Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile dem Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungserklärung sollte den Titel „Frieden braucht Entwicklung“
haben. In diesem Zusammenhang kann man nur feststellen: Frieden braucht auch Solidarität, aber Solidarität
verweigert diese Bundesregierung den armen Menschen,
den Benachteiligten auf dieser Erde.
({0})
Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass der Bundeskanzler heute Morgen hier ist.
({1})
Aber der Bundeskanzler ist für die Erfüllung der auf
dem Kölner G7-Gipfel beschlossenen Verpflichtung verantwortlich, die öffentlichen Entwicklungshilfemittel
Deutschlands zu steigern. Das Gegenteil ist der Fall. Die
Mittel werden in der mittelfristigen Finanzplanung um
rund 1 Milliarde DM gekürzt.
({2})
Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.
({3})
Der Bundeskanzler hat übrigens in die Debatte eingeführt, dass es, was Fachkräfte betrifft, eine stärkere internationale Kooperation geben sollte. Gleichzeitig aber
kürzt die Regierung - Inder sind ja im Moment stark im
Gespräch - die Anzahl der Stipendienplätze für die Zusammenarbeit mit indischen ingenieurwissenschaftlichen
Instituten. Dies betrifft also gerade die Leute, mit denen
wir in Wissenschaft und Wirtschaft stärker zusammenarbeiten wollen. Auch hier gibt es also ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit.
({4})
Eins hat mich dann doch ein bisschen gewundert, Frau
Ministerin. Sie haben viel über die Weltbank und die internationalen Finanzorganisationen gesprochen - alles in
Ordnung; darüber müssen wir auch viel reden -, aber über
die deutschen Durchführungsorganisationen, über die
vielen, die sich in Deutschland für die Entwicklungspolitik engagieren, haben Sie kein Wort verloren - kein Wort
über die Nichtregierungsorganisationen, kein Wort über
die Kirchen, kein Wort über die politischen Stiftungen. Es
ist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass über diese
Dinge überhaupt nicht gesprochen worden ist.
({5})
Man will nämlich durch die so genannte Internationalisierung der Argumentation verschleiern, dass man den
deutschen Durchführungsorganisationen, den staatlichen
und nichtstaatlichen, nicht die ausreichenden Mittel zur
Verfügung stellt, die für eine internationale Solidarität
notwendig wären. Das ist der entscheidende Punkt.
({6})
Nun, Frau Ministerin, haben Sie darauf hingewiesen,
dass Sie die Zahl der Kooperationsländer verringern
wollen. Möglicherweise - das werfe ich Ihnen gar nicht
vor - sind Sie nicht über alle Details in Ihrem Hause informiert, aber klar ist: Wenn Sie sich einmal die Mühe
gemacht hätten, sich die Rahmenplanung, also das operative Geschäft Ihres Ministeriums der letzten Jahre anzuschauen, dann hätten Sie festgestellt, dass wir nie mehr als
etwa 68 oder 70 oder 72 Länder in dieser Rahmenplanung
hatten, also das, was Sie uns jetzt als großen Erfolg verkaufen wollen.
Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wichtiger ist die Katalogisierung, die Klassifizierung, die Sie
vornehmen. Die ist außenpolitisch schädlich, und sie ist
darüber hinaus noch amateurhaft.
({7})
Sie ist nämlich rein willkürlich. Oder wie können Sie jemandem erklären, dass Georgien Schwerpunktland ist,
während Aserbaidschan und Armenien es nicht sind?
Diese Klassifizierung ist doch widersprüchlich.
Da erklären Sie hier große Dinge zu Nigeria, plädieren
dafür, dass ein wichtiges afrikanisches Land möglicherweise Mitglied der Weltsicherheitsrates wird, aber Nigeria, wo der Außenminister bei seinem Besuch einen
großen Kooperationsmechanismus angekündigt hat,
taucht in Ihrer Liste unter 1 und 2, also unter den Schwerpunktländern, gar nicht auf.
