es entstünden keine
Lasten, oder ob Sie den Menschen sagen, dass es Lasten
gibt und wie sie zu finanzieren sind.
({24})
Wenn unsere Kinder für unsere Schulden Steuern zahlen müssen, wird sie dies nicht sehr lustig stimmen. Sie
werden ihnen im Jahre 2010 mit diesem Argument nicht
sehr glaubwürdig gegenübertreten können. Auch Sie wissen das ganz genau. Deswegen ist an dieser Stelle nicht
mit der Regierung zu verhandeln. Es ist völlig klar, dass
wir nicht zu höherer Staatsverschuldung zurückkehren
werden, sondern den Weg aus der Staatsverschuldung
konsequent weitergehen werden. Wie gesagt, ich wüsste
von Ihnen gerne, ob das eine Leitplanke ist, die auch Sie
akzeptieren. Dann könnte man über vieles andere leichter
sprechen.
Ich wüsste von Ihnen zudem gerne, ob Sie den Abbau
der Ungleichbehandlung, die heute im Hinblick auf die
Handwerker und den Mittelstand im Vergleich zu den
Freiberuflern und Arbeitnehmern besteht - wir beseitigen
diese jetzt -,
({25})
mittragen oder ob Sie diesen Abbau blockieren wollen.
({26})
Angesichts dessen, dass Sie stärkere Steuersenkungen mit
höheren Einnahmeausfällen wollen, wüsste ich von Ihnen
gerne, wie Sie das finanzieren wollen.
Deutschland ist mit unserer Politik offenkundig auf
dem richtigen Weg.
({27})
- Ich brauche doch nur ein einziges unverdächtiges Institut zu nennen, an dessen Spitze inzwischen ein Deutscher
sitzt, der Ihr Parteibuch hat, nämlich Horst Köhler.
({28})
Der Internationale Währungsfonds kommt in seinem neuesten Weltwirtschaftsbericht, und zwar mit ausdrücklichem Hinweis auf die Steuer-, Abgaben- und auch Haushaltspolitik dieser Bundesregierung, zu dem Ergebnis ich mache mir dies noch gar nicht zu Eigen, weil ich ein
vorsichtiger Mann bin -, dass Deutschland im Jahr 2001
von allen reichen Industrienationen die höchste Wachstumsrate haben und damit die Konjunkturlokomotive in
Europa sein wird.
({29})
Sie haben ja immer beklagt, es gebe die Statistik über
die Zahl der Beschäftigten nicht. Jetzt gibt es sie wieder,
aber Sie machen natürlich keinen Gebrauch davon, weil
Ihnen das Ergebnis nicht passt. Nach dieser Statistik ist
die Arbeitslosigkeit seit Oktober vergangenen Jahres gesunken, und zwar nicht nur deshalb, weil mehr Ältere ausscheiden, als Junge nachkommen, sondern weil mehr
Arbeitsplätze geschaffen werden.
({30})
Seit Oktober vergangenen Jahres sind bereits 155 000
neue Arbeitsplätze geschaffen worden, meine Damen und
Herren.
({31})
Das ist die Wirklichkeit.
({32})
Wenn Sie die Zahlen aus Ihrer Zeit noch einmal hören
wollen: Die Zahl der Arbeitsplätze hat 1995 um 37 000, in
1996 um 277 000 und in 1997 um 287 000 abgenommen.
Seien Sie also ganz vorsichtig mit Ihren Bemerkungen.
Deutschland ist mit dieser Politik - und das wissen Sie auf dem richtigen Weg.
Und warum gibt es eine so große Akzeptanz in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und bei den Gewerkschaften?
Es gibt sie, weil wir mit ihnen gemeinsam - darüber sollten Sie nachdenken - daran gearbeitet haben. Der Vorsitzende der Steuerreformkommission war der Steuerexperte des Deutschen Industrie- und Handelstages, für das
Handwerk hat Herr Hinterdobler daran teilgenommen.
Und bevor die Brühler Reformkommission ihre Entscheidung getroffen hat, haben alle Herren bei ihren Verbänden
nachgefragt, ob sie dem zustimmen dürfen.
({33})
Deswegen ziehe ich vor denen in der Wirtschaft wie
auch in der Gewerkschaft den Hut, die, wenn eine Verabredung getroffen worden ist, auch dann dazu stehen, wenn
sie von CDU und CSU angegriffen werden.
({34})
Ich habe wenig Verständnis für diejenigen, die mit uns
Verabredungen treffen, und zwar im eigenen Interesse,
und anschließend, wenn sie meinen, der Wind wehe von
der anderen Seite, sagen, dass sie das alles nicht gewusst
hätten. Nein, das ist kein vernünftiges Zusammenspiel.
Eine Nation hat Anspruch auf eine ernsthafte Führung.
({35})
Das richtet sich nicht nur an die Politik, sondern auch an
die Repräsentanten der großen gesellschaftlichen Gruppen. Der Bundeskanzler hat recht daran getan, das Bündnis für Arbeit einberufen zu haben und es, im Unterschied
zu seinem Vorgänger, zu pflegen,
({36})
weil die Menschen im Lande genau diese Ernsthaftigkeit
von uns erwarten und auch erwarten können. Das ist nämlich unsere Aufgabe.
Ich sage Ihnen: Wir sind auf dem richtigen Wege. Wir
werden im Vermittlungsverfahren Kompromisse machen.
Aber Sie werden in diesem Verfahren auch bekennen
müssen, was überhaupt zu finanzieren ist. Dann wird der
Spuk ein Ende haben, den Menschen auf der Straße öffentlich etwas zu versprechen, von dem Sie selber schon
heimlich sagen, dass das überhaupt nicht geht. Lassen Sie
uns dieses Thema im Sommer abschließen - wie gesagt,
mit Kompromissen; das wird sein müssen. Aber dieses
Land braucht den großen Fortschritt, der in dieser Politik
steckt. Wir sind auf dem richtigen Wege. Mit dieser Politik kommen wir jetzt richtig voran.
({37})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Minister, im Mittelpunkt
Ihrer Rede stand wieder einmal die Vergangenheitsbewältigung und dabei - wie es bei den Steuerdebatten nicht
anders sein kann - das Wort Verschuldung. Wie bei all
Ihren Reden haben Sie auch heute vergessen, dass in den
letzten zehn Jahren etwas in unserem Land geschehen ist,
nämlich die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes.
({0})
Lassen Sie mich anlässlich des heutigen 18. Mai auf
ein Ereignis hinweisen, das gerade von dieser Regierung
so vergessen wurde, wie die Einheit von ihr überhaupt
vergessen wird. Genau heute vor zehn Jahren wurde der
Vertrag unterzeichnet, der zur deutschen Währungsunion
führte. Unterzeichnet hat ihn unser damaliger Finanzminister Theo Waigel.
({1})
Damit wurden die wesentlichen Weichen für eine positive
Entwicklung in den neuen Ländern gestellt; damit wurde
die wesentliche Grundlage für eine gemeinsame wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung in unserem Vaterland gelegt. Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Helmut Kohl und Theo Waigel ganz herzlich
dafür zu danken.
({2})
Wir beraten heute nicht über einen Gesetzentwurf, sondern - im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode - über
zwei Gesetzentwürfe. Im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode hat sich die jetzige Opposition konstruktiv an
diesem Beratungsprozess mit einem eigenen, ausformulierten Gesetzentwurf beteiligt.
({3})
Es wäre gut gewesen, wenn sich die Regierungskoalition
dem Rat der Sachverständigen und den Vorschlägen der
Oppositionsfraktionen nicht so verschlossen hätte, wie sie
sich verschlossen hat. Sie haben nicht nur bei den Anhörungen die Zahl der Sachverständigen begrenzt, sondern Sie haben sogar die Anhörungen offiziell als „Aufmarsch der Lobbyisten“ bezeichnet. Konsequenterweise
haben Sie in den Ausschussberatungen an Ihren Gesetzentwürfen nur Marginalien geändert.
({4})
Das, was Sie geändert haben, ist zum Teil noch schlechter
als das, was Sie vorher vorgelegt haben, beispielsweise
bei der Gewerbesteueranrechnung.
({5})
Ihre Regelung bedeutet eine zusätzliche Verschlechterung
für die Gewerbesteuer zahlenden Betriebe.
Herr Minister, es bleibt dabei: Die größte Schwachstelle in diesem Entwurf ist die Schieflage zwischen Kapitalgesellschaften auf der einen und den Personenunternehmen auf der anderen Seite.
({6})
Sie bevorzugen einseitig die Aktiengesellschaften und die
GmbHs; Sie benachteiligen die Personenunternehmen
und die Einzelunternehmen. Sie bevorzugen einseitig die
großen und benachteiligen deutlich die kleinen und mittleren Unternehmen.
({7})
Das ist nicht nur unsere Auffassung. Darin sehen wir uns
in Übereinstimmung mit einer Reihe von Verbänden, die
nicht nur mittelständische Unternehmen vertreten. Nicht
nur Herr Kühn und Herr Hinterdobler, die von Ihnen zitiert wurden, beten uns inständig an,
({8})
bitten uns, das Nötigste zu tun und diese Schieflage zulasten des Mittelstandes zu beseitigen.
({9})
Es ist niemand anderes als der Bundesverband der Deutschen Industrie - der wirklich nicht nur mittelständische
Interessen vertritt -, der geschrieben hat - das ist wörtlich
nachzulesen -: „Nachbesserungen für den Mittelstand
sind dringend erforderlich“.
Meine Damen und Herren, Sie ersehen daraus: Wir stehen nicht allein; unsere Kritik ist berechtigt. Ich will sie
Ihnen auch begründen. Worin liegt die Schieflage? - Sie
liegt in zwei Dingen. Zum einen liegt sie im Verlauf des
Einkommensteuertarifs im Einkommensteuerhöchstsatz beides im Vergleich zu der Senkung bei der Körperschaftsteuer - und sie liegt zum anderen - das, Herr
Minister, haben Sie überhaupt nicht angesprochen - bei
der steuerlichen Behandlung von Veräußerungsgewinnen.
({10})
Es ist schon verwunderlich, dass Sie dieses Thema überhaupt nicht angesprochen haben, mit keinem Satz. Ich
habe genau zugehört. Das lässt tief blicken.
({11})
Nun zum Steuersatz und Steuertarif. Wir haben in
unserem Entwurf vorgesehen, dass wir beim Anrechnungsverfahren bleiben, dass wir deshalb den Körperschaftsteuersatz für die einbehaltenen Gewinne von
40 Prozent auf 30 Prozent und für die ausgeschütteten auf
25 Prozent senken.
({12})
- Das hat überhaupt nichts mit Steuervereinfachung zu
tun.
({13})
Sie wissen, dass sich dies bewährt hat und überhaupt
nicht - was Sie immer unterstellen - kompliziert ist.
({14})
Jetzt sagen Sie, Herr Minister, wir würden damit die einen Gewinne bevorzugen und die anderen benachteiligen.
Offensichtlich haben Sie das System nicht verstanden
oder es ist Ihnen falsch aufgeschrieben worden. Im Gegensatz zu Ihrem Entwurf, nach dem der Körperschaftsteuersatz definitiv bei 25 Prozent liegen soll, und nicht
mehr angerechnet werden darf, wollen wir, dass für die
einbehaltenen Gewinne ein Satz von 30 Prozent und für
die ausgeschütteten Gewinne ein Satz von 25 Prozent gilt,
wobei dieser dann auf die individuelle Einkommensteuer
angerechnet werden soll. Das ist eine völlig andere
Grundlage als das, was Sie vorhaben. Deshalb: Sie können nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
({15})
Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal im Haus sachkundig zu machen. Ihre Beamten können Ihnen das sicher
einmal erklären.
Ein Satz von 25 Prozent klingt ja zunächst einmal sehr
gut. Man meint, damit würden - wie Sie das gesagt haben alle entlastet, auch die kleinen GmbHs. Bei den kleinen
GmbHs jedoch, wo der Geschäftsführer einen Großteil
seines Gehalts dem Gewinn entnehmen muss, wird sich
im Vergleich zur bisherigen Situation eine zusätzliche Belastung einstellen, eben weil das Anrechnungsverfahren
nicht mehr gilt - von vornherein gilt der Steuersatz von
25 Prozent - und dann noch das Halbeinkünfteverfahren
angewendet wird. Das heißt, für die kleineren GmbHs, wo
der Anteil des Geschäftsführergehalts größer ist, ist das
sogar von Nachteil, ganz abgesehen davon, dass durch die
Bevorzugung des einbehaltenen Gewinns eine Gewinnverwendungsstrategie gefahren wird, die überhaupt nicht
sachgerecht ist.
Noch deutlicher zeigt sich die Benachteiligung im Vergleich zur Einkommensteuerbelastung. Nach den Vorschlägen der Regierungsfraktionen gilt ab dem Jahr 2001
ein Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent und ein
Einkommensteuerhöchstsatz von 48,5 Prozent - nicht von
45 Prozent, sondern von 48,5 Prozent!
({16})
Obwohl die mittelständischen Unternehmen schon im
letzten Jahr durch die Gegenfinanzierung im Zuge des
Steuerentlastungsgesetzes - zum Beispiel durch Abschaffung von Abschreibungsmöglichkeiten - belastet wurden,
sollen sie jetzt über die Änderung des Einkommensteuertarifs in gleicher Weise und zur gleichen Zeit, nämlich
schon ab dem Jahr 2001, wie die Körperschaften belastet
werden. Das ist die Ungleichbehandlung.
({17})
Wenn Sie dann noch hinzunehmen, dass Sie die Grenze,
ab der der Spitzensteuersatz greifen soll, von jetzt
120 000 DM auf 98 000 DM heruntersetzen wollen - das
ist ja schon mehrfach erwähnt worden -, dann wird die zusätzliche Belastung erst so richtig deutlich.
Natürlich kann man die Definitivbelastung durch den
Körperschaftsteuersatz nicht unmittelbar mit dem
Höchststeuersatz vergleichen, dem Grenzsteuersatz von
48,5 Prozent. Aber auch die Durchschnittssteuerbelastung
wird durch diesen Tarifverlauf - beginnend mit
98 000 DM bis zu einer Spitzenbelastung von 48,5 Prozent - erhöht, was dazu führt, dass viele mittelständische
Unternehmen, die als Personenunternehmen organisiert
sind, eine stärkere Belastung haben, als dies bei Kapitalgesellschaften der Fall ist. Diese Ungleichbehandlung
machen wir nicht mit.
({18})
Nun haben Sie - auch das wurde vorhin schon angesprochen - dieses „schöne“ Optionsmodell vorgeschlagen. Allein die Tatsache, dass Sie dies vorgeschlagen haben, macht deutlich, dass Sie eine Ungleichbehandlung
sehen; sonst würden Sie das gar nicht aufnehmen.
({19})
In der Sachverständigenanhörung war die Kritik dazu so
verheerend, dass Sie eigentlich spätestens dann hätten sagen müssen: Davon nehmen wir Abstand, wir machen das
im Wege einer Änderung des Einkommensteuertarifes.
Da war die Rede von einem „bürokratischen Monster“,
von der „Steuerfalle“, von „Scheingesetzgebung“ und
dergleichen.
Ich will noch auf einen Widerspruch hinweisen, der
mir erst heute so richtig deutlich geworden ist: Herr Poß
und auch Sie, Herr Minister, sprachen in Bezug auf die
Ungleichbehandlung im Einkommensteuertarif davon, dass 95 Prozent der Unternehmen ein zu versteuerndes Einkommen von weniger als 200 000 DM haben und
deshalb von dieser Ungleichbehandlung gar nicht betroffen seien.
Daraus ist zu schließen, dass 5 Prozent über 200 000 DM
liegen und für sie die Option vielleicht von Interesse wäre.
Andererseits haben Sie in den Ausschussberatungen
immer darauf hingewiesen, dass Sie davon ausgehen, dass
25 bis 30 Prozent der Unternehmen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden.
({20})
Meine Damen und Herren, was stimmt denn nun eigentlich? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dass Sie sich
selber, uns und die Öffentlichkeit an der Nase herumführen. Das lassen wir uns nicht gefallen.
({21})
Sie wissen genau, dass mit der Optionslösung eine
Fülle von Schwierigkeiten verbunden ist: dass alle Gesellschafter dafür optieren müssten,
({22})
und zwar einstimmig und unabhängig von ihrer individuellen Situation, die sich bei jedem anders darstellt, dass
wir eine zusätzliche Steuerbelastung bei stillen Reserven
haben, dass Sie eine deutliche zusätzliche Belastung bei
der Erbschaftsteuer einführen und vor allem dass der Unternehmer und sein Berater hellseherische Qualitäten haben müssen, um zu entscheiden, ob sich die Option auf
lange Sicht rentiert oder nicht.
Der Kollege Rauen hat vorhin die Situation aus seinem
Betrieb mit sich ständig ändernden Gewinnerwartungen
und tatsächlichen Gewinnen und Verlusten dargestellt.
Dies alles so vorherzusehen, dass man sagen kann, die
Option ist richtig oder die Einkommensbesteuerung ist
richtig,
({23})
ist völlig unmöglich. Deshalb steht diese Lösung nur auf
dem Papier, es ist eine Feigenblattlösung, ein Alibi. Die
Optionslösung soll verschwinden und an ihre Stelle muss
eine Änderung im Einkommensteuertarif treten.
({24})
Unser Vorschlag ist, sich beim Einkommensteuertarif auf die Größenordnung zwischen 15 und 35 Prozent zu
einigen, bei der Körperschaftsteuer - ich habe es vorhin
angesprochen - beim Anrechnungsverfahren bei 30 Prozent und 25 Prozent zu bleiben und die Senkung der Gewerbesteuer vorzunehmen, und zwar für alle, auch für
die Kapitalgesellschaften. Wir brauchen eine gleichmäßige Senkung der Gewerbesteuer und damit die Entlastung aller Gewerbesteuerzahlenden und nicht die Krücke
mit der Gewerbesteueranrechnung, die Sie vorgesehen
haben, die aber nur zur Komplizierung des Systems führt.
({25})
Wenn Sie das mitmachten, hätten wir eine Gleichbehandlung beim Steuersatz und -tarif und eine Gleichbehandlung aller Einkommensarten und könnten auf die
komplizierten Krücken und Verrenkungen wie Gewerbesteueranrechnung und Optionslösung verzichten.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paar
Sätze zur Steuerfreiheit bei Veräußerungsgewinnen sagen. Das ist wirklich die zweite Komponente der Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen. Nach dem, was Sie vorgesehen haben,
würde Folgendes gelten: Wenn eine Aktiengesellschaft
Anteile an einer Aktiengesellschaft verkauft, ist das steuerfrei. Wenn die SPD ihre Medienbeteiligungen verkauft,
ist das auch steuerfrei; das will ich hier nur am Rande erwähnen.
({26})
Wenn eine Personengesellschaft Anteile an einer Aktiengesellschaft verkauft, ist das nicht steuerfrei, sondern
dann gilt die hälftige Besteuerung. Wenn ein Unternehmer
zum Beispiel ein Grundstück an einen Mitunternehmer
verkauft - also einen Teil des Unternehmens umstrukturiert -, ist das nun aufgrund Ihres so genannten Steuerentlastungsgesetzes voll steuerpflichtig, während es früher
steuerfrei war.
({27})
Wenn ein Metzger seinen Betrieb aufgibt und ihn verkauft, ist seit dem letzten Jahr aufgrund Ihrer Gesetzgebung der volle Steuersatz zu bezahlen, während das früher
zum halben Steuersatz möglich war.
({28})
Meine Damen und Herren, an diesen Beispielen wird
deutlich, dass das mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat.
({29})
Das sind vergleichbare Sachverhalte, die ungleich behandelt werden.
({30})
Ich will Ihnen einen für uns wirklich unverdächtigen
Zeugen zitieren, nämlich Professor Jarass. Das ist ein
Sachverständiger, der auch in der Brühler Kommission
mitgearbeitet hat und von der SPD und den Grünen immer
mit benannt wird. Er sagt:
Der Einzelunternehmer subventioniert mit überhöhten Steuern die Steuerfreiheit der Konzerne.
Wo er Recht hat, hat er Recht. Deshalb machen wir das
nicht mit.
({31})
Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung schaffen Sie
neue Steuerschlupflöcher, und zwar für die Reichen, für
diejenigen, die so etwas gestalten können, die Ihre Vermögenswerte durch komplizierte Firmenbeteiligungen,
durch Gründungen von GmbHs und Holdings so aufteilen
können, dass erzielte Veräußerungserlöse steuerfrei sind.
Die Personenunternehmer, die Inhaber kleiner und mittelständischer Unternehmen, die nicht so reich sind, können
dies nicht. Eine solche Ungleichbehandlung aber geht einfach nicht. Deshalb sollten wir uns gemeinsam darum
bemühen, sie zu beseitigen.
({32})
Es ist richtig, dass wir Umstrukturierungen steuerlich
nicht behindern dürfen.
({33})
Aber dies darf nicht nur für Kapitalgesellschaften, sondern muss für alle gelten, also auch für unsere deutschen
Personenunternehmen, für die Einzelunternehmer und
Handwerker, deren Anteil an allen deutschen Unternehmen 85 Prozent ausmacht.
({34})
Unser Vorschlag ist deshalb, für Erlöse aus Veräußerungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften eine Reinvestitionsrücklage in Höhe von 60 Prozent zu schaffen,
die steuerfrei ist. Das bedeutet eine Gleichbehandlung der
Personengesellschaften und der Kapitalgesellschaften bei
Vorliegen desselben Sachverhalts. Darüber hinaus schlagen wir die Rücknahme dessen vor, was Sie im Steuerentlastungsgesetz an Belastungen, an Verschlechterungen
für die Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen haGerda Hasselfeldt
ben, nämlich insbesondere die Rücknahme der Entscheidungen zur steuerneutralen Übertragung von Wirtschaftsgütern. Es ist wesentlich, dass diese Benachteiligungen
des Mittelstandes wieder aufgehoben werden.
Als weiteren wichtigen Punkt schlagen wir die Rückkehr zum halben durchschnittlichen Steuersatz bei Betriebsaufgaben vor. Die von Ihnen vorgesehene Erhöhung
des Freibetrages von 60 000 auf 100 000 DM ist wirklich
lächerlich.
({35})
Wie ich Sie kenne, Frau Scheel, werden Sie dies sicher
noch sehr loben,
({36})
aber dann sagen Sie doch auch etwas zur 300 000-DMAbschmelzungsgrenze.
({37})
Warum haben Sie diese nicht gleichmäßig erhöht? Das
hängt doch damit zusammen. Die Erhöhung des Freibetrages allein bringt fast überhaupt nichts.
({38})
Nun hat sich eines wie ein roter Faden durch die Rede
des Ministers gezogen: Das alles können wir nicht finanzieren. Deshalb stehe er Änderungen nicht aufgeschlossen gegenüber. Herr Minister, es kann nicht sein, dass Sie
Geld für die Aktiengesellschaften und GmbHs, aber nicht
für die Personenunternehmen und die Arbeitnehmer haben. Das geht nicht.
({39})
Im Übrigen gilt: Wenn Sie, Herr Minister Eichel - das
hören wir in den letzten Monaten fast gebetsmühlenartig -,
und der heutige Bundeskanzler Schröder vor drei Jahren
wenigstens im Ansatz dazu bereit gewesen wären, wozu
Sie heute zumindest dem Anschein nach bereit zu sein
scheinen, hätten wir seit drei Jahren eine Steuerreform,
die den Namen wirklich verdient, die zu mehr Wachstum
und Beschäftigung geführt hätte. Dann hätten wir diese
Probleme heute nicht.
({40})
Dann wäre wahrscheinlich auch die Entwicklung des
Euro ein wenig anders.
({41})
Aber das ist Vergangenheit. Heute geht es darum, die
Weichen für diese Reform zu stellen.
({42})
Sie können davon ausgehen, dass unser Ansatz eine
höhere Selbstfinanzierung und einen höheren Wachstumseffekt beinhaltet. Dies schafft auch die Grundlage
dafür, dass es finanzierbar ist. Das gilt abgesehen davon,
dass Sie die in den vergangenen Jahren schon erzielten zusätzlichen Steuereinnahmen sowie die, die noch hinzukommen, mit einkalkulieren können. Wir brauchen keine
Buchhaltermentalität, meine Damen und Herren, sondern
eine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise des Ganzen.
({43})
Wir werden heute Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir haben einen Alternativvorschlag gemacht. Auch
im Bundesrat wird die Union voraussichtlich nicht zustimmen. Vor drei Jahren haben Sie eine Totalblockade
gemacht.
({44})
Diese Strategie verfolgen wir so nicht. Aber für unsere
Zustimmung ist unabdingbar notwendig, dass alle Einkommensarten steuerlich gleichbehandelt werden. Deshalb kann es eine Zustimmung nur geben, wenn die Benachteiligung des Mittelstandes wegfällt.
({45})
Deshalb kann es eine Zustimmung nur geben, wenn es
Verbesserungen beim Einkommensteuertarif gibt und
wenn eine Gleichbehandlung bei Umstrukturierungsmaßnahmen erfolgt. Meine Damen und Herren, wenn Sie dazu
bereit sind, können wir uns treffen.
({46})
Es spricht jetzt Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Hasselfeldt, es ist in gewisser Weise schon sehr abenteuerlich, was Sie hier vorstellen, wenn Sie sagen, wir brauchen keine Buchhaltermentalität. Heißt denn das, dass Ihnen vollkommen egal ist - davon gehen wir aus -, was
Ihre Maßnahmen kosten, und dass Sie keine Ahnung davon haben, wie die Haushaltssituation ist und wie sich die
Haushalte in den nächsten Jahren finanzieren sollen?
({0})
Es ist auch sehr ärgerlich, dass hier immer nur halbe
Wahrheiten verkündet werden. Das kann die CDU/CSUFraktion verdammt gut. Das muss man Ihnen zugestehen.
({1})
Die andere Hälfte der Wahrheit neben Ihrem Konzept, das
Sie damals vorgestellt haben, wäre die Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte gewesen.
({2})
Aus diesem Grund haben wir damals gesagt, dass wir dieses Konzept nicht unterstützen wollen, weil wir nicht einsehen, dass die Allgemeinheit der Verbraucher und Verbraucherinnen Ihre drastische Senkung des Spitzensteuersatzes auf 39 Prozent finanzieren soll.
({3})
Zum aktuellen Gesetzentwurf der CDU/CSU muss
man auch sagen, dass dieser Entwurf - vielleicht noch
kombiniert mit diesem, wie Herr Schlauch schon gesagt
hat, unverantwortlichen Hokuspokus der F.D.P.-Fraktion;
das wird ja demnächst noch kundgetan ({4})
einen recht schönen Blick ins Wunschtraumland der Steuerpolitik vermittelt, allerdings mit der Konsequenz, dass
Deutschland immer weiter, tiefer und letztendlich bodenlos in die Schuldenfalle geraten würde.
Das ist genau der Punkt, an dem wir uns anscheinend
unterscheiden: Wir wollen eine solide Finanz- und Haushaltspolitik gestalten, während Sie in der Steuerpolitik mit
abstrusen Vorschlägen kommen, ohne die Haushaltslage
zu berücksichtigen.
({5})
Es gibt eine ganz klare Aussage dieser Koalition, für die
wir Hans Eichel sehr dankbar sind: Wir wollen die Nettoneuverschuldung bis zum Jahr 2006 auf Null abbauen.
({6})
Wir haben in diesem Zusammenhang dennoch ein
Steuerreformkonzept mit einem Nettoentlastungsvolumen von 45 Milliarden DM vorgelegt. In diesem Kontext
muss man auch mit betrachten, dass wir mit dem Steuerbereinigungsgesetz, mit dem Steuerentlastungsgesetz, das
bereits beschlossen ist, und mit den Familienförderungskomponenten, die auch jetzt in der Stufe 2 noch kommen
werden, über ein Gesamtnettoentlastungsvolumen von
rund 73 Milliarden DM entscheiden wollen. Das ist wirklich das gigantischste Nettoentlastungsvolumen, das diese
Bundesrepublik bislang gesehen hat.
({7})
Wir beschließen heute eine Steuerreform, die sozial
ausgewogen ist und die alle Steuerzahler und Steuerzahlerinnen gleichermaßen begünstigt. Es wird durchgreifende Erleichterungen geben, sodass wir auch die
Wachstumsimpulse, die wir dringend brauchen - Hans
Eichel hat ja bereits die 155 000 neu entstandenen
Arbeitsplätze genannt -, bekommen werden, sodass wir
von einer weiteren Belebung des Arbeitsmarktes durch
diese Reformpolitik ausgehen. Das Rheinisch-Westfälische Institut - das ist übrigens das Einzige, das hierzu eine
Prognose gewagt hat - geht perspektivisch von zusätzlich
400 000 Arbeitsplätzen aus, die, verbunden mit dieser Reform, in diesem Land entstehen können.
Wir haben mit dem vorgelegten Gesetz auch im Bereich des Mittelstandes eine enorme Entlastung vorgeschlagen. Da können Sie hunderttausendmal das Gegenteil sagen; es stimmt einfach nicht.
Wir haben auch in den Beratungen - das wissen Sie
doch sehr gut - gegenüber dem Entwurf noch einmal
nachgelegt. Wir haben sehr gute Nachrichten für die
Kleinanleger, eine zusätzliche Steuerentlastung von
315 Millionen DM gegenüber dem, was ursprünglich vorgesehen war.
Wir haben die Vergabe von Risikokapital, auch das Engagement von Business Angels und auch die Beteiligung
von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen am Produtivkapital kleiner Firmen jetzt attraktiver gestaltet, indem
wir bis zu einer Beteiligungshöhe von 5 000 DM am
Nennkapital Steuerfreiheit gewähren, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Veräußerungsgewinne sind. Auch
hier ist eine zusätzliche Entlastung gegeben.
Wenn Sie, Frau Hasselfeldt, sagen, dass 100 000 DM
bei der Veräußerung eines Unternehmens fast nichts
sind, dann ist das nicht zu verwechseln mit dem Veräußerungserlös. An diesem Punkt sind Sie auf dem falschen
Dampfer. Denn der reine Veräußerungsgewinn von
100 000 DM wird sozusagen als Altersfreibetrag in der
Kombination mit bestimmten Kriterien freigestellt. Dies
bringt für die Altersvorsorge des Unternehmers oder der
Unternehmerin ein Gesamtvolumen von einer halben
Milliarde DM bzw. 500 Millionen DM. Dies als Pipifax
oder als fast nichts zu bezeichnen, liegt absolut daneben.
Wir haben gerade für diesen Bereich Vorsorge getroffen.
Es ist eine mittelstandsfreundliche Verbesserung, die
während des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens auch von uns Bündnisgrünen erfolgreich angestoßen
wurde.
({8})
Wenn man sich ernsthaft mit Ihrem Konzept, soweit es
möglich ist, auseinander setzt, dann erkennt man, dass Ihr
Konzept insgesamt 77 Milliarden DM kosten würde. Ich
habe schon viele Gespräche mit den Finanzministern der
Länder geführt. Das tun wir von grüner Seite auch. Das ist
klar. Die Länderfinanzminister sind zum großen Teil vielleicht bis auf einen oder zwei - der Auffassung, dass
ihre Länderhaushalte keine Nettoentlastung über die hinaus, die wir in diesem Gesetz vorgelegt haben, verkraften können. Wir sind sehr gespannt auf die Diskussionen
im Vermittlungsverfahren, wenn die Zahlen auf den Tisch
kommen. Hier haben einige mit Erschrecken festgestellt,
welche Nettoentlastungsvolumina die weiteren Vorschläge des CDU/CSU-Modells in sich bergen. Das kann
man im Moment nur als reinen Populismus bezeichnen.
Ich hoffe, dass wir das nicht so ernst nehmen müssen.
({9})
Wenn wir, wie Sie auch immer wieder zu suggerieren
versuchen, Kritik von dem einen oder anderen Verband
bekommen, dann ist vollkommen klar, dass die versuchen, das Möglichste herauszuholen. Das ist legitim und
vollkommen in Ordnung. Es ist aber überhaupt nicht mehr
verständlich, wenn gesagt wird, dass im Handwerk zu
wenig getan wird. 70 Prozent der Handwerksbetriebe liegen unter einem Grenzsteuersatz von 25 Prozent. Ich
muss Sie im Ernst fragen: Was haben diese Handwerksbetriebe von einer weiteren drastischen Senkung des Spitzensteuersatzes? Sie haben überhaupt nichts davon. Hier
zu sagen, wir täten irgendetwas, was dem Handwerk nicht
zugute kommt, ist auch völlig daneben.
Sehen wir uns einmal den internationalen Vergleich an.
({10})
Wir bleiben auf dem Boden und machen eine solide Finanzpolitik - bodenständig und kein Wolkenkuckucksheim, wie das einige von Ihnen vielleicht gerne hätten.
Sonst wären wir angreifbar. Das sind wir nicht, und das
ist gut so.
({11})
Im internationalen Vergleich haben wir mit 45 Prozent
den zweitniedrigsten Spitzensteuersatz. Mit einem Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent haben wir einen der
niedrigsten Steuersätze aller europäischen Länder. Auch
wenn wir Japan und die USA hinzunehmen, gehören wir
in den unteren Bereich. Eine solche Entlastung ist enorm.
Dies ist auch für ausländische Investoren, für Firmen, die
sich überlegen, hier zu investieren, für Privatanleger, die
überlegen, in Deutschland mehr zu machen, ein hervorragendes Angebot. Es geht ja auch um das internationale
Renommee. Wenn Sie die internationalen Zeitungen verfolgen, stellen Sie fest, dass die Finanz- und Steuerpolitik
von Rot-Grün gelobt wird, vor allem in Kombination ich muss es an dieser Stelle wiederholen - mit einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Haushalt, indem wir
die Nettoneuverschuldung reduzieren und trotzdem in der
Lage sind, in diesem Land eine solche Steuerentlastung
vorzunehmen.
Ich sage immer klipp und klar: Die Vorschläge, die von
Ihnen jetzt wieder gekommen sind - Sie haben es auch in
Ihrem Gesetzentwurf stehen -, den Grenzsteuersatz auf
35 Prozent zu senken und erst ab 110 000 DM greifen zu
lassen, bedeuten, wenn wir den Tarifverlauf betrachten,
dass wir zusätzliche Steuerausfälle in einer Größenordnung von 52,6 Milliarden DM haben. Wenn dann behauptet wird, das sei eine verantwortungsvolle Haushaltsund Finanzpolitik, dann kann man als verantwortungsvolle Politikerin nur noch den Kopf schütteln. Wir machen keine Voodoo-Politik. Es wird auch nicht Roulette
gespielt; denn solche Steuerausfälle, die die Folge wären,
wenn Ihre finanzpolitischen Vorstellungen umgesetzt
würden, ließen sich nur durch eine weitere Staatsverschuldung finanzieren. Das wissen Sie doch auch.
({12})
Die Selbstfinanzierungseffekte sind in unsere Reform ja
schon eingerechnet. Man kann nicht davon ausgehen,
dass die Selbstfinanzierungseffekte so groß sein werden,
dass sie solche Steuerausfälle kompensieren. Wer davon
ausgeht, kann nicht ernsthaft von einer soliden Finanzpolitik sprechen. Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge ab.
({13})
Sie behaupten immer wieder, dass Körperschaften
und Personenunternehmen ungleich behandelt würden.
Es ist aber einfach falsch, zu behaupten, dass Körperschaften wesentlich geringer als Personenunternehmen
besteuert würden. Der Körperschaftssteuersatz liegt in
Deutschland bei 25 Prozent. Hinzu kommt - das ist bereits angesprochen worden - die Gewerbesteuer. Diese
Art der Besteuerung - scheinbar ist dies bei Ihnen noch
immer nicht angekommen; man kann es nicht oft genug
wiederholen - wird von der ersten bis zur letzten D-Mark
durchgehalten. Die Körperschaften unterliegen damit einer Definitivbesteuerung von 38 Prozent. Es ist vollkommen richtig, wenn gesagt wird, dass die durchschnittliche
Steuerbelastung aller Einzelunternehmen und Personengesellschaften unter 38 Prozent liegt. Diese Zahl muss für
einen internationalen Vergleich herangezogen werden,
nicht der Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent und der
obere Grenzsteuersatz von 45 Prozent. Der letztere Vergleich hinkt; denn Sie müssen die reale Belastung betrachten. Sie sollten mit Ihren Spielereien den Leuten
nicht zu suggerieren versuchen, dass es hier eine
Ungleichbehandlung gäbe. Das ist falsch. Unsere Vorgehensweise ist steuerpolitisch vollkommen korrekt.
Wenn Sie, Herr Thiele, dafür sorgen wollen, dass die
unterschiedliche Besteuerung von Einkommen beseitigt
wird, dann frage ich Sie: Heißt das in der Konsequenz,
dass Sie die Körperschaftsteuer abschaffen wollen? Wir
haben es hier doch mit zwei verschiedenen Steuertatbeständen zu tun, die international gang und gäbe sind. Wir
sorgen dafür, dass die Belastungen und die Entlastungen
durch diese beiden Steuerarten das von mir vorhin beschriebene internationale Niveau haben. Wenn Sie behaupten, man müsse hier gleichziehen, dann kann ich nur
sagen: Das ist Unsinn; denn man muss die reale Belastung
betrachten. Man darf seine Politik nicht so populistisch
gestalten, wie es die F.D.P. in der letzten Zeit getan hat.
Ein weiterer Punkt ist die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne. Die Steuerfreiheit für Gewinne aus der
Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften
ist keine Begünstigung, Frau Hasselfeldt; vielmehr ist
sie notwendig, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Wenn die stillen Reserven tatsächlich als Gewinne
realisiert werden und wenn die unterbewerteten Wirtschaftsgüter Gewinne produzieren, dann werden sie im
Unternehmen definitiv mit 25 Prozent und beim Anteilseigner hälftig besteuert. Das hängt mit der Systemumstellung zusammen, die Sie anscheinend noch immer nicht verstanden haben. Es gibt hier keine Besteuerungslücke. Allerdings - das muss man einschränkend
sagen - müssen Missbrauchsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Das ist vollkommen klar. Darüber kann man
im Vermittlungsausschuss noch reden. Das ist nicht der
entscheidende Punkt.
Wenn Sie aber für Personenunternehmen eine Steuerfreistellung wie bei den Körperschaften fordern, dann
muss ich Ihnen sagen: Das ist nicht möglich; denn diese
unterliegen nicht einer Definitivbesteuerung.
Frau Kollegin Scheel,
kommen Sie bitte zum Schluss.
An diesem Punkt vergleichen Sie Äpfel mit Birnen. Das
geht so nicht.
Wir gehen davon aus, dass das Reformkonzept noch in
der ersten Hälfte dieses Jahres im Rahmen des Vermittlungsverfahrens gemeinsam beschlossen wird und dass
Deutschland im Jahr 2001 - das kann man mit Blick auf
die internationale Entwicklung nur hoffen - eine reformierte Steuergesetzgebung haben wird, die international
konkurrenzfähig sein wird, die unsere Kaufkraft stärken
wird, die gut für unser Wirtschaftswachstum sein wird
und die sozial ausgewogen sein wird. Dafür werden wir
uns einsetzen.
Ich kann nur sagen: Auch wir Grünen werden Hans
Eichel in den weiteren Bemühungen zur Konsolidierung
der Haushalte unterstützen. Für uns gibt es nur beides: die
Senkung der Verschuldung und die Durchführung dieser
Reform, die auch nach dem Vermittlungsverfahren noch
finanzierbar sein muss.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Kollegin
Scheel, Sie haben sich auch heute wieder als Chamäleon
der Steuerpolitik erwiesen. Sie kritisieren in den Medien,
zum Beispiel beim Frühstücksfernsehen, Ihre eigene
Steuerreform und beschließen heute gleichzeitig das Gegenteil. Sie betreiben damit ein Täuschungsmanöver in
der Steuerpolitik und machen sich auch - das müssen Sie
gegen sich gelten lassen - zum Steigbügelhalter von brutalen Diskriminierungen insbesondere des Mittelstandes.
Sie treiben bereits mittlere Einkommen in den Spitzensteuersatz. Das ist eine Tatsache. Selbstverständlich
haben die Zusammenhänge und der Vergleich zwischen
der Körperschaftsbesteuerung und der Einkommensbesteuerung einen klaren Grundsatz, was ich Ihnen an folgendem Rechenmodell verdeutlichen will: Von Ledigen
geführte Personenunternehmen zahlen bei einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 DM 38,6 Prozent
Einkommensteuer und bei Anrechnung der Gewerbesteuer 33,6 Prozent, wenn man einen Satz von 400 Prozent unterstellt. Des Weiteren müssen Soli und Gewerbesteuer gezahlt werden, sodass insgesamt 47 Prozent des
Einkommens an Steuern abzuführen sind. Ab 2001
kommt noch die Gegenfinanzierung hinzu, die Sie natürlich vergessen haben. Gleichzeitig ist in diesem Punkt die
Vorfinanzierung des Mittelstandes aus dem Steuerentlastungsgesetz zu sehen.
Ich sage Ihnen deutlich: Sie unterscheiden zwischen
den Kapitalgesellschaften und den Personengesellschaften - das ist eine Diskriminierung der Personengesellschaften -; sie teilen damit die Wirtschaft in Unternehmen
und Unternehmer und differenzieren zwischen „guten“
und „schlechten“ Einkünften. Das ist eine Tatsache. Sie
wollen den Weg von eigentümergeprägten Personengesellschaften zu anonymen Kapitalgesellschaften einschlagen.
({0})
Sie beschreiten damit einen absoluten Irrweg, nämlich
zu einem „Deutschland mit beschränkter Haftung“. Es
war immer die wesentliche Stärke der deutschen Wirtschaft, Unternehmer zu haben, die mit ihrem eigenen Vermögen voll und ganz für das einstehen, was sie unternehmerisch tun. Die deutsche Wirtschaft würde ärmer, wenn
Eigentümerunternehmer durch Geschäftsführerunternehmer künftig immer mehr zurückgedrängt würden.
Was ich Ihnen besonders vorwerfe, Frau Kollegin
Scheel: Sie wollen, dass 2 Millionen Unternehmen - und
das ist die Mehrheit - nicht angemessen entlastet werden.
Die Steuerschätzung, die von Herrn Bundesfinanzminister Eichel vorab deutlich angekündigt wurde, prognostiziert für die Jahre 2000 bis 2003 Mehreinnahmen in Höhe
von 19,1 Milliarden DM. Das müssen Sie sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen: Im Jahre 2003 wird die Steuerleistungsgrenze von 1 Billion DM in Deutschland überschritten.
Herr Kollege Michelbach, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das sind 100 Milliarden DM mehr als 1999. Deswegen kann ich Ihnen nur
sagen: Bemühen Sie sich, für Entlastung zu sorgen, und
belasten Sie nicht den Mittelstand. Beseitigen Sie insbesondere die Diskriminierung des Mittelstandes!
({0})
Frau Kollegin Scheel,
bevor ich Ihnen zur Erwiderung das Wort erteile, gebe ich
dem Kollegen Schwarz-Schilling das Wort zu einer weiteren Kurzintervention. Ich bitte Sie, danach auf beide
Kurzinterventionen zusammen zu antworten.
Frau
Kollegin, Sie haben für sich in Anspruch genommen, dass
die großen, die mittleren und die kleineren Unternehmen
gleich besteuert werden. Das, was Frau Hasselfeldt über
die Freibeträge und die Größenordnung gesagt hat, beChristine Scheel
zeichnen Sie als vollkommen daneben und Sie sprechen
von einem Vergleich von Äpfeln und Birnen.
Ich glaube, Ihnen ist nicht ganz klar - entschuldigen
Sie, wenn ich Ihnen das sage -, wie bei uns gerade in den
letzten beiden Jahren die innovativen Unternehmen
überhaupt in Gang gekommen sind. Der Grund dafür ist,
dass wir endlich einen Neuen Markt haben und damit die
Börsengängigkeit kleiner Unternehmen möglich wird.
Hier müssen die Venture-Capital-Unternehmen und -Unternehmer einen Risikoausgleich vornehmen; anderenfalls könnten sie das Kapital gar nicht zur Verfügung stellen. Bei den Unternehmensveräußerungen, die für den
Zeitpunkt vorgesehen sind, zu dem die Unternehmen auf
die Schiene gekommen sind - und die Venture-Capitalists
wieder aussteigen -, liegt das Verhältnis bei etwa acht zu
zwei: Die Venture-Capitalists erwirtschaften bei zwei Unternehmen, die hervorragend auf die Schiene gekommen
sind, das Kapital, das sie bei acht anderen verlieren.
Jetzt sorgen Sie dafür, dass sie bei den zwei erfolgreichen Veräußerungen voll versteuert werden, weil die
1-Prozent-Grenze bei einem Venture-Capitalist, also dem,
der das Risikokapital gibt, natürlich immer überstiegen
wird, wenn die Zurverfügungstellung von Kapital für das
zu veräußernde Unternehmen überhaupt von Bedeutung
sein soll. Insofern ist Ihnen - das sage ich hier ganz deutlich - der gesamte Mechanismus der innovativen Unternehmen, wie er in den Vereinigten Staaten angefangen
und nun endlich auf die Bundesrepublik Deutschland
übergegriffen hat, überhaupt nicht klar. Anderenfalls
könnten Sie so nicht reden.
({0})
Zur Erwiderung auf
beide Kurzinterventionen erteile ich jetzt der Kollegin
Christine Scheel das Wort.
({0})
Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt lieber nichts sagen
würden, Herr Waigel. Aber ich möchte gerne auf die beiden Beiträge von Herrn Michelbach und Herrn SchwarzSchilling eingehen.
Ich bin Herrn Michelbach in gewisser Weise dafür
dankbar, dass er bestätigt hat, dass man bei einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 DM bzw. von
400 000 DM, wenn man verheiratet ist, nur einen durchschnittlichen Steuersatz von 38 Prozent zu zahlen hat.
Das ist richtig. Ich habe vorhin angesprochen, dass die
Masse der Unternehmen - abgesehen von einer Hand voll
Ausnahmen gilt das für fast alle Handwerksbetriebe und
auch für andere Branchen - darunter liegt. Das bedeutet,
dass Ihr Vorwurf, den Sie hier jetzt zum wiederholten
Male vorgetragen haben - ich vermute, dass Sie jetzt eine
so lange Intervention gemacht haben, weil Sie von Ihrer
Fraktion keine Redezeit bekommen haben -,
({0})
einfach falsch ist und auch dadurch nicht richtig wird,
dass Sie ihn erneut wiederholen.
Hier geht es - ich kann es an diesem Beispiel nur noch
einmal sagen - um unterschiedliche Situationen. Wir haben ein Körperschaftsteuerrecht mit einer Definitivbelastung und ein Einkommensteuerrecht. Die einkommensteuerliche Belastung ist im Ergebnis weitaus geringer. Es
kommt ja darauf an, was real an Steuern gezahlt wird,
nicht aber darauf, welcher Spitzensteuersatz auf dem Papier steht. Das wissen die Leute draußen alle. Es ist also
ein Humbug, immer zu suggerieren, für die einen gelte ein
Steuersatz von soundso viel Prozent, für die anderen aber
der Spitzensteuersatz. Dann muss man auch einmal sagen,
welches der Unternehmen denn den Spitzensteuersatz erreicht. Es ist eben nur eine Hand voll, weil Gewerbetreibende die Betriebsausgaben verrechnen können. Sie sind
ja neben Ihrer Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter auch
noch Gewerbetreibender, Herr Michelbach, und kennen
das sehr gut; mich würde einmal interessieren, welche
durchschnittliche Belastung Sie in Ihrem Betrieb haben.
Sie ist bestimmt relativ gering. Deswegen verstehe ich
auch nicht, warum Sie sich an dieser Stelle so aufregen.
Zu der Steuerschätzung, die Sie ebenfalls angesprochen haben: Wir sind aufgrund der steuerrechtlichen Regelungen, die wir bereits beschlossen haben und heute
verabschieden werden, endlich so weit, dass die Steuereinnahmen wieder kalkulierbar sind.
({1})
In den vergangenen 16 Jahren Ihrer Regierung gab es
Steuerschätzungen, die in einem Volumen von 30 bis
40 Milliarden DM daneben gelegen haben. Das hing damit zusammen, dass man enorme Gestaltungsmöglichkeiten im Steuerrecht hatte, sodass es für diejenigen, die das
Steueraufkommen zu beurteilen hatten, überhaupt nicht
berechenbar war, wie sich die Steuereinnahmen entwickeln würden. Dies haben wir wieder auf das Normalmaß zurückgeführt.
Wir haben sehr viele Vergünstigungen abgebaut. Sie
würden sie gerne wieder einführen; aber an diesem Punkt
kommen Sie mit uns nicht weiter. Wir wollen eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Wir wollen
niedrige Steuersätze, die finanzierbar sind. Dazu stehen
wir. Entlastet werden vorwiegend die kleinen und mittleren Unternehmen. Aber auch für die Großunternehmen
sind die Auswirkungen dieser Maßnahmen, wie Herr
Eichel sagte, nicht bloß neutral, sondern sie bringen für
Energiekonzerne und die Versicherungswirtschaft sogar
ein kleines Minus aufgrund der Auflösung von Rückstellungen und vielem mehr mit sich. Damit ist, wie ich finde,
eine faire Behandlung im Steuerrecht gegeben, die sich
auch an dem ausrichtet, was finanzierbar ist. So kann man
hier von einer Besteuerung reden, die alle mehr oder weniger gleichmäßig trifft und nicht Großkonzerne, wie es
zu Ihrer Zeit der Fall war, überdurchschnittlich bevorteilt.
Dagegen hatten wir ja schon damals andere Vorschläge
unterbreitet.
({2})
Ganz kurz zu den Ausführungen von Herrn SchwarzSchilling: Anscheinend ist Ihnen entgangen - anders kann
ich mir das nicht erklären -, dass wir gerade im Bereich
von Existenzgründungen, Venture-Capital und der
neuen Medien, in dem jetzt neue Berufe entstehen, ein
neues Angebot eingefügt haben. Wenn man jetzt in eine
neu gegründete GmbH einsteigt - diese Form wählen ja
die meisten -, kann ein Nennkapital bis 5 000 DM steuerfrei sein. Damit wird ein enormes Volumen an kleinen Beteiligungen von ganz normalen Kapitalanlegern aktiviert.
Wir reizen hier also einen Markt an; im Ergebnis wird das
zu vielen neu geschaffenen Arbeitsplätzen führen, was
letztendlich auch unserer Wirtschaft helfen wird.
Die Senkung der Steuerfreiheit bei Beteiligungen
von 10 auf 1 Prozent dient dazu, dem Missbrauch vorzubeugen. Fänden Sie es gut, wenn eine 10-prozentige Beteiligung eines Privatmannes an irgendeiner großen
Firma, zum Beispiel an einer Reederei oder an Siemens ohne jetzt für eine Firma Werbung zu machen -, an der
kein normal Sterblicher im Regelfall so hohe Beteiligungen hält, auch nach der Änderung des Verfahrens bei der
Besteuerung in Form des Halbeinkünfteverfahrens noch
steuerfrei wäre? Dann wäre doch Missbrauch möglich.
Wenn man Missbrauch bekämpfen will, muss man diese
Grenze von 10 Prozent auf 1 Prozent senken. Damit hat
sich auch der Vorwurf, wir würden Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, die Missbrauch fördern, erledigt. Ich
glaube, dass diese Entscheidung gut ist.
Danke schön.
({3})
Nächster Debattenredner ist der Kollege Rainer Brüderle für die Fraktion der
F.D.P.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Minister Eichel, Sie hatten den
Hinweis eingefügt, Herr Möllemann würde in NordrheinWestfalen diese Reform gerne mittragen. Ich darf Aussagen von zweien Ihrer sozialdemokratischen Kollegen,
nämlich von Herrn Steinbrück und Herrn Schwanhold, zitieren: Herr Schwanhold sagt, er verspüre keine Neigung,
das Optionsmodell zu verteidigen. Herr Steinbrück sagt,
es komme für maximal 5 Prozent der Betriebe in Betracht,
die nordrhein-westfälische Regierung halte es daher für
entbehrlich. So viel zu Ihren eigenen Kollegen.
({0})
Sie lenken mit einer Popanzdiskussion über den Spitzensteuersatz und dadurch, dass Sie ständig Daten aus
dem Handwerk heranziehen, davon ab, dass gerade das
Handwerk und seine Organisation zu den schärfsten Kritikern Ihrer Steuerreform gehören. Hören Sie sich einmal
an, was Herr Philipp und seine Organisation dazu sagen!
({1})
Wie die Reformpolitik in Deutschland, dem größten
Industriestaat in Euroland, draußen bewertet wird, können Sie täglich an den Devisenmärkten ablesen. Der
Euro sank von 1,18 auf unter 0,90 Dollar. Ich fürchte, er
wird weiter sinken, weil auch diese Steuerreform an einer
ordnungspolitischen Schieflage krankt. Sie ist kein Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechtes. Es wird vielmehr alles noch komplizierter. Gerade für die Kleinen
läge in einer Vereinfachung eine Chance. Die komplizierten Steuerrechtsfragen können nur große Konzerne mit
Abteilungen von Spezialisten und Advokaten, die auf
Grauzonen spezialisiert sind, lösen.
({2})
Was Sie mit dem Mittelstand machen, ist wirtschaftspolitisch obszön.
({3})
Ihre Regelungen zu den Veräußerungsgewinnen halte
ich teilweise für nachvollziehbar. Man muss natürlich auch
sehen, woher Sie politisch kommen: Vor drei Jahren hat
Rot-Grün die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse im
Bundesrat blockiert. Immerhin haben Sie sich von
Lafontaine gelöst. Bei Ihnen ist es jetzt nicht mehr tabu,
vom Selbstfinanzierungseffekt der Steuerreform zu sprechen. Angebotspolitik ist für Sie nicht mehr Teufelsvokabular.
Sie sehen auch ein, dass man die Unternehmen entlasten muss. Nur machen Sie es nicht ausreichend. Es fehlt
Ihnen entweder die Überzeugung oder das politische Umfeld, dies konsequent zu tun. Vielleicht spekulieren Sie
auch darauf, dass Ihr Gesetzentwurf im Vermittlungsausschuss eh nicht durchgeht und dass Sie dann Verhandlungsmasse haben. Sie sollten aber gleich sagen, wohin
Ihr Kurs führt; denn der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf wird so nie im Bundesgesetzblatt erscheinen.
({4})
Es geht eben nicht, die großen Banken bei Veräußerungen
steuerfrei zu stellen, aber die Mittelständler nicht. Für den
Mittelständler geht es um seine Alterssicherung. Der
Handwerker, der früher darauf vertraut hat, nur den halben Steuersatz zu zahlen, ist der Dumme.
Ich komme zum Optionsmodell: Dieses Modell ist so
kompliziert und so wenig attraktiv, dass Ihre eigenen Kollegen sagen, dass es nur für vielleicht 5 Prozent der
Unternehmen interessant sei. Sie wollen dieses Modell
einführen, obwohl Sie in Wahrheit wissen, dass eine Differenz in der Steuerbelastung von 10 Prozentpunkten zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften
verfassungswidrig ist.
({5})
Das Schlimme ist: Die Erhöhung des Drucks in Richtung der Option Kapitalgesellschaft bewirkt eine Qualitätsveränderung. Es ist nämlich ein Unterschied, ob Unternehmer mit ihrem persönlichen Vermögen für ihre Entscheidungen einstehen oder ob im Fall von GmbHs und
Co. KGs Steuerzahler für die Entscheidungen haften. Das
ist ein schleichender Systemwandel. Lösen Sie sich von
dem ideologischen Ballast von vorgestern!
({6})
Der Kardinalfehler ist die Trennung der Besteuerung
von einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen.
Hier gibt es ebenfalls eine ideologische Altlast; ein Rest
von Karl Marx aus dem Trier-Museum schimmert da
durch. Damit bewirken Sie gerade das Gegenteil. Die Manager der großen Konzerne haben jetzt einen zusätzlichen
Vorwand, das Geld im Unternehmen zu lassen und es
nicht den Aktionären zu geben. Da Manager ihre Gehälter zunehmend auch in Form von Aktienbesitz erhalten,
werden diese doppelt begünstigt. Sie sind doch der Kumpel der Superbosse und Manager und nicht der selbst haftenden Unternehmer. Das ist Ihr klassischer Kardinalfehler.
({7})
Diese unterschiedliche Behandlung führt zu skurrilen
Folgen.
({8})
- Dass Sie schreien, ist verständlich; denn es trifft Sie ins
Mark, dass Sie nicht mehr für die Kleinen auftreten, sondern Politik für die großen Konzerne machen. Sie werden
zu der Partei der Bosse und sind nicht mehr die Partei der
Kleinaktionäre, der Arbeitnehmer und des Mittelstandes.
Das muss Ihnen Sorge machen. Sie sollten sich für die
Schieflage Ihrer Politik schämen.
({9})
Noch haben Sie eine Chance, Ihre Politik zu korrigieren,
damit Sie nicht länger Ihre Scham verstecken müssen.
Skurril ist, dass das Bundesfinanzministerium selbst
Steuerschlupflöcher empfiehlt. Wegen der ungleichen
Behandlung empfiehlt es, private Kapitalgeber sollten
eine GmbH vorschalten, die dann steuerfrei veräußern
könne. Ein Steuervorschlag, bei dem eine Umgehung
gleich mitgeliefert wird, ist unredlich.
({10})
Machen Sie doch klare, einfache, gerechte und verständliche Steuervorschläge! Wenn Sie unser Modell nicht
übernehmen wollen, dann nehmen Sie das F.D.P.-Modell
von Struck: 15, 25 und 35 Prozent. Dieses Steuermodell
ist verständlich und sozial gerecht. Lösen Sie sich aus Ihrer Verklemmung! Ich verstehe, dass es schön ist, wenn
man als Sozi mit den großen Bossen essen und dicke Zigarren aus Kuba rauchen kann.
({11})
Das sind doch nicht Ihre Wähler. Wir kämpfen für die
Kleinen. Sie aber setzen sich zu den Großen und wollen
dann sozusagen den Großen spielen. Darin liegt Ihre
Schieflage begründet. Sie stehen in der falschen Ecke.
({12})
Ein Glück, dass es den Bundesrat gibt.
({13})
Ein Glück, dass der Bundesrat das korrigiert, was Sie
heute vorlegen, ohne rot zu werden - da könnten Sie wirklich einmal rot werden, vor Scham -, und dass er Sie davor bewahrt, Ihre eigene Wählerschaft zu verraten.
({14})
Vielen Dank.
({15})
Es spricht jetzt der
Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Den Begriff
„skurril“, Herr Kollege Brüderle, will ich gern aufgreifen.
Auch mir kam manches heute merkwürdig vor. Frau
Hasselfeldt und Kollegen der CDU leisten eifrig Trauerarbeit über all das, was sie nicht zustande gebracht haben,
aber vielleicht zustande gebracht hätten, wenn man sie gelassen hätte. Aber der Wähler hat nun mal anders entschieden. Wir machen das jetzt.
Bei Ihnen, Herr Brüderle, springt doch aus jedem
Knopfloch die Befürchtung, dass wir nicht nur mit den
kleinen Leuten, mit den Beziehern kleiner Einkommen,
gut klarkommen, die wir erheblich entlasten, sondern dass
wir auch beim Mittelstand, der massiv entlastet wird, unsere Schnitte kriegen und darüber hinaus auch mit denjenigen gut klarkommen, die Export organisieren, wovon
die Wirtschaft lebt. Es ist doch Aufgabe der Regierung,
mit denen gut klarzukommen, die das Geschäft hier bestimmen. Das gelingt uns ganz gut.
({0})
Solange wir - das ist doch das Wichtigste - bis 2005,
also in wenigen Jahren, in mehreren Schritten eine Steuerentlastung von rund 75 Milliarden DM hinkriegen, von
denen ein großer Teil bei der mittelständischen Wirtschaft
landet, der größere Teil aber natürlich bei den Privathaushalten und insbesondere bei den Familien, ist die Symmetrie sehr gut gewahrt. Ich denke, damit können wir uns
als rot-grüne Koalition sehr gut sehen lassen. Das wird
letztendlich auch von allen goutiert, von wenigen Experten wie Philipp abgesehen, der seinen eigenen persönlichen Spitzensteuersatz im Auge hat und nicht den der
Handwerker, die er zu vertreten vorgibt.
({1})
- Ich bitte Sie, Peter Rauen, die Handwerksstatistik ist
völlig eindeutig. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil
von Handwerksunternehmen kommt überhaupt jemals
in die Verlegenheit, in die Nähe des Spitzensteuersatzes zu rutschen. Denen hilft Philipp mit seinen Parolen
überhaupt nicht, sondern er hilft allenfalls sich selbst und
seinem eigenen Ego, aber nicht der Klientel, die er vertritt.
({2})
Wenn wir es noch in dieser Legislaturperiode erreichen, dass eine Familie mit zwei Kindern erst ab
56 000 DM aufwärts die erste Mark Steuern zahlt und
dann mit 15 Prozent einsteigt, ist das eine Großtat gegenüber über all dem, was wir hier vorgefunden haben. Brutto
für netto wird gerade für die kleinsten Einkommen Wirklichkeit; das muss man einfach sehen. Es gibt viele Einkommen, die deutlich unterhalb dieses Betrages liegen.
Der Einstieg mit 15 Prozent wird auch zur positiven
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Das wird
von allen, von den Wirtschaftsverbänden, von den Unternehmen, aber auch von den Wissenschaftlern, bestätigt.
Er wird dazu beitragen, dass auch Erwerbsarbeit im Niedrigstlohnbereich attraktiv ist. Das ist der Sinn der Senkung
des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent. Das tut den Leuten gut und es hilft natürlich auch der Wirtschaft.
Die wirtschaftsfreundliche Besteuerung von Unternehmen in Deutschland wird nach der Reform, die trotz schon
vorhandener höchster Aufwendungen des Staates für Spitzeninfrastruktur, für Bildung und Ausbildung und für soziale Sicherheit durchgeführt wird, im Vergleich zu anderen großen Industriestaaten erhebliche Wettbewerbsvorteile schaffen. Wir werden in vielen Punkten, auch was
den Steuerstandort Deutschland angeht, deutlich besser
sein als die viel gepriesenen Vereinigten Staaten. Das wird
das Ergebnis sein.
Zum Systemwechsel, der den Steuerberatern so viel
Kummer macht: Ein bisschen Weiterbildung kann denen
natürlich auch nicht schaden. Wenn sie sagen, das sei für
sie alles zu kompliziert, sie hätten sich seit Bismarck an
das gegenwärtige System gewöhnt, dann müssen sie halt
mal mitdenken und mitlernen. Das ist überhaupt nicht
kompliziert.
({3})
Der Systemwechsel von der bisher üblichen steuerlichen Begünstigung entnommener Gewinne hin zur steuerlichen Förderung von Gewinnen, die in der Wirtschaft
weiter arbeiten, also nicht privat entnommen werden,
wird die Eigenkapitalausstattung und die Eigenfinanzierungsquote in allen deutschen Unternehmen, aber insbesondere im Bereich des Mittelstandes, stärken. Geld wird
wieder Realanlage suchen und nicht anonyme Finanzanlage. Das wird das Ergebnis sein.
Es wird endlich auch das abgestellt, was über viele
Jahre unter der schwarz-gelben Koalition begünstigt
wurde, nämlich die finanzielle Ausplünderung deutscher
Tochterunternehmen ausländischer Mütter, die Aktiengesellschaften auf Micky-Mouse-GmbHs heruntergefahren haben, sie darlehensfinanziert haben, um hier Kosten
zu produzieren und die Gewinne an einem steuerlich günstigeren Standort zu realisieren. Es wird eine Umkehrung
geben. Es wird wieder Vermögenszufluss in die deutschen
Töchter ausländischer Konzerngesellschaften geben. Das
wollen wir zugunsten der Wirtschaftskraft hier in
Deutschland erreichen.
({4})
Entnommene Gewinne werden künftig zur Hälfte mit
dem persönlichen Einkommensteuersatz des Anteilseigners belegt, in der Spitze mit 45 Prozent, also - das ist hier
vielfach schon dargestellt worden - um 8 Prozentpunkte
deutlich abgesenkt; „zur Hälfte“ deswegen, weil es bereits
eine Unternehmensteuerbelastung von 25 Prozent gibt,
die die Unternehmen bezahlt haben und die nicht mehr gegen die nachgelagerte Einkommensbesteuerung verrechnet werden kann.
Es besteht kein Zweifel, dass das Vollanrechnungsverfahren mit den Steuergutschriften für die betroffenen
Deutschen praktisch und häufig angenehm war, aber europatauglich oder gar globalisierungstauglich war dieses
Steuersystem eindeutig nicht. Denn es gibt in vielen Ländern, die mit uns im Austausch stehen, Anteilseigner, die
keine Chance haben, die hohe Körperschaftsteuervorbelastung in ihrem Heimatland gegen irgendetwas gegenzurechnen.
({5})
Wer fordert, das aufrechtzuerhalten, macht eine deutsche
Wagenburgsteuerpolitik - ohne Blick auf internationale
Verflechtungen, die wir als großer, internationaler Player
auch weiterhin gerne wollen.
Ganz wichtig im Zusammenhang mit dem Systemwechsel ist natürlich die Frage: Was heißt eigentlich Definitivbesteuerung? - Gewinn, der im Unternehmen oder
in der Wirtschaft bleibt, verwandelt sich in Eigenkapital,
unabhängig davon, ob er auf einem Konto liegt, ob er bei
Dritten angelegt wird oder ob man damit Maschinen oder
Beteiligungsunternehmen kauft. Es ist völlig egal, welche
Gestalt dieser umgewandelte Gewinn annimmt. Da kann
man sich doch nicht hinstellen und sagen: Wenn wir uns
von diesem in Kapital umgewandelten Gewinn, zum Beispiel in Form einer Beteiligung, trennen, muss der Fiskus
zuschlagen. Damit würden wir das Prinzip der Definitivbesteuerung einseitig durchbrechen. Das würde bestraft
werden.
Daran, wie die Märkte in dieser ganz zentralen Frage
zu dem Zeitpunkt, als die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen angekündigt wurde, reagiert haben, zeigt
sich: Die gesamte Reform würde wie ein Bettvorleger landen, nachdem sie wie ein Tiger gestartet ist, wenn wir darauf verzichten würden. Der Steuerstandort Deutschland
würde Schaden nehmen. Wir würden an der Wall Street,
in London, in Tokio ausgelacht werden, wenn wir nicht
den Mut zum Sprung beweisen.
({6})
Herr Kollege Schultz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich erlaube
sie.
Reinhard Schultz ({0})
Herr Kollege Schultz, Sie haben gerade wieder das Wort „Veräußerungsgewinne“ in
den Mund genommen, genau wie die Kollegen vonseiten
der CDU/CSU und der F.D.P., natürlich mit einem sehr
negativen Beigeschmack. Ich habe die Frage an Sie: Können Sie mir sagen, wie sich die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne in den nächsten Jahren auf die Steigerung des Bruttosozialproduktes und auf den Arbeitsmarkt auswirken wird?
Herr Kollege Lennartz, ich persönlich bin sehr sicher, dass der
steuerlich nicht gebremste Austausch von Kapital und die
Möglichkeit, dass sich Anlagen die jeweils beste Verwendung suchen, dazu führen werden, dass durch Veräußerungsgewinne Investitionen getätigt werden, von denen
wir in der Vergangenheit nur geträumt haben.
Ich darf einmal zitieren, was der Chef der Deutschen
Börse gestern in der „FAZ“ dazu geäußert hat: Er wagt die
Prognose, dass die Kapitalkosten von Kapitalgesellschaften um 14 Prozent sinken werden, dass wir Investitionskapital für neue Anlagen in Höhe von etwa 150 Milliarden DM frei machen und dass wir einen sehr agilen, liquideren Aktienmarkt haben werden, der Neugründungen
auch im Venture-Capital-Bereich deutlich begünstigen
wird. Er geht sogar davon aus, dass alleine dieser Punkt
der Steuerreform zu einem Wachstum des Bruttosozialproduktes von 1 Prozent führen wird. So mutig wäre ich
nicht, das zu prognostizieren; das sagt der Chef der Deutschen Börse. Aber von 0,7 Prozent Wachstum gehe auch
ich aus und das wäre ein gewaltiger Beitrag, mit dem die
ohnehin gute Konjunktur nachhaltig unterstützt werden
könnte. - So weit die Antwort.
({0})
Die Kampagne, die Teile der Opposition gemeinsam
mit Teilen der Wirtschaftspresse in den letzten Tagen losgetreten haben, dass die Steuerfreiheit von Veräußerungserlösen geradezu ein gigantisches neues Steuerschlupfloch aufreißen würde, entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Das muss man wirklich sagen. Die Herren Jarass und
Lang, die ich sonst außerordentlich schätze und denen ich
zugestehe, dass sie mit der Bekanntgabe ein Steuerschlupfloch entdeckt zu haben, das Werbeverbot für bestimmte Beratungsberufe sehr geschickt und sehr populär
umgangen haben, haben sich meines Erachtens im
„Hasselfeldt“ verloren.
Frau Hasselfeldt ist ja diejenige, die immer wieder betont, man könne durch Gestaltung Vermögen maximieren
und dann auch privat konsumieren. Das ist ein großer Irrtum. Wir mischen uns nicht darin ein, wie sich Unternehmen organisieren. Wir sagen nur: Wenn Geld, das heißt
Gewinne oder Veräußerungserlöse, in der privaten Sphäre
landet, dann wird es hälftig zum persönlichen Steuersatz
besteuert. Solange dieses Geld aber in der Wirtschaft
bleibt, soll es so arbeiten, wie es die Wirtschaft für richtig
hält.
Herr Gysi sagt, das müsse der Staat regeln. Wir haben
weder bei uns in der Fraktion noch in der Regierung einen
Herrn Mittag, der so etwas regelt. Das muss die Wirtschaft
selber tun. Frau Hasselfeldt, ich glaube, auch Sie sehnen
sich nicht nach Herrn Mittag.
Wir wollen, dass die Wirtschaft im Rahmen bestimmter Spielregeln selber entscheidet, wie sie sich organisiert.
Erst wenn Geld im privaten Portemonnaie landet, muss
die Einkommensteuer zuschlagen - und das zu Recht.
Denn sonst wäre das Prinzip, Geld, das arbeitet, besser zu
behandeln, nicht mehr gerechtfertigt. Aber auch diejenigen, die Einkommensteuer zu zahlen haben, werden besser gestellt.
({1})
Ich denke, die so genannte Optionslösung, die wir den
Personengesellschaften anbieten, die gut verdienen, ist
gut. Ihr Vorwurf, dass die Optionslösung nur für 5 Prozent
der Personengesellschaften interessant ist, ist völliger
Blödsinn. Es handelt sich um ungefähr 7 Prozent, die davon Gebrauch machen könnten. Wenn man alle Unternehmen berücksichtigt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass davon nur 7 Prozent Körperschaften sind. Für
diese sehen wir sogar ein eigenes Körperschaftsteuersystem vor. Ihr Argument, die Optionslösung sei nur für
5 Prozent der Personengesellschaften interessant, ist also
nicht tragfähig. Es handelt sich nämlich - sei es Boehringer,
seien es andere große Personengesellschaften - um
außerordentlich ertragsstarke Unternehmen, die, volkswirtschaftlich gesehen, eine große Bedeutung haben und
um die man sich kümmern muss; das ist gar keine Frage.
Die bekommen die gleichen Chancen wie Kapitalgesellschaften, ohne gezwungen zu sein, sich in eine andere
Rechtsform umzuwandeln. Ich halte das für vernünftig.
Das würde auch bedeuten, dass eine als Personengesellschaft geführte Vermögensholding, wenn sie denn optiert, selbstverständlich die Möglichkeit hat, ihrer Holding Beteiligungserlöse steuerfrei zuzuführen und diese
im Rahmen neuer Beteiligungen wieder anzulegen. Das
gilt auch für den berühmten „business angel“, der soeben
von Herrn Schwarz-Schilling zitiert worden ist, also für
den berühmten Venture-Kapitalisten. Er muss, wenn er
nicht sowieso schon über eine Rechtsform verfügt, lediglich optieren,
({2})
damit sichergestellt ist, dass er die Erlöse aus seinen erfolgreichen Aktionen in eine andere - hoffentlich auch erfolgreiche - Aktion investieren kann. Mehr ist das nicht.
Es ist doch schlau gedacht: Wir schützen im Grunde
genommen die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Unternehmen, schaffen aber gleichzeitig eine klare Abgrenzung zwischen der privaten Einkommenssphäre und der
unternehmerischen Tätigkeit. Das ist, so denke ich, angemessen und daran halten wir fest.
({3})
Natürlich muss eine solche umfangreiche Reform auch
finanziert werden. Einiges haben wir schon vorher getan:
Wir haben bereits in der ersten Stufe der Steuergesetzgebung den Sumpf an Steuerschlupflöchern fast trocken
gelegt. Wir sehen an den Einnahmen, dass dies wirkt. Die
Finanzverwaltungen bestätigen dies.
Wir haben in Bezug auf die Versicherungs- und die
Energiewirtschaft Maßnahmen ergriffen, weil dort ungerechtfertigt hohe Rückstellungen angesammelt worden
sind und man daher in der Lage war, ganze volkswirtschaftliche Zweige aufzukaufen. Aber es bleibt ein Selbstfinanzierungsanteil in nennenswerter Größenordnung, bei
dem ein großes Risiko besteht.
Wer heute fordert, die sich im Rahmen der Steuerschätzung ergebenden Mehreinnahmen auszugeben, der
handelt unseriös. Wir haben bereits 30 Milliarden DM als
Selbstfinanzierungseffekt - sozusagen als Wechsel auf die
Zukunft - eingerechnet. Wir geben 20 Milliarden DM aus
den Einnahmen aus der Ökosteuer aus, um die Renten zu
stabilisieren. 50 Milliarden DM sind also bereits ausgegeben. Der Rest ist vorgesehen für das Ausgabenwachstum von nicht einmal 2 Prozent im öffentlichen Dienst des
Bundes, der Länder und der Gemeinden. Dadurch sind
130 Milliarden DM schlicht und einfach ausgegeben. Davon bleibt nichts übrig. Herr Thiele, Sie berichten hier
also die ganze Zeit von einem Phantom. Die Wirklichkeit
sieht anders aus.
({4})
Herr Kollege Schultz,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich freue
mich besonders, dass es gelungen ist, mit den kommunalen Spitzenverbänden zu dem Agreement gekommen zu
sein, in der Zukunft Jahr für Jahr eine Feinjustierung vorzusehen, damit die Kommunen angesichts der Erhöhung
der Gewerbesteuerumlage, über die sie ihren Anteil an der
Steuerreform finanzieren, nicht über den Tisch gezogen
werden. Wir haben versprochen, diese Feinjustierung spätestens in vier Jahren noch einmal zu überprüfen. Denn
wir wollen nicht zulasten der Gemeinden arbeiten. Sie
sollen lediglich in dem Umfange, indem sie am Steueraufkommen insgesamt beteiligt sind, an der Gegenfinanzierung der Steuerreform beteiligt werden.