Noch grotesker wird es bei Simbabwe. Wir haben bereits am 29. Oktober des letzten Jahres die Bundesregierung gedrängt, dass sie entschieden gegen das MugabeRegime vorgeht. Nichts haben Sie getan, sondern erst
jetzt im April, da es in Simbabwe wirklich brennt, haben
Sie endlich auf dem Afrikaforum der deutschen Wirtschaft politisch die deutlichen Worte gefunden, die auch
in Ordnung sind, sowohl was den Bundeskanzler als auch
was Sie, Frau Ministerin, anbetrifft. Das war in Ordnung,
aber vielleicht hätten Sie schon vor einem halben
Jahr deutlich Ihre Initiativen starten können, um Herrn
Mugabe in seinen Aktionen zu bremsen.
Jetzt kommt aber wieder ein kritischer Punkt: Simbabwe, jahrzehntelang ein Schwerpunktland deutscher
Zusammenarbeit, taucht ebenfalls unter den Schwerpunktländern in Ihren Kategorien überhaupt nicht auf.
Wie müssen das eigentlich die Menschen in Simbabwe
verstehen? Wie muss das eigentlich die Opposition in
Simbabwe verstehen? Wir müssen eine Politik machen,
die sich gegen Mugabe richtet, aber nicht gegen die Bevölkerung in Simbabwe, und da setzen Sie mit Ihrer Klassifizierung das falsche Zeichen.
({8})
Es gibt ohnehin keine klaren, erkennbaren Kriterien.
Dass bei Kuba gewisse alte Reminiszenzen wach werden gut, das ist Ihre Geschichte.
({9})
Damit habe ich persönlich keine Probleme. Wenn Herr
Henkel dafür plädiert, frage ich: Wer hindert die deutsche
Wirtschaft daran, wenn sie das für richtig hält, sich in
Kuba wie auch in anderen totalitär regierten Ländern
wirtschaftlich zu engagieren? Das ist deren Entscheidung.
Es geht aber darum, dass die Bundesregierung plant, eine
offizielle staatliche Zusammenarbeit mit Kuba aufzunehmen,
({10})
und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kriterien:
marktwirtschaftliche Öffnung, Respektierung des Rechts,
Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen. Nichts dergleichen ist in Kuba erkennbar. Nein, die Bundesregierung erklärt im zuständigen Fachausschuss ausdrücklich, die Menschenrechtssituation in Kuba habe sich in den letzten Monaten
verschlechtert. Was soll das eigentlich? Sie sagen uns immer, Ihre Kriterien seien die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit einem Land. Wenn die Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind, dann können Sie doch mit
einem solchen Land keine staatliche Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen.
({11})
Stärken Sie die Kräfte der so genannten Bürgergesellschaft, der Zivilgesellschaft! Stärken Sie die Kirchen!
Stärken Sie die Nichtregierungsorganisationen in Kuba,
die darauf hinwirken können, dass sich eines Tages auch
dieses Land auf den Weg zur Demokratie macht!
In der Klassifizierung ist nicht erkennbar, nach welchen Kriterien sie vorgegangen sind. Nehmen wir ein
Land wie Paraguay. Viele wissen gar nicht genau, wo es
liegt.
({12})
- Immer mit der Ruhe, Sie können gleich ein paar Bemerkungen dazu machen.
Nachdem Paraguay den Weg der Demokratie gegangen
ist, haben wir uns ganz bewusst - übrigens einvernehmlich im zuständigen Fachausschuss - dafür entschieden,
die Zusammenarbeit mit Paraguay aufzunehmen. Jetzt
taucht Paraguay in der Gesamtliste überhaupt nicht mehr
auf. Aber die Bundesregierung verweigert die Auskunft
darüber, warum das so ist. Man wird doch wohl nachfragen dürfen, warum bestimmte Länder in der Liste stehen
und bestimmte Länder nicht.
({13})
Die Ministerin hat lang und breit auf die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des
Pazifik Bezug genommen. Sie hat im Vorfeld dieser Verhandlungen erklärt, für die Bundesregierung sei es klar,
dass das Prinzip der guten Regierungsführung - oder auf
Neuhochdeutsch: Good Governance - unverzichtbar sei.
Dieses Prinzip taucht aber im Vertragswerk gar nicht auf.