Unterm Strich, denke ich, handelt es sich um eine sehr
gelungene Sache. Wir können wirklich stolz darauf sein;
denn dadurch wird Wachstum produziert, wird die Wirtschaft von unnötigen steuerpolitischen Bremsen und
strukturellen Nachteilen befreit und wird es letztendlich
auch zur Stabilisierung der gemeinsamen europäischen
Währung kommen. Angesichts der Größe unserer Volkswirtschaft bin ich da sehr zuversichtlich.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der
Minister für Finanzen und Bundesangelegenheiten des
Saarlands, Peter Jacoby.
Peter Jacoby, Minister ({0}): Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Tagen war in einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen:
Ab Donnerstag müssen Lösungen gesucht werden,
die Aufbruchstimmung erzeugen, statt zu frustrieren.
({1})
Der Bundesfinanzminister hat jetzt mit Blick auf das
Vermittlungsverfahren, in diesem Fall mit Blick auf die
Finanzminister und Ministerpräsidenten der Union, die
Kategorie „Nettoentlastung und Verträglichkeit mit den
öffentlichen Haushalten“ als zentrales Argument in die
Debatte eingeführt. Zu diesem Themenbereich will ich
Folgendes sagen: Natürlich ist das ein wichtiger Punkt.
Aber wenn es um eine zukunftsorientierte Steuerreform
geht, ist das nur einer von mehreren Punkten und noch
nicht einmal der entscheidende. Entscheidend ist vielmehr die Frage: Ist die Konzeption zukunftsorientiert, ist
sie tauglich? Denn wenn sie zukunftsorientiert und tauglich ist, leisten wir einen Beitrag zugunsten von mehr
Wachstum und Beschäftigung, intensivieren wir die
Selbstfinanzierungseffekte und verbessern die Lage der
öffentlichen Haushalte. Das ist der Zusammenhang, um
den es bei dieser Debatte geht.
({2})
Deshalb wäre es - auch aus der Verantwortung der Finanzminister heraus - völlig verkürzt, dieses Thema nur
in fiskalpolitisch enger Weise anzugehen.
({3})
Man muss sich diesem Thema im Gesamtzusammenhang
stellen. Ich sage es noch einmal: Die entscheidende Frage
ist die Frage nach der Konzeption.
Mich hat schon etwas verblüfft, Herr Bundesfinanzminister, wie leichtfertig Sie über Einwendungen etwa der
Deutschen Bundesbank oder von Professor Bareis, dem
Initiator der Diskussion, den Sie, als Sie in der Opposition
waren, als Kronzeugen bemüht haben, hinweggehen. Wir
sehen uns jetzt sehr nahe bei der Position von Herrn
Bareis. Das ist doch ein Hinweis darauf, wie unterschiedlich man je nach Verantwortung mit den entsprechenden
Hinweisen aus der Wissenschaft und der Fachwelt umgeht. Oder wie wird mit den Hinweisen von Professor
Peffekoven oder mit denen Ihres eigenen Beraters Jarass
umgegangen, von dem eben ein verehrter Vorredner gesagt hat, dass er oft Recht habe, hier aber nicht? Die Fundamentaleinwendungen solcher Leute gegen die Konzeption können doch angesichts des anstehenden Vermittlungsverfahrens nicht mit dem Totschlagsargument
„Nettoentlastung und Verträglichkeit mit den öffentlichen
Haushalten“ beiseite gerückt werden. Das will ich klar
und eindeutig sagen.
({4})
Mit Blick auf die Konzeption möchte ich Folgendes
anmerken: Wenn wir kritisieren, dass das Steuerrecht bei
Umsetzung der von Ihnen vorgelegten Pläne nicht einfaReinhard Schultz ({5})
cher, sondern komplizierter wird, dann ist das Kritik bezogen auf die unzureichende Konzeption. Wenn wir die
unzureichende Balance zwischen der Entlastung der Kapitalgesellschaften auf der einen Seite und der Entlastung der Personengesellschaften, des Mittelstandes auf
der anderen Seite beklagen, dann hat das nichts mit der
Verträglichkeit mit den öffentlichen Haushalten zu tun.
Wenn wir die unnötigen Systemwechsel kritisieren Stichworte: Halbeinkünfteverfahren, Optionslösung, Gewerbesteueranrechnung -, dann ist auch das ein entscheidendes konzeptionelles Gegenargument, das wir unisono
vertreten. Dadurch kann - ich sage es noch einmal - mit
Blick auf mehr Wachstum und Beschäftigung und damit
das zukünftige Erschließen von Steuerquellen mehr bewirkt werden als durch das, was uns seitens der Bundesregierung bisher vorgelegt worden ist.
({6})
Der Bundesfinanzminister spricht von finanziellen Risiken; wir sprechen in diesem Zusammenhang von konzeptionellen, unkalkulierbaren, im Übrigen auch verfassungsrechtlichen Risiken.
({7})
Damit bin ich bei einem anderen Thema, das ich ansprechen will. Die Ministerpräsidenten und die Länderfinanzminister haben natürlich insbesondere eine regionalpolitische Verantwortung. Wenn man aus einer Gegend
kommt, in der 90 Prozent der Unternehmen Personengesellschaften des Mittelstandes sind, dann ist das für mich
eine nur zu natürliche Bezugsgröße. Wir stehen in den
Ländern auch vor der Aufgabe, die öffentlichen Haushalte, die jeweiligen Länderhaushalte zu sanieren.
Ich könnte übrigens bei Ihrer rückwärts gewandten
Diskussion im Blick auf die 90er-Jahre und die Tätigkeit
der Vorgängerregierung gut mitmachen. Ich könnte
ebenfalls eine Diskussion zum Thema Erblast führen mit Blick auf Ihre 15 Jahre. Lassen wir das außen vor.
Konzentrieren wir uns auf die Sachfragen.
Wir stehen vor der Notwendigkeit, die Haushalte zu
konsolidieren; wir stehen aber genauso vor der Notwendigkeit, den Strukturwandel zur Kenntnis zu nehmen
und ihn zu beschleunigen. Ferner stehen wir vor der Aufgabe, unter den Gegebenheiten des Wettbewerbs der Regionen im Vergleich zu Wirtschaftsstandorten im benachbarten Ausland konkurrenzfähiger zu werden. Dass wir
feststellen, dass viele Investoren mittlerweile dem Standort Deutschland, insbesondere in den Grenzregionen, den
Rücken gekehrt haben
({8})
und wenige Kilometer hinter der Grenze Standorte gefunden haben, wo sie investieren, hat entscheidend etwas mit
den steuerrechtlichen Rahmenbedingungen zu tun.
({9})
Die extreme Spreizung zwischen der Körperschaftsteuer einerseits und der Einkommensteuer andererseits
ist hinderlich. Regelungen, die eine Benachteiligung des
Mittelstandes gegenüber den großen Kapitalgesellschaften mit sich bringen, werden den von mir genannten Anliegen nicht gerecht. Die Ungleichbehandlung von einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen, also die fiktive
Unterscheidung zwischen Betrieben und Betriebsinhabern, ist ebenfalls der falsche Ansatz. Das hat im Übrigen
Auswirkungen auf die Kapitalbeschaffung insbesondere
junger Existenzgründer - sie brauchen wir als Träger des
Strukturwandels -, und berührt den Kapitalmarkt. Deshalb haben wir gegen das, was vorgelegt worden ist, konzeptionelle Einwände.
({10})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Nicht eine Politik des geringsten fiskalischen Risikos ist gefragt, sondern
eine verantwortbare Politik, die sich auch in einen Gesamtzusammenhang einordnen lässt. Billiger kann auch
alles andere als besser sein; es kann eben auch schlechter
sein. Das sagen wir in Bezug auf die Pläne, die seitens der
Bundesregierung und der sie tragenden Koalition vorgelegt worden sind.
Das Folgende will ich sagen, weil der Blick immer
nur auf die Ministerpräsidenten und die Finanzminister
der Union gerichtet wurde. Ministerpräsident Müller ist
dahin gehend zitiert worden, er wolle die Auswirkungen
auf den saarländischen Haushalt kalkulierbar und verantwortbar halten. Das ist wahr. Nur, was Sie nicht nennen, sind die konzeptionellen Antworten, die ebenfalls
gegeben werden. Was Sie insbesondere verdrängen,
sind die Äußerungen, die aus Ihren eigenen Reihen zu
dem kommen, was heute zu beurteilen ist. Der Kollege
Brüderle hat ja eben schon ein, zwei Stimmen genannt.
Ich will daran anknüpfen.
Der Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundesrates, der Kollege Steinbrück - er kommt aus NordrheinWestfalen, dem großen Bundesland, das Sie bis zum letzten Sonntag als Herzkammer der SPD bezeichnet haben -,
hat dieser Tage öffentlich erklärt:
Einerseits ist ... eine Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne bei Kapitalgesellschaften geplant. Andererseits werden Personengesellschaften seit Anfang 1999 voll besteuert, wenn sie Beteiligungen verkaufen.
({11})
Im Sinne von Mittelstandsförderung muss an dieser
Ungleichbehandlung etwas geändert werden ... Vornehmlich geht es mir um die kleinen Betriebe.
Exakt das ist unsere Position. Die Veränderungen hinsichtlich der Freistellungsgrenze, die Sie zwischenzeitlich
nachgeschoben haben, sind nur marginal und nicht
annähernd in der Lage, eine Kompensation zu bewirken.
({12})
Herr Poß, der Kollege Steinbrück sagt ganz deutlich:
Klar muss sein, dass Personengesellschaften nicht
schlechter gestellt werden als Kapitalgesellschaften.
Der SPD-Kollege aus Rheinland-Pfalz, Gernot Mittler,
Minister Peter Jacoby ({13})
Vorsitzender der Finanzministerkonferenz, sieht das in
der Steuerreform vorgesehene Optionsmodell sehr kritisch. Er wurde dieser Tage im „Handelsblatt“ mit folgender Aussage zitiert:
Über das Optionsmodell bin ich nicht glücklich. Das
Modell ist missbrauchsanfällig, beratungsintensiv
und konfliktträchtig.
Also, meine Damen und Herren, ziehen wir doch im
Blick auf das anstehende Vermittlungsverfahren die Konsequenzen aus diesen Einwendungen aus der Fachwelt
und der Wissenschaft. Zu diesen Stimmen, auch von fachund sachlich Zuständigen aus Ihren eigenen Reihen, haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, heute leider nichts
gesagt.
({14})
Ich fasse zusammen: Die Ausgangslage für eine wirkliche Steuerreform ist so gut, wie sie es schon lange nicht
mehr war.
({15})
Wir machen keine Blockade, wie wir es leider in den Jahren 1997 und 1998 erlebt haben.
({16})
Wir weisen darauf hin: Die Steuereinnahmen laufen gut.
Die Privatisierung von Bundesvermögen sowie die zu
erwartenden Versteigerungserlöse aus den Mobilfunklizenzen schaffen weitere Spielräume, ohne dass das
Ziel der Haushaltskonsolidierung, zu dem auch wir uns
bekennen und das wir unterstützen, infrage gestellt werden müsste. Deshalb sind wir davon überzeugt: Wenn
wir an dieser Stelle anknüpfen und einen mutigen Schritt
machen, dann werden die Selbstfinanzierungselemente
verstärkt und erweitert und dann werden wir in der Lage
sein - etwa wenn wir die Gelder aus der Versteigerung der
Mobilfunklizenzen dazu nutzen, den Fonds Deutscher
Einheit abzulösen
({17})
und damit den Schuldenstand zu tilgen -, aus dem bündischen Prinzip heraus einen Beitrag zur Entlastung der
Länder und Kommunen zu leisten. Wir verbreitern so
Spielräume und diese Spielräume nutzen wir zugunsten
einer zukunftsorientierten Steuerreform.
Ich bedanke mich.
({18})
Es spricht jetzt der
Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Damen und Herren! Ich glaube, es ist nicht die
Aufgabe von Herrn Jacoby, an diesem Platz den Standort
Deutschland schlecht zu reden. Es ist sinnvoller, sich darum zu kümmern, dass Deutschland in gutem Licht erscheint,
({0})
und die Dinge beim Namen zu nennen, die angesprochen
werden müssen.
Herr Jacoby hat beispielsweise das Wort „Spreizung“
benutzt. Nun möchte ich ganz kurz darstellen, worauf sich
dieser Begriff bezieht: Er vergleicht zwar nicht unbedingt
Äpfel mit Birnen, aber er vergleicht eine Gerade mit einer
Kurve. Jeder lernt in der Schule, dass man eine Gerade ein konstanter Steuersatz von null bis unendlich - nicht
mit einer Kurve vergleichen kann, die, wie hier, eine Progression beschreibt.
({1})
Es wäre sehr hilfreich, diese elementare Mathematik auch
im Bundestag nicht zu missachten.
Wir haben heute gelernt, dass die vorgelegte Reform
zur Senkung der Einkommensteuer und die Reform der
Unternehmensteuer zukunftsfähig und sozial orientiert
sind. Wir haben gelernt, dass die Steuern für alle Menschen gesenkt werden und dass die sozialen Sicherungssysteme durch einen Abbau der Arbeitslosigkeit gestärkt
werden. Wir haben gelernt, dass das geplante Steuersystem zukunftstauglich ist,
({2})
woraus indirekt folgt, dass das bisherige nicht zukunftstauglich war. Wir haben gelernt, dass alle Unternehmen
etwas von dieser Steuerreform haben. Wir haben etwas
aus einem alten Grundsatz gelernt, nämlich: Man darf das
nicht verschenken, was einem noch gar nicht gehört. Damit wird die Reform finanziert.
({3})
Hierin besteht der entscheidende Unterschied zu allen Reformansätzen der vorherigen Regierung.
Ich will das mit einigen Zitaten belegen und mit einer
Formulierung von Herrn Rauen beginnen. Herr Rauen hat
vorhin gesagt: In sieben endlos langen Jahren erst werden
wir das Ziel, die Rückführung der Nettoneuverschuldung, erreichen. Abgesehen davon, dass sieben kleiner
als sechzehn ist, ist vielleicht noch von Belang, dass wir
für diese sieben Jahre einen Plan haben. Wir haben
16 lange Jahre erlebt, in denen es keinen Plan gab.
({4})
- Zur deutschen Einheit komme ich gleich noch. Frau
Hasselfeldt hat nämlich gesagt, wir vergäßen immer die
deutsche Einheit.
({5})
Minister Peter Jacoby ({6})
Es ist bei näherer Betrachtung nicht so, dass die wesentlichen wirtschaftlichen Parameter, die Sie hinterlassen haben, aus der deutschen Einheit resultieren. Wir
müssen uns klarmachen, dass das, was Helmut
Schmidt hinterlassen hat, ein Drama war. Er hat
400 Milliarden DM Staatsverschuldung hinterlassen. Das
war schlimm. Aber was war bis 1989 angewachsen? Da
waren es plötzlich - ohne deutsche Einheit - 1 000 Milliarden DM. Das ist aber merkwürdig.
({7})
Helmut Schmidt hat eine dramatische Situation, nämlich
1 Million Arbeitslose, hinterlassen. Was haben Sie bis
1989 - 1989 gab es noch keine Vereinigung - daraus gemacht? Über 3 Millionen Arbeitslose.
({8})
Man muss sich schon überlegen, ob man alles auf die
deutsche Einheit schieben darf.
({9})
Herr Michelbach sagte, es komme zu einer brutalen
Diskriminierung des Mittelstands. Dagegen frage ich,
Herr Michelbach: Ist es nicht brutal, dass der Staat die
Lohnsteuer und die Steuern, die der Mittelstand bezahlt,
einkassiert und in Zinsen verwandelt? Das halte ich für
brutale Steuerpolitik. Im Ergebnis hatte das auch einen
gewissen Erfolg: Allianz, Dresdner Bank, Deutsche Bank,
RWE und VIAG haben zum Beispiel von dieser Politik
der Umwandlung von Lohnsteuer in Zinsen, mit denen sie
wirtschaften, einen entsprechenden Erfolg, der jetzt zu
korrigieren ist, erzielt. Wer ein bisschen darauf achtet, wie
die Überkreuz- und die echten Beteiligungen funktionieren, weiß auch, dass es sehr wohl notwendig ist, die Veräußerungsgewinne jetzt steuerfrei zu stellen und gleichwohl, Frau Hasselfeldt, nicht zu vergessen, dass sie eine
Nachversteuerung in dem Moment erfahren, in dem die
stillen Reserven an natürliche oder private Personen übergehen. Insofern ist die Besteuerung sichergestellt und
auch der Gerechtigkeit zwischen Großunternehmen, internationalen Strukturen und dem Mittelstand Genüge getan.
Ich will noch einen Satz zur Modernität dieses Gesetzes sagen. Wir haben ein altmodisches System vorgefunden, das nicht einmal europatauglich war. Wir haben ein
System vorgefunden, das darauf basierte, dass man sich
nicht sonderlich um die Neuverschuldung gekümmert hat.
Frau Hasselfeldt ließ sich hinreißen, zu sagen: Wir brauchen keinen Buchhalter. - Ich glaube, dass wir sehr wohl
einen Buchhalter brauchen, der darauf achtet, dass die
Neuverschuldung nicht exorbitant wächst und alle Steuereinnahmen als Zinsausgaben auffrisst.
({10})
Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der deutlich macht, wie modern das Gesetz ist. Denn nach diesem
Gesetz wird es künftig möglich sein, elektronische Rechnungen als Nachweis für den Vorsteuerabzug anzuerkennen. Das ist verbunden mit modernen Prüfungsverfahren
der Finanzverwaltungen, die künftig auf die Datenverarbeitungsanlagen der Unternehmen zurückgreifen können.
Damit wird die Effizienzsteigerung in den Unternehmen
mit der Effizienzsteigerung der Prüfungsbehörde kombiniert. Wir glauben, dass das in einer Welt, in der wir vom
Internet, von neuen Medien, von E-Commerce, von virtuellen Lagern und virtuellen Bestellvorgängen sprechen,
ein sehr guter Einstieg in eine moderne Gesetzgebung ist,
die zukunftstauglich ist und zeigt, in welche Richtung
diese Regierung denkt und handelt.
({11})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansgeorg Hauser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Binding, Sie haben völlig Recht: Neue Buchhalter
braucht das Land, damit man all das bewältigen kann, was
Sie mit Ihrer Steuerreform angestellt haben.
({0})
Es gibt zwar durchaus eine gute, aber natürlich auch
eine schlechte Nachricht über die heutige Debatte. Die
gute Nachricht lautet: Es wird eine Steuerreform geben das Steuersenkungsgesetz wird die parlamentarischen Beratungen am Ende sicherlich passieren - und es wird eine
Unternehmensteuerreform geben. Aber die schlechte
Nachricht lautet:
({1})
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf hat eine so mangelhafte Qualität und wird so schwer verdaulich sein, weil
alles so viel komplizierter wird, dass es mit Sicherheit
zu einer Fülle von Nachbesserungen kommen wird.
Aber das ist bei dieser Regierung absolut nichts Neues.
({2})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser
Stelle auch sagen: Es war für mich schon sehr befremdlich, mitzuerleben, wie wir im Finanzausschuss diskutiert
haben. Im Grunde waren gar keine großen Diskussionen
möglich, weil die Bereitschaft, ein wirklich gutes Gesetz
zu machen, auf Ihrer Seite des Hauses einfach nicht vorhanden war. Frau Scheel, es entspricht nicht meinem Verständnis von parlamentarischen Beratungen von Gesetzen, darauf zu verweisen, dass es noch den Vermittlungsausschuss gibt und die Länder schon alles richten
werden.
({3})
Das stellen auch andere, so zum Beispiel die Wirtschaftsverbände, fest, die so gelobt worden sind. Von
Herrn Hundt ist heute zu lesen: Dass die Steuerreform
trotz ihrer gravierenden Schwächen, trotz einer drastischen Schieflage zulasten des Mittelstandes und trotz
aller sachlichen Gegenargumente ihren parlamentarischen Gang nehme und für Nachbesserungen nur noch der
Lothar Binding ({4})
Vermittlungsausschuss bleibe, sei keine gute Lösung. Meine Damen und Herren, wir sollten uns selbstbewusster mit diesen Themen beschäftigen.
Die CDU/CSU-Fraktion ist sich ihrer staatspolitischen
und volkswirtschaftlichen Verantwortung sehr wohl bewusst und wird das Gesetz am Ende sicherlich nicht
blockieren. Niemand von uns wird eine so schäbige Rolle
übernehmen, wie sie der damalige Ministerpräsident des
Saarlandes und mittlerweile abgehalfterte Kurzzeitfinanzminister Lafontaine gespielt hat.
({5})
Aber auch Sie, verehrter Herr Bundesfinanzminister, sind
mit der unbeweglichen Haltung, die Sie damals im Bundesrat als Koordinator der SPD eingenommen haben, bestimmt kein Vorbild.
({6})
Die von der CDU/CSU vorgelegte Steuerreform wäre finanzierbar gewesen. Alle Argumente der SPD-geführten
Länder waren nur vorgeschoben, um eine Steuerreform
aus wahltaktischen Gesichtspunkten zu verhindern.
Die sicherlich positive Nachricht lautet, dass es zu einer spürbaren Steuersatzsenkung für Kapitalgesellschaften kommt. Eine Absenkung auf 25 Prozent macht die Kapitalgesellschaften international sicherlich ein Stück weit
wettbewerbsfähiger und die Anrechnung der Gewerbesteuer bei einigen Unternehmen - nicht bei allen - ist sicherlich ebenfalls eine Entlastung. Aber das sind schon
alle Vorteile.
Der Systemwechsel weg von der klassischen Anrechnung, die einmal als großer Erfolg gefeiert worden ist, den
Sie vornehmen, bringt so viele neue Schwierigkeiten,
dass ich bezweifle, ob er auf Dauer haltbar ist. Das Steuersenkungsgesetz verstößt gegen grundlegende Prinzipien der Steuersystematik. Es verletzt die Rechtsformneutralität und das Prinzip der Finanzierungsneutralität. Eine so eklatante Differenzierung bei der Besteuerung von Einkünften hat es noch nie gegeben. Die
deutliche Bevorzugung der Kapitalgesellschaften ist
schon mehrfach angesprochen worden.
({7})
Dies wird auch gesellschaftspolitische Folgen haben.
Herr Brüderle, Sie haben dies völlig richtig dargestellt.
Ich fordere Sie deshalb auf, wieder Chancengleichheit
herzustellen. Wenn bei den Kapitalgesellschaften die Veräußerungsgewinne steuerfrei bleiben - dafür mag es
durchaus Gründe geben -, müssen auch Personengesellschaften und Einzelunternehmer in gleicher Weise ihre
Chance für Umstrukturierungsprozesse erhalten. Deshalb
ist es unerlässlich, den halben Steuersatz bei der Besteuerung der bei der Veräußerung von Unternehmen und Beteiligungen erzielten Gewinne wieder einzuführen. Auch
andere Umstrukturierungshilfen, die Sie abgeschafft haben, müssen wieder zur Geltung kommen.
Die zweite Forderung heißt: Beseitigen Sie die Unterschiede bei den Steuersätzen zwischen Körperschaftsteuer und Einkommensteuer! Es ist einfach nicht hinzunehmen, dass eine deutliche Absenkung des Körperschaftsteuersatzes und die Beibehaltung des steil ansteigenden Progressionstarifs mit frühzeitigem Beginn der
Spitzenbesteuerung zu solchen ungleichen Belastungen,
die sich insbesondere beim Mittelstand auswirken,
führen.
Das führt zu neuen Gestaltungen und Missbräuchen.
Dann stellen Sie sich wieder hin und sagen: Diese Missbräuche müssen beseitigt werden; das sind Steuertricksereien. - Es ist ja in den Kommentaren dieser Tage weitgehend angesprochen worden, welche neuen Möglichkeiten es hier gibt und wie das ausgenutzt werden wird.
Die dritte Forderung heißt: Beseitigen Sie diese unsägliche Optionsmöglichkeit!
({8})
Es ist eine Missgeburt ohnegleichen, was hier gemacht
wird.
Wissen Sie, ich stehe mit diesen Forderungen ja nicht
allein. Es sind Minister aus verschiedenen Ländern und
alle möglichen anderen zitiert worden. Aber, liebe Frau
Scheel, ich darf einmal Ihre Kolleginnen zitieren. Die
Fraktion der Grünen hat heute im Bayerischen Landtag
einen Dringlichkeitsantrag eingebracht.
({9})
- Heute. - Darin heißt es:
Die Staatsregierung wird aufgefordert, im Bundesrat
bei den zu erwartenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss folgende Kompromisslinie zu
verfolgen:
Erstens. Annäherung der bisher unterschiedlichen
Steuerbelastung bei Veräußerungen zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften.
({10})
Zweitens. Erhöhung der Einkommensgrenze für den
Spitzensteuersatz von 45 Prozent zur Abmilderung
der so genannten kalten Progression.
Das, was Sie bei Herrn Rauen so kritisiert haben, steht
in diesem Dringlichkeitsantrag.
({11})
Weiter heißt es hier:
Drittens. Überprüfung des Optionsmodells für Personenunternehmen.
Das ist genau die Methode, die Sie, Frau Scheel, ständig praktiziert haben, indem Sie etwas angekündigt haben
und im Finanzausschuss dazu geschwiegen und es nicht
mehr weiter verfolgt haben.
({12})
Letzten Endes: Die Entlastung kommt zu spät. Deswegen fordere ich Sie auf, im Vermittlungsausschuss bereit
zu sein, die Absenkung des Tarifverlaufs nicht erst 2005,
sondern schon wesentlich früher zu akzeptieren.
Hansgeorg Hauser ({13})
Weil Herr Kollege Rauen wegen seiner Beispielrechnungen so kritisiert worden ist, sage ich noch dies: Der
Bund der Steuerzahler hat Ihnen allen einen Brief geschrieben und an einem Beispiel Folgendes sehr deutlich
gemacht:
Die direkten Abzüge mit Steuern und Sozialabgaben
werden bei einem ledigen Durchschnittsverdiener
mit einem Jahresbruttoeinkommen im Jahr 2000 von
52 200 DM auch im Jahr 2005 noch immer bei
49 Prozent liegen. Dies sind nur 2,9 Prozentpunkte
weniger als 1998.
Bitte bewirken Sie eine deutliche und frühzeitige Entlastung! Das kommt der Wirtschaft, den Arbeitnehmern
und den Investoren zugute. Damit könnte man wirklich
eine wertvolle Stütze für die konjunkturelle Belebung
schaffen. Geben Sie Ihre starre Haltung auf! Nutzen Sie,
weil es nicht mehr anders geht, da Sie vorher nicht dazu
bereit waren, wenigstens im Vermittlungsausschuss die
gegebenen Spielräume!
({14})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Kollege Dr. Ditmar Staffelt für die SPDFraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da er der letzte Redner vor der namentlichen Abstimmung ist, bitte ich Sie
ausdrücklich darum, auch dem Kollegen Dr. Staffelt die
entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am
Ende dieser Debatte noch einige kurze Anmerkungen zu
den Realitäten in unserem Lande machen. Das, was ich
hier in den letzten drei Stunden gehört habe, war ein Szenario, das mit den Tatsachen und mit dem Optimismus in
unserem Lande überhaupt nichts zu tun hat.
({0})
Die Realitäten sind die: Der BDI, immerhin ein wichtiger Verband in unserem Lande, der die Industrie repräsentiert, hat gerade erklärt:
Die deutsche Konjunktur ist mit Rückenwind ins
neue Jahr gestartet. Der Aufschwung gewinnt zunehmend an Breite und Dynamik. Die konjunkturellen Frühindikatoren zeichnen ein überaus freundliches Bild. Die wirtschaftliche Lage als auch die Geschäftserwartungen der Unternehmen geben Anlass
zu Optimismus wie schon lange nicht mehr.
Meine Damen und Herren, das sind die Nachrichten, auf
die Sie einmal hören sollten.
({1})
Ihr Geschwätz über Negativentwicklungen in diesem
Lande wird von niemandem mehr ernst genommen.
({2})
Deshalb ist Ihr Verhältnis zur Wirtschaft in unserem
Lande auch zerrüttet.
({3})
Lassen Sie mich noch eines sagen: Vorhin ist darauf
verwiesen worden, dass die Steuerreform, die wir machen, nicht die Ausgeburt von Ideen aus Ministerien und
Verwaltungen ist. Nein, die Vertreter der Wirtschaft haben
mit am Tisch gesessen, haben die Reform wesentlich mitgeprägt. Jetzt haben wir das Ergebnis. Es ist ein gutes Ergebnis. Alle Vertreter der großen Verbände in diesem
Lande haben gesagt: „Jawohl, wir könnten uns die eine
oder andere Verbesserung vorstellen. Aber die Richtung
ist richtig. Wir wollen diese Reform.“ Dies ist die Botschaft, über die wir heute zu reden haben.
({4})
Schauen Sie sich - das hat auch etwas mit unserer Diskussion zu tun - die Entwicklung der Haushaltslage an!
Es ist darüber debattiert worden. Wir werden in aller
Breite bei dem Versuch unterstützt, den Haushalt zu konsolidieren, endlich von der Verschuldung und den Zinsnotwendigkeiten, die wir haben, wegzukommen. Auch
das ist eine Politik, die die Unterstützung der Mehrheit in
unserem Lande hat. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
({5})
Wenn Sie sich die Arbeitsmarktzahlen ansehen, dann
können wir auch hier sagen: Ja, es gibt eine Entwicklung
zum Besseren. Wir bewegen uns auf dreieinhalb Millionen Arbeitslose zu. Es werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegensatz zu Ihren Anmerkungen haben wir
sehr wohl bei den kleinen und mittleren Unternehmen in
den neuen Technologien einen Boom an Existenzgründungen. Das muss doch Gründe haben.
({6})
Das Klima ist also gut. In einem Punkt kann ich Herrn
Michelbach beruhigen. Ich weiß nicht, ob er anwesend ist.
Es ist aber üblich, Fragen zu stellen und dann nicht mehr
zuzuhören.
({7})
Ich sage Ihnen Folgendes: Ihre Unterstellung, als würde
irgendwer in der Sozialdemokratischen Partei oder in der
Koalition von dem persönlich haftenden Unternehmer
Abstand nehmen wollen, ist durch nichts zu belegen und
nicht haltbar. Wir wollen Unternehmerpersönlichkeiten in
diesem Lande. Wir tun sehr viel dafür, dass sich solche
Unternehmerpersönlichkeiten herausbilden können. Wir
schaffen Rahmenbedingungen, die Sie nicht geschaffen
haben.
({8})
Wenn wir über die Steuerreform reden, lassen Sie mich
mit einem gewissen Schmunzeln einmal darauf hinweisen, wie die Diskussion neuerdings verläuft: die CDU
als Rächer der Enterbten, Sie als diejenigen, die die soziale Frage entdeckt haben, die sich im Übrigen für die
kleinen und mittleren Unternehmen ins Zeug werfen, als
hätten Sie noch nie etwas mit großen Unternehmen in unserem Lande zu tun. - Wir brauchen uns nur einmal die
Hansgeorg Hauser ({9})
veröffentlichten Spenden bei Ihnen etwas näher anzusehen, um Ihre Verbindungen zur Großindustrie und zu den
Konzernen festzustellen.
({10})
Ich sage sehr sachlich: Es ist eine völlige Fehleinschätzung, zu glauben, die Großen könnten ohne die
Kleinen und die Kleinen ohne die Großen in unserem
Lande vernünftig existieren. Schauen Sie sich einmal die
Zulieferbetriebe bei uns an! Es geht uns darum, dass sowohl die Kapitalgesellschaften als auch die Personengesellschaften von dieser Steuerreform profitieren. Ich sage
Ihnen: Sprechen wir in einem Jahr wieder darüber, dann
werden Sie sehen, dass es auch bei Ihnen Erkenntnisse
gibt, über die Sie heute nur reden, die dann aber durch die
Realitäten gedeckt sein werden.
({11})
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Die
Steuerreform insgesamt wird etwas für die Unternehmen
bringen. Aber wir haben - dazu bekennen wir uns - auch
etwas für die soziale Gerechtigkeit getan. Wir haben die
kleinen Einkommen entlastet. Das gehört - das muss immer wieder gesagt werden - zum Gesamtszenario dieses
großen Steuerpakets der Bundesregierung. Deshalb werden wir mit großer Überzeugung diesem Steuerpaket zustimmen. Ich bin ganz sicher, dass wir in den Verhandlungen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss ein
tragfähiges Ergebnis für unser Land erzielen werden.
({12})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den
Tagesordnungspunkt 3 a, und zwar zunächst über den Ent-
wurf eines Steuersenkungsgesetzes der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Bun-
desregierung auf den Drucksachen 14/2683, 14/3074 und
14/3366 Nr. 1 Buchstabe a. Dazu liegen zwei Änderungs-
anträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 14/3383? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 14/3384? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses ge-
gen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstim-
mung. -
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und weise darauf hin, dass
34 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion*) und ein
Kollege der PDS-Fraktion**) Erklärungen zur Abstim-
mung nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben.
Diese Erklärungen werden zu Protokoll genommen. Ich
bitte nunmehr die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen, weil wir jetzt mit den Abstimmungen fortfahren.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS zum Steuersenkungs-
gesetz auf Drucksache 14/3390. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Noch zum Tagesordnungspunkt 3 a: Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3366 die An-
nahme von zwei Entschließungen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Op-
positionsparteien angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Umsetzung einer Steuer-
reform für Wachstum und Beschäftigung auf Drucksa-
che 14/2903. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck-
sache 14/3366 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzuleh-
nen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf
Drucksache 14/2903 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der
F.D.P. und gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/
CSU zu einer Steuerreform für mehr Wachstum und Be-
schäftigung auf Drucksache 14/3366. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag auf Drucksache 14/2688 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. ange-
nommen.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der F.D.P., „Unternehmensteuerre-
form - Liberale Positionen gegen die Steuervorschläge
der Koalition“, Drucksache 14/3366. Der Ausschuss emp-
*) Anlagen 2 und 3
**) Anlage 4
fiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
auf Drucksache 14/2706 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der PDS, „Besteuerung der Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit“, Drucksache 14/3366. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2912 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem
Bericht der Bundesregierung über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien für das Jahr 2001,
Drucksache 14/3366. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 6
seiner Beschlussempfehlung, den Bericht auf den Drucksachen 14/1926 und 14/2770 zur Kenntnis zu nehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Wir warten noch auf das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung. Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Wir fahren in den Beratungen fort.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf eines Steuersenkungsgesetzes der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung auf Drucksachen 14/2683,
14/3074 und 14/3366 bekannt: Abgegebene Stimmen
622. Mit Ja haben gestimmt 324, mit Nein haben gestimmt 298, Enthaltungen keine.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 625
davon
ja: 324
nein: 301
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Peter Friedrich ({7})
Lilo Friedrich ({8})
Harald Friese
Anke Fuchs ({9})
Arne Fuhrmann
Prof. Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({10})
Angelika Graf ({11})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Frank Hofmann ({16})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Prof. Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({17})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({18})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({19})
Christa Lörcher
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Prof. Dr. Jürgen Meyer
({21})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({22})
Jutta Müller ({23})
Christian Müller ({24})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({25})
Gerhard Neumann ({26})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Prof. Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Prof. Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Birgit Roth ({28})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({29})
Ulla Schmidt ({30})
Silvia Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Wilhelm Schmidt ({33})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({39})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({40})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({41})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({42})
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({43})
Helmut Wieczorek
({44})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({45})
Brigitte Wimmer ({46})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({47})
Waltraud Wolff ({48})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({49})
Marieluise Beck ({50})
Volker Beck ({51})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({52})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({53})
Irmingard Schewe-Gerigk
Werner Schulz ({54})
Christian Simmert
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({55})
Margareta Wolf ({56})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
({57})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({58})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({59})
Peter H. Carstensen
({60})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({61})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({62})
Axel E. Fischer ({63})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({64})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({65})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({66})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({67})
Norbert Hauser ({68})
({69})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({70})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({71})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({72})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({73})
Dr. Martin Mayer
({74})
Wolfgang Meckelburg
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Bernward Müller ({75})
Elmar Müller ({76})
Bernd Neumann ({77})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({78})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({79})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({80})
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({81})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({82})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({83})
Andreas Schmidt ({84})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze ({85})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({86})
Dr. Rita Süssmuth
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({87})
Gerald Weiß ({88})
Heinz Wiese ({89})
Hans-Otto Wilhelm ({90})
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({91})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({92})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({93})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({94})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({95})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Eva-Maria Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Behrendt, Wolfgang, Bühler, Klaus , ({96}) Haack, Karl-Hermann, ({97})
SPD CDU/CSU SPD
Lamers, Dr. Karl A., ({98}) Siebert, Bernd, Zierer, Benno,
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
({99})
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2000
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
- Drucksache 14/2672 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({100})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({101})
aa) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 1999
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Kersten Naumann und der Fraktion der PDS
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Hildebrecht Braun ({102}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Matthias Weisheit, Bernhard Brinkmann
({103}), Christel Deichmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke,
Kersten Müller ({104}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bb) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 1998
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
- Drucksachen 14/347, 14/348 ({105}),
14/1155, 14/1156, 14/1157, 14/1158, 13/9823,
13/9824 ({106}), 14/272 Nr. 100,
14/2198 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Zu dem Agrarbericht 2000 liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Das Haus
ist damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ergebnisse des Agrarberichtes 2000
sind Ihnen bekannt. Es gibt keinen Zweifel: Das Wirtschaftsjahr 1998/99, um das es dabei geht, war unter dem
Strich kein Grund zum Frohlocken. Das Tief bei den
Schweinepreisen hat bei den Veredelungsbetrieben ein
großes Loch in die Kasse gerissen. Man darf sagen, dass
wenigstens die Futterbaubetriebe, die immerhin 60 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe ausmachen, ein
Plus verbuchen konnten.
Deutlich wird, meine Damen und Herren - das hat sich
hier einmal mehr bestätigt -: Die Einkommen werden entscheidend durch die Märkte bestimmt. Daran ändern
auch Versuche nichts, von wem auch immer sie kommen
mögen, der Bundesregierung eine Mitschuld an den Einkommenszahlen des letzten Wirtschaftsjahres in die
Schuhe zu schieben. Ich glaube auch - das will ich dabei
gerne unterstreichen -, dass man einem Phantom nachjagt, wenn man den Eindruck erweckt, dass man den Betrieben auf Dauer Einkommen und Existenz durch Preisstützung und Absatzgarantien sichern könne. Ich bin sogar der Auffassung, man darf einen solchen Eindruck
nicht länger erwecken.
({0})
Viele von uns haben das ohnehin nie richtig geglaubt,
vielleicht auch jene nicht, die zumindest in Wortbeiträgen
hier und da diesen Eindruck zu erwecken versuchten.
Wenn es auf den Märkten nicht stimmt, kann es der
Staat auch bei noch so viel gutem Willen - der sei durchaus unterstellt - auf Dauer nicht richten. Größere Marktschwankungen bei Schweinen, Kartoffeln, Obst und
Gemüse, um nur einmal diese Produkte zu nehmen, hat es
immer gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Die
Erfahrung zeigt: Im Endergebnis werden schlechte Jahre
durch gute ausgeglichen und insgesamt fahren die Landwirte damit nicht schlecht. Ich will an dieser Stelle auch
darauf hinweisen - wir sollten das in der Öffentlichkeit
vielleicht öfter als in der Vergangenheit tun -, dass man
zukünftig mehr als früher Instrumente wie Warenterminbörsen nutzen sollte, um sich zum Beispiel gegen Preisschwankungen abzusichern.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass zunehmend darüber diskutiert und die Einschätzung geteilt
wird, dass wir in der ganzen Absatzkette mehr Kooperation brauchen, um in der Vermarktung so schlagkräftig
zu werden, dass wir über den Markt entsprechende Erlöse
Vizepräsident Rudolf Seiters
erzielen können. Ich will das an dieser Stelle nicht vertiefen, aber für mich ist das eine Konsequenz nicht nur aus
diesem Agrarbericht, sondern im Grunde auch aus den
agrarpolitischen Debatten und den Agrarberichten der
letzten Jahre.
Der Staat kann die regulierende Wirkung des Marktmechanismus auf Dauer nicht außer Kraft setzen und
sollte es im Grunde auch nicht versuchen. Gerade bei den
Schweinen haben wir in den letzten Monaten gesehen,
dass die Selbstregulierungskräfte auf diesem Markt
funktionieren. Hier wird, wohlgemerkt von einem niedrigen Niveau ausgehend, wieder Geld verdient. So war es
im Übrigen richtig, dass wir in Brüssel konsequent geblieben sind und uns nicht auf eine Diskussion eingelassen haben, die darauf hinauslaufen sollte - das wurde von
einigen Ländern durchaus gewünscht und wiederholt intensiv vorgetragen -, mit entsprechenden Instrumenten
bis hin zu Produktionsquoten in diesen Markt einzugreifen.
({1})
Auch auf anderen Märkten - uns liegen gerade die
jüngsten Berichte dazu vor - hat sich die Situation in den
letzten Monaten stark verbessert. Anziehende Weltmarktpreise verbessern die Exportbedingungen - dazu
gehört alles, was man mit „Währungsrelationen“ umschreiben kann - und helfen Lager zu räumen.
({2})
Der Rindfleischberg ist praktisch abgeräumt. Ich halte das
für einen großen Erfolg, weil er uns die letzten Jahrzehnte
große Schwierigkeiten und Sorgen auch hinsichtlich der
Preise und damit verbundener Einkommen bereitet hat.
Die erhöhten Prämien aufgrund der Agenda und stabile
Erzeugerpreise bieten den Rindfleischerzeugern positive
Rahmenbedingungen. Ich will auch das einmal deutlich
sagen.
Auch bei der Milch geht es mit den Preisen Gott sei
Dank wieder bergauf. Beim Getreide wurde vor einigen
Tagen erstmals seit Jahren wieder eine größere Menge
Weizen zum Export ohne Erstattung zugeschlagen. Ich
halte das für eine bemerkenswerte Tatsache, weil das
zeigt, dass wir zunehmend in der Lage sind, über auf den
Märkten erzielte Preise Einkommen zu erzielen.
({3})
- Das habe ich eben exakt gesagt, als ich das Stichwort
„Währungsrelationen“ nannte, das genau diesen Punkt
umfasst. Ich habe es zwar anders formuliert, aber genau
das war gemeint.
({4})
- Dann verstehe ich den Zwischenruf allerdings nicht.
({5})
- Vielen Dank für die Bestätigung. Ich bin durchaus
friedlich gestimmt und will keine unnötige Kontroverse
aufkommen lassen.
Für mich sind diese positiven Entwicklungen eine Bestätigung auch des Agenda-Kurses, der ja mehr Marktorientierung bedeutet. Damit ist für mich belegt, dass die
vorhandenen Befürchtungen, aufgrund der Agenda würden die Preise förmlich ins Bodenlose fallen - ich erinnere
mich in diesem Zusammenhang an den einen oder anderen Beitrag -, nicht gerechtfertigt waren. Man muss sich
hier Gott sei Dank eines Besseren belehren lassen.
Die erfreuliche Marktentwicklung - die ersten Anzeichen liegen vor - wird auf die Einkommen der Landwirte
durchschlagen. Der Deutsche Bauernverband hat seine
negative Einkommensprognose für das laufende Wirtschaftsjahr schon korrigiert. Das ist gut so. Unsere im
Hause aktuell durchgeführten Berechnungen deuten auf
einen Einkommenszuwachs von bis zu 5 Prozent hin.
Damit nicht der Vorwurf kommt, es würde etwas unterschlagen, will ich sagen, dass ein Wermutstropfen von
der Wetterfront kommt, was die Getreide- und Ölsaatenbestände anbelangt. Diesen Punkt möchte ich aber nur am
Rande erwähnen. Im Übrigen ist durch die Agenda auch
diesbezüglich ein positiver Effekt gegeben: Ernteunabhängige Flächenprämien ermöglichen im Gegensatz zur
Preisstützung auch eine gewisse Risikoabsicherung. Das
gehört auch zur Wahrheit.
Was der Staat zur Zukunftssicherung unserer Landwirtschaft tun kann und tun sollte - wir haben wiederholt
darüber diskutiert -, ist, zumindest für annähernd gleiche
Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Wir bemühen uns in
diesem Bereich. Angesichts meiner begrenzten Redezeit
will ich hier den Stand der Diskussion nicht im Einzelnen
darstellen. Hier liegt eine dauerhafte Aufgabe, nicht erst
seit heute, sondern schon seit längerem.
Wir müssen außerdem gewährleisten, dass der Strukturwandel ohne Verwerfungen und soziale Härten verläuft. Wir müssen Anreize schaffen, dass auch nicht
marktgängige Leistungen, die gleichwohl von der Gesellschaft erwünscht sind, erbracht werden. Ich denke hier an
den Umwelt- und Naturschutz.
({6})
Auf der einen Seite arbeiten wir daran, dass die europäische wie die deutsche Landwirtschaft Chancen hat, an
wachsenden Agrarmärkten mit den eben beschriebenen
Tendenzen teilzuhaben. Auf der anderen Seite müssen wir
das Modell des europäischen landwirtschaftlichen Betriebes, das europäische Agrarmodell, verteidigen und seine
Umsetzung gewährleisten. Ich verweise in diesem Zusammenhang darauf, was wir beim so genannten Agrardiesel erreicht haben. Wir sind entschieden der Auffassung, dass das Geld bei den Bauern ankommen muss. In
der Diskussion, die wir darüber führen, gibt es keine ideologische Fixierung. Es kann nicht sein, dass wir Geld bereitstellen, es aber zwischendurch sozusagen auf der
Strecke bleibt und nicht bei den Höfen ankommt. Die entsprechenden Entscheidungen sind getroffen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Bundesminister Funke, Sie haben eben zwei Punkte angesprochen,
bei denen ich gerne nachfragen möchte. Sie haben sich
dafür ausgesprochen, die Wettbewerbsbedingungen für
die deutsche Landwirtschaft im europäischen Binnenmarkt zu harmonisieren. Sie haben gleichzeitig das Wort
„Agrardiesel“ in den Mund genommen. Wenn ich mir einmal die Zahlen für Frankreich ansehe, dann kann ich feststellen, dass dort der Preis etwa ein Drittel des Preises in
der Bundesrepublik Deutschland beträgt. Die Preise in
Deutschland haben sich in diesem Bereich verdoppelt.
Sie haben weiterhin gesagt, der deutsche Staat solle nicht
versuchen, in die Marktentwicklung einzugreifen. Wenn
ich die Situation in meinem eigenen Wahlkreis betrachte,
kann ich feststellen, dass Sie die Kosten für die Betriebe darin sind Ihre Verbesserungen, die Sie eben für das kommende Jahr angekündigt haben, schon eingerechnet - um
mehr als 115 Prozent erhöht haben. Das ergeben Modellrechnungen für Betriebe, die tatsächlich existieren.
In diesem Zusammenhang lautet meine Frage: Wie schätzen Sie die Harmonisierung vor dem Hintergrund ein,
dass Sie beim Agrardiesel eine Wettbewerbsverzerrung
herbeigeführt haben?
Wie wollen Sie eigentlich das, was Sie eben zum
Agrardiesel gesagt haben, in die Realität umsetzen, wenn
Sie als Staat geradezu eingreifen und nicht die Wettbewerbsbedingungen verbessern, sondern im Gegenteil dem
deutschen Landwirt den Wettbewerb erschweren und
seine Chancen verschlechtern?
Die zweite Frage habe ich
schlichtweg im ersten Teil nicht verstanden, deswegen
kann ich darauf nicht antworten. Ich weiß nicht, was Sie
mit der 115-prozentigen Steigerung meinten. Das können
Sie mir noch einmal mitteilen, dann will ich Ihnen das
gern erläutern.
Zum ersten Teil: Es ist unstrittig, dass wir hier höhere
Preise haben. Wir haben wiederholt darüber diskutiert insoweit ist der Neuigkeitswert dieser Intervention nicht
gerade horrend -, dass wir höhere Preise zu zahlen haben
und dass es unsere Wettbewerbsinitiative gibt, um Harmonisierung in Europa zu erreichen. Ich wäre froh gewesen, wenn das schon in den letzten Jahren geleistet worden wäre. Ich muss Ihnen das Argument wieder nennen:
Sie haben ja zwischendurch auch die Mineralölsteuer
kräftig erhöht, ohne die Dieselrückerstattung ebenfalls
zu erhöhen, die nach Ihrem Duktus eigentlich hätte erhöht
werden müssen, wenn Sie von gleichen Wettbewerbsbedingungen reden. Sie haben da Ihre Hausarbeiten auch
nicht erledigt. Ich gebe gerne zu, dass es hier eine Wettbewerbsverzerrung gibt; das ist auch unstrittig. Wir werden weiter daran arbeiten, diese Wettbewerbsunterschiede, so gut es geht, anzugleichen.
Allerdings sage ich auch hier wieder ganz entschieden:
Wettbewerbsunterschiede immer auf einen Punkt zu reduzieren ist nicht sach- und fachgerecht, sondern Sie müssen dann die ganze Bandbreite der Wettbewerbsbedingungen sehen, von der Umsetzung der Agenda über das
Baurecht bis hin zu Energiepreisen.
Es ist bemerkenswert - ich lasse das im Moment aufarbeiten, weil ich es genauer wissen will -, was französische Bauern zu den Wettbewerbsbedingungen sagen. Im
„Ernährungsdienst“ ist gerade ein schöner Artikel veröffentlicht worden, wonach die französischen Schweinehalter ihrer Regierung vorhalten, dass die Wettbewerbsbedingungen in diesem Sektor insbesondere in Deutschland und Spanien günstiger seien als in Frankreich.
({0})
Auch das ist bemerkenswert. Diese ganze Debatte über
Wettbewerbsbedingungen will ich gerne tiefer ausloten;
ich habe mich in früherer Eigenschaft damit auch schon
beschäftigt.
({1})
- Nein, Herr Kollege Schindler, es ging dabei nicht um die
Wildschweine. Da muss ich Sie enttäuschen. Es ging ausdrücklich um die Hausschweine. Ich gebe allerdings zu,
dass ich die spezifischen Haltungsbedingungen für Wildschweine in Frankreich nicht kenne.
({2})
Meine Damen und Herren, ich wollte jetzt eigentlich darauf hinweisen, dass wir - durchaus nach großen
Mühen - auf europäischer Ebene Gott sei Dank, einen Beschluss zur Rindfleischetikettierung durchgesetzt haben. Ich erwähne das in diesem Zusammenhang, weil es
für mich auch ein Wettbewerbsvorteil für deutsche Landwirte ist, wenn wir zum 1. September eine Rindfleischetikettierung - das vorziehend, was europaweit erst später
kommt - durchführen, weil man damit am Markt Vorteile
erheischen kann. Die Tatsache, dass wir bei der Kennzeichnung dann eindeutig garantieren, dass das Fleisch
zur Gänze - von der Zucht über die Mästung bis zur
Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung - aus Deutschland kommt, führt auch zu mehr Chancen am Markt und
ermöglicht es, sich im Wettbewerb gegenüber anderen
konkurrierenden Mitgliedstaaten eher durchzusetzen. Für
mich ist das eindeutig ein Wettbewerbsvorteil.
Wir werden darum alles tun, um das so schnell wie
möglich umzusetzen. Ich möchte von dieser Stelle aus an
die Länder appellieren. Sie haben ja immer gefordert, dass
wir eine möglichst zügige Umsetzung garantieren. Wir
haben in einer, wie ich meine, Rekordzeit von elf Tagen
die entsprechenden Vorbereitungen getroffen, um das Gesetzgebungsverfahren in Gang zu setzen. Ich möchte die
Länder bitten, hier ebenfalls zügig zu arbeiten, damit wir
bis zum Herbst alles umsetzen können.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({3})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSUFraktion.
({0})
Vielleicht
solltest du das einmal bleiben. Es wäre zumindest angebracht, dass man, bevor man hier Kommentare abgibt, erst
einmal zuhört.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Funke hat einiges gesagt, nicht allzu viel. Er hat
davon gesprochen, welche Auswirkungen die Schwäche
des Euro hat. Er hat die positiven Effekte auf den Export
von Nahrungsmitteln aus der und den Import von Nahrungsmitteln in die Euro-Zone beschrieben. Dem kann
man zustimmen. Aber es gilt dann auch, zumindest langfristig über einige negative Aspekte zu diskutieren. Es
würde jedoch den Rahmen dieser Debatte sprengen, wenn
wir das hier aufarbeiten würden.
Er hat dann vom Wettbewerb gesprochen, dem sich
die deutsche Landwirtschaft zu stellen hat. Wir gehen ja,
trotz der Euro-Schwäche, von einem immer stärker werdenden Wettbewerbsdruck aus. Insoweit folge ich Herrn
Funke. Das hat er in den letzten Monaten immer wieder
verkündet, häufig als seine Erkenntnis, obwohl ich
glaube, dass viele Agrarpolitiker, auch viele Landwirte,
diese Erkenntnis teilen. Aber wenn ich schon von einem
zunehmenden Wettbewerbsdruck ausgehe, der sich, zumindest in der Euro-Zone, ohne Währungsverschiebungen niederschlagen wird, muss ich doch fragen: Was mache ich in der deutschen Agrarpolitik, damit die deutschen
Bauern dem Wettbewerbsdruck besser standhalten können?
({0})
Das andere brauchen wir doch hier nicht zu diskutieren. Dass Preise steigen, kann man sich agrarpolitisch genauso wenig auf die Fahnen schreiben, wie man sinkende
Preise Herrn Funke anlasten sollte, es sei denn, die Rahmenbedingungen hätten sich an bestimmten Stellen durch
die Agenda 2000 so verschlechtert, dass es zu einem
Preisdruck kommt. Ansonsten ist das nicht festzumachen,
weder an der Politik von Herrn Funke noch an der Politik
von früheren Landwirtschaftsministern, weder im Positiven noch im Negativen.
Aber hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft entscheidet sich doch vieles in der
hausgemachten Agrarpolitik und darüber gilt es zu diskutieren.
({1})
Da wird aber immer wieder abgelenkt. Wir diskutieren
jetzt über Agrardiesel, über die agrarsozialen Sicherungssysteme und über andere Schwerpunkte, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, und wir schauen, was die
anderen Länder machen, die möglicherweise schlechter
sind als wir, zum Beispiel Frankreich, wo sich die Rahmenbedingungen noch schlechter darstellen als in
Deutschland.
({2})
Ich finde, wir sollten um die besseren und nicht um die
schlechteren Rahmenbedingungen in der nationalen Politik konkurrieren.
({3})
Wenn die rot-grüne Regierung in Frankreich für die französischen Bauern zurzeit schlechtere Rahmenbedingungen schafft, dann ist das kein Vorbild für die deutsche
Agrarpolitik; das dürfte es zumindest nicht sein.
({4})
Aber wenn man sich anschaut, wie hier Agrarpolitik
betrieben wird, stellt man fest, dass es in der deutschen
Landwirtschaft ein ungeheures Belastungsszenario gibt,
das nicht mit dem in anderen volkswirtschaftlichen Bereichen zu vergleichen ist. Das ist unser Kritikpunkt und
den werden wir immer wieder aufgreifen, bis Rot-Grün
möglicherweise eine Kehrtwende in der Agrarpolitik vollzieht.
({5})
Da ist die Frage Agrardiesel aufzugreifen. Am Ende
der Agrardiesellösung, im Jahre 2003, wird der Agrardiesel in Deutschland doppelt so teuer sein wie der Diesel,
der in der Landwirtschaft in Dänemark eingesetzt wird.
Die Dänen werden etwa 60 Pfennig bezahlen, wir
1,20 DM. Wir müssen aber mit den Dänen konkurrieren.
Mir hat einmal jemand gesagt, in Griechenland sei der
Diesel, den man in der Landwirtschaft einsetzt, noch teurer als in Deutschland. Mich interessiert gar nicht, was die
Griechen bezahlen. Mich interessiert, was die Dänen, die
Franzosen, die Niederländer und die Belgier bezahlen
müssen, weil das unsere Hauptwettbewerber sind.
Hier findet eine extreme Wettbewerbsverschlechterung statt. Wir haben früher trotz der Mineralölsteuererhöhungen, die wir vorgenommen haben, pro Liter Diesel
nur etwa 60 Pfennig gezahlt. Es ist richtig, wenn Herr
Thalheim immer wieder darauf verweist, wir hätten in den
16 Jahren unserer Regierung Mineralölsteuererhöhungen
in Höhe von 17 Pfennig vollzogen.
({6})
Aber Sie vollziehen innerhalb von vier Jahren Mineralölsteuererhöhungen von 35 Pfennig.
({7})
Das Problem ist, dass Sie das innerhalb von vier Jahren
tun.
Sie finden in diesem Zusammenhang keine adäquate
Lösung für den Agrardiesel. Das habe ich Ihnen hier
bereits vorgehalten. Damit wird in der deutschen Landwirtschaft die Energie einseitig verteuert.
({8})
Herr Meister hat doch Recht, dass damit für die deutschen
Landwirte ein Problem entsteht. Das wird durch entsprechende Preise für den Agrardiesel nicht kompensiert.
Ich will jetzt nicht darüber sprechen, dass es erst um
das Einfärben von Agrardiesel ging, es dann zu allen möglichen Lösungsmöglichkeiten kommen sollte und man
jetzt doch wieder an ein Erstattungsverfahren denkt, das
auch wir früher praktiziert haben.
({9})
Was ist daran so neu? Dass diese Dinge jetzt der Zoll
abwickeln muss, dass beim Zoll eine neue Bürokratie
aufgebaut wird und dass die alten Bürokratien, die sich
mit dem Erstattungsverfahren vernünftig auseinander gesetzt haben, jetzt ausgeblendet werden?
({10})
Was soll das Ganze? Hierzu ist zu sagen: Anstatt neue
Bürokratien entstehen zu lassen, sollten Sie den Landwirten über den Agrardiesel lieber eine höhere Gasölverbilligung zukommen lassen. Das wäre eine sinnvolle Agrarpolitik.
({11})
- Wilhelm, melde dich bitte zu einer Zwischenfrage.
Dann bin ich bereit, sie zu beantworten. Ich gehe aber davon aus, dass du keine richtige Zwischenfrage zur
Agrarpolitik formulieren kannst, was gar nicht gegen dich
spricht.
Bei den agrarsozialen Bedingungen ist von Folgendem
auszugehen: Überall spricht man davon, dass die Sozialbeiträge gesenkt werden sollen. Nur bei der Landwirtschaft steigen sie. Uns wurden im letzten Jahr im Bereich
der agrarsozialen Alterssicherung etwa 400 Millionen
DM gestrichen. Dem Bereich der Knappschaft werden zusätzlich 390 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Das ist
doch ein Widerspruch in sich. Erkläret mir, Graf Oerindur,
diesen Zwiespalt der Natur! Wieso finanziert man den einen Bereich stärker öffentlich mit und wieso zieht man
sich aus einem anderen Bereich zurück?
Das Gleiche betrifft die Beiträge zu den Berufsgenossenschaften. Ich bin ja damit einverstanden, wenn wir
auch im Ernährungsausschuss des Deutschen Bundestages - wir von der CDU/CSU haben bisher als Einzige ein
schlüssiges Konzept vorgelegt ({12})
über Reformanstrengungen im Hinblick auf die Berufsgenossenschaften diskutieren.
({13})
- Wir haben ein Reformkonzept vorgelegt. Ihr wolltet
euch dem sogar anschließen und habt euch dann verweigert, weil wahrscheinlich das Bundeskanzleramt gesagt
hat, dass ihr nicht zustimmen dürft.
Wir haben gesagt, bei den Berufsgenossenschaften sollten Konzentrationsprozesse eingeleitet werden, es
dürfe aber keine bundeseinheitliche Berufsgenossenschaft geben. Wir haben gefordert, bei den Berufsgenossenschaften die Verwaltungskosten nicht mitzufinanzieren, damit wir die schon bestehenden überhöhten Verwaltungskosten durch eine Mitfinanzierung des Bundes nicht
noch unterstützen.
({14})
Wir haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
Matthias Weisheit, dieser Antrag sollte sogar gemeinsam
vorgelegt werden. Ihr habt euch dann verweigert - obwohl wir zugestimmt haben -,
({15})
weil ihr damals, wie übrigens in der entsprechenden
Agrarsozialdebatte nachzuweisen ist, noch für eine bundeseinheitliche Berufsgenossenschaft wart.
Aber deswegen ist doch eine Politik nicht richtig, die
den strukturellen Wandel, der in der Landwirtschaft
größer ist als in allen anderen volkswirtschaftlichen Bereichen - in der Landwirtschaft gibt es die höchsten
Rationalisierungserfolge unserer Volkswirtschaft -, nicht
durch eine Mitfinanzierung der Berufsgenossenschaft abfedert. Denn sonst führte dies zu dem Ergebnis, dass auf
einen in diesem Bereich Beschäftigten mehr Rentner
kommen, als das in anderen volkswirtschaftlichen Bereichen der Fall ist. Deshalb halte ich jedenfalls die Mitfinanzierung für richtig.
Es wird auch zu einer Steigerung der Beiträge für die
Berufsgenossenschaften kommen. So wird die Landwirtschaft in Deutschland ständig zusätzlich belastet. Aber
wenn man sich in den Wettbewerb begeben soll, dann darf
man nicht zusätzlich Klötze an die Beine gebunden bekommen, die man als Handicap im Wettbewerb mit anderen mit sich herumschleppen muss. Die Landwirtschaft
muss von diesem Handicap befreit werden. Sie muss den
anderen Teilen unseres Wirtschaftsstandortes durch Entlastungen gleichgestellt werden, um sich auf den Märkten, auch auf den Weltmärkten besser positionieren zu
können.
({16})
Herr Kollege
Ronsöhr?
Nein, ich
habe nur noch etwa eine Minute Redezeit.
Die Zeit wird nicht
angerechnet.
Herr
Weisheit kann ja etwas dazu sagen, wenn er spricht. Ich
habe gesehen, dass er auf der Rednerliste steht.
Ich bin der Auffassung, dass diese Belastungen der
Landwirtschaft auch bei einer positiven Marktentwicklung Chancen nehmen. Sie muss das kompensieren können, was sie bei negativen Marktentwicklungen zu verkraften hatte. Das halte ich für entscheidend.
Hinzu kommt ein Weiteres: Herr Funke, mir wurde im
nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf gesagt, Sie
hätten sich hingestellt und gesagt, Herr Fischler habe Sie
gezwungen, die Vorsteuerpauschale um 1 Prozent zu
reduzieren.
({0})
Ich habe mit Herrn Fischler darüber gesprochen und halte
Ihre Aussage deshalb für verkehrt. Ich will das hier richtig gestellt wissen; denn damit darf man nicht auf agrarpolitische Veranstaltungen gehen: Hätten wir die
Vorsteuerpauschale bei 10 Prozent belassen, hätten wir
der deutschen Landwirtschaft auch bei steigenden Preisen
möglicherweise 1 Prozent mehr Umsatzvolumen gelassen. Auch das wäre entscheidend gewesen. Dann nämlich
hätten sich die Gewinne nicht so reduziert, wie es im
Agrarbericht der Bundesregierung aufgezeigt wird.
Ich meine, mit Hilfe dieser Stellschrauben, die hausintern eingestellt werden können, muss eine Weichenstellung in Richtung einer vernünftigen Agrarpolitik stattfinden. Dies fordern wir von der CDU/CSU immer wieder
ein.
({1})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Ulrike
Höfken.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Tendenzen, die
sich im Agrarbericht 2000 widerspiegeln, sind ja nicht gerade gegenläufig zu den bisher verzeichneten Tendenzen.
Der Strukturwandel ist die langfristige Folge der Agrarpolitik der letzten Jahrzehnte.
Ich muss sagen: Es schmerzt mich natürlich, wenn ich
lese, dass 30 000 Betriebe ihre Hoftore geschlossen haben. Das ist keine Entwicklung, die ich begrüße; ganz im
Gegenteil. Aber man muss in diesem Zusammenhang auf
eines hinweisen: Der Grund für das Aufgeben vieler Betriebe liegt doch darin, dass es keine Hofnachfolger und
-nachfolgerinnen gibt. Das heißt: In ihrer langfristigen
Planung ist für junge Menschen der Bereich Landwirtschaft immer weniger attraktiv geworden.
({0})
- Das ist ja absolut lächerlich. Es geht doch um die Entscheidungen, die in den letzten zehn Jahren getroffen worden sind.
({1})
Das können Sie in jedem Ausbildungsbericht schwarz auf
weiß nachlesen.
Das hat sehr viel mit einer mangelnden Reformbereitschaft und mit einem bisher mangelnden Reformwillen in
der Agrarpolitik zu tun. Es ist statt in Arbeitnehmer in Maschinen investiert worden. Es ist, statt sich auf Lohnunternehmen auszurichten, eine Übermechanisierung der Betriebe eingeleitet worden, was zu der Situation geführt
hat, dass die Arbeitsbelastung immer unerträglicher wird
({2})
und junge Menschen, aber auch Frauen diese Arbeit von
morgens bis abends nicht mehr machen wollen.
({3})
Es ist übrigens noch zu verzeichnen, dass die Situation
im Osten Deutschlands relativ stabil ist. Das ist immerhin
für viele Regionen und für viele Betriebe eine erfreuliche
Entwicklung.
({4})
Im Agrarbericht ist verzeichnet - in diese Richtung
ging auch die Stellungnahme des DBV -, dass es im Bereich der Absatzmärkte eine Entwicklung gibt, die
außerordentlich negativ ist. Aber hier gilt das, was Minister Funke schon gesagt hat: Es ist nicht an der Politik,
diese Absatzmärkte auf Dauer auszurichten. Das wird sie
nicht können.
Zu Recht führt der Bauernverband an, dass es in den
Bereichen Schweinefleisch, Milch, Eier, Rindfleisch Einbußen gegeben hat. Aber auch bei dieser Frage möchte ich
noch einmal auf die Diskussion gestern im Ausschuss verweisen. Man kann sich hier stundenlang trefflich über die
Feuchtigkeitsvorschriften bei der Intervention unterhalten. Diese neuen Grenzen haben wir übrigens in den letzten Jahren nie erreicht. Aber es ist doch ein Skandal, dass
zwei Drittel der Roggenernte als Interventionsbestand
eingelagert wird. Das ist keine Entwicklung, die man auf
Dauer fortschreiben kann.
({5})
Ich will auch noch einmal an einen Diskussionsbeitrag
zum Thema Flachs und Hanf im Ausschuss erinnern. Der
Vertreter der EU-Kommission hat eindeutig gesagt, notwendig sei - und das wird von der EU-Kommission eingeleitet -, eine wachsende Unabhängigkeit der Landwirtschaft von staatlichen Subventionen. Daran wird sich die
Kommission orientieren, und daran wird sich die Politik
ausrichten müssen.
({6})
Im Übrigen haben wir im Bereich Hanf Initiativen zur
besseren Verteilung der Kontingente eingeleitet.
({7})
Ich will im Zusammenhang mit der Einkommensentwicklung zu einem anderen Punkt kommen. Auch der
DBV hat die Frage der Kosten angesprochen. Es werden
steigende Kosten bei den Maschinen und auch bei den
Dienstleistungen angeführt. Ich möchte hier auf eines hinweisen - diese gesamte Diskussion wird zum großen Teil
polemisch geführt -: Die Steigerung der Energiekosten,
die hier so beklagt wird und die auf die Bundesregierung
zurückgeführt wird, hat mit der Politik der Bundesregierung überhaupt nichts zu tun.
({8})
In diesem Jahr 2000 beträgt die Gasölbeihilfe 835 Millionen DM; im Jahre 2001 wird sie 375 Millionen plus
460 Millionen betragen; das macht 835 Millionen DM.
Das heißt, der Rückgang, der hier zu verzeichnen ist, geht
auf ein anderes Konto, nicht auf das der Bundesregierung.
Ich möchte gleichzeitig erwähnen: Es hat eine Stromverbilligung gegeben,
({9})
die der Deutsche Bauernverband selbst mit etwa 350 Millionen DM beziffert hat.
({10})
Es hat weiterhin die Markteinführungsprogramme gegeben.
({11})
Es sind 200 Millionen DM für erneuerbare Energien zur
Verfügung gestellt worden; es gibt 20 Millionen DM für
die Förderung biogener Treib- und Schmierstoffe. Wenn
hier auf die 6 Pfennig Belastung durch die Ökosteuer hingewiesen wird, muss ich sagen: Es gibt Kompensationsmöglichkeiten, die kurz- oder langfristig wirken können.
Im Bereich des Agrarhaushalts gibt es bisher keine Einbußen zu verzeichnen.
({12})
Frau Kollegin
Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hornung?
Nein,
im Moment nicht. - Probleme sind verschleppt und nicht
gelöst worden. Das ist genau der Punkt, den diese Bundesregierung anpackt. Ich muss schon sagen, Herr
Ronsöhr: Ihre Rede hat mich in Erstaunen versetzt. Sie beklagen die fehlende Reform der Sozialversicherungen.
Die Missstände in diesem Bereich haben sich allerdings
schon vor zehn Jahren abgezeichnet und Reformen hätten
längst einsetzen müssen.
({0})
Diese Bundesregierung hat die Arbeit daran aufgenommen und bis Ende des Jahres wird sie einen entsprechenden Reformentwurf vorlegen. Das Gleiche gilt für den Bereich der Milch. Die Belastungen durch die Milchquotenkosten bei den Milcherzeugern sind dramatisch gestiegen
und nichts ist getan worden.
({1})
- Nein, überhaupt nicht, das war zu Zeiten Ihrer Regierung. - Wir haben hier immerhin einen Kompromiss gefunden. Jetzt endlich gibt es eine Entlastung für die aktiven Betriebe.
({2})
Weiter zum Bereich Pflanzenschutz. Es gab riesige
Probleme mit den Lückenindikationen. Das aber ist Ihnen
erst jetzt aufgefallen. Es gibt dazu eine EU-Richtlinie, die
mehr als sechs Jahre alt ist. Am 4. April 2000 ist der
CDU/CSU aufgefallen, dass es hier Beschleunigungsbedarf gibt. Nach Ihren eigenen Worten hat die Zusammenarbeit zwischen den Behörden im Bereich des Pflanzenschutzes noch nie so gut geklappt wie heute. Es gibt effiziente, praxisgerechte Lösungen. Man bereitet sich auf
die Umsetzung der Richtlinie vor. Das wurde endlich angegangen, in einer ganz anderen Stimmung als die, die
vorher geherrscht hat.
({3})
Wir haben gerade die Steuerreform beschlossen. Das
ist sehr gut, weil darin auch die Anliegen der Landwirtschaft zu einem großen Teil aufgenommen worden sind
und weiter diskutiert werden. Dadurch wird sich die Kaufkraft erhöhen. Wir sind wild entschlossen, dafür zu werben, dass von der Kaufkrafterhöhung nicht nur Mallorca
profitiert, sondern ein Teil davon den Landwirten und den
Lebensmittelproduzenten zugute kommt.
({4})
Auch beim Agrardiesel ist - das ist bereits von Minister Funke erwähnt worden - eine Lösung gefunden worden, die besser ist als das, was vorher war.
Nun zum Bereich Naturschutz, wo es endlose Konfliktlinien gegeben hat. Wir werden Ende des Jahres eine
Novellierung des Naturschutzgesetzes zu diskutieren haben. Auch hier wird es, so denke ich, zu vernünftigen Lösungen kommen, die der Landwirtschaft eine Perspektive
bieten werden ({5})
ich hoffe, mit Ihrer Unterstützung.
({6})
Schließlich noch zu den Herkunftskennzeichnungen.
Seit der BSE-Krise hat die alte Bundesregierung dieses
Vorhaben immer wieder herbeigeschworen, niemals
wurde es umgesetzt. Endlich ist die Etikettierung da Minister Funke hat es gesagt: Wir haben sie gerade beschlossen -, und zwar so, dass der Verbraucher etwas damit anfangen kann und dass unsere Produkte vernünftig
beworben werden können.
Nachdem dieser Reformstau angegangen und aufgelöst worden ist - natürlich sind das Kompromisse; Ideallösungen haben auch wir nicht erreicht, aber es gibt Lösungen -, wenden wir uns den Anforderungen der Zukunft
zu. Das ist in erster Linie die Vorbereitung auf 2006.
Natürlich ist es in unserem Sinne - und dies ist auch die
Haltung der Bundesregierung -, dass im Rahmen der
Agenda 2000 für die Landwirtinnen und Landwirte
Planungssicherheit besteht. Wir wissen aber alle, dass die
Osterweiterung der EU, dass die WTO, dass die Finanzkapazität der Europäischen Union eine Neuorientierung
unausweichlich machen. Insofern haben wir die Aufgabe,
uns auf diese Zukunftsanforderungen vorzubereiten. Das
heißt, es wird zu einer Neuorientierung der Agrarförderungen kommen.
Die Green-Box-Maßnahmen, die jetzt in der WTO
verankert worden sind, werden einen immer größeren
Raum einnehmen. Übrigens glaube ich nicht, dass Agrardiesel auf Dauer dazuzählen wird. Darüber hinaus wird
die Verordnung Ländlicher Raum in der EU eine größere
Rolle spielen, zulasten der - wie sich das schon zurzeit abzeichnet - Abteilung Garantie. Es ist unsere Aufgabe, die
Agrarpolitik auf diese Anforderungen, auf diese Wettbewerbsbedingungen auszurichten.
({7})
Dies wurde von Ihnen vernachlässigt. Sie diskutieren
ewig und drei Tage über die Feuchtigkeitsgehalte von Getreide, aber nicht darüber, wie man die Agrarförderung
endgültig auf eine andere Ebene stellt.
({8})
Zu den Zukunftsanforderungen zählen im Wesentlichen fünf Punkte: Lebensmitteln und Landwirtschaft
muss ein neuer Stellenwert gegeben werden. Das ist eine
Aufgabe, die sich nicht nur in parlamentarischen Anträgen niederschlagen darf, sondern natürlich auch in einem
neuen Stellenwert. Dieses Ziel haben wir als Grüne sowohl auf unserem Parteitag - mit unserer Kampagne
„Natürlich. Gesund. Genießen.“ - als auch hier im Bundestag und zusammen mit der Bundesregierung unterstützen, das heißt Wiedergewinnung des Vertrauens der Verbraucher, Lebensmittelsicherheit sowie regionale Verarbeitung und Vermarktung, Transparenz und Sicherheit bei
der Anwendung und der Vermarktung von gentechnisch
veränderten Produkten, also ein eindeutiger Schutz der
Verbraucher.
Der zweite Punkt ist die Orientierung auf Verbraucher- und Gesundheitsschutz. Weitere Antibiotika in
Futtermitteln sollen ersetzt werden. Übrigens ist die offene Deklaration von Futtermitteln ein Erfolg, der gerade
erst erreicht werden konnte. Minister Funke hat sich in der
EU-Kommission dafür eingesetzt. Endlich ist sie da.