Auf die konkrete Frage, warum das so ist, bekommen wir
die Antwort - übrigens auch vom zuständigen EU-Kommissar, Herrn Poul Nielson in Brüssel -: Die afrikanischen Länder haben damit Probleme, weil der Eindruck
erweckt werden könnte, man würde Bedingungen, also
Konditionalität für die Zusammenarbeit zugrunde legen.
Genau das ist aber das, worüber wir uns im Parlament
immer einig waren: Wenn in einem Land die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann ist eine umfangreiche Zusammenarbeit nicht möglich.
({14})
Dies nicht in ein Vertragswerk zu schreiben, muss Mugabe
und andere ermutigen, weil sie damit rechnen können,
dass es die Europäer nicht so ernst nehmen. Damit werden völlig falsche Zeichen gesetzt.
Ein Letztes, was Sie zu Recht angesprochen haben,
Frau Ministerin, ist die Problematik der sich ständig weiter verbreitenden Krankheit Aids. Es ist leider nicht das
einzige Problem, aber ein sehr ernst zu nehmendes. Es ist
übrigens - wir sollten uns vor einer gewissen Arroganz
hüten - inzwischen nicht mehr nur ein Problem Afrikas.
Uns werden dramatische Zahlen aus Südostasien, gerade
aus dem indischen Subkontinent, berichtet. Wir hören
dramatische Zahlen auch aus Osteuropa. Es ist richtig,
dass Sie sich um dieses Problem kümmern wollen. Ihre
Haushaltszahlen besagen aber wieder genau das Gegenteil. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Sie verkünden
das eine und tun nicht das, was Sie sagen. Das ist schädlich für die Menschen in unseren Partnerländern der Dritten Welt.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Kollege Hedrich, aus Zeiten, in denen wir noch in
der Opposition waren, habe ich entwicklungspolitische
Debatten sehr gut in Erinnerung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass damals vonseiten der Opposition über
ein Gebiet, das so sensibel ist, in einer derart konfrontalen
Art und Weise diskutiert worden ist. Wir sollten auf diesem Gebiet all unsere Kräfte bündeln, um die Politik gemeinsam voranzutreiben,
({0})
aber hier nicht in kleinkarierter Weise aufrechnen, wie Sie
es getan haben. Dies kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen.
Die internationale Solidarität und besonders die Solidarität mit den armen Ländern war und ist immer eine
Wurzel des Engagements der Grünen. Ohne die zahllosen
Menschen in den NGOs, in den kirchlichen Gruppen, in
den Dritte-Welt-Initiativen, deren Arbeit von unschätzbarem Wert war und ist, gäbe es den alten - auch grünen programmatischen Satz „global denken, lokal handeln“
eigentlich nicht, nach dem wir heute unsere Entwicklungspolitik mehr und mehr ausrichten. Keines der globalen Zukunftsprobleme wird ohne internationale Zusammenarbeit zu bewältigen sein.
Noch sind wir - darüber besteht wohl Einigkeit - von
der Umsetzung international akzeptierter Ziele weit entfernt, die in allererster Linie folgende sind: die Armut entscheidend zu senken, die Grundvoraussetzungen in den
Bereichen Bildung und Gesundheit zu schaffen und - das
ist mir besonders wichtig - nachhaltiges Wachstum zu sichern, ohne die globalen Umweltressourcen zu ruinieren.
({1})
Wenn wir in unserem Land die regenerativen Energien - Sonne, Wind und Wasser - in unvergleichlicher
Weise fördern, dann ist das für uns gut. Aber eine solche
Förderung wirkt sich noch viel segensreicher auf die Entwicklungsländer aus, weil die Nutzung dieser regenerativen Energien und die Anwendung daran angepasster
Techniken dort Motor für eine ökonomische Entwicklung
sein können und die globalen Umweltressourcen bewahren können.
({2})
Die Entwicklungspolitik leistet aufgrund ihrer
langjährigen Erfahrung mit anderen Kulturen, Gesellschaften und politischen Systemen einen unerlässlichen
Beitrag zu einer ökologisch und sozial ausgeglicheneren
Entwicklung in den Ländern, mit denen wir zusammenarbeiten.
Wo müssen wir weiterarbeiten? Auf welche Bereiche
müssen wir unsere Arbeit noch stärker fokussieren? Wir
müssen die Verschuldung der Entwicklungsländer noch
sehr viel stärker senken. Der Bundeskanzler hat in Köln
und in Kairo in diesem Punkt mit Entschuldungsinitiativen, die es in diesem Umfang schon lange nicht mehr gegeben hat, erfolgreich Zeichen gesetzt. Wir ermutigen ihn,
auf diesem Weg weiterzugehen.
({3})
Wir müssen begreifen, dass Umweltprobleme nicht an
den Grenzen Halt machen. Die Vereinbarung internationaler Umweltabkommen ist ohne Alternative, wie beispielsweise in den Bereichen Klimaveränderung, Erhalt
der biologischen Vielfalt und Kampf gegen das Vordringen der Wüsten. Das alles sind Beispiele für Aufgaben,
die vor uns liegen. In diesen Bereichen sichert Umweltpolitik Räume für Menschen, und zwar für ihre unmittelbare Existenz. Dadurch hat sie dort noch eine ganz andere
Brisanz als bei uns.
({4})
Die Umweltabkommen müssen mit den Entwicklungsländern umgesetzt werden. Die Lösung von Umweltproblemen, ohne beispielsweise China und Indien ins Boot zu
holen, ist schlechterdings unmöglich. Wer diese Länder
gewinnen möchte, muss allerdings auch im eigenen Land
beispielhaft handeln. Die Regierungskoalition geht diesen
Weg.
Wir brauchen aber auch ein verbessertes Handelssystem mit sozialen und ökologischen Normen, die
auch den Entwicklungsländern mehr Chancen zur Teilnahme bieten. Entwicklungsländer müssen - darauf hat
die Ministerin hingewiesen - etwa im Bereich der Landwirtschaft Mehreinnahmen erzielen können. Wir müssen
Wege finden, die Erkenntnisse der modernen Medizin
auch für die nutzbar zu machen, die sie heute noch nicht
bezahlen können.
({5})
Die Bekämpfung von Aids, Malaria und Seuchen ist auch darüber besteht Einigkeit - eine Aufgabe, die wir intensivieren müssen. Die Bundesregierung wird weitere
internationale Initiativen ergreifen, so wie sie es bereits
getan hat.
Man braucht zur Arbeit an diesen zentralen Zukunftsfragen einen langen Atem. Die grüne Fraktion, die grüne
Ministerin, unsere Parlamentarische Staatssekretärin
Uschi Eid und die Bundesregierung insgesamt haben ihn.
Wir wünschen uns an diesem Punkt das gleiche nicht
nachlassende Engagement.
Danke schön.
({6})
Kollege Schlauch, es
hätte eine Zwischenfrage gegeben, aber deren Beantwortung ist nun nicht mehr möglich.
Ich erteile dem Kollegen Joachim Günther, F.D.P.Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlauch,
auch Ihnen ist bekannt, dass die Ministerin noch nicht
Mitglied der Grünen ist; andernfalls haben wir etwas verpasst.
({0})
„Frieden braucht Entwicklung“, so lautet das Thema
unserer heutigen Debatte. Ich glaube, diesem Thema können wir alle zustimmen. Wer dieses Ziel erreichen will,
der muss dafür Voraussetzungen schaffen. Aus dieser
Sicht habe ich in einigen Unterlagen nachgeschaut. Frau
Ministerin, ich habe bewundert, mit welchem Elan Sie in
diese Legislaturperiode hineingegangen sind und welche
Zielstellungen Sie sich für diesen Abschnitt vorgenommen haben. Im Koalitionsvertrag, der vor eineinhalb Jahren von Rot-Grün geschlossen worden ist, steht in der Rubrik „Entwicklungspolitik“ wörtlich:
Um dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel
näher zu kommen, wird die Koalition den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes umkehren und
vor allem die Verpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maßvoll erhöhen.
Das ist aus heutiger Sicht reine Satire.