Da Sie gerade von Frankreich gesprochen haben,
möchte ich Ihnen sagen: Frankreich setzt überhaupt keine
Tiermehle mehr ein, und auch wir müssen diskutieren, ob
wir Tierkadavermehle oder entsprechende Risikomaterialien weiterhin in Futtermitteln einsetzen wollen.
({9})
Dazu zählt aber auch die Reduzierung von Pestizidrückständen, die im Übrigen bei der Kindernahrung gerade erreicht wurde. Dazu zählt ferner das Programm
„Umwelt und Gesundheit“, das dafür Sorge tragen wird,
dass dem Verbraucherschutz in Unterstützung des Weißbuchs der EU-Kommission ein deutlich höherer Stellenwert eingeräumt wird,
({10})
und natürlich auch mit der Intention, das Vertrauen in die
Lebensmittel wieder herzustellen.
Der dritte Punkt ist der Tierschutz. Dieser Punkt hat
eine sehr hohe Priorität beim Verbraucher. Der eingeleitete Schritt zur Abschaffung der Käfighaltung in der EU
wird von uns begrüßt und unterstützt. Wir werden in
Deutschland eine Umsetzung erreichen, die Rücksicht auf
die Anforderungen und die Spielräume des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts nimmt.
Dank der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sind wir heute in der Lage - das hat die Politik leider in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft -, zu
einer neuen Tierschutzpolitik im Bereich der Hennenhaltung zu kommen.
Heute fordern wir in unserem Entschließungsantrag
die Bundesregierung auf, die Entscheidung der Verbraucher auf dem Markt im Hinblick auf tierschutzgerechte
Produkte, wie zum Beispiel die Kennzeichnung von Eiern
von in Käfigen gehaltenen Hühnern, zu unterstützen. Wir
werden weitere Anstrengungen im Bereich der Tiertransporte und des Tierschutzes unternehmen. So steht es auch
im Entschließungsantrag.
Der vierte Punkt ist die Orientierung auf Natur- und
Umweltschutz. Hier werden die Fördertatbestände der
Zukunft liegen. Dazu gibt es eine wichtige gesellschaftliche Unterstützung und wir erwarten, dass die ideologischen Schranken vonseiten der Verbände, der Nutzer und
teilweise auch der Umweltschutzorganisationen niedergerissen werden
({11})
und dass es eine konstruktive zukunftsgerichtete Diskussion geben wird, die bis zum Ende dieses Jahres zielführend sein wird.
({12})
Der fünfte Punkt ist die Orientierung auf Arbeitsplätze. Das Bündnis für Arbeit im ländlichen Raum ist in
Gang gekommen und soll weitergeführt werden. Darauf
legen wir großen Wert. Es gibt hier eine Entwicklung, die
ich für überfällig halte: Das Landwirtschaftsministerium
und wir als Landwirtschaftspolitiker müssen uns als Interessensverwalter und Interessenswahrnehmer des ländlichen Raums insgesamt betrachten und dies in der Politik entsprechend umsetzen.
({13})
Dazu gehören die Förderung und Unterstützung von
Qualifizierung, Bildung, Ausbildung, neue Medien und
die Förderung von Wirtschaftsinitiativen im Bereich des
Holzabsatzes und des ökologischen Landbaus, die arbeitsplatzorientiert sind, nachwachsende Rohstoffe,
({14})
Energiedienstleistungen, neue Dienstleistungen insgesamt und natürlich auch, wie die IG BAU in ihrer Stellungnahme schreibt, eine zunehmende Orientierung auf
Arbeitnehmer. Das sind wichtige Aufgaben unserer politischen Arbeit.
({15})
Der letzte Punkt ist ein sehr wichtiger für uns: Wir haben vereinbart, uns noch stärker in den ökologischen
Landbau einzubringen. Wir haben gestern ein Gespräch
mit dem Handel gehabt. Zweistellige Zuwachsraten werden hier bei Bioprodukten weiterhin erwartet.
({16})
Wir haben schon viele grundlegende Schritte getan, und
ich muss ganz klar sagen: Wer diesen Markt verschenkt,
verschenkt die Chancen für die Landwirtschaft.
({17})
Trotz der Zuwachsraten sind wir in Deutschland immer
noch das Schlusslicht im Vergleich zu Italien, Österreich,
Dänemark und anderen, die massiv in diese Märkte gehen. Wir wollen im Bundestag und in den Anhörungen im
Ausschuss noch stärker in diese Richtung unterstützend
wirken. Erste Ergebnisse haben wir erreicht, so beispielsweise das Institut für ökologischen Landbau in Trenthorst
und auch Verbraucher-Informationsbroschüren, die aufgelegt werden. Gerade den Bereich der Verbraucherinformation und des Absatzes werden wir weiterhin unterstützen. Die Reform der Gemeinschaftsaufgabe hat bereits
stattgefunden. Hier sind auch die Länder aufgefordert,
diese neuen Möglichkeiten zur Förderung der ökologischen Landwirtschaft, zur Förderung des Absatzes und
der Verarbeitung von Ökoprodukten zu nutzen. Ich danke
Ihnen.
({18})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute
über den Agrarbericht 2000. Herr Minister, Sie haben
nicht stolz Bilanz gezogen, sondern eher lustlos eine Rede
vorgetragen, die große Lücken aufwies.
({0})
Herr Minister, Sie haben nichts gesagt, was als zukunftsweisende Rahmenbedingung im Bereich der WTO genommen werden könnte. Sie haben sie nicht einmal erwähnt. Sie haben auch kein Wort zur Osterweiterung gesagt. Das sind Themen, die uns in den nächsten Wochen
und Monaten beschäftigen werden und zu denen wir gern
eine Auskunft darüber erhalten hätten, wie die Bundesregierung in Zukunft ihre Politik gestalten will.
({1})
Für die F.D.P. geht es darum, Chancen für die Zukunft
der Landwirtschaft zu nutzen, in Deutschland und Europa
eine zukunftsfähige Landwirtschaft aufzubauen bzw. weiterzuentwickeln. Wir bekennen uns nachdrücklich zum
europäischen Agrarmodell: Nachhaltigkeit, Multifunktionalität und wettbewerbsfähige Landwirtschaft. Meine Damen und Herren, darin sind wir uns sicherlich einig.
Aber wenn es ins Detail geht und darauf ankommt, die
Rahmenbedingungen zu definieren, die notwendig sind,
um überhaupt erst Wettbewerbsfähigkeit herzustellen,
sieht es leider Gottes nicht so besonders gut aus. Wir stellen fest: Wichtige Entscheidungen sind bereits gefallen.
Die Ökosteuer ist gelaufen. Heute wurde die Unternehmensteuerreform in dritter Lesung verabschiedet. Die namentliche Abstimmung hat die Regierung gewonnen.
({2})
Die Agenda 2000 ist verabschiedet, aber es sind noch
keine Auswirkungen definitiv spürbar. Es ist völlig ungeklärt, was hinsichtlich der in Zukunft in der WTO-Runde
zu treffenden wichtigen Entscheidungen auf uns zukommt. Welchen Rat sollen wir unseren Landwirten geben? Wie sollen sie betriebswirtschaftlich reagieren, damit sie nicht in die falsche Richtung laufen? Dazu hätten
wir uns heute eine Auskunft gewünscht.
({3})
Auch die Entscheidungen in Richtung Osterweiterung sind noch nicht getroffen. Wir befinden uns mitten
in einem Entstehungsprozess. Die osteuropäischen Staaten haben große Bedenken dass sie gegebenenfalls von
den Produkten aus der Europäischen Union überflutet
werden könnten. Das Verhältnis ist nämlich 1:8. Es gehen
achtmal mehr Waren aus der Europäischen Union in Richtung Polen und Osteuropa als umgekehrt. Es bestehen allerdings auf beiden Seiten Bedenken. Darüber muss politisch diskutiert werden und dies muss thematisiert werden.
Für uns ist es nach wie vor entscheidend, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Herr Minister, selbstverständlich kann die Regierung die Einkommen nicht setzen.
({4})
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Wenn wir
von Rahmenbedingungen sprechen, sind die Steuern
selbstverständlich an erster Stelle zu erwähnen. Herr Professor Köhne von der Universität Göttingen hat gesagt,
durch das Steuerentlastungsgesetz entstehe eine Schieflage zuungunsten der Landwirtschaft. Hier frage ich
mich: Wer setzt die Rahmenbedingungen, damit sich die
Lage verbessert und wir wettbewerbsfähig bleiben, oder
wer geht in die falsche Richtung?
({5})
Mit der Ökosteuer haben wir eine zusätzliche Belastung, die auch nicht durch die jetzige Agrardieselregelung
ausgeglichen wird, die in ganz Europa kein anderes Land
zu tragen hat. Dazu muss ich schon sagen: Die Rahmenbedingungen sind eben nicht so, dass wir sie positiv formulieren könnten und die Herausforderungen aus der allgemeinen Entwicklung entsprechend annehmen könnten.
({6})
Zum Agrardiesel. Meine Damen und Herren, wenn
man gewusst hätte, dass das, was heute beschlossen worden ist, auf den Tisch kommt, dann hätte man es bei der
alten Regelung belassen können.
({7})
Das Gesetz hat beide Ziele verfehlt, meine Damen und
Herren. Erstens. Die Bürokratie wurde nicht abgebaut.
({8})
Es ist eher zu befürchten, dass es noch mehr Bürokratie
gibt. Zweitens. Die Belastung für die Landwirtschaft
durch die Mineralölsteuer wurde erhöht und nicht abgesenkt. Hier wird von Green Box gesprochen. Kollege
Carstensen hat bereits bei der Rede der Kollegin Höfken
darauf hingewiesen. Wenn denn die Green Box so toll ist,
dann macht es doch, wo ihr es könnt. Aber ihr macht das
Gegenteil, ihr belastet die Bauern auch im Bereich des
Agrardiesels zusätzlich und entlastet sie nicht.
({9})
Da könnt ihr zusammenrechnen, was ihr wollt, aber ihr
könnt nicht gegen Adam Riese Politik machen. Das muss
man hier einfach zur Kenntnis nehmen.
({10})
Hier verläuft die Entwicklung der Rahmenbedingungen
in die falsche Richtung.
Meine Damen und Herren, große Sorgen habe ich, dass
diese Bundesregierung nicht in der Lage sein wird, die
3. Novelle des Naturschutzgesetzes, in der das Eigentum
noch seinen Stellenwert hat, tatsächlich so bestehen zu
lassen, wie wir sie in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben, und die Länder aufzufordern, sie umzusetzen.
({11})
Wenn man hört, welche Verwässerung Umweltminister
Trittin im Bereich Naturschutz vorhat, dass er einfach so
einmal zwischen 50 000 und 100 000 Hektar verschenkt,
dann muss jeder erkennen, welches grundsätzliche Verständnis von Eigentum dies darstellt.
Wenn darüber geredet wird, dass die gute fachliche
Praxis neu definiert werden muss, dann haben wir ja
schon genau den Ansatz. Sie sind dabei, die Rahmenbedingungen zu verschlechtern,
({12})
denn Sie wollen natürlich das Niveau der Ausgleichsregelung absenken. Sie wollen natürlich mit dieser Neudefinition, dass es keine Entschädigungsleistung gibt.
({13})
Genau das sind die Punkte, die uns zu schaffen machen, und zwar nicht nur der Landwirtschaft, sondern
auch der Forstwirtschaft.
Wir haben große Sorgen, dass zusätzlich zu den Herausforderungen, die die Landwirtschaft nun einmal bestehen muss, weil sie in Europa keinen isolierten Bereich
darstellt, Belastungen auf sie zukommen. Sie kündigen
zusätzliche Belastungen im Bereich Umweltschutz an,
Sie wollen vom Vertragsnaturschutz abgehen, einer Errungenschaft, die auf der Basis der persönlichen Einsicht
basiert und nicht par ordre du mufti entstanden ist. Sie
meinen, dass wir staatliche Regelungen brauchen, obwohl
wir heute schon über 40 Prozent der landwirtschaftlich
genutzten Flächen im Vertragsnaturschutz haben. Da
brauche ich doch keine zusätzliche staatliche Knute,
({14})
sondern muss das Instrument, das ich zur Verfügung habe,
entsprechend einsetzen.
({15})
Ich habe große Sorgen, dass das Eigentum bei dieser
Regierung in diesen Fragen unter die Räder kommt, erst
recht, wenn jetzt über eine Grundsteuererhöhung und eine
neue Bemessung diskutiert wird.
Meine Damen und Herren, wenn ich die Gewerbesteuer absenken will und gleichzeitig die Grundsteuer
anhebe, um die Absenkung der Gewerbesteuer finanzieren zu können, dann ist das ein Eingriff in das Eigentum,
dann ist das eine Substanzbesteuerung. Substanzbesteuerungen waren schon allemal die falsche Richtung.
({16})
Besteuern Sie das Einkommen, besteuern Sie das Guthaben, aber besteuern Sie nicht die Substanz, denn mit der
Substanz müssen die Menschen kalkulieren und von ihr
müssen sie leben können. Wenn sich das derzeit Diskutierte so auswirkt, dass wir im Forstbereich zum Beispiel
eine bis zu 40fache Erhöhung bei der Grundsteuer bekommen, dann ist das alles andere als eigentumsfreundlich. Das ist absolut eigentumsfeindlich.
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Abschluss noch zwei wichtige Themen ansprechen.
Zum Ersten. Versetzen Sie die deutsche und die europäische Landwirtschaft in die Lage, dass sie sich mit modernen Produktionstechniken im Wettbewerb behauptet. Blockieren Sie nicht die Gentechnik, wie Sie es beim
BT-Mais gemacht haben, was völlig ungerechtfertigt war.
Der Wissenschaftliche Beirat rauft sich die Haare und
weiß nicht mehr, was er noch machen soll, weil von der
Ministerin genau das Gegenteil dessen gesagt wurde, was
ursprünglich vom Wissenschaftlichen Beirat vorgelegt
worden war.
({18})
Zum Zweiten: die Osterweiterung. Reden wir mit den
Menschen über die Osterweiterung nicht als eine unbeherrschbare Problematik, sondern reden wir mit den Menschen so darüber, dass sie auf beiden Seiten, auf der Seite
der Kandidatenstaaten und auf der Seite der 15 Mitgliedstaaten der EU, positive Aspekte sehen können. Gestalten
wir das so, Herr Minister. Das wird das Entscheidende
sein. Sie sitzen im Ministerrat und haben selbstverständlich die Möglichkeit, sich dort entsprechend einzumischen. Ich bin der Meinung, dass es auf beiden Seiten
große Chancen gibt. Wenn zum Schluss die Finanzierung
die einzige Ausrede dafür ist, dass das eine oder andere
nicht gemacht werden kann, dann möchte ich deutlich in
Erinnerung bringen, dass alle Wissenschaftler, alle Volkswirtschaftler sagen, dass sich die Osterweiterung für die
Volkswirtschaften der osteuropäischen Staaten, aber auch
des Europas der Fünfzehn positiv auswirken kann, wenn
man das Ganze richtig macht. Darum lasst es uns richtig
machen. Lasst uns das Schwert, das immer wieder herausgeholt wird, einstecken und lasst uns in dieser Frage
eine sachliche Diskussion führen.
Herzlichen Dank.
({19})
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Kersten Naumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, die Debatten
zum Agrarbericht drohen zu einem Ritual zu verkommen.
({0})
Auch für den Agrarbericht 2000 gelten die Feststellungen des Entschließungsantrages der PDS von 1999, der
heute endlich mit zur Abstimmung steht.
Bei all den schönen Worten zur Ökosteuer, Strukturpolitik und Agenda 2000, um die Landwirtschaft auf den
Weg der Wettbewerbsfähigkeit zu bringen, muss man
feststellen, dass die praktische Politik anders aussieht. Die
wirtschaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabel
wie nie zuvor.
Zu den Fakten: Der langjährige Abwärtstrend der
Brutto- und Nettowertschöpfung hält an. Der weitere Verfall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt werden. Die gesetzliche Verpflichtung aus dem Landwirtschaftsgesetz
wird wiederum verfehlt. Arbeitskräfte werden zunehmend freigesetzt und der Differenzierungsprozess in den
Agrarstrukturen geht weiter vonstatten.
In der Agrarpolitik schlägt die allgemeine Politikentwicklung der Neoliberalisierung durch. Die Schlagworte
sind Flexibilität, Investitionen, Globalisierung und Osterweiterung, also Marktausweitung, Betriebsvergrößerung, Direktvermarktung und Nischenproduktion.
Mit der Weltmarktorientierung verschärfen sich die
Konkurrenzbedingungen. Der Preisverfall ist ein Vorzeichen für die bevorstehenden Kämpfe um Marktanteile.
Die entscheidende Ursache für die negative Entwicklung
und Entwertung der landwirtschaftlichen Produkte ist der
Verfall der Agrarpreise. Die Erzeugerpreise sanken gegenüber 1994/95 auf 91 Prozent. Dem stehen Preiserhöhungen bei Nahrungsmitteln auf 102 Prozent und bei
den Lebenshaltungskosten auf 104 Prozent gegenüber.
Vergleicht man allerdings die Bruttowertschöpfung je Arbeitskrafteinheit zu festen Preisen, so zeigt sich sogar ein
Anstieg der Produktivität um 45 Prozent von 1995 bis
1999. Zu diesem Problem findet sich im Agrarbericht
keine klare Aussage.
Das Auseinanderdriften von Agrarpreisen und Preisen
anderer Erzeugnisse setzt sich gnadenlos fort. In den einzelnen bäuerlichen Haupterwerbsbetrieben verringert
sich der Gewinn um 7,3 Prozent, je Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche sogar um 10,1 Prozent. Im Klartext heißt das: Die Schere geht immer weiter auseinander.
Die Bauern arbeiten mehr und verdienen trotzdem weniger. Ist das die Auffassung der Bundesregierung von sozialer Gerechtigkeit?
1997 hatten die zehn größten Handelsunternehmen des
Lebensmittelsektors einen Anteil am Umsatz von 83 Prozent. Die Landwirtschaft ist dieser Machtstellung gnadenlos ausgeliefert. Ich meine, sie kann ihren Anteil an
der Wertschöpfung nur dann erhöhen, wenn sie mit starken Erzeugergemeinschaften der Lebensmittelindustrie
entgegentritt.
Die vom Landwirtschaftsgesetz immer wieder angemahnte Einkommensparität in der Landwirtschaft und in
den übrigen Wirtschaftszweigen erweist sich als Fehlanzeige. So enthält zwar der vorliegende Agrarbericht Vergleichsrechnungen. Aber wie immer wird auch in diesem
Jahr eine Gesamtaussage tunlichst vermieden. Eine Hochrechnung ergibt nämlich, dass allein in den Haupterwerbsbetrieben ein Gesamtvolumen von 5,5 Milliarden
bis 6 Milliarden DM an vergleichbaren Einkommen
fehlt. Das sind pro Arbeitskraft etwa 7 000 bis 8 000 DM.
Die dramatische Talfahrt der Einkommen in den letzten Jahren und der chronische Verfall der Erzeugerpreise
können nur gestoppt werden, wenn den Bauern durch ein
Maßnahmenpaket zugesichert wird, dass Preisdumping
nicht als Inflationsbremse benutzt wird, dass der Konzentrationsprozess in der Lebensmittelindustrie zurückgeführt wird, dass die regionalen Wirtschaftskreisläufe inklusive nachwachsender Rohstoffe und Bioenergien stärker gefördert werden und dass der Eigenversorgungsgrad
stabilisiert bzw. wieder angehoben wird.
({1})
In dem Abschnitt „Bündnis für Arbeit“ des Agrarberichts wird eine wahre Spitzenleistung vollbracht: Hier
wird außer allgemeinen Appellen, neue Einkommensquellen zu erschließen, lediglich der Urlaub auf
dem Bauernhof angepriesen. Wenn Ihnen, meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, dazu nicht mehr
einfällt, dann wird die Geschichte nicht mehr vom Bauernleben, sondern vom Bauernsterben berichten.
({2})
Hier der Beweis: In den Jahren von 1991 bis 1999 ging die
Gesamtzahl der Betriebe von 654 000 auf 464 000 zurück.
Das ist ein Rückgang um 190 000 Betriebe innerhalb von
8 Jahren. Also haben im Durchschnitt jährlich über 23 000
Bauernhöfe ihre Tore geschlossen. Das hat sicherlich
nicht nur etwas mit fehlenden Hofnachfolgern zu tun,
Kollegin Höfken.
Das Mindeste, was die Bauern aus meiner Sicht brauchen, sind sozial abgesicherte Regelungen für den ungewollten Ausstieg. Da gab es schon einmal etwas, nämlich
die Landabgaberente aus dem Jahre 1969. Heute ist sie gestrichen. Eine Vorruhestandsregelung für die Landwirte
ist jedoch nicht in Sicht, obwohl die Bundesregierung die
einmalige Chance hätte, eine solche Vorruhestandsregelung - gemäß den Beschlüssen zur Agenda 2000 - zur
Hälfte aus Brüssel finanzieren zu lassen.
Doch was ist zu all den Problemen in der Landwirtschaft aus dem verantwortlichen Bundesministerium zu
hören: „Unternehmertum ist auch in der Land- und Forstwirtschaft mehr denn je gefragt.“ Unternehmertum ist
also die sozialdemokratische Umschreibung und Verniedlichung von Verdrängungswettbewerb, Einkommensverlusten, gnadenlosem Preisverfall, Verödung von Flächen
und ganzen Dörfern. Unternehmertum ist die Strategie der
rücksichtslosen Intensivierung, der Missachtung der Natur, der Zerstörung von Arbeitsplätzen und des Kampfes
um Marktanteile, durch den die Existenzen anderer vernichtet werden. „Landwirtschaft hat Zukunft“, propagiert
der Bundeslandwirtschaftsminister dennoch und zählt die
frommen Wünsche nach Erhalt der Arbeitsplätze und der
Existenzen in der Landwirtschaft auf. Gern höre ich wohl
die Botschaft, Herr Funke, allein mir fehlt der Glaube. Ihr
Lösungsweg heißt: Sicherung der vorhandenen Märkte
und Erschließung neuer Märkte. Da wird natürlich erst
einmal auf die osteuropäischen Märkte geschielt. Absatz
von Überproduktion und Ausschöpfung eigener Verarbeitungskapazitäten sind das eigentliche Interesse.
„Die Wirtschaftswoche“ ist da schon ein Stück weiter
und zitiert Folgendes:
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die
ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
({3})
Was meinen Sie wohl, von wem dieses Zitat stammt? Karl
Marx, 1848, „Kommunistisches Manifest“.
({4})
- Ich freue mich, dass Sie das kennen.
({5})
- Da staune ich wirklich.
({6})
- Wie gesagt, es freut mich, dass Sie das kennen.
Im Zentrum der Agrarpolitik stand im Berichtsjahr
1999 die Verabschiedung der Agenda 2000. Die rot-grüne
Bundesregierung hat die Weichen für eine stärkere Liberalisierung gestellt, mit all den ihr innewohnenden
ökologischen und sozialen Gefahren. Schon im laufenden
Wirtschaftsjahr ist zu erkennen, dass Agrarstrukturen zunehmend nur auf wettbewerbsfähige Betriebe hinauslaufen und wieder über 20 000 Bauern auf der Verliererseite
stehen werden.
Alles in allem erwartet die PDS von einem Agrarbericht tiefgründigere und differenziertere Aussagen zu den
langfristigen ökonomischen, sozialen und ökologischen
Prozessen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum.
Gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort an Minister Funke: Ihrem gereimten Gespräch mit dem
Rind, das besonders in seinem letzten Vers so sehr an
lafontainesche Fabeln erinnerte, möchte ich eine pessimistische und eine optimistische Strophe hinzufügen.
({7})
Die pessimistische Strophe: Der Ochs war schon immer
ein Opfertier. Er ist Leid gewöhnt - von dir und mir. Jedoch ist ernsthaft zu bedauern das Los des deutschen Einzelbauern. - Nun die optimistische Strophe: Genforschern
gilt es zu beweisen: Die deutsche Kuh kann Euro sch...
Solang dies Wunder nicht vollbracht, hilft Brüssel uns bei
Zins und Pacht. - Das nächste Mal können wir das singen.
({8})
Ich gebe der Kollegin
Jella Teuchner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Bei dem, was wir heute vonseiten der
CDU/CSU und der F.D.P. gehört haben, könnte man beinahe den Glauben verlieren. Wir können darüber aber im
Ausschuss noch einmal grundsätzlich diskutieren. Vielleicht könnten Sie, Herr Ronsöhr, uns dann Ihr Konzept
zur Reform der agrarsozialen Sicherungssysteme vorlegen. Ich kenne es bis heute nicht.
({0})
- „Wir haben etwas vorgelegt“, sagen Sie. Auch dem
Deutschen Bauernverband ist nicht bekannt, dass Sie etwas vorgelegt haben. Wir warten noch auf Ihre Vorschläge.
Als agrarpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion
({1})
möchte ich mich auf den verbraucherpolitischen Teil des
Agrarberichtes beziehen.
({2})
- Sie können sich gerne zu einer Zwischenfrage melden,
wenn Sie eine stellen möchten. Aber ich denke, dass Sie
nicht die Absicht haben, das zu tun.
Bei dem Stichwort „Lebensmittel“ fallen Ihnen sicherlich nicht nur Vitamine und Nährstoffe, sondern
auch - das ist ebenfalls heute schon angesprochen worden - die Begriffe „Dioxin“ und „BSE“ ein. Die Sicherheit von Lebensmitteln zu gewährleisten sollte eigentlich
heißen, dass unsere hohen Standards zu halten und - vor
allen Dingen - auszubauen sind. Das heißt aber auch, Kriminellen das Handwerk zu legen, die sich auf Kosten der
Gesundheit der Menschen bereichern wollen.
({3})
- Ich unterstelle den Bauern keine kriminellen Handlungen. Das möchte ich ganz speziell betonen.
({4})
Die deutschen Landwirte produzieren hochwertige und
sichere Lebensmittel. Ein Netzwerk von lebensmittelrechtlichen Vorschriften, die amtliche Lebens- und Futtermittelkontrolle der Länder und die Strategie der Minimierung von Belastungen sorgen dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher einwandfreie Lebensmittel
kaufen können. Dieses Netzwerk werden wir kontinuierlich verbessern, um die Qualität der Lebensmittel zu sichern und um den vorbeugenden Gesundheitsschutz zu
stärken.
({5})
Die Lebensmittelsicherheit war auch im letzten Jahr
trotz Dioxin- und Klärschlammskandal zu jeder Zeit gewährleistet. Die Lebensmittelüberwachung funktionierte
und sorgte dafür, dass diese Skandale nicht zu Katastrophen wurden. Die Ursachen dieser Skandale liegen im
Versagen Einzelner in der Produktionskette. Einzelne haben das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher
in die Sicherheit der Lebensmittel erschüttert. Dieses Vertrauen gilt es zurückzugewinnen.
Wir als Verbraucher wollen uns beim Essen sicher
fühlen. Dies ist unser aller berechtigtes Interesse. Das ist
aber auch das berechtigte Interesse von Landwirten; denn
es geht um ihre Absatzmärkte. Unser Ziel muss es daher
sein, die Qualität der Lebensmittel ständig zu verbessern
und gleichzeitig diese hohen Qualitäten durch effektive
Lebensmittelkontrollen zu sichern. Wir müssen dabei die
Lebensmittel vom Futterrohstoff bis zum Teller im Auge
behalten und gleichzeitig für Transparenz sorgen. Niemand von uns kauft gerne die Katze im Sack, insbesondere wenn es um Lebensmittel geht.
({6})
- Ich weiß nicht, wie Sie Ihre Haustiere versorgen.
({7})
Die Verbraucher wollen wissen, woher ihre Lebensmittel kommen und was getan wird, um die Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten. Wir sind hier auf einem
guten Weg und haben einiges erreicht: Die Voraussetzungen für eine umfassende Rindfleischetikettierung wurden geschaffen. Für britisches Rindfleisch wurden spezielle strengere Regelungen getroffen. Die Verbraucher
werden dadurch bei ihrer Kaufentscheidung berücksichtigen können, woher das Fleisch kommt, das sie kaufen.
({8})
Durch die Verabschiedung des Biosicherheitsprotokolls ist der Vorsorgegrundsatz als Leitgedanke für den
Handel mit gentechnisch veränderten Organismen verankert worden. Die Novel-Food-Verordnung und die Verordnung zur Kennzeichnung von Lebensmitteln aus genetisch verändertem Soja und Mais schaffen eine europaweite Kennzeichnung.
Die Sicherheit vor Antibiotikaresistenzen wurde weiter erhöht. Es wurden antibiotische und antimikrobielle
Leistungsförderer in Futtermitteln verboten; weitere Ersatzstoffe für Antibiotika wurden zugelassen. Die Kontrolle der Verwendung bestimmter Tierarzneimittel wurde
verschärft. Strengere Gemeinschaftsregeln bei Rückständen von Pflanzenschutzmitteln in Säuglingsnahrung und
bei der Lebensmittelbestrahlung wurden beschlossen.
Darauf wollen wir aufbauen: Wir halten an der Minimierungsstrategie und am Ziel des vorbeugenden Gesundheitsschutzes fest. Wir wollen eine Ausweitung der
Kennzeichnung von Futter- und Lebensmitteln. Wir wollen die Kontrollen verbessern. Wir werden uns dafür einsetzen, dass alle europäischen Staaten ihre Aufgaben ernst
nehmen. Kontrollen müssen in allen Mitgliedstaaten der
Union im notwendigen Umfang durchgeführt und Gefährdungen ohne Verzögerungen weitergemeldet werden.
({9})
Wir werden uns ferner dafür einsetzen, dass sichere Lebensmittel auch im internationalen Handel Standard bleiben.
Die Verantwortung von Produzenten und Handel muss
in der gesamten Kette bis hin zum Verbraucher weiterentwickelt und gesichert werden. Das heißt, dass landwirtschaftliche Rohstoffe, Futtermittel und Lebensmittel
einschließlich gentechnisch veränderter Produkte transparent gekennzeichnet werden müssen. Das bedeutet aber
auch, dass Herkunftssicherungssysteme ausgebaut werden müssen, damit zu jedem Zeitpunkt die Qualität der
Nahrungsmittel garantiert werden kann.
({10})
Lebensmittelsicherheit bedeutet aber auch ein enges
Zusammenspiel in der Europäischen Union. Die Ausgestaltung der Rindfleischetikettierung wurde in Brüssel
beschlossen, genauso die Kennzeichnungspflicht für
Produkte aus gentechnisch verändertem Soja und die verschärften Vorschriften für Babynahrung. Das Sicherheitsniveau, das wir für die in Deutschland verkauften Lebensmittel erreicht haben, ist auch Ergebnis eines europäischen Harmonisierungsprozesses.
({11})
Wir unterstützen daher die von der Europäischen Kommission im Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit definierten Ziele: Die bestehenden Gesetze sollen zusammengeführt werden, Lücken in der Gesetzgebung sollen
geschlossen werden, das Kontrollsystem muss verbessert
werden und die Kompetenzen zur Lebensmittelsicherheit
sollen gebündelt werden. Mit dem Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit hat die Kommission ihren Willen bekräftigt, einen höchstmöglichen Standard der Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten. Wir unterstützen alle
Vorschläge, die zu einem weiter verbesserten gesundheitlichen Verbraucherschutz führen.
({12})
Wir setzen uns daher auch dafür ein, schrittweise ein
europäisches Lebensmittelmonitoringsystem aufzubauen,
das als ständiges Mess- und Beobachtungssystem für Lebensmittel dazu dienen soll, die Lebensmittelbelastungen
und ihre Entwicklung zu ermitteln, Gesundheitsgefährdungen frühzeitig zu erkennen und Quellen festgestellter
Belastungen aufzudecken und zu schließen.
Unseren Kindern sagen wir ja oft: Was auf den Teller
kommt, wird auch aufgegessen. Wir essen allerdings nur
ungern, wenn etwas auf den Teller kommt, von dem wir
nicht wissen, was es ist. Wir wollen die Sicherheit der Lebensmittel so weit wie möglich garantieren. Wir wollen
auch, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher
dessen sicher sind. Wir haben einiges erreicht und werden
diesen Weg auch zukünftig weitergehen.
({13})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Helmut Heiderich für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Alle, die
in diesen Tagen mit offenen Augen durch Deutschland
fahren oder gehen
({0})
- auch laufen oder joggen -, sind begeistert von der
Schönheit unserer Landschaft. Die meisten nehmen das
unbeschwert und fröhlich so hin und denken nicht weiter
darüber nach, dass das gar nicht so selbstverständlich ist;
denn auch dies ist ein Stück Agrarbericht. Es ist eine besondere Leistung unserer flächendeckenden bäuerlichen
Landwirtschaft, die sie sozusagen nebenbei erbringt. Ich
glaube, der Freizeitwert Deutschlands wäre um ein Erhebliches geringer, wenn es unsere Bauern nicht gäbe.
({1})
Auch deshalb ist es unsere Aufgabe als Politiker, uns
um das Wohl und Wehe der deutschen Landwirtschaft und
ihrer Zukunft zu kümmern. Deshalb geht es in der jährlichen Debatte um den Agrarbericht nicht nur um die Auslegung von Zahlenkolonnen oder um die Interpretation statistischer Größen. Es geht vielmehr darum, welche Bedeutung wir der Landwirtschaft für unsere Gesellschaft
beimessen.
Dazu sei noch eine weitere Leistung angemerkt, die
meist ebenso selbstverständlich hingenommen wird. Die
Verbraucher wenden in Deutschland inzwischen weniger
als ein Siebtel ihres Einkommens für die Ernährung auf.
({2})
Dies ist eine direkte Folge der gewaltigen Produktivitätsleistung unserer Bauern.
({3})
Ehe manche aus Unkenntnis ständig von angeblicher Subventionierung reden, sollten sie erst einmal zur Kenntnis
nehmen, dass davon hauptsächlich die Verbraucher in
Form von preisgünstigen und trotzdem hoch qualitativen
Lebensmitteln profitieren.
({4})
Die landwirtschaftlichen Betriebe sind aber unter RotGrün heftig gebeutelt worden. Im Durchschnitt - das
wurde eben schon gesagt - ist ihr Gewinn um 7 Prozent
zurückgegangen. 22 700 Betriebe sind Opfer der rot-grünen Politik geworden und mussten ihre Höfe aufgeben.
({5})
- Ja, meine Damen und Herren, lesen Sie es doch im
Agrarbericht nach! - Die Einkommen der Verbliebenen
liegen um rund 30 Prozent unter den gewerblichen Vergleichslöhnen. Am stärksten hat es die Nebenerwerbslandwirte mit 18 Prozent und die großen Betriebe mit
17 Prozent Einkommensverlust getroffen.
Die schwarzen Zahlen, die wir noch in den Vorjahren
hatten, hat die neue Bundesregierung schon im ersten Anlauf in kräftig rote Zahlen umgekehrt. Das hat Folgen für
die Betriebe, auch für Haupterwerbsbetriebe. Die
Verbindlichkeiten haben zugenommen, die Nettoinvestitionen sind zurückgegangen. Kurz und knapp heißt das:
Die Landwirte waren gezwungen, von der Substanz zu leben.
In diesem Zusammenhang ist auch, verehrte Frau Kollegin Höfken, die Frage zu stellen, warum so wenig junge
Leute einen Hof als Nachfolger übernehmen wollen. Das
liegt daran, dass Ihre Politik ihnen die Perspektiven für
die Zukunft genommen hat, und nicht daran, weil sie sich
vor Arbeit drücken wollen.
({6})
So weit zur Situation.
Nun frage ich Sie - das habe ich weder den Minister
noch andere aus Ihrer Koalition vortragen gehört -: Wie
verhält es sich angesichts all dessen mit dem Versprechen
der Regierungskoalition, das Sie deutlich in schriftlicher
Form abgegeben haben, nämlich die Entwicklung einer
wettbewerbsfähigen und umweltverträglichen Landwirtschaft voranbringen zu wollen? Meine Damen und Herren, wo sind Ihre Initiativen, wo sind Ihre Aktivitäten, mit
denen Sie dem Gewinneinbruch in der Landwirtschaft
und dem beschleunigten Höfesterben entgegentreten wollen? Sie stellen doch die Regierung. Bei Ihnen sind die
Landwirte nicht nur vom Regen in die Traufe gekommen,
sondern, wie ich meine, sie sind zwischen die Mühlsteine
geraten.
({7})
- Es ist wohl richtig, Herr Kollege Dreßen, dass es auch
früher schon geregnet hat, aber bei Ihnen sind sie zwischen die Mühlsteine grüner Träumereien, so wie wir sie
vorhin schon in vielerlei Form beispielhaft zur Kenntnis
nehmen durften, und der eiskalten Abkassiererei durch die
Sozialdemokraten in verschiedenen Bereichen geraten.
({8})
Denn - das will ich Ihnen nachweisen - statt den Landwirten in einer - von allen anerkannt - schwierigen Situation zur Seite zu stehen, statt ihnen mit klaren Konzepten zumindest europäische Wettbewerbsfähigkeit zu
garantieren, fallen Sie ihnen zusätzlich in den Rücken.
Im vorigen Jahr - ich habe im Protokoll der Debatte
über die Agenda 2000 nachgelesen - haben Sie von der
Koalition den Bauern empfohlen, „den Gürtel enger zu
schnallen“. Jetzt ziehen Sie den Bauern den Gürtel um
zwei weitere Löcher enger. Das sollen die neuen Akzente
und Rahmenbedingungen sein, die Sie den Landwirten
versprochen haben?
({9})
So sieht Ihre Politik in der Praxis aus.
({10})
Ich zähle Ihnen die entscheidenden Punkte gerne auf:
die Kürzung der Vorsteuerpauschale, die Kürzung von
Freibeträgen, die Erfindung der Ökosteuer, die massive
Steuererhöhung beim Agrardiesel, die zusätzlichen Belastungen im Steuerrecht. Das alles muten Sie jetzt den
Landwirten zu.
Die dreisteste und, wie ich finde, ungerechteste Art des
Zugriffs, die Sie sich in diesem Zusammenhang erlauben,
ist der Zugriff auf die landwirtschaftlichen Sozialkassen.
({11})
Während Sie der gesetzlichen Rentenversicherung massiv
neues Geld zuführen - Sie haben extra die Ökosteuer
dafür erfunden -,
({12})
während Sie die Strukturprobleme der Bergleute durch einen auf 14,2 Milliarden DM erhöhten Bundeszuschuss
abdecken, kassieren Sie bei der Landwirtschaft die bisherigen Strukturfördermittel in großem Umfang wieder ein.
({13})
Lassen Sie mich an einem Beispiel deutlich machen,
dass die Grenze des Erträglichen erreicht ist. Während Sie
auf der einen Seite die eisern angesparten Rücklagen der
landwirtschaftlichen Krankenkassen abkassieren,
({14})
geniert sich Ihr Finanzminister nicht - ich habe Ihnen das
Corpus Delicti in voller Größe mitgebracht -, dieses angesparte Geld zur Befriedigung seiner Profilneurose im
bundesdeutschen Blätterwald auszugeben.
({15})
Das ist Ihre Art der gerechten Behandlung der Landwirtschaft.
({16})
Inzwischen sind Sie in Ihrer Argumentation - Frau
Höfken ist vorhin auf alle möglichen Nebenbereiche ausgewichen, nur zum Hauptpunkt hat sie sich nicht
geäußert - schon so hilflos geworden, dass Sie selbst die
Erhöhung des Grundfreibetrages der Einkommensteuer,
die ja wegen des Existenzminimums notwendig war und
die vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird, als
Leistung für die Landwirtschaft verkaufen. Mir stellt sich
angesichts dieses Vorgehens die Frage, Frau Höfken:
Wann kommt der Zeitpunkt, an dem Sie auch die Erhöhung der Sozialhilferegelsätze als Leistung für die
Landwirtschaft darstellen?
({17})
Es bleibt festzustellen: Unter Ihrer Verantwortung ist
die früher verhalten positive Entwicklung der Landwirtschaft in den letzten Jahren deutlich ins Negative umgeschlagen.
({18})
Es besteht die große Befürchtung, Frau Kollegin Höfken,
dass mit den erheblichen weiteren Belastungen, die Sie
jetzt vornehmen, eine dauerhafte Talfahrt verursacht wird.
Wenn das Höfesterben, das Sie mehrfach angesprochen
haben, unter Ihrer Regierung so weitergeht, dann haben
Sie nach vier Jahren Regierungszeit 20 Prozent der deutschen landwirtschaftlichen Existenzen vernichtet.
Deshalb ist der Agrarbericht nicht zuletzt ein Signal,
die ungerechten und weit überzogenen „Strafaktionen“,
die Sie gegen die Landwirtschaft unternehmen, endlich zu
beenden.
({19})
Sie müssen den Landwirten endlich die gleichen Chancen
wie den Berufskollegen in anderen europäischen Ländern
verschaffen.
({20})
Meine Damen und Herren Agrarexperten der Koalition, machen Sie endlich eine Politik für die Landwirte
und lassen Sie sich nicht länger als Kassenfüller für Herrn
Eichel missbrauchen!
Schönen Dank.
({21})
Nach dem Kollegen
Helmut Heiderich spricht nun der Kollege Holger Ortel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Heiderich, ein Wort zum beschleunigten Höfesterben. Sie
haben 16 Jahre ganz unrühmlich sehr hoch vorgelegt. Ich
habe mir die Zahlen vom Deutschen Bauernverband geben lassen. Wenn man das zurück- und umrechnet, waren
es 41 Betriebe pro Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage
im Jahr, und das 16 Jahre lang, mit einem Gesamtminus
von über 271 000 Betrieben.
Wenn Sie Ihre unrühmlich hohen Zahlen für die Erwerbstätigen auch noch hören wollen: 64 Erwerbstätige
pro Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, und
das 16 Jahre lang. Insgesamt haben wir 421 000 weniger
erwerbstätig Beschäftigte in der Landwirtschaft.
({0})
Das Wirtschaftsjahr 1998/1999 war für viele Landwirte in Deutschland ein schwieriges Jahr. Der Minister
hat es auch schon erwähnt. Der Preisverfall unter anderem auf dem Schweinemarkt ließ die Gewinne teilweise
dramatisch einbrechen. Im aktuellen Wirtschaftsjahr
1999/2000 zeichnet sich für die Veredelungsbetriebe ein
deutlicher Anstieg der Gewinne ab. Die Verluste aus dem
Vorjahr - das muss man auch zugeben - können dadurch
voraussichtlich aber nur zum Teil ausgeglichen werden.
({1})
Die Entwicklung vieler Betriebe bleibt auch im Jahr
1999/2000 nicht ganz befriedigend. Ich gebe das ja zu.
Der Grund dafür liegt auch in den Versäumnissen der Vergangenheit. Die Produktions-, Vermarktungs- und
Verarbeitungsstrukturen werden vielfach nicht den Anforderungen gerecht, die der Wettbewerb im Binnen- und
Weltmarkt stellt. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
ist und bleibt deshalb von herausragender Bedeutung.
Strukturelle Defizite müssen abgebaut werden.
Mit dem Beschluss zur Agenda 2000 wurde ein klares
Signal in Richtung mehr Markt- und Umweltorientierung
gegeben und die Förderung der ländlichen Entwicklung
wurde aufgewertet. Die Agenda 2000 schafft für die kommenden Jahre verlässliche Rahmenbedingungen und somit auch Planungssicherheit für unsere Landwirte.
Die neue Bundesregierung hat wieder Bewegung in die
Agrarpolitik gebracht. Sie hat in ihrer EU-Ratspräsidentschaft mit den Beschlüssen der EU-Staats- und Regierungschefs vom März 1999 wesentliche Grundlagen für
die zukünftige gemeinsame Agrarpolitik geschaffen.
Diese Bundesregierung hat in vielen Bereichen neue
Akzente gesetzt. Trotz der schwierigen Haushaltssituation wurden die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe der Agrarstruktur und des Küstenschutzes
stabil gehalten.
({2})
Die Gemeinschaftsaufgabe ist das zentrale Instrument der
nationalen Agrarstrukturpolitik. Die Ziele sind klar umrissen. Die Landwirtschaft und die ländlichen Räume sind
zu stärken, die Landwirtschaft ist in ihrem strukturellen
Wandel zu unterstützen und die Beschäftigung in den
ländlichen Regionen ist zu sichern.
Viele von uns nutzen, sobald es die Zeit erlaubt, jede
Gelegenheit, in einer ländlichen Region Erholung vom
Alltag zu finden.
({3})
Der ländliche Raum hat also einen erheblichen Freizeitund Erholungswert.
({4})
Viele leben und arbeiten jedoch auch in den ländlichen
Regionen, die auch in Deutschland nach wie vor wesentlich durch die Land- und Forstwirtschaft geprägt sind.
Die Agrarwirtschaft ist hier ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Die wirtschaftliche Zukunft der ländlichen
Räume ist daher immer noch eng mit der wirtschaftlichen
Perspektive der Land- und Forstwirtschaft verknüpft.
Land- und forstwirtschaftliche Betriebe tragen zur Stabilität und Attraktivität dieser Räume bei und sind damit ein
wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen ländlichen
Entwicklung. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebe
muss deshalb verbessert, neue Wege der betrieblichen
Entwicklung müssen unterstützt werden.
({5})
Die Agrarpolitik unterstützt und sichert mit ihren Instrumenten die Rolle der Land- und Forstwirtschaft. Agrarstrukturpolitische Fördermaßnahmen sind hier von besonderer Bedeutung.
Die Umsetzung der Politik für ländliche Räume erfolgt
in Deutschland über eine Ergänzung der Gemeinschaftsaufgabe mit Landesprogrammen. Bei mir in Niedersachsen zum Beispiel heißt dieses Programm „Pro Land“.
({6})
Aus diesem Programm saugen die ländlichen Regionen in
Niedersachsen bis zum Jahr 2006 ihren Honig.
Was leistet die Gemeinschaftsaufgabe? Sie sichert
die Teilhabe aller Regionen an der Agrarstrukturförderung, bündelt agrarstrukturpolitische Interessen von Bund
und Ländern gegenüber der EU, konzentriert EU-, Bundes- und Landesmittel zur Verbesserung der Effizienz der
öffentlichen Mittelverwendung und setzt die EU-Gemeinschaftsinitiative für Garantie und Ausrichtung um.
Im Haushaltsjahr 1999 betrug der Bundesmittelansatz
zur Durchführung der Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe 1,7 Milliarden DM. Zusammen mit den Landesmitteln ergab das rund 2,8 Milliarden DM in 1999.
({7})
Der Haushalt 2000 sieht ebenfalls Bundesmittel in Höhe
von 1,7 Milliarden DM vor. Zusammen mit den Landesmitteln ergibt sich auch in diesem Jahr wieder eine
Summe von rund 2,8 Milliarden DM.
Der Planungsausschuss der Gemeinschaftsaufgabe hat
für den Rahmenplan 2000 bis 2003 beschlossen, in der
Agrarinvestitionsförderung Neben- und Haupterwerbsbetriebe gleichzustellen. Die Förderung der benachteiligten
Gebiete wird auf besonders ungünstige Standorte und
Grünland konzentriert. Bei den Agrarumweltmaßnahmen
werden die Schwerpunkte künftig in den Bereichen der
extensiven Grünlandnutzung, der Pflege und Erhaltung
einer vielfältigen Kulturlandschaft sowie der Stärkung
des ökologischen Landbaus liegen.
({8})
Der gestiegenen Nachfrage der Verbraucher nach regional erzeugten Produkten wollen wir durch die Neuaufnahme der Förderung der regionalen Verarbeitung und
Vermarktung Rechnung tragen. Die Gemeinschaftsaufgabe enthält eine große Palette sowohl einzelbetrieblicher als auch überbetrieblicher Maßnahmen und trägt
den nachhaltigen Entwicklungserfordernissen ländlicher
Räume verstärkt Rechnung.
({9})
Die einzelbetriebliche Investitionsförderung ist ein
wichtiges Instrument zur Erhaltung der Wettbewerbskraft
der deutschen Landwirtschaft. Laut Gemeinschaftsaufgabe sind Haupt- und Nebenerwerbslandwirte künftig sowohl in der Investitions- als auch in der Junglandwirteförderung gleichzustellen. In der Milchkuhhaltung entfallen die bisher bei Bestandsaufstockungen geltenden
Obergrenzen. Der bisherige Ausschluss der Förderung
von Kapazitätsaufstockungen in der Schweinehaltung
wird aufgehoben.
Eine weitere wichtige einzelbetriebliche Maßnahme
stellt die Förderung von Gebieten dar, die aufgrund ihrer
natürlichen und wirtschaftlichen Standortbedingungen benachteiligt sind. Da diese Gebiete ökonomisch betrachtet
mit den günstigen Lagen Europas nicht konkurrenzfähig
sind, bleibt die Verbesserung der Einkommenssituation
der Landwirte eine der größten Herausforderungen, um die
traditionelle Bewirtschaftung dieser Gebiete zu sichern.
Deshalb soll mit der Gewährung der Ausgleichszulage erreicht werden, dass die Bewirtschaftungsstrukturen in den
wirklich benachteiligten Gebieten gesichert werden.
({10})
Der Präsident hat schon die Zeit angemahnt. Darum
lassen Sie mich ganz kurz zum letzten Thema kommen,
zum Küstenschutz. Der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten und ich haben in unseren benachbarten Wahlkreisen zusammen über 150 Kilometer
Seedeiche. Dies unterstreicht sicherlich, dass auch das
Thema Küstenschutz bei uns bzw. bei dieser Regierung in
den richtigen Händen liegt. Auch in Zukunft werden sich
die Menschen an der Küste auf diese Bundesregierung
verlassen können.
({11})
Herzlichen Dank.
({12})
Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Albert Deß.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ortel, Sie haben
vom Strukturwandel gesprochen und haben uns Vorwürfe im Hinblick auf den Strukturwandel während der
CDU/CSU-Regierung gemacht. Dazu kann ich Ihnen genaue Zahlen nennen: Im gemittelten Durchschnitt betrug
der Strukturwandel in diesen 16 Jahren pro Jahr 2,41 Prozent. In den 13 Jahren, in denen Ihre Partei die Regierungsverantwortung hatte, betrug der durchschnittliche
Strukturwandel 4,6 Prozent, also fast das Doppelte. Sie
sollten diese Zahlen also sehr vorsichtig verwenden.
({0})
Im Übrigen war das letzte Jahr unserer Regierungszeit,
in dem wir zumindest bis zum Herbst regiert haben, das
Jahr 1998 also, eines der Jahre mit dem geringsten Strukturwandel der letzten Jahrzehnte. Er betrug in dem Jahr
1,7 Prozent. Deshalb kann man hier nicht davon sprechen,
dass die damalige Bundesregierung die Bauern von ihren
Höfen vertrieben hätte.
Lieber Bundesminister Funke, Sie haben einige Punkte
angesprochen, zu denen ich kurz Stellung nehmen
möchte. Sie sagten - da gebe ich Ihnen Recht -, dass der
Staat nicht auf Dauer die landwirtschaftlichen Einkommen sichern kann. Aber der Staat darf die deutschen Bauern auch nicht in einem Ausmaß belasten, das über die Belastung aller anderen Berufsgruppen hinausgeht. Das
führt dazu, dass unsere Bauern Einkommen verlieren,
wofür die jetzige Bundesregierung die Verantwortung
trägt.
Sie haben weiter festgestellt, wenn die Märkte nicht in
Ordnung seien, könne dies der Staat nicht regeln. Sie wissen, dass ich Ihnen vorwerfe, dass bei der Agenda 2000
genau dieser Ansatz nicht genutzt worden ist, nämlich die
Märkte in Europa besser zu ordnen. Aus Zeitgründen kann
ich das jetzt nicht näher erklären; aber es wäre gut gewesen, wenn man in diesem Zusammenhang mehr auf eine
Mengenbegrenzung als auf eine Mengenausweitung gesetzt hätte.
Sie haben ferner angesprochen, dass sich die Bauern in
der Absatzkette für eine stärkere Kooperation aussprechen sollten. Leider kann ich meine bayerischen Bauern
davon, dass sie sich in große Kooperationen, zum Beispiel
im Rahmen der Milchwirtschaft, einbringen, kaum überzeugen, wenn ich feststellen muss, dass die Bauern in
Norddeutschland, wo eine riesige Milchkooperation existiert, pro Liter Milch bis zu 5 Pfennig weniger erhalten,
als dies bei kleinen bayerischen Molkereien der Fall ist.
Das bedeutet, dass ein 400 000-Liter-Milchviehbetrieb im
Norden pro Jahr 20 000 DM weniger für seine Milch erhält als der, der an eine kleine bayerische oder rheinlandpfälzische Molkerei angeschlossen ist. Deshalb sind die
Bauern hier auch so skeptisch.
({1})
Hierzu möchte ich ganz deutlich sagen - das gilt für die
Wirtschaft ebenso wie für die Landwirtschaft -: Größe
allein löst die Einkommensprobleme nicht.
Nun zum Agrarbericht. Die Zahlen im Agrarbericht
zeigen, dass dieser - abgesehen von Bayern, wo wir ein
Plus von 4,1 Prozent haben, von Brandenburg, wo es zu
einem Plus von 0,3 Prozent kommt, und von den Futterbaubetrieben, die ein Plus von 12,6 Prozent zu verzeichnen haben - eine Auflistung roter Zahlen ist. Beim Produktionswert kommt es zu einem Minus von 3,6 Prozent,
bei der Nettowertschöpfung zu einem Minus von 7,7 Prozent, beim Einkommen der Haupterwerbsbetriebe zu einem Minus von 7,3 Prozent, bei der Nettowertschöpfung
je Arbeitskraft zu einem Minus von 5,3 Prozent, bei den
Veredelungsbetrieben zu einem Minus von 83,5 Prozent,
in Niedersachsen zu einem Minus von 16,8 Prozent und
in Nordrhein-Westfalen zu einem Minus von 29,3 Prozent. In D-Mark ausgedrückt kommt es im Wirtschaftsjahr 1998/99 im Vergleich zum Wirtschaftsjahr 1996/97
bei der Nettowertschöpfung zu einem Minus von 3,6 Milliarden DM.
({2})
Für diese Minuszahlen mache ich die rot-grüne Bundesregierung nicht allein verantwortlich.
({3})
Aber wofür ich die rot-grüne Bundesregierung verantwortlich mache, sind die Konsequenzen, die sie aus diesen Zahlen zieht. Die Antwort, die Rot-Grün auf diese
Entwicklung gibt, ist verkehrt. Sie belastet nämlich die
deutsche Landwirtschaft weiter und benachteiligt sie einseitig. Das ist die falsche Antwort auf die Zahlen, die der
vorliegende Agrarbericht ausweist.
({4})
Mitte Januar dieses Jahres ist ein SPD-internes Papier
ausgearbeitet worden. Dort ist berechnet worden, dass die
deutsche Landwirtschaft durch die Auswirkungen der rotgrünen Agrarpolitik im Zieljahr 2003 mit einer Belastung
von 3 Milliarden DM rechnen muss. Das sind nicht unsere
Zahlen; das sind Ihre Zahlen, Herr Minister, die hier berechnet worden sind und die unsere Landwirtschaft enorm
benachteiligen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass
Rot-Grün nicht nur ein kernenergiefreies Deutschland in
30 Jahren will, sondern, wenn diese Politik so weiter betrieben wird, noch viel früher ein bauernfreies Deutschland schafft.
({5})
- Lieber Matthias Weisheit, ich wäre da mit Kritik sehr
vorsichtig. Ich habe hier eine Aussage eines bayerischen
SPD-Kollegen vorliegen, der in einem Brief an den
Bundesfinanzminister geschrieben hat - ich zitiere aus
dem BBV-Pressedienst vom 16. März -:
Die derzeitige Agrarsozialpolitik ist politisch nicht
mehr vertretbar.
({6})
Etwas später schreibt er:
Es kann auch nicht unseren Vorstellungen und
Forderungen von sozialer Gerechtigkeit entsprechen,
dass gerade die Einkommensschwächeren mit derart
massiven Beitragserhöhungen belastet werden.
({7})
Weiter schreibt er, die soziale Absicherung dürfe nicht der
Grund für ein weiteres rasantes Bauernsterben und für
landwirtschaftliche Existenzverluste sein. - Das sind sehr
deutliche Aussagen eines SPD-Kollegen.
Er schließt damit, dass dies eine sehr gefährliche Entwicklung sei, und schreibt: „Wir sollten dieses Vertrauen
nicht weiter aufs Spiel setzen“.
({8})
Bezüglich des letzten Satzes hat er nicht Recht, denn RotGrün hat bereits das ganze Vertrauen verspielt. Hier kann
nichts mehr aufs Spiel gesetzt werden.
({9})
- Dann müsste er aber nach Bonn gehen; denn bei den
Bayern hat er, da er ein SPD-Kollege ist, keine Chance,
Landwirtschaftsminister zu werden. Das wird er in nächster Zeit nicht erleben.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Brief ist
trotzdem unvollständig, weil dieser Kollege aus dem
Bayerischen Landtag nur auf die Kürzungen im Agrarsozialbereich hinweist. Er hätte auch all die steuerlichen
Maßnahmen ansprechen müssen, die sich auch auf diesen
Bereich gewaltig auswirken.
({11})
Ich bin der Meinung, Rot-Grün schreibt unsere Bauern
ab. Rot-Grün verlängert in den AfA-Tabellen die Abschreibungszeiten für landwirtschaftliche Maschinen und
Betriebsgebäude und verkürzt die Abschreibungszeit für
unsere Bauernhöfe. Das passt nicht zusammen, Herr
Bundesminister. Oder doch? Aus Sicht des Finanzministers steckt durchaus System dahinter: Zuerst wird die Betriebsaufgabe erzwungen, dann wird bei der Betriebsaufgabe steuerlich abkassiert. Das genau ist das rot-grüne
Agrarmodell.
Ich muss fragen, Herr Bundeslandwirtschaftsminister:
Wo bleibt da Ihr Aufschrei? Wir von der CDU/CSU würden Ihnen gerne Rückdeckung geben, wenn wir feststellen könnten, dass Sie für unsere Bauern kämpfen. Aber
das stellen wir leider nicht fest. Das können wir nirgends
heraushören und herauslesen. Es kann nicht Aufgabe eines Bundeslandwirtschaftsministers sein, draußen bei den
Bauern die rot-grüne Agrarpolitik zu beschönigen. So
kann man keine Agrarpolitik für die Zukunft unserer Bauern gestalten. Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden
nicht zulassen, dass die Interessen unserer Bauern von
dieser rot-grünen Bundesregierung massivst vernachlässigt werden.
({12})
Außerdem, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, verstößt diese Agrarpolitik gegen
Ihren eigenen Koalitionsvertrag. In einem SPD-internen
Papier heißt es:
Im Hinblick auf die Entwicklung ländlicher Räume
würde eine Verschärfung des landwirtschaftlichen
Strukturwandels im Widerspruch zu den Zielen der
Koalitionsvereinbarung für den ländlichen Raum
und die Umwelt stehen.
Auch das ist eine ganz klare Aussage, dass die rot-grüne
Agrarpolitik nicht zu verantworten ist.
({13})
Ich möchte noch eines deutlich anmerken: Wer glaubt,
dass durch eine verschärfte Strukturentwicklung - das
richtet sich nicht nur an Rot-Grün, es gibt ähnliche Vertreter auch in anderen Parteien - die Pro-blematik der
landwirtschaftlichen Einkommens-verhältnisse gelöst
werden kann, der wird sich gewaltig täuschen. Wenn dem
nämlich so wäre, dann dürfte es ja in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Probleme geben. In Europa beträgt
die durchschnittliche Betriebsgröße 17,5 Hektar. Die
Amerikaner haben zehnmal so viel, nämlich 175 Hektar.
Trotzdem hat die amerikanische Landwirtschaft gewaltige Einkommensprobleme.
Wer die Agrarstatistik von 1999 liest, der kann sehr interessante Erkenntnisse daraus gewinnen, nämlich, dass
im vergangenen Jahr von den amerikanischen Großbetrieben - das sind die Betriebe mit einer durchschnittlichen Größe von 610 Hektar - 9 220 das Handtuch
geworfen haben. Nach Aussage des amerikanischen
Landwirtschaftsministers wurden sie meist - in Anführungszeichen - wegen Reichtum geschlossen. Die
mittleren Betriebe mit 180 Hektar Durchschnittsgröße
haben immerhin 3 760 Betriebsaufgaben zu verzeichnen.
Zugenommen hat nur die Zahl der Kleinbetriebe mit
45 Hektar Durchschnittsgröße, nämlich um 15 690 Betriebe. Bei uns macht man eine Agrarpolitik, durch die
diese Landwirtschaft, die Strukturen hat, die wir alle wünschen, kaputtgemacht wird. Es kann nicht Ziel einer deutschen Agrarpolitik sein, dass wir in Deutschland eine
agrarindustrielle Produktion bekommen. Dies liegt auch
nicht im Interesse der Verbraucher.
Ich bitte Sie deshalb, dem Antrag der CDU/CSU zuzustimmen. Dieser Antrag zeigt auf, was in der Agrarpolitik
zu tun ist, damit die Benachteiligung unserer Bäuerinnen
und Bauern beendet wird und der bäuerlichen Jugend wieder eine Perspektive für die Zukunft gegeben wird.
Herr Kollege Deß, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin beim letzten Satz,
Herr Präsident. - Ich möchte etwas Optimistisches verbreiten; ich bin nämlich als Agrarpolitiker auch optimistisch.
({0})
Ich bin nämlich der Meinung: Es wird in Deutschland länger Bauern geben, als es diese rot-grüne Bundesregierung
gibt.
({1})
Ich
möchte noch nachtragen, dass der Redner, der vor Kollegen Deß gesprochen hat, Holger Ortel, seine erste Rede
im Deutschen Bundestag gehalten hat und ich möchte ihn
dazu herzlich beglückwünschen.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich dem Kollegen Matthias Weisheit von der SPD
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Letzter in einer solchen
Runde steht man in der Regel vor einem Problem:
({0})
dass man etwas vorbereitet hat,
({1})
dass es aber in der Tat notwendig ist, auf einige Beiträge
einzugehen. Ich will das jetzt anhand meines Notizzettels
versuchen.
Eigentlich müssten wir Agrarpolitiker den heutigen
Tag der Agrardebatte rot im Kalender anstreichen:
({2})
Dass diese Debatte zu einer solchen Tageszeit geführt
werden kann, das haben wir lange nicht erlebt.
({3})
Meistens waren wir um Mitternacht oder kurz vor Mitternacht an der Reihe. Das wir heute so früh dran sind, ist insofern schon ein erfreuliches Ereignis.
({4})
- Natürlich, Peter Harry, daran seid ihr schuld, dass es geregnet hat, weil es den Bauern gut tut, und die Hitze vorher haben wir zu verantworten.
({5})
Aber lassen wir jetzt diesen Blödsinn bleiben.
Bei einer solch frühen Debattenzeit hätten wir natürlich auch die Chance, die vielen Menschen, die am Fernseher jetzt zuschauen, darauf aufmerksam zu machen,
welche Leistungen die Landwirtschaft für sie erbringt und
was sie tun könnten, um der Landwirtschaft zu helfen, damit die Initiativen, die jetzt laufen, in vernünftige Bahnen
gelenkt werden können. Leider ist dem nur ein Kollege
von der Opposition in einem Teil seiner Rede nachgekommen. Jella Teuchner hat sehr viel über den Verbraucherschutz geredet; das geht an die Adresse der Verbraucher und der Menschen draußen. Aber leider nur der Kollege Heiderich hat auf das hingewiesen, was ich eben
angesprochen habe. Alle anderen Reden der Opposition
waren wieder nur dazu angetan, Aggressionen gegen die
Landwirtschaft bei der restlichen Bevölkerung zu
wecken,
({6})
weil nichts anderes getan wurde, als zu jammern und zu
sagen: Es geht uns schlecht; wir brauchen mehr Kohle. So kommt es rüber und das ist genau das Gegenteil dessen, was wir hier in diesem Hause machen sollten, wenn
wir der Landwirtschaft nützen wollen.
({7})
Auf einen weiteren Punkt muss man eingehen. Hier
wird beklagt, dass Höfe zugrunde gehen.
({8})
Ich habe kein Problem damit, dass ein Strukturwandel
stattfindet. Er hat immer stattgefunden. Das darf man
nicht der einen oder der anderen Regierung zuschieben.
({9})
- Moment. Strukturwandel ist notwendig. Ich behaupte
sogar: In den letzten Jahren hat zu wenig Strukturwandel
in Teilen dieser Republik stattgefunden.
({10})
Das wird jetzt nachgeholt.
({11})
- Natürlich! Wer will eigentlich einem Bauern mit
30 Hektar und 15 Kühen klarmachen, dass das noch eine
Existenzgrundlage für ein vernünftiges Einkommen ist?
Er macht das seinen Kindern bestimmt erst recht nicht
klar, was für eine Existenzgrundlage das ist. In dem
Moment, wo er Schluss macht, sagen die Kinder „Vater,
das war’s dann, ich möchte den Hof nicht haben!“, weil
sie nämlich woanders, in der Industrie oder im Gewerbe,
mehr Geld verdienen können und mehr Freizeit haben.
Herr Kollege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Kollege
Weisheit, führen Sie die neue Agrarpolitik der rot-grünen
Bundesregierung etwa auf die Auffassung zurück, dass es
in der Landwirtschaft zu wenig Strukturwandel gab?
Ich stelle hier fest: Die
letzten Jahre hat zu wenig Strukturwandel stattgefunden.
({0})
Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Milchquote
festgezurrt war und man damit ein Geschäft machen
konnte. Die Neuregelung macht mit dieser Situation
aber Schluss. Damit ist klar, dass nach 2006 mit der
Milchquote kein Geschäft mehr zu machen ist. Das führt
dazu, dass ein großer Teil der Bauern vor dem Stichtag der
neuen Regelung ihre Milchquote verkauft haben, langfristig verpachten und ihren Landwirtschaftsbetrieb früher
aufgeben als vorgesehen. Das ist eine durchaus vernünftige Entwicklung.
({1})
Kommen wir zu dem, was im Zusammenhang mit dem
Agrardiesel angesprochen worden ist. Führen wir uns die
Tatsachen noch einmal vor Augen: Wir haben im Agrarbereich einen Haushalt übernommen, der ausgemolken
war bis zum Letzten.
({2})
- Ja, natürlich, er ist in den letzten Jahren Ihrer Regierung
ständig massiv zurückgefahren worden, übrigens als einziger Haushalt.
({3})
Das wissen Sie ganz genau. Hinzu kommt diese abenteuerliche Verschuldung, die uns zwingt, jede vierte Steuermark für Zinsen abzudrücken.
({4})
Jede vierte Steuermark geht für Zinsen drauf und das haben Sie zu verantworten.
({5}) - Wider-
spruch bei der CDU/CSU)
Dass die Haushaltskonsolidierung an erster Stelle stand,
das ist doch nicht wegzudiskutieren. Deshalb musste auch
die Landwirtschaft ihren Teil dazu beitragen.
({6})
- Lieber Heinrich-Wilhelm, jetzt beruhige dich wieder!
Die Kürzungen im Agrarhaushalt haben dazu geführt,
dass wir die Gasölverbilligung alter Form zurückführen
mussten.
({7})
- Wir mussten sie zurückführen, sonst hätten wir woanders kürzen müssen.
({8})
- Natürlich, auch die Agrarpolitiker mussten ihren Anteil
leisten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
({9})
- Ach, schwätz doch nicht so ein Blech!
({10})
Das musste also gemacht werden.
Um die Belastungen nicht zu hoch werden zu lassen,
musste deshalb eine Möglichkeit gefunden werden, die
Landwirtschaft im Treibstoffbereich zu entlasten.
({11})
- Moment! Jetzt komme ich zu den Modellen.
Es bestehen durchaus Unterschiede zu vorher: Es gibt
jetzt einen festen Steuersatz für Agrardiesel - das war vorher nicht der Fall - und diese Position taucht auch nicht
mehr im Agrarhaushalt auf. Auch mein Freund Oswald
Metzger, den ich da hinten sitzen sehe, kann jetzt nicht
mehr sagen - die Haushälter der Opposition haben das
früher genauso gemacht -: An diesem Punkt möchte ich
euren Haushalt abbauen.
Insofern hat sich qualitativ durchaus etwas verändert.
Dass wir, Uli Heinrich, uns nicht auf einen rot, grün
oder wie auch immer eingefärbten Agrardiesel haben verständigen können, das bedauere ich ganz massiv - und der
Minister auch.
({12})
Wir wollten ihn ja haben, aber etwas gegen den massiven
Willen des Deutschen Bauernverbandes ({13})
- wir haben gestern mit denen geredet
Herr Kollege Weisheit, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Hornung?
- ja, gleich, wenn ich den
Gedanken zu Ende gebracht habe - und gegen den massiven Willen der Mineralölindustrie durchsetzen zu wollen,
führt nur zu einem blutigen Kopf. Wir tun das nicht, nur
um euch einen Gefallen zu tun. Nein, das kann nicht sein.
({0})
Wir machen das jetzt, wie die es wollen, und das ist eine
gute Geschichte.
({1})
Erlauben
Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Hornung?
Jetzt, Siegfried, bitte
schön.
Herr Kollege Hornung, bitte schön.
Herr Kollege
Weisheit, dem Herrn Minister ist es vorhin nicht gelungen, darzulegen, wie die Verbilligung und Verbesserung
beim Gasöl stattfinden soll. Jetzt erklären Sie wiederum,
dass es Verbesserungen geben soll. Ich will einmal die alte
Art, die teilweise Erstattung von Steuern, beiseite lassen
und es auf den neuen Terminus bringen. Damals betrug
die Belastung mit Steuern 27 Pfennig pro Liter Diesel.
Nun geht sie über Stufen auf 57 Pfennig Steuerbelastung
pro Liter. Wer kann mir erklären, dass 57 Pfennig Steuern
besser sind als 27?
({0})
Das hätte ich gern gewusst.
Herr Kollege Hornung, ich
habe die Geschichte vorhin von Anfang an aufgedröselt.
Wir haben die Gasölbeihilfe gekürzt. Für einen großen
Teil der Betriebe wären mit dem Deckel bei der Gasölbeihilfe bei 3 000 DM nicht einmal mehr 10 Pfennig herausgekommen.
({0})
Diesen Punkt haben wir verändert. Durch den Agrardiesel
werden alle Betriebe gleichbehandelt und die wachstumswilligen und größeren Betriebe erhalten ihre Verbilligung.
({1})
Der Kollege Ronsöhr hat behauptet, wir hätten Ihre
Anregungen zur Reform der agrarsozialen Sicherung
leichtfertig vom Tisch gewischt. Ich habe den Antrag gesehen, er beinhaltet vier Forderungen. Die sind längst in
Arbeit. Wir haben dazu aufgefordert - ich habe mich bei
der Kollegin Wolf, die das Thema fachlich für uns bearbeitet, danach erkundigt; sie steht in Kontakt mit dem
Kollegen Hornung -, diese Geschichte weiter zu betreiben.
Ich komme jetzt auf den Agrardiesel und die 375 Millionen DM zurück, die wir für die Gasölverbilligung in
den Haushalt eingestellt haben. In dem Moment, in dem
wir den Agrardiesel bekommen, wird der Betrag frei und
kann gezielt in die agrarsoziale Sicherung und in die Gemeinschaftsaufgabe gesteckt werden. Hier gibt es einen
echten Zugewinn.
({2})
Eines muss aber klar sein: Bei dieser Reform der
agrarsozialen Sicherung kann es nicht angehen, dass alles
so bleibt, wie es ist, und nur mehr staatliche Knete gezahlt
wird. Ich will es noch einmal verdeutlichen: Wir bezahlen
für die Unfallversicherung 500 Millionen DM. Es kann
nicht sein, dass man immer mehr obendrauf packt und
nichts an der Struktur ändert.
Ich bin sehr gern bereit, darüber zu reden, dass wir die
so genannte alte Last an Unfallrenten - Stichtag: heute
oder dann, wenn das Gesetz in Kraft tritt - aus Staatsmitteln übernehmen - die Zahl ist berechenbar -, aber alles,
was neu hinzukommt, muss sich ohne jeglichen Zuschuss
seitens der öffentlichen Hand selber tragen. Darüber
könnten wir uns durchaus verständigen, weil damit der
Zuschuss auf längere Sicht gesehen - zunächst würde er
steigen - abnimmt. Über ein solches Modell können wir
gern im Ausschuss reden. Das ist ein hochinteressanter
und zukunftsorientierter Vorschlag zur Zusammenarbeit,
den ich Ihnen hier unterbreite.
Jetzt ist meine Redezeit bereits so weit abgelaufen,
dass ich zu dem Kollegen Heinrich außer einem nicht
mehr viel sagen kann:
({3})
Hinsichtlich der Osterweiterung und der WTO hat er all
das bestätigt, was wir hier machen und was der Minister
gesagt hat.
({4})
- Natürlich hat er bzw. sein Staatssekretär etwas dazu gesagt.
({5})
- Ja, hier und jetzt hat er nichts dazu gesagt, aber in der
Öffentlichkeit, und man kann - das wissen Sie selber und
das erlebe auch ich gerade - nicht alle Themen in so kurzer Zeit abhandeln.
Herr Kollege Weisheit, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Bundesregierung ist
auf einem guten Weg. Das zeigt der Agrarbericht. Wir
werden diesen Weg unbeirrt weitergehen.
Danke schön.
({0})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Albert Deß das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Matthias Weisheit hat einmal wieder das Märchen erzählt, dass die Kürzungen im
Agrarhaushalt deshalb notwendig seien, weil wir einen
Haushalt hinterlassen hätten, der diese Kürzungen erfordere. Nun möchte ich die entsprechenden Zahlen einmal
vortragen. Sie müssen in der Öffentlichkeit einmal genannt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch
wenn es Ihnen nicht passt:
Der Ausgabenanteil des Bundeshaushaltes am Bruttoinlandsprodukt betrug 1970, als Sie damals kurz an der
Regierung waren, 13 Prozent. Er stieg bis Ende des Jahres 1982 auf 15,4 Prozent, ohne dass eine Wiedervereinigung zu verkraften war. 1989 lag er wieder bei 13 Prozent.
1993 stieg er durch die Wiedervereinigung bedingt auf
14,5 Prozent. Theo Waigel hat seinen Haushalt mit einem
Anteil von 12 Prozent am Bruttoinlandsprodukt abgegeben.
Das Gleiche gilt für die Staatsquote: 1970 betrug die
Staatsquote in unserem Land 39,1 Prozent, am Ende Ihrer
Regierungszeit damals 50,1 Prozent. 1989 waren wir bei
45,8 Prozent, 1993 bei 50,6 Prozent und wir haben den
Haushalt mit einer Staatsquote in Höhe von 48 Prozent
übergeben. Ihr habt es im ersten Jahr eurer Regierungszeit
geschafft, dass die Staatsquote bereits wieder auf 49 Prozent gestiegen ist.
({0})
Deshalb sind diese Vorwürfe unbegründet.
Ich möchte auch noch etwas zu den Leistungen der
Landwirtschaft anmerken. Mir ist es aufgrund der begrenzten Redezeit nicht möglich gewesen, dies vorhin in
meiner Rede zu erwähnen:
({1})
Die deutsche Landwirtschaft hat mit den größten Beitrag
zur Wohlstandssteigerung in unserem Land geleistet.