({1})
Auch die Ankündigung im Koalitionsvertrag, man
wolle Hermes-Bürgschaften zukünftig nach ökologischen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten gewähren, ist eine Art Zynismus. Man möge mir
bitte erklären, wie Hermes-Bürgschaften für die Ausrüstung von Kernkraftwerken mit rot-grünem Ökologieverständnis in Einklang gebracht werden können oder was
die Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudamms in
China, der die Zwangsumsiedlung von Hunderttausenden
von Menschen zur Folge hat, mit sozialen und entwicklungsverträglichen Kriterien zu tun hat.
({2})
- Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin ja dafür, dass
solche Atomkraftwerke und solche Projekte, die technischen Fortschritt schaffen, auch in Zukunft mit Hermes-Bürgschaften abgesichert werden. Ich bin aber dagegen, dass ein Teil der Grünen damit Polemik betreibt, sodass wir am Ende als diejenigen dastehen, die diese
Entwicklung stoppen wollen. Darin besteht der Unterschied.
({3})
Während Ihr Haushalt - das muss man einmal so sagen nicht nur mit der Heckenschere, sondern leider auch mit
der Motorsäge zusammengestutzt wurde, während
Beiträge zu internationalen Organisationen wie dem Weltentwicklungsprogramm UNDP oder dem Kinderhilfswerk UNICEF drastisch gekürzt werden, verkündet die
Ministerin unverdrossen die deutsche Verantwortung für
weltweite Solidarität und für globale Zukunftssicherung.
Das ist zwar von der Sache her richtig, es sind sich aber
alle einig: Wir müssen Schwerpunkte finden. Sie haben
heute einige dieser Schwerpunkte angesprochen.
Wir sollten uns einig sein: Entwicklungspolitische Zusammenarbeit muss darauf hinauslaufen, dass die entsprechenden Staaten unabhängig von der Entwicklungshilfe werden. Die Pflege der Zusammenarbeit zwischen
den entwickelten Staaten ist dann jedoch im Verantwortungsbereich der Außenpolitik zu sehen. Eine Vielzahl
von ehemaligen Entwicklungsländern, die heute keine
Hilfe von außen mehr benötigen, bestätigen Ihnen eigentlich diese These.
Entwicklungspolitik kann immer nur einen komplementären Beitrag zur Außen- und Sicherheitspolitik leisten.
({4})
Die F.D.P.-Fraktion hat deshalb den Antrag gestellt, dem
Beispiel anderer großer Geberländer zu folgen und das
BMZ und das AA zusammenzulegen. Wenn man Ihre
jüngsten Reden liest und Ihre heutige Rede sehr aufmerksam verfolgt hat, Frau Ministerin, dann kann man ja auch
den Eindruck gewinnen, dass das AA zum BMZ kommt.
Das würde zwar gut zur Politik von Herrn Fischer passen;
aber ob Sie das erreichen, dessen bin ich mir noch nicht
sicher.
Anstatt die Chancen der Globalisierung für die Entwicklungsländer herauszustreichen und zu nutzen, war
bis vor kurzem noch vor ihren „negativen Trends und
Auswirkungen“ gewarnt worden. Heute sprachen Sie
schon vom Nutzen der Globalisierung. In einer Ihrer letzten Grundsatzreden sprachen Sie vom „internationalen
Spekulationskapitalismus“. Wenn ich diese Aussagen
sehe, dann muss ich sagen, dass das eigentlich Klischees
der 70er-Jahre sind, über die wir hinaus sind. Damals ging
es um die „neue Weltwirtschaftsordnung“. Das wurde
überwunden. Heute sprechen Sie von gerechter Weltordnungspolitik. Ich glaube nicht, dass wir mit dem BMZ die
Umkehrung der internationalen Einflüsse erreichen können.
Wir sollten uns darauf besinnen, unsere Strukturreformen mutig anzugehen. Wir sollten im Endeffekt dafür sorgen, dass Themen wie gute Regierungsführung, Menschenrechtskonditionen, Eigenverantwortung, Deregulierung, Schwerpunktsetzung - diese Themen haben wir als
Partei schon in unser Programm hineingebracht; Sie haben sie heute auch genannt - in den Mittelpunkt gerückt
werden. Gefehlt hat mir aber der zweite Teil: Zur internationalen Zusammenarbeit gehören auch Freihandel und
marktwirtschaftliche Strukturen. Diese Themen stehen
bereits im Mittelpunkt unserer entwicklungspolitischen
Leitlinien. Anders wird man eine Entwicklung dieser Länder nicht erreichen können.