({2})
1960 musste - ich kürze das jetzt ab - ein Industriearbeiter für sechs verschiedene Agrarprodukte - immer pro
Kilo gerechnet - 8,31 Stunden arbeiten, damit er diese
kaufen konnte. 1980 waren es noch 3,27 Stunden und
1999 musste er weniger als zwei Stunden für das arbeiten,
wofür er früher acht Stunden arbeiten musste.
({3})
Das heißt, die deutsche Landwirtschaft hat mit den größten Beitrag zur Wohlstandssteigerung in unserem Land
geleistet.
({4})
Herr Kollege Deß, Sie wissen, dass die Kurzintervention nicht der
Verlängerung der Redezeit dient,
({0})
sondern dass Sie auf die Argumente des Vorredners eingehen sollen.
({1})
Herr Kollege Weisheit, Sie haben jetzt die Chance, zu
erwidern.
Herr Kollege Deß, zu den
Prozentzahlen, die Sie als Beweis für den hervorragenden
Haushalt des Kollegen Waigel vorgetragen haben, sage
ich bloß noch einmal eines: Es ist richtig, dass sich die
Schulden auf 1,5 Billionen DM beliefen - die Zahl steht und dass jede vierte Steuermark für Zinszahlungen abgedrückt werden muss.
({0})
Das sind Tatsachen. Daran, dass es Konsolidierungsbedarf gab, gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
Zu Ihrer zweiten Ausführung: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie angesprochen haben, was die deutschen Bauern leisten. Der Kollege Heiderich ist auch
schon darauf eingegangen. Ich halte es allerdings für fatal, dass wir hier sagen, wie toll es ist, dass die deutschen
Bauern dafür sorgen, dass die Verbraucher weniger bezahlen müssen. Umgekehrt muss es sein. Es besteht das
Problem, dass der deutsche Verbraucher eigentlich nur
noch Ramschpreise für Ware von sehr guter Qualität
bezahlt, die mit dem Wert des Produktes im Sinne des
Wortes „preiswert“ überhaupt nichts zu tun haben.
Wenn wir endlich wieder dahin kämen, dass der Verbraucher anständige Preise für Lebensmittel bezahlt, dann
wäre manche Debatte über irgendwelche Subventionen
völlig überflüssig und man könnte sich anderen Dingen
zuwenden.
Man soll also hier nicht herausheben, wie gut es ist,
dass die Bauern den Mallorca-Urlaub durch ihre niedrigen Preise finanzieren, sondern eher darauf drängen, dass
dieser Trend umgekehrt wird, weil das, was bisher läuft,
falsch ist.
({1})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen und Überweisungen, zunächst zum Tagesordnungspunkt 4 a.
Interfraktionell wird Überweisung des Agrarberichts
2000 auf Drucksache 14/2672 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Entschließungsanträge auf Drucksachen 14/3391
und 14/3380 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun zum Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zu der
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Agrarbericht 1999 der
Bundesregierung, Drucksache 14/2198. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Agrarbericht 1999 auf Drucksachen 14/347 und
14/348 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
zu vier Entschließungsanträgen zum Agrarbericht 1999
auf Drucksache 14/2198 ab.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zum Agrarbericht 1999 auf Drucksache 14/1155 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion der CDU/CSU und Enthaltungen der Fraktionen
der F.D.P. und der PDS angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 3 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zum Agrarbericht 1999 auf Drucksache 14/1156 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 4 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zum Agrarbericht 1999 auf Drucksache 14/1157 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der F.D.P. und einiger CDU/CSU-Abgeordneter
bei Enthaltung der übrigen Abgeordneten der CDU/CSU
angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 5 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum Agrarbericht 1999 auf Drucksache 14/1158 unverändert anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zum Agrarbericht 1998 der
Bundesregierung, auf Drucksache 14/2198. Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 6 seiner Beschlussempfehlung, den Agrarbericht 1998 auf Drucksachen 13/9823
und 13/9824 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Überweisungen
im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Bevor ich diesen Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich bekannt
geben, dass die Fraktion der CDU/CSU mitgeteilt hat,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
dass sie auf die Durchführung der von ihr beantragten
Aktuellen Stunde zu dem Thema „Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen von Bundesfinanzminister
Eichel, die Rentenreform zu verschieben“ verzichtet; sie
sollte heute im Anschluss an die Ohne-Debatte-Punkte
aufgerufen werden. Ich weise vorab darauf hin, damit Sie
sich darauf einstellen können. Wenn wir das etwas früher
erfahren hätten - erlauben Sie mir den Hinweis -, hätte
man eine Aktuelle Stunde zu einem anderen Thema ansetzen können.
({0})
- Möglicherweise hätte es ein solches Verlangen gegeben,
dem man dann hätte entsprechen können. Übrigens, auch
Sie von der SPD hätten dann natürlich eine Aktuelle
Stunde beantragen können.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 h und 6
sowie die Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf:
20 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes/EWG
- Drucksache 14/3274 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 14. Dezember 1998 zur Änderung
des am 3. Dezember 1980 in Bonn unterzeich-
neten Abkommens zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und den Vereinigten Staaten
von Amerika zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Nachlass-, Erb-
schaft- und Schenkungsteuern
- Drucksache 14/3248 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Personenbeförderungsgesetzes ({2})
- Drucksache 14/2995 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3333 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
e) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Rindfleischetikettierungsgesetzes
- Drucksache 14/3369 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
f) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung produkthaftungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3371 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für. Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für. Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Verbot der Werbung für den Tabakkonsum
- Drucksache 14/3318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
h) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring
„Xenotransplantation“
- Drucksache 14/3144 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der
Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/2992 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({9})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Joachim Stüncker, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({10}), Christian Ströbele, Irmingard
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge-
rung der Besetzungsreduktion bei Strafkam-
mern
- Drucksache 14/3370 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ({11})
- Drucksache 14/3267 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Karlheinz Guttmacher, Horst Friedrich, HansMichael Goldmann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksache 14/3209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Für eine China-Resolution der VNMenschenrechtskommission
- Drucksache 14/2915 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache
14/3369 - Tagesordnungspunkt 20 e - soll zusätzlich an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 a bis
21 m und 13 sowie zum Zusatzpunkt 2. Es handelt sich um
die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 21 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
der Vierten Änderung des Übereinkommens
über den Internationalen Währungsfonds
({15})
- Drucksache 14/3075 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17})
- Drucksache 14/3346 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Leo Dautzenberg
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/3346, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der Fraktion der
PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 b:
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 19.
Dezember 1996 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und
des Königreichs Schweden zum Schengener
Durchführungsübereinkommen und zu dem
Übereinkommen vom 18. Mai 1999 über die Assoziierung der Republik Island und des Königreichs Norwegen
- Drucksache 14/3247 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18})
- Drucksache 14/3389 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Dr.Hans-Peter Uhl
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3389, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS angenommen.
({19})
Tagesordnungspunkt 21 c - Änderung des Futtermit-
telgesetzes - wird zurückgestellt.
Tagesordnungspunkte 21 d und 21 e:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({20}) zu dem Überprüfungsverfahren
des Abgeordneten Dr. Klaus Grehn gemäß § 44
b Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes ({21})
({22})
- Drucksache 14/3145 -
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({23}) zu dem Überprüfungsverfahren
nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes ({24})
({25})
- Drucksache 14/3228 Kann ich davon ausgehen, dass Sie die Berichte des
Ausschusses zur Kenntnis genommen haben? - Das ist
der Fall.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 f bis 21
m, zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 21 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 153 zu Petitionen
- Drucksache 14/3301 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 154 zu Petitionen
- Drucksache 14/3302 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -Sammelübersicht 154 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 155 zu Petitionen
- Drucksache 14/3303 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
- Drucksache 14/3304 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
- Drucksache 14/3305 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
- Drucksache 14/3306 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
- Drucksache 14/3307 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 14/3308 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 13:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 9. September 1998 zur Änderung des Europäischen Übereinkommens
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschreitende Fernsehen
- Drucksache 14/2681 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({35})
- Drucksache 14/3362 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Bertl
Bernd Neumann ({36})
Hans-Joachim Otto ({37})
Angela Marquardt
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt auf
Drucksache 14/3362, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der F.D.P.Fraktion in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Zusatzpunkt 2:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({38}) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Entsorgung polychlorier-
ter Biphenyle, polychlorierter Terphenyle sowie
halogenierter Monomethyldiphenylmethane
und zur Änderung chemikalienrechtlicher Vor-
schriften
- Drucksachen 14/3286, 14/3345 Nr. 2.1,
14/3395 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Franz Obermeier
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva-Maria Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 14/3286 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
F.D.P. bei Gegenstimmen der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) auf:
5a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Charta der Grundrechte der Europäischen
Union
- Drucksache 14/3387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({39})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Die Rechte der Bürger stärken - Für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union
- Drucksache 14/3368 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({40})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Verbindlichkeit der Europäischen Grundrechte-Charta und Beitritt der Europäischen
Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksache 14/3322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({41})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
das Wort dem Kollegen Professor Dr. Jürgen Meyer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die GrundrechteCharta der EU ist eines der spannendsten europapolitischen Themen, mit denen wir uns zurzeit beschäftigen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich bin davon überzeugt, dass die Grundrechte-Charta
mindestens dieselbe Bedeutung erlangen kann wie die
Währungsunion und die Osterweiterung.
Warum ist dies so? Das hängt mit den beiden Zielen, die
wir mit der Grundrechte-Charta verfolgen, zusammen.
Das erste Ziel ist, deutlich zu machen, dass die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft,
sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. Wenn künftig
Europäer gefragt werden: „Was macht euch denn aus, was
unterscheidet euch von Bürgerinnen und Bürgern auf anderen Kontinenten?“, dann - so hoffe ich - werden sie als
Antwort nicht nur die Brieftasche zücken und sagen: Wir
haben den Euro.
({0})
Ich hoffe, dass sie dann auch ein kleines Büchlein vorzeigen und sagen: Wir haben die Grundrechte-Charta; das ist
unsere Werteordnung.
({1})
Das ist nicht nur eine theoretische Vorstellung; vielmehr
hat dies auch eine große praktische Bedeutung.
Nach der Verkündung der Europäischen Grundrechte-Charta im Dezember in Nizza wird sich der Europäische Gerichtshof in Luxemburg bei der Interpretation
von Begriffen wie „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ nach
deren Konkretisierung durch die Grundrechte-Charta
richten. Bei der Entscheidung über die Osterweiterung der
Europäischen Union, bei der es darum geht, Länder in die
Union aufzunehmen, die Demokratien und Rechtsstaaten
sind, wird die Grundrechte-Charta wiederum eine große
Rolle spielen.
Dabei geht es nicht etwa nur darum festzustellen, ob in
dem betreffenden Kandidatenland - Sie wissen, wovon
ich spreche - die Todesstrafe abgeschafft ist, das heißt:
nicht mehr verhängt und vollstreckt werden darf, oder ob
Minderheiten respektiert werden. Es könnte auch um die
Frage gehen, ob - wie es das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe formuliert hat - ein Lebenselement der Demokratie, nämlich die Pressefreiheit, in dem Kandidatenland
gilt. Sie sehen: Das ist eine außerordentlich praktische
Fragestellung.
Das zweite Ziel, das wir mit der Grundrechte-Charta
verfolgen, ist ebenso praktisch wie handfest. Es geht darum, die wachsende Macht der EU-Organe in Brüssel
einer Kontrolle zu unterwerfen, die es bisher nicht in ausreichendem Maße gibt. Bekanntlich haben wir zur Konkretisierung der Begriffe „Demokratie“ und „Rechtsstaat“
eine reiche Rechtsprechung, zum Beispiel des Europäischen Gerichtshofs. Aber wer kennt eigentlich diese
Rechtssprechung? Ich behaupte, dass es nur wenige Juristen gibt, die die vorzüglichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs kennen. Es geht also neben der
Identität der Europäer als vorrangiges Ziel auch um so etwas wie Transparenz; es geht darum, dass die Menschen
in Europa ihre Rechte kennen und durchsetzen können.
({2})
Die praktische Bedeutung dieses Sachverhalts will ich
wiederum mit einem Beispiel belegen, wobei ich Sie,
Herr Kollege Müller, weil Sie mich so freundlich ansprechen, einbeziehe: Ich unterstelle, dass Sie einen Freund
haben, dessen Freundin sich gelegentlich mit einem Drogenhändler trifft.
({3})
Schon befinden Sie sich im Umfeld eines Drogenhändlers
mit der Folge, dass Ihre Personalien im Computer von Europol gespeichert werden. Das, Herr Kollege Müller, ist
natürlich hoch bedenklich. Ich vertraue darauf, dass Sie
Ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung,
das durch die Charta garantiert werden wird, geltend machen und sagen: Ich bin nicht damit einverstanden, dass
ich, der Abgeordnete Müller, im Computer von Europol
gespeichert bin. Zurzeit können Sie gegen eine solche Erfassung nur mit einem Beschwerdeverfahren vorgehen;
Sie können sich aber nicht an den Europäischen Gerichtshof wenden. Das müssen wir ändern, da sind Sie doch sicher derselben Meinung.
({4})
Ich will ein zweites Beispiel nennen: Ein Journalist,
der in den nordischen Ländern die Finanzierung eines
großen Straßenbauvorhabens recherchiert, kann dort zurzeit zur Straßenbaubehörde gehen und Akteneinsicht verlangen. Künftig wird ihm vielleicht gesagt werden: Das
machen wir in unserem Staat nicht mehr; vielmehr wird
dies maßgeblich in Brüssel bearbeitet. Dann geht der
Journalist zu dem zuständigen Kommissar oder seinem
Sachbearbeiter und bittet um Akteneinsicht. Daraufhin
wird ihm gesagt: Ein Informationsrecht oder gar ein Recht
auf Akteneinsicht, und dann auch noch für Journalisten,
kennen wir hier bei der EU nicht.
({5})
Ich bin der Auffassung, dass wir das ändern müssen.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Übertragung von Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die EUEbene nicht dazu führen kann, dass die Menschen in Europa weniger Rechte haben als bisher.
({6})
Als drittes Beispiel nenne ich eine Entscheidung des
Europäischen Patentamtes, die vielleicht versehentlich ergangen ist und besagt, das Klonen von Menschen mit einem bestimmten Patent schützen zu wollen. Dagegen gibt
Dr. Jürgen Meyer ({7})
es zurzeit ein Einspruchs- und Beschwerdeverfahren.
Man kann sich bei nationalstaatlichen Gerichten, also
zum Beispiel dem Bundespatentgericht, dagegen wehren.
Aber dies wirkt eben nur innerhalb des betreffenden Staates. Ich bin der Auffassung, dass dies auf EU-Ebene mit
Wirkung für alle 15 Länder möglich sein muss. Also brauchen wir zum Beispiel ein neues Grundrecht, das das Klonen von Menschen verbietet und auch die Nutzung
menschlicher Gene für gewerbliche Zwecke untersagt.
Dies muss beim Europäischen Gerichtshof durchgesetzt
werden können. Wir brauchen daher mehr Rechtsschutz.
({8})
Nun habe ich Ihnen ein paar Beispiele dafür genannt,
wie sich die Grundrechte-Charta praktisch auswirken
könnte. Ich möchte noch einen Grund nennen, warum
diese Charta ein Erfolg werden muss. Wir haben einen
Konvent, der sich am 17. Dezember vergangenen Jahres
konstituiert hat und dessen Vorsitz an diesem Tag Roman
Herzog als Beauftragter der Bundesregierung übernommen hat. Ich möchte hier gern feststellen, dass Roman
Herzog seine Aufgabe hervorragend und mit Einfühlungsvermögen, Sachverstand und Kompetenz erfüllt.
Wichtig ist aber, dass dieses Gremium zu drei Vierteln aus
Parlamentariern besteht. Jedes Mitgliedsland entsendet
zwei Parlamentarier. Für die Bundesrepublik Deutschland
sind dies - ich nehme an, er wird sich nachher noch zu
Wort melden - der Europaminister von Thüringen, Herr
Gnauck, und ich als Delegierter des Deutschen Bundestages. Dabei arbeite ich, was ich hier auch gerne vermerken
will, mit dem Kollegen Altmaier gut zusammen.
({9})
Bei je zwei Parlamentariern pro Mitgliedstaat sind also
30 nationale Parlamentarier im Konvent vertreten. Dazu
kommen 16 Europaparlamentarier. Zusammen sind dies
46 von 62 Mitgliedern des Konvents. Weitere 15 Mitglieder sind Delegierte der Regierungen der Mitgliedstaaten. Ferner wird die Kommission durch den Kommissar
Vitorino im Konvent vertreten. Demnach sind drei Viertel
der Mitglieder des Konvents Parlamentarier.
Bei diesem ganz wichtigen Experiment geht es darum,
endlich eine europapolitische Weichenstellung nicht von
Regierungen oder, ohne dass das verächtlich gemeint
wäre, von Bürokraten durchführen zu lassen, sondern von
Abgeordneten mit einer demokratischen Legitimation.
Ich bin der Auffassung, dass dieses Experiment gelingen
muss, damit Europapolitik künftig demokratischer wird.
Damit es ein Erfolg werden kann, muss dieses Gremium
eine beispielhafte Funktion entfalten, die auch Nachahmung findet.
({10})
Dabei haben wir natürlich ein Mandat zu beachten, das
uns vom Europäischen Rat in Köln erteilt worden ist. Dieses Mandat fordert, dass wir unserer Arbeit die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die dazu ergangene Rechtsprechung zugrunde legen, Bürgerrechte in die
Charta einarbeiten und unter anderem die Sozialcharta
berücksichtigen. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir die
gemeinsame Verfassungsentwicklung der Mitgliedstaaten in unserer Arbeit berücksichtigen. Das bedeutet,
dass jeder Vorschlag für die Grundrechte-Charta, der nur
aus der Sicht des nationalen Rechts erfolgt, also etwa mit
dem Tunnelblick, wie er teilweise in Deutschland geschieht, nicht überzeugen kann. Wir müssen - das ist eine
anspruchsvolle Aufgabe - Verfassungsrechtsvergleiche
versuchen und dabei nicht nur dieVerfassungs-, die Grundrechtslage in den 15 Mitgliedsländern, sondern auch die
Verfassungen der fünf neuen Bundesländer berücksichtigen. Darüber hinaus müssen wir auch - sonst wäre die Anhörung der Kandidatenländer eine Farce - die zum Teil
hervorragenden neuen Verfassungen der Kandidatenländer berücksichtigen.
({11})
Ich weise etwa auf die sehr gute und überzeugende Verfassung von Polen hin. Diese Aufgabe stellt sich jetzt.
Deshalb bin ich froh, hier und heute eine Art Werkstattbericht geben zu können.
Wer hätte eigentlich gedacht, dass sich diese Angelegenheit in den letzten Wochen und Monaten dieses Jahres
so zügig entwickeln würde? Als ich vor fünf Jahren als
Abgeordneter das Thema Grundrechte-Charta zur Sprache brachte, sprach ich von einer Vision für Europa. Einige mögen gedacht haben, dass das wohl eher eine Träumerei sei. Jetzt reden wir über von uns abgegebene
Werkstattberichte. Ich bin der Auffassung, dass der politische Durchbruch zur EU-Grundrechte-Charta unter der
deutschen Präsidentschaft in Köln durch die rot-grüne
Bundesregierung erzielt worden ist. Ich denke, auch die
Kolleginnen und Kollegen der Opposition sollten so fair
sein und die Größe haben anzuerkennen, dass dieses
insbesondere ein Verdienst der Justizministerin Frau
Dr. Däubler-Gmelin ist, die den Kölner Gipfel engagiert
vorbereitet hat, und von Bundeskanzler Gerhard
Schröder, der diesen Erfolg in Köln ermöglicht hat. Das
sollten Sie alle anerkennen.
({12})
Es ist ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung.
Die Grundrechte-Charta wird aus drei großen Abschnitten bestehen. Der erste Abschnitt, der die klassischen Grundrechte enthält, ist nach der ersten Lesung in
der vorletzten Woche mit Formulierungsvorschlägen des
Präsidiums des Konvents zu 29 Artikeln abgeschlossen
worden. Ich werde dazu - hoffentlich auch mit Ihrer Unterstützung - eine Reihe von Änderungsvorschlägen einbringen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir alle der Meinung sind, dass zum Beispiel die Kunstfreiheit und die
Freiheit von Forschung und Lehre in die GrundrechteCharta gehören.
({13})
Dr. Jürgen Meyer ({14})
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es als selbstverständlich empfinden, dass die Gleichstellung von Frauen nicht
nur durch eine Diskriminierungsklausel verankert wird,
sondern durch ein Gleichstellungsgebot verankert werden
muss. Über diesen Punkt hat sich der Konvent nach meinem Eindruck schon geeinigt.
({15})
Ich bin froh darüber, dass entsprechend einem Vorschlag,
den ich schon vor fünf Jahren in einem Diskussionsentwurf unterbreitet habe, die Garantie der Unverletzlichkeit
der Menschenwürde an die Spitze dieser klassischen
Grundrechte gestellt werden wird.
({16})
Ich will jetzt über den zweiten Abschnitt, die Bürgerrechte, bei denen es zum Beispiel um das Wahlrecht geht,
aus Zeitgründen nichts sagen, sondern mich in der verbleibendenZeitdemstrittigenKapiteldersozialenGrundrechte zuwenden. Hier geht es nach meiner Überzeugung
um das europäische Modell, das heißt, wir müssen deutlich machen, dass sich die Europäische Union im Grundrechtsbereich nicht nur auf Abwehrrechte beschränkt,
sondern entsprechend der Verfassungsentwicklung im 20.
Jahrhundert in Deutschland auch Teilhaberechte vorsieht.
Gegen diese sozialen Grundrechte wird häufig eingewandt, speziell von sozialdemokratischer Seite werde
versucht, so etwas wie ein Recht auf Arbeit durchzusetzen, was so viel wie ein individuell einklagbares Recht auf
einen Arbeitsplatz bedeute. Das ist abwegig.
Das Recht auf Arbeit, das zum Beispiel in den Verfassungen der neuen Bundesländer und auch in den Verfassungen etlicher Mitgliedstaaten der EU garantiert ist, hat
einen anderen, viel handfesteren und konkreteren Inhalt.
Beim Recht auf Arbeit geht es um Respektieren, Schützen
und Fördern.
Respektieren heißt, es darf keine Arbeitsverbote geben.
Das hat zum Beispiel der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung zum Waffendienst von Frauen in der
Bundeswehr anerkannt. Dort ging es nicht nur - aber
selbstverständlich auch - um Gleichstellung, sondern
auch um die Ablehnung pauschaler Arbeitsverbote.
Schützen bedeutet - das ist das europäische Modell -,
es darf in der Europäischen Union keine willkürlichen
und sozial unverträglichen Kündigungen geben; das beinhaltet also genau das Gegenteil dessen, was das
amerikanische Modell „hire and fire“ in diesem Bereich
vorsieht. Es geht also um den Schutz von Arbeitsplätzen.
Herr Kollege Professor Meyer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel?
Ja, gerne.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege, Sie haben gerade
gesagt, es dürfe keine Arbeitsverbote geben. Ich unterstütze Sie darin. Wie erklären Sie aber, dass im März dieses Jahres der Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion auf
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht unter anderem
auch von Ihrer Koalition abgelehnt worden ist? Wie erklären Sie die Tatsache, dass der so genannte Clever-Erlass, der Asylbewerbern, die seit dem Mai 1997 eingereist
sind, die Arbeitserlaubnis und damit die Aufnahme einer
Arbeit grundsätzlich verwehrt, immer noch nicht abgeschafft worden ist, obwohl bereits viele Landessozialgerichte diesen als rechtwidrig erachtet haben?
Ich will Ihnen auf
diese Frage ganz freimütig antworten. Ich habe in Erinnerung, dass Ihr Entwurf auch wegen gewisser handwerklicher Mängel abgelehnt worden ist. Um es mir nicht zu
einfach zu machen, will ich gleich hinzufügen: Das Recht
auf Arbeit ist gemäß meinen Vorstellungen ein Menschenrecht. Deshalb muss man Arbeitsverbote ausschließen. Ich persönlich bin daher der Auffassung, dass
wir über die Frage von Arbeitsverboten für Asylbewerber
sehr kritisch diskutieren und eventuell neu entscheiden
müssen. Das ist meine klare Antwort.
({0})
Zum Recht auf Arbeit gehört schließlich die Förderung
der privaten oder öffentlichen Arbeitsvermittlung. Es geht
also um ganz handfeste Rechte.
Ich stelle mir vor, dass im Rahmen der Gewährung von
sozialen Grundrechten auch das Recht auf Bildung garantiert werden muss. Es wird manchmal eingewandt, es
gebe hierfür keine EU-Kompetenz. Richtig ist, dass durch
die Charta keine einzige neue Kompetenz begründet werden darf. Wenn man aber in den Amsterdamer Vertrag hineinschaut, dann findet man die Art. 149 und 150 des EGVertrages. Dort ist eine Teilkompetenz der EU hinsichtlich des Rechts auf Bildung festgeschrieben. Es gibt
bereits entsprechende Programme, etwa das Programm
„Socrates“. Zu behaupten, ein Recht auf Bildung könne
nicht geschaffen werden, weil es im Bereich Bildung
keine Kompetenz der EU gebe, ist nicht richtig.
({1})
- Herr Kollege Müller, über die Frage der Anwendung des
Subsidiaritätsprinzips können wir gerne an anderer Stelle
reden. Dieses Thema wurde schon in vielen Ausschusssitzungen erörtert.
({2})
Ich will zum Schluss noch meine Vorstellungen vortragen, wie man den offenen Konflikt bezüglich der sozialen
Grundrechte lösen kann. Dazu gibt es drei Lösungsmöglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist zu sagen, der
Dr. Jürgen Meyer ({3})
Artikel, der die Menschenwürde garantiert, reicht eigentlich aus. Daraus haben der Bundesgerichtshof und das
Bundesverfassungsgericht seit 1949 soziale Grundrechte
abgeleitet. Vielleicht kann man noch Selbstverständlichkeiten wie etwa das in der Sozialcharta enthaltene Recht
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Information und Anhörung, sofern es um Arbeitsbedingungen
oder um geplante Massenentlassungen geht, hinzufügen.
Diese Möglichkeit wird aber erstens dem Auftrag des
Europäischen Rates nicht gerecht. Zweitens wird dadurch
die Entwicklung sozialer Grundrechte auf die nächsten
50 Jahre verschoben, weil sie dem Europäischen Gerichtshof überantwortet werden würde. Drittens wäre das
ein Zufallsverfahren; denn der Europäische Gerichtshof
kann nur entscheiden, wenn ihm etwas vorgelegt wird. Er
kann außerdem nur fallbezogen entscheiden und keine
Grundrechte-Charta entwickeln.
Die zweite Lösungsmöglichkeit ist - das ist das andere
Extrem -, alle überhaupt vorstellbaren sozialen Grundrechte in die Charta aufzunehmen, aber keines rechtsverbindlich auszugestalten. Ich bin sehr froh, dass die
Bundesregierung mehrfach erklärt hat: Wir wollen nur
Grundrechte aufnehmen, das heißt: einklagbare Rechte,
({4})
sonst endet das ganze Unternehmen in einer großen Enttäuschung wie bei der Weimarer Reichsverfassung. Sie
beinhaltete auch einen umfangreichen Grundrechtekatalog, aber kein einklagbares Grundrecht.
Mein Lösungsvorschlag, den ich auch im Konvent eingebracht habe, lautet, ein drittes Modell, ein Dreisäulenmodell, durchzusetzen. Die erste Säule ist die Anerkennung - der können auch Sie sich nicht verschließen - nicht
nur des Grundwertes, sondern auch des Rechtsgrundsatzes der Solidarität. Dieser Rechtsgrundsatz wird in die
Präambel oder an einer anderen geeigneten Stelle aufgenommen. Daraus lassen sich alle sozialen Grundrechte
ableiten.
Die zweite Säule sollen soziale Grundrechte sein, von
denen ich einige nannte, auf die man sich nach meinem
Eindruck durchaus verständigen kann. Dazu gehört zum
Beispiel auch der Anspruch auf Zugang zu sozialen
Dienstleistungen, wie von etlichen Sozialverbänden gefordert.
Die dritte Säule soll eine dynamische sein. Dabei soll
vonderTatsacheausgegangenwerden,dass sozialeGrundrechte sich in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung befinden. Ich nenne etwa die Sozialcharta, die
ratifiziert ist. Aber die revidierte Sozialcharta ist leider
noch nicht ratifiziert. Ich fordere die Bundesregierung
auf, das Verfahren einzuleiten, um die revidierte Sozialcharta zu ratifizieren.
Der Konvent kann die Entwicklung künftiger sozialer
Grundrechte nicht abblocken; es sollte vielmehr ein Artikel in die Grundrechte-Charta etwa mit folgendem Inhalt
eingefügt werden: Die sozialen Grundrechte, die durch
Konventionen anerkannt sind, denen sich die Mitgliedsländer angeschlossen haben, werden bei der Interpretation
und Durchsetzung der einzelnen Artikel der Charta beachtet.
Ich hoffe sehr, mit diesem Vorschlag dazu beitragen zu
können, das Haupthindernis für einen Erfolg der Arbeit
gerade im Bereich sozialer Grundrechte zu beseitigen. Ich
bitte um Unterstützung und ich bitte Sie alle, die öffentliche Diskussion so positiv und so engagiert mit den Delegierten des Konvents zu führen, dass wir am Ende sagen
können: Dieses ist eine Grundrechtscharta und sie ist das
europäische Modell.
Ich bedanke mich.
({5})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Altmaier
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Erarbeitung der Grundrechtscharta ist in der Tat ein
wichtiger, ein großer, ja auch ein historischer Schritt auf
dem Weg zur europäischen Integration.
({0})
Sie kann zu dem grundlegenden Dokument der Europäischen Union werden, das mehr über die Zusammengehörigkeit, die Identität und das Selbstverständnis der
Europäer aussagt als alle bisherigen Verträge und Protokollnotizen zusammen. Sie kann aber auch, falls sie scheitert, weil sie überladen wird mit unrealistischen Forderungen, mit ideologisch motivierten Vorschlägen, falls sie
missbraucht wird für innerstaatliche Debatten und Streitigkeiten, zum weithin sichtbaren Dokument unserer Unfähigkeit werden, in Europa Wichtiges von Unwichtigem
zu unterscheiden und das Viele, das uns in Europa gemeinsam ist, vor das Wenige zu stellen, das uns in Europa
trennt.
Meine Damen und Herren, ich möchte deshalb zu Beginn der Debatte sagen: Das Projekt dieser Grundrechtscharta ist ein gemeinsames Projekt aller demokratischen
Fraktionen in diesem Haus. Es ist kein rot-grünes Projekt
in erster Linie, es ist auch kein exklusives Projekt der
CDU/CSU. Wir haben uns seit vielen Jahren gemeinsam
für dieses Projekt eingesetzt und wir haben die gemeinsame Verantwortung, dieses Projekt durch unsere Arbeit
in diesem Haus und im Konvent in Brüssel auch zum Erfolg zu führen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Europäische Union
steht am Beginn des neuen Jahrhunderts vor tief greifenden inneren Reformen. Die Regierungskonferenz und der
Vertrag von Nizza mit der Herstellung der Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union, die Erweiterung der
Europäischen Union in den nächsten Jahren auf bis zu 30
Mitgliedstaaten mit Folgen für die Struktur der Europäischen Union, die kein Mensch abschätzen kann - all das
macht deutlich, dass die Europäische Union am Beginn
Dr. Jürgen Meyer ({2})
einer gänzlich neuen Phase ihrer Entwicklung steht. Deshalb ist die mit Abstand wichtigste Funktion dieser
Charta, dass sie rechtzeitig vor Beginn dieses Prozesses,
von dem niemand weiß, wohin er uns führen wird, deutlich macht, dass die Europäische Union viel mehr ist als
nur ein großer Binnenmarkt mit freiem Waren-, Güterund Dienstleistungsverkehr,
({3})
dass sie in erster Linie und vor allem eine Wertegemeinschaft ist und dass es diese Wertegemeinschaft ist, die uns
in Europa und weltweit unterscheidbar und erkennbar
macht.
({4})
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft.
Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit, das sind nicht irgendwelche, sondern die entscheidenden Grundsätze, das Fundament, auf dem die Europäische Union beruht. Dieses Fundament ist über Jahrhunderte gewachsen. Herr Kollege Meyer, Sie sind ja
Staatsrechtler. Sie wissen, dass die Ursprünge weit zurückreichen. Die griechische Polis, wo man erkannt hat,
dass gemeinsame Angelegenheiten gemeinsam geregelt
werden müssen, die englische Magna Charta von 1215,
wo man erkannt hat, dass staatliche Macht immer auch der
Begrenzung bedarf, die Französische Revolution und ihre
großen Prinzipien der Gleichheit, der Freiheit und der Solidarität, die Paulskirchen-Versammlung von 1848, das
deutsche Grundgesetz von 1949, die friedliche Revolution in Osteuropa - das alles zeigt, dass wir in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Tradition im
Hinblick auf Menschenrechte, Demokratie und
Grundfreiheiten haben, die unglaublich reich und verschiedenartig ist und die sich so in keinem anderen Teil
der Welt findet.
({5})
Zu diesem gemeinsamen Erbe gehören dann auch die
schrecklichen Erfahrungen mit totalitären Ideologien, mit
dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, beides Ideologien, die in Europa entstanden sind, die in Europa aber auch wieder überwunden worden sind.
Ich meine, man kann mit Fug und Recht davon sprechen, dass sich als Ergebnis dieser jahrhundertelangen Erfahrungen ein europäisches Menschenbild entwickelt
hat, das auf der christlichen Anthropologie und der Tradition der Aufklärung fußt und das die entscheidenden Wurzeln unseres modernen Grund- und Menschenrechtsverständnisses darstellt.
Wenn die Erweiterung der EU, der Beitritt neuer Staaten mit all der begrüßenswerten Unterschiedlichkeit und
Verschiedenartigkeit, die er zur Folge hat, nicht zur Beliebigkeit führen soll, wenn an die Stelle innerer Überzeugung kein reiner Positivismus treten soll, dann müssen
wir den Mut haben, uns zu diesem europäischen Menschenbild in der Grundrechtscharta an entscheidender und
zentraler Stelle zu bekennen. Lieber Herr Kollege Meyer,
wir arbeiten im Grundrechtskonvent in Brüssel sehr gut
zusammen. Bitte helfen Sie mit, dass wir es in Brüssel
schaffen, dieses Bekenntnis zum europäischen Menschenbild in der Grundrechtscharta deutlich und klar zu
verankern.
({6})
Es ist in der Tat so, dass gerade in der jetzigen Zeit, in
der die Unteilbarkeit und die Universalität der Menschenrechte weltweit zunehmend anerkannt, aber leider Gottes
nicht weltweit durchgesetzt werden, von dieser Charta
eine Signalwirkung für Demokratie- und Menschenrechtsbewegungen in der ganzen Welt ausgehen kann.
Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir in der Grundrechtscharta an prominenter Stelle auch das Verbot der
Todesstrafe, der Folter und der erniedrigenden Behandlung zum Ausdruck bringen, selbst wenn die Gefahr, dass
die Europäische Union dagegen verstößt, eher als gering
einzuschätzen ist. Aber wir gäben damit ein Zeichen, das
weit über die Europäische Union hinauswirkt.
Die Charta hat allerdings - das ist ein ganz wichtiger
Punkt - nicht nur einen hohen Symbolgehalt, nicht nur
eine hohe grundsätzliche Bedeutung; sie wird auch ganz
konkret etwas im Verhältnis der europäischen Bürger zur
Europäischen Union und ihrer Politik ändern. Der erste
und wichtigste Punkt ist, dass die Charta die Akzeptanz
und die Legitimation des Handelns der Europäischen
Union erhöhen kann, ja sogar erhöhen muss. Wir haben
doch das Problem, dass sich viele Bürger, denen man
schnell und voreilig Euro-Skeptizismus oder antieuropäische Haltung vorwirft, dem, was aus Brüssel kommt,
egal ob es berechtigt oder unberechtigt, gut oder schlecht
ist, zum Teil hilf- und schutzlos ausgeliefert fühlen. Die
europäischen Bürger haben weder die Möglichkeit, auf
die Politik des Europäischen Rates einzuwirken, noch haben sie die Möglichkeit, auf die Politik der Europäischen
Kommission einzuwirken. Auch die Wahl zum Europäischen Parlament ändert wenig an europäischer Agrarpolitik oder europäischer Verkehrspolitik.
({7})
Deshalb müssen wir deutlich machen, dass gerade in
einer Zeit, in der die Europäische Union immer stärker
Handlungskompetenzen in Anspruch nimmt, in der die
Zahl der Verordnungen und Richtlinien zunimmt, die Organe der Europäischen Union - Kommission, Parlament,
Ministerrat - die Umsetzung von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen an den gleichen strengen Maßstäben messen müssen, wie dies nach den Maßstäben des
Grundgesetzes für das Handeln der nationalen Institutionen seit jeher geschieht.
Nun wird man einwenden können, dass wir seit vielen
Jahren im Rahmen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und durch Art. 6 des EU-Vertrages einen europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz haben. Nach meiner Kenntnis aber ist es so - die
frühere Justizministerin wird dies bestätigen können -,
dass bis heute keine einzige europäische Verordnung und
keine einzige europäische Richtlinie wegen eines Verstoßes gegen Grund- oder Menschenrechte aufgehoben
worden sind. In der gleichen Zeit gab es in Karlsruhe Dutzende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts,
durch die Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers aufgehoben worden sind. Ebenso verhält es sich in Frankreich und den anderen Mitgliedstaaten. Ich glaube allerdings nicht, dass die europäischen Organe unfehlbar sind.
Ich glaube, dass bislang in der Europäischen Union die
Dimension des Grund- und Menschenrechtsschutzes zu
kurz gekommen und unterschätzt worden ist.
({8})
Deshalb müssen wir die Europäische Union in diesem Bereich vom Kopf auf die Füße stellen. Dazu kann die Europäische Grundrechte-Charta einen wichtigen Beitrag
leisten.
({9})
Das ist im Übrigen nicht antieuropäisch und nicht euroskeptisch, sondern der demokratische Normalfall.
Die Erarbeitung einer europäischen Grundrechtscharta
ist das erste große europäische Projekt, das nicht einfach
nur in Form einer Einbahnstraße zu einer neuen Kompetenzerweiterung der Europäischen Union führt - das tut es
gerade nicht -, sondern dazu, dass die vorhandenen Kompetenzen effektiver kontrolliert und begrenzt werden können. Auch dies ist im Fortgang der europäischen Integration ein ganz wichtiges Ereignis. Wir müssen deutlich
machen, dass die Ausübung europäischer Gewalt auch auf
der anonymen Brüsseler Ebene kontrollierbar und beherrschbar ist.
Deshalb ist die Grundrechtscharta der erste Schritt zu
einer weiterführenden Diskussion über eine grundsätzliche Kompetenzabgrenzung in der Europäischen Union im
Rahmen der Frage: Was wollen wir in Zukunft auf der
Ebene der Mitgliedstaaten und was wollen wir auf der
Ebene der Europäischen Union regeln? Das wird nicht in
dieser Charta entschieden. Aber von ihr geht der Anstoß
aus, dieses Thema im Rahmen der Regierungskonferenz
anzugehen und dann hoffentlich auch entsprechende Fortschritte zu erreichen.
Meine Damen und Herren, entscheidend für das Zustandekommen der Charta ist allerdings nicht nur die gute
Absicht der Beteiligten, sondern auch ihr Inhalt. Ich
stimme Herrn Meyer zu, dass es ganz entscheidend darauf
ankommt, dass wir die Achtung und den Schutz der Menschenwürde, die für unser christlich geprägtes Grund- und
Menschenrechtsverständnis zentral ist, an prominenter
Stelle in der Grundrechtscharta verankern.
({10})
und dass wir zu den neuen Technologien im Bereich des
Klonens bzw. der Bio- und Gentechnologie eine Aussage
treffen.
Erlauben Sie mir an diesem Punkt folgende Bemerkung: Vor der letzten Bundestagswahl waren wir schon
einmal so weit, dass wir fast dem europäischen Biomedizinübereinkommen beigetreten wären. Ich habe dazu von
der neuen Koalition noch keine Aussagen gehört, wie sie
mit diesem Projekt umgehen will. Wenn man den Entwicklungen in diesen Bereichen eine entsprechende Bedeutung beimisst, dann muss man sich der Diskussion
stellen, wie sie im Rahmen des Europarates seit vielen
Jahren stattfindet, und muss in diesem Haus eine Entscheidung über einen Beitritt zu dieser Konvention herbeiführen.
({11})
Ich halte es für wichtig, dass wir die klassischen Freiheits- und Verfahrensrechte als Rechte der europäischen
Bürger, die im Sinne der Abwehr und der Kontrolle des
hoheitlichen Handelns der Europäischen Union zu verstehen sind, in den Mittelpunkt der Charta stellen. Ich
glaube, dass die klassischen Grundrechte gerade in der
heutigen Zeit, in der es fast nur noch auf Effizienz und
Schnelligkeit ankommt, vor einer Renaissance stehen.
Herr Kollege Altmaier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der PDS-Fraktion?
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie haben gerade
sehr vehement dafür plädiert, dass die Bundesrepublik die
Bioethik-Konvention ratifizieren soll. Diese ist ja zur
Täuschung der Öffentlichkeit in „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ umbenannt worden. Wollen
Sie allen Ernstes, dass wir die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen erlauben, oder sind Sie nicht
auch der Meinung, dass die in der Bundesrepublik
Deutschland bestehenden Gesetze geeignet sind, davor zu
schützen, und dass eine Verabschiedung von Gesetzen,
die wir noch benötigen, um einen größeren Schutz zu organisieren, auch ohne den Beitritt zu dieser Konvention
im nationalstaatlichen Rahmen möglich ist?
Herr Kollege, ich war in
der letzten Wahlperiode Berichterstatter meiner Fraktion
zu diesem Thema. Ich kann Ihnen sagen, dass ein Beitritt
zur Europäischen Bioethik-Konvention keine einzige
weitergehende gesetzliche Bestimmung in Deutschland
außer Kraft setzen wird.
({0})
Aber ich weiß natürlich, dass es in diesem Hohen Haus
unterschiedliche Auffassungen über die Wünschbarkeit
eines Beitritts zu dieser Konvention gibt. Wir hatten in der
letzten Wahlperiode auch vereinbart, dass es in dieser
Frage keinen Fraktionszwang geben wird. Niemand soll
gegen seinen Willen gezwungen werden, eine andere Auffassung zu vertreten. Nur glaube ich, dass wir diese Entscheidung hier einmal treffen müssen und dass wir sie
nicht auf die lange Bank schieben dürfen, während überall in Europa und in der Welt die technischen Entwicklungen in diesem Bereich weitergehen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir uns
im Zusammenhang mit der Grundrechtscharta auch einem Problem stellen müssen, das bislang erstaunlich
wenig diskutiert worden ist: dem Problem der Vertreibung und des Schutzes von Minderheiten in Europa.
Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vertreibungen und der Nichtachtung von Minderheitenrechten,
und zwar nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern bis
hinein in die jüngste Zeit. Denken Sie zum Beispiel an
die Ereignisse auf dem Balkan, im Kosovo und in
Bosnien-Herzegowina. Die Grundrechtscharta wäre deshalb meiner Meinung nach unglaubwürdig, wenn sie sich
mit allen möglichen Grundrechten beschäftigte - von Bildung über Mutterschutz bis hin zu anderen Fragen -, das
zentrale Problem der Vertreibung und des Minderheitenschutzes aber außen vor ließe.
Mein Eindruck ist, dass es in Brüssel Unterstützung für
diesen Standpunkt gibt. Ich möchte Sie, Herr Kollege
Meyer, bitten, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen,
dass eine entsprechende Vorschrift, für die es in Texten
der Vereinten Nationen Vorbilder gibt, in die Grundrechtscharta aufgenommen wird.
Wir müssen uns auch der Frage stellen, wie wir das
Asylrecht auf europäischer Ebene regeln können. Wenn
wir ehrlich sind, werden wir das nationale deutsche
Asylrecht nicht in dieser Form in die Grundrechtscharta
aufnehmen können. Wir werden aber in einem europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
unter strikter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention eine Institutsgarantie zustande bringen können.
Es gehört zur Ehrlichkeit, dies auch unseren innerstaatlichen Gesprächspartnern zu sagen; denn zu der Fähigkeit
und der Bereitschaft, eine solche Grundrechtscharta zu
formulieren, gehören auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Kompromiss.
Lassen Sie mich zu den sozialen Grundrechten noch einige Sätze anführen. Niemand in diesem Haus ist dagegen, das soziale Modell, das in Europa entwickelt worden
ist, auf das wir in Deutschland und auf das auch unsere
Nachbarstaaten stolz sind, in der Grundrechtscharta festzuschreiben. Was wir jedoch nicht wollen, ist, dass durch
die Aufnahme eines großen Bauchladens an sozialen
Grundrechten Erwartungen geweckt werden, die entweder nicht zu erfüllen sind, weil wir den Menschen mit allgemeinen Programmsätzen Steine statt Brot geben, oder
die dazu führen, dass auf dem Umweg über die Grundrechtscharta in einem Bereich, in dem die Europäische
Union bislang keine Zuständigkeiten hat, neue Handlungspflichten der Mitgliedstaaten begründet werden.
({2})
Ich glaube, wir sollten den Menschen ehrlich sagen:
Diese Europäische Union ist eine sozial verantwortliche
Union. Aber die Grundentscheidungen über die Ausgestaltung des Systems der sozialen Sicherheit werden auf
der Ebene der Mitgliedstaaten getroffen. Sie sind doch
noch nicht einmal auf der Ebene der Bundesrepublik imstande, die anstehende Rentenerhöhung so vorzunehmen,
wie es gesetzlich über viele Jahre vorgesehen war. Wir
sollten daher nicht der Versuchung erliegen, auf europäischer Ebene große Erwartungen zu erwecken, die wir
nicht erfüllen können.
({3})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Die europäische Grundrechtscharta muss nicht nur den
hohen Erwartungen an ihren Inhalt gerecht werden. Wir
müssen auch versuchen, sie so klar, einfach und überzeugend zu formulieren, dass sie von den Bürgern gelesen
und verstanden werden kann. Ich glaube, dies ist genauso
wichtig wie die Verbürgung der einzelnen Grundrechte.
Die europäische Integration schreitet immer mehr
voran. Sie wird für die Bürger immer wichtiger. Gleichzeitig ist sie immer schwieriger zu verstehen. Auch für die
Lehrer in den Schulen wird es schwieriger, sie zu erklären. Ich habe aus meiner Schulzeit eine Stelle im deutschen Grundgesetz behalten:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
Wenn wir es schaffen würden, in der Europäischen
Grundrechte-Charta einen einzigen solchen Satz zu verankern, der in Zukunft von Nord bis Süd und von West bis
Ost unsere gemeinsame Identität in Europa zum Ausdruck
bringt, dann hätten wir unseren Auftrag bei der Erarbeitung dieser Grundrechtscharta erfüllt. Allein deswegen
lohnt es sich, an diesem Ziel mitzuarbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Claudia Roth von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa braucht dringend einen verfassungsgebenden Prozess, weil es im wahrsten Sinne des Wortes in schlechter
Verfassung ist. Eine Grundrechtscharta als Teil dieses
Prozesses kann Mittel sein, mit dem man Europa das geben kann, was es kaum hat: das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Bürgernähe erreicht man nur, wenn die
Menschen wissen, warum sie dieses Europa überhaupt
wollen sollen, wenn Europa nicht mehr nur Konsumenten
und Produzenten kennt, sondern Bürgerinnen und Bürger
mit Rechten und Pflichten, wenn Europa endlich ein bürgerrechtliches Fundament bekommt und die Menschen so
etwas wie eine europäische Demokratiedividende erleben.
Die Grundrechtscharta ist ein zentrales Projekt der notwendigen Demokratisierung und Politisierung Europas.
Bei der Gründung der Gemeinschaft standen politische
und wirtschaftliche Ziele nebeneinander; heute ist das
wirtschaftliche Europa, die Wirtschafts- und Währungsunion, der Goliath und das politische Europa steht
als kleiner David daneben. Eine Grundrechtscharta kann
endlich wieder ein Gleichgewicht schaffen. Sie kann im
besten Sinne identitätsstiftend sein, was der Euro nicht
schafft - da gebe ich Herrn Meyer Recht - und auch der
freie Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungen
nie und nimmer schaffen wird.
Voraussetzung für den Erfolg sind aber europaweite
Diskussionsprozesse. Ich begrüße ausdrücklich die große
Repräsentanz von Parlamentariern und Parlamentarierinnen im Konvent und ich begrüße den Versuch des Konvents, dazu beizutragen, dass auch die Zivilgesellschaft
zu Wort kommt, dass Nichtregierungsorganisationen in
diese Debatte einbezogen und mit beteiligt werden. Denn
das ist eine Voraussetzung für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit.
Eine Charta, die der Kern der Rechtsstaatlichkeit in
Europa sein soll, kann nicht von oben verordnet werden.
Sie muss von unten mit entstehen. Damit nähern wir uns
langsam dem, was Demokratie auch in Europa, was europäische Demokratie auszeichnet: Partizipation, was bislang ein Fremdwort in der Europäischen Union ist.
Ich würde mir aber sehr wünschen, dass in diesen europäischen Aneignungsprozess sehr viel mehr als bisher
auch die Beitrittsländer einbezogen werden; denn es ist
ihre und unsere gemeinsame Zukunft, die gebaut wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es richtig ist,
dass man nur einigen kann, was schon eine innere Einheit
besitzt, dann wirft das die Frage auf, was die Einheit Europas eigentlich ist. Wir sind nicht ein Volk; wir haben
nicht dieselbe ethnische Herkunft. Wir sprechen nicht dieselbe Sprache. Wir haben nicht eine einzige Kultur und
wir haben auch nicht nur das christliche Wertebewusstsein. Unsere Geschichte ist vom Krieg gegeneinander gezeichnet. Aufgrund unscharfer Grenzen können wir Europa noch nicht einmal als geographische Einheit klar erkennen. Was also verbindet uns? Was ermöglicht es uns
zusammenzuleben? Die Antwort mag banal erscheinen:
Es ist der größte Reichtum, den wir gemeinsam haben:
Demokratie und Menschenrechte. Das macht die Einheit
Europas aus. Was immer Fragwürdiges von diesem Kontinent ausgegangen ist: Demokratie und Menschenrechte
sind eine Botschaft dieses Kontinents, die unbestreitbar
globale Gültigkeit hat. Nach dem 20. Jahrhundert, dem
Jahrhundert der Schrecken und der ultimativen Verbrechen, ist der moralische Imperativ dieses Kontinents: Die
Würde des Menschen ist unantastbar.
Ich zitiere:
Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind
europäisches Gemeingut.
Diese Erkenntnis des Philosophen Ortega y Gasset hat
Roman Herzog in einer Rede vor dem Europäischen
Parlament 1995 vorgetragen. Jetzt müssen Roman
Herzogs Elan, auch seine Erfahrung und bayerische Beharrlichkeit dazu beitragen, dass aus der GrundrechteCharta etwas anderes wird als ein neuer Stoß Papier auf
dem Berg von Resolutionen und feierlichen Erklärungen,
die es in Europa schon gibt.
Unsere Kollegen Herr Meyer und Herr Altmaier, denen
ich für ihr Engagement ausdrücklich danke, sowie natürlich die Bundesregierung werden mithelfen müssen, damit aus dem gemeinsamen rechtlichen Fundus Europas
ein rechtliches Fundament wird. Denn europäische Demokratie ergibt sich eben nicht automatisch aus der Addition von 15 Demokratien; sie funktioniert nicht nach
Adam Riese. Sie funktioniert nur dann, wenn man den
Menschen Rechte gibt.
Es genügt eben nicht, dass alle Mitgliedsländer der Europäischen Union der Menschenrechtskonvention beigetreten sind - die Europäische Union aber nicht. Es kann
nicht länger normal sein, dass EU-Recht nationales Recht
bricht, ohne dass die Union selber eine klare und umfassende Grundrechtsordnung besitzt.
Es muss beunruhigen, wenn im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik, im Bereich der Biowissenschaften - die unser Leben und unseren Begriff
vom Menschen mehr verändern werden als alle Revolutionen zuvor - neue Grundrechtskonflikte aufbrechen,
ohne dass Europa darauf mit einem Grundrechtskonsens
eine Antwort findet. Schon heute werden technische, werden moralische Grenzen überschritten, die bislang als stabil galten. Wir brauchen einen europäischen menschenrechtlichen Schutzstandard; denn nicht alles, was möglich
ist, darf möglich sein.
Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass in hochsensiblen Bereichen der Europäischen Union - wie in der
dritten Säule, der Polizei- und Justizkooperation,
oder in der zweiten Säule, der Außen- und Sicherheitspolitik - die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle
und damit die Garantie des Grundrechtsschutzes faktisch
ausgehöhlt sind. Die Europäische Union ist so lange unvollständig, wie zwar die Herrschaft des Rechts und die
Macht der Institutionen wachsen, nicht aber im selben
Ausmaße die Abwehr- und Freiheitsrechte und der
Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger. Und: Es dürfen keine Rechte versprochen werden, ohne dass sie für
die Bürgerinnen und Bürger Recht werden. Rechtsverbindlichkeit und der Zugang zu den Gerichtshöfen sind
mit Grund- und Menschenrechten untrennbar verbunden.
Gleiches gilt für die Unteilbarkeit der Grundrechte.
Alle Politikbereiche, alle Institutionen und Organe der
Europäischen Union müssen dieser Grundrechtscharta
unterliegen; sonst bliebe sie Makulatur und Proklamation.
Die Grundrechtscharta wird ihren Namen nur dann mit
Recht tragen, wenn ihre Bestimmungen, anders etwa als
die der Weimarer Reichsverfassung, gerichtlich einklagbar sind für alle, die in der Europäischen Union leben also keine neuen Mauern, keine Hierarchisierung von
Menschen in Bürger erster, zweiter oder dritter Klasse.
Der Konvent hat schon einige wegweisende Formulierungsvorschläge erarbeitet. Einzelne Aspekte wurden jedoch noch gar nicht oder nur unbefriedigend bearbeitet.
Wir sehen deshalb Nachbesserungsbedarf und drängen
auf substanzielle Ergebnisse. Wir wollen, dass neue
Grundrechte kodifiziert werden, und zwar im Bereich der
Umwelt, der Biowissenschaften, des Datenschutzes, des
informationellen Selbstbestimmungsrechtes. Die Vielfalt
von Lebensgemeinschaften, von Lebensformen gilt es
Claudia Roth ({0})
ebenso zu schützen wie das Recht derjenigen, die den
Kriegsdienst verweigern möchten.
Wir möchten die Beteiligungsrechte der Menschen
ausbauen und erweitern. So brauchen wir einen umfassenden und effektiven Schutz vor Diskriminierung, also
auch Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Alters, einer Behinderung oder der sexuellen Identität. Menschenrechte sind unteilbar, das heißt, die wirtschaftlichen, die
sozialen, die kulturellen Rechte sind zu verankern unter
Beachtung des Schutzes der Menschenwürde, des Persönlichkeitsrechts sowie der körperlichen und geistigen
Integrität sowie des Rechts auf Gleichheit aller Menschen.
Wir wollen keine fruchtlosen Debatten darüber führen,
wie Kollege Meyer gesagt hat, ob zum Beispiel das Recht
auf Arbeit justiziabel ist. Ziel muss es aber sein, ein
Höchstmaß an individuellem Rechtsschutz zu erreichen.
Über das bloße Diskriminierungsverbot hinaus sollte die
Gleichstellung und aktive Förderung von Frauen und der
Schutz der kulturellen Rechte von Minderheiten eine
Grundlage in der Charta finden.
Der Rechtsschutz muss gestärkt werden. Ich glaube,
dass gerade wir Deutsche einen besonderen Beitrag leisten können, wenn es um das Grundrecht auf Asyl geht.
({1})
Sorgen wir also dafür, dass künftig in Europa der Genfer
Flüchtlingskonvention uneingeschränkte und allumfassende Gültigkeit zuteil wird, wie es der EU-Rat in Tampere letzten Oktober beschlossen hat. Das ist nicht nur für
Flüchtlinge von existenzieller Bedeutung, sondern auch
ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Charta und unseres Verständnisses eines effektiven Grundrechtsschutzes.
Individuell einklagbare Schutzrechte sind tragende
Säulen unserer Demokratie. Grundrechte sind kein Gnadenakt des Staates und gerade das Asylrecht ist Teil unserer historischen Verantwortung. Es darf und kann also
nicht über Europa ausgehöhlt oder verringert werden,
sondern es sollte unser bester Exportbeitrag für die Debatte über die Europäische Grundrechte-Charta sein.
({2})
Deswegen ist für die Debatte über eine europäische
Grundrechte-Charta eine Renaissance der nationalen
Grundrechte Voraussetzung. Denn solange nationale
Grundrechte immer wieder zur Disposition gestellt und
zur Aushöhlung vorgeschlagen werden - so wie leider
gestern in einer Pressekonferenz von Herrn Stoiber das
Grundrecht auf Asyl wieder zur Disposition gestellt
wurde -, so lange wird man auch in Europa nur hohle
Grundrechte bekommen.
({3})
Europa braucht also eine Demokratieoffensive. Die
Demokratie in Europa ist keine Vision, sondern eine Voraussetzung für die Zukunft dieses Kontinents.
Vielen Dank.
({4})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
richtig und alle haben es bisher konstatiert: Die Europäische Union befindet sich in einer ganz entscheidenden
Entwicklungsphase. Die Reform der Institutionen der Europäischen Union - sprich: die Notwendigkeit, Erfolg bei
der Regierungskonferenz zu haben und nicht nur
über das zu reden, was die Regierung jetzt beabsichtigt -, die Osterweiterung und der Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie gemeinsame
Zusammenarbeit von Polizei und Justiz werden die Europäische Union immer stärker zu einer politischen Union
mit mehr Staatlichkeit machen.
Eine europäische Grundrechte-Charta, die die europäischen Organe bindet, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung europäischer Entscheidungen verpflichtet, die die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger stärkt und die die Beitrittskandidaten in diesen Wertekonsens einbezieht,
gehörte nach Auffassung der F.D.P. schon immer zu ihrer
europäischen Vision.
({0})
Denn diese gab es schon früher, es gab sie schon 1981 mit
der Genscher-Colombo-Initiative, als erstmalig eine europäische politische Union skizziert wurde, die dann in die
Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und in den
Vertrag von Amsterdam einmündete. Dies alles war Teil
eines lang angelegten Entwicklungsprozesses, der natürlich von Finalität bestimmt ist. Denn die Liberalen wollen kein Europa, das sich Schritt für Schritt, abhängig von
Zufälligkeiten integriert, ohne zu sehen, was am Ende
steht.
Gerade die Finalität des europäischen Integrationsprozesses hat die Liberalen motiviert, immer mitentscheidender Faktor und Initiator dieser europäischen Politik zu
sein.
({1})
Deshalb brauchen wir uns hier überhaupt nicht über die
Notwendigkeit einer europäischen Grundrechte-Charta
auseinander zu setzen. Dafür gibt es politische Gründe, so
zum Beispiel, die europäischen Wertevorstellungen einmal nachlesbar zu formulieren. Es soll eben nicht so sein,
dass Verweisungen auf Traditionen der Verfassungen in
den Mitgliedstaaten oder auf die Europäische Menschenrechtskonvention dem Bürger ein vollkommen undurchsichtiges Bild dessen geben, was denn Wertekonsens ist.
Wir wollen, dass sich das aus der Europäischen Grundrechte-Charta nachvollziehbar, begeisternd, klar und damit auch einprägsam und für jeden Bürger akzeptabel ergibt.
({2})
Deshalb reicht uns die - sicherlich verdienstvolle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht,
die die Defizite, die durch das Fehlen einer verbindlichen
Charta bestehen, natürlich nur kasuistisch ausgefüllt hat.
Claudia Roth ({3})
Dies ist hervorragend, aber dies kann eine formulierte
Grundrechte-Charta natürlich nicht ersetzen. Die Rechtsprechung füllt auch nicht den quasi grundrechtsfreien
Raum bei der dritten Säule, bei der Zusammenarbeit von
Polizei und Justiz, bei der Schaffung neuer europäischer
Institutionen und Organe mit immer mehr Kompetenzen,
mit operativen Befugnissen. Beim Handeln dieser Organe
gilt eben nicht das verbindlich, was allgemeiner Konsens
ist.
Wir wollen die Befugnisse dieser Organe ausdehnen.
Wir wollen OLAF, die Betrugsbekämpfungseinheit, immer selbstständiger machen. Auch Europol wird sich weiterentwickeln. Dies können wir nicht losgelöst von der
Achtung der Rechte des Bürgers zum Schutz seiner Persönlichkeit, gerade auch hinsichtlich des Datenschutzes,
und nicht ohne Kontrolle staatlichen, also europäischen
Handelns machen.
({4})
Für die F.D.P. ist die Grundrechte-Charta ein entscheidendes Element für einen europäischen Verfassungsgebungsprozess. Ich glaube, man muss dies hier deutlich
aussprechen: Es nützt nichts, dies zu einem Tabu nach
dem Motto zu machen: Jetzt unterhalten wir uns in schönen Worten, denen alle zustimmen, über eine Grundrechte-Charta. Dann schreiben wir diese in einem Papier
nieder, dann gibt es eine feierliche Proklamation, und
dann ist dieser Prozess vielleicht erst einmal ins Stocken
geraten. Davon, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben
die Bürgerinnen und Bürger in Europa nichts. Dann hätten wir keine Verbindlichkeit dieser Grundrechte-Charta.
({5})
Auch die Auslegung des Europäischen Gerichtshofes,
die Sie, Herr Meyer, skizziert haben, wird nicht durch eine
Grundrechte-Charta mit Goldrand, die in der Schublade
liegt, beeinflusst. Weil Art. 6 des Vertrages von Amsterdam die Europäische Menschenrechtskonvention nicht
unmittelbar zur Geltung bringt, sondern nur sagt, man
solle sie achten, werden Rechte des Bürgers und der Bürgerin nur in schwacher Form gewahrt. Die Auslegung
hängt zudem von Zufälligkeiten des Verfahrens ab.
Deshalb müssen wir hier klar sagen: Wir wollen jetzt
diese Grundrechte-Charta. Wir wollen, dass sie einen anspruchsvollen Inhalt hat. Ich glaube, dass am ehesten zu
diesen Punkten eine Verständigung in diesem Hause herbeigeführt werden kann. Dies gilt wahrscheinlich auch für
die anderen Mitgliedstaaten, die sehr viel zurückhaltender
und mit sehr viel mehr Vorbehalten als wir hier in
Deutschland an dieses Projekt herangehen.
Entscheidend wird es erst, wenn sich die Bundesregierung auf dem Europäischen Rat in Nizza dafür einsetzen
muss, diese Charta nicht nur als einen hervorragenden
Entwurf des Konvents, mit dessen Erstellung gerade auch
der Präsident des Konvents, Roman Herzog, gute Arbeit
geleistet hat, zu sehen, sondern zu sagen: Dies soll nun
Gegenstand eines verbindlichen Papiers zur Änderung
der Europäischen Verträge werden. Wir wollen, dass die
Europäische Grundrechte-Charta in diesen Verträgen an
vorderster, an prominentester Stelle verankert wird.
({6})
Dann ist sie verbindlich, dann haben wir das, was wir alle
hier wollen und was wir beschwören,
({7})
was aber nicht eintritt, wenn wir nicht wirklich diesen
Prozess einfordern.
Deshalb denke ich, es ist zu wenig, zu sagen, die Bundesregierung muss die Arbeit des Konvents unterstützen.
Ich gehe davon aus, dass das ohnehin passiert. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Es steht zudem in der
Koalitionsvereinbarung.
Entscheidend ist vielmehr, dass die Bundesregierung
der Vision von Joschka Fischer zur Realität verhilft und
gerade bei dem ersten Fall, in dem das möglich ist, das
auch tatsächlich tut. Der erste Fall tritt dann ein, wenn der
Entwurf der Charta vorliegt und auf der Ratstagung von
Nizza über das weitere Prozedere beraten wird.
Joschka Fischer und damit auch die Bundesregierung davon gehe ich aufgrund dessen, was ich jetzt lesen
konnte, aus - haben das Tabu gebrochen, das bisher im
Konvent doch wohl galt: Die Grundrechte-Charta ist das
Eine, aber auf keinen Fall wollen wir eine Verfassung in
Europa; dieser ganze Prozess ist etwas anderes. Das ist
jetzt aufgekündigt worden. Jetzt sagt die Bundesregierung
ehrlich, worum es geht. Jetzt kommt die entscheidende,
schwierige und langfristige Überzeugungsarbeit gegenüber den Mitgliedstaaten. Da wissen wir, dass eben ein europäischer Verfassungsprozess und das, was dann am
Ende stehen kann, zum Teil sehr misstrauisch beobachtet
wird.
Ich bin der Meinung, da muss man auch Klartext reden.
Da muss man klar sagen, was man unter einem Leitbild
„Föderation“ Europa versteht. Ein Gegensatz zu einem
von Minister Fischer so genannten „synthetischen Konstrukt eines Bundesstaates“ besteht ja in dieser Form
nicht, sondern es geht darum, wie ein bundesstaatlich föderales System innerlich ausgestaltet wird, wie die
Kompetenzverteilungen aussehen, wie man die einzelnen
Organe stärkt, wie das Europäische Parlament nicht nur
von den nationalen Parlamenten abgeleitete Rechte bekommt. Alles das ist jetzt hier in Deutschland durch die
Bundesregierung in die Debatte eingebracht worden. Bei
allem, was wir hier richtig an Inhalten der GrundrechteCharta nennen, muss dies deutlich betont werden.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Professor
Meyer?
Ja, gern.
Herr Kollege Professor Meyer, bitte.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie wissen, dass wir gemeinsam für die Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta eintreten, wie ich das ausgeführt habe. Meine Frage zielt auf
Ihre Ausführungen zur Verfassung.
Einmal abgesehen davon, dass in der gegenwärtigen
Situation die Forderung nach einer Verfassung erhebliche
Widerstände auch gegen die Grundrechte-Charta auslösen könnte, was möglicherweise eine eher taktische Überlegung ist, möchte ich Sie fragen: Macht nicht die Grundrechte-Charta auch dann Sinn und ist sie nicht auch dann
erforderlich, wenn es jedenfalls vorerst nicht zu einer
vollständigen europäischen Verfassung käme?
Meinen Sie nicht - das ist meine zweite Frage -, dass
die Forderung einer Verfassung mit vollständigem Kompetenzkatalog, wie sie zum Beispiel mit anderer Zielrichtung als bei Ihnen, was ich unterstelle, von Herrn Stoiber
gefordert wird, zurzeit nicht hilfreich ist, weil erstens der
Konvent sich mit der Frage eines Kompetenzkataloges,
wie Kollege Altmaier richtig ausgeführt hat, nicht befasst
({0})
und weil wir zweitens, nachdem der Amsterdamer Vertrag
gerade ein Jahr in Kraft ist, erst Erfahrungen mit dem Subsidiaritätsprinzip sammeln sollten und erst nach etlichen
Jahren der Konkretisierung dieses Prinzips auch eine
überzeugende Verfassung mit Kompetenzkatalog schreiben können?
Herr Meyer, ich bin wie Sie der Auffassung, dass die
Grundrechte-Charta ein unverzichtbarer Bestandteil einer
künftigen europäischen Verfassung ist und dass man
dann, wenn man sich jetzt für die Verbindlichkeit einsetzt,
damit ganz klar auch für diese Finalität der Entwicklung,
nämlich einen europäischen Verfassungstext eintritt.
Der Konvent hat nicht den Auftrag, sich mit einer europäischen Verfassung in toto zu beschäftigen. Der
Außenminister hat aber die Finalität jetzt zu seinem
Thema gemacht,
({0})
weil er damit wohl die besondere Verpflichtung der Bundesregierung und ihre Verantwortung für die anstehenden
Entscheidungen deutlich machen wollte. Das ist jetzt die
Messlatte, die angelegt wird. Das werden wir bei der Bewertung der Ergebnisse der Räte auch tun.
({1})
Dies ist also nicht wegzudenken. Wir können nicht mehr
sagen, dass es diesen Verfassungsprozess nicht mehr gibt.
Der Konvent wird mit Sicherheit - so sehe ich die bisherigen Arbeiten - ein recht gutes Papier zur GrundrechteCharta erstellen. Wenn es so wird, wie die noch nicht beschlossenen Unterlagen aussehen, geht es in die richtige
Richtung. Entscheidend ist dann die Frage - darin stimmen wir auch überein, Herr Meyer - der Implementierung, nämlich der Umsetzung, und damit die Verbindlichkeit. Wenn wir Erwartungen wecken und zu Recht sagen,
die Bürgerinnen und Bürger sollten sich mit diesem Europa, das ihnen mehr als Bürokratie und fern ihrer Heimat
begegnet, identifizieren können, dann müssen wir die
Charta verbindlich machen. Nichts anderes ist möglich;
wir würden sonst eine gegenteilige Wirkung hervorrufen.
Deswegen finde ich es gut, dass das Tabu eines Zusammenhangs zwischen Grundrechte-Charta und einem Verfassungsgebungsprozess aufgelockert worden ist.
Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Inhalten sagen. Es ist vieles erwähnt worden. Dass die Europäische
Menschenrechtskonvention - also die klassischen Freiheitsrechte - Ausgangspunkt ist, muss ich nicht erwähnen. Ich möchte aber noch zwei Punkte nennen.
Erstens. Wir Liberale möchten, dass das Recht auf
Asyl als Grundrecht in der Europäischen GrundrechteCharta steht.
({2})
Man sollte zunächst einmal Forderungen und Vorstellungen formulieren und nicht mit kleiner Münze an die Fragen herangehen, die strittig sind. Das wissen wir aus
langjährigen Erfahrungen.
Zweitens. Einem Diskriminierungsverbot kommt
eine große Bedeutung zu. Es darf nicht - das habe ich den
Worten von Herrn Meyer entnommen - kleingeredet werden. Natürlich bin ich für Gleichberechtigung und für die
Standards, die wir entwickelt haben. Das Diskriminierungsverbot, wie ich es mir vorstelle, geht sehr viel weiter. Der diskriminierungsfreie und eben nicht willkürlich
verbaute Zugang gerade zu sozialen Leistungen und Sicherungssystemen ist das, was nach dem Vorbild von Professor Simitis, der die Arbeitsgruppe Grundrechte geleitet
hat, erarbeitet worden ist. Er hat dies vorgeschlagen, weil
wir sonst in einen Bereich kommen, in dem Ziele formuliert werden, die sich vielleicht wie subjektive Rechte lesen lassen, aber tatsächlich nicht einklagbar und damit
nicht durchsetzbar sind. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir auf keinen Fall. Wir wollen keine schön
lesbaren Texte, aus denen sich auf den ersten Blick vielleicht Rechte ableiten, die aber nichts sind als mehr oder
weniger Aufgabenkataloge für bestimmte Organe. Mit
dem Diskriminierungsverbot mag dann etwas Einklagbares formuliert sein, was sich aus den Texten aber nicht unmittelbar ergibt.
({3})
Soziale Grundrechte sind eben nur Grundrechte,
wenn sie einklagbar sind. Auch hier müssen wir ehrlich
sein, sonst sind es keine sozialen Grundrechte, sondern
soziale Vorstellungen, Leitbilder, Rechte. Deshalb bin ich
für eine klare Trennung, auch für eine Formulierung vielleicht in einer Präambel einer Grundrechte-Charta. Ich bin
aber nicht für eine Verankerung in einer GrundrechteCharta, die Verbindlichkeitsrang hat, dem Bürger aber
nicht das gibt, was er glaubt daraus ableiten zu können.
Mein letztes Wort - ich habe meine Redezeit schon
überschritten -: Tun wir nicht so, als könnten wir noch
viele Monate über die Charta reden. Bis Ende Juni soll
weitestgehend ein Text im Konvent erarbeitet sein. Wir
haben in der ersten Stunde dieser Debatte den Eindruck
erweckt, als würden wir einen monatelang dauernden Prozess einleiten. Er hat schon begonnen und ist, was die Formulierung angeht, schon fast am Ende. Es ist ein Problem,
ob darüber letztendlich im Konvent eine Einigung erzielt
werden kann. Daher ist es umso wichtiger, möglichst klar
und auf den Kern, auf die Menschenwürde bezogen, eine
gemeinsame Resolution zu erarbeiten, die die Chance hat,
in die Arbeit des Konventes einzufließen.
Vielen Dank.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Uwe Hiksch von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein wichtiger Schritt - vielleicht
sogar der wichtigste Schritt -, den die Europäische Union
gerade geht und der mit der Erarbeitung einer Europäischen Grundrechte-Charta begonnen wurde. Es ist vielleicht deshalb der wichtigste Schritt, weil wir alle wissen,
dass es in der Europäischen Union auf der einen Seite Demokratiedefizite gibt und auf der anderen Seite eine
Lücke im Grundrechteschutz feststellbar ist. Die Europäische Grundrechte-Charta gibt uns die Chance, diese
Lücke zu schließen. Deshalb freut es die PDS-Fraktion
auch, dass fast alle Parteien, die im Hause vertreten sind,
dieser Grundrechte-Charta positiv gegenüberstehen.
({0})
Ich sage „fast alle Parteien“, weil ich in der „Welt“ vom
16. Mai dieses Jahres lesen musste, dass die bayerische
CSU Front gegen die europäische Verfassung macht. Herr
Müller - ich möchte Sie direkt ansprechen -, es gibt uns
sehr zu denken, dass jetzt der rechte Teil der Union, nämlich die bayerische CSU, zu einem historischen Projekt,
das die europäischen Völker zusammenführt, wieder Nein
sagt, so wie schon in den 70er-Jahren, als die damalige
Opposition aus CDU/CSU - vereint mit Hoxhas Albanien - gegen den KSZE-Prozess gekämpft hat.
({1})
Ich möchte speziell auf zwei Aussagen eingehen, die
Sie, Herr Müller, gegenüber der „Welt“ gemacht haben.
Sie haben zum einen die Frage gestellt: „Wo ist denn …
der Bedarf, Grundrechte neu zu formulieren?“ In Ihren
Reden haben Sie sonst richtigerweise darauf hingewiesen,
dass die Verlagerung von immer mehr nationalstaatlichen Kompetenzen auf die Europäischen Union, beispielsweise im Bereich der Polizei, der Justiz sowie der
Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht demokratisch legitimiert ist. Ausgerechnet jetzt, wo wir gemeinsam - außer
der CSU - eine demokratische Legitimierung der Verlagerung von Kompetenzen des Nationalstaats auf die europäische Ebene durchsetzen wollen, sprechen Sie sich
gegen die Legitimation solcher Rechte aus.
Ein weiteres Beispiel. Sie sagen deutlich, dass es nicht
Ihre Absicht sei - das steht übrigens im Gegensatz zu dem
Antrag, den Ihre Fraktion vorgelegt hat -, die Charta in
die Europäischen Verträge einzubeziehen. Ich stelle fest:
Der rechte Teil des Hauses - das zeigt sich seit langem in
den Diskussionen über Europa - entfernt sich leider immer mehr von dem, worüber einmal Konsens im Hause
bestand, nämlich dass wir die europäische Idee und den
europäischen Gedanken weiterentwickeln wollen.
Einige Anmerkungen zu den entscheidenden Gründen,
warum die PDS die Grundrechte-Charta unterstützt und
wie sie die Grundrechte-Charta entwickeln möchte. Wir
sollten gemeinsam dafür eintreten, dass in der Europäischen Grundrechte-Charta einklagbare Normen nicht
nur für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen
Union, sondern für alle in der Europäischen Union lebenden Menschen festgeschrieben werden sollten,
({2})
weil wir der Überzeugung sind, dass Grundrechte sowohl
im sozialen als auch im individuellen Bereich für alle in
der EU lebenden Menschen gelten müssten und alle in der
EU lebenden Menschen auch das Recht haben müssten,
diese Grundrechte einzuklagen.
Nach unsere Meinung ist deshalb der rechtsverbindliche Charakter einer Europäischen Grundrechte-Charta
eine Grundvoraussetzung dafür, dass das Legitimationsdefizit in der Europäischen Union, das von immer
mehr Menschen festgestellt wird, überwunden werden
kann.
({3})
Weil wir eine rechtsverbindliche Charta wollen, setzen
wir uns dafür ein, dass mittelfristig entweder eine eigene
Kammer für Grundrechtefragen am Europäischen Gerichtshof oder sogar ein Unionsgericht für Grundrechtefragen eingerichtet wird, vor dem jeder in der Europäischen Union lebende Mensch oder auch jeder Mensch,
der außerhalb der Europäischen Union lebt und der seine
Grundrechte nicht von der Europäischen Union vertreten
fühlt, direkt klagen kann und die europäischen Rechte einfordern kann.
({4})
Wir treten des Weiteren dafür ein, dass ausdrücklich
auch für Nichtregierungsorganisationen ein Beteiligungsund Klagerecht geschaffen werden sollte. Wir treten dafür
ein, dass auch auf europäischer Ebene ein Verbandsklagerecht, dessen Einführung in der Bundesrepublik wir immer gefordert haben, geschaffen wird.
({5})
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, wollen wir in den
nächsten Jahren auch dafür kämpfen, dass die Grundrechte-Charta in die Verträge der Europäischen Union integriert wird. Wir glauben, dass es gerade darum gehen
muss, dass es in einem mittelfristigen Prozess - darin
stimme ich Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
ausdrücklich zu - gelingen muss, die Grundrechte-Charta
in einen Verfassungsrang zu heben und die europäischen
Mindestrechte, die natürlich von Nationalstaaten noch
überboten werden können, festzulegen.
Die PDS tritt ausdrücklich dafür ein, dass sich die Unteilbarkeit der Grund- und Menschenrechte auch im Wesen und im Wortlaut dieser Europäischen GrundrechteCharta und mittelfristig auch in einer europäischen Verfassung wiederfindet. Wir sind der Überzeugung, dass
Freiheits-, Bürger- und Gleichheitsrechte auf der einen
Seite von wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechten auf der anderen Seite nie mehr getrennt werden dürfen und immer gemeinsam gesehen werden müssen, und
zwar rechtsverbindlich.
({6})
Wir treten für die Gleichheit der individuellen bürgerlichen Rechte auf der einen Seite, aber auch für die
Gleichheit der kollektiven Rechte auf der anderen Seite
ein. Wir wollen, dass in die Europäische GrundrechteCharta ein Recht zur Vereinigung in Gewerkschaften und
ausdrücklich auch das Streikrecht festgeschrieben werden. Das muss durchgesetzt werden.
Wir sehen die Chance, dass im Rahmen der Diskussion
über die Europäische Grundrechte-Charta die Debatte
über Menschenrechte und über Grundrechte einen neuen,
einen innovativen Charakter bekommen kann. Dieser
neue und innovative Charakter könnte gerade darin
bestehen, dass man, anders als Sie, Frau LeutheusserSchnarrenberger, ausgeführt haben, endlich auch darüber
diskutiert - das ist im Rahmen der Menschenrechtsdiskussion ein altes Thema -, einklagbare soziale Menschenrechte und einklagbare soziale Grundrechte festzuschreiben.
Für uns von der PDS heißt das, dass wir ausdrücklich
dafür eintreten, dass das Recht auf existenzsichernde Arbeit festgeschrieben werden muss,
({7})
dass das Recht auf bezahlbaren Wohnraum, das Recht auf
eine existenzsichernde Grundversorgung - das fordern
beispielsweise alle Wohlfahrtsverbände der Bundesrepublik, auch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und das Recht auf „Daseinsfürsorge“, so stand es in der
Stellungnahme der Wohlfahrtsverbände, als einklagbare
Rechte in der europäischen Verfassung bzw. in dieser Europäischen Grundrechte-Charta festgeschrieben werden
sollten.
Innovation sollte unserer Meinung nach bedeuten, dass
auf der einen Seite soziale Grundrechte festgeschrieben
werden, dass aber auf der anderen Seite auch gesehen
wird, dass die neuen Grundrechtsbedrohungen deutlich in
der Verfassung von Europa, in der Grundrechte-Charta,
ausgewiesen werden. Das heißt für uns, dass wir den Herausforderungen der Informations- und Biotechnologien,
beispielsweise durch ein Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, und den Herausforderungen, die sich
beispielsweise durch unsere Ablehnung der BioethikKonvention ergeben, gerecht werden. Es war die PDS, die
beim Europäischen Patentamt Einspruch dagegen eingelegt hat, dass menschliche Gene in Zukunft geklont werden können. Wir treten dafür ein, dass diese Forderungen
in einer europäischen Verfassung, in dieser Europäischen
Grundrechte-Charta, wiedergefunden werden können.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wir sehen die Aufgabe, dass diese Europäische Grundrechte-Charta breit getragen wird. Für uns bedeutet das,
dass die Menschen Europas auch über eine europäische
Verfassung, über die europäischen Menschen- und
Grundrechte abstimmen können müssen. Deshalb wird
die PDS dafür eintreten, dass in einem europäischen Referendum über eine europäische Verfassung, deren Einhaltung von allen Menschen eingefordert werden kann,
entschieden wird. Diese Verfassung sollte fortschrittlich
sein und soziale und bürgerliche Grundrechte zusammenführen.
Danke schön.
({0})
Als
nächster Rechner hat der Staatsminister Christoph Zöpel
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es mag sein, dass der Auftrag des Europäischen Rats von Köln, einen Konvent zu berufen, der über
die Europäische Grundrechte-Charta beraten und Vorschläge entwickeln soll, eine deutliche Richtungsänderung des Wegs zur europäischen Einigung dargestellt hat,
und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt des Abbaus
des Demokratiedefizits im europäischen Gemeinwesen.
Seit dem Vertrag von Maastricht hat die Europäische
Union eine solche Fülle von Aufgaben übertragen bekommen, dass die Verfahrensregeln und auch das materielle Recht der Europäischen Union den eigenen europäischen Anforderungen an Demokratie meines Erachtens
nicht mehr voll gerecht werden.
({0})
Dem ist Abhilfe zu schaffen. Die Arbeit, die begonnen
wurde, ist ein Schritt dahin.
Dies gilt, so meine ich, unter drei Aspekten von Demokratie: erstens unter dem Aspekt der durch Werte fundierten Verfahren. Erstmals führt weder eine Vorlage der
Europäischen Kommission noch ein Kompromissergebnis der Beratungen der europäischen Diplomatie dazu,
dass ein Fortschritt auf dem Wege zur europäischen Einigung erarbeitet werden soll. Vielmehr soll ein Konvent
dies tun, dem zu drei Viertel gewählte Abgeordnete des
Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitgliedstaaten angehören. Das ist als Erstes festzuhalten und
das ist von den Regierungen gewollt; denn Regierungen
sind und bleiben - das macht demokratische Regierungen
aus - den Parlamenten verpflichtet. Oft merken Sie es ja
auch im Alltag.
({1})
Es ist eine Entscheidung der Regierungen, diesen Schritt
zu gehen.
Zweitens ist es ein Versuch des Abbaus von Defiziten
an Demokratie in materieller Hinsicht. Hier muss nach
den für mich anregenden und bedeutsamen Beiträgen der
Sprecher der Fraktionen nicht mehr wiederholt werden,
worum es materiell geht. Es ist selbstredend, dass Europa
eine verfassungsrechtliche Verpflichtung auf seine Werte
braucht, die nach Auffassung der Bundesregierung, bezogen auf ein demokratisches Gemeinwesen, am besten in
der Philosophie von Immanuel Kant niedergelegt sind.
Das Spektrum dessen, was hier dargelegt wurde, zeigt den
Tiefgang und die Breite des Denkens, das in dem und für
den Konvent geleistet wird. In dem Konvent haben dies
vor allem die Beiträge von Ihnen, Herr Professor Meyer,
und von Ihnen, Herr Altmaier, in hervorragender Weise
aufgezeigt.
({2})
Der Aspekt, ob es auch soziale und wirtschaftliche
Rechte gibt, ist durch Auftrag des Europäischen Rats in
Köln in den Konvent eingeführt worden. Zu diesem Auftrag gehört es, hierüber zu beraten. Alle diejenigen, denen
es darum geht, tatsächlich einen europäischen Grundrechtekatalog zu haben, seien darum gebeten. Die Diskussion des deutschen Verfassungs- und Staatsrechts über
die Unterschiede von Grundrechten, die - zum Beispiel zu
politischen Staatszielen - justiziabel sind, ist ausgeprägt
genug, um diese Erfahrungen auch in einen europäischen
Grundrechtskatalog aufzunehmen, ohne überflüssige und
in Deutschland ausgestandene Diskussionen darüber wiederzubeleben, dass man bestimmte soziale und wirtschaftliche Rechte tatsächlich nicht vor Gerichten einklagen kann. Zumindest lassen sie sich als konstitutive politische Ziele eines europäischen Gemeinwesens der
Zukunft festhalten.
Drittens besteht die Notwendigkeit, dieses Demokratiedefizit in Richtung auf klarere demokratische Kontrollen sowie auf den klaren Anspruch des Bürgers abzubauen, gegen Fehlentscheidungen im Rahmen des politischen Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsprozesses der Europäischen Union vorgehen zu können.
An dieser Stelle mache ich eine Bemerkung, die ich abgewogen habe: Ich glaube, der Zustand der Europäischen
Union und die Fülle der von ihr übernommenen Aufgaben
sind so, dass es nicht antieuropäisch ist, die Frage zu stellen, ob eine bestimmte Regelung auf europäischer Ebene
fehl am Platze ist.
({3})
In den Jahren nach Schuman und Monnet war noch unstreitig richtig, zu überlegen, welche Politikfelder zusätzlich in das Gemeinschaftsrecht integriert werden könnten.
Dies ist angesichts der Fülle der Zuständigkeiten der Europäischen Union, wie im Vertrag von Maastricht festgelegt, nicht mehr notwendig. Es ist sinnvoll, wenn sich
Bürger, Kommunen, Regionen, Länder mit Staatsqualität,
wie es sie in Deutschland gibt, und Mitgliedstaaten vor
Gericht, gestützt auf Verfassungs- und Grundrechtsbestimmungen, vergewissern können, ob sie oder die Europäische Union Recht haben. Bei allem Respekt vor dem
Europäischen Gerichtshof möchte ich darauf hinweisen, dass es sein könnte, dass er in seiner Rechtsprechung, also wenn er Güterabwägungen vornimmt, vielleicht noch zu sehr der Anfangsphilosophie der Europäischen Union verhaftet ist. Insoweit halte ich die
Aufstellung eines solchen Kataloges für notwendig.
Nachdem ich das so formuliert habe, bin ich in der Tat
dabei, aufzuzeigen, dass die Diskussion um eine europäische Verfassung bereits begonnen hat. Auch hier sollten
wir keine Begriffsklaubereien begehen. Schon jetzt enthält das europäische Vertragsrecht unstreitig Sätze, die
nach dem deutschen verfassungspolitischen Verständnis
in das Verfassungsrecht eingeordnet und als Verfassungsrechte definiert werden können. Das jetzt deutlicher zu
machen ist notwendig.
In den nächsten Jahren sind Schritte notwendig - das
möchte ich an dieser Stelle sagen -, um die Kompetenzen
der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten klar
und bestimmt abzugrenzen.
({4})
Es muss auch über den Rahmen bestimmter Prinzipien der
Europäischen Union nachgedacht werden. Auch Wettbewerb ist kein isoliertes Ziel, sondern - das haben wir in
Deutschland gelernt - bedarf eines Rahmens. Der rheinische Kapitalismus - ich gebrauche wieder einmal dieses
Wort - hat es uns gelehrt.
({5})
Mir ist auch wichtig, an dieser Stelle sehr deutlich festzuhalten, dass alle, die in den Zeitungen etwas anderes lesen, etwas Falsches lesen. Es ist gemeinsames Ziel der
Bundesregierung und der Länder, in Zukunft zu einer
Kompetenzabgrenzung und zu einer klaren Definition eines europäischen Wettbewerbsrechts, das dem europäischen Verständnis von Sozialstaat angemessen ist, zu
kommen. Alles andere ist falsch.
Kompetenzabgrenzungen und Definitionen, wann soziale und ökonomische Aspekte im Wettbewerb berücksichtigt werden müssen, sind kein Problem allein der Länder, sondern ein Problem der deutschen Föderation. Ich
sage für das Ministerium, in dem ich arbeiten darf: Nach
der Verfassungsinterpretation des Außenministeriums ist
es seine selbstverständliche Aufgabe, den föderalen Staat
Deutschland mit all seinen föderalen Elementen zu vertreten.
Damit bin ich bei den nächsten Schritten, die jetzt kommen können. Es ist gefragt worden, was zu tun ist. Die
Bundesregierung geht davon aus, dass der Vorsitzende,
Bundespräsident a. D. Herzog, dessen Arbeit hinsichtlich
der Effizienz fast alle Erwartungen übertrifft, auf dem
Gipfel im Juni in Feira dem Europäischen Rat berichten
wird und dass damit der Entscheidungsprozess eingeleitet
werden kann, wie der Europäische Rat in Nizza die Ergebnisse des Konvents berücksichtigt. Es spricht aus
deutscher Sicht nichts dagegen - in jedem Gespräch mit
anderen Regierungen betonen wir das auch -, die Ergebnisse des Konvents in die Verträge aufzunehmen.
({6})
Es ist aber zu prüfen, in welcher Weise.
Wir haben ein einziges, sehr pragmatisches Kriterium
für das, was in die Verträge aufgenommen werden kann:
Durch die Ratifizierung der notwendigen Vertragsänderungen darf die Osterweiterung nicht gefährdet werden.
Es spricht deshalb einiges dafür, darüber nachzudenken,
ob die Ratifizierung der Ergebnisse des Konvents, falls
man sich in Nizza dazu durchringt, sie zu übernehmen,
nicht aufgeteilt werden kann: und zwar in eine sofortige
Ratifizierung des Teils, der die Osterweiterung nicht behindert, und eine eventuelle spätere Ratifizierung - diese
Idee ist jetzt noch nicht abgesprochen, hat mich aber in
Diskussionen überzeugt - einer europäischen Verfassung
durch ein Referendum, das mit den nächsten Wahlen zum
Europäischen Parlament verbunden werden könnte.
({7})
Der nächste Schritt hin zu einer europäischen Demokratie ist die Beteiligung des Parlaments in einer Weise,
wie sie vorher noch nie erfolgt ist. Aber auch der Schritt,
in bestimmten und dafür geeigneten Fragen das Instrument des Referendums auf europäischer Ebene einzuführen, ist damit angesprochen und sozusagen auf der europäischen Agenda angekommen.
Lassen Sie uns auch einen Dank an die Bundesregierung richten - ich danke insbesondere dem Justizministerium und dem Auswärtigen Amt -, die dafür vor Ende
1998 ebenso wie danach mit die Initiative übernommen
hat. Es ist sinnvoll festzustellen, dass oft gute Menschen
unterwegs sind und mit welcher List die Vernunft siegt.
Wir halten fest, dass Sie daran beteiligt waren, dass wir so
weit gekommen sind. Mein Dank gilt schließlich allen,
die daran jetzt aktiv mitarbeiten.
Ich habe durch meinen Beitrag versucht, die Fragen an
die Bundesregierung, die in den Anträgen enthalten sind,
zu beantworten. Es bleibt übrig, noch die Relation zu der
Menschenrechtskonvention des Europarats herzustellen
und auch dieser beizutreten.
Die europäische Civitas - vor allem Konservative haben wenig gegen den Gebrauch einer anderen als der Muttersprache, wenn es sich bei der anderen Sprache um Latein handelt - hat einen Stand erreicht, der es ihren
Mitgliedern ermöglicht, einer Konvention, nämlich der
Europäischen Menschenrechtskonvention, beizutreten,
die sich die Beachtung der Menschenrechte durch Staaten
zur Aufgabe gemacht hat. Es ist kein Gegensatz, einen eigenen Grundrechtskatalog zu haben, aber auch der Konvention des Europarates beizutreten. Die Vorschläge, die
dazu der Konvent macht - soweit wir informiert sind, debattiert er darüber -, dürften für die Haltung der Bundesregierung, aber auch für die Haltung der Regierungen anderer Mitgliedstaaten wesentlich sein.
Diese Debatte spiegelt einen erfreulichen Prozess wider. Lassen Sie mich parteiübergreifend sagen: Eine Politik, wie wir sie seit der „politeia“ kennen - das ist eine
weitere Sprache, gegen die zu benutzen Konservative
nichts haben -, macht Sinn, zeigt Erfolge und ist nicht von
der Beliebigkeit, wie manchmal von voreiligen Feuilletonisten beschrieben wird.
Allen, die sich beteiligt haben, herzlichen Dank.
({8})
Bevor ich nun dem
Kollegen Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort erteilte, möchte ich Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, darauf hinweisen, dass derjenige, der bis jetzt
präsidiert hat, hinsichtlich der Redezeit sehr großzügig
gewesen ist. Ich wäre auch gerne großzügig. Aber da wir
noch einen längeren Abend vor uns haben, wäre ich sehr
dankbar, wenn Sie sich alle an die Redezeit halten würden.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, auch
ich baue natürlich auf Ihre Großzügigkeit.
({0})
Ich glaube, es war richtig, dass hinsichtlich der Redezeit
großzügig verfahren wurde; denn vor der Debatte haben
mich einige Kolleginnen und Kollegen, aber auch Besucher gefragt, über was wir heute im Zusammenhang mit
dem Thema Grundrechtscharta diskutieren.
Wir sind mitten in einer europäischen Verfassungsdebatte. Dieses Projekt - der frühere Bundeskanzler hätte
gesagt: je nachdem, was hinten herauskommt - wird das
Zusammenleben von 500 Millionen Bürgern in Europa in
wenigen Jahren in allen Bereichen zentral bestimmen. Ich
freue mich, dass die Wichtigkeit dieses Themas zwischenzeitlich deutlich wird und dass wir es nicht zu später Stunde, sondern jetzt debattieren.
Derzeit laufen in Europa drei Großprojekte parallel.
Erstens der Prozess der Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedstaaten. Dieser Prozess geht nach Vorstellung der
Bundesregierung noch weiter und umfasst auch die Türkei und darüber hinaus andere Staaten. Zweitens die Frage
der inneren Reform. Wie stellen wir überhaupt die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sicher, die schon
jetzt nicht gegeben ist? Drittens die Erarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta. Alle drei Prozesse stehen
im Zusammenhang.
Die Grundrechtscharta könnte dazu ein wichtiger Baustein sein. Ich schließe mich der Meinung der Vorredner
an, insbesondere der Meinung von Peter Altmaier, der
sagte: Ein gemeinsames Wertefundament für die
Europäische Union zu schaffen, das wäre eigentlich das
Wesentliche.
({1})
Das ist der Kern für die CDU/CSU. Für uns war die Europäische Union stets eine Wertegemeinschaft, die auf
der Grundlage unseres gemeinschaftlichen christlichen,
abendländischen Kulturerbes gründet. Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Freiheits-, Abwehr- und Kontrollrechte und die Würde des Menschen sind Grundwerte europäischer Kultur- und Staatstradition, die es zu bewahren
und fortzuschreiben gilt.
Ich unterstreiche nachdrücklich: Die Europäische
Union braucht eine innere Solidarität, einen Zusammenhalt auf Basis dieser Grundwerte und nicht auf der Basis
von Exportzahlen, von Aktienkursen und von Mega- und
Multifusionen. Dadurch wird noch lange keine europäische Solidarität in der Europäischen Union begründet.
Die Grundrechtscharta könnte hier Wesentliches leisten. Deshalb bin ich ein Stück weit enttäuscht, dass es bei
der Debatte um die Grundrechtscharta wiederum in erster
Linie um die Festschreibung materieller Leistungsrechte
gehen soll. Ich habe heute Nachmittag nur die Aufzählung
von Rechten vernommen, die wir den europäischen Bürgern von Portugal bis Anatolien einräumen wollen.
({2})
Insbesondere Kollege Hiksch von den Kommunisten hat
sich hervorgetan.
({3})
Es geht natürlich auch um Pflichten.
Ich möchte beim derzeitigen Stand der Diskussion eine
Reihe von grundlegenden Fragen für meine Fraktion einführen.
Erstens. Gelingt bei der Formulierung, wie Sie, Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, dies auch angedeutet haben, eine Beschränkung auf die klassischen
Grundrechte, wie sie sich aus der Europäischen
Menschenrechtskonvention, dem Grundgesetz und den
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, oder
wird am Ende dieses Prozesses - wir sind ja mitten im
Prozess - durch die Aufnahme einklagbarer sozialer Leistungen von Portugal bis Anatolien, wie Sie, Herr Professor Meyer, immer betonen, eine wesentliche Ausdehnung
der EU-Kompetenzen festgeschrieben? Das ist einer der
Kernpunkte, über die wir miteinander diskutieren müssen.
Der jetzt vorliegende Entwurf und die Diskussionsbeiträge im Konvent - Herr Professor Meyer, Sie sind
Vertreter Deutschlands im Konvent; wir schauen uns
diese Beiträge natürlich an - sowie Ihre Rede und die Reden der SPD-Fraktion lassen den Schluss zu, dass die
Bundesregierung nicht eine Beschränkung auf klassische
Grundrechte anstrebt, sondern vielmehr genau diesen Katalog einklagbarer sozialer Leistungsrechte begründen
will. Ich will nicht ins Detail gehen, das lässt die Redezeit
nicht zu. Sie haben selber einige Beispiele genannt Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnung,
Verbandsklagerecht, Kunstfreiheit -, für was Europa alles
stehen soll, welche Rechte dem Bürger gewährleistet werden sollen.
Es kommt auch auf eine zweite Kernfrage in diesem
Prozess an: Wird der Text einer europäischen Grundrechtscharta im Zuge einer Proklamation der Regierungschefs verkündet - auch dies hätte bereits rechtliche
Auswirkungen - oder als Vorschlag zur Regierungskonferenz in die Verträge aufgenommen? Dies ist noch offen,
ist aber für die Rechtsverbindlichkeit natürlich maßgeblich.
Nach derzeitigem Stand streben die Bundesregierung
und die Mehrheit im Konvent an, über die Grundrechtscharta auch die Mitgliedstaaten beim Vollzug des Unionsrechts rechtlich zu binden. Dies ist ein ganz zentraler
Punkt, ob es um die Umsetzung der FFH-Richtlinie, der
Milchgarantiemengenregelung oder der Wasserrichtlinie
geht. Praktisch jeder Bürger könnte mit dieser Begründung seinen Grundrechteschutz europaweit über eine
Klage beim Europäischen Gerichtshof einklagen.
Dies hätte flächendeckend natürlich enorme Auswirkungen, nämlich eine unglaubliche Aufwertung des Europäischen Gerichtshofes. Dem Bundesverfassungsgericht
könnte in nicht allzu naher Zukunft dann ein Schattendasein - es wäre dann einem Landesverfassungsgericht vergleichbar - drohen und das Grundgesetz könnte die Bedeutung von Länderverfassungen erhalten.
({4})
Wir müssen darüber reden, ob wir in der Finalität dies
wollen.
Herr Professor Herzog hat gesagt: Die Verfassungswirklichkeit steht am Ende. Das Grundgesetz umfasste
1949 20 Seiten. Heute, im Jahr 2000, nach über 50 Jahren,
hat das Bundesverfassungsgericht mit 20 000 Seiten
Rechtsprechung Verfassungswirklichkeit in Deutschland
gesetzt.
Mir stellt sich nun - drittens - die Frage, ob der Europäische Gerichtshof durch die angestrebte Grundrechtscharta und die rechtliche Bindewirkung für die Mitgliedstaaten quasi in die Rolle eines europäischen Verfassungsgerichtshofes hineinwächst. Ich sage: Die
Grundrechtscharta kann und darf in diesem Sinne keine
europäische Verfassung sein. Europa ist kein Staat.
Ich möchte - viertens - die Frage stellen: Wäre eine
solch weitgehende Entwicklung überhaupt mit den Festlegungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts im
Zuge des Maastricht-Urteils zur Rolle der Nation und zum
Erhalt des Kernes der Staatlichkeit sowie zur Bedeutung
der nationalen Parlamente für die Legitimation europäischer Rechtsetzung und mit unserem Grundgesetz noch
vereinbar? Natürlich muss die Frage geklärt werden, auch
von den Verfassungsrichtern, wie weit wir hier in der Finalität der Abgabe von Rechten, von Möglichkeiten der
Nation, der Eigenstaatlichkeit überhaupt gehen können.
Weil ich der Meinung bin, dass dieser Prozess nicht aus
dem Ruder laufen darf, möchte ich zusammenfassend drei
Bedingungen für die abschließende Ratifizierung nennen: Erstens. Wir erwarten eine Beschränkung auf die
klassischen Grundrechte. Zweitens. Wir wollen keine
Festschreibung einklagbarer sozialer Leistungsrechte,
wie sie sich jetzt abzeichnet. Drittens. Wir wollen keine
Kompetenzausweitung, sondern erwarten Kompetenzbeschränkungen.
({5})
An diesen drei grundlegenden Feststellungen werden wir
das Ergebnis des Grundrechtskonventes messen, wenn
die Verträge über den Ratifizierungsprozess in das nationale Parlament zurückkommen.
Mein Kernsatz an dieser Stelle ist: Von diesen drei Bedingungen machen wir unsere Zustimmung im Ratifizierungsprozess abhängig. Wir werden den vorliegenden
Entwurf an diesen drei Punkten messen und unsere endgültige Entscheidung daran festmachen.
({6})
Ich stimme Herrn Zöpel zu, wenn er sagt, dass sich die
EU heute zunehmend als Exekutivdemokratie darstellt,
ohne genügende Transparenz, mit mangelnder Gewaltenteilung und ungenügender parlamentarischer Mitwirkung, insbesondere der nationalen Parlamente. Ich
halte dies mit Blick auf die derzeitige Praxis der Rechtssetzung der Europäischen Union bereits heute für verfassungswidrig. Ich freue mich, dass auch der deutsche
Außenminister dies erkannt hat. Denn wir brauchen die
Akzeptanz der Bevölkerung für die Europäische Union.
Wir können diese Dinge nicht nur von oben herab intellektuell zimmern und auf den Weg bringen. Die Europäische Union befindet sich in einer Akzeptanzkrise. Wir
müssen als nationales Parlament unseren Beitrag dazu
leisten, das zu ändern. Diese Idee, diesen Gedanken, diese
Zusammenarbeit mit Ihnen greifen wir an dieser Stelle
sehr gerne auf.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile nun dem
Kollegen Christian Sterzing, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was
wir gerade hier erlebt haben, ist die souveräne Ignoranz
dessen, was sich in den letzten 50 Jahren entwickelt hat,
({0})
sowohl integrationspolitisch als auch hier in der Bundesrepublik, als auch hinsichtlich dessen, was den Menschenrechtsbegriff in den letzten Jahrzehnten geprägt hat.
Wenn Ihre Worte hier ernst genommen werden sollen,
erwarte ich in Bälde eine ganze Reihe von Verfassungsänderungsanträgen aus Ihrer Fraktion, die all das aus dem
Grundgesetz beseitigen, was über die klassischen Grundrechte hinausgeht. Denn zumindest bislang sind wir uns
darüber einig gewesen, dass dieses Grundgesetz von 1949
mehr enthält - zu Recht - als das, was man im Allgemeinen unter dem klassischen Grundrechtsbegriff versteht.
({1})
Wir sollten sehen, was sich in den letzten Jahrzehnten
an tief greifenden Veränderungen getan hat, welchen Integrationsprozess es gegeben hat, von der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft über die Europäischen Gemeinschaften bis zur Europäischen Union. Wir stehen seit
Maastricht nicht mehr vor der Frage, ob wir eine politische Union wollen, sondern wir stehen vor den vielfältigen Fragen: Wie soll sie gestaltet werden? Wie weit
soll die Binnenmarktintegration fortentwickelt werden?
Welche Regelungen braucht dieser Raum der Freiheit, des
Rechts und der Sicherheit? Welche Gestalt soll diese
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik haben? Also:
Welchen Grad an Vertiefung wollen wir und welche Kompetenzen soll die Europäische Union haben?
Auf all diese Fragen gibt die Grundrechte-Charta keine
Antwort. Sie kann es nicht, sie soll es nicht. Dennoch ist
sie notwendig. Denn die immer tiefer gehende Integration
erfordert eine Flankierung dieser Regelungsdichte durch
einen effektiven Grundrechtsschutz.
Wenn wir über den weiteren Bau am Haus Europa sprechen, dann ist es höchste Zeit, dass wir für dieses Haus ein
tragfähiges, ein menschen- und bürgerrechtliches Fundament bauen, das der Gesamtarchitektur dieses europäischen Hauses auf Dauer Stabilität verleiht.
Gerade die wachsenden Kompetenzen der EU sind es,
die einen Grundrechtsschutz notwendig machen. Es ist
deutlich darauf hinzuweisen: Grundrechte bedeuten eine
Beschränkung von Kompetenzen und von Kompetenzausübung.
({2})
Insofern habe ich wenig Verständnis für die mit der Europäischen Grundrechte-Charta verbundene Angst, dass es
zu einer unregelbaren Ausweitung der Kompetenzen der
EU kommen kann. Nein, Kompetenzen und Grundrechtsschutz gehören zusammen. Das sind die zwei Seiten einer
Medaille. Insofern ist nicht eine Kompetenzerweiterung
das Problem, sondern eine Kompetenzbegrenzung und
die Kontrolle der Kompetenzen. Hier soll und muss die
Europäische Grundrechte-Charta ihren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, die Erarbeitung einer
Grundrechtscharta geht auf eine Initiative der Bundesregierung zurück. Es ist Grund zur Freude, dass diese Initiative aufgegriffen worden ist. Der Konvent arbeitet seit
Dezember letzten Jahres mit hoher Intensität und unter
großem Zeitdruck. Wir sollten unseren Vertretern in diesem Konvent, insbesondere dem Kollegen Meyer und
dem Kollegen Altmaier, für ihre engagierte Mitarbeit
Dank sagen, die ihnen von vielen Mitgliedern des Konventes nachgesagt wird.
({3})
Lassen Sie mich drei Bemerkungen zum Konvent machen, die mir wichtig erscheinen: Der Konvent - dies ist
der erste Aspekt - sollte ein Vorbild für die Fortentwicklung des Integrationsprozesses sein. Mit seiner mehrheitlichen Zusammensetzung aus Parlamentariern des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente
verkörpert er sozusagen eine Alternative zu dem herkömmlichen intransparenten Prozess der Regierungskonferenzen, in denen die europäische Integration bislang
weiterentwickelt worden ist. Die Unzufriedenheit mit der
Methode der Regierungskonferenzen ist ja weit verbreitet. In Rahmen dieses Konventes ist sehr viel mehr Transparenz gewährleistet. Die parlamentarische Zusammensetzung und auch die ergebnisorientierte Arbeitsweise
sollten im Rahmen dessen, was in Europa passiert, Schule
machen.
Die zweite Bemerkung: Wir sollten uns die Arbeitsweise des Konventes sehr genau anschauen. Hier wird
nicht nur in vorbildlicher Weise transparent gearbeitet.
Vielmehr sind auch zivilgesellschaftliche Kräfte, also
Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen, in
die Arbeit des Konventes eingebunden. Das trägt ganz
wesentlich zur Entwicklung einer transnationalen Demokratie in Europa bei. Auch dies sollte Schule machen.
Die dritte Bemerkung ist allerdings eine kritische: Unzureichend ist die Beteiligung der Beitrittsländer an diesem Arbeitsprozess. Die Regierungen der Beitrittsländer
werden einmal angehört. Aber die Zivilgesellschaften der
Beitrittsländer haben keinerlei Chance, Stellung zu nehmen. Ich glaube, dass wir hier die Chance vertan haben,
durch eine gemeinsame Auseinandersetzung über das
Wertefundament der EU der in diesen Ländern wachsenden Skepsis gegenüber dem Beitrittsprozess entgegenzuwirken und an einer gemeinsamen europäischen Identität
zu arbeiten. Das hätte ein Signal sein können. Diese
Chance ist leider verspielt worden.
Insofern können wir mit der zuletzt genannten Einschränkung feststellen, dass dieser Konvent mit seiner
parlamentarischen und gesellschaftlichen Partizipation
einen wesentlichen Fortschritt darstellt. Wir alle sollten
dafür sorgen, dass dies keine Eintagsfliege bleibt.
({4})
Was sollen die Ziele einer Grundrechte-Charta sein?
Man kann dies in drei Stichworten zusammenfassen: Stärkung der Legitimation, Förderung der europäischen Identität und Vertiefung der Integration.
Zunächst zur Stärkung der Legitimation. Wir reden
immer wieder über das Demokratie-, aber eben auch
über das Legitimationsdefizit innerhalb der EU. Ich
glaube, es ist allen deutlich geworden, wie wichtig es ist,
den Fortschritten in der Entwicklung der Integration mit
der Stärkung der Legitimation ein Fundament zu geben.
Der Grundrechtsschutz, der bislang in der EU existiert, ist
lückenhaft, er gilt nicht bei allen drei Säulen gleichermaßen. Die Unionsbürger und -bürgerinnen haben ein
Recht darauf, zu wissen, welche Rechte ihnen gegenüber
der Union und ihren Organen zustehen. Sie haben ein
Recht darauf, dass die EU ihnen zusichert, dass sie diese
Rechte auch durchsetzen können. Insofern muss klar sein:
Zur Stärkung der Legitimation der EU brauchen wir die
Rechtsverbindlichkeit dieser Grundrechts-Charta.
Zum zweiten Ziel, zur Förderung der europäischen
Identität. Es ist nicht zu übersehen, dass Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit mehr und mehr um sich
greifen. Ich glaube, es ist wichtig, die Erarbeitung der
Grundrechte-Charta dafür zu nutzen, sich der gemeinsamen Traditionen in Europa zu versichern und über die täglichen Auseinandersetzungen hinaus - über Rindfleischetikettierungen, Altölverordnungen und Fettbestandteile in der Schokolade - Gemeinsamkeiten
herauszuarbeiten. Wenn es dem Konvent gelingt, eine
breite gesellschaftliche Debatte zu initiieren, dann könnte
die Erarbeitung der Grundrechte-Charta gerade auch im
Hinblick auf die bevorstehenden EU-Beitritte ein wichtiger Beitrag zur Stärkung dieser europäischen Identität
werden.
Drittens zur Vertiefung der Integration. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Bei der Grundrechte-Charta gilt
es - das wurde schon angesprochen -, zwei Aspekte zu
berücksichtigen: Sie ist Teil des verfassungsgebenden
Prozesses in Europa. Wir müssen aber auch sehen, dass
wir über sehr unterschiedliche menschen- und grundrechtliche Traditionen in Europa verfügen. Ziel muss es
sein, diese zusammenzufügen. Darüber eine produktive
Auseinandersetzung im Konvent und in einer transnationalen, europäischen Öffentlichkeit zu führen ist eine ganz
wesentliche Aufgabe. Es muss uns gelingen, diese produktive Zusammenarbeit so zu gestalten, dass mehr als
ein Minimalkonsens dabei herauskommt.
({5})
Wenn es uns gelingt, dass die Grundrechte-Charta die
Vielfalt Europas widerspiegelt, wenn die spezifischen nationalen Grundrechtstraditionen berücksichtigt werden,
dann ist uns, so glaube ich, ein gutes Stück Arbeit auf dem
Weg der Integration gelungen und dann kann die Grundrechte-Charta die Hoffnungen erfüllen, die wir mit ihr
verbinden. Ich glaube, wir alle sind bereit - das ist heute
deutlich geworden -, dazu einen Beitrag zu leisten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte am
Schluss dieser sehr wichtigen und, wie in der grundlegenden Zielsetzung der Grundrechte-Charta zum Ausdruck
kommt, breit getragenen Debatte - von Details abgesehen - auf den entscheidenden Ansatz für eine Grundrechte-Charta der Europäischen Union zurückkommen.
In der Tat besteht hier gegenwärtig ein Defizit - allerdings weist die Europäische Union, ehrlich gesagt, zurzeit
andere, größere Defizite auf -: Da, wo die Europäische
Union einen staatlichen bzw. bundesstaatlichen Charakter
hat, das heißt, wo sie staatliche Gewalt ausübt, brauchen
die Bürger der Union transparente und handhabbare
Rechte gegenüber der EU.
({0})
Das ist der Beginn einer Verfassungsdebatte - Herr Zöpel,
da stimme ich Ihnen zu -, die mit einer Verfassung oder
einem Verfassungsvertrag enden wird. Das können wir
jetzt noch nicht genau festlegen. Die CDU/CSU-Fraktion
unterstützt genau dieses Anliegen der Europäischen
Union. Es geht in erster Linie um die Begrenzung staatlicher Gewalt gegenüber den Bürgern der Union.
Wir begrüßen auch die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Grundrechtskonventes. Möglicherweise
wird - nur dann, wenn die Arbeit von Erfolg gekrönt sein
wird - die Zusammensetzung des Grundrechtskonvents
exemplarisch für künftige grundlegende Reformen in der
Europäischen Union sein. Dabei stellt sich nach wie vor
das Problem, dass im Wesentlichen Regierungen oder Beamte verhandeln und die Mitgliedstaaten irgendwann ratifizieren können. Dann sind sie eher geneigt, zuzustimmen, statt einen wichtigen Ratifizierungsprozess anzuhalten, weil der eine oder andere Teil nicht ordnungsgemäß
umgesetzt worden ist.
Ich möchte einige Bemerkungen zu Gefahren machen,
die ich in der Debatte um die Grundrechte-Charta zurzeit
sehe. Ich sehe, dass in dem Maße, wie die effektive Arbeit
an der Regierungskonferenz zur institutionellen Reform
nicht vorankommt, europäische Regierungen - diesen
Vorwurf richte ich nicht unbedingt an die Bundesregierung - mehr Interesse an der Diskussion um die Grundrechte-Charta zeigen, und zwar mit einer Zielrichtung, die
ich für gefährlich halte: Es ist nämlich durchaus möglich das ist ein großes Problem, von dem wir zurzeit herausgefordert werden -, dass bei einem nicht für ausreichend
gehaltenen Ergebnis der Regierungskonferenz Ende dieses Jahres in Nizza die Regierungschefs - wir kennen alle
das Ritual von Gipfeln; wir wissen, wie sie stattfinden;
das ist unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Teilnehmer - geneigt sein werden, einen
großzügigen und weiten Grundrechtskatalog feierlich zu
deklarieren, der den Eindruck vermitteln soll, dass sie
wieder sehr erfolgreich gewesen sind, der aber letztlich
keine direkten Konsequenzen für die Bürger der Europäischen Union haben wird.
Ein Problem wiegt besonders schwer: Wenn die
europäische Öffentlichkeit wieder einmal den Eindruck
gewinnt, dass die Regierungen formulieren, welche Rechte die Bürger ihnen gegenüber haben, dann ist das auf jeden Fall nicht vertrauensbildend. Die Grundrechte-Charta
kann nur erfolgreich sein, wenn die Bürger der Europäischen Union sie als Teil ihrer Identität annehmen. Das
heißt, dass die Beteiligung der Parlamentarier an der Arbeit an dieser Grundrechte-Charta von ganz entscheidender Bedeutung ist.
({1})
Gerade aufgrund der Gefahren, die ich eben beschrieben habe, halte ich es für sehr wichtig, das der Deutsche
Bundestag heute über die Arbeit an der GrundrechteCharta debattiert. Ich denke, dass sich in den nächsten
Wochen entscheiden wird, ob dieses Projekt gelingt oder
ob es zu einer Showveranstaltung der Regierungen der
Mitgliedstaaten verkommt, möglicherweise - das habe
ich schon erwähnt - auch noch als Ersatz für die fehlende
substanzielle Reform im institutionellen Bereich auf dem
Gipfel in Nizza Ende dieses Jahres.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen bei der Grundrechtsdebatte - darüber sind wir uns im gesamten Haus im
Wesentlichen einig - keinen Wettlauf um die schönste und
modernste Charta, die vielleicht wirkungslos sein wird,
sondern wir wollen einen Wettlauf um die effizienteste
und wirkungsvollste Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die dann Bestandteil der Europäischen Verträge werden muss.
Ich möchte noch kurz auf drei Schwerpunkte zurückkommen, die für uns besonders wichtig sind. Die Grundrechte-Charta soll kurz und knapp formuliert werden; sie
soll so formuliert werden, dass sie als verbindlicher Text
in die EU-Verträge aufgenommen werden kann - und
zwar so, wie der Grundrechtskonvent sie verabschiedet
hat -, sodass die darin enthaltenen Rechte für den Bürger
einklagbar und durchsetzbar sind.
({2})
Wir werden bei dem weiteren Verfahren betreffend die
Grundrechte-Charta sehr deutlich darauf achten, dass
nicht - wer an derAnhörung mit den NGOs teilgenommen
hat, hat das ja deutlich hören können - mit der Grundrechte-Charta sozusagen durch die Hintertür neue Rechte
für die Europäische Union auch gegenüber den Mitgliedstaaten eingeführt werden. Wenn es eine Kompetenzausweitung geben soll - sie wird es geben; daran werden wir
uns konstruktiv beteiligen -, dann muss die Debatte darüber mit offenem Visier geführt werden und es darf keine
Kompetenzausweitung durch die Hintertür, durch eine
Grundrechte-Charta, geben.
Ferner ist mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen,
dass diese Grundrechte-Charta, wenn sie, als Bestandteil
der Europäischen Verträge, Erfolg haben soll, ein wichtiger, aber nur der erste Baustein für die weitere Arbeit an
einem europäischen Verfassungsvertrag ist. Der nächste
Baustein, der entscheidend ist, ist der, dass die Europäische Union spätestens nach Konstituierung dieser
Grundrechtscharta mit der Arbeit an der Konstituierung
eines Kompetenzkataloges der Europäischen Union beginnen muss, der einerseits die Rechte der Europäischen
Union gegenüber den Mitgliedstaaten darstellt, aber auch
andersherum die Rechte der Mitgliedstaaten gegenüber
der Europäischen Union klar definiert.
Deshalb schlage ich folgende Verfahrensweise vor, die
zum Teil - das weiß ich aus den Ausschussberatungen auch von der Bundesregierung unterstützt wird: Auf dem
Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Nizza Ende dieses Jahres sollte neben der Beschlussfassung zu einer substanziellen institutionellen Reform und neben der Beschlussfassung zu der Grundrechtscharta ein Rahmenbeschluss über einen zu schaffenden Kompetenzkatalog
gefasst werden und damit gleichzeitig der Auftrag an die
Europäische Union verbunden werden, diesen Kompetenzkatalog detailliert zu erarbeiten. Bei der Arbeit an diesem Kompetenzkatalog sollten sich die europäischen Organe an dem Vorschlag der so genannten drei Weisen für
die institutionelle Reform orientieren, nämlich der Zweiteilung der Verträge in einen grundsätzlichen - sagen wir
einmal: verfassungsähnlichen - Teil und einen flexibleren
Teil der üblichen vertraglichen Bestimmungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Obleute
des Europaausschusses haben sich bei ihrer letzten Sitzung die Aufgabe gestellt, zu versuchen, die drei Anträge,
die heute zur Abstimmung vorliegen, nach der Überweisung an den federführenden Ausschuss zu einem Antrag
zusammenzuführen. Ich halte dieses Projekt für erfolgversprechend; denn wenn man die drei Anträge liest,
merkt man sehr genau, dass es in den grundsätzlichen Linien große Übereinstimmung gibt. Es besteht sicherlich
die Möglichkeit, dass man in den Details zu tragbaren
Kompromissen kommt.
Das heißt, wir von der CDU/CSU unterstützen nachhaltig das Ziel, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Erstens hat das den Vorteil, dass unsere Mitglieder im
Grundrechtskonvent ein klares Votum des Deutschen
Bundestages mit breiter, verfassungsgebender Mehrheit
abgeben können. Zweitens ist das wichtig als Signal für
unsere europäischen Partner: damit sie erkennen, dass ein
bedeutendes Mitgliedsland der Europäischen Union, die
Bundesrepublik Deutschland, in seinem Parlament in
großer Einmütigkeit einen Grundsatzbeschluss zur Ausformulierung dieser Grundrechtscharta gefasst hat.
({3})
Ich hoffe, dass wir in der Sache vorankommen und
dass die Grundrechtscharta ein Erfolg der Europäischen
Union wird und die Integration und Identität der Europäischen Union vorantreibt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als Letztem in dieser
Debatte erteile ich das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Professor Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich denke, dass wir heute insgesamt eine ausgesprochen inhaltsreiche und gute Debatte geführt haben.
Die Bundesregierung bedankt sich natürlich für das Lob,
das in der Debatte gelegentlich durchschien.
Ich möchte dieses Lob aber zurückgeben und zunächst
einmal dem Kollegen Jürgen Meyer sehr herzlich danken,
dass er diese Debatte heute so eindrucksvoll bestritten hat.
Aus meiner persönlichen Erfahrung darf ich sagen: Als
Jürgen Meyer vor fünf Jahren mit der Idee kam, eine
Charta der Grundrechte - er nannte sie schon damals so auf europäischer Ebene ins Leben zu rufen, ist ihm viel
Staunen, Ungläubigkeit und Skepsis entgegengebracht
worden. Ich denke, es ist ein großer Erfolg, dass diese Initiative heute eine derartige Dimension und Intensität nicht nur in diesem Hause, sondern insgesamt in Europa gefunden hat.
({0})
Der Dank gilt nicht minder Frau LeutheusserSchnarrenberger und Herrn Altmaier,
({1})
die ich jetzt vor anderen hervorheben will, weil ich weiß,
dass sie diese Fragen mit besonderem Engagement verfolgen.
Wir wollen - das ist die Absicht der Bundesregierung - mit dieser Charta die Union den Bürgern und die
Bürger der Union näher bringen. Der Konvent arbeitet intensiv an Texten, die nach unserer Auffassung eine gute
Grundlage für den angestrebten Entwurf darstellen. Auch
das ist aus deutscher Sicht ein Erfolg.
Nun gibt es - das ist schon angesprochen worden - in
dem Konvent unterschiedliche Strömungen. Deswegen
haben wir keineswegs die Garantie für den Erfolg des Projekts in Händen. Da dieser Konvent ein neuartiges Gremium ist - aus europäischen Parlamentariern, aus nationalen Abgeordneten und aus Regierungsbeauftragten zusammengesetzt -, muss man die Ergebnisse abwarten,
denn es liegen bisher noch keine Erfahrungen mit der Arbeitsweise entsprechender Gremien vor. Insofern steht die
Bewährungsprobe noch aus.
Die Verhandlungen im Konvent sind vielstimmig und
die Unterschiede verlaufen weder eindeutig entlang der
Parteigrenzen noch entlang der verschiedenen Gruppen
von Teilnehmern. Am stärksten lassen sich die Unterschiede immer noch nach den Staatsgrenzen feststellen.
Es gibt eine gewisse Skepsis bei den Kollegen aus Großbritannien; umgekehrt ist deutlich, dass gerade Frankreich, insbesondere bei den sozialen Grundrechten, eine
ehrgeizige Charta wünscht.
Zwischen den Vorstellungen der Beteiligten, und insbesondere der nationalen Regierungen, muss schließlich
ein Kompromiss gefunden werden, damit wir in diesem
Punkt in Nizza einen Erfolg in Händen halten.
Ich denke, oberstes Ziel ist, dass eine echte Charta zustande kommt. Das bedeutet, dass der Integrationsschritt
über das Richterrecht und die Generalklausel hinaus zu einer Umschreibung der einzelnen Grundrechte gelingt.
Schon das Grundgesetz fordert, dass die Europäische
Union einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Alles andere würde hinter dem erreichten Stand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückbleiben.
Allerdings gibt es auch bei den klassischen Freiheitsund Abwehrrechten, über die in der Sache europaweit
Konsens besteht, im Konvent noch Divergenzen in der
Formulierung, und man muss sicher noch über die
Verbesserung der Möglichkeit der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs in Grundrechtsangelegenheiten nachdenken.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz wichtig ist eine
Formulierung, die erlaubt, die Grundrechtscharta unverändert in die Verträge aufzunehmen, und - auch das ist
heute schon allgemein betont worden - entscheidend für
die Vollendung der Rechtsstaatlichkeit ist die Festschreibung als einklagbare, rechtlich verbindliche Gewährleistungen.
Schließlich kommt es darauf an, möglichst eine optimale Fassung der einzelnen Grundrechte und der gesamten Charta auszuhandeln. Ich denke, dass bei den klassischen Freiheits- und Abwehrrechten die Ausformulierung
der einzelnen Gewährleistungen vor dem Hintergrund des
sachlichen Grundkonsenses eine spezifisch juristische
Aufgabe ist.
Meine Damen und Herren, ich stehe nicht an und versuche auch nicht, eine Zusammenfassung der heutigen
Diskussion vorzunehmen. Ich denke, sie kann uns insgesamt optimistisch stimmen. Die Bundesregierung und
auch das Bundesministerium der Justiz sagen zu, die Vertreter Deutschlands in diesem Konvent wie bisher soweit
wie möglich und soweit es gewünscht wird zu unterstützen; denn wir alle müssen ein großes Interesse daran haben, dass dieses Projekt, das von Deutschland ausgegangen ist, schließlich zu einem europäischen Projekt wird
und zu einem europäischen Ergebnis führt.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3368 und 14/3322 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3387 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf der Drucksache 14/3368
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Das Präsidium schließt sich dem Wunsch des Kollegen Stübgen an, möglichst ein gemeinsames Votum des
Deutschen Bundestages in dieser wichtigen Frage zu erreichen. In diesem Sinne wünsche ich denjenigen, die daran arbeiten, viel Erfolg.
({0})
Ich rufe jetzt den vorhin zurückgestellten Tagesordnungspunkt 21 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes
- Drucksache 14/2636 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({2})
- Drucksache 14/3348 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Zunächst erteile ich dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Peter Bleser, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache
14/2636 -, dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes, möchte ich folgende Erläuterung abgeben: Der Beschluss des Ausschusses, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
14/2636 unverändert anzunehmen, bedeutet, dass die Änderungen, die sich aus der Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates unter Anlage 3 der Bundestagsdrucksache 14/2636 ergeben, einzubeziehen sind.
Danke schön.
({0})
Jetzt wissen wir alle,
worum es geht. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/3348 die
Annahme des Gesetzentwurfes. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf mit den soeben vom Berichterstatter
vorgetragenen Änderungen zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Beim Futtermittel sind wir uns alle einig und der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Max Straubinger, Klaus Hofbauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Kurzfristige Beschäftigungen im Rahmen des
630-DM-Gesetzes entlasten
- Drucksache 14/2990 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Jahr nach
der Neuregelung der 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse lautet die Schadensbilanz wie folgt: 600 000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind effektiv verloren gegangen.
({0})
Das entspricht der Einwohnerzahl von Dortmund.
({1})
Der bürokratische Aufwand übertrifft die schlimmsten
Vorhersagen. Viele mittelständische Unternehmen geraten in Existenznot und die Schattenwirtschaft blüht.
({2})
Deshalb muss dieses 630-DM-Gesetz weg! Es muss
korrigiert werden. Es ist von Grund auf falsch.
({3})
Die Auswirkungen:
({4})
Arbeitnehmer und Arbeitgeber flüchten vor zu viel Bürokratie und neuem Abkassieren. Eine wachsende Mehrheit
von Menschen in Deutschland, ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, lehnt den Gesetzespfusch der 630-DM-Regelung ab.
({5})
Der Einzige, der noch dafür ist und die rosarote Brille
aufsetzt, ist der Arbeitsminister. Der spricht von planvollen Erfolgen, die allerdings außer ihm niemand erkennen
kann.
({6})
- Warten Sie nur, ich erkläre es Ihnen.
Erstens. Die vor kurzem veröffentlichte KienbaumStudie schätzt, dass nur rund 100 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden sind. Der gleichzeitige Kahlschlag - betroffen sind 700 000 geringfügig Beschäftigte - kann damit jedoch nicht annähernd ausgeglichen werden.
Zweitens. Zu Recht machen sich die geringfügig
Beschäftigten über angeblich verbesserte Möglichkeiten
der Alterssicherung keinerlei Illusionen. Das ergibt sich
auch daraus, dass nur 2,5 Prozent der geringfügig Beschäftigten von der Möglichkeit einer freiwilligen Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge Gebrauch machen.
Dies ist auch verständlich, denn nachdem diese rotgrüne Bundesregierung die 18 Millionen Rentnerinnen
und Rentner in den zurückliegenden Monaten ständig
getäuscht hat, hat keiner mehr Vertrauen.
({7})
Es ist vor allem auch deshalb verständlich, ({8})
- Das hören Sie nicht gerne, Herr Dreßen.
({9})
- Herr Dreßen, soll ich Ihnen noch einmal vorlesen, was
der Bundeskanzler auf dem politischen Aschermittwoch
in Vilshofen im Jahr 1999 gesagt hat?
({10})
- Sie können es schon noch einmal von mir hören. Ich
hatte mir gedacht, diesmal erspare ich es Ihnen; aber wenn
Sie mich provozieren, sage ich es Ihnen noch einmal.
Er hat damals gesagt: Wir bleiben bei der nettolohnangepassten Rente. Hundert Tage später, in einem Interview
mit der „Bild“-Zeitung, sagte er: Das war ein Irrtum, wir
müssen leider von der nettolohnangepassten Rente Abstand nehmen. In der Sendung von Frau Christiansen im
Oktober 1999 sagte er: Ich muss mich bei den Rentnern
entschuldigen.
Sie können noch mehr davon hören. Wenn das keine lupenreine Täuschung ist, wenn das nicht ein gebrochenes
Wahlversprechen ist, dann weiß ich nicht, was das sonst
sein soll.
({11})
Herr Dreßen, rufen Sie also nicht so oft dazwischen.
Es ist aber auch verständlich, dass sich so wenige daran beteiligen, weil nämlich selbst bei einer Ausschöpfung der möglichen Rentenanwartschaft gemäß der 630DM-Regelung der tatsächliche Anstieg der Rente, wenn
sonst nichts anderes hinzukommt, 6,79 DM im Monat
ausmacht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür kann
sich ein Rentner gerade einmal zwei Käsebrötchen im
Monat leisten. Bei diesem Betrag kann von einer Alterssicherung nicht im Ansatz die Rede sein.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Die ständig wachsenden Schwierigkeiten in der Rentenversicherung bekommen Sie damit natürlich auch
nicht in den Griff, sondern dafür müssen Sie endlich ein
geschlossenes Rentenkonzept vorlegen. Statt des
Herumdokterns brauchen Sie eine Konzeption.
({12})
Drittens. Die neuen zusätzlichen Beitragseinnahmen
für die Sozialversicherungen sind natürlich mit Steuerausfällen teuer erkauft. Die neu eingeführte Freistellung
für geringfügig Beschäftigte verringert das Steueraufkommen, auch wenn Sie das nicht hören wollen.
Viertens. Die Neuregelung dieser 630-DM-Jobs entpuppt sich letztlich als wahrer Treibsatz für die Schattenwirtschaft. Das haben Sie erreicht.
({13})
Der Schwarzarbeitsexperte Friedrich Schneider hat vor
kurzem auf einem Kongress, an dem auch Ihr Bundeskanzler teilgenommen hat, vorgerechnet, dass sich allein
durch die Neuregelung das Umsatzvolumen von illegaler
Arbeit an Sozialkassen und Fiskus vorbei auf 12 Milliarden DM erhöht hat.
({14})
Wenn ich nur davon ausgehe, dass davon etwa 2 Milliarden DM in die Sozialkassen fließen könnten oder
fließen würden, dann meine ich, mit diesen 2 Milliarden DM könnte man viel Gutes tun, beispielsweise im Bereich der Pflegeversicherung für die Demenzkranken; da
könnten wir es wieder ausgeben.
({15})
Fünftens. In vielen Branchen steigen der Leistungsdruck und die Arbeitsbelastung der fest angestellten Mitarbeiter. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels
erklärt, dass ihm kein einziger Fall bekannt sei, in dem ein
ehemaliger 630-DM-Beschäftigter in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen wurde. Vielmehr sei es so,
dass die Festangestellten jetzt die Arbeit der Aushilfen mit
erledigen müssten. Statt mehr Beschäftigungsverhältnisse
bedeutet dies für die Betroffenen mehr Hetze, mehr Druck
und mehr Leistungsverdichtung.
Die bürokratischen Regelungen entmutigen viele Arbeitgeber und lassen sie ein neues geringfügiges Beschäftigungsverhältnis gar nicht mehr ausprobieren. Die Ausgestaltung der Verwaltungsvorschriften für diese Neuregelung ist in der Tat verdächtig für den Nobelpreis für
verdiente Bürokraten.
Verheerend wirkt sich diese nicht zu Ende gedachte
Regelung für eine Reihe mittelständischer Unternehmen
und ihre Mitarbeiter aus. Ich darf nur ein markantes Beispiel herausgreifen. Man könnte viele andere Branchen
ähnlich exakt beschreiben. Ich nehme das Beispiel der
Anzeigenblätter. Anzeigenblätter - das wissen Sie - werden vielfach einmal in der Woche ausgetragen. Ein festes,
dauerndes Arbeitsverhältnis in der üblichen Weise ist deshalb nicht möglich. In diesem Bereich findet kein Missbrauch statt, eine andere Art der Beschäftigung ist
schlichtweg ausgeschlossen. Viele Anzeigenzusteller verdienen sich ein Zubrot. Sie arbeiten nicht nur in einem
Jahr bis zu 50 Tage, sondern sie arbeiten mehrere Jahre
lang bis zu 50 Tage im Jahr.
Bei den Verdiensten von 50 DM bis 630 DM, die in diesem Bereich gezahlt werden, ist es völlig ausgeschlossen,
dass ein solcher Zeitungszusteller von seinem Nebenverdienst auch noch die Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
Dies geschieht durch die Betriebe. Die Betriebe haben dadurch eine Belastung von jährlich 65 Millionen DM. Dem
steht ein gigantischer Verwaltungsapparat gegenüber. Jedem Beschäftigten muss im Lohnzahlungszeitraum, das
heißt monatlich, eine Bestätigung über weitere Einkünfte
und eine entsprechende Negativerklärung abverlangt werden. Diese Negativerklärung muss archiviert und aufgehoben werden, eine Steuerkarte muss vorgelegt werden
und die entsprechenden Beträge müssen abgeführt werden. Der oft geringe Verdienst - nehmen wir einen mittleren Verdienst von 200 bis 300 DM - steht daher in keinem
Verhältnis zum bürokratischen Aufwand.
Ganz schlimm wird es dann, wenn zum Beispiel ein
Schüler, der etwa 50 DM im Monat bekommt, weil er etwas austrägt, vergisst, dem Verlag mitzuteilen, dass er
eine Lehre begonnen hat oder eine andere Krankenkasse
gewählt hat. Wenn dies nach drei Monaten auffällt - dies
tritt in vielen Fällen auf -, muss der Verlag Folgendes erledigen - ich kann es Ihnen nicht ersparen -: Erstens. Er
muss die Abrechnung mit dem Zusteller rückwirkend korrigieren. Zweitens. Er muss rückwirkend eine Meldung an
die alte und die neue Krankenkasse senden. Drittens. Er
muss Korrekturen der Beitragsnachweise der alten und
der neuen Krankenkasse einholen. Viertens. Er muss die
Beitragszahlungen korrigieren. Und Fünftens. Er muss
die interne Verbuchung korrigieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei Sozialversicherungsausgaben in Höhe von maximal 12,50 DM um das Beispiel fortzuführen - und bei einem Entgelt von
50 DM fällt oft ein höherer Betrag von Verwaltungskosten
an, als der Auszahlungsbetrag selbst ausmacht. Ein größeres Maß an Unproduktivität als in diesem Beispiel ist
schlichtweg nicht mehr vorstellbar.
({16})
Das ist der Grund, warum wir eine neue Regelung für
diesen speziellen Bereich verlangen - abgesehen davon,
dass wir ohnehin für eine grundsätzliche Neuregelung
sind -, das heißt
({17})
eine Neuregelung der 50-Tage-Regelung. Wenn jemand
50 Tage in einem Jahr arbeitet, dann kann er diese Tätigkeit nicht ohne weiteres im nächsten Jahr fortsetzen.
Diese Regelung soll zumindest in diesem einen Punkt
geändert werden. Das Korsett der 50-Tage-Regelung soll
erweitert werden auf mehrere Jahre. Den Verlagen haben
Sie - einige von ihnen sitzen hier - in Gesprächen durchaus signalisiert, dass dieses Problem nicht erfunden ist,
sondern von Ihnen als real und drückend empfunden wird.
Leider sind den Ankündigungen vonseiten der Regierung
keinerlei Taten gefolgt, sodass viele in dieser Branche,
aber auch in anderen Branchen dies als politischen Wortbruch neuerer Art empfinden müssen.
({18})
Ein weiteres Beispiel ist der Gastronomiebereich. Aus
Zeitgründen erspare ich Ihnen das.
Meine Bitte an Sie ist: Nachdem Sie das Gesetz zur
Scheinselbstständigkeit nach neun Monaten korrigiert haben - es zumindest versucht haben -, machen Sie einen
zweiten schlimmen Fehler, den Sie im letzten Jahr mit
dem 630-DM-Gesetz begonnen haben. Korrigieren Sie
das Gesetz zumindest so, wie wir es Ihnen jetzt vorgeschlagen haben.
({19})
Ich erteile der Kollegin Leyla Onur von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Singhammer, Sie sind sich auch wirklich für nichts zu
schade. Ich kenne Sie ja aus dem Ausschuss. Aber das,
was Sie heute abgeliefert haben,
({0})
spottet jeder Beschreibung.
({1})
Aber damit sind Sie nicht alleine; denn die gesamte
CDU/CSU hat seit der letzten Aussprache zu den 630Mark-Arbeitsverhältnissen nichts, aber auch gar nichts
dazugelernt. Deshalb versuchen Sie mit Ihrem heutigen
Antrag zu den 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen,
dieses Thema wieder - man kann nur noch sagen - hochzuziehen.
({2})
Haben Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, noch immer nicht begriffen, dass getretener
Quark zwar breit, aber ganz sicherlich nicht stark wird?
Vielleicht versuchen Sie das endlich einmal zu verstehen.
Nach Art der berühmten tibetanischen Gebetsmühle behaupten Sie wieder und immer wieder, das Gesetz zur
Neuregelung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse
habe negative Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt.
Diese Behauptung war, ist und bleibt falsch, auch wenn
Sie uns etwas anderes weismachen wollen.
Tatsache ist, dass unser Gesetz eine Erfolgsstory ist.
({3})
Die neuesten Zahlen des Bundesarbeitsministeriums
sprechen für sich. Inzwischen sind 4 Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigte registriert. Es gehen
noch immer Nachmeldungen der Arbeitgeber ein, die sich
auf den April 1999 beziehen, also auf den Zeitpunkt, an
dem das Gesetz in Kraft getreten ist.
({4})
Vielleicht erinnern Sie sich noch - falls Sie sich erinnern wollen; das ist natürlich die Voraussetzung -, dass
1998 von 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten die
Rede war,
({5})
einschließlich der Zahl der geringfügig Nebenbeschäftigten. Die Tatsache, dass heute 4 Millionen ausschließlich
geringfügig Beschäftigte sozialversichert sind - es ist
klar, dass die Zahl der geringfügig Nebenbeschäftigten
statistisch gar nicht mehr separat erfasst werden kann -,
übertrifft unsere Erwartungen bei weitem.
({6})
Wiederum bestätigt sich, dass die Neuregelung der 630Mark-Arbeitsverhältnisse notwendig und richtig war.
({7})
Mit Genugtuung stellen wir fest, dass die Einnahmen
der Renten- und Krankenversicherung stetig gestiegen
sind. Das ist ein willkommener Beitrag zur Senkung der
Lohnnebenkosten. Dazu einige Zahlen und Fakten: 1999
betrugen die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung aus den Beiträgen der ausschließlich geringfügig
Beschäftigten insgesamt 1,85 Milliarden DM. Für das
Jahr 2000 werden 2,85 Milliarden DM erwartet. Rund
140 000 geringfügig Beschäftigte nutzten die Möglichkeit, die Pauschalbeiträge auf den vollen Beitragssatz aufzustocken, um damit ihre Alterssicherung zu verbessern.
Das ist ein Anfang. Ich bin ganz sicher, die Frauen und
auch die Männer werden zunehmend diese Chance ergreifen.
({8})
Die positive Bilanz setzt sich auch bei der Krankenversicherung fort. 1999 flossen 1,6 Milliarden DM in die
Kassen der Krankenversicherungen. Für 2000 wird - vorsichtig geschätzt - mit Einnahmen in Höhe von 2,4 Milliarden DM gerechnet. Wohlgemerkt, dieser Geldsegen für
die Sozialversicherung bedeutet keine zusätzliche Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ehrliche
Arbeitgeber werden auch nicht belastet; denn die Pauschalsteuer ist weggefallen. Zwar verzichten Bund und
Länder mit der Neuregelung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse auf erhebliche Steuereinnahmen, aber
ganz bewusst zugunsten der Sozialkassen.
Noch einmal für die Langsamdenker in diesem Hohen
Hause:
({9})
Mit unserem Gesetz zur Neuregelung der 630-Mark-Jobs
haben wir das eingehalten, was wir vor der Wahl versprochen haben.
({10})
Auf dem Arbeitsmarkt herrschen wieder mehr Ordnung
und Gerechtigkeit. Die Grundlagen der Sozialversicherung sind nachhaltig gestärkt worden.
Das, was mich an Ihrem Antrag, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, allerdings besonders wundert,
ist das dünne Eis, auf das Sie sich begeben haben.
Sie erwähnen die Ergebnisse der Studie, die von den Ländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen
zu den Folgen des 630-Mark-Gesetzes 1999 in Auftrag
gegeben wurde. Das von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen mitgeteilte Resultat der Studie wertet das 630Mark-Gesetz als Erfolg.
({11})
Zusammengefasst die Ergebnisse: Die Aufsplitterung
normaler Beschäftigungsverhältnisse wurde gestoppt.
Vormals geringfügige Arbeitsverhältnisse wurden sogar
vermehrt in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse umgewandelt: in Niedersachsen 13 000, in Sachsen 4 000, in Nordrhein-Westfalen sogar 24 000. Das
630-Mark-Gesetz bringt der Renten- und Krankenversicherung höhere Einnahmen - die Zahlen habe ich genannt - und neue Kontrollmöglichkeiten. Missbrauch und
Schwarzarbeit werden verringert.
({12})
Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs hat nicht zu dem
von vielen befürchteten verstärkten Abwandern in die
Schwarzarbeit geführt;
({13})
vielmehr zeigen die Ergebnisse der Studie - Sie sollten sie
endlich einmal zur Kenntnis nehmen -, dass die so genannte Meldelücke kleiner geworden ist und sich fast nur
noch auf die Privathaushalte konzentriert.
({14})
Das Fazit dieser Untersuchung lautet für die niedersächsische und die nordrhein-westfälische Landesregierung - ich zitiere -: „Eine Korrektur des Gesetzes erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse
nicht erforderlich.“
({15})
So viel zum Thema „Dichtung und Wahrheit im CDU/
CSU-Antrag, erster Teil“.
Zum Thema „Dichtung und Wahrheit, zweiter Teil“ ist
erst einmal festzustellen, dass unsere Neuregelung vom
24. März 1999 an den Bestimmungen zur 50-Tage-Regelung gar nichts geändert hat.
({16})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Wir sind in der Zeit schon so weit
fortgeschritten und wir haben das Thema so oft durchgekaut, dass wir die Redezeit nicht unnötig verschwenden
sollten.
({0})
Hören Sie lieber zu, dann begreifen vielleicht auch Sie es
endlich einmal!
({1})
Die 50-Tage-Regelung steht - ich wiederhole es auch
für Sie - im Sozialgesetzbuch und nicht im 630-Mark-Gesetz. Durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts
im Jahre 1995 wurden der kurzfristigen Beschäftigung
sehr enge Grenzen gesetzt: Sobald der Ansatz von regelmäßiger Beschäftigung vorlag, entstand Sozialversicherungspflicht. Das ist in der Tat so.
Um jedoch dem besonderen Bedarf in der Gastronomie
und bei der Zustellung von Wochenblättern entgegenzukommen, ist die alte Regelung im Sozialgesetzbuch neu
interpretiert worden, und zwar so, dass sich die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger darauf geeinigt
haben, die 50-Tage-Regelung im Einvernehmen mit dem
Bundesarbeitsministerium flexibler zu handhaben. Somit
haben wir bereits drei Monate, bevor Ihr Antrag überhaupt
auf den Markt gekommen ist, gehandelt und Fakten geschaffen.
({2})
Was hat sich bei der Interpretation dieser alten Regelung im Sozialgesetzbuch geändert? Bisher galt: Eine
kurzfristige Beschäftigung liegt vor, wenn die Beschäftigung innerhalb eines Jahres seit ihrem Beginn auf längstens zwei Monate oder 50 Tage begrenzt ist. Für diese
kurzfristige Beschäftigung bestand Sozialversicherungsfreiheit unabhängig von der Einkommenshöhe. Wichtig
war, dass die Tätigkeit nur gelegentlich, also nicht regelmäßig, und nicht berufsmäßig ausgeübt wurde.
Seit Januar 2000 gilt, dass eine kurzfristige Beschäftigung auch dann vorliegt, wenn ein Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit von höchstens einem Jahr abgeschlossen
wird. Bedingung ist, dass für diesen Einjahreszeitraum
nicht mehr als 50 Arbeitstage vereinbart werden. Soll im
Anschluss ein neuer Arbeitsvertrag geschaffen werden, so
muss ein Abstand von zwei Monaten eingehalten werden.
Der Kernpunkt ist also: Die Arbeitstage können über das
ganze Jahr verteilt werden, auch regelmäßig.
Wenn wir uns das anhand eines Beispiels in der Praxis
ansehen, erkennen wir die Auswirkungen: Eine Büroangestellte möchte sich am Wochenende etwas dazuverdienen. Sie bekommt eine Tätigkeit in einem Hotel angeboten, wo sie einmal wöchentlich am Samstag oder Sonntag
arbeiten kann. Der Vertrag ist natürlich auf ein Jahr begrenzt; sie arbeitet also maximal 50 Arbeitstage. So bleibt
dieser Nebenjob versicherungsfrei. Das ist im Sinne der
Aushilfe und ganz sicherlich auch im Sinne des Hotelbesitzers. Einzige Bedingung: Will die Aushilfe länger als
ein Jahr, also über den vertraglich festgesetzten Zeitraum
hinaus arbeiten, muss sie allerdings eine zweimonatige
Pause einlegen.
({3})
Diese neue Interpretation der alten 50-Tage-Regelung
ist praxisnah und kommt sowohl Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern
({4})
als auch zum Beispiel den Verteileragenturen oder den
Unternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe entgegen.
Was Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSUFraktion, darüber hinaus fordern, ist schlicht absurd. Sie
wollen, dass Personen zum Beispiel einmal wöchentlich
kurzfristig länger als ein Jahr für denselben Arbeitgeber
tätig sein können, ohne dass Beiträge zur Sozialversicherung fällig werden. Man muss sich allein diese Formulierung einmal auf der Zunge zergehen lassen: „kurzfristig
länger als ein Jahr“. Ich frage Sie, ob Sie wirklich jedes
Gefühl für Zeit und Raum verloren haben.
({5})
Eigentlich müsste auch Ihnen klar sein: Alles, was über
ein Jahr hinausgeht, ist beim besten Willen keine kurzfristige Beschäftigung mehr, sondern eine auf Dauer angelegte Beschäftigung bzw. Nebentätigkeit.
({6})
Meine Damen und Herren, ich halte noch einmal
fest - für die Antragsteller von CDU/CSU sozusagen zum
Mitschreiben -:
({7})
Erstens. Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs hat sich eingespielt und ist ein voller Erfolg.
({8})
Zweitens. Auch die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sehen auf Grund der Ergebnisse der bereits erwähnten Studie keinen Änderungsbedarf.
({9})
Drittens. Die Regelungen zur kurzfristigen Beschäftigung
wurden neu interpretiert und sind jetzt flexibel und praxisnah anwendbar.
({10})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und auch
von der F.D.P., ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie unser Erfolgsgesetz loben.
({11})
Aber lassen Sie doch endlich das gebetsmühlenartige
Mäkeln an sinnvollen Neuerungen.
({12})
Mein guter Rat, ebenso persönlich wie herzlich gemeint,
lautet: Ziehen Sie diesen peinlichen Antrag zurück und
überlegen Sie sich etwas Besseres!
({13})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Offenkundig haben Sie,
Frau Kollegin Onur, niemals Zeitungen ausgetragen.
({0})
Sonst hätten Sie nämlich nicht so geredet, wie Sie es getan haben.
({1})
Ich habe das schon einmal gemacht.
({2})
Auch das ist eine Tätigkeit, die kurzfristig sein kann,
wenn man sie über einen längeren Zeitraum als ein Jahr
ausübt.
Dieses Gesetz zur Neuregelung der 630-MarkBeschäftigungsverhältnisse ist ein absoluter Flop und dieser Flop kann von Ihnen auch in noch so vielen Debatten
hier nicht schöngeredet werden.
({3})
Von den 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten, von denen Sie zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens ausgegangen sind, sind gerade einmal sage und schreibe rund
100 000 zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten
geworden.
({4})
Allerdings hat diese Neuregelung natürlich auch einen für
Sie positiven Effekt gehabt: eine Veränderung der Arbeitslosenstatistik. Im letzten April ist die Zahl der Arbeitslosen aufgrund Ihrer Neuregelung um 0,4 Prozent
gesunken, weil die 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse
sozialversicherungspflichtig geworden sind.