({5})
Immerhin sehen wir mit Genugtuung, dass einige unserer Ideen von Ihnen aufgegriffen worden sind, zum Beispiel die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unternehmen in der Entwicklungspolitik. Bis vor kurzem war die
Idee Gewinn bringender Entwicklungsprojekte noch ein
unantastbares Tabu. Wir wissen aber, dass sie von hohem
entwicklungspolitischen Nutzen sind. Aber Not macht
teilweise auch erfinderisch, muss man hier sagen. War es
bis vor kurzem noch verpönt, über deutsche Investoren im
Ausland zu sprechen,
({6})
die in der Entwicklungspolitik tätig sind,
({7})
so tragen sie heute schon zu einem guten Teil dazu bei, bestimmte Haushaltslücken zu überbrücken.
({8})
Die von Ihnen, Frau Staatssekretärin Eid, angekündigte regionale Konzentration der Entwicklungspolitik
ist aus unserer Sicht ein richtiger Anspruch. Ich finde es
auch gut, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf
70 Partnerländer mit unterschiedlichen Schwerpunkten
konzentriert wurde. Über die Art der Länder und den Inhalt kann man sicherlich immer diskutieren.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass wir
bei der Entwicklungsfinanzierung künftig noch stärker
auf in- und ausländische Ressourcen zurückgreifen müssen.
({9})
Durch die stärkere Einbeziehung des Privatsektors in Finanzierung und Betrieb von Infrastrukturprojekten kann
die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit auf
allen Gebieten erhöht werden.
Wir sehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die F.D.P. wird
noch vor der Sommerpause ihre entwicklungspolitischen
Leitlinien vervollständigen und dann hoffentlich mit allen
in einen guten Dialog treten.
Danke schön.
({10})
Nun erteile ich der
Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Regierungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit setzt die Bundesregierung ein positives
Signal; denn erstmals ist die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt Thema einer Regierungserklärung in der
Bundesrepublik.
({0})
Joachim Günther ({1})
Es ist ein großer Tag für uns Entwicklungspolitikerinnen
und -politiker. So kommen die Entwicklungspolitik und
ihre Notwendigkeit allmählich in die Köpfe der Menschen hier. Dies weitet ihren Blick für die weltweiten Probleme; das tut Not.
Kollegin Tröscher,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Nein!
({0})
- Weklisch net, würde ich jetzt auf frankfurterisch sagen.
Ich möchte jetzt gerne meine Gedanken ausführen. Sie
verstehen das sicherlich.
({1})
Dies ist Ausdruck für den Stellenwert, den wir, die Koalition, der Entwicklungszusammenarbeit beimessen. Es
ist auch eine gute Gelegenheit, Bilanz der letzten eineinhalb Jahre - ich sage eineinhalb Jahre, nicht 16 Jahre - zu
ziehen, Perspektiven zu verdeutlichen und sich nicht in
Nörgeleien zu ergehen, Herr Hedrich. Natürlich haben wir
in unseren Ausführungen nicht alles erwähnt, was erwähnenswert ist. Natürlich sind wir stolz auf unsere Durchführungsorganisationen, auf unsere Stiftungen und auf die
NROs, ohne die die gesamte Zusammenarbeit nicht denkbar ist.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass sie genügend Geld für
die Projekte bekommen.
({2})
Ich danke den NROs, besonders den Kirchen und den Stiftungen.
Sie reden immer über das Geld und über den Haushalt,
aber niemals über Strategien. Diese vermisse ich hier sehr
bei Ihnen.
({3})
- Na, die haben Sie aber auch nicht hineingebracht. Das
war schon ein trauriger Anblick, den man hier hatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungspolitik der Bundesregierung zeichnet sich dabei vor allem durch folgende Punkte aus:
Erstens. Entwicklungspolitik gestaltet globale Rahmenbedingungen zugunsten der Entwicklungsländer. Vor
allem die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung ist
ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche globale Strukturpolitik. Natürlich muss sie ausgestaltet werden, aber der
Anfang ist gemacht.
({4})
Auch die Verknüpfung von Armutsbekämpfung mit der
Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, für die sich die Bundesregierung einsetzte, ist ein
ganz wichtiger Baustein. Dies muss immer betrachtet und
beobachtet werden, damit das auch so bleibt.
Zweitens. Entwicklungspolitik wird wieder als aktive
Friedenspolitik gestaltet. Ich verweise hier nur auf unsere
Initiativen zum Zivilen Friedensdienst, zu Kindersoldaten
und Kleinwaffen, aber auch zur Stärkung der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen in Entwicklungsländern.
({5})
Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für eine effizientere und kohärentere EU-Entwicklungspolitik ein. Erwähnen möchte ich insbesondere die auf den Weg gebrachten Maßnahmen für eine Reform des EEF, des Europäischen Entwicklungsfonds, und die Bemühungen um
ein zukünftiges Lomé-Nachfolgeabkommen. Das wurde
schon von der Ministerin ausgeführt. Ich denke, wir sind
hier auf einem guten Weg.
Viertens. Entwicklungspolitik ist globale Zukunftssicherung. Dies hat die Bundesregierung mit Programmen
zum Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildung
und der Verbesserung der Welternährung ja auch unter
Beweis gestellt; alles übrigens in anderthalb Jahren.
({6})
Fünftens. Die Entwicklungspolitik reagiert schnell und
flexibel auf Naturkatastrophen und Krisen. Uns allen sind
der verheerende Wirbelsturm „Mitch“, das Erdbeben in
der Türkei und die Katastrophen in Mosambik noch in
Erinnerung. Aber auch bei den Hilfen zum Wiederaufbau
in Südosteuropa hat die Bundesregierung Handlungsfähigkeit bewiesen.
({7})
Sechstens. Die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung fördert gute Regierungsführung.
Siebtens. Frauenrechte werden in der Entwicklungszusammenarbeit gestärkt und gefördert.
({8})
- Ja, die kommen zu kurz.
Achtens. Wir nutzen das Zukunftsprogramm der Bundesregierung zur Haushaltskonsolidierung auch zur Steigerung der Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte diesen
acht Punkten noch weitere hinzufügen. Sie kennzeichnen
die letzten anderthalb Jahre der Entwicklungspolitik der
Bundesregierung. Ich möchte an dieser Stelle der Ministerin für ihr Engagement und ihr ständiges Treiben und
auch der Bundesregierung herzlich dafür danken, dass wir
schon so weit gekommen sind.
({9})
Adelheid Trösche
Dies ist bedeutend mehr als das, was die Opposition in
dieser Woche als entwicklungspolitische Leitlinien vorgestellt hat. Ich dachte, ich hörte hier heute ein wenig
mehr. Es handelte sich eher um Nachrichten aus dem
Rüttgers-Klub:
({10})
vollmundig im Titel, aber inhaltlich konzeptionslos, inkonsequent, widersprüchlich und provinziell.
Erstens kritisiert die Union allen Ernstes unser
Bemühen zur Haushaltskonsolidierung. Richtig ist, dass
das BMZ wie alle anderen Ressorts einen Sparbeitrag zur
Haushaltskonsolidierung erbringen musste.
({11})
Wäre die Vorgängerregierung - ich bin es eigentlich leid,
das immer wieder zu sagen - mit den öffentlichen Mitteln
genauso verantwortungsbewusst umgegangen wie wir das
jetzt tun, stünde auch die Entwicklungspolitik besser da.
({12})
Ich kann diese Leier einfach nicht mehr hören! Ich warte
auf neue Konzeptionen.
({13})
- Dann hören Sie doch auf damit!
Wie die Pläne der Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul zeigen, sind diese Einschnitte durchaus
eine Chance, die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. Gerade die angestrebte Konzentration in der bilateralen Zusammenarbeit auf Schwerpunktländer, die besonders unserer Hilfe bedürfen, ist ein gutes
Beispiel dafür, wie man mehr Effizienz erreichen kann.
Natürlich kann man an der Länderliste noch herumnörgeln - das eine passt dem einen nicht, das andere dem anderen nicht -, aber gezielte Maßnahmen machen mehr
Sinn, als dass jeder Geber alles überall macht.