4 Milliarden DM Mehreinnahmen bei den sozialen Sicherungssystemen aufgrund dieser Neuregelung veranlassen Sie zum Jubeln, statt dass Sie strukturelle Veränderungen bei den sozialen Sicherungssystemen vornehmen,
die zukunfts- und tragfähig sind.
({5})
Von den verbliebenen 3,5 Millionen Beschäftigungsverhältnissen auf 630-Mark-Basis haben sage und schreibe
nur 2,5 Prozent die Option auf das Rentenmodell genutzt, weil es auch gar keinen Sinn macht. Man muss
nämlich 150 Jahre lang auf 630-Mark-Basis arbeiten, um
eine Rente oberhalb des Sozialhilfeniveaus zu bekommen.
({6})
Ich frage mich übrigens angesichts einer Ausgangszahl
von 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten und den verbliebenen 3,5 Millionen, was denn aus den anderen 2 Millionen geworden ist, die Ihrer Meinung nach offensichtlich nicht in der Schattenwirtschaft arbeiten. Sie müssten
einmal mit den Verbänden reden. Sie hätten heute Morgen
zum parlamentarischen Gespräch mit dem Hotel- und
Gaststättenverband gehen sollen. Sie hätten dann gehört,
was aus den Menschen in diesen Beschäftigungsverhältnissen geworden ist. Sie arbeiten jetzt in aller Regel
schwarz.
({7})
Sie hätten in den letzten Tagen, wenn Sie statt murkshafte Politik zu veranstalten in den Biergarten gegangen
wären, ausreichend Gelegenheit gehabt, festzustellen,
was für konkrete Auswirkungen Ihr Gesetz hat. Es gibt
kaum noch Bedienungen, es lohnt sich nicht mehr, einer
630-Mark-Beschäftigung mit Steuerklasse V nachzugehen, da man 109,66 DM Lohnsteuer zahlen muss. Man
findet keine Kräfte mehr, die diese Tätigkeit ausüben.
({8})
Auch die 50-Tage-Regelung ist nicht sonderlich hilfreich. Was ist nämlich mit einem Arbeitgeber, wenn der
Beschäftigte versehentlich vergisst, mitzuteilen, dass er
nebenher noch eine andere Beschäftigung auf Basis dieser 50-Tage-Regelung hat? Plötzlich gibt es ein riesengroßes Problem; das wird auf die Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber abgewälzt.
Statt etwas flexibler zu sein und sich Gedanken darüber zu machen, ob man vielleicht die Saisonbeschäftigung
verlängert, und im Rahmen der EXPO statt für drei Monate für sechs Monate Saisonkräfte zuzulassen, sind Sie
absolut starr und steif in Ihrem ideologischen Denken. Ihnen ist es lieber, dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ihre Aushilfskräfte zwischendrin noch einmal neu einarbeiten müssen und die gesamte Belegschaft gewechselt
werden muss. So kann die Wirtschaft in diesem Land
nicht dauerhaft wachsen.
({9})
Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, muss ich Ihnen wirklich in Ihr Stammbuch
schreiben, dass Ihr Antrag halbseidener Murks ist. Er ist
nicht ganz so schlimm wie das Gesetz, das die Regierung
vorgelegt hat; aber dieses Gesetz ist derartig schlecht,
dass man nicht hier und da Reparaturen vornehmen kann.
Man kann es nur verschrotten. Deswegen können wir
Ihrem Antrag nicht zustimmen. Sie sind nämlich nicht
konsequent. Durch Ihren Antrag beweisen Sie wieder - in
der 13. Legislaturperiode haben Sie das ja auch schon versucht -, dass auch Sie im Grunde genommen für eine solche Regelung wie die der Regierungskoalition sind. Einzig die F.D.P. als Partei der sozialen Verantwortung
({10})
hat dafür gesorgt, dass auch die Menschen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ihren Lebensunterhalt
wenigstens teilweise mit Lohn aus eigener Arbeit bestreiten können.
({11})
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, ist nicht zielführend, Ihre Politik ist nicht zielführend. Ziehen Sie die blau-gelbe Karte, dann können
wir eine Politik machen, die dieses Land voranbringt.
Vielen Dank.
({12})
Nun hat das Wort die
Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verabschiedung des 630-Mark-Gesetzes - darüber brauchen
wir hier nicht zu streiten - war sicherlich keine populäre
Entscheidung gewesen. Wir sind aber nicht hier, um Spaß
zu haben oder populistische Entscheidungen zu treffen,
sondern wir sind hier, um Entscheidungen zu treffen, die
den Menschen weiterhelfen und - das unterstreiche ich die für mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Lande sorgen.
({0})
Wenn wir die soziale Gerechtigkeit als Maßstab anlegen, dann müssen wir feststellen, dass die neue 630Mark-Regelung eine Erfolgsgeschichte ist. Als etwas anderes kann man sie gar nicht bezeichnen.
({1})
Im ersten Quartal 1999 hatten wir 6,5 Millionen geringfügig Beschäftigte. Damit war der Höhepunkt der Entwicklung im Bereich der 630-DM-Jobs erreicht. Heute
haben wir wieder das Niveau von 1997 erreicht, nämlich
5,8 Millionen. Aus den Personengruppen, die darauf angewiesen sind, arbeiten kaum weniger als in der Zeit vor
der Neuregelung geringfügig. Diese Zahlen, die sich jetzt
verstetigen und die wir wohl dauerhaft haben werden, bewegen sich jetzt übrigens auf einem Niveau, von dem Sie
früher, als Sie noch an der Regierung waren, immer behauptet haben, dass es alarmierend hoch sei. Sie sollten
das nicht vergessen, nur weil Sie jetzt nicht mehr regieren.
Auch einer Opposition steht eine Mindestportion an Seriosität gut zu Gesicht.
({2})
Wir haben mit der Neuregelung erreicht, dass die geringfügige Beschäftigung nicht weiter ansteigt, dass reguläre Beschäftigungsverhältnisse in diesem Land geschaffen wurden und dass reguläre Jobs nicht mehr in
mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aufgesplittet werden. Den Raubbau an den Sozialkassen - die
Kosten wurden auf die regulär Beschäftigten, auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, verteilt - haben wir
mit diesem Gesetz gestoppt.
({3})
Wir haben heute Mehreinnahmen von rund 2,85 Milliarden DM pro Jahr in den Sozialkassen.
({4})
Das konnten wir allein mit der Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse erreichen. Zugleich haben wir erreicht, dass die Branchen, die auf geringfügig
Beschäftige angewiesen sind, ihre notwendige Flexibilität
erhalten konnten, was jetzt von Ihnen so vehement gefordert wird.
({5})
Zur bürokratischen Abwicklung, die Sie so sehr kritisieren: Ausgerechnet die Studie, die Sie zitiert haben,
besagt, dass es zwar zu Beginn, also in der Übergangsphase, Probleme gab, die jetzt aber gelöst sind. Die Verhältnisse haben sich normalisiert und verstetigt.
({6})
Die meisten Probleme, die Sie hier angesprochen haben,
gehören längst der Vergangenheit an und spielen heute in
der Debatte überhaupt keine Rolle mehr.
({7})
Wir haben 110 000 reguläre Arbeitsplätze geschaffen.
({8})
Das wollen Sie uns vorwerfen? Ich verstehe das nicht.
Diese Erfolgsbilanz wird in der Fachwelt von niemandem
in Zweifel gezogen. Dass man es prinzipiell besser machen könnte - einfacher, unbürokratischer und übersichtlicher -, das kann man immer sagen. Wir sind für Vorschläge offen. Aber Ihre Vorschläge sind weit davon entfernt.
Ihre Forderungen berühren überhaupt nicht die 630Mark-Regelung, sondern sie beziehen sich auf einen ganz
anderen Bereich. Hinsichtlich der kurzfristigen Beschäftigung hat das Frau Onur schon ausgeführt. Auch über die
Handhabbarkeit dieser Regelung haben wir uns schon unterhalten. Es gibt eine Vereinbarung der Spitzenverbände
der Sozialversicherungsträger vom November 1999, die
eine Erleichterung gebracht hat. Die von Ihnen genannten
Probleme - Sie haben die Personengruppen Wochenblattzusteller und Tutoren an den Universitäten angesprochen - haben wir überhaupt nicht mehr.
Jetzt stellt sich die Frage: Warum gibt es diesen Unionsantrag überhaupt? Wenn er nicht überflüssig ist - ich
glaube, dass er es ist -,
({9})
kann er eigentlich nur einen Zweck haben: Sie versuchen
durch die Hintertür ein Einfallstor für die Ausweitung der
geringfügigen Beschäftigung zu schaffen. Das aber wäre
weder im Sinn der Beschäftigten noch im Sinn der Sozialversicherungen.
Es gibt also nur zwei Möglichkeiten, diesen Antrag zu
bewerten: Entweder ist er einfach nur stümperhaft oder
Sie wollen unbedingt, dass wir einen Rückschritt zu den
alten Missständen machen. Deshalb ist Ihr Antrag für uns,
sowohl für die Grünen als auch für die Koalition insgesamt, inakzeptabel und unsinnig.
({10})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! 630-Mark-Jobs - die
25. Auflage und immer noch die alten Hüte von Ihrer
Seite.
({0})
Herr Niebel, Brötchen und Zeitungen kommen immer
noch pünktlich zum Morgenkaffee. Auch auf ein ordentlich gezapftes Bier muss niemand verzichten. An Taxifahrerinnen und Taxifahrern besteht überhaupt kein Mangel. Es scheint also ein Stück Normalität trotz monatelanger Panikmache, mit der Sie uns vonseiten der CDU/CSU
und F.D.P. belästigt haben, eingekehrt zu sein.
({1})
- Die Panikmache fand ich schon belästigend.
Es gab also keinen Verlust dieser lieb gewordenen
Dienstleistungen, nachdem die Neuregelung der 630Mark-Jobs beschlossen wurde, die uns übrigens - das will
ich hier sagen - nie weit genug gegangen ist. Inzwischen
zeigen sich aber - das erkennen wir natürlich an - durchaus positive Ergebnisse. Anders, als Sie es behaupten,
wird von der ISG-Studie, die Sie hier zitiert haben, bestätigt: Die Ausweitung der Minijobs konnte gestoppt werden.
In vielen Bereichen sind stattdessen sogar normale sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. Das ist
doch ein Ergebnis, das wir wirklich nur begrüßen können.
({2})
Auch von Massenkündigungen von 630-Mark-Jobs
kann nicht die Rede sein, höchstens bei den Nebentätigkeiten, und - das erscheint mir ganz wichtig - die Erwartungen hinsichtlich der zusätzlichen Beitragseinnahmen für die Sozialversicherung sind - das ist hier schon
gesagt worden - in der Tat übertroffen worden. Im „Handelsblatt“ konnte man am 27. März nachlesen, dass die
Sozialkassen Mehreinnahmen von 4,7 Milliarden DM erwarten. Das ist natürlich ein kräftiger Brocken, um die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren.
Es zeigt aber auch, wie die Unternehmer seit Jahren
durch versicherungsfreie Beschäftigung zur Ausplünderung der Sozialkassen beigetragen haben.
({3})
Jetzt sind Gott sei Dank diese Möglichkeiten weitgehend
verschlossen, mit einer Ausnahme, und hier wollen Sie
den Hebel wieder ansetzen: die kurzfristige Beschäftigung. Sie soll bekanntermaßen versicherungsfrei bleiben,
wenn die Tätigkeit nicht länger als ein Jahr dauert. Ich
sage Ihnen: Seit der Neuregelung der 630-Mark-Jobs versuchen Arbeitgeber, insbesondere im Handel und in Gaststätten, aber auch in den Zeitungsverlagen, genau diese
Regelung zu nutzen, um die Sozialversicherungspflicht
nun doch noch zu unterlaufen. Und nun will die CDU ihnen dabei auch noch helfen. Herzlichen Glückwunsch!
({4})
- Das finde ich ein niedliches Kompliment.
Ihr Antrag, auch 50-Tage-Jobs, die regelmäßig länger
als ein Jahr dauern, versicherungsfrei zu machen, öffnet
solchen Bestrebungen Tür und Tor und das genau wollen
wir nicht.
({5})
Ich will ein Beispiel nennen: Im Zustellbereich arbeiten nach Angaben der IG Medien bis zu 200 000 Aushilfen nur 50 Tage im Jahr, aber dies schon seit Jahrzehnten.
Ihr Vorstoß bedeutet für diese Menschen, nun auch den
letzten Rest an minimaler sozialer Sicherung zu verlieren.
Das ist doch einfach unsozial. Diese Entwicklung wollen
wir nicht. Sie würde die positiven Ansätze, die wir bei den
sozialversicherungspflichtigen Minijobs durchaus sehen,
stoppen und die ohnehin mehr als dürftigen Schutzrechte
geringfügiger Beschäftigung erneut aushebeln. Das ist für
uns einfach nicht zu akzeptieren. Deshalb treten wir dafür
ein, dass diese Korrektur auf jeden Fall nicht durchkommt.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2990 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung der Rentenauszahlung
im Vormonat ({0})
- Drucksache 14/3159 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2})
- Drucksache 14/3330 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz, mit dem wir sicherstellen, dass die Renten bereits im
Vormonat ausgezahlt werden. „Laufende Geldleistungen
werden zum letzten Bankarbeitstag des Monats ausgezahlt, der dem Monat vorausgeht, in dem sie fällig werden.“ So lautet in Zukunft der Gesetzestext. Bisher mussten sie am Ersten des Fälligkeitsmonats auf dem Konto
sein.
({0})
Anfang Februar ist deutlich geworden, dass etwas
geändert werden muss. Heute, Mitte Mai, setzen wir die
Gesetzesänderung in Kraft. Nur vier Wochen hat es von
der ersten bis zur letzten Lesung gedauert. Dafür, dass das
so schnell gegangen ist, möchte ich dem Bundesarbeitsministerium und der Bundesregierung insgesamt ausdrücklich danken.
({1})
Die schnelle Reaktion war nötig. Viele Rentnerinnen
und Rentner waren im Februar überrascht, weil ihre Rente
am Monatsende nicht auf dem Konto war, und haben sich
natürlich über die spätere Auszahlung beschwert, obwohl
dieses Vorgehen damals dem gültigen Gesetz entsprach
und es aus der Sicht der Rentenversicherungsträger auch
gute Gründe dafür gab.
Aber ebenso gute Gründe haben jetzt zu der Gesetzesänderung geführt. Wir wollen, dass alle Rentnerinnen und
Rentner gleich behandelt werden.
Wir wollen aber außerdem, dass sich alle Rentnerinnen
und Rentner darauf verlassen können, dass sie ihr Geld in
Zukunft genauso früh bekommen wie bisher.
({2})
Wir haben also gesetzlich geregelt, dass die Zahlungsfrist entsprechend vorverlegt wird, weil das Geld auf den
vielen Rentnerkonten auch bisher am Ende des Vormonats
eingegangen ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Renten werden nach wie vor im Voraus bezahlt, sind also am
Monatsende auf dem Konto.
Ich will jetzt nicht die Abläufe der Bankgeschäfte erklären. Wir haben das bei der ersten Lesung hier im Parlament gemacht. Ich möchte nur ganz kurz zusammenfassen, worum es eigentlich geht.
Renten nach dem Sozialgesetzbuch VI und VII - das
sind die Altersrenten und die Unfallrenten - werden in Zukunft spätestens bis zum letzten Bankgeschäftstag des
Vormonats ausgezahlt, weil das in den letzten Jahren in
der Praxis in vielen Fällen schon so gehandhabt worden
ist und die Rentner deshalb Miete, Strom und Gas entsprechend früh vom Konto abbuchen lassen.
Die Rentenversicherungsträger haben sich von der Praxis, zum spätestmöglichen Zeitpunkt auszuzahlen, Einsparungen von rund 16 Millionen DM erhofft. Das hört
sich nach viel Geld an, macht aber letzten Endes nicht einmal 0,04 Promille ihrer Jahresausgaben aus. Wir sind der
Ansicht, dass dieses Geld im Vertrauen der Rentner in die
Rentenversicherung gut angelegt ist. Deshalb erhalten wir
den Zustand, den sie gewohnt sind, und machen ihn zum
Gesetz.
({3})
Darin, dass wir das Vertrauen der Rentnerinnen und
Rentner erhalten müssen, sind wir uns hier im Hause alle
einig. Genauso hoffe ich, dass wir uns jetzt, nach der Wahl
in Nordrhein-Westfalen, auch über die Rentenreform
weiter einig werden. Die Voraussetzungen dafür, dass wir
uns in den nächsten Monaten darauf beschränken können,
sachlich zusammenzuarbeiten, sind schließlich so gut wie
lange nicht mehr, denn bis zur nächsten Wahl dauert es
noch so lange, dass sich der Wahlkampf jetzt nicht lohnt.
({4})
Wegen des Vertrauens der Menschen in das Alterssicherungssystem wollen wir als Koalition - wir haben
einige Punkte schon hier im Hause diskutiert - dort auch
die bedarfsabhängige soziale Mindestsicherung einführen. Das hat viel mit den derzeitigen Rentnerinnen und
Rentnern zu tun. Die Verschiebung der Rentenbuchungen
hat mir wieder einmal deutlich gemacht, dass es in unserem Land noch immer Menschen gibt, die sich auch im
Alter Sorgen machen müssen. 1998 bezogen rund 180 000
Menschen in Deutschland im Alter von über 65 Jahren
Hilfe zum Lebensunterhalt, und das neben ihrer Rente.
Das sind nicht Menschen, die in Einrichtungen leben; dort
ist die Zahl der Sozialhilfebezieher höher. Von diesen
rund 180 000 Menschen beziehen 50 000 bereits länger
als fünf Jahre Hilfe zum Lebensunterhalt. 70 Prozent dieser Personen sind, wie Sie sicherlich ahnen, Frauen.
Wir alle wissen, dass es aber auch Rentnerinnen gibt,
die ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe nicht erheben,
weil sie sich schämen, weil sie einen, wie ich denke,
falschen Stolz haben oder weil sie ihr Verhältnis zu ihren
Kindern nicht gefährden oder belasten wollen, da sie
fürchten, dass ihre Kinder bei Bezug von Sozialhilfe im
Rückgriff herangezogen werden. Man kann nicht zu dem
Schluss kommen, sie seien doch selbst schuld, wenn sie
darauf verzichten. Ich denke, dass sich dieser Gedanke
verbietet.
Ich habe sogar ein gewisses Verständnis. Da ist eine
Mutter - oder ein Elternpaar -, die den Kindern etwas vererben kann, ein Haus, Grundbesitz oder anderes, während
die andere Mutter, weil sie immer wenig verdient hat, weil
sie zum Beispiel Teilzeit gearbeitet oder Erziehungspausen gemacht hat, bis zum Lebensende auf Sozialhilfe bzw.
die Kinder angewiesen ist. Das wollen wir so verändern,
dass diese Rentnerinnen und Rentner - natürlich nach einer Bedürftigkeitsprüfung - einen Zuschlag zu ihrer
Rente erhalten, ohne dass es einen Rückgriff auf ihre Kinder gibt.
({5})
Das Problem der Altersarmut wird, so befürchte ich,
nicht verschwinden. In den nächsten Jahren werden Erwerbstätige oder Arbeitslose in Rente gehen, die in ihrem
Erwerbsleben erhebliche Lücken haben. Auch für Ostdeutschland wird dies kein kleines Problem sein, wenn
bedacht wird, dass dort viele Tarifeinkommen niedriger
sind als die in Westdeutschland. Wir alle wissen, dass in
ganz vielen Fällen noch nicht einmal Tariflöhne gezahlt
werden. Von daher wird für die Alterssicherung dieser
Menschen ein Problem entstehen. Dem wollen wir schon
jetzt beizeiten vorbeugen.
({6})
Wir denken aber auch an die Menschen, die von Geburt
an erwerbsunfähig sind oder sehr früh in ihrem Leben erwerbsunfähig geworden sind. Sie sollen ebenso in die aus
Steuermitteln zu finanzierende bedarfsabhängige Mindestsicherung einbezogen werden. Sie haben oft noch keinen Rechtsanspruch auf Rente und ihre Eltern werden
durch den im Rahmen der Sozialhilfe festgelegten Rückgriff belastet.
Natürlich soll im Rahmen der sozialen Mindestsicherung und vor der Gewährung eines Rentenzuschlages das
Vermögen des jeweils Betroffenen - bis auf bestimmte
Beträge - aufgezehrt sein. Es muss gesichert sein - wir
wollen das jedenfalls -, dass Kinder, die schon mit ihren
Steuerzahlungen die Sozialhilfe finanzieren, nicht noch
einmal den Sozialhilfebedarf der Eltern finanzieren.
Die Rentenversicherung verfügt über eine Reihe weiterer Instrumente, Lücken zu überbrücken und bestehende
Probleme zu lösen. Lassen Sie uns das Vorhaben der Rentenreform zügig angehen. So schnell wie bei dem Gesetz
zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat
wird es natürlich nicht gehen. Im Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung haben alle Fraktionen dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zugestimmt. Diese Zusammenarbeit könnte ja Richtschnur auch für die nächsten Monate
sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich
richtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für die
Rentner Sicherheit geschaffen wird. Es geht um den im
täglichen Geschäftsleben wichtigen letzten Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten. Ich bedauere ausdrücklich - das sage ich auch vor dem Hintergrund dessen, was
Sie, Frau Lotz, zuletzt zur verschämten Armut, wie ich das
beschrieben wissen möchte, gesagt haben -, dass es dazu
kommt, dass die Versicherungsanstalten ihre Versicherten
nicht als Kunden sehen und sie nicht kundenfreundlich
bedienen. Es ist bedauerlich, dass wir dieses Vertrauen
mit einem Gesetz wieder herstellen müssen.
({0})
Wir tun dies. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Man wollte über diese Zahlungsstreckung - ich
nenne sie einmal so; im Geschäftsleben ist das so üblich
- einige 100 Millionen DM einsparen und den Rentnern
vorenthalten. Der Rentner hat jetzt wieder die Sicherheit,
seine Rente pünktlich zum Monatsende, also vor einem
Feiertag oder einem Wochenende am Monatsende zu erhalten. Denn es ist ja üblich, dass Kassen am Ende eines
Monats auf Ist und Soll gestellt werden. Man weiß ja, dass
Geld, das man am Ende einer Woche einzahlt, erst montags gutgeschrieben wird, während Geld, das man in Anspruch nimmt, bzw. Überweisungen schon freitags vom
Konto abgezogen werden. Das ist eine alte Übung. Das
führt bei einem Rentner, der seine Geldgeschäfte aufgrund der Sicherheit der bargeldlosen Verkehrswege in
Form von Daueraufträgen erledigt, zu Problemen und
letztlich auch zu entsprechenden Zinsbelastungen.
Diesen Aspekt berücksichtigen wir; wir stimmen der
neuen Regelung also zu. Damit wird die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes, was die Wertstellung der Sollund Istbeträge auf den Konten angeht, gesetzlich verankert.
Ich darf feststellen - nehmen Sie uns das bitte nicht
übel -, dass wir jetzt endlich ein Licht im Tunnel sehen.
Nach anderthalb Jahren haben wir nun den ersten substanziellen Gesetzentwurf zur Sozialgesetzgebung vorliegen. Das ist eine tolle Leistung.
({1})
Ich sage es Ihnen ausdrücklich: Bisher war da nicht sehr
viel zu holen. Das aber ist eine Headline, die hoffen lässt.
Vielleicht kommen wir uns auf dem gemeinsamen Weg denn wir stimmen diesem Gesetz zu - ein Stück näher.
Jetzt haben wir den Termin und die Zahlungsweise geregelt. Wie aber ist es mit der Rente? Ist das schon geregelt?
({2})
Einen genauen Zeitplan gibt es nicht; zumindest wird er
immer wieder in Frage gestellt. Der Rentner weiß nicht,
ob der Generationenvertrag trägt. Frau Lotz, was Sie
eben dazu gesagt haben, ist ganz wichtig. Sie haben einen
bestimmten Personenkreis angesprochen und gefragt, wie
es mit dem Generationenvertrag weitergehen soll. Diese
Frage muss in diesem Zusammenhang erlaubt sein. Für
den Rentner ist nämlich nicht nur der Weg wichtig, also
das Konto und die Beschreibung des Geldverkehrs, sondern auch, wie viel auf dem Konto ist.
Ich will einmal die bisherigen Stationen nennen. Station 1: Im Dezember 1998 gab es das Renten-Korrekturgesetz, die Aussetzung der blümschen Rentenreform.
Station 2: Dann kam die Ökosteuer mit einer Belastung
der Rentner; denn von der Beitragsentlastung hat der
Rentner nichts.
Station 3: Es wurde angekündigt, die nettolohnbezogene Rente werde bleiben - ein hehrer Spruch -; allerdings folgten die Ernüchterung und der schmerzhafte Einschnitt auf dem Fuß; denn die Rentenerhöhung lediglich
um die Inflationsrate war fällig.
Station 4: Bei der Inflationsrate geht es nicht um die
Preissteigerungsrate in dem Jahr, in dem der Rentner von
seiner Rente leben muss, im Jahr 2000, sondern um die
des Jahres 1999. Da betrug die Inflationsrate 0,6 Prozent.
Mittlerweile liegt sie aber bei 1,6 Prozent. Dem Rentner
wird also nichts geschenkt, ihm wird eher etwas genommen.
Station 5 - jetzt kommt der große Hammer und da müssen wir aufpassen -: Wenn wir gemeinsam eine Rentenreform machen, dann dürfen wir nicht den Finanzminister dazunehmen; da haben wir unsere Erfahrungen. Der
große Zampano hat ja schon gesagt, dass er die Rentenreform sozusagen mit dem Bundesverfassungsgericht auf
den Nimmerleinstag vertagen und ihm anheim stellen
will, wie das mit der Rente und zukünftig mit dem Generationenvertrag aussieht.
Ich warne vor solchen Entwicklungen.
({3})
Hier sollte das Parlament Herr des Geschehens bleiben
und endlich einmal zu Potte kommen.
({4})
Wir werden uns dieser Gesetzgebung nicht verschließen.
Wir werden uns auch den zukünftigen Beratungen nicht
verschließen.
Frau Lotz, abschließend möchte ich sagen, dass wir uns
dem Personenkreis werden zuwenden müssen, den Sie
hier genannt haben, ob es um die Witwe oder um die
kleine Rente oder um die verschämte Armut geht. Das ist
ein grundsätzliches Anliegen. Wir müssen sicherlich auch
für diejenigen, die aus Gründen einer Behinderung frühzeitig in Rente gehen müssen, eine Regelung finden.
({5})
Wir werden aber bei der Leistungsbezogenheit bleiben
müssen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege
Schemken, wir wissen mit Hilfe des neuen Gesetzes zwar,
wann die Leute ihre Rente bekommen, aber haben Sie als
Sozialexperte auch Kenntnis davon, wie viel Rente die
Leute nach den Plänen der Bundesregierung bekommen
werden und wonach sich das berechnet?
Ich kann Ihnen nur
eines sagen: Es liegt mir hierzu, wenn ich das als bescheidener Sozialexperte offenbaren darf, bisher nichts
Konkretes vor.
({0})
- Frau Schmidt, mir liegt nichts Konkretes vor. Ich weiß,
dass Sie in der Fraktion auch ab und zu über soziale Anliegen sprechen. Soweit mir bekannt ist, haben aber auch
Sie nicht den entscheidenden Durchbruch geschafft. Ich
will Ihnen das sagen, wenn Sie schon dazwischenrufen.
({1})
Herr Laumann, ich hoffe auf Ihre Mithilfe. Ich weiß
sehr wohl, dass Sie dabei sind. Ich hoffe, dass wir miteinander den Generationenvertrag so sichern werden, dass
die Rentner wissen, was auf sie zukommt, dass die Kinder wissen, was sie in Zukunft für die vorangegangenen
Generationen zu tragen haben, dass der Beitragszahler
weiß, was er zu zahlen hat, dass darüber hinaus das bewährte System, das von der sozialen Marktwirtschaft und
einer sozialen Rechtsstaatlichkeit geprägt ist - ob es das
Bundessozialhilfegesetz oder die Rentengesetzgebung
ist -, ein System, das uns in Deutschland von anderen
Staaten in Europa abhebt, auch für die Zukunft beispielhaft sein möge, dass wir mit den Alten so umgehen, wie
sich das in einer humanen Gesellschaft gehört, und dass
wir damit zugleich das erreichen, was Ihnen am Herzen
liegt. So habe ich Ihre Frage verstanden.
Schönen Dank.
({2})
Herr Kollege, ich
habe sogar Ihre Redezeit gestoppt. Aber dieses freundliche Angebot haben Sie nicht angenommen. Vielen Dank.
Jetzt kommt die Kollegin Katrin Göring-Eckhardt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Lieber Herr Schemken, ich finde auch, dass
das, was Sie vorgetragen haben, nämlich das Problem mit
dem Rentenauszahlungstermin, ein eher kleineres Problem ist, das wir zu lösen haben. Ich glaube aber, manchen
Leuten war es ziemlich ernst, als sie das Gefühl hatten, der
Termin, zu dem sie ihre Rente bekommen, würde jetzt zur
Disposition stehen.
Herr Schemken, möglicherweise sollten Sie sich in Ihrer Fraktion auch einmal darüber unterhalten, wie wichtig
es für die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
ist, dass wir im Rahmen der Rentenkonsensgespräche
auch mit dem Finanzminister sprechen. Ich kann nur sagen: Wir sind dafür, dass wir den Finanzminister einbeziehen,
({0})
weil wir über die Frage der privaten Vorsorge und über die
Frage der nachgelagerten Besteuerung mit dem Finanzminister gemeinsam reden müssen. Der Meinung waren
auch die Kolleginnen und Kollegen aus Ihren Reihen. Ich
denke, wir sollten dabei bleiben.
({1})
Wir sollten auch bei unserem Zeitplan bleiben. Ich bin
mir ganz sicher, dass wir zwar eine konstruktive, sachliche und gründliche Diskussion brauchen, dass wir aber in
diesem Jahr den Rentnerinnen und Rentnern auf der einen
Seite und den Jungen auf der anderen Seite ganz dezidiert
sagen müssen, wo es mit ihren Beiträgen und ihrer Altersversorgung hingehen soll. Aus diesem Grunde glaube
ich, dass wir bei dem Zeitplan bleiben sollten. Das haben
wir uns auch gemeinsam vorgenommen. Ich denke, wir
sind auf einem guten Weg, das auch zu schaffen.
Mit dem, was wir heute hier ja glücklicherweise gemeinsam beschließen, werden wir einen Schritt in Richtung auf Verlässlichkeit tun. Es mag einem ja wie ein
Symbol vorkommen: Es geht eigentlich nur um einen
Termin; ich habe schon gesagt, dass es manchen damit
natürlich sehr ernst war. Wenn wir das heute gemeinsam
beschließen, könnte eintreten, was Erika Lotz vorhin
schon gesagt hat, dass das nämlich auch ein Zeichen dafür
ist, dass wir auch andere Dinge gemeinsam regeln können. Es geht darum, das Vertrauen in die gesetzliche
Rentenversicherung zu stärken. Wir wollen verhindern,
dass es eine Verunsicherung gibt, so wie das in Bezug auf
den Termin Anfang Februar dieses Jahres geschah und
wie das nicht zuletzt auch durch die Debatten, die hier in
diesem Haus geführt worden sind, und durch die Verunsicherungskampagnen - ich glaube, man kann es nicht anders nennen - in der Vergangenheit geschehen ist. Ich
glaube, dass Tricksereien mit Argumenten und in Bezug
auf Auszahlungstermine keine ehrlichen Angebote sind.
Wir brauchen eine ehrliche und mutige Reform, gerade
im Sinne der Jüngeren, die stabile Beiträge erwarten und
die natürlich auch erwarten, dass sie aus dem Rentensystem eine eigene Altersversorgung erhalten können. Zu einer mutigen Reform gehört auch, dass wir sie armutsfest
gestalten. Erika Lotz hat hierzu einiges gesagt und ich
persönlich glaube, dass wir keine wirkliche Reform schaffen werden - auch gemeinsam nicht -, wenn wir nicht
sehr deutlich sagen, wie wir die Rente im unteren Bereich
absichern wollen, wie wir mit denen umgehen wollen, die
es nicht schaffen, sich durch Erwerbsarbeit eine eigene
Alterssicherung aufzubauen, wie wir beispielsweise mit
den vielen in Ostdeutschland umgehen wollen, die in den
letzten Jahren wirklich nicht erwerbstätig sein konnten,
die nichts haben, was sie einsetzen können, die kein Vermögen und kein Wohneigentum haben und die natürlich
in einer großen Unsicherheit darüber sind, was aus ihnen
denn im Alter werden wird.
Mit einer Rentenreform, die nicht deutlich macht, dass
wir eine Absicherung treffen und somit eine Armut für
alte Menschen verhindern, werden wir kein Vertrauen gewinnen, sondern nur weitere Verunsicherung schaffen.
Deshalb plädiere ich ganz im Sinne meiner Kollegin
dafür, diese Armutsabsicherung definitiv zu schaffen.
Wir müssen ein System für den Ausbau der privaten und
übrigens auch der betrieblichen Altersvorsorge einführen,
damit die Menschen auch im Alter ihren Lebensstandard
sichern können. Das werden wir nicht allein durch die gesetzliche Rentenversicherung schaffen.
Wir bekommen nur dadurch Verlässlichkeit, dass wir
den Menschen sagen, wann sie wie viel Rente bekommen
werden. Die Frage des Wann klären wir mit diesem Gesetz, die Frage des Wie viel werden wir hoffentlich
gemeinsam und in aller Einmütigkeit in diesem Jahr
klären können.
Das ist, wie ich finde, ein guter Weg. Wir sollten auf diesem Weg weitermachen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben gesagt, Frau
Lotz, die Rentner sollten nicht verunsichert werden. Aber
die Rentner sind längst verunsichert.
({0})
Das ist auch kein Wunder. Die Tatsache, dass die Rente
erst einen Tag später als bisher üblich ausgezahlt werden
sollte, war im Grunde genommen nur das letzte Steinchen, das in dem Gesamtmosaik der Verunsicherung
fehlte.
Die Verunsicherung begann damit,
({1})
dass der Demographiefaktor der alten Regierung aufgehoben wurde. Die Rentner ahnten sehr bald, dass das nur
ein scheinbarer Vorteil war, da sie sehr genau wissen, dass
zumindest etwas Ähnliches spätestens Anfang des nächsten Jahres wieder eingeführt werden muss.
Auf die Abschaffung des Demographiefaktors folgte
die Anpassung der Renten in Höhe der Inflationsrate.
Schon das führte zu Aufregungen, weil die Anpassung somit niedriger war als die von den Rentnern erwartete Erhöhung. Hinzu kam die zusätzliche Enttäuschung, dass
der Anpassungsbetrag noch um ein Prozent unter der aktuellen Inflationsrate liegt.
({2})
Dies kann man erklären, aber: Erklären Sie das einmal den
Rentnern, die mit einer höheren Anpassung gerechnet haben. Hinzu kam schließlich noch die Ökosteuer.
Wenn jemand sagt, dass bei diesem Bündel von negativen Entscheidungen die Rentner noch nicht verunsichert
seien, hat er die Wirklichkeit in unserer Gesellschaft nicht
begriffen.
({3})
Deswegen ist es gut gemeint - das war auch der Grund,
dass ich für die F.D.P.-Fraktion angekündigt habe, dass
wir diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen -, per Gesetz festzulegen, die Renten am letzten Tag eines jeden
Monats für den folgenden Monat auszuzahlen.
Nun möchte ich aber gerne vom Arbeitsministerium
wissen - ich vermute oder hoffe, dass der Parlamentarische Staatssekretär dazu noch reden wird -, ob es die Details der Durchführung dieses Gesetzes auch mit den Banken geklärt hat.
({4})
Der Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung und dem Arbeitsministerium liegt ebenso wie
uns ein Brief des Zentralen Kreditausschusses des Bundesvorstandes der deutschen Banken vor. In diesem Brief
wird zwar nicht gesagt, dass die beabsichtigte gesetzliche
Regelung nicht möglich sei; es wird aber auf die Gefahr
hingewiesen, dass die Gefahr besteht, dass die Rentenzahlungen den Empfängern zukünftig erst zu einem späteren Zeitpunkt als bisher üblich zur Verfügung stehen. In
diesem Punkt hätte ich schon gerne Aufklärung vom Arbeitsministerium darüber, wie es sich zu diesem Thema
stellt und ob es die Notwendigkeit sieht, wenigstens mit
den Banken zu sprechen, um diese Frage zu klären und
damit eine zusätzliche Verunsicherung der Rentner zu
verhindern.
({5})
Da die Kolleginnen und Kollegen auch auf die laufende Rentendebatte abgehoben haben, die zweifellos
sehr wichtig ist, möchte ich dazu abschließend zwei Bemerkungen machen. Frau Göring-Eckardt, das angestrebte Gespräch mit dem Finanzminister war nicht gerade die Idee der Koalition. Sie haben ebenso wie ich dabeigesessen und es war klar, dass F.D.P. und CDU/CSU
darauf bestanden haben, mit dem Finanzminister zu reden, weil ohne eine ausreichende Förderung eine private
Vorsorge von den Menschen nicht angenommen würde
und deswegen dann in der Tat Versorgungslücken im Alter entstehen würden.
({6})
Der zweite Punkt: Die Armutsfestigkeit der zukünftigen Alterssicherung wird doch in erster Linie über eine
private Vorsorge für alle hergestellt und nicht über die
Ideen, die Sie in Form einer sozialen Grundsicherung ausgebreitet haben.
({7})
Bemerkenswert, Frau Lotz, finde ich - ich glaube, das ist
eine Basis, auf der wir weiter diskutieren können -, dass
Sie die Organisationsfrage für das Auffangen der Altersarmut, das heißt des gleichzeitigen Bezugs von Sozialhilfe, noch offen gelassen haben. Wir haben heute ausführlich darüber gesprochen und unterschiedliche Möglichkeiten im Rahmen der Sozialhilfe erörtert. Ich glaube,
dass dies ein vernünftiger Weg ist, über den wir im Interesse der alten Menschen, im Interesse einer sich hoffentlich bald wieder aufbauenden Verlässlichkeit und im Interesse einer hoffentlich vorübergehenden Verunsicherung
der Rentner gemeinsam und in Ruhe weiter diskutieren
können.
Danke schön.
({8})
Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Monika Balt.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Endlich ist es nun auch in diesem Hause angekommen: Pünktlichkeit bei der Rentenzahlung ist
wohl das Mindeste, was die Rentnerinnen und Rentner erwarten dürfen. Schließlich haben sie ja auch ihr Leben
lang pünktlich Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.
({0})
Die PDS kann diesem vernünftigen Gesetzentwurf nur
zustimmen, weil damit die bisher übliche Praxis bei der
Rentenauszahlung gesetzlich geregelt wird. Es war ja
wohl ein schlechter Scherz, dass Rentnerinnen und Rentner ihre Rente erst zu Beginn eines laufenden Monats erhielten, während gleichzeitig zum Ersten eines jeden Monats verbindliche Zahlungsverpflichtungen wie Mieten,
Betriebskosten und andere Kosten bezahlt werden mussten. Das heißt, es gab jedes Mal ein Minus auf den Rentenkonten. Zinsgewinne auf Kosten älterer Menschen
lehnen wir strikt ab.
({1})
Was sich hier im Februar dieses Jahres abgespielt hat,
ist nicht nur Vertrauensschwund, sondern Vertrauensmissbrauch. Übrigens: An die Adresse der Verursacher und
Verantwortlichen sage ich, so etwas ist schwer wieder
gutzumachen. Meiner Meinung nach ist die Rente Ausdruck der erbrachten Lebensleistung.
({2})
Rentnerinnen und Rentner haben einen Anspruch auf ihre
Renten und deren pünktliche Auszahlung. Die Rente ist
doch kein staatlicher Gnadenakt und die Auszahlung kann
doch nicht nach dem Motto „Kommt sie heute nicht,
kommt sie eben morgen“ erfolgen.
Ich glaube schon - da gebe ich meinen Kolleginnen
und Kollegen der anderen Fraktionen Recht -, dass das
vorliegende Gesetz das Vertrauen der Rentnerinnen und
Rentner in den Eingang ihrer Rentenzahlungen zum letzten Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten wieder herstellen wird. Es ist auch höchste Zeit.
({3})
Aber die nächsten Schwierigkeiten scheinen schon
vorprogrammiert zu sein. In seiner Stellungnahme vom
8. Mai weist der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken auf rechtliche und technische Probleme bei der Umsetzung dieses Gesetzes hin.
Ich kann ja nachvollziehen, dass trotz modernster elektronischer Technik die Banken für die Überweisungsvorgänge bis zum endbegünstigten Institut bestimmte
Laufzeiten brauchen. Wir sind auch dafür, dass die Bestimmungen des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank,
wonach Zahlungen erst nach Eingang des Gegenwertes,
also erst bei Vorliegen der Deckung, weitergeleitet bzw.
gutgeschrieben werden dürfen, eingehalten werden. Aber
das alles kann und darf nicht zu der Konsequenz führen ich zitiere -,
dass die Einführung derartiger gesetzlicher Regelungen möglicherweise den - in jedem Fall unerwünschten - Effekt haben könnte, dass die Rentenauszahlungen den Empfängern zukünftig erst zu einem späteren Zeitpunkt als bisher üblich zur
Verfügung stehen.
Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf - alle
Fraktionen hier im Bundestag signalisieren Zustimmung wird die Auszahlung der Renten zum letzten Bankarbeitstag des Vormonats regeln. Wenn wir glaubwürdig sein
wollen, müssen sich Rentnerinnen und Rentner von nun
an darauf verlassen können. Deshalb fordere ich Sie, Herr
Minister Riester - auch wenn Sie heute nicht da sind -, auf:
Setzen Sie sich mit den Rentenversicherungsträgern, der
Deutschen Post AG und den Banken an einen Tisch.
Finden Sie Durchführungsbestimmungen und Regelungen, die den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen
Rechnung tragen. Sie hätten eine große Chance, das Vertrauen von 17 Millionen Rentnerinnen und Rentnern wiederzugewinnen und ihnen eine große Sorge zu nehmen.
Wenn Sie dann noch die Nettolohnanpassung wieder einführen, wäre das ein zweiter guter Schritt.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat, Drucksache
14/3159. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
empfiehlt auf Drucksache 14/3330, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets
- Drucksache 14/3299 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Thomae für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Erstens. Das Arzneiund Heilmittelbudget gefährdet die medizinische Versorgung der deutschen Bevölkerung.
({0})
Sie, meine Damen und Herren Patienten, merken heute,
dass Sie auch medizinisch unbedingt notwendige Arzneimittel nicht mehr bekommen, dass der Arzt sie nicht verschreibt, weil er durch die Budgetierung dazu gezwungen
ist. Dies kann nicht Sinn und Folge einer Gesundheitsreform sein.
({1})
Die Problematik sehen Sie insbesondere am Ende des
Quartals und am Ende des Jahres. Dann wird der Arzt immer wieder das Gespräch mit Ihnen suchen und mitteilen,
dass er nicht mehr in der Lage ist, die entsprechenden Arzneimittel zu verschreiben. Das Schlimme an der Budgetierung ist, dass dann, wenn das Budget ausgeschöpft ist,
der sozial Schwache getroffen wird. Er muss dann die
Kosten zu 100 Prozent tragen, ist dazu aber ökonomisch
nicht in der Lage. Dies ist völlig unsozial.
({2})
Zweitens sage ich Ihnen: Es ist nicht nur die Budgetierung bei den Arzneimitteln, die uns große Sorge bereitet,
sondern auch die Budgetierung bei Massage, Krankengymnastik, Logopädie und Ergotherapie. Auch
diese Leistungen können nicht mehr erbracht werden.
Dazu möchte ich ein Beispiel nennen: Schlaganfallpatienten werden heute sehr intensiv im Krankenhaus behandelt. Aber danach ist das Budget erschöpft, sodass die anschließend benötigte logopädische Behandlung nicht
mehr durchgeführt werden kann. Eine solche Gesundheitspolitik können doch wohl auch SPD und Grüne nicht
wollen.
({3})
- Doch, das sind die Fakten. Erkundigen Sie sich an der
Basis.
Drittens. Es ist völliger Wahnsinn, das Arznei- und
Heilmittelbudget so zu organisieren, dass es zu einer Kollektivhaftung der Ärzte kommt.
({4})
Der Radiologe wird genauso in die Haftung genommen
wie der Hausarzt. Meine Damen und Herren, Sie sollten
nicht die Fehler machen, die in der Vergangenheit schon
einmal gemacht worden sind. Eigentlich sollten Sie daraus lernen. Eine Kollektivhaftung ist in meinen Augen
verfassungsrechtlich nicht haltbar.
({5})
Daher freue ich mich, dass es bald Prozesse geben wird,
in denen geprüft wird, ob dies verfassungsrechtlich ist
oder nicht. Ich sehe hier große Probleme.
Viertens. Die Politik ist zu feige, genau zu sagen, welche medizinischen Leistungen im Rahmen des gesetzlichen Systems erbracht werden sollen. Sie machen den
Arzt zum Mangelverwalter und delegieren die Verantwortung auf die Ärzte. Das ist untragbar. Wann haben Sie
endlich den Mut, Ausgrenzungen über das Leistungspaket
vorzunehmen? Sie versprechen alles und halten nichts!
({6})
Fünftens. All diese Maßnahmen führen zur Rationierung, also zum Qualitätsverlust der medizinischen Versorgung in Deutschland. Dafür gibt es in nennenswertem
Umfang entsprechende Beispiele.
Das ist doch völlig schizophren.
Wie kann der niedergelassene Arzt, wenn sein Arzneimittelbudget erschöpft ist, aus dieser Falle heraus kommen? Sehr häufig wird der Patient dann ins Krankenhaus
überwiesen, was erheblich teurer ist.
({7})
- Ich könnte Ihnen an einer Menge von Beispielen aus der
Praxis aufzeigen, dass es so ist.
Wir haben diese Regelung 1997 klugerweise abgeschafft
- schauen Sie ins Gesetz hinein -, weil wir negative Erfahrungen damit gemacht haben.
Meine Damen und Herren, diese negativen Erfahrungen sollten Sie veranlassen, einen anderen Weg zu gehen.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, unseren Vorschlag von
1997/98 aufzugreifen und zu versuchen, die Problematik
mit Richtgrößen besser in den Griff zu bekommen.
({8})
Dies ist gerechter, weil es keine Kollektivhaftung mehr
gibt, sondern der Einzelne mit in die Verantwortung einbezogen wird. Aber dafür sind Sie anscheinend einfach
noch nicht reif. Gehen Sie Ihren Weg weiter, das Arzneimittel- und Heilmittelbudget beizubehalten, dann werden
Sie recht bald merken, dass die Patienten dies nicht mehr
mitmachen. Ich werde ihnen überall erklären, dass das der
falsche Weg ist.
({9})
Sie behaupten, wir hätten gern auf sektorale Budgets
verzichtet, wenn das Globalbudget gekommen wäre; der
Bundesrat hätte dies abgelehnt.
({10})
Auch das ist eine Lüge Ihrerseits, vor allen Dingen der
Grünen. Sie haben bei Ihrem Konzept 2000 zwar ein Globalbudget gewollt, aber dennoch gleichzeitig in vielen
Bereichen sektorale Budgets eingeführt, auch im Arzneimittel- und Heilmittelbereich.
Ich kann Ihnen nur raten: Gehen Sie von dieser Konzeption ab! Es ist von großem Nachteil für die Patienten,
weil gerade die chronisch Kranken nicht mehr die Arzneimittel bekommen, die sie dringend benötigen. Ich
glaube, dies kann Rot-Grün auf Dauer nicht verantworten.
Von daher empfehle ich Ihnen: Organisieren Sie den Arzneimittel- und Heilmittelbereich neu, so wie es der Patient in der Bundesrepublik Deutschland verdient hat!
({11})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Kollege Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihr Antrag, verehrter Herr Kollege Dr.
Thomae, ist ein reiner F.D.P.-Lobbyistenantrag. „Marketing mit dem Rezeptblock“ sollte Ihr Antrag ehrlicherweise lauten.
({0})
Sie zeichnen das Bild einer Unterversorgung. Das ist in
Anbetracht von 42 Milliarden DM Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arznei- und Heilmittel
im vergangenen Jahr - hinzu kommen noch einmal
4,5 Milliarden DM an Selbstbeteiligung - geradezu
lächerlich.
({1})
Sie unterstellen den Ärzten, die ihre Patienten erfolgreich
versorgen, sie würden diesen absichtlich die benötigte
Therapie vorenthalten.
({2})
Das ist nun nicht mehr zum Lachen.
Was würde Ihr Antrag denn für die Patienten bedeuten? - Mit Ihrem Entschließungsantrag anlässlich der Verabschiedung der Gesundheitsreform 2000 - daran möchte
ich erinnern - , mit der Forderung nach Kostenerstattung
anstelle des Sachleistungssystems, mit der Forderung
nach weiterer Selbstbeteiligung und Selbstbehalte lassen
Sie doch die Katze aus dem Sack und machen deutlich,
worum es Ihnen in Wirklichkeit geht. Der Patient zahlt bei
Ihnen die Zeche; das haben Ihre Gesetze in der Vergangenheit immer wieder gezeigt.
({3})
Das unterscheidet uns von Ihnen. Bei uns steht der Patient im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik. Er hat einen
Rechtsanspruch auf die medizinisch notwendige, qualitätsgesicherte Vollversorgung.
({4})
Sie stellen in Ihrem Antrag die Behauptung auf, dass
die Budgets die Versorgung der Patientinnen und Patienten gefährdeten und dass diese statt mit innovativen mit
veralteten, aber gleichwohl teuren Arzneimitteln versorgt
und damit unterversorgt würden. Das ist Ihre Behauptung.
({5})
Herr Kollege Dr. Thomae, Sie sollten sich hier seriöser
Argumente bedienen. Ich will mich damit auseinander
setzen.
Sie wissen doch, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den geringsten Arzneimittelausgaben deshalb
mit ihrem Budget zurechtkommen - das dürfen Sie doch
nicht verschweigen -, weil diese eine rationelle Arzneimitteltherapie betreiben.
({6})
Die Analyse des Arzneiverordnungsverhaltens der
letzten beiden Jahre zeigt, dass nicht die Verordnung innovativer Medikamente, sondern die Verordnung teurer
Schrittinnovationen den überwiegenden Kostenanstieg
verursachte. Hinzu kommen nicht indizierte Verordnungen von Medikamenten und das Nichtverwenden preisgünstiger Alternativen, beispielsweise der Generika. Das
zeigt die Analyse.
Ich will an dieser Stelle deutlich feststellen, dass die
Hälfte der Kassenärztlichen Vereinigungen ihr Budget
nicht ausgeschöpft hat; dass sollten Sie nicht vergessen.
({7})
Sie sollten sich das einmal genau anschauen und nicht so
tun, als ob die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht mit
ihrem Budget zurechtkommen.
Gerade in den preisgünstigen Kassenärztlichen Vereinigungen fällt auf - ich setze mich mit dem, was Sie sagen, auseinander -, dass besonders intensiv wirkende und
wichtige Medikamente wie Aids-Therapeutika, Antibiotika und Chemotherapeutika gegen Krebs keineswegs in
geringem Maße angewendet werden, sondern einen überproportional hohen Ausgabenanteil ausmachen.
Die Beobachtung, dass es gerade die Bundesländer mit
geringen Arzneimittelausgaben sind, die auch mit geringen Gesamtausgaben für Krankenhäuser auskommen,
widerspricht der Behauptung, Patienten würden zur Vermeidung der Verschreibung teurer Arzneimittel in Krankenhäuser abgeschoben. Schauen Sie sich die Arzneimittelstatistik an, schauen Sie sich die Krankenhausstatistik
an.
Ich will Sie daran erinnern, dass es schon vor Bestehen
des Arzneimittelbudgets die individuellen Prüfungen für
Ärzte gab. Sie haben nicht verhindert, dass bis 1992 die
Arzneimittelausgaben jährlich in einer Größenordnung
von bis zu 9 Prozent gestiegen sind. Das können Sie nicht
wegdiskutieren.
Sie wollen nun diesen Druck von den Kassenärztlichen
Vereinigungen nehmen. Diese üben dann keinen Druck in
Richtung eines verantwortlichen Umgangs mit Arzneimitteln - und damit mit Beitragsgeldern - mehr aus. Sie
hätten auch keinen Anlass mehr, Prüfverfahren von sich
aus zu intensivieren. Der einzelne Arzt steht allein vor seiner Richtgröße und kommt möglicherweise erst recht auf
den Gedanken, im Zweifelsfall teure Patienten auf eine
andere Versorgungsebene abzuschieben. Ein Richtgrößenkonzept für Arzneimittel kann vom einzelnen
Arzt relativ leicht durch willkürliche Fallzahlvermehrung
umgangen werden. Ärzte, die mit Arzneimittelverordnungen Marketing betreiben - das können Sie nicht leugnen;
das hat auch der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, Herr Dr. Bausch, deutlich gemacht -,
würden begünstigt, während Ärzte, die verantwortlich mit
Arzneimitteln umgehen, Patienten verlieren würden.
Lassen Sie mich feststellen: Sie arbeiten mit den Ängsten der Patienten. Sie unterschlagen, dass das Gesetz ausdrücklich vorsieht, dass die Budgets Altersstruktur, Preisentwicklung und Innovation zu berücksichtigen haben.
Wenn durch medikamentöse Behandlung Einsparungen
in der stationären Versorgung erzielt werden, können die
Arzneimittelbudgets in diesem Umfang sogar über den
Grundlohnsummenanstieg steigen. Richtgrößen sieht das
Gesetz bereits vor. Der einzelne Arzt kann darüber hinaus
Praxisbesonderheiten geltend machen. Das Arzneimittelbudget führt nicht dazu, dass rationiert werden muss; vielmehr hat der Patient einen Anspruch auf die notwendigen
Arznei- und Heilmittel. Wenn der Arzt bei nachgewiesener wirtschaftlicher Verordnung seine Richtgröße überschreitet, wird er nicht in Regress genommen. Ohnehin das will ich deutlich sagen - ist der Regress der letzte
Schritt. Im ersten Schritt sollen die Selbstverwaltungspartner die Ärzte, die ihre Richtgrößen wegen unwirtschaftlicher Verordnung überschreiten, frühzeitig im
Jahr informieren und sie beraten. Nur wer sich beratungsresistent verhält und weiter unwirtschaftlich verordnet,
wird individuell in Regress genommen. Eine Überschreitung des Arznei- und Heilmittelbudgets führt nicht automatisch zum kollektiven Regress.
({8})
Vielmehr haben die Selbstverwaltungspartner zwei
Jahre die Möglichkeit, eine Überschreitung durch bessere
Steuerung auszugleichen. All dies steht in dem Gesetz,
das seit 1. Januar dieses Jahres gilt.
Herr Kollege Dr. Thomae, Sie sollten das nicht unterschlagen. Das alles negieren Sie. Wir werden dies im Ausschuss ausführlich diskutieren. Ich bin überzeugt, dass Sie
dort schlechte Karten haben werden.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kirschner, ich
möchte eines richtig stellen - wir haben uns schon einmal
darüber unterhalten -: Wenn Sie Statistiken der einzelnen
Kassenärztlichen Vereinigungen nehmen - solche gibt es -,
dann werden Sie feststellen, dass es eine bestimmte Anzahl von besonders häufigen Erkrankungen in den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen gibt. Nehmen Sie
zum Beispiel die Diabetiker-Statistik: Wenn die Anzahl
der Diabetiker in einer Kassenärztlichen Vereinigung
höher ist als in einer anderen, dann sind auch die Arzneimittelausgaben automatisch dort höher. Das ist etwas
ganz Logisches. Das muss man doch berücksichtigen.
Man darf das nicht so pauschal darstellen, wie Sie es tun.
({0})
Auch Sie kennen sicherlich die Umfrage der Universität Bremen. Laut dieser Erhebung fühlen sich 27,4 Prozent der Versicherten nicht so versorgt, wie es eigentlich
sein müsste.
({1})
Als Erklärung steht in der Antwort der Bundesregierung
letztendlich nichts anderes, als dass eine nicht ausreichende medizinische Versorgung ein Verstoß gegen die
vertragsärztlichen Pflichten sei. So einfach kann man sich
das nicht machen. Man muss schon etwas seriöser an die
Sache herangehen.
Ich möchte es gleich vorwegnehmen: Dem Antrag der
F.D.P.-Fraktion auf Abschaffung des Arznei- und Heilmittelbudgets stimmen wir zu.
({2})
Das heißt allerdings nicht, dass wir bereit sind, Stück für
Stück an der Reparatur des so genannten Gesundheitsreformgesetzes 2000 mitzuwirken.
({3})
Wir haben sowohl im Gesundheitsausschuss als auch im
Plenum immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses
Gesetz nicht dazu geeignet ist, unser Gesundheitssystem
zu reformieren. Trotzdem haben SPD und Grüne das Gesetz durch den Bundestag gepeitscht und alle Änderungsanträge und Warnungen der Opposition abgeschmettert
bzw. ignoriert.
({4})
Schließlich waren es auch die Koalitionsparteien, die
davon überzeugt waren, dass sie nicht alles anders, aber
vieles besser machen. Was ist bei diesem „Bessermachen“ das ist die viel interessantere Frage - herausgekommen?
Es ist etwas dabei herausgekommen, nämlich die Einsicht, dass Ihre Reform reformiert werden muss.
({5})
Das SPD-interne Diskussionspapier von Frau SchaichWalch hat gezeigt, dass es so wie bisher nicht weitergehen
kann und dass Sie in eine Sackgasse geraten sind.
({6})
Es ist noch etwas anderes dabei herausgekommen,
nämlich die späte - aber nicht zu späte - Einsicht, dass
man die Zusammenarbeit mit der Opposition suchen
muss. Wir sind zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit.
Wir sind allerdings nicht bereit, uns in die Mitverantwortung zwingen zu lassen, nachdem der Karren im Dreck
steckt.
({7})
Also, Frau Ministerin: Legen Sie ein überzeugendes
Gesamtkonzept vor. Es muss allerdings wirklich ein Gesamtkonzept sein und darf nicht nur aus Restanten eines
bereits gescheiterten Gesetzes bestehen. Das bedeutet
natürlich auch, dass Sie von der Budgetierung Abstand
nehmen müssen.
({8})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - ({9})
- Ich meine natürlich: von der Koalition; der Versprecher
lässt sich noch korrigieren; wir waren so lang in einer Regierungskoalition, dass ein solcher Versprecher schon einmal vorkommen kann. Also, wenn Sie der Opposition
nicht glauben, dass die Budgetierung nicht hilfreich ist,
dann glauben Sie doch wenigstens den Experten, die
während einer Anhörung im September des vergangenen
Jahres zu diesem Thema fast einmütig das Gleiche gesagt
haben. So erklärte zum Beispiel der SPD-Staatssekretär
Professor Dr. Azzola:
Die Preisgabe des Ziels der Gewährleistung der
Finanzierung aller medizinisch notwendigen und
zweckmäßigen Leistungen stellt einen gesetzgeberischen Rückschritt und keine Reform dar.
({10})
- Für die SPD-Abgeordneten? Nein, die haben das verstanden.
({11})
Ich weiß ja, dass Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, im Wahlkampf zum Beispiel versprochen haben, die Zuzahlungen zu Arzneimitteln marginal
zurückzuführen. Ich finde es unfair, dass Sie den Versicherten - das haben Sie damals nicht gesagt - das Geld,
das diese bei den Zuzahlungen sparen, auf der anderen
Seite heimlich, still und leise wieder dadurch aus der Tasche ziehen,
({12})
dass Sie die medizinische Versorgung rationieren und
nicht mehr allen das zur Verfügung stellen, was sie brauchen. Das finde ich sozial ungerecht und unfair den Versicherten gegenüber.
({13})
Wir waren auch nicht stolz auf die Höhe der Zuzahlungen während unserer Regierungszeit. Aber eines muss
ich sagen: Immerhin haben wir die Höhe der Zuzahlungen
durch die Sozialklausel und die Überforderungsklausel
sozial verträglich gestaltet. Ich erinnere daran: 24 Millionen Versicherte mussten überhaupt keine Zuzahlungen
leisten.
({14})
- Einverstanden, aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Ausschlaggebend ist doch, dass 24 Millionen Versicherte keine Zuzahlungen leisten mussten.
Jetzt ist es so weit, dass ein Teil der Leistungen für die
Kinder zu 100 Prozent selbst gezahlt werden muss.
Ich möchte Sie auch noch auf etwas anderes hinweisen,
was mir auch sehr wichtig erscheint. Sie können zwar unsere Vorschläge kritisieren und meinen, alles besser machen zu können als wir. Aber, meine Damen und Herren
von der Koalition, wir hatten bis zum Zeitpunkt des Regierungswechsels dafür gesorgt, dass ein Defizit von
6 Milliarden DM abgebaut worden ist und dass die GKVen in den Jahren 1997 und 1998 einen Überschuss in
Höhe von jeweils 1,1 Milliarden DM hatten.
({15})
- Die durchschnittlichen GKV-Beitragssätze waren stabil; Lohnnebenkostenerhöhungen konnten gestoppt werden.
({16})
Herr Kollege
Bauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kirschner? - Bitte, Herr Kollege Kirschner.
Herr Kollege Dr. Bauer, ist
Ihnen eigentlich nicht geläufig, dass in Ihrer Regierungszeit der Beitragssatz von 12 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen ist und dass die Zuzahlungen auf insgesamt mehr
als 20 Milliarden DM angewachsen sind? Wollen Sie das
negieren?
({0})
Die Zuzahlungen haben
Sie lediglich um ein Minimum zurückgeführt. Und was
den Beitragssatz angeht: Ich sprach von den Beitragssatzerhöhungen in den letzten Jahren. Für diese Zeit gilt genau das, was ich Ihnen eben geschildert habe.
({0})
Während des Regierungswechsels - ich sage es noch
einmal - war genügend Zeit vorhanden, um gemeinsam
über eine solide und zukunftsorientierte Reform des Gesundheitswesens zu diskutieren. Sie aber haben unüberlegten Aktionismus an den Tag gelegt.
({1})
Als Zeugin nenne ich die Bundesgesundheitsministerin,
die ich nicht aus der Kritik nehmen will, wenn ich zitiere,
dass sie Ihnen damals Folgendes nahe gelegt hat:
Aber zuerst beschließen und sich danach öffentlich
über das zu beklagen, was man beschlossen hat, ist
weder überzeugend, noch hat es politisches Format.
({2})
Jeder in diesem Haus müsste einsehen, dass eine Budgetierung die demographische Entwicklung nicht berücksichtigt.
({3})
Jeder müsste einsehen, dass eine Budgetierung nur wenig
Platz für Innovationen in der Medizin bietet. Jeder müsste
einsehen, dass die Budgetierung dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch nicht gerecht wird, nach dem jedem Versicherten notwendige Leistungen zugesichert werden.
({4})
Von dem Wachstumsmarkt Bundesrepublik Deutschland
und seinen Standortfaktoren, die eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen, will ich hier gar nicht sprechen.
({5})
Wenn wir eine wirkliche Reform wollen, Herr Kirschner,
dann müssen wir die Eigenverantwortung stärken.
({6})
Wenn man die Eigenverantwortung stärken will, dann
darf man eben nicht das tun, was Sie getan haben, nämlich die Wahlmöglichkeiten der Versicherten in Bezug auf
Kostenerstattung, Selbstbehalte, Nichtinanspruchnahme
von Leistungen und damit auch in Bezug auf Beitragsrückerstattung radikal einschränken.
Wenn Sie die Eigenverantwortung stärken wollen,
dann müssen Sie Transparenz in das System hineinbringen. Sie müssen dem Patienten sagen, was seine Behandlung kostet. Wenn Sie die Eigenverantwortung stärken
wollen, dann müssen Sie natürlich auch die Absicherung
von Bagatellerkrankungen, von medizinisch nicht notwendigen Leistungen in die Einzelverantwortung legen mit allen damit zusammenhängenden Problemen. Wer
eine Vollkaskoversicherung wählt, der muss entsprechend
mehr als derjenige bezahlen, der nur Kernleistungen in
Anspruch nimmt. Das geben wir gerne zu.
({7})
- Es gibt bereits Definitionen. Wir können gemeinsam
versuchen, das vernünftig zu definieren. Wenn das gelingt, dann kommen wir weiter.
({8})
Ich will nur noch eines sagen, was mir wichtig erscheint: Wir müssen endlich auch einmal die GKVen nach
versicherungsfremden Leistungen durchforsten und
aus ihnen das herausnehmen, was nicht hineingehört.
({9})
- Nein, wir hatten dazu keine Zeit.
({10})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Ich muss mich
beeilen; sonst läuft mir die Zeit davon. Ich würde Ihnen
gern mein Beispiel, den Schwangerschaftsabbruch, näher
erläutern: Wenn das Haus mehrheitlich beschließt - daran
war ich nicht beteiligt -, den Schwangerschaftsabbruch
über die medizinische Indikation hinaus auch bei Vorliegen anderer Indikationen zu legitimieren, dann muss die
Gesellschaft und nicht die GKV die Kosten dafür übernehmen, dann ist die Solidargemeinschaft gefragt. Wir
alle, die das politisch wollen, sind gefragt und die Angelegenheit muss anders finanziert werden.
Aber ich will nicht nur kritisieren; vielmehr möchte ich
auch die notwendigen Steuerungsinstrumente - Kollege
Dr. Thomae hat schon einige genannt - nennen. Ich erwähne schlagwortartig: bedarfsgerechte Richtgrößen, Regelleistungsvolumina, Fallpauschalen. Das sind Instrumente, die wir weiterentwickeln können und die weiterentwickelt werden müssen.
Wir haben also genug Ansatzpunkte; es gilt, sie in vernünftiger Art und Weise umzusetzen. Es muss uns einfach
gelingen, von Budgetierungen und damit von Rationierungen wegzukommen. Das muss unser Ziel sein.
({11})
Ich hätte jetzt gern noch ein Wort dazu gesagt, dass es
auch nicht sein darf, dass Sie die Rationierungen durch irgendwelche Hintertürchen umzusetzen versuchen. Mir
scheint das manchmal mit der Positivliste so zu sein. Aber
mit Sicherheit war es bei der 10. AmG-Novelle so. Da
versuchten Sie ja auch, still und heimlich eine ganze
Reihe von Arzneimitteln vom Markt zu nehmen.
({12})
Auch diese stehen letztendlich den Patienten nicht mehr
zur Verfügung. Auch das ist eine Rationierung.
({13})
Das hat, wenn auch indirekt, Auswirkungen auf die GKV.
Sie werden in diesem Haus immer wieder unsere Kritik
hören, wenn Sie solche Versuche unternehmen. Wir werden das nicht zulassen, weil wir Verantwortung für die
GKV und deren Patienten und Versicherten tragen.
({14})
Hier greife ich zum ersten Mal das auf, was Sie gesagt
haben, und unterstütze Sie: Wenn wir eine Reform machen, muss der Patient im Mittelpunkt stehen. Nur, Herr
Kirschner, dann stellen Sie doch mit Ihren Mitstreitern
den Patienten endlich einmal in den Mittelpunkt, anstatt
ihn permanent zu bevormunden und ihm zu sagen, was er
an Leistungen braucht. Lassen Sie doch den Versicherten
ein bisschen darüber mitbestimmen. Fragen Sie ihn doch
endlich einmal, was er in die gesetzliche Krankenversicherung einzubringen bereit ist.
({15})
Aber ich komme noch einmal ganz kurz auf die 10. Novelle zum Arzneimittelgesetzes. Da wird von einem Königsweg gesprochen. Das hört sich natürlich wunderbar
an. Ich hoffe nur, dass Sie nicht noch mehr solcher „Königswege“ auf Lager haben.
({16})
- Holzwege klingt in diesem Zusammenhang besser als
Königsweg. Wir werden konstruktiv mitarbeiten und alles
tun, damit den Versicherten der GKV nicht das widerfährt,
was Sie ihnen antun wollen.
({17})
Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege
Bauer wird mir sicherlich gleich noch Ort und Anlass des
Zitats, das er gerade von mir gebracht hat, nachreichen,
wie es hier parlamentarischer Brauch ist.
Wenn man all Ihre Rhetorik wegnimmt, dann bleibt das ist schon ganz interessant -, dass Sie sagen, es solle
alles gemacht werden, was die Leute wollen, und man
werde sehen, dass sie dafür auch irgendwie privat bezahlen würden.
({0})
- Nein.
Das Interessante ist doch - hier waren die Ausführungen zur 10. AmG-Novelle gerade sehr hilfreich -, dass Sie
damit den Eindruck erwecken, dass alles, was wir machen
wollen, um Arzneimittelverschreibungen rational zu machen, dort Überflüssiges zu vermeiden und die Qualität zu
sichern, falsch sei. Aber die Negativliste ist nichts Überflüssiges. Die Positivliste will die Medikamente nach
Qualität vergleichen. Mit der 10. AmG-Novelle sollen
Medikamente qualitätsgesichert werden, die seit Jahrzehnten ungeprüft auf dem Markt sind.
({1})
Das ist eine Frage des Verbraucherschutzes. Sie lehnen
all dies aber ab. Es ist Ihnen irgendwie immer nicht recht.
In diesem Zusammenhang müssten Sie sagen, dass es
für den Gesundheitsschutz in diesem Lande notwendig
ist, 40 000 Medikamente zu haben, während alle anderen
Länder um uns herum mit einem Bruchteil davon auskommen, ohne dass dort davon die Rede wäre, die Menschen seien deswegen weniger gesund als bei uns.
Hier sind Sie einfach inkonsequent. Mit dem Vorschlag, dass es irgendwelche Richtgrößen geben müsse,
geben Sie ja zumindest zu, dass offensichtlich ein Bedarf
an Steuerung des Arzneimittelmarktes besteht. Hier sind
Sie argumentativ ganz schwach auf der Brust.
({2})
Sie lehnen jedes Instrument, das wir diskutieren und umsetzen, um gute Arzneimittelverschreibungen zu unterstützen, ab. Sie sagen aber auch nicht, dass dann, wenn
man es so macht, wie Sie es sich jetzt vorstellen, Sie entweder den Markt teilen und sehr viele private Zuzahlungen einführen müssen oder alle Beiträge der Versicherten
steigen müssen. Dieser Weg steht uns meines Erachtens
aber nicht mehr offen, weil die Menschen in diesem
Lande schon genug belastet sind.
({3})
Da Sie also Richtgrößen vorschlagen, geben Sie zumindest zu, dass man im Arzneimittelmarkt irgendetwas
steuern muss oder dass er wenigstens nicht problemlos
funktioniert.
({4})
- Ja, das, was Sie gesagt haben.
Jetzt reden wir noch einmal über Richtgrößen. Wenn
Sie sich einmal das Gesetz, das Sie so heftig kritisieren,
anschauen - das würde ja vielleicht helfen -, dann werden
Sie feststellen, dass die Richtgrößen auch in unserem Gesetz zur Arzneimittelbudgetsteuerung enthalten sind.
({5})
Individualregress geht nämlich erst einmal vor Kollektivregress. Auf diese Weise finden die Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen statt.
({6})
Das heißt, es geht darum, dass die Ärzte herangezogen
werden sollen, die eine unwirtschaftliche Verordnungsweise nicht widerlegen können.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aribert
Wolf?
Nein. - Wir haben dieses Instrument geschaffen und haben, damit es schneller greift, den Schwellenwert, bei dem
eine Überprüfung einsetzt, herabgesetzt.
Übrigens haben ja wir die unbegrenzte Kollektivhaftung abgeschafft, die noch in Ihrem Gesetzentwurf stand,
und die Haftung auf 5 Prozent der Budgetsumme reduziert. Wir haben auch - das war in Ihrer Budgetierungspolitik jahrelang nicht vorgesehen - ausdrücklich gesagt,
medizinische Innovationen müssen bei der Festlegung
des Budgets berücksichtigt werden.
({0})
Außerdem soll - davon war hier eben schon die Rede auch ein Ausgleich über Jahre hinweg möglich werden.
Übrigens: Wenn die Richtgrößen, für die auch Sie eintreten, nicht angemessen festgesetzt werden, liegt das an
der Selbstverwaltung und nicht am Bundesgesundheitsministerium. Auch das sollte man in diesem Zusammenhang einmal sagen.
Die Ablösung von Budgets durch Richtgrößen haben
Sie ja schon einmal vorgeschlagen und in ihr GKV-Neuordnungsgesetz hineingeschrieben.
({1})
Das Interessante ist ja, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen, obwohl Sie sich heute zu deren Sprachrohr machen und sagen, sie würden das kritisieren und darunter
leiden, von Ihrem Angebot kaum Gebrauch gemacht haben. Es hat ja fast keine Kassenärztliche Vereinigung gegeben, die von diesem Instrument Gebrauch gemacht hat.
({2})
Ich glaube, dass das ein ganz interessanter Punkt ist: Es
gibt offenbar doch einen Unterschied zwischen den Forderungen, die auf politischer Ebene von der Ärzteschaft
erhoben werden, und den Dingen, die aus der Perspektive
des einzelnen Arztes nötig sind.
In einem einzigen Punkt gebe ich Ihnen Recht: Die
mangelnde Datentransparenz stellt ein Problem dar. Die
Datengrundlage für die Budgetsteuerung ist nicht gut genug. In unserem Gesetz war aber all das drin; Sie haben
das über den Bundesrat verhindert. Es war dort ein Abschnitt über Datentransparenz enthalten, der uns wesentlich weitergeholfen hätte. Eine verbesserte Datengrundlage wäre im Übrigen die mindeste Voraussetzung dafür,
wenn Sie die Arzneimittelbudgets ausschließlich über
Richtgrößen steuern wollten. Dann müssten nämlich noch
wesentlich mehr Anforderungen an die Qualität der Daten
gestellt werden, weil dann der einzelne Arzt hätte haften
müssen.
Ich glaube, dass es ein Irrweg ist, zu denken, dass das
Steuerungsproblem ausschließlich über die Richtgrößen
gelöst werden könnte
({3})
und so eine Art individuelles Arztbudget eingeführt wird.
An der Tatsache, dass jetzt schon sehr viele Missverständnisse vorhanden sind, die sehr häufig zu Ärger
führen, können Sie sehen, dass das Problem auf diese
Weise nicht zu lösen ist.
({4})
Ich finde, Sie sind am Zuge.
({5})
Eingangs habe ich eben gesagt: Allen unseren Bemühungen zur Qualitätssicherung, die dazu dienen, um in diesem außerordentlich unübersichtlichen Arzneimittelmarkt in Deutschland die Qualität zu erhöhen
und eine wirtschaftlichere Verordnungsweise für die einzelnen Ärztinnen und Ärzte zu erleichtern, verweigern Sie
sich. Sie brauchen deshalb hier nicht Krokodilstränen zu
vergießen und so zu tun, als seien Sie die Stimme der einzelnen Ärzte.
({6})
Sie tun die ganze Zeit so, als hätten wir es bei der
Arzneimittelverordnung mit einer Art Naturgesetz zu tun
und als ob wir diejenigen seien, die sich fälschlicherweise
diesem Naturgesetz in den Weg stellen. Das ist falsch. Das
wissen auch Sie ganz genau. Dass die Kassenärztlichen
Vereinigungen verantwortlich in die Aufgabe einbezogen
werden, hauptsächlich für eine wirtschaftliche Verordnungspraxis zu sorgen, ist doch Ausdruck des Sicherstellungsauftrages. Ich habe bislang noch nicht gehört, dass
sie den abschaffen wollen. Das will heißen, dass die KasBundesministerin Andrea Fischer
senärztlichen Vereinigungen eine gemeinsame Verantwortung sowohl bezüglich der positiven Auswirkungen
als auch der schwierigen Auswirkungen des Sicherstellungsauftrages tragen. Das kann man sich nicht aussuchen. Dass sie diese aber höchst unterschiedlich wahrnehmen, haben wir eben schon gehört und das zeigen auch
die Zahlen.
({7})
Wenn man den Schutz, den der Sicherstellungsauftrag
bietet, haben will, dann muss man auch die Aufgaben erledigen, die damit untrennbar verbunden sind.
Mit Ihrem Antrag können Sie vielleicht kurzfristig populistisch ein paar Punkte machen, aber für die Gesundheitspolitik bringt er keinen Erkenntnisfortschritt.
({8})
Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich habe einen
Fakt in Ihrem Antrag nicht gefunden und Sie haben ihn
auch nicht in Ihrer Rede benannt. Ich glaube aber, dass Sie
wissen, dass es bei der Arzneimittelversorgung natürlich
Rationalisierungsreserven gibt und dass das komplexe
Ursachen hat. Es sind unserer Meinung nach nach wie vor
zu viele und vor allem auch zu viele ungeprüfte Medikamente auf dem Markt. Auch der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf das ärztliche Verordnungsverhalten
führt zusammen mit vergleichsweise hohen Arzneimittelpreisen zu überhöhten Kosten beim Medikamentenverbrauch.
Nachdem die Vorgängerkoalition auf diese Entwicklung bestenfalls halbherzig reagiert hat, griff die jetzige
Regierung zu einer strikten Verschärfung der Budgetierung. Damit hat sie das Problem aber nur einseitig auf den
Rücken der Ärzte verlagert; denn der jetzt wirkende Einspardruck, meine Damen und Herren von der Koalition,
senkt eben nicht nur fragwürdige Leistungen, sondern das ist das Schlimme - auch den medizinisch notwendigen Mitteleinsatz.
({0})
Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, meine Damen und Herren von der Koalition: Es ist leider Realität.
Die Patienten erleben zunehmend, dass erforderliche Medikamente nicht mehr verschrieben werden. Die Wahrheit
ist auch: Die Verlierer sind vor allen Dingen die sozial
Schwächeren und jene, die sich nicht wehren können.
({1})
Auf solche Weise werden soziale Gerechtigkeit und
Chancengleichheit in der gesundheitlichen Versorgung
infrage gestellt.
Hinzu kommt, dass es in der Arzneimittelversorgung
aber auch - ich betone, Herr Kirschner: aber auch - große
Felder gibt, in denen Nachholbedarf herrscht. Ich denke
dabei an Bluthochdruck- und Diabeteskranke
({2})
oder an die bestehenden Defizite in der medikamentösen
Behandlung bei multipler Sklerose oder bei Demenzkrankheit.
Den Vorschlag der F.D.P., fachgruppenspezifische
Richtgrößen einzuführen, bei denen auch Praxisbesonderheiten berücksichtigt werden, möchte ich gar nicht infrage stellen.
({3})
Um die Probleme zu lösen, ist er aber nicht ausreichend.
Unseres Erachtens setzt eine Aufhebung des Budgets ein
ganzes Bündel von Maßnahmen im Sinne einer überzeugenden Arzneimittelpolitik voraus.
({4})
Dazu gehört unter anderem die Herstellung von mehr
Transparenz - das ist heute schon gesagt worden -, nicht
zuletzt mithilfe einer Positivliste. Sie lehnen sie ab; wir
möchten sie gerne.
Für wichtig halten wir die Verbesserung der ärztlichen
Aus- und Weiterbildung auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie sowie mehr herstellerunabhängige fachliche
Information und Fortbildung der Ärzte. Auch sollten die
Selbstmedikation begrenzt und Laienwerbung für Arzneimittel eingestellt werden. Ich weiß wirklich nicht, was Sie
unter mehr Einbeziehung der Patienten verstehen. Woher
soll ich wissen, welche Medizin im Falle einer Krankheit
für mich die richtige und die einzig wahre ist? Ich glaube,
so geht es vielen Menschen.
({5})
Der Umgang mit dem besonderen Gut Arzneimittel
darf nicht primär an Umsatz- und Gewinnmaximierung,
sondern muss in erster Linie am medizinisch Erforderlichen orientiert sein. Wenn das erreicht ist, erübrigt sich
eine Budgetierung. Dann entfällt nämlich die Notwendigkeit staatlicher, bürokratischer Eingriffe. Nur wenn das
erfüllt ist, können wir uns der Forderung nach Abschaffung des Arznei- und Heilmittelbudgets anschließen. Unter den jetzigen Bedingungen ist Ihr Antrag für uns nicht
zustimmungsfähig.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Gudrun Schaich-Walch,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie sich intensiv mit
diesem Thema auseinander setzen, dann wissen Sie, dass
im Bereich der Arzneimittelversorgung wie auch in anderen Bereichen unseres Gesundheitssystems Fehlversorgung, Unterversorgung und Überversorgung zu finden
sind. Mit diesem Problem geht die Ärzteschaft in der Bundesrepublik sehr unterschiedlich um.
({0})
Der größte Teil unserer KVs in der Bundesrepublik
Deutschland ist bereit, auch die ökonomische Verantwortung für die Ausgaben im Gesundheitsbereich zu
übernehmen. Es gibt einen kleinen Teil, der dazu nicht bereit ist. Ein großer Teil der Ärzte tut es bereits. Wir können feststellen, dass Ihre Behauptung, Innovatives würde
nicht verordnet, nicht zutreffend ist. Wir können nämlich
klar erkennen, dass die Zahl der Verordnungen abgenommen hat. Dafür ist aber die Wertigkeit der Verordnungen
- also betreffend das Preisgefüge und damit das Innovative - in vielen Bereichen auf ein vernünftiges Maß
gestiegen.
({1})
- Das können Sie am Beispiel der KVs in Hessen und in
Südbaden erkennen.
({2})
Wir haben es - leider Gottes - noch nicht in allen Bereichen geschafft. Solange wir nicht in all diesen Bereichen einen verantwortungsbewussten Umgang der Ärzteschaft gegenüber dem medizinisch Notwendigen, aber
auch die ökonomische Verantwortung gegenüber den versicherten Patientinnen und Patienten haben, können wir
Arznei- und Heilmittelbudgets - davon bin ich überzeugt
- nicht abschaffen.
({3})
Mit Ihrem Vorschlag der Richtgröße treffen Sie nur einen Punkt:
({4})
Bei der Richtgröße tun Sie etwas für die Menge, Sie tun
aber überhaupt nichts für die Qualität.
({5})
Dagegen haben wir im Koordinationsausschuss mit den
Leitlinien sehr wohl beides im Blick. Sie können nicht
einfach nur auf die Menge gehen, dann noch auf die
10. Novelle zum Arzneimittelgesetz zurückgreifen und
sagen: Die Verbraucher müssen alles haben, was sie wollen, wir können nichts vom Markt nehmen. Natürlich
muss man im Sinne des Verbraucherschutzes das vom
Markt nehmen, was nicht nach europäischem Qualitätsstandard zugelassen ist. Dazu hatten Sie 20 Jahre Zeit.
({6})
Wir dagegen haben das umgesetzt und das ist, denke
ich, eine Verbesserung für die Verbraucher.
({7})
Wenn Sie sich so vor den Verbraucher stellen und dessen
Schutz einklagen, dann frage ich mich: Wie konnten Sie
von der F.D.P. eigentlich vorige Woche beantragen, das,
was wir für die Verbraucherberatung eingestellt haben,
wieder abzuschaffen und aus dem Budget herauszunehmen?
({8})
Wenn Sie die Verbraucherberatung wieder abschaffen,
dann frage ich mich, wie Sie zu den Patienten kommen
wollen, die letztendlich irgendwann mit beurteilen können, was für sie sinnvoll und notwendig ist und wann sie
Einsatz brauchen. Das ist mir wirklich schleierhaft.
({9})
Jetzt zu etwas, von dem ich glaube, dass es Richtgrößen begleiten muss, nämlich zur Qualität.
({10})
Wir brauchen entweder eine Fortschreibung der Negativliste - da wären Sie gefordert mitzumachen -, oder wir
brauchen die Positivliste. Zudem brauchen wir zur Aufrechterhaltung einer vernünftigen Gesundheitsversorgung Qualitätszirkel. Nur dann werden wir die durchaus
knappen Mittel in der GKV sinnvoll und vernünftig einsetzen können.
Sie wollen aber nicht eine Steuerung der Menge plus
mehr Qualität, Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf einzig und allein mehr Geld für das System vor.
({11})
Sie sagen nicht einmal, von wem dieses Geld kommen
soll - bestenfalls im Wege von Zuzahlungen.
Ich bitte Sie ganz ernsthaft, sich die Untersuchung von
Professor Lauterbach anzuschauen, der sich mit den Zuzahlungen beschäftigt hat. Dabei ist nämlich eines sehr
deutlich herausgekommen: Zuzahlungen sind nicht sinnvoll zum Zweck der Verbrauchssteuerung und im Bereich
der chronisch Kranken,
({12})
Eine Gruppe, die sowieso schon gesundheitlich gekniffen
ist, würde mit Zuzahlungen noch einmal gekniffen. Diese
Gruppe haben wir jetzt entlastet.
({13})
Frau Schaich-Walch,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bauer? Nein.
Der zweite Gesichtspunkt ist dann: Wer leistet Zuzahlungen und bei
wem haben die Zuzahlungen dazu geführt, dass die
medizinische Leistung nicht mehr so in Anspruch genommen worden ist, wie das vorher der Fall war? Bei dieser
Untersuchung stellt sich eines ganz deutlich heraus: Es
hat steuernde Wirkung nur bei den Menschen mit den
niedrigsten Einkommen in der Bundesrepublik. Es kann
aber doch nicht Zielsetzung sein, dass ich denjenigen, die
schon wenig Einkommen haben,
({0})
die sozial schlecht gestellt sind und damit zum großen Teil
auch schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, noch Zuzahlungen aufbrumme. Das kann es nicht
sein.
({1})
Deshalb müssen wir zunächst einmal zusehen, die
Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung
abzubauen und die Reserven im System auszunutzen.
Dann kommt vielleicht irgendwann der Zeitpunkt, wo wir
darüber reden müssen, ob das Geld, das wir dann haben,
ausreicht. Aber solange wir von den Versicherten die Gelder abkassieren, müssen sie von uns auch die Garantie bekommen, dass wir genau prüfen, was damit passiert. Wir
müssen fragen: Ist die Qualität in Ordnung? Ist die Menge
in Ordnung? Wir dürfen uns nicht ausschließlich an der
Interessenlage und der Einkommenssituation derer ausrichten, die im Gesundheitsbereich arbeiten.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3299 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 4
auf
9. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen: Überprüfung der Beschlüsse der Pekinger Weltfrauenkonferenz - Peking + 5
- Drucksache 14/3386 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Hildegard Wester, Hanna Wolf ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Christian Simmert, Kerstin Müller ({1}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen: Nationale Umsetzung der Beschlüsse
der Pekinger Weltfrauenkonferenz
- Drucksache 14/3385 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Christel
Hanewinckel.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Fünf Jahre nach der
Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 sollten nach dem
Willen der Regierungen, die die Aktionsplattform unterzeichnet haben, die nationalen Aktionspläne umgesetzt
sein. Wenn ich heute, 14 Tage vor der UN-Sondergeneralversammlung, Bilanz ziehe, stelle ich fest, dass von
diesen fünf Jahren drei Jahre vertan worden sind - durch
Untätigkeit und Passivität der damaligen Frauenministerin bzw. Regierung.
({0})
Unverbindliche Aussagen über unverbindliche Vorhaben prägten die nationale Nachbereitungskonferenz im
März 1996. Für Kreativität und Ideen, für Problemanzeigen, aber auch Problemlösungen wurden die
Nichtregierungsorganisationen als zuständig erklärt. Aber
auch die Vorstellungen der Nichtregierungsorganisationen verwandelten sich in den Händen der Frauenministerin zu Absichtserklärungen. Immer wieder forderten die
Opposition und die Nichtregierungsorganisationen, dass
der Erfolg der Aktionsplattform nachdrücklich durch das
Engagement der Regierungen, internationalen Organisationen und Institutionen auf allen Ebenen gewährleistet
wird.
Eine Frauenpolitik, die diese Bezeichnung verdient,
haben wir erst seit Herbst 1998. Die Frauen in Deutschland haben bei der Bundestagswahl deutlich gemacht,
dass sie eine Politik wünschen und fordern, die Macht,
Verantwortung und Chancen zwischen Männern und
Frauen teilt. Die rot-grüne Regierung hat sich in allen Politikfeldern darangemacht, Stück für Stück zu entrümpeln
und sich der Diskriminierung von Frauen entgegenzustellen.
({1})
Der Weg ist noch weit und vieles ist noch zu tun und zu
verändern. Gleichstellungspolitik ist vor allem auf dem
Arbeitsmarkt vonnöten. Noch immer bilden die Frauen
die Spitze bei den Arbeitslosenzahlen und der Besetzung
von Teilzeitarbeitsplätzen, noch immer werden Frauen
ausgegrenzt, weil sie potenzielle Mütter sind, und noch
immer haben Mädchen erhebliche Probleme bei der Suche nach Ausbildungsplätzen.
Das Programm „Frau und Beruf“ stellt die Weichen in
eine andere Richtung und stößt in den Köpfen der Menschen, vor allem der männlichen Menschen, Veränderungen an. Ein verändertes Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst und auch für die Privatwirtschaft sind
auf diesem Wege unverzichtbar und markante Punkte.
({2})
Die gesellschaftliche Realität bekommt in Deutschland
nach und nach ein anderes Gesicht. Unser Antrag enthält
die Auflistung all der Punkte, die in den vergangenen
18 Monaten umgesetzt worden sind, und der Punkte, die
noch umgesetzt werden müssen. Ich hoffe sehr, dass das
ganze Haus diesem Antrag zustimmen wird.
Neben den konkreten Erfolgen der hauptamtlichen Politikerinnen und Politiker - denn es sind ja schließlich Regierungskonferenzen - möchte ich hervorheben, wie
wichtig die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen
in allen Bereichen ist. Ohne das Engagement, den Druck
und die Arbeit der Frauen in den Nichtregierungsorganisationen würden jede Regierung und jedes Parlament
ziemlich alleine dastehen.
({3})
Ich danke den Frauen in den Organisationen in
Deutschland, vor allen Dingen im Deutschen Frauenrat
mit seiner Vielzahl von Frauenverbänden, aber auch in
den vielen anderen Verbänden, Vereinen und Initiativen.
Sie sind es, die sich mit ihrer Zeit, ihren Ideen, ihren Erfahrungen, ihrer Solidarität und oft auch mit ihrem Geld
für die Weiterentwicklung der Gleichstellung in diesem
Land, in Europa und in der Welt einsetzen.
Wer die Erklärung von Peking gelesen und sich durch
die Beschlüsse der Aktionsplattform gearbeitet hat, die
dort vor fünf Jahren mühsam erarbeitet wurden, fragt sich
vielleicht: Lohnt sich denn der Aufwand von solchen
Weltkonferenzen? Die Weltfrauenkonferenzen sind Veranstaltungen von einer Woche. Die Ausgangspositionen
der Teilnehmerstaaten sind oft völlig unterschiedlich und
die Ergebnisse reichen den Frauen häufig nicht aus.
Trotzdem sind ihre Wirkungen enorm. Sie schlagen
sich nieder in Beschlüssen von Regierungen und haben
Auswirkungen auf Regionen und bis hin zu den Kommunen. Vor allen Dingen haben sie Einfluss auf die nationale
und internationale Rechtsprechung. Sie ermutigen die
einzelnen Frauen und die Frauenverbände weltweit - das
ist für mich der wichtigste Punkt -, sich für ihre Rechte
einzusetzen. Die Frauen und auch einzelne Männer wissen sehr gut, dass dies ein wirklich langwieriger und sehr
mühsamer Prozess ist. Weltkonferenzen bieten Raum für
den Austausch von Erfahrungen und Lösungen zwischen
Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern, die sonst
keine Möglichkeit dazu haben.
Ich hoffe sehr, dass die Nachfolgekonferenz in New
York auch in Deutschland deutliche Auswirkungen haben
wird. Ein Erfolg wäre es, wenn alle Landesregierungen in
Deutschland begreifen würden, dass ohne Frauen kein
Staat zu machen ist. Leider ist das noch außergewöhnlich.
Deshalb ist das Vorgehen von Sachsen-Anhalt, wo es qua
Kabinettsbeschluss - er ist gerade erst getroffen worden ständige Aufgabe aller Ministerinnen und Minister ist, das
Ziel der Gleichstellung in allen Ministerien umzusetzen,
mutig.
({4})
Ich hoffe sehr, dass die innerhalb des nächsten Jahres vorgesehene Überprüfung der Umsetzung dieses Zieles deutlich macht, dass sich Ministerinnen und Minister nicht nur
daran messen lassen müssen, sondern dass die Frauen
lautstark Ergebnisse einfordern. Wenn dies alle Frauen
und vor allen Dingen die Männer begriffen haben, dann
muss Gender-Mainstreaming auch in Deutschland kein
Fremdwort mehr sein.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Teilnahme an der
Weltfrauenkonferenz in Peking war für mich ein großes
Erlebnis. In einer konzentrierten und konstruktiven Atmosphäre wurden mit Zuversicht und dem Willen voranzukommen Fortschritte bei der Gewährung von Frauenrechten und der Durchsetzung von Fraueninteressen erreicht.
Drei Ziele standen für die damalige deutsche Delegation unter Führung von Bundesfrauenministerin Nolte im
Vordergrund:
Erstens. Das zentrale deutsche Anliegen, die Sicherung
der Menschenrechte für alle Frauen, konnte festgeschrieben werden.
Zweitens. Gewalt gegen Frauen wurde umfassend benannt und gebrandmarkt.
Drittens. Die Forderung der sexuellen Selbstbestimmung der Frau konnte verankert werden.
Meine Damen und Herren, das waren Forderungen, die
gemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg, getragen
wurden. Es ging und geht darum, Frauen zu fördern,
Chancengleichheit zu erreichen und das Gender-Mainstreaming in der Politik zu verankern. Vieles wurde getan. Aber es muss noch mehr getan werden, um voranzukommen.
So ist es mir unbegreiflich, dass die rot-grüne Koalition
mit ihren frauenpolitischen Anträgen offensichtlich nicht
den Wunsch nach gemeinsamer konstruktiver Arbeit mit
der Opposition verbindet.
({0})
Trotz diverser Bemühungen war es nicht möglich, vor
Dienstag dieser Woche Ihre Anträge zur Verfügung geChristel Hanewinckel
stellt zu bekommen. Das ist für mich keine Zusammenarbeit. Sie wollen wohl nicht zusammenarbeiten.
Statt zu polemisieren, Frau Hanewinckel, wäre es angemessen gewesen, gemeinsam mit uns nach einer Lösung
zu suchen. Ihre Forderungen sind nämlich konsensfähig.
Aber wenn Sie mit vielen Worten versuchen, die wenigen
konkreten Aktivitäten der neuen Bundesregierung zu kaschieren, können wir dem natürlich nicht zustimmen.
Ich greife heute beispielhaft einen zentralen Punkt heraus, der auch in den Forderungen Ihres frauenpolitischen
Antrags zur Sondergeneralversammlung der Vereinten
Nationen in New York enthalten ist: die Vereinbarkeit
von Erziehung und Erwerbsarbeit für Mütter und Väter. Die CDU/CSU räumt, wie Sie wissen, diesem Ziel seit
vielen Jahren einen großen Stellenwert ein. Im Gegensatz
zur rot-grünen Koalition verstehen wir aber unter Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht eine staatlich verordnete Minimierung der Erziehungszeiten und eine Maximierung der Erwerbstätigkeit.
Wir haben in unserer Regierungszeit eine Frauenpolitik für alle Frauen gemacht. Ihr Zielsetzung geht sowohl
an den Wünschen der Mehrheit der deutschen Frauen als
auch an den Bedürfnissen vieler Kinder vorbei.
({1})
Eine echte Wahlfreiheit für Mütter und Väter muss das
Ziel sein. Dazu gehört aber sowohl die gleichzeitige Vereinbarkeit von Familie und Beruf als auch die Möglichkeit, sich in bestimmten Phasen ganz der Kindererziehung
widmen zu können. Die bisherigen Aktivitäten der Bundesregierung für Frauen fördern einseitig die Erwerbstätigkeit von Frauen.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir unterstützen
jede sinnvolle Verbesserung der Chancengleichheit von
Frauen im Beruf und der Erwerbsmöglichkeit gerade von
Müttern. Dazu gehört die Flexibilisierung von Arbeitsplätzen. Eltern sollten wählen können, wann sie wo wie
lange arbeiten. Dann ist eine Vereinbarkeit von Familie
und Beruf am ehesten möglich. Diese Rahmenbedingungen aber müssen Teil einer echten Familien- und
Frauenpolitik sein.
Die von der Regierung immer wieder angepriesenen
Programme, allen voran das Programm „Frau und Beruf“, sind einseitig auf die Erwerbstätigkeit von Frauen
ausgerichtet. Selbst die geplante Änderung des
Erziehungsgeldgesetzes ist davon geprägt. Ich fordere Sie
auf, bei der Neuformulierung dieses Gesetzes dafür zu
sorgen, dass nicht die Mehrheit der deutschen Frauen bei
Ihren Maßnahmen außen vor gelassen wird.
({2})
Viele Frauen - hoffentlich auch zunehmend Männer wollen sich in den ersten Lebensjahren der Kinder ganz
der Erziehung widmen;
({3})
ob nur einige Monate oder mehrere Jahre, ist allein Entscheidung der Eltern. Auch für diese Familienphase muss
die Frauen- und Familienministerin sinnvolle Rahmenbedingungen schaffen. Mit dem Erziehungsgeldgesetz hatten Sie die Chance dazu. Doch die Anhebung der
Einkommensgrenzen wird nach Ihren Planungen sehr bescheiden sein.
Ganz besonders deutlich wird die Einseitigkeit der
Frauenpolitik der Bundesregierung bei der geplanten
Budgetregelung. Wenn Eltern, derzeit zu 98,5 Prozent
Mütter, das Erziehungsgeld nicht zwei Jahre, sondern nur
ein Jahr in Anspruch nehmen, erhalten sie dafür einen beträchtlichen Bonus. Das Erziehungsgeld wird dann von
600 auf 900 DM erhöht. Damit wird ein deutlicher Anreiz
geschaffen, die elterliche Betreuung und Erziehung des
Kindes auf das erste Lebensjahr zu beschränken. Das ist
einseitige Berufsförderungspolitik.
({4})
Auch die Anhörung zur geplanten Änderung des
Erziehungsgeldgesetzes am Montag hat deutlich gemacht, dass alle Experten, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, den Entwurf in vielen Punkten sehr
kritisch beurteilen. Neben der inhaltlichen Kritik sind,
wie so oft bei den Gesetzentwürfen dieser Bundesregierung, auch handwerkliche Mängel aufgezeigt worden.
Gerade die Budgetregelung ist nach den Ausführungen
der Experten nahezu undurchführbar. Auch der mangelnde Anreiz für Väter, Erziehungsurlaub zu nehmen,
muss kritisiert werden, zumal die derzeitige Regelung
nicht mehr den EU-Vorgaben entspricht, die einen eigenständigen Anspruch auf Erziehungsurlaub für Väter von
drei Monaten vorschreiben.
({5})
Wir fordern eine Verlängerung des gesamten Anspruchs auf Erziehungsurlaub um mindestens drei Monate für die Eltern, die beide einen Teil des Erziehungsurlaubs in Anspruch nehmen. Dies wäre ein klares Signal
für Väter,
({6})
mehr Erziehungsverantwortung zu übernehmen, und damit auch ein wesentlicher Beitrag zur Frauenpolitik. Denn
das Engagement der Väter in der Erziehung zu stärken
heißt immer auch, den Müttern mehr berufliche
Freiräume zu eröffnen. Gleichzeitig würde dem EURecht entsprochen.
Meine Damen und Herren, noch einige Worte zu den
vorliegenden frauenpolitischen Forderungen. In einem
Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden,
„die erfolgreiche Gleichstellungspolitik seit Übernahme
der Regierungsverantwortung ... fortzusetzen“. Die
CDU/CSU fordert vielmehr, dass die Regierung den vielen Worten ihrer Programme und Pläne und den zahlreichen „Wir werden prüfen“, „Es soll“ und „Es muss“ endlich Taten folgen lässt.
({7})
Die Forderung, das „Gender Mainstreaming“ durchgehend zur Grundlage des Regierungshandelns zu machen,
ist sicherlich notwendig. Wir als CDU/CSU-Fraktion
werden aber darauf achten, dass dabei Frauen mit der
Vielfalt ihrer Lebensentwürfe ernst genommen werden.
({8})
Auch wir sind dafür, dass sich Deutschland in New
York - ich zitiere aus dem Antrag - „für weitere Maßnahmen zur Umsetzung der Aktionsplattform“ einsetzt und
die Beschlüsse der vierten Weltfrauenkonferenz bekräftigt und weiterentwickelt. Aber wir werden hier vor Ort
darauf achten, dass in der nationalen Umsetzung keine
einseitige Frauenpolitik betrieben wird, die einer großen
Zahl von Frauen in Deutschland nicht gerecht wird.
({9})
Frau Hanewinckel, am Beginn Ihrer Rede haben Sie
auf Ihre großen Leistungen hingewiesen. Ich bin gespannt, wann Ihren Worten endlich Taten folgen werden.
({10})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Den Worten müssen Taten folgen; die Kollegin
Eichhorn hat es gerade gesagt. Das ist auch meine Meinung; das ist auch die Konsequenz aus der Pekinger Weltfrauenkonferenz. Denn heute, nach fast fünf Jahren, hat
sich die Lebenssituation von Frauen in den 189 Unterzeichnerstaaten nicht wesentlich geändert oder verbessert.
Ich gehe zunächst auf die Situation von Frauen weltweit ein und beziehe mich dabei auf eine Bilanz der Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Barbara Lochbieler. Ich zitiere:
Trotz aller Versprechungen und Deklarationen, die
vor fünf Jahren bei der 4. Internationalen Frauenkonferenz in Peking verabschiedet wurden, haben
die Regierungen sehr wenig getan, um die Rechte der
Frauen umzusetzen und um sie vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, denen sie einzig aufgrund
ihres Geschlechtes ausgesetzt sind. Der mangelhafte
Schutz der Rechte der Frauen spiegelt den fehlenden
politischen Willen vieler Regierungen wider, substanzielle Veränderungen im Leben der Frauen herbeizuführen. Im Namen von kulturellen oder religiösen Interessen ignorieren viele Regierungen die Verpflichtungen, die sie auf der internationalen Bühne
eingegangen sind.
Es gibt also einen enormen Unterschied zwischen der
weltweiten Rhetorik der Regierungen und der tatsächlichen Umsetzung der Rechte von Frauen. Zahlen sind da
immer sehr anschaulich; deshalb möchte ich folgendes
Bild zeichnen: Weltweit sterben täglich mehr Frauen und
Mädchen an geschlechtsspezifischen Übergriffen als an
allen anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen.
Fünf Jahre nach Peking werden mehr Frauen und Kinder
gehandelt als je zuvor. Täglich werden 6 000 Mädchen
und Frauen Opfer von Genitalverstümmelungen; weltweit
sind es 130 Millionen Frauen. Frauen werden außerdem
zu Tode geprügelt, lebendig verbrannt, gesteinigt, sexuell
missbraucht. In Pakistan beispielsweise werden jährlich
Hunderte von Frauen wegen der Verletzung der Familienehre getötet. In Sierra Leone und im Sudan werden Tausende Mädchen und Frauen sexuell versklavt und verschleppt. In Bangladesch - wir haben das in den letzten
Monaten verstärkt mit ansehen müssen - werden immer
mehr Frauen Opfer von Säureattentaten, ausgeführt von
zurückgewiesenen Männern. In Indien werden circa 5 000
Frauen Opfer von Mitgiftmorden. Etwa 1 Million
Mädchen in Südostasien kommen ums Leben, weil sie
medizinisch schlechter versorgt und schlechter ernährt
werden als Jungen.
In Kriegs- und Krisenregionen sind Frauen besonders gefährdet. Sie stellen 80 Prozent aller Flüchtlinge
weltweit. Sind sie auf der Flucht, sind sie in viel höherem
Maße ungeschützt. Sie sind sexuellem Missbrauch von
Soldaten, Behördenvertretern und anderen Männern
schutzlos ausgeliefert. Frauenrechte sind Menschenrechte, hieß es auf der Konferenz von Peking. Sie werden
weltweit immer noch mit Füßen getreten; sie werden im
Namen von Religion, Tradition oder Kultur im öffentlichem oder im privaten Bereich ihrer elementaren Menschenrechte beraubt. Hierfür tragen Regierungen die
Hauptverantwortung.
Aber auch wir sind verantwortlich. Denn wir leben in
einer Welt und darum müssen wir positive Ansätze von
Regierungen und Nichtregierungsorganisationen in diesen Ländern auch finanziell unterstützen. Ein wichtiges
Instrument ist dabei, dass im Entwicklungszusammenhang die Gleichstellung der Geschlechter ein eigenständiger Grundsatz ist.
Das hat zur Folge, dass die finanziellen Mittel das Empowerment und die gesellschaftliche Stellung der Frauen
stärken.
Die zunehmende Armut in vielen Ländern und der
mangelnde Zugang der Frauen zu sozialen Diensten, Bildung und Ausbildung müssen zu Beginn des 21. Jahrhunderts endlich ein Ende haben.
({0})
Frauen brauchen weltweit einen gerechten Zugang zu
wirtschaftlichen Ressourcen. Auch darum ist bei Entschuldungsinitiativen ein geschlechtsspezifischer Zugang
notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Ziel
der Weltfrauenkonferenz 1995 war die weltweite Ratifizierung eines Zusatzprotokolls zur Frauenkonvention
bis zum Jahre 2000. Nur wenn dieses Zusatzprotokoll von
zehn Staaten ratifiziert wird, kann es auch in Kraft treten.
Dies ist bis heute leider noch nicht geschehen. Seit elf Jahren gibt es bereits das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau.
Diese Vereinbarung wurde vor elf Jahren von 163 Staaten ratifiziert. Es fehlte jedoch bislang die Möglichkeit,
dass Betroffene ihren Diskriminierungsfall von dem zuständigen UN-Ausschuss überprüfen lassen können.
Ansonsten könnte der Ausschuss dem entsprechenden
Vertragsstaat Maßnahmen auferlegen, das Opfer entsprechend zu schützen. Um diese Möglichkeit zu gewährleisten, wurde im Oktober 1999 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Zusatzprotokoll
verabschiedet. Ich bin froh, dass Deutschland zu den ersten zehn Staaten gehört, die dieses Zusatzprotokoll unterzeichnet haben.
({1})
Ich hoffe, dass wir auch zu den Ersten gehören werden,
die dieses Protokoll ratifizieren, damit es dann weltweit in
Kraft treten kann.
Zur Situation der Frauen in Deutschland nenne ich
die Bereiche, die auch vom UN-Ausschuss als besonders
kritisch angesehen wurden: die Situation der Frauen in
Ostdeutschland, die Bedingungen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die Situation der ausländischen Frauen in
Deutschland und Gewalt gegen Frauen. Seit der Unterzeichnung der Pekinger Plattform hat sich zwar einiges,
aber bei weitem nicht genug verändert.
Die Frauendiskriminierung in Deutschland wurde in
den 16 Jahren der Kohl-Regierung nicht wesentlich abgebaut. Das zu erledigen ist dringlichste Aufgabe der rotgrünen Regierungspolitik.
({2})
- Ja, wir sind schon dabei. Sie werden es gleich hören.
Die rechtliche Gleichstellung ist bei uns relativ weit
fortgeschritten. Das hat aber nicht zu einer faktischen
Gleichstellung geführt. Wie ist es sonst zu erklären, dass
die Arbeitslosenquote von Frauen in den neuen Bundesländern bei 21 Prozent liegt? Wie ist es zu erklären, dass
Frauen nur durchschnittlich 77 Prozent des Einkommens
von Männern verdienen?
Aber nicht nur die Erwerbslosigkeit ist ein Problem.
Auf dem Arbeitsmarkt herrschen vielfältige Formen der
Benachteiligung vor. Die rot-grüne Koalition hat sich
zum Ziel gesetzt, die Fehler der Vorgängerregierung zu
korrigieren und neue Wege einzuschlagen. Noch in diesem Jahr - Frau Eichhorn, jetzt komme ich zu den angekündigten Punkten - wird es ein Gleichberechtigungsgesetz für den öffentlichen Dienst geben, das mehr als ein
Papiertiger ist. Durch dieses Gesetz werden Frauen ihre
Erwerbs- und Karriereansprüche besser durchsetzen können. Dieses Gesetz wird Mädchen zukünftig auch die
Hälfte der Ausbildungsplätze garantieren. Neben der Ausbildung wird es bei Einstellung und Beförderung zu Quotenregelungen kommen.
Aber auch die Privatwirtschaft muss ihrer Verantwortung nachkommen und wir werden sie dabei mit einem
Gesetz unterstützen, aber auch entsprechende Anreize geben. Dies geschieht zum Beispiel durch die Koppelung
von öffentlichen Aufträgen an frauenfördernde Maßnahmen. Wir werden auch dem europarechtlichen Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ Rechnung tragen.
Auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden Frauen von der alten Regierung bis heute allein gelassen.
({3})
Bei der Zuweisung der Rollen der Geschlechter schultern
Sie den Frauen immer noch den Löwenanteil an der Hausund Familienarbeit auf, während sie in der Erwerbsarbeit
außen vor bleiben. Noch immer ist es so, dass von 400 000
Frauen, die in den Erziehungsurlaub gehen, nur die Hälfte
wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt. Das muss sich
ändern. Ich wundere mich, dass Sie, Frau Eichhorn, kritisieren, was hier alles fehle. Wo sind Ihre Anträge zum
Erziehungsurlaub und wo sind Ihre Anträge zur Pekinger
Weltfrauenkonferenz?
({4})
Hier wird die Neuregelung des Erziehungsurlaubsgesetzes entscheidende Veränderungen bringen. Wir werden
auch die Rolle der Väter stärken. Väter werden stärker in
die Verantwortung genommen werden können, weil sie
Regelungen vorfinden, die ihren Lebensbedürfnissen entgegenkommen.
Ein weiterer Missstand ist die Situation von ausländischen Frauen in Deutschland, die wir Bündnisgrünen
schon seit langem bemängeln. Wir haben - Sie fragen
nach der Umsetzung - in einem ersten Schritt die Änderung des § 19 des Ausländergesetzes vorgenommen.
Hier sind maßgebliche Rechte ausländischer Ehefrauen
gestärkt worden.
({5})
- Ja, Sie wundern sich, wie viel wir schon umgesetzt haben.
Auch der Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt wird noch in diesem Jahr verbessert.
({6})
Nicht mehr die geprügelte Ehefrau und ihre Kinder müssen das Haus verlassen, sondern der gewalttätige Mann.
Das ist ein deutliches Signal an die Täter.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Eine Revolution hat
begonnen!“, das war der Eröffnungsausruf auf der
Weltfrauenkonferenz 1995. Nach fünf Jahren müssen wir
feststellen: Die Revolution ist eine Schnecke. Die
Umsetzungsdefizite sind groß und in manchen Bereichen
geht es nicht mehr darum, zu einer Weiterentwicklung zu
kommen, sondern die erzielten Fortschritte zu verteidigen.
Darum habe ich mich sehr gefreut, im UN-Protokoll
des Frauenrechtsausschusses zu lesen, dass die Bundesregierung für ihre Anstrengungen zur Herstellung der Chancengleichheit von Frauen gelobt wurde.
({8})
Dass Ihre Teilnahme, Frau Staatssekretärin Niehuis, und
Ihr Vortrag in New York über die jetzige Frauenpolitik
vom UN-Ausschuss so stark gewürdigt wurden, sollte uns
allen ein Ansporn sein, weiter für die Rechte der Frauen
einzutreten. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür.
({9})
Dennoch können wir uns nicht damit zufrieden geben.
Auch in unserem Land gibt es noch genug zu tun. Wir haben zwar nach der letzten Bundestagswahl die Richtung
gewechselt, sind aber erst am Anfang eines Weges, an dessen Ende Selbstbestimmung, Gewaltfreiheit und Demokratie zwischen den Geschlechtern sein wird.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wäre es doch schön, wenn wir ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten hätten. All das - so muss ich sagen - haben Sie mit diesem Tagesordnungspunkt weggewischt.
({0})
Ich bin erst seit dieser Legislaturperiode im Parlament.
Wenn ich aber sehe, was es in der Vergangenheit bei der
Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz von Peking an Gemeinsamkeiten gegeben hat, während hier nur deutlich
sichtbare Nichtgemeinsamkeiten vorhanden sind, dann
fällt mir einfach auf, dass wir nicht mehr gemeinsam für
die Frauen kämpfen, sondern jeder parteipolitisch auf seinem Platz.
({1})
Das bedauere ich außerordentlich. Ich habe gedacht, es
würde auch anders gehen.
({2})
Ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten hätten wir sehr
wohl finden können.
Ich bin wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Wahrscheinlich war ich auf einer gemeinsamen
Frauenwolke, aber hier fällt man durch.
({3})
- Frau Hanewickel, Ihre ersten Worte haben mich schon
sehr entsetzt. Ich habe sie noch sehr genau im Ohr.
({4})
Meine Damen und Herren, die Bundestagsfraktion der
F.D.P. begrüßt, dass fünf Jahre nach der Weltfrauenkonferenz in Peking die Sondergeneralversammlung „Frauen
2000“ der Vereinten Nationen in New York stattfindet.
Wir brauchen eine Überprüfung der Beschlüsse der Pekinger Konferenz, und zwar national und international.
Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden für das
21. Jahrhundert sind Themen, mit denen wir Liberale uns
identifizieren. Hier im Parlament - ich möchte, dass das
nach all Ihren Beschimpfungen ganz deutlich wird - haben wir Alternativen zum Erziehungsgeld, zur Erziehungszeit, zur Familienförderung im Frauenrecht vorgelegt, und es war auch die F.D.P., die es mit der Änderung
des § 19 des Ausländergesetzes durchgesetzt hat, dass
ausländische Frauen, die in Deutschland geschieden werden, einen Sozialhilfeanspruch haben. Das haben Sie vergessen.
({5})
Es wäre klug und sehr fair gewesen, Frau Schewe-Gerigk,
wenn Sie dazu noch ein Wort gesagt hätten. Dass Sie es
nicht getan haben, zeigt unsere Nichtgemeinsamkeiten.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. hat in der alten
Regierung auch Gesetze initiiert. Ich denke dabei nur an
die Problematik von Vergewaltigung in der Ehe. Hierzu
hat es gemeinsame überparteiliche Abstimmungen gegeben.
1992, drei Jahre vor der Weltfrauenkonferenz in Peking, wurde von der alten Bundesregierung ein nationales
Vorbereitungskomitee installiert. Dies habe ich alles
nachgelesen. In zwölf Arbeitsgruppen haben intensive
Vorbereitungsarbeiten stattgefunden. Damals, meine
Damen und Herren und liebe Kolleginnen von SPD und
Grünen, waren Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktionen an diesem Prozess beteiligt.
({6})
- Nein, das ist nicht wahr. Heute legen Sie am Montag
zwei Anträge für die Donnerstagssitzung vor, die Sie nicht
im Ausschuss beraten lassen, und hier haben wir eine
Stunde für die Beratung des Themas „Weltfrauenkonferenz“.
({7})
Sie wissen, Frau Hanewinckel, dass dieses Vorgehen jenseits einer wirklich intensiven Diskussion ist. Vielleicht
hätten wir uns auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt,
aber das haben Sie nicht gewollt, sonst wären Sie anders
verfahren.
({8})
Ich meine, dass die Bundesregierung es auch versäumt
hat, uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier umfassend zu informieren. Ein konstruktiver Meinungsaustausch in sechzig Minuten bringt es nicht, Frau Ministerin
Bergmann. Dieses Thema hätte im Parlament etwas Besseres verdient.
({9})
Ich frage Sie: Wo ist Ihre Strategie? - Da lachen Sie,
aber von Ihnen habe ich nichts gehört. Zu der Veranstaltung am 12. April, die in meinen Augen total chaotisch
war, sind wir nicht eingeladen worden. Aber das war eigentlich auch alles, was hier in Bezug auf die Sondergeneralversammlung in New York passiert ist. Die Regierung sollte - dies kommt wahrscheinlich gar nicht mehr
an, denn bei ihr geht es auf der einen Seite hinein und auf
der anderen Seite wieder heraus - bei der Konferenz in
New York auf Appelle im Schlussdokument weitgehend
verzichten und den Schwerpunkt auf Durchsetzungsstrategien legen.
Die Bundesregierung hat im letzten Jahr den Fragebogen zur nationalen Umsetzung der Aktionsplattform
beantwortet. Die Antworten zeigen, dass die alte und die
neue Bundesregierung Anstrengungen unternommen haben, die teilweise erfolgreich waren. Ich habe die Antworten von vorn bis hinten gelesen. Sie mussten immer
schreiben: „Diese Bundesregierung hat zwischen 1995
und 1998 das und das gemacht.“ Ich finde es schofelig,
wenn Sie darauf nicht eingehen und auch uns keine Möglichkeit dazu geben.
({10})
Beide Regierungen haben Anstrengungen unternommen, aber fast auf jeder dritten Seite steht, dass diese unzureichend sind. Wir wissen, dass sie unzureichend sind.
Auch die Anstrengungen der alten Regierung waren unzureichend.
Wie weit Sie mit ihrem Gleichberechtigungsgesetz für
die Wirtschaft kommen, werden Sie noch sehen. Ich
glaube, dies wird ein abgespeckter Tiger. Sie werden als
Bettvorleger landen. Dann wird die Situation noch viel
schlimmer und wird die Arbeitsplätze von Frauen in der
Wirtschaft eher ungünstiger gestalten.
Meine Damen und Herren, teilweise kann ich den Antworten der Bundesregierung zustimmen, aber teilweise
sind die Antworten der von Ihnen getragenen Regierung
sehr weit her geholt und sehr abenteuerlich. Ein Beispiel:
In dem Kapitel „Frauen und Armut“ schreiben Sie in Ihrer Antwort von dem Erfolg der Neuregelung der 630Mark-Arbeitsverhältnisse.
({11})
Wir wissen das alles, aber die Bürgerinnen und Bürger
wissen nicht, worin dieser Erfolg liegt. Ich sage Ihnen nur
eines: Immer weniger Frauen arbeiten in ordentlichen
630-Mark-Arbeitsverhältnissen, immer mehr arbeiten
schwarz. Ich habe das selber am eigenen Leib mitbekommen. Es ist eine Katastrophe. Dies gilt insbesondere für
Hilfen in privaten Haushalten.
Ich möchte noch einmal auf die Versammlung zurückkommen. Es ist außergewöhnlich, dass diese Fraktionsanträge heute diskutiert werden. Dieses Thema hätte intensiver beraten werden können. Es hätte mir wirklich
Freude gemacht, wenn wir dies in nicht öffentlicher Ausschusssitzung beraten hätten. In den Anträgen sind viele
Unklarheiten enthalten. Es ergeben sich viele Fragen.
Nicht aufgrund dieser Debatte, sondern aus drei anderen Gründen werden wir Ihren Anträgen nicht zustimmen:
Erstens gibt es keine gründliche Beratung. Zweitens haben wir aufgrund der Zeit keine Möglichkeit, etwas zu ändern oder uns zu einigen. Drittens gibt es bei dieser Diskussion eine parteipolitische Lobhudelei, nicht nur
schriftlich, sondern auch mündlich.
Deshalb wird die F.D.P. nicht zustimmen. Aber wir
werden natürlich alles daransetzen, dass wir mit der Frauenpolitik national und international weiterkommen.
Sie wissen ganz genau, dass Ihre Anträge nichts nützen, denn wir Parlamentarierinnen haben auf der Sondergeneralversammlung nur einen Beobachterstatus. Die Regierung ist diejenige, die handeln muss.
Ich komme jetzt zum Schluss, Frau Präsidentin. Die
F.D.P. wird die Sondergeneralversammlung Peking + 5 in
New York aufmerksam und konstruktiv verfolgen und begleiten. Wir werden sehen, mit welchen Ergebnissen die
Bundesregierung aus New York zurückkehrt. Die Diskussion wird weitergehen. Die F.D.P. ist dabei. Mit liberalen,
freiheitlichen Ideen werden wir trotz der krassen parteipolitischen Töne, die ich heute gehört habe, konstruktiv
an diesem Thema weiterarbeiten.
Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben.
({12})
Das Wort hat
jetzt Kollegin Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Frauentreffen der 103. IPUTagung vor zwei Wochen in Amman waren sich die Parlamentarierinnen aus der ganzen Welt einig: Der
„Peking + 5“-Prozess bietet die Möglichkeit für notwendige Aktionen.
Zweifellos ist es jetzt unser Hauptziel, für die Sondergeneralversammlung ein aktionsorientiertes Abschlussdokument zustande zu bekommen. Substanzielle Analysen der gegenwärtigen Situation gibt es inzwischen genug. Es steht außer Frage, dass wir ein aktualisiertes,
handlungsorientiertes Dokument brauchen, das Bezug
nimmt auf die großen Herausforderungen durch den Prozess der ökonomischen Globalisierung. Ich nenne Migrationsprozesse - ich verweise nur auf die weitere weltweite
Feminisierung der Armut, die Folgen kriegerischer
Auseinandersetzungen - und die daraus resultierenden
Migrationsströme.
Ich konnte mir vor kurzem in New York auf der PrepCom einen Eindruck über den Diskussionsprozess im
Vorfeld dieser Sondergeneralversammlung verschaffen.
Es ist klar: Es gibt eine Wiederauflage der unheiligen
Allianz des Vatikan mit fundamentalistischen Staaten. Es
gibt auch die Gefahr, dass aggressive fundamentalistische
Nichtregierungsorganisationen mehr Einfluss bekommen, als das noch vor fünf Jahren der Fall war.
Die mühevollen Verhandlungsrunden der Prep-Com
haben gezeigt, dass es einfach kein Zurück hinter die Beschlüsse von Peking, von Kairo und von Wien geben darf.
Im Übrigen hat sich hier die Bundesregierung im Rahmen
der Europäischen Union sehr engagiert, dass vor allem in
den Punkten Menschenrechtsverletzungen gegenüber
Frauen und reproduktive Gesundheit tatsächlich erst einmal der Status quo erhalten bleibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Dreh- und Angelpunkt ist zweifellos die Umsetzung eines solchen Dokuments, wie des in zwei Wochen in New York zu verabschiedenden.
({0})
Die NGO-Aktivistin Christa Wichterich, vielen hier im
Saal sicherlich bekannt, hat zu Recht festgestellt:
Der Revolution der Worte folgte keine der Taten.
Leider stimmt die Analyse - sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene. Deshalb besteht meines
Erachtens der größte Handlungsbedarf bei effektiven Umsetzungsmethoden und wirkungsvollen Überprüfungsmechanismen für das Beschlossene.
Wie wir es auch drehen und wenden - an einer verstärkten Bezugnahme auf das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument, nämlich das Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau,
CEDAW genannt, werden wir nicht vorbeikommen.
Die Anregung der UN-Mitarbeiterin Yakin Ertürk auf
dem Ammaner Parlamentarierinnentreffen, CEDAW als
eine Art „Bill of Rights“ in der politischen Praxis zu nutzen, findet meine Unterstützung. Doch wir alle als nationale Parlamentarierinnen und Parlamentarier wissen sehr
gut, wie schwer es ist, sich im Alltag auf internationale
Regelungen und Beschlussfassungen zu beziehen und
sich zum Beispiel auf dem Rechtsweg auf die entsprechenden internationalen Dokumente zu berufen. Ich habe
aber durchaus die Hoffnung, dass sich hier nach der Ratifizierung des CEDAW-Zusatzprotokolls neue Möglichkeiten eröffnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Bundesrepublik ist die Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz längst nicht ausreichend umgesetzt worden. Der
Schattenbericht der Nichtregierungsorganisationen, übrigens von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben, spricht da eine sehr deutliche Sprache.
({1})
Im Regierungsbericht zur Umsetzung der Aktionsplattform werden die strukturellen Diskriminierungen
von Frauen bei weitem nicht genügend berücksichtigt.
Ebenso, wie das schon bei dem CEDAW-Bericht war - da
gab es die Rüge vonseiten der UN bereits zum Jahresanfang - ,wird die Lage von Migrantinnen und die Situation
von Frauen in Ostdeutschland in dem Regierungsbericht
weitgehend ausgeblendet. Da wundert es einen schon ein
bisschen, wenn sich die Regierungsfraktionen heute in
ihrem Antrag doch mehr oder weniger - ich sage es so
krass - auf eine Selbstbeweihräucherung beschränken.
Ja, die Bundesregierung hat das Aktionsprogramm
„Frau und Beruf“ vorgelegt. Das erschöpft sich meines
Erachtens aber bisher in Ankündigungen. Sie bemängeln,
dass Frauen in höheren und hohen Positionen im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert sind. Bei 1,3 Prozent
weiblichen Abteilungsleiterinnen in den obersten Bundesbehörden und 5 Prozent C-4-Professorinnen muss man
sagen: Sie sind dramatisch unterrepräsentiert. Hier wirken
tatsächlich Machtstrukturen, die nach wie vor Frauen
strukturell und systematisch ausgrenzen und diskriminieren.
Wo bleibt das angekündigte Gleichstellungsgesetz für
den öffentlichen Dienst? Hier gibt es zum Glück endlich
einen Fahrplan. Ich frage aber vor allem nach dem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Wir alle wissen,
dass die gegenwärtig laufenden Dialogforen sehr wichtig
und nützlich sind, Frau Ministerin. Wir wissen aber auch,
wie wichtig konkrete Handlungen sind. Ich warne davor,
zu hoffen, dass die Unternehmen in nennenswerter Menge
freiwillig Frauenförderung betreiben. Das scheint mir ein
bisschen naiv zu sein und kann möglicherweise - ich sage
es mit Absicht so vorsichtig - ein Indiz dafür sein, dass es
die Regierung mit der Gleichstellung doch nicht so ernst
meint. Hier wird Ihnen auch der heraufbeschworene Paradigmenwechsel nicht helfen, demzufolge die Chancengleichheit der Geschlechter ein Leistungs- und Wettbewerbsfaktor sei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenrechte sind
Menschenrechte. Das war die zentrale Botschaft von Peking.
Ich möchte abschließend noch an den Punkt der Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylund Aufenthaltsgrund erinnern. Heute ist die Meldung
durch die Ticker gegangen, dass die Verwaltungsvorschriften hierzuzu geändert werden. Das ist ein wichtiger
Schritt. Ich sage aber in aller Deutlichkeit: Dieser Schritt
wird nicht ausreichen, um zum Beispiel zu verhindern,
dass traumatisierte und vergewaltigte Frauen aus einzelnen Bundesländern abgeschoben werden. Wir müssen
hier den Worten Taten folgen lassen, diese unsägliche
Asyldebatte endlich abbrechen und verfolgten Frauen einen wirksamen Schutz und Aufnahme geben.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erinnern wir
uns: Es war die 4. Weltfrauenkonferenz, die 1995 die
Gleichstellung von Frauen und Männern international
wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt hat.
Mit der Aktionsplattform von Peking liegt erstmals
in der Geschichte ein politisches Gesamtkonzept der Vereinten Nationen zur Gleichstellung der Geschlechter, zum
Abbau von Diskriminierung und zum Schutz der
Menschenrechte von Frauen vor. Wir sind uns darüber einig: Bei all dem Streit, den es gibt, gehen von Peking entscheidende Impulse zur Gleichstellungspolitik aus.
Ich denke, dass das, was uns beschäftigt, wichtig ist.
Wir fragen uns: Wie ist es nun weitergegangen? Wenn wir
uns in New York treffen und bilanzieren, was umgesetzt
worden ist, dann betrifft dies die nationale, aber auch die
internationale Umsetzung. Wir wissen: Kein Land der
Welt ist schon so gut, dass es dieses Thema nicht mehr auf
der Tagesordnung hätte. Es gibt unterschiedliche Probleme bei den Frauen. Aber überall ist die Gleichstellung
nach wie vor nicht verwirklicht.
Mit der Aktionsplattform von Peking wurden strategisch neue Weichen gestellt. So ist zum Beispiel die Einführung des Gender-Mainstreaming-Prinzips in der Politik als durchgängiges Prinzip in Peking vereinbart worden. Wir müssen einmal sehen, was davon umgesetzt
worden ist und ob die Forderungen eines interfraktionellen Antrages zu Peking umgesetzt wurden. Wir müssen
feststellen, dass das erst in den letzten eineinhalb Jahren
der Fall war.
({0})
Wir haben das Gender-Mainstreaming-Prinzip in das
Programm „Frau und Beruf“ aufgenommen. Wir werden es in die Geschäftsordnung der Bundesregierung aufnehmen. Wenn die interministerielle Arbeitsgruppe anfängt zu arbeiten, geht es auch darum, Kriterien festzulegen, dieses Prinzip in den einzelnen Ressorts, in den
Verwaltungen so zu verankern, dass man nicht im Nachhinein fragen muss, ob alles richtig gelaufen ist.
Ich komme zum Programm „Frau und Beruf“. Frau
Eichhorn, Sie haben es wahrscheinlich nicht gewollt, aber
Sie haben mir ein richtig dickes Lob ausgesprochen. Sie
haben nämlich gesagt, wir kümmerten uns um die Erwerbsarbeit der Frauen. - Ja, das tue ich. Das ist meine
Aufgabe. Es ist ganz wichtig, dass wir uns darum kümmern.
({1})
- Ich werde gerade wieder von Frau Eichhorn gelobt oder
gescholten, je nach dem, wie man das einschätzt.
Wir kennen doch die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Wir wissen, wie Frauen bezahlt werden:
Frauen erzielen im Durchschnitt nur 77 Prozent im Vergleich zu den Einkommen der Männer in den alten
Bundesländern. In den neuen Bundesländern sieht es besser aus. Dort erreichen Frauen aufgrund der Berufswahl
im Durchschnitt - noch - fast 90 Prozent im Vergleich zu
den Einkommen der Männer. Natürlich ist es notwendig,
sich um das, was Frauen wollen, zu kümmern.
({2})
Nicht nur junge Frauen wollen ihren Anteil an der Erwerbsarbeit. Frauen wollen nicht nur als Hinzuverdiener
erwerbstätig sein; vielmehr wollen sie einen ordentlichen
Anteil am Erwerbsleben haben und ordentliche Karrieren
machen, und zwar in Berufen, die auch Spaß machen. Es
ist meine Aufgabe als Frauenministerin, dafür sorgen,
dass dies auch möglich ist.
({3})
Wir haben das Programm „Frau und Beruf“ auf den
Weg gebracht, weil wir wissen, dass Gleichstellungspolitik in der Arbeitswelt ansetzen muss. Unter dem Namen
„Frau und Beruf“ verstehe ich vorrangig, Veränderungen
in der Erwerbsarbeit und in der Arbeitswelt durchzusetzen.
({4})
Das ist meine Vorstellung.
({5})
Ich möchte auf den Vorwurf, wir hätten das Programm
„Frau und Beruf“ noch nicht ausreichend umgesetzt, ein
paar Punkte erwidern: Das Gleichstellungsgesetz für
den öffentlichen Dienst - das ist von Frau Hanewinckel
schon angesprochen worden - befindet sich zurzeit, wie
Sie sicherlich vernommen haben, in der Ressortabstimmung. Wir werden mit diesem Gesetz ganz entscheidende
Verbesserungen erreichen. Die Zahlen, die genannt worden sind, belegen, wie schlimm es noch um die Gleichstellung im öffentlichen Dienst bestellt ist. Dort sieht es
auch nicht viel besser aus als in der Privatwirtschaft. Auch
das muss man ansprechen.
Wir wollen, dass Frauen bei gleicher Qualifikation bei
Ausbildung, Einstellung und Beförderung bevorzugt werden, allerdings unter Berücksichtigung der Einzelfallgerechtigkeit. Das ist die Vorgabe des Europäischen
Gerichtshofes. Ich denke, wir werden weiter vorankommen. Es wird verbindliche Gleichstellungspläne geben.
Die Förderung der Gleichstellung wird als ausdrückliche Aufgabe für alle Dienstkräfte mit Leitungsfunktionen
verankert. Es gehört auch zum Gender-Mainstreaming,
dass sich nicht irgendeiner um die Gleichstellung kümmert; vielmehr ist die Durchsetzung der Gleichstellung
auch eine Führungsaufgabe. Weiterhin werden die
Gleichstellungsbeauftragten mehr Kompetenzen erhalten.
Sie haben ein weiteres wesentliches Thema des Programms „Frau und Beruf“ angesprochen, nämlich die
Durchsetzung der Chancengleichheit von Frauen in der
Privatwirtschaft. Frau Bläss hat darauf hingewiesen, dass
wir mit dem begonnenen Dialog bereits ein gutes Stück
Weg zurückgelegt haben. Ich möchte nur ein Missverständnis ausräumen: Wir setzen nicht auf das Prinzip der
Freiwilligkeit. Es wäre schön, wenn wir das tun könnten.
Aber angesichts der wenigen Unternehmen, die bisher
freiwillig etwas für die Chancengleichheit der Frauen getan haben, ist mir dieses Prinzip als Perspektive zu mau.
({6})
Ich denke, wir bereiten den Boden mit dem begonnenen Dialog gut vor. Es geht zum Beispiel um die Themen
öffentliche Auftragsvergabe und die Vertretung der Interessen von Frauen. Es liegen eine ganze Menge guter,
brauchbarer Vorschläge darüber auf dem Tisch, welchen
Weg wir ab dem Herbst einschlagen sollen und mit welchen rechtlichen Regelungen wir unser Ziel erreichen
können.
Ich möchte im Rahmen der Diskussion über das Programm „Frau und Beruf“ noch einen weiteren Punkt ansprechen, nämlich die Informationsgesellschaft. Wir befinden uns nicht auf dem Weg in die Informationsgesellschaft; vielmehr sind wir schon mitten in ihr.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben
nicht nur diese gesamte Entwicklung, sondern auch die
Tatsache verschlafen, dass die Informationsgesellschaft
Frauen neue Arbeitsmärkte bietet.
({8})
Angesichts des Mangels an Fachkräften, der im IT-Bereich herrscht, würden die Unternehmen auch Frauen nehmen, wenn sie gut qualifiziert wären. Aber diese gibt es
nicht.
Wir sind gut beraten, das, was wir uns im Aktionsprogramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ vorgenommen haben, auch umzusetzen, nämlich
den Anteil der Frauen in den IT-Ausbildungsberufen und
auch in den IT-Studiengängen in den nächsten fünf Jahren
auf 40 Prozent zu erhöhen. Momentan liegt der Anteil
zwischen 13 und 14 Prozent. Hier müssen wir eine Menge
tun.
Im Rahmen der D-21-Initiative sind eine Menge praktischer Vorschläge auf den Tisch gelegt worden, um diesen Anteil zu erhöhen. Im Rahmen dieser Initiative haben
sich die beteiligten Unternehmen verpflichtet, noch in
diesem Jahr zusätzliche Arbeitsplätze für junge Frauen im
IT-Bereich bereitzustellen.
Wir sind auch dabei, Multiplikatoren, also junge Fachfrauen, die Mädchen werben und ihnen den Wert der Sache klar machen, in die Schulen zu schicken; denn die
Ausbildungsplätze allein reichen nicht aus.
Wir haben dieses Problem so schnell es irgend ging
aufgegriffen. Ich kann nicht hinnehmen, dass es hier einen
wunderbaren Arbeitsmarkt mit sicheren Arbeitsplätzen
gibt, auf dem die Frauen nur marginal vorkommen. Ich
kann Sie nur um Unterstützung bitten.
({9})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ja, Frau Lenke, bitte.
Frau Ministerin, vielleicht kommen wir auch hier in einen kleinen Dialog. Ihre Redezeit
wird in zwei Minuten beendet sein. Ich hatte von Ihnen eigentlich erwartet, dass Sie etwas über die Strategie, die
Sie auf dieser Konferenz verfolgen, sagen.
({0})
Sie haben von all dem gesprochen, was Sie gemacht haben, und Sie haben Ihre Programme genannt. Welche Erfolgsstrategie haben Sie für diesen Kongress? Ich frage
das Sie, denn Sie sind die Vertreterin der Regierung, die
Erfolg erzielen muss. Darüber würde ich in den letzten
zwei Minuten gerne noch etwas hören.
({1})
Frau Lenke, ich
werde auch dazu noch etwas sagen. Haben Sie noch ein
kleines bisschen Geduld. Es geht auch darum, eine Bilanz
dessen zu ziehen, was wir getan haben; denn Sie werfen
uns permanent vor, wir hätten nichts getan.
({0})
Ich komme noch einmal auf das Gesetz über das Erziehungsgeld zu sprechen. Meine liebe Frau Eichhorn,
wenn Sie erklären, wir schrieben irgendjemandem irgendetwas vor, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie einfach noch einmal in das Gesetz hineinschauen müssen.
Wir erweitern die Wahlmöglichkeiten für Familien.
({1})
Die Familien können entscheiden, ob ein Elternteil oder
beide Erziehungsurlaub nehmen oder ob die Eltern das
alte Erziehungsmodell bevorzugen. Es gibt mehrere Optionen.
Unser Versuch, mit den 30-Stunden-Teilzeitarbeitsplätzen die Väter anzusprechen, ist ganz vernünftig. Ich
bekomme von jungen Vätern vielfach ein positives Echo.
Wir wollen doch einmal sehen, ob wir nicht die Verhaltensstarre überwinden.
Ihr Umgang mit der Budgetierung ist nun wirklich albern und schlimm. Eine Budgetierung ist nur ein Angebot.
Es gibt schon jetzt viele junge Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub nehmen, vor allen Dingen, wenn die Kinderbetreuung geregelt ist. Diese Eltern haben im Moment
das Geld, das ihnen zusteht, verloren.
({2})
- Ich komme gleich auf New York zu sprechen.
Es ist angesprochen worden, was wir - dazu gehören
viele aus unserem Umfeld - dazu beigetragen haben, dass
das CEDAW-Zusatzprotokoll nach zehn Jahren zustande kam. Wir sind dabei, die Ratifizierung einzuleiten.
Was können wir in New York erreichen? Frau Bläss hat
es schon angesprochen: Vor uns liegt ein schwieriger Prozess. Auf der Konferenz wird bilanziert.
({3})
Seit Wochen und Monaten gibt es Abstimmungen. Es gab
die ECE-Konferenz. Darüber haben wir Sie im April auf
einer Veranstaltung informiert.
({4})
Es gab die Brüsseler Konferenz, auf der sich die europäischen Länder verständigt haben.
({5})
- Hören Sie doch einmal einen Moment zu und seien Sie
nicht so aufgeregt! Was stört Sie denn eigentlich daran,
wenn hier jemand Erfolge verkündet? Offensichtlich haben Sie das nicht so gerne.
Mein Dank gilt auch den NGOs, die kräftig beteiligt
sind. Es gibt viele Bestrebungen, hinter die Pekinger
Plattform zurückzufallen, zum Beispiel beim Thema
„Frau und Gesundheit“. Es besteht die Gefahr, dass das
Erreichte einkassiert wird. Wir arbeiten seit Wochen und
Monaten daran, dass die Beschlüsse der Pekinger Plattform aufrechterhalten und weiterhin umgesetzt werden.
Wir wollen weitere Strategien zur Umsetzung vereinbaren. Wir verlangen von den Ländern über die Umsetzung
entsprechende Berichte. Das können wir in New York
leisten. Wenn wir das geschafft haben, dann sind wir ein
gutes Stück weiter. An dieser Arbeit sind viele beteiligt.
Zu einem Teil können Sie das miterleben; Sie sind ja in
New York dabei.
Die Europäische Union - es ist schon gesagt worden:
Sie ist ein Stück weit Motor - muss dafür sorgen, dass die
Pekinger Beschlüsse aufrechterhalten bleiben. An den
Umsetzungsstrategien muss weiterhin gearbeitet werden
und nichts darf zurückgenommen werden; denn wir brauchen am Beginn des 21. Jahrhunderts einen kräftigen Impuls für die Gleichstellungspolitik, damit die Prophezeiung von Matthias Horx, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Frauen wird, ziemlich bald wahr wird. Bei der
Gleichstellung der Geschlechter geht es um Demokratie.
Eine Demokratie ist in einem schlechten Zustand, wenn
sie das nicht zu ihrem Thema macht.
Danke schön.
({6})
Es spricht jetzt die
Kollegin Erika Reinhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden sind die eng miteinander
verzahnten Ziele, die die frauenpolitische Richtung weltweit bestimmen. Wenige Wochen vor der Peking +5-Konferenz in New York müssen wir uns aber schon die Frage
stellen, was wir eigentlich erreicht haben. Liebe Frau Ministerin, wenn ich Sie jetzt gehört habe, dann muss ich sagen: Bisher gab es viel heiße Luft, aber keine konkreten
Aussagen.
({0})
Hält man sich - ich spreche hier jetzt in erster Linie für
die Frauen in der Entwicklungspolitik - die Entwicklungspolitik der rot-grünen Regierung vor Augen, dann
mutet es schon geradezu zynisch an, dass die Fraktion der
SPD 1996 in einem Antrag der damaligen Kohl-Regierung vorwarf:
Angesichts der dürftigen 0,32 Prozent des Bruttosozialproduktes anstelle der von der UN geforderten
0,7 Prozent für die Entwicklungszusammenarbeit
und angesichts der Benachteiligung, die Frauen in
der Dritten Welt erfahren, sind die von der Bundesregierung angekündigten, allerdings auf vier Jahre
begrenzten Mehrausgaben zugunsten von Frauen
zwar überfällig, aber vollkommen unzureichend.
Nun muss ich Sie natürlich schon fragen, liebe Frau
Ministerin, wie sich eigentlich das, was damals als „vollkommen unzureichend“ bezeichnet wurde, zu Ihren heutigen Ausgaben verhält. Sie haben in all den Bereichen,
die die Frauen betreffen, gekürzt.
({1})
Sie haben bei den Stiftungen gekürzt. Sie haben bei den
Ernährungsprogrammen gekürzt. Sie haben im Gesundheitsbereich gekürzt. Sie haben überall dort gekürzt, wo
in erster Linie Frauen in der Entwicklungspolitik betroffen sind.
({2})
Das heißt, Sie haben sich mit Ihrer Politik davon entfernt, der Rolle der Frau in der deutschen Entwicklungspolitik wieder den Stellenwert zu geben, den sie unter der
Regierung Kohl hatte.
({3})
- Sie brauchen gar nicht zu lachen. Lieber Kollege
Schuster, der Etat des Entwicklungsministeriums wurde
um 8,7 Prozent gekürzt. Das hat es unter unserer Regierung nie gegeben.
({4})
Diese Einsparungen betreffen in erster Linie die Belange
der Frauen.
Im „Spiegel“ stand ein herrlicher Satz: Wer das Leben
der Menschen in Afrika verbessern will, muss etwas für
die Frauen tun: ihnen Einkommen und Landbesitz verschaffen, sie besser ausbilden und medizinisch versorgen,
die Zahl ihrer Kinder vermindern. Genau das sind die
Punkte. Davon sind wir jetzt natürlich bei der Peking +5Konferenz weit entfernt.
In Ihrem Antrag sagen Sie, aufgrund der Schuldenregelung würden Mittel frei, die der Armutsbekämpfung,
sozialen Diensten, der Bildung und Ausbildung sowie der
Gesundheitsförderung zugute kommen sollen. Das alles
sind Bereiche, in denen Sie ganz drastisch gekürzt haben.
Aber Sie, liebe Frau Ministerin, müssen sich schon sagen
lassen, dass die Entschuldungsinitiative, die wir natürlich begrüßen, in dieser Frage zu kurz greift; denn ihre
Auswirkungen werden erst mittelfristig zu spüren sein.
Die Frauen in den Entwicklungsländern brauchen aber
heute und nicht erst morgen unsere Solidarität.
({5})
Nach wie vor sind zwei Drittel der Ärmsten der Armen
Frauen. Auf ihnen lasten daher die Folgen der Mittelkürzungen besonders. In Anbetracht dieser Mittelkürzungen
muss man sich schon fragen, ob Rot-Grün entwicklungspolitisch unter Vergesslichkeit leidet,
({6})
wenn es um die in Peking bekundete Handlungsbereitschaft geht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass
der wirtschaftliche Strukturwandel im Zeichen der Globalisierung besonders die Frauenrechte in der Dritten
Welt bedroht. Fünf Jahre nach Peking werden mehr
Frauen und Kinder als je zuvor gehandelt.
Meine Damen und Herren, in dem Fragebogen der UN
zur Umsetzung der Pekinger Beschlüsse - das ist schon
angesprochen worden - hat die Bundesregierung nichts
anderes zustande gebracht, als Aussagen ohne Beispiele
aneinander zu reihen. Der Bundesregierung ist es nicht
gelungen festzustellen, ob sich die Lebenswirklichkeit der
Frauen tatsächlich verändert hat.
Auch im „Spiegel“ vom 15. Mai dieses Jahres - der
war jetzt einmal ganz gut ({7})
stand ein passender Satz: Die Frauen in den Entwicklungsländern sind die bessere Hälfte der Dritten Welt.
- Dem kann ich eigentlich nur zustimmen.
({8})
Es ist auch interessant, dass ausgerechnet die den Grünen - Sie sollen ja schließlich auch Ihre Freude haben nahe stehende Heinrich-Böll-Stiftung in einer Studie ein
vernichtendes Urteil über den frauenpolitischen Ansatz
der aktuellen Entwicklungspolitik fällt. Ich glaube, dass
Sie einmal darüber nachdenken sollten.
Rot und Grün haben zusammen noch niemals Lila ergeben. Das ist eine Tatsache. Mit schönen Worten allein,
meine Damen und Herren, ist es nicht getan. Wir müssen
und wollen Taten sehen.
Die 5. Weltfrauenkonferenz ist für uns alle eine Hoffnung und eine Chance zugleich. Es besteht die Hoffnung,
die weiterführenden Forderungen durchzusetzen und
Frauenförderung noch effektiver zu machen, sowie die
Chance, die fortbestehende Diskriminierung von Frauen
in das öffentliche Rampenlicht zu rücken und weitere
Maßnahmen zu fordern. Wir brauchen die Stärkung der
Frauen in den Entwicklungsländern. Dazu sind solche
Konferenzen wie jetzt in New York sicherlich hilfreich.
Es darf aber nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben.
Wir müssen auch handeln. An dem vorliegenden Antrag
der SPD muss ich schon kritisieren, dass Sie dort nur
schreiben: „darauf hinzuwirken“, „zu unterstützen“, „zu
berücksichtigen“, „anzuerkennen“, wieder „darauf hinzuwirken“, „beizutragen“. Das sind Floskeln, die zeigen,
dass dieser Antrag mit der heißen Nadel gestrickt wurde.
Das ist ein Antrag, der keine Substanz hat. Deshalb - Sie
werden mir das nicht übel nehmen - können wir diesem
Antrag nicht zustimmen, denn er ist inhaltlich wirklich
ungenügend.
({9})
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Frauen auf der
Konferenz vielleicht doch noch gemeinsam etwas bewegen können.
Herzlichen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort jetzt der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass es morgen zum Thema Entwicklungspolitik eine ausführliche Debatte gibt. Außerdem bitte ich
die Kolleginnen, die in diesem Bereich tätig sind, bei den
Fakten zu bleiben.
Die Wahrheit ist - ich sage Ihnen das einfach noch einmal; ich habe es schon öfter getan; vielleicht behalten Sie
es doch einmal -:
({0})
Die Vorgängerregierung hat den Einzelplan 23 in den Jahren von 1991 bis 1998 um 5 Prozent gekürzt, während im
gleichen Zeitraum das Volumen des Bundeshaushalts um
insgesamt 14 Prozent gestiegen ist. Das heißt, es ist ersichtlich, dass zu Ihrer Regierungszeit dieser Haushalt als
Steinbruch benutzt worden ist.
({1})
Was jetzt stattfindet, ist zwar auch schmerzlich - da
mache ich mir gar nichts vor -, ist aber nötig zur Konsolidierung. Ich wäre froh, wenn ein Teil von den 82 Milliarden DM, die Sie uns an zwangsweisen Zinszahlungen
sozusagen aufgebürdet haben,
({2})
für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stünde.
({3})
Wir tragen durch Reduzierung der Schulden dazu bei,
dass wir künftig wieder mehr Spielraum haben.
Vielleicht wäre es auch wichtig, wenn Sie sich einmal
umhören, wie die Entschuldungsinitiative in den Partnerländern bewertet wird. Auf der Konferenz in Dakar,
die sich mit Frauen- und Mädchenbildung beschäftigt hat,
haben wir nur Lob bekommen. Bis jetzt sind durch die
Entschuldungsinitiative 14 Milliarden US-Dollar frei geworden, die für die Grundbildung von Mädchen und
Frauen eingesetzt werden. So trägt sie mit dazu bei, dass
dem Ziel der Gleichberechtigung Rechnung getragen
wird. Eine solche umfassende Entschuldungsinitiative haben Sie während Ihrer Regierungszeit verhindert. Wir tragen dazu bei, dass im globalen Maßstab die Möglichkeit
der Förderung von Mädchen und Frauen geschaffen wird.
({4})
Ich will weiterhin darauf hinweisen, dass es zum Beispiel eine Zusage der alten Bundesregierung gegeben hat,
40 Millionen US-Dollar für Beratung und Lobbyarbeit
von Frauen in den Entwicklungsländern zur Verfügung zu
stellen.
({5})
- Ja, die entsprechenden Zusagen setzen wir um.
({6})
- Das ist doch in Ordnung. Ich bin im Gegensatz zu
manch anderen der Meinung, dass es eine Verbindlichkeit
für Zusagen im Bereich der außenpolitischen Beziehungen gibt. Das Hin- und Herschwanken, das Sie in diesen
Diskussionen zeigen, finde ich gerade angesichts der Partnerländer, mit denen wir es zu tun haben, lächerlich.
({7})
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich sage zum
Schluss: Was wir uns vorgenommen haben, das setzen wir
um.
({0})
- Hören Sie einmal mit dem Lachen auf! - Dazu gehören
zum Beispiel Maßnahmen gegen die Genitalverstümmelung. Wir tragen mit unseren Finanzmitteln dazu bei, dass
denjenigen das Handwerk gelegt wird, die diese Praktiken
gegenüber den Frauen in den Entwicklungsländern noch
anwenden.
({1})
Sie können uns für unsere Arbeit in diesem Bereich ruhig loben. Machen Sie unsere Arbeit nicht wider besseres
Wissen schlecht!
({2})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Reinhardt, bitte.
Liebe Frau Ministerin,
der Unterschied zwischen Ihrem und unserem Haushalt
liegt darin, dass wir nicht gekürzt haben. Vereinigungsbedingt gab es nur weniger Ausgaben.
({0})
- Wir haben nicht den Haushalt gekürzt. - Sie aber haben
den Haushalt um 8,7 Prozent gekürzt. Das ging in erster
Linie zulasten der Frauen. An dieser Tatsache führt kein
Weg vorbei. Das ist der erste Punkt.
({1})
Der zweite Punkt. Das Gleichstellungskonzept von
Peking hat die alte Regierung umgesetzt; das waren nicht
Sie.
({2})
Die alte Regierung hat die 40 Millionen US-Dollar beschlossen und nicht Sie.
({3})
Sie haben in allen Bereichen gekürzt. Da helfen auch die
schönen Reden Ihrerseits überhaupt nichts.
({4})
Nächste Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Brigitte Adler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frauen in aller Welt hatten große
Erwartungen und viel Hoffnungen in die Konferenz von
Peking 1995 gesetzt. Die Erklärungen und die Aktionsplattform hatten 12 kritische Hauptprobleme genannt, so
unter anderem: Frauen und Armut, Bildung und Ausbildung von Frauen, Frauen und Gesundheit, Gewalt gegen
Frauen, Frauen und bewaffnete Konflikte, Menschenrechte und Frauen sowie Mädchen, Frauen und Umwelt.
Die in Peking gefassten Beschlüsse sollen nun auf der
Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom
5. bis 9. Juni dahin gehend überprüft werden, inwieweit
sie von den Nationalstaaten umgesetzt worden sind. Alle
Regierungen werden sich fragen lassen müssen, ob und
inwieweit sie die mitgefassten und unterschriebenen Dokumente in die Tat umgesetzt haben. Die nationalen Belange werden dort vorgetragen, aber auch die Belange der
Entwicklungsländer werden einen breiten Raum - wie bereits in Peking - einnehmen.
In New York geht es nicht um Neuverhandlungen alter
Zusagen. Es geht ausschließlich um die Bilanz des Erreichten. Einige Staaten im Norden und im Süden können
Erfolge vorweisen. Andere haben noch einiges aufzuholen und aufzuarbeiten.
Problempunkte, wie zum Beispiel Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und der Familienplanung, über die in
Peking strittig abgestimmt wurde, werden in New York
nicht neu verhandelt werden. Es geht allenfalls um den
Zeitraum, bis wann diese Streitpunkte politisch in nationales Recht umgesetzt werden müssen.
Frauen in aller Welt werden langsam ungeduldig. Vier
große VN-Konferenzen hat es bislang zum Thema Frauen
gegeben, mit vielfältiger Fortsetzung. Was ist jeweils als
Ergebnis erreicht worden?
1945 haben sich die Vereinten Nationen in einer
Grundsatzerklärung zur Gleichberechtigung von Mann
und Frau geäußert. Wie lange müssen Frauen in den verschiedenen Kontinenten und Kulturen noch darauf warten?
Frauenrechte sind Menschenrechte. Warum gelingt es
nicht, das in so vielen VN-Resolutionen beschworene
Grundrecht in politisches Handeln umzusetzen? Wie steht
es mit dem Recht der Frau auf sexuelle Selbstbestimmung? Warum muss noch immer Gewalt gegen Frauen
und Mädchen geächtet werden? Was ist mit der Forderung, für Frauen den freien und ungehinderten Zugang zu
wirtschaftlichen Ressourcen und deren Kontrolle zu gewährleisten?
In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hat
die Gleichstellung der Geschlechter als eigenständiger
Grundsatz in allen Entwicklungsvorhaben Eingang gefunden. Damit soll erreicht werden, dass Mädchen und
Frauen gleichberechtigt Einfluss auf die Gestaltung von
Vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit nehmen und
Nutzen daraus ziehen können.
({0})
Die Kollegin Reinhardt hat die Finanzsituation angesprochen. Die Antwort der Ministerin zeigt, dass es manches Mal nicht unbedingt auf das Geld ankommt,
({1})
sondern dass wir hier zügig und grundsätzlich den Frauen
helfen. Deshalb haben die beiden Koalitionsfraktionen zu
dieser Sondergeneralversammlung zwei Anträge vorgelegt und unsere Position bekräftigt. Wir bitten, diesen Anträgen zuzustimmen, da sie für die Konferenz fünf Jahre
nach Peking die deutsche Auffassung zur nationalen und
internationalen Politik für Frauen deutlich machen.
Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage: Warum
konnte trotz vieler Deklarationen und Konventionen immer noch nicht das Ziel, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ erreicht werden? Haben wir als Frauen uns in
der Vergangenheit zu sehr auf die papiernen Erklärungen
verlassen? Haben wir kulturelle, religiöse und politische
Interessen nicht ernst genug genommen, die all diesen
Wünschen und all dem Gebotenen entgegenstanden?
Die Forderung nach Schulbildung zum Beispiel wird
von allen begrüßt. Nur, was ist, wenn eine deutsche Nichtregierungsorganisation voll Engagement in Nord-Pakistan eine Schule für Mädchen baut und dann bei der Einweihung feststellen muss, dass die Väter ihren Töchtern
untersagt haben, dorthin zu gehen, weil der Imam es verboten hat? Gut Gemeintes verkehrt sich ins Gegenteil.
Konflikte bleiben nicht aus. Wie aber geht man damit um?
Frauen in einem afrikanischen Dorf verbessern durch
Eigeninitiative ihre wirtschaftliche Lage. Das eingenommene Geld beansprucht aber der Ehemann. Welche Lösung bietet sich an? Erstens: Das Geld wird abgegeben
und das Engagement schläft ein. Oder zweitens: Die
Frauen stehen den anstehenden Konflikt in der Familie
durch. In dem Dorf fordern die Frauen eine Schule für alle
Kinder. Der nächste Konflikt ist bereits vorprogrammiert.
Veränderungen können, müssen aber nicht immer zu Konflikten führen, wenn sich Gewohntes verändert und Neues
entwickelt. Für Frauen, die dann ihre soziale Sicherheit
bedroht sehen, ist dies eine mutige und oft schwierige
Entscheidung.
Haben wir in politischen Sphären geschwebt und hehre
Ziele formuliert, die nicht realistisch waren aufgrund
wirtschaftlicher und politischer Interessen? Sind wir in
Frauenprojekte in kleinen Dörfern ausgewichen, weil in
den Städten der Widerstand zu groß war? Haben wir die
Nachhaltigkeit unseres Tuns und Wollens in schönen Leitlinien versteckt?
Mischen wir uns ein! Helfen wir in einem Netzwerk,
um die Wortführer in Politik und Wirtschaft - von Wortführerinnen kann ja in den meisten Fällen nicht gesprochen werden - nicht aus der Verantwortung zu lassen.
Die Schuldenkrise und die Aushebelung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in der Globalisierung können uns nicht kalt lassen. Wir sind es, die darunter leiden.
Frauen des Nordens wie des Südens sind aufgerufen, sich
auf ihre eigenen Kräfte und ihr eigenes Können zu besinnen.
Natürlich sind Bildung, Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, Abkehr von Gewalt, Teilhabe am Reichtum wirtschaftlicher Ressourcen weiterhin Aufgaben der Zusammenarbeit. Denn immer noch sind 70 Prozent der 1,3 Milliarden Armen der Welt Frauen.
Die Aids-Infektionsrate bei Frauen und heranwachsenden Mädchen steigt und stellt bei weltweit insgesamt
33 Millionen HIV-Infizierten und täglich weiteren 16 000
Neuinfektionen gewaltige Anforderungen an die Gesundheitsfürsorge. 80 Prozent der Flüchtlinge vor Kriegen und Katastrophen sind Frauen und Kinder. Etwa
78 Prozent der Mädchen in Entwicklungsländern gehen
zur Schule; dennoch sind immer noch 60 Prozent aller
Analphabeten Frauen.
Nicht einmal ein Drittel der von Frauen geleisteten Arbeit wird bezahlt. Dabei leisten Frauen weltweit mehr als
die Hälfte aller Arbeitsstunden. Im informellen Sektor
stellen sie 60 bis 80 Prozent der Beschäftigten. Diese Arbeit ist rechtlich und sozial nicht gesichert, was Frauen in
der Doppelfunktion in Familie und Beruf besonders hart
trifft. Es gibt häufig keinen Kündigungsschutz, keine Zusicherung sozialer Mindeststandards, und gewerkschaftliche Organisation wird häufig behindert.
Jedes Jahr sterben weltweit mehr als eine halbe Million
Frauen an den Folgen fehlender oder mangelnder medizinischer Betreuung bei der Geburt. Frauen und Mädchen
sind sexuellem Missbrauch und physischer Misshandlung
ausgesetzt.
Dies muss, ja dies kann anders werden. Unser nationaler Bericht, den die zuständige Bundesministerin, Frau
Bergmann, vorgetragen hat, gibt uns Frauen in Deutschland ein positives Zeichen. Oft aber fehlt der politische
Wille in Ländern des Südens. So sei auf ein Versprechen
der damals für die Peking-Konferenz zuständigen Ministerin aufmerksam gemacht. 40 Millionen US-Dollar für
rechts- und sozialpolitische Beratung für fünf Jahre sind
inzwischen ausgegeben worden. Das Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und seine Ministerin
werden demnächst das Ergebnis vorstellen.
Die Konferenz von New York wird Bilanz ziehen. Wo
Defizite sind, wo das Wollen politisch Verantwortlicher
nicht vorankommt, wird man mit Nachdruck auf die gemachten Zusagen pochen müssen.
Frauen lassen sich nicht länger hinhalten. Frauen mischen sich ein. Diese Welt hat es verdient, dass sie ihre
Begabungen und ihr Können mit einbringen, nicht nur in
einem Kral in Afrika, sondern auch auf den Chefsesseln
der wichtigen, von Männern geschaffenen Institutionen
wie der Weltbank und des IWF. Vielleicht geht es dann ein
bisschen gerechter zu. Männer und Frauen sind gleichberechtigt - das ist das Credo von New York und das muss
das Credo sein und bleiben.
({2})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Annette Widmann-Mauz
für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin
Bergmann, ich stelle mir gerade vor, was in diesem Hause
bei der Opposition los gewesen wäre, wenn die Rede, die
Sie vorhin hier gehalten haben, unsere damalige Frauenministerin Claudia Nolte gehalten hätte.
({0})
Eine peinliche Aufführung!
({1})
Die Bundesregierung ist auf die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen, die in gut zwei Wochen stattfindet, fast nicht vorbereitet. Die Äußerungen
der Regierungsvertreterinnen in dieser Debatte waren das
beste Beispiel dafür.
({2})
Bis heute jedenfalls ist das Parlament so gut wie nicht informiert worden. Die zuständigen Ausschüsse konnten
sich inhaltlich praktisch nicht mit der Konferenz befassen.
Allenfalls wurde die Weltfrauenkonferenz in fünf Minuten unter dem TOP „Verschiedenes“ erwähnt.
Es ist weiterhin unklar, wer die Teilnehmerinnen der
Regierungsdelegation sind, es ist weiterhin unklar, welche NGOs auf deutscher Seite teilnehmen werden,
({3})
es ist weiterhin unklar, welche Journalistinnen zum Beispiel mitgenommen werden, und es ist, auch nach Ihrer
Rede, Frau Ministerin Bergmann, völlig unklar, was die
Bundesregierung in New York eigentlich will.
({4})
Zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking
vor fünf Jahren wurde eine Kommission eingesetzt, die
sage und schreibe zwei Jahre im Vorfeld gearbeitet hat,
und zwar zusammen mit dem Parlament, mit den Oppositionsparteien, mit den NGOs, mit den Journalistinnen, den
Kirchen, den Menschenrechtsgruppen usw. Ich wiederhole: zwei volle Jahre!
Die Rede, die Ministerin Claudia Nolte damals in Peking hielt, und ihr ganzes Verhandlungskonzept wurden
im Vorfeld im Deutschen Bundestag bis aufs Komma debattiert. Und was machen Sie? Ganze zwei Wochen vor
der Weltkonferenz schmeißen Sie dem Parlament eine
schlampige Beschlussempfehlung hin. Das ist eine Missachtung des Parlaments,
({5})
nicht nur des Parlaments, sondern auch der NGOs und der
Frauen in unserem Land.
So stellen wir uns eine seriöse Vorbereitung nicht vor.
({6})
Hier ist die große Chance, eine breit angelegte gesellschaftliche Frauendebatte zu führen, vertan worden. Denn
Sie wollen diese Debatte im Grunde genommen nicht.
Im Alltag von Arbeit und Familie geht es den Frauen
unter Rot-Grün keinen Deut besser als vorher.
({7})
Frau Hanewinckel, zu diesem Ergebnis komme nicht nur
ich, sondern auch der Zusammenschluss der frauen- und
entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen,
unter ihnen zum Beispiel die Welthungerhilfe, der
Journalistinnenbund bzw. Terre des Femmes. Diese Organisationen legten nämlich - das wurde schon angesprochen - Anfang dieses Jahres, finanziert von der HeinrichBöll-Stiftung, einen Bericht vor. Dieser ist ein kritischer
Kommentar der Antworten der Bundesregierung auf den
UN-Fragebogen. Rot-Grün sieht die Lage der Frauen in
Deutschland undifferenziert positiv. Sie sieht sie nicht
lila, sondern leider rosarot.
Sie rühmen Projekte und Maßnahmen, die wir auf den
Weg gebracht haben. Denn seit eineinhalb Jahren kommt
aus Ihrem Hause außer Ankündigungen nichts Substanzielles.
({8})
Wenn es je einen, wie Sie sonst immer betonen, Paradigmenwechsel gegeben haben sollte, dann nur den, der aus
Ihrer Tatenlosigkeit besteht.
({9})
In der Wirtschaft jedenfalls lässt sich eine positive
Entwicklung nicht mehr feststellen. In den technischen
und in den naturwissenschaftlichen Berufen sowie im ITBereich haben Frauen zwar gute Perspektiven, aber keine
echten Chancen. Bei den jungen Frauen sinken die Erwerbsquoten. In den neuen Bundesländern ist die Erwerbstätigkeit von Frauen von 90 auf 55 Prozent zurückgegangen. Dieses Gefälle wird von der Bundesregierung
gegenüber der UN mit keinem Wort erwähnt.
Zwar scheut die Bundesregierung das Stichwort „neue
Armut“ nicht. Aber angesichts der wachsenden Zahl von
benachteiligten Frauen lapidar zu sagen - ich zitiere -:
„Eine Beseitigung von ... Benachteiligungen, von denen
Frauen betroffen sind, verläuft auch in Deutschland nicht
immer reibungslos“, ist entweder hilflos oder zynisch.
({10})
Es sind zunehmend mehr Kinder und ihre Mütter, die
relativ mittellos leben müssen. Fast 30 Prozent aller allein
erziehenden Frauen sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Diese Probleme werden in der Antwort der Bundesregierung völlig ausgeklammert, ebenso das Thema Frauen im
Alter. Viele Frauen haben kaum eigene Rentenansprüche
ansammeln können. Rund 2 Millionen Frauen sind ausschließlich auf eine Witwenrente angewiesen und die ist
in der Regel entsprechend niedrig.
Insgesamt erweckt die positive Selbstdarstellung der
Bundesregierung den Eindruck, als würden die in Peking
beschlossenen Strategien zur Überwindung der Benachteiligung von Frauen überwiegend als Problem der anderen Länder betrachtet. Dies kam mir auch bei den zuvor
gehaltenen Reden so vor. So aber geht es nicht!
({11})
Frau Ministerin, Sie haben die „Dialogforen zur
Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ angeführt, die gegenwärtig durchgeführt werden und die von den Arbeitgeberverbänden als dialogfreie
Zone bezeichnet werden. Dies sind reine Alibiveranstaltungen; sie zeigen keine Substanz.
({12})
In den Kanzlerrunden des Bündnisses für Arbeit wurden die Frauen und ihre Belange von Anfang an außen vor
gelassen.
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme
sofort zum Schluss. - Wo sind denn heute Abend Ihre Kollegen? Von Gender Mainstreaming, liebe Frau Bergmann,
sollten Sie an dieser Stelle nicht sprechen, ganz zu
schweigen von den Plänen Walter Riesters zu einer Rentenreform.
Eine nachhaltige Politik in den Schwerpunktbereichen
wie zum Beispiel der Rente, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen setzt voraus
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, ich muss Sie noch einmal erinnern: Sie
sind weit über Ihre Redezeit.
- ich bin
beim letzten Satz -, dass wir die Probleme klar beim Namen nennen und dass wir uns darin einig sind, die politischen Herausforderungen nicht zulasten der Frauen zu lösen, und zwar weder in Deutschland noch sonst wo auf der
Welt.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zu der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Überprüfung der Beschlüsse der Pekinger
Weltfrauenkonferenz auf Drucksache 14/3386. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 4. Wir kommen zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu der Sondergeneralversammlung der
Vereinten Nationen zur nationalen Umsetzung der Beschlüsse der Pekinger Weltfrauenkonferenz auf Drucksache 14/3385. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({0}), Rudolf Seiters, Dirk Fischer
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausbau und Modernisierung der TransrapidVersuchsanlage Emsland und Fortsetzung der
Planfeststellungsverfahren für die Magnetschwebebahn-Referenzstrecke Hamburg-Berlin
- Drucksache 14/3183 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für die
Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen Wolfgang Börnsen
das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Verehrte Kollegen! In wenigen Tagen eröffnet die EXPO
2000 in Hannover ihre Tore.
({0})
Dort präsentieren wir uns als modernes Zukunftsland. Die
Transrapid-Versuchsanlage im Emsland gehört dazu.
In dieser faszinierenden Verkehrstechnologie liegt
Deutschland an der Spitze der Entwicklung - noch. Experten schätzen den Abstand zum härtesten Konkurrenten
aus Japan auf gerade einmal 20 Monate. Dort wird jetzt
der Schwerpunkt auf die Anwendung der Technik gelegt,
die Vorführzeit ist beendet.
({1})
Bei uns ist nicht nur die Referenzstrecke gestrichen.
Nein, bei uns ist sogar die Phase der technischen Demonstration in Gefahr, gekippt zu werden. Die Versuchsanlage
im Emsland ist mittelfristig nur noch für den Abriss vorgesehen. Es gibt kein Bekenntnis der Bundesregierung
zur Zukunft der Demonstrationsstrecke, keine Aussage
für die Gewährleistung eines Transrapid-Technologie-Sicherungsprogrammes, auch keine tatsächliche Perspektive für eine Referenzstrecke.
({2})
Das Einzige, was die Bundesregierung in der Verkehrstechnologiepolitik geschaffen hat, ist ein Scherbenhaufen.
({3})
Es wird eine Politik der potemkinschen Dörfer praktiziert: Während der EXPO-Monate, wenn Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland einen Abstecher
zur Emsland-Teststrecke unternehmen, soll der Eindruck
bleiben, dass der Transrapid in Deutschland Zukunft hat.
Die Fassade ist glänzend, doch dahinter verbirgt sich der
Trümmerhaufen einer Transrapid-Politik.
({4})
In Bonn wurde noch versprochen: Wir bauen die Magnetschwebebahn. In Berlin hieß es bis zum Februar, der
Bundeskanzler stehe mit seinem Wort für dieses Zukunftsprojekt. In China hat er sogar Vorverträge unterschrieben.
Doch dann kam das Aus. Die Anwendungsstrecke Hamburg-Berlin wurde nach sechs Jahren Planung ausgesetzt
und mit 350 Millionen DM Vorlaufkosten in den Sand gesetzt - eine fatale Entscheidung.
({5})
Die neuen Haushaltsmittel beim Bundesfinanzministerium für die Versuchsanlage im Emsland wurden unter
dem Stichwort „zu erfüllende Rückbauverpflichtungen“
eingestellt. Die Versuchsanlage ist der einzige funktionierende Nachweis, die einzige Anschauungsmöglichkeit für
Interessenten aus aller Welt, ein einzigartiges Forschungsprojekt. Dies soll jetzt leichtfertig zu Fall gebracht werden. Das ist unvertretbar.
({6})
Schon beginnt die Abwanderung erster Know-howTräger. Schon beginnt der Patentbesitzer nach eigenen
Aussagen mit Verkaufsgesprächen mit dem Ausland.
Schon kommen landauf, landab zunehmend Zweifel auf,
ob die derzeit stattfindende Untersuchung der fünf Alternativstrecken nicht nur eine Alibimaßnahme ist.
Eines jedoch ist sicher: Gleichgültig, um welche
Strecke es geht, ob um eine Strecke in NRW, in Frankfurt
oder Berlin, bei dem deutschen Planungsrecht und unserem Protestpotenzial ist eine Umsetzung in zehn Jahren
völlig unrealistisch. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es
zu einer gefährlichen Entwicklungslücke für die Transrapid-Technologie kommen.
({7})
Da man eine Technik nicht einfrieren kann, wäre der
Ausbau der Emslandbahn ein kurzfristiger Ausweg. Besser eine kleine Lösung als keine Lösung! Auch die Sandkastenspiele im Wahlkampf in NRW mit einem 12,4 Milliarden DM teuren Metrorapid ändern gar nichts an dieser
Einschätzung.
Bemerkenswert ist die Haltung der Grünen zum RheinRuhr-Transrapid: Als sich die F.D.P. erfreulicherweise
eindeutig dazu bekannte, wurde die Magnetbahn plötzlich
auch für die Bündnisgrünen repräsentabel. Flugs veröffentlichte man sogar Vorstellungen über einen Metroring.
({8})
So viel Flexibilität erweckt die Hoffnung, dass der Zug
für die Paradereferenzstrecke Hamburg-Berlin doch
noch nicht abgefahren ist: Keine Verbindung in Deutschland ist als Verkaufspräsentation besser geeignet als die
zwischen den beiden größten Metropolen Deutschlands.
Über 90 Prozent der Strecke wurden bereits planfestgestellt. Mit dem Bau hätte im Herbst begonnen werden
können. Der Preis betrug 6,1 Milliarden DM und nicht
wie in NRW 12,4 Milliarden DM. Die Signale stehen also
noch immer auf Grün. Zwei Konsortien privater Investoren aus der Schweiz und aus den USA haben ernsthaftes
Interesse am Bau dieser Strecke. Für sie ist die Strecke
Hamburg-Berlin das Herzstück für ein europäisch ausgerichtetes Transrapid-Netz: nach Westen mit Groningen
und Amsterdam, nach Osten mit Warschau und Prag, nach
Norden mit Kopenhagen und Malmö.
({9})
Auch Bahnchef Mehdorn hat sich jüngst bei einem Podiumsgespräch in der Hansestadt positiv zu einer privaten
Baulösung geäußert, wenn die Bahn den Betrieb übernimmt. Voraussetzung für diese Lösung ist, dass die Bundesregierung diese Strecke in ihre Alternativen wieder
einbezieht, die auf Eis gelegten Fördermittel bereithält
und bei den Betreibermodellen offen für andere Lösungen
bleibt.
Was jetzt notwendig ist, ist eine Allianz aller Verantwortlichen für die Zukunft der Transrapid-Technologie
bei uns in Deutschland.
({10})
Wolfgang Börnsen ({11})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Nicht
nur die Vorgänge in NRW haben gezeigt, dass eine Revitalisierung des Projektes realistisch ist. Schleswig-Holstein erwägt die Rücknahme seines Einspruches; Hamburg ist offensiv; Berlin, Hessen und Brandenburg sind
bei ihrem Ja geblieben. Würde man dieser Linie folgen,
dann wären 2,35 Milliarden DM an Steuergeldern und
470 Millionen DM an Geldern der Industrie - insgesamt
also 2,82 Milliarden DM, die in den vergangenen 30 Jahren für die Magnetschwebetechnik eingesetzt wurden verantwortlich verwendet.
Noch gilt das Bedarfsgesetz. Noch sind alle Pläne vorhanden.
Herr Kollege
Börnsen, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich
komme zum Schluss. - Noch gibt es Ankaufinteressenten
von China bis in die USA. Es gilt also, keine zehn Jahre
zu warten, sondern die Chancen jetzt zu nutzen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Kurt Bodewig.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen
Abgeordnete! Der Antrag der Union hat auch etwas
Gutes: Er bietet Anlass, dem Parlament und auch der Öffentlichkeit den Sachstand zu präsentieren. Das will ich
nun gerne tun, zumal der Minister am 20. Januar den damaligen Sachstand dargestellt hat. So bleiben wir hier auf
dem Laufenden. Das finde ich gut.
Ich freue mich über die engagierte Rede des Kollegen
Börnsen; ich fand seinen Vortrag ausgezeichnet. Herr
Kollege Börnsen, ich will Ihnen die Scherben systematisch zusammensetzen.
Sie alle kennen das Ergebnis des Spitzengesprächs
zwischen Vertretern von Bund, Bahn und Industrie am
5. Februar in Frankfurt. Es war wichtig, eine gemeinsame
Entscheidung über die Strecke Hamburg-Berlin zu treffen. Die Partner Bund, Deutsche Bahn AG und Industriekonsortium haben gemeinsam festgestellt - dieses „gemeinsam“ sollte Ihnen bewusst werden -, dass der Bau
der Strecke für den Transrapid zwischen Berlin und Hamburg nicht realisiert wird. Sie sind zu dem gemeinsamen
Beschluss gekommen, dass weder auf der Basis des Eckpunktepapiers eine Realisierung möglich ist noch auf der
Grundlage der danach erfolgten Prüfung alternativer
Szenarien. Ich erinnere an dieser Stelle an den Vorschlag
des Herrn Kollegen Müntefering, der öffentlich breit diskutiert worden ist und mit Sicherheit auch hier Beachtung
fand.
Das Ergebnis von Frankfurt war die zwingende Folge
der Überprüfung der wesentlichen Projektdaten, und zwar
anhand des Eckpunktepapiers vom April 1997, das Ihnen
bekannt ist. Die Planfeststellungsverfahren wurden daraufhin - ich denke das ist folgerichtig - vom EisenbahnBundesamt - ich möchte das gerne herausstellen - auf Antrag der Deutschen Bahn AG als Trägerin des Projekts
eingestellt. Nach der Lektüre Ihres Antrages würde ich Ihnen gerne sagen: Eine nicht mehr weiter verfolgte Planung, werte Kollegen von der Union, kann nicht Gegenstand eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens sein.
({0})
- Das will ich auch gar nicht; unterschiedliche Auffassungen gehören zu einer parlamentarischen Debatte.
({1})
- Ich stimme zu, Herr Fischer, Sie sind der Kontrast.
({2})
Die von einem Planfeststellungsverfahren Betroffenen
haben ein Recht auf klare Verhältnisse. Wer zum Beispiel
Grundstücke in das Planfeststellungsverfahren eingebracht hat, muss auch wissen, wie es weitergeht. Es muss
eine Rückübertragung erfolgen. Trotz der Entscheidung,
die Magnetschnellbahn in der Verbindung Berlin-Hamburg nicht zu realisieren, besteht Einigkeit darüber, dass
die Magnetschwebebahntechnologie für den Industriestandort Deutschland von so herausragender Bedeutung
ist, dass sie auch in Deutschland zur Anwendung kommen
sollte. Ich will das später noch näher beschreiben.
Am 5. Februar wurde vom Bund, der Deutschen
Bahn AG und dem am Projekt „Magnetschnellbahn Berlin-Hamburg“ beteiligten Industriekonsortium eine entsprechende Grundsatzvereinbarung unterzeichnet, die die
Zukunftstechnik Magnetschwebebahn durch ein Programm sichern soll. Das Programm enthält im Wesentlichen drei Elemente: erstens den Bau einer alternativen
Anwendungsstrecke in Deutschland - wir haben dabei
eine Reihe von Reaktionen erhalten -, zweitens den Ausbau der Transrapid-Versuchsanlage Emsland - ich denke,
der von Ihnen vorgeschlagene zweistufige Ausbau der
Transrapid-Versuchsanlage Emsland macht deutlich, dass
wir hier ein Planfeststellungsverfahren von mindestens
zwei Jahren benötigen; Sie sind insofern in Ihrer eigenen
Argumentation etwas inkonsequent - und drittens die
Weiterentwicklung der Magnetschwebebahntechnik.
Dies ist sowohl in Form der bisherigen Fernverkehrskonzeption als auch hinsichtlich der Nutzung als schnelles
Regionalverkehrssystem spannend. Beides ist wichtig.
({3})
Wir haben hier zusätzliche Optionen. Das ist positiv.
Wolfgang Börnsen ({4})
Ich würde Ihnen gerne die Strategie des Bundes anhand
der erwähnten drei Punkte kurz vorstellen: erstens Bau einer Anwendungsstrecke. Die Auswahl und die Untersuchung geeigneter Alternativstrecken erfolgen gemäß der
mit den Ministerpräsidenten der Länder abgestimmten
Verfahren. Diese haben sich sehr rege an der Diskussion
beteiligt. Gemeldet wurden fünf Projektvorschläge. Das
Land Bayern schlägt die Flughafenverbindung MünchenHauptbahnhof-Flughafen-München vor, Berlin und
Brandenburg die Verbindung zwischen dem Lehrter
Bahnhof und dem geplanten Flughafen Berlin Brandenburg International, Hessen und Rheinland-Pfalz die Verbindung zwischen den Flughäfen Frankfurt/Main und
Hahn/Hunsrück, die Länder Niedersachsen, Bremen und
Hamburg regen die Fortführung dieser Strecke über Leer
und Groningen nach Amsterdam an und Nordrhein-Westfalen schlägt schließlich den Metrorapid in den
unterschiedlichen Achsen - Ruhrachse, Rheinachse und
Bergische Achse - vor.
Was Sie daraus erkennen können, ist, dass das Projekt
Transrapid nicht der Vergangenheit angehört, sondern
hier eine Vielzahl von Vorschlägen auf dem Tisch liegt.
Das ist auch im Sinne Ihres eigenen Beitrages positiv und
das sollten Sie würdigen.
Die Arbeiten werden von einem Projektbeirat begleitet,
an dem wiederum - das ist wichtig - alle beteiligt sind:
das Bundesministerium, das Eisenbahn-Bundesamt, die
verschiedenen Bundesländer sowie die DB AG. Wir können nur gemeinsam ein zukunftsfähiges Konzept entwickeln. Eine Entscheidung soll nach einer Vorstudie
über eine vertieft zu untersuchende Strecke spätestens Anfang 2002 abschließend gefunden werden.
Ich komme zum zweiten Punkt, zur Transrapid-Versuchsanlage Emsland.
({5})
- Haben wir noch mehr Angebote? Ich nehme das alles
gerne auf. Mit fünf Vorschlägen sind wir hier gut im Rennen.
({6})
- An den Finanzierungsvorschlägen erfreue ich mich auch
immer.
Die Frage war doch immer: Was geschieht mit dieser
Transrapid-Versuchsanlage? Das von Ihnen vorgetragene
Horrorszenario stimmt so nicht, da auch in der Grundsatzvereinbarung ausdrücklich festgehalten ist, dass wir
dieses Projekt weiterführen, und zwar zunächst bis Ende
Oktober 2000. Damit ist auch die Durchführung des dezentralen EXPO-Projekts sichergestellt, Herr Kollege
Börnsen. Ich halte das auch hinsichtlich unseres Erscheinungsbildes gegenüber der Welt für wichtig.
Minister Klimmt hat sich diesbezüglich mit dem Bundesminister der Finanzen, den wir heute wieder einmal als
sehr sparsamen und konsolidierungsorientierten Minister
kennen gelernt haben, darauf verständigt, dass sich der
Bund mit 50 Prozent beteiligt. Ich denke, das ist etwas,
was Sie würdigen sollten.
({7})
Wir werden den Weiterbetrieb der Transrapid-Versuchsanlage in den nächsten Jahren fortsetzen. Aber dazu
gehört natürlich die Beantwortung der Frage: Wie wird
das finanziert, und zwar von allen Beteiligten? Es kann
nicht eine Angelegenheit allein des Bundes sein, sondern
alle, die ein Interesse haben, sollten sich zusammensetzen.
Eines will ich ausdrücklich sagen: Wir wollen die weitere Nutzung auch davon abhängig machen, ob die erforderlichen Leistungen zur Weiterentwicklung vorhanden
sind. Dabei sollten wir prüfen, welche Aufgaben auf einen
beschleunigt bereitzustellenden ersten Abschnitt einer
Referenzstrecke - also dort, wo er später eingesetzt wird verlagert werden können. Ich halte es für ein sinnvolles
Vorgehen, dass wir dies einbeziehen.
Hinzu kommt, dass wir bei der im Oktober 2000 vorgesehenen ersten Auswahl mehrerer Anwendungsstrecken noch einmal den verkehrlichen und technologischen Anforderungen gerecht werden und diese in die vertiefte Machbarkeitsstudie einbeziehen. Das heißt, auch
die Versuchsanlage trägt zu der Entscheidung bei, welche
Referenzstrecke wir auswählen werden. Dann können wir
einen Teil der Versuchsanlage kostengünstig und sinnvoll
einbeziehen.
Herr Staatssekretär, ich glaube, ich sollte Sie darauf hinweisen, dass Sie
sich schon in der Redezeit Ihres Kollegen befinden. Ich
weiß, dass ich die Regierung nicht unterbrechen darf, aber
ich wollte in aller Höflichkeit darauf hinweisen.
Frau Präsidentin, ich nehme diesen Hinweis gern auf. Gestatten Sie
mir, noch einen letzten Punkt anzusprechen. Ich bitte den
Kollegen, Nachsicht zu üben, wenn das etwas in seine Redezeit hineinreichen sollte.
Ich will noch einmal deutlich machen: Die weitere Entwicklung der Magnetschwebebahntechnik verfolgen wir
als Bund intensiv. Dies erfordert neben einer wirklich
gründlichen Bestandsaufnahme Verhandlungen zur
Schaffung der haushaltsrechtlichen Voraussetzungen. Ich
weiß nicht, ob Haushälter im Saal sind; sie hören das nicht
so gerne, aber wir müssen das vorher klären. Dieses Vorgehen soll auch im Interesse aller an der Zukunftssicherung der Magnetschwebebahntechnik Beteiligten eine
qualitativ hochwertige und rechtlich einwandfreie Basis
der weiteren Aktivitäten ermöglichen.
Darüber hinaus wird derzeit in Kooperation mit den beteiligten Systemfirmen die Konzeption eines kurzfristig
umzusetzenden Arbeitsprogramms für die Weiterführung - Stichwort Kassel - entwickelt. Das heißt, wir wollen das Know-how, das in Deutschland besteht, für die
Magnetschwebebahntechnik sichern und deren Realisierung als Schnellbahnsystem im öffentlichen Verkehr gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen, Kollege
Börnsen, und allen Antragstellern sagen: Das Aus für den
Transrapid auf der Stecke Hamburg-Berlin bedeutet kein
Aus für den Transrapid.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann.
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben schon einige Male über die Anwendungsstrecke
des Transrapid und über den Transrapid ganz generell geredet. Ich will es jetzt mit aller Vorsicht sagen: Ich habe
den Eindruck, dass Sie, Herr Staatssekretär, die Gesamtproblematik nicht ganz erfasst haben.
({0})
Ich will das wirklich mit aller Vorsicht sagen: Ich weiß
nicht, mit welchem Gesichtsausdruck Sie sonst sprechen,
aber wenn Sie einmal nach Lathen fahren, werden Sie
feststellen, dass dort mittlerweile mehr als ein Dutzend
hoch qualifizierter Ingenieure ausgestiegen sind, weil sie
der Politik der Bundesregierung nicht mehr vertrauen und
weil sie wissen, dass auch die Wirtschaft der Politik der
Bundesregierung nicht mehr vertraut. Denn die Wirtschaft sagt: Wir haben 280 Millionen DM hineingesteckt.
Die Firmen vor Ort, die sich mit mittelständischen Betrieben zusammengetan haben, um ein besonders kostengünstiges Angebot für die Erstellung der Strecke zu machen, wissen gar nicht mehr, ob sie sich in eine solche
Technologie begeben sollten, weil man überhaupt nicht
weiß, ob demnächst nicht wieder ganz kurz vor dem Erfolg eine politische Entscheidung gefällt wird, die - wie
jetzt - der DB AG in die Schuhe geschoben wird.
Es ist aber eine politische Entscheidung, eine Entscheidung der Regierung, wie sie mit einer Zukunftstechnologie umgeht.
({1})
In der Situation, in der sich die Bahn befindet, ist es für
die Bahn schwierig gewesen, sich für die Strecke Hamburg-Berlin zu entscheiden. Aber es wäre an Ihnen gewesen, helfend einzugreifen, um - kurz vor dem Erfolg - den
Bau der Anwendungsstrecke auf den Weg zu bringen. Das
wäre ein Signal in Richtung dieser Zukunftstechnologie
gewesen.
({2})
Herr Staatssekretär, vor Ort werden keine Horrorszenarien entwickelt, sondern das Verhalten der Menschen ist
von einer sehr tiefen Sorge um die Zukunft dieser Technologie und ganz konkret um ihren Arbeitsplatz geprägt.
Dazu, dass Sie vorhin in Bezug auf den Kollegen
Börnsen gesagt haben, wir hätten Scherben produziert,
kann ich nur sagen: Scherbenverursacher in dieser Frage
waren eindeutig die Bundesregierung
({3})
und auch Herr Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen, der
alle Anstrengungen unternommen hat, den Transrapid zu
beerdigen.
({4})
Frau Mertens, auch Sie haben dabei tüchtig mitgeholfen.
({5})
Sie haben sich in dieser Frage von den Grünen durch die
Arena ziehen lassen.
({6})
- Na klar!
Als den Grünen in NRW auf einmal das Wasser bis zum
Halse stand, waren sie plötzlich bereit, die Anwendungsstrecke in NRW zu akzeptieren. Sie haben vorher vonseiten der Sozialdemokraten keinerlei Anstrengung in Richtung einer Anwendung der Transrapid-Technologie unternommen.
({7})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun seien Sie einmal
ganz ruhig. Lassen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen, was der Herr Staatssekretär vorher gesagt hat:
({8})
Die Anwendung in Lahten ist bis Oktober dieses Jahres
gesichert.
({9})
- Vorerst. - Jeder, der planerisch überhaupt nur ein bisschen weiterdenkt, weiß, dass in fünf, sechs oder acht Jahren eventuell wieder eine Entscheidung für eine neue Anwendungsstrecke getroffen werden muss.
({10})
Können Sie mir einmal sagen, welche Aussagen der
Staatssekretär dazu gemacht hat, wie die Zeitspanne von
jetzt bis in acht Jahren überbrückt werden soll?
({11})
Können Sie mir anhand irgendeiner Aussage deutlich machen, wo Sie Weichen für das gestellt haben, was Sie zum
Schluss behaupten: Die Anwendungsstrecke HamburgBerlin wird nicht kommen, aber es wird eine andere Anwendungsstrecke in Deutschland geben? Können Sie mir
ein einziges Argument nennen, mit dem Sie dies hier vorParl. Staatssekretär Kurt Bodewig
hin untermauert haben? Ich habe aus den Ausführungen,
die hier gemacht worden sind, den sehr nachhaltigen Eindruck gewonnen: Sie wollen jetzt die EXPO-Präsentationsphase irgendwie überstehen und danach werden Sie einen Schlussstrich ziehen.
({12})
Herr Kollege,
denken auch Sie bitte an die Redezeit.
- Ich bin sofort
fertig, Frau Präsidentin. Frau Mertens, wenn wir beide genau das Gegenteil von
dem erleben, was ich eben behauptet habe, bin ich sehr
gern bereit, Sie nach Lathen einzuladen.
({0})
Dort gibt es ein schönes Lokal, den „Pingelanton“. Vorher
fahren wir dann Transrapid und hinterher sage ich: Ich
habe mich geirrt. Aber, liebe Frau Mertens, Sie müssen
einfach zugeben: Im Moment wollen Sie den Transrapid
nicht.
({1})
Sie tun nichts für den Transrapid. Sie stellen keine Weichen. Sie gefährden diese Zukunftstechnologie in
Deutschland. Das ist eigentlich ein Kapitalverbrechen an
der Zukunftstechnologie in Deutschland.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlich willkommen zu unserer monatlichen Transrapid-Debatte.
({0})
Ich freue mich, dass Sie eine gute Tradition der Grünen
fortsetzen, nämlich durch immer neue Anträge dafür zu
sorgen, dass das Thema ja nicht in Vergessenheit gerät.
({1})
Der vorliegende Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat zwei Bestandteile. Zum einen geht es um die Aufforderung, das Planfeststellungsverfahren erfolgreich abzuschließen. Zum anderen geht es um die Aufforderung,
für die Versuchsstrecke im Emsland zu sorgen.
Zu dem ersten Teil ist Folgendes zu sagen: Es war die
Deutsche Bahn AG, die sich bekanntermaßen für einen raschen Ausbau der Schienenverbindung zwischen Hamburg und Berlin entschieden hat und die der Auffassung
war und ist, dass das dort eingesetzte Investitionsvolumen
schneller und kostengünstiger zu dem Effekt, nämlich einer erheblichen Fahrtzeitverkürzung in der Größenordnung von eineinhalb Stunden, führen würde.
({2})
Das hat uns als Grüne sehr gefreut, weil damit die Bahn
das gesagt hat, was wir schon einige Jahre vorher immer
gesagt hatten. Diese Freude will ich gar nicht verheimlichen.
({3})
Eines muss an dieser Stelle jedoch hinzugefügt werden:
Wir werden diesen Ausbau der Schienenverbindung vorantreiben, und zwar mit zusätzlichen Finanzmitteln, die
on top auf den Schienenbauetat draufgesetzt werden.
({4})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Sie scheinen immer
noch die Vorstellung zu haben, der Verkehrsminister sei so
eine Art Staatskommissar, der dem Bundesunternehmen
vorschreibt und verordnet, was es zu tun und wie es seine
unternehmerischen Schwerpunkte zu setzen hat. Das ist
eine merkwürdige, sozialistische Vorstellung, Herr
Goldmann, und hat mit Marktwirtschaft und einer privaten Aktiengesellschaft überhaupt nichts zu tun.
({5})
Deswegen bin ich sehr froh, dass wir dieses Modell der
Weisung des Bundesministers für die Bahn, für das Bundesunternehmen nicht haben.
({6})
Das Planfeststellungsverfahren ist, wie Sie wissen,
am 28. Februar 2000 auf Antrag des Antragstellers, der
Deutschen Bahn AG, eingestellt worden.
({7})
Insoweit ist Ihr Antrag in diesem Punkt überholt.
({8})
- In diesem Punkt ist der Antrag überholt, Herr Fischer;
das müssen Sie doch zugeben. Wir können doch hier im
Bundestag nicht beschließen, was Unternehmen, zum
Beispiel Daimler-Chrysler oder VW Wolfsburg oder die
Deutsche Bahn AG oder wer auch immer, morgen an
Investitionsentscheidungen beantragen. Das wäre ja geradezu absurd.
({9})
- Herr Kollege, Marktwirtschaft funktioniert anders.
({10})
Aber zur Versuchsstrecke: Die Projektbeteiligten haben in ihrer Grundsatzvereinbarung vom Frühjahr dieses
Jahres auch festgehalten, dass die Zukunftstechnik Magnetschwebebahntechnik mit folgenden Elementen weiterbetrieben werden soll.
({11})
- Das haben sie nicht entschieden. Jetzt hören Sie doch
erst einmal, was die Projektbeteiligten, die Verantwortlichen entschieden haben. Sie haben gesagt:
Erstens. Eine Anwendungsstrecke wird in Deutschland
gesucht.
Zweitens. Die Versuchsanlage Transrapid Emsland
wird weiter gesichert und weiterbetrieben.
({12})
Drittens. Die Technik soll sowohl in Richtung auf ein
Fernverkehrssystem als auch als mögliches Nahverkehrsoder Regionalverkehrssystem weiter erforscht werden. Dagegen habe ich doch nichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem, was unsere
Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen gesagt haben, kann
ich nur zustimmen. Ich war bei der Pressekonferenz dabei. Wir können uns doch nicht im Ernst darüber streiten,
ob das Fahrzeug 10 Millimeter über der Schiene oder auf
der Schiene fährt. Das kann doch nicht unser Thema sein.
Das Thema muss sein, welchen Zweck wir mit einer
bestimmten Technik verfolgen. Die zweite Frage richtet
sich darauf, ob und zu welchen Kosten diese Technik den
Zweck erfüllt. Das ist die entscheidende Frage.
Sie machen aber aus dieser Frage eine gleichsam religiöse Frage, eine konfessionelle Frage. Ich sage Ihnen:
Ob man diese oder jene Technik einsetzt, ist keine Frage
der Konfession, sondern eine Frage rationaler und
wirtschaftlicher Überlegungen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Frau Präsidentin, ich bitte um Verständnis,
dass ich angesichts der bisherigen Debatten, die wir hier
hatten, nicht alle Argumente verbrauchen will, die wir in
einem Monat bei der nächsten Debatte wieder vortragen
müssen.
({0}))
Ich komme zum Abschluss. Der Schienenverkehr und
auch die Bahn brauchen alles Mögliche. Sie brauchen einen technologischen Innovationsschub, sie brauchen Planungs- und Investitionssicherheit und sie brauchen Investitionen auf hohem Niveau, aber Sie brauchen keine
Glaubenskriege und Schlachten aus der Vergangenheit,
die jeden Monat neu aufgewärmt werden.
({1})
Überlassen Sie die Überlegungen den an diesem Projekt
Beteiligten.
Ich sage eines ganz zum Schluss auch noch. Diese
Technologie wird keine Zukunft haben, wenn nicht auch
die Industrie bereit ist, ihren Anteil am Risiko zu übernehmen. Das war das eigentliche Problem.
({2})
Diese mangelnde Risikobereitschaft sollten wir nicht dem
Steuerzahler zumuten. Wenn die Industrie von den Erfolgschancen dieses technischen Konzeptes überzeugt ist,
dann soll die Industrie auch ein Stück Risiko schultern
und nicht bei jeder Gelegenheit nach dem Bund und nach
dem Steuerzahler rufen.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube
auch, dass die erneute Debatte um den Transrapid einige
gespenstische Züge hat.
({0})
Wenn die CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Börnsen
und andere, die Bundesregierung jetzt beschuldigen, mit
der Entscheidung gegen den Bau der Strecke Hamburg-Berlin den Zukunftsweg zu verlassen, dann ist dagegen zu sagen: Die CDU/CSU hatte 16 Jahre Zeit, diesen Zukunftsweg zu realisieren.
({1})
Wenn Sie es nicht tat, Kollege Goldmann, dann lag das
natürlich auch am Widerstand vor Ort. Es lag aber auch an
Widerständen und Widersprüchen, die es bei dieser
Technologie gibt. Es lag auch daran, dass die finanziellen
Risiken immer größer wurden. Es lag daran, dass verschiedene wichtige Aspekte zur Erprobung der Technik
noch nicht einmal im praktischen Versuch geklärt waren,
womit wir mitten im Emsland, in Lathen, wären.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt jetzt vor, die Transrapid-Versuchsanlage im Emsland zu modernisieren.
Das wird präzisiert. Es soll ein zweigleisiger Ausbau der
Versuchsanlage und der Bau eines Transrapid-Bahnhofs
erfolgen. Beides sei erforderlich, so die CDU, um - Zitat Albert Schmidt ({2})
... so praxisgerecht wie möglich sowohl den
Gegenverkehr als auch den Halt des Transrapids zu
demonstrieren.
Hier könnte das Deutsch noch nachgebessert werden. Gemeint ist nicht der Gegenverkehr, sondern der Begegnungsverkehr. Ein Transrapid-Bahnhof dient auch weniger der Demonstration des Halts der Magnetbahn - den
gab es ja oft auch auf freier Strecke. Er könnte aber dazu
dienen, die Fahrgast- oder Behindertenfreundlichkeit
oder die Integrationsmöglichkeit dieses Verkehrsmittels
in städtischen Zentren oder auch das Gegenteil zu demonstrieren.
Aber gerade diese neuen Präzisierungen muten seltsam
an. Eines der Argumente gegen den sofortigen Bau der
Strecke Hamburg-Berlin lautete, bei dieser Technik sei
der Begegnungsverkehr noch nirgendwo in der Praxis
getestet worden. Dagegen argumentierten damals Sie von
der CDU/CSU und der F.D.P., Herr Krause und Herr
Wissmann, die Tests per Simulationscomputer seien absolut ausreichend. Verkehrsinitiativen, zum Beispiel hier
in Berlin, haben damals dargelegt, dass ein TransrapidBahnhof schwerlich kompatibel mit einem Bahnhof des
traditionellen Rad-Schiene-Systems gestaltet werden
könnte, schon gar nicht im Bereich des zentralen Lehrter
Bahnhofs. Auch damals wurden die Argumente weggefegt. Alles sei durch Simulation getestet.
Im Grunde will die CDU jetzt in der Opposition das
nachholen, was sie als Regierungspartei 16 Jahre lang versäumt hat, nämlich den praktischen Beweis für die Tauglichkeit und die Sinnhaftigkeit dieses Verkehrsmittels zu
liefern. Allerdings bleibt auch hier die Frage: Weshalb
sollen den bisherigen 2,5 Milliarden DM Transrapid-Subventionen weitere Hunderte Millionen Mark hinzugefügt
werden? Wenn es sich tatsächlich um eine Technik der
Zukunft handelt, dann könnte die Transrapid-Industrie
doch wenigstens jetzt die Mittel zur Modernisierung aufbringen. Der Antrag ist also auch in diesem praktischen
Teilen abzulehnen, aber vor allem auch deshalb, weil mit
ihm auch die Option für einen Bau der Strecke Hamburg-Berlin offen gehalten werden soll.
Das muss in jedem Fall abgelehnt werden, wobei anzufügen ist: Indem sich SPD und Grüne bisher weigerten,
das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz aufzuheben, lassen auch sie eine Hintertür offen. Damit riskiert die Bundesregierung - zur Freude, glaube ich, der CDU/ CSU und
F.D.P. -, dass das Transrapid-Konsortium später mit massiven Schadenersatzforderungen nachkarten wird.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär
Bodewig, ich habe Ihren Ausführungen sehr genau zugehört, weil ich herausbekommen wollte, ob Sie wirklich
für den Transrapid sind und was Sie für die Realisierung
einer tatsächlichen Anwendungsstrecke tun wollen.
({0})
Das habe ich aber leider nicht heraushören können. Das
bedaure ich.
({1})
Ich finde, wer regiert, muss nicht durch Reden beweisen, was er will, sondern er muss es durch ganz konkretes
Handeln und Tun beweisen.
({2})
Das vermisse ich bei Ihnen.
({3})
Die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit der
Magnetschwebetechnik umgeht, ist ein Trauerspiel: technologiepolitisch, verkehrspolitisch und industriepolitisch.
Wir laufen Gefahr, einerseits der Welt auf der EXPO in
Kürze die Einmaligkeit unserer Verkehrsinnovation vorzuführen, andererseits im eigenen Lande immer neue
Hürden für die Anwendung aufzubauen. Wenn wir nicht
aufpassen - das zeigen die heutige Debatte und die Einlassung des Regierungsvertreters wie auch des Vertreters
der grünen Regierungsfraktion -, geben wir uns der
Lächerlichkeit preis;
({4})
denn den Anmerkungen von Herrn Schmidt war - entgegen den Aussagen von anderen Grünen - sehr klar zu entnehmen, dass er die gesamte Technologie infrage stellt.
Das heißt, Sie haben innerhalb der Regierung nicht eindeutig geklärt, ob Sie für die Technik oder ob Sie gegen
die Technik sind.
({5})
Deswegen sind Ihre Aussagen zu den Referenzstrecken
auch wenig glaubwürdig.
Ich bin von einem fest überzeugt: Wenn die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG nicht umgehend
Flagge zeigen und Farbe bekennen, was sie eigentlich
wollen, dann sind nicht nur die Exportchancen einer viel
gelobten Hochtechnologie im Eimer, nein, dann vergeben
wir auch die ausgezeichnete Möglichkeit zur Sicherung
und zur Schaffung zahlreicher hochinteressanter Arbeitsplätze in Deutschland, insbesondere in Niedersachsen und natürlich auch im Emsland.
({6})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Ich gestatte diese
Zwischenfrage.
({0})
Herr Kollege
Dr. Kues, können Sie mir nach den Ausführungen, die
wir heute Abend vom Kollegen Schmidt gehört haben, erklären, wie die Tatsache verstanden werden muss, dass
der Hamburger Senat, der von den gleichen Parteien
gebildet wird wie die Bundesregierung, vor zwei oder
drei Tagen auf eine Anfrage in der Hamburger Bürgerschaft einleitend geantwortet hat: „Der Hamburger Senat hält unverändert die Transrapid-Anwendungsstrecke
Hamburg-Berlin für die beste Lösung.“? Können Sie
Zweifel insbesondere an der Glaubwürdigkeit der Fraktion der Grünen angesichts der Tatsache verstehen, dass
diese Antwort mit Billigung der Senatsmitglieder der
Grünen gegeben worden ist, zu denen immerhin die vom
Herrn Kollegen Schmidt so hochverehrte ehemalige Bundessprecherin der Grünen, Frau Sager, als zweite Bürgermeisterin gehört?
({0})
Herr Kollege
Fischer, ich bin Ihnen für Ihre Zwischenfrage sehr dankbar.
({0})
Auch ich habe gehört, dass der Hamburger Senat, getragen von SPD und Grünen, die Anwendungsstrecke Hamburg-Berlin nach wie vor für die beste hält. Die
Einlassungen des Kollegen Schmidt und - ich sage das
vorsichtig; ich könnte es härter formulieren - das Herumgeeiere des Herrn Staatssekretärs in Verbindung mit den
Aussagen der Grünen während des Landtagswahlkampfes
in Nordrhein-Westfalen -,
({1})
als sie meinten, dass ihnen die Felle endgültig wegschwimmen würden - sind ein Beweis für die Widersprüchlichkeit der Koalition und dafür, dass sie aufgrund
fehlender Überzeugungen gar nicht in der Lage ist, klar
Flagge zu zeigen. Deswegen bedanke ich mich für Ihre
Zwischenfrage, die mir Gelegenheit gegeben hat, dies
hier klarstellen zu können.
({2})
Ich möchte deutlich sagen: Für jemanden, der regiert,
genügt es nicht, durch Reden seine Glaubwürdigkeit zu
beweisen. Nein, wer regiert, der muss durch konkrete Taten dokumentieren, was er möchte. Das vermissen wir bei
Ihnen.
({3})
Ich glaube, dass die Unternehmen allein - das sage ich
auch im Hinblick auf das, was der Kollege von der PDS
vorhin angemerkt hat - mit den hohen Vorlauf- und Einführungskosten für die Magnetschwebetechnik einfach
überfordert wären.
({4})
Deswegen ist ein klares politisches Signal notwendig, um
zu zeigen, dass man diese Technik und ihre Anwendung
auch will. Dieses politische Signal lassen Sie einfach vermissen.
({5})
Wir fordern deshalb - um das ganz klar zu sagen -, dass
die Transrapid-Versuchsanlage Emsland - ich fordere
das auch besonders als emsländischer Abgeordneter - als
Referenz- und Demonstrationsstrecke umgehend modernisiert und ausgebaut wird, damit für die attraktive und
exportträchtige Magnetschwebebahntechnik weiterhin
geworben werden kann. Das Schaufenster „Transrapid
Emsland“ muss unbedingt erhalten werden.
({6})
Das muss umso mehr gelten, als eine Alternativstrecke zu
Hamburg-Berlin realistischerweise nicht ohne weiteres in
Sicht ist. Deswegen ist umgehend zu klären, wie in Lathen
durch den Ausbau zu einer zweigleisigen Streckenführung und durch den Bau eines Bahnhofs so praxisgerecht wie möglich sowohl der Gegenverkehr als auch der
Halt des Transrapid demonstriert werden können.
Ein weiterer Punkt. Der Planungsbestand der Referenzstrecke Hamburg-Berlin, den man immerhin für
350 Millionen DM geschaffen hat - nicht mit unerheblichen Mitteln des Steuerzahlers; darauf darf man auch verweisen; die Zahlen sind schon genannt worden -, muss
nutzbar gemacht werden.
({7})
Bei der Gelegenheit sei auch vermerkt, dass sich alle uns
mitgeteilten Überlegungen zur Nachrüstung der ICE-Ersatzstrecke als heiße Luft und als nicht realistisch erwiesen haben.
Drittens. Die Öffentlichkeit ist unverzüglich über die
verkehrspolitische Gesamtkonzeption unter Einbindung
des Transrapid ausführlich und erschöpfend zu unterrichten.
Bei den Gerüchten, die es gibt, wäre es auch interessant, zu erfahren, ob und in welcher Größenordnung für
den Haushalt 2001 Mittel für den Transrapid eingeplant
sind und wofür sie eingesetzt werden. Herr Staatssekretär,
dazu hätten Sie aus Ihrer Kenntnis ein wenig sagen können. Das hätte uns mehr überzeugt. So konnten Sie uns
leider nicht überzeugen. Was Sie geboten haben, war ein
Herumgeeiere. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass
Sie damit die Menschen nicht nur im Emsland, sondern
auch in Deutschland insgesamt auf den Arm nehmen.
({8})
Jetzt erhält der
Kollege Weis für drei Minuten das Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich das
erste Mal den Antrag der CDU/CSU-Fraktion las, habe
ich mich wirklich gefragt, wie man als Antragsteller einen
so geringen Realitätsbezug haben kann. Wie kann man
alle Diskussionen zwischen den Hauptakteuren beim
Transrapid-Projekt Hamburg-Berlin so ausblenden, wie
Sie es gemacht haben? Aber ich musste nicht lange überlegen - auch die Debatte heute Abend hat es ganz deutlich
gezeigt -: Sinn Ihres Antrages ist einzig, Ihr Vorurteil von
der angeblichen Technikfeindlichkeit der rot-grünen Koalition zu pflegen. Es gibt keinen sachlichen Hintergrund.
({0})
Wie soll man eigentlich der Öffentlichkeit erklären,
dass zwei Parteien wie die CDU und die CSU, die gern für
sich in Anspruch nehmen, die berechtigten Interessen und
Argumente der Wirtschaft bei ihren politischen Entscheidungen aufzugreifen, jetzt so tun, als hätten deren
Überlegungen überhaupt keine Rolle gespielt, als wäre
die Haltung der Bundesregierung, die von finanzpolitischer Verantwortung geprägt ist, der alleinige Grund für
das Ende des Projektes Hamburg-Berlin?
Warum gestehen Sie nur dem Industriekonsortium zu,
keine weiteren finanziellen Verantwortungen übernehmen zu müssen? Warum blenden Sie aus, dass die Bahn
als Betreiber keine Chance sah, den Betrieb des Transrapid auf dieser Strecke wirtschaftlich zu gestalten? Wenn
Sie dies mit den internen Problemen der Bahn AG zu begründen versuchen, dann frage ich Sie: Warum nehmen
Sie nicht wahr, dass es weit und breit keinen anderen Interessenten gab, der bereit war, das Betriebsrisiko zu übernehmen?
({1})
Dies war so, weil niemand die Chance sah, den Transrapid zwischen Hamburg und Berlin mit Gewinn fahren zu
lassen.
Glauben Sie nicht, dass es für die Vermarktung eines
neuen Transportsystems - sei es auch so faszinierend, so
innovativ und mit so vielen Systemvorteilen wie der
Transrapid versehen; das stelle ich überhaupt nicht infrage - die schlechteste Vermarktungsstrategie ist, dieses
System der Welt als defizitäres Unternehmen zu präsentieren?
({2})
Vielleicht ist dies sogar die späte Erkenntnis der Hersteller und der Grund für deren Absage gewesen. Entweder
gibt es eine besser Alternative für die Erstanwendung oder
das Produkt Transrapid hat durch Ihr verbissenes Festhalten an der Strecke Hamburg-Berlin in Deutschland gar
keine ehrliche Chance erhalten.
Zu Ihrem Antrag. Er ist von mehr als einem Widerspruch gekennzeichnet; auch wenn ich nur einen benenne:
Es passt doch wohl nicht zusammen, dass Sie seit Jahren bis heute - den Bau der Anwendungsstrecke Berlin-Hamburg verlangt haben und nie infrage gestellt haben, dass die Strecke natürlich zweigleisig sein muss,
während Sie erst heute fordern, die Tests und Demonstrationen zur Begegnung von Zügen auf der Versuchsanlage
zu ermöglichen. Mit dieser Begründung stehen Sie ziemlich allein.
Die Testanlage an sich und ihre Ertüchtigung zu Demonstrationszwecken hat keinen Sinn. Die Weiterführung
und die Ertüchtigung der Versuchsanlage muss meines Erachtens nur unter dem Gesichtspunkt diskutiert werden,
dass es ein alternatives Erstanwendungsprojekt gibt, das
neue Anforderungen stellt. In diesem Falle sollte man erst
überlegen, ob man es nicht den Japanern nachmachen
kann, die ihre Versuchsanlage als Bestandteil einer späteren Anwendungsstrecke gebaut haben.
({3})
In dieser Weise hat auch der Staatssekretär diskutiert.
Zum Abschluss möchte ich etwas zu den Forderungen
sagen, das Planfeststellungsverfahren für den Transrapid Hamburg-Berlin weiterzuführen und abzuschließen.
Diese Forderung geht ebenfalls weit an der Realität vorbei. Da der Transrapid dort nicht gebaut werden wird,
kann es Ihnen eigentlich nur um die Sicherung der Trasse
zwischen Hamburg und Berlin gehen. Was aber ist ein
Planfeststellungsverfahren für ein Transrapidsystem wert,
wenn es dann für eine konventionelle Eisenbahnverbindung genutzt werden soll?
({4})
Sie können doch mit dem Planfeststellungsbeschluss für
eine Ortsumgehung auch keinen Flughafen bauen.
({5})
Haben Sie die Aussagen der Bahn AG und die Haushaltssituation des Bundes aus Ihren Überlegungen ausgeblendet, wonach eine Neutrassierung zwischen Hamburg und Berlin aus Kostengründen nicht infrage kommt
({6})
und die Trassen über Uelzen und Stendal bzw. Wittenberge mit weniger Mitteln so hergerichtet werden können,
dass man 90 Minuten Fahrzeit erreichen könnte?
Sie merken an der Aufzählung der vielen Fragen, die
ich Ihnen gestellt habe,
({7})
dass wir Ihren Antrag für sehr unüberlegt halten. Wir werden ihn dann natürlich bei der abschließenden Debatte,
die wahrscheinlich auf uns zukommen wird, ablehnen.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/3183 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Kersten
Naumann, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Vererblichkeit von Bodenreformeigentum
- Drucksachen 14/1063, 14/2405 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Dr. Michael Luther
Werner Schulz ({1})
Jürgen Türk
Ich frage Sie, ob Sie einverstanden sind, dass die Abgeordneten Fornahl, Luther, Lemke und Funke ihre Reden
zu Protokoll geben. - Das scheint der Fall zu sein. Dann
eröffne ich jetzt die Debatte und gebe der Abgeordneten
Kersten Naumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zehn Jahre nach der deutschen Einheit bewegt das hochsensible Thema der Vererblichkeit
von Bodenreformeigentum noch immer die Gemüter
wie nahezu kein anderes. Es setzt voraus, dass man die gesellschaftliche und rechtliche Situation in der früheren
DDR genau kennt und beachtet, dass ein Transformationsprozess von DDR-Recht in bundesdeutsches Recht
vorgenommen wurde. Schließlich sind hohe ideologische
Schranken zu überwinden, die bei Eigentumsfragen besonders stabil sind.
Eigenartigerweise und natürlich zu meiner großen
Freude haben bei diesem Punkt PDS und F.D.P. die gleiche Rechtsauffassung. Ich zitiere den Abgeordneten
Jürgen Türk aus der ersten Lesung:
Bodenreformland ist vererbbar und darum haben die
Erben ein Anrecht auf das Land. Alles andere wäre
auch Unsinn. Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert,
das Einführungsgesetz des BGB in der Form zu ändern, dass die Erben von Bodenreformland auch zu
ihrem Recht kommen.
({0})
Dass die F.D.P. in den Ausschussberatungen dann doch
gegen den PDS-Antrag gestimmt hat, wundert mich sehr,
({1})
zumal Kollege Türk in seinem damaligen Redebeitrag
zum Urteil des Bundesgerichtshofs folgendermaßen argumentierte:
Die Begründung des BGH dafür ist so diffus, dass ich
mir gerade als juristischer Laie erspare, diese zu bewerten.
Richtig so, Kollege Türk!
Zwischenzeitlich hat das Landgericht Leipzig im Namen des Volkes Recht gesprochen und Ihre Auffassung
bestätigt. Es hat die Klage des Freistaates Sachsen auf
Herausgabe eines vor dem 6. März 1990 ererbten Bodenreformstückes abgewiesen. In seinem Urteil vom 16. November 1999 heißt es - ich zitiere jetzt die Kernaussagen -:
Mit dem Gesetz über die Rechte der Eigentümer von
Grundstücken aus der Bodenreform vom 6. März
1990 wurden diese Verfügungsbeschränkungen
durch den Gesetzgeber der DDR jedoch aufgehoben.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 6. März 1990 ...
am 16. März 1990 haben die Beklagten daher infolge
der Aufhebung der Verfügungsbeschränkungen aus
der Besitzwechselverordnung Volleigentum erworben. ...
Dieses Volleigentum gelangte am 3. Oktober 1990
unter den Schutz von Art. 14 Grundgesetz.
Das Gericht charakterisiert die Anwendung des
Art. 233 EGBGB als eine „entschädigungslose Enteignung, die nicht durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt ist“ und schließt sich deshalb der Ansicht des
Bundesgerichtshofes nicht an. Das Landgericht Leipzig
hat damit eine juristische Begründung des PDS-Antrages
geliefert. Mit weiteren juristischen Entscheidungen ist zu
rechnen. Wir hoffen, dass sich auch dabei die Leipziger
Rechtsauffassung durchsetzt.
Nun noch eine politische Begründung. Als Begründung für Art. 233 EGBGB wird immer angeführt, dass die
DDR-Behörden die Besitzwechselverordnung schlampig
umgesetzt hätten und deshalb eine Nachzeichnungspflicht
bestehe. Die Besitzwechselverordnung ist zu DDR-Zeiten
fünfmal geändert worden. Offensichtlich wurde sie nicht
mehr angewendet, weil die Bedingungen für ihre Anwendung nicht mehr bestanden. Zum Beispiel konnte die
Forderung, in der Landwirtschaft tätig zu sein, bei dem erheblichen Rückgang der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft der DDR und der Ausgliederung landwirtschaftliReinhard Weis
cher Tätigkeiten in die Dienstleistungsbereiche gar nicht
mehr aufrechterhalten werden. Die rückwirkende Entscheidung der Volkskammer war deshalb auch aus sachlichen Gründen völlig berechtigt.
({2})
In der politischen Auseinandersetzung mit der PDS
wird immer wieder die Forderung erhoben, sie müsse erst
einmal in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit ankommen. Wenn wir uns auf den Weg machen, das sicher
nicht sehr einfache Rechtssystem der Bundesrepublik
zu verstehen, dann sollten Sie uns wenigstens dabei unterstützen.
({3})
Lassen Sie Recht sein, was Recht ist, und überspringen
Sie die ideologischen Hürden! Erkennen Sie an, dass im
Falle des Erbes von Bodenreformflächen die PDS-Auffassung rechtlich korrekt ist! Stimmen Sie gegen die
Beschlussempfehlung des Ausschusses und bringen Sie
einen Gesetzesantrag ein, der den Art. 233 novelliert!
({4})
Wir kommen
nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu
dem Antrag der Fraktion der PDS zur Vererblichkeit von
Bodenreformeigentum. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/1063 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses
({0})
gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Monika Balt, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung der von Strukturkrisen betroffenen Bergleute in Ost und West
- Drucksache 14/2385 Wieder möchte ich Sie fragen, ob wir die Reden der
Abgeordneten Labsch, Klinkert, Schulz und Hirche zu
Protokoll nehmen können? - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als einzigen Redner den Abgeordneten Gerhard Jüttemann auf.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Problem, das wir heute debattieren, lässt sich im Kern auf die einfache Frage reduzieren,
warum Bergleute Ost gegenüber Bergleuten West in der
Bundesrepublik Deutschland in sozialpolitischer Hinsicht
massiv benachteiligt werden.
1996 habe ich zu diesem Thema schon einmal hier gesprochen. So viel war klar, dass ich von der alten Regierung, den schwarzen Brüdern hier drüben, wenig und
schon gar keine Hilfe erwarten konnte, weil man ja vorher schon zugelassen hatte, dass unsere Arbeitsplätze vernichtet wurden, um wenigstens den Kalibergbau im Westen zu sichern.
({0})
Schon 1996 bestand Anlass zu Befürchtungen, da damals
das Renten-Überleitungsgesetz auslief. Bis dahin waren
ostdeutsche Bergleute den Bergleuten in den alten Bundesländern sozialpolitisch gleichgestellt.
Worum geht es eigentlich im Kern?
({1})
1971 hat man in der alten Bundesrepublik erkannt, dass
eine Strukturkrise im Steinkohlenbergbau bevorstehen
würde. Man hat sozialpolitisch verträgliche Regelungen
erlassen, indem ein Anpassungsgeld gewährt wurde. Im
Kern beinhaltete diese Regelung, dass Bergleute über
50 Jahre, die länger als 25 Jahre unter Tage gearbeitet hatten, ein Anrecht darauf hatten, zu Hause zu bleiben, und
mit 55 Jahren die Knappschaftsausgleichsleistung bekamen. Damit war ihnen zwar nicht geholfen, da sie gerne
gearbeitet hätten. Aber es wurde wenigstens eine sozialverträgliche Lösung gefunden, die mit der Strukturkrise
begründet wurde.
({2})
- Bitte schön. Unsere Bergleute würden sich im Grabe
umdrehen, wenn sie hören würden, welche Abfindungen
jene bekommen haben.
Jetzt kommen wir zu dem Problem: Im Zuge der Wiedervereinigung ist der ostdeutsche Bergbau, zumindest im
Untertagebereich, völlig weggebrochen. Haben wir nicht
eine ähnliche Strukturkrise gehabt? Die Bundesregierung
hatte zumindest am Anfang noch dafür gesorgt, dass diese
Krise durch sozialverträgliche Regelungen aufgefangen
wurde. Es gab das Renten-Überleitungsgesetz, Altersübergangsregelungen und Vorruhestandsregelungen. Das
Renten-Überleitungsgesetz ist aber 1996 ausgelaufen. Sie
waren da an der Regierung und wussten, dass man etwas
für diese Bergleute tun musste; aber Sie haben nichts getan.
({3})
- Es geht etwa um 300 Bergleute.
({4})
Ich selbst habe 17 Jahre unter Tage gearbeitet. In meinem Bergwerk in Bischofferode gibt es noch 70 betroffene Bergleute. Es ist schlimm genug, dass sie ihren eigenen Arbeitsplatz abbauen und ihre Arbeit aufgeben müssen, obwohl sie noch lange hätten arbeiten können. Das
Schicksal und Ihre Entscheidungen haben dazu beigetragen, dass ihnen jede Perspektive genommen wurde. Ich
sage Ihnen eins: Sie haben nicht die Chance, mit 55 Jahren noch in einem anderen Bergwerk beschäftigt zu werden. Das heißt für die meisten: In einem Alter von 52, 53
Jahren will man sie mit der Rente für Bergleute in den Ruhestand schicken.
Wissen Sie eigentlich, wie viel sie dann bekommen?
Ich habe die Bescheide von Bergleuten gesehen, die
27 Jahre und länger unter Tage gearbeitet haben. Der Rentenbescheid für Bergleute - der Betrag beläuft sich immerhin auf 40 Prozent der späteren Altersrente - enthält
eine Summe von 740 DM. Von 740 DM kann kein
Mensch leben. Die Chancen für einen Bergmann, der über
25 Jahre unter Tage gearbeitet hat, eine neue Anstellung
zu finden, sind gleich null.
Auf der anderen Seite haben Sie die Anpassungsgeldregelungen für den bundesdeutschen Bergbau immer wieder sozialverträglich verlängert. Ich finde das gut und
richtig. Aber ich kann keinem Bergmann bei mir zu Hause
erklären, warum im Steinkohlebergbau, der ja subventioniert wird, heute noch im Rahmen einer sozialverträglichen Regelung Betriebsrenten gezahlt werden. Unsere
Bergmänner dagegen sollen jetzt vorzeitig ihren Arbeitsplatz verlassen und mit einer Summe von 740 DM nach
Hause gehen. Das kann doch nicht wahr sein! Da ist
Handlungsbedarf angesagt.
({5})
Wir haben festgestellt, dass es sich um etwa 300 Betroffene handelt. Ich muss eines deutlich sagen: Ich habe
zu Beginn des Jahres 1998 Hoffnung in die neue Regierung gesetzt. Ich hatte mit einigen Abgeordneten gewisse
Absprachen getroffen.
({6})
Ich habe ihnen gesagt: Ich will mir die Lorbeeren nicht
unbedingt an den Hut heften. Tut selber etwas und schafft
eine Regelung, damit etwas geschieht! Nun sind fast zwei
Jahre um; die neue Regierung hat aber nichts getan. Sie
erweckt auch nicht den Anschein, als würde sie etwas tun.
Aber eines kann ich Ihnen sagen: Solange ich noch Betriebsrat bin - ich hoffe, ich bin es in diesem Bergwerk
noch lange -, werden wir energisch Widerstand leisten.
({7})
Diesen Kollegen wird nicht gekündigt - und wenn ich im
Ruhrgebiet auf die Straße gehen muss, um dieses Thema
vorzutragen. Ich glaube nicht, dass dies in Ihrem Interesse
ist.
Helfen Sie den 300 Bergleuten! Schaffen Sie eine Lösung, damit sie mit 55 Jahren wenigstens die Knappschaftsausgleichsleistungen bekommen können! Sie haben nämlich ihre Beiträge gezahlt und einen Anspruch darauf. Denken Sie darüber nach! Dies war erst die erste
Lesung. Sie haben noch Zeit.
Ich danke vielmals.
({8})
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2385 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der PDS
wünscht Federführung beim Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder. Ich bitte diejenigen, die dem
Überweisungsvorschlag der Fraktion der PDS zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag der PDS ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist mehrheitlich gegen Stimmen aus der PDS bei einigen
Enthaltungen angenommen worden. Damit ist die Überweisung, wie von den Koalitionsfraktionen gewünscht,
mit Federführung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Mai, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.