({14})
Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen bilateralen Gebern, EU und multilateralen Nationen ist daher notwendig. Dies entspricht auch einer schon vor langer Zeit erhobenen Forderung aus dem Parlament: nicht Gießkanne, sondern Konzentration. Frankreich hat übrigens
50 Schwerpunktländer. Bei uns hätte dies schon längst geschehen müssen. Wenn Sie entsprechende Vorschläge in
der Schublade hatten, Herr Hedrich, dann frage ich mich,
warum Sie sie nicht umgesetzt haben.
({15})
Zweiter Punkt. Die Union kritisiert die Aufnahme der
staatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Oder
wie es der Kollege Hedrich ausdrückt - so war es jedenfalls im Berliner „Tagesspiegel“ nachzulesen -, die Ministerin solle nicht nach Kuba reisen, denn damit stärke
sie bewusst das kubanische Gewaltregime.
({16})
Dann, Herr Kollege Hedrich, stärken auch Kirchen,
politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen,
die sich auf Kuba engagieren, das kubanische Gewaltregime. Dann stärken auch der Kollege Kraus, der Kollege
Günther und ich, die Kuba besucht haben, das Gewaltregime. Wir waren im Januar auf Kuba und haben ganz
deutlich gegen die Verletzungen der Menschenrechte
Stellung bezogen. Wir waren gemeinsam der Ansicht,
dass ein Wandel nur geschehen kann, wenn sich unsere
Länder annähern. Heute morgen haben wir schon gehört,
was Herr Henkel in diesem Zusammenhang gesagt hat.
Erst vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung
eine Altschuldenregelung mit Kuba getroffen. So werden
Hermes-Bürgschaften erst möglich. Erst jetzt wird sich
die deutsche Wirtschaft auf Kuba engagieren. Vorher hat
sie es nicht getan.
Richtig ist: Ohne politische und wirtschaftliche Reformen und eine sie von außen unterstützende Politik wird es
auf Kuba keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Verbesserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölkerung geben.
({17})
Nachhaltige Entwicklung braucht die unterstützende Politik von außen. Das gilt auch für viele andere Entwicklungsländer. Ich denke, wir sind hier auf einem guten
Weg. Im Übrigen: Andere EU-Staaten und Kanada versuchen schon seit langem, besseren Kontakt zu Kuba herzustellen.
({18})
Es gibt außerdem eine UN-Resolution gegen das Embargo der USA. Ich denke, wir sollten uns dieser Initiative
jetzt aktiv anschließen.
({19})
Dritter Punkt: ziviler Friedensdienst. Die Union beklagt ihn als Musterbeispiel für Effekthascherei, der nicht
zur langfristigen Wahrung unserer Interessen beitrage.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn wir begreifen Entwicklungspolitik auch als aktive Gestaltung von Friedenspolitik. Da spielt das neue Instrument des zivilen Friedensdienstes eine gewichtige Rolle, weil wir durch speziell
ausgebildete Fachkräfte vor Ort einen Beitrag zur Mediation und Vermittlung leisten wollen.
({20})
In diesem Bereich sind die NROs besonders engagiert.
Wir unterstützen sie bei der Gestaltung dieses aktiven
Friedensdienstes.
Vierter Punkt. Welch ein Unsinn, der Bundesregierung
Ressortscheuklappen vorzuwerfen! Wir waren es doch,
die jahrelang gefordert haben, Entwicklungspolitik als
Adelheid Trösche
Querschnittsaufgabe zu definieren und zu einer kohärenten Verankerung dieses Politikfeldes zu kommen. Unsere
zahlreichen Anträge dazu haben Sie alle abgelehnt.
Fünfter Punkt. Das starre Korsett der Struktur des
Einzelplanes 23 müsse reformiert werden. Ich erinnere
mich an viele Diskussionen und Debatten, in denen der
Kollege Schuster immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen hat. Wir haben gemeinsam für Reformen
gekämpft. Da klingt es schon abenteuerlich, wenn der
Kollege Hedrich vom Saulus zum Paulus wird. Sie haben
jahrelang die Chance für wirksame Reformen vertan.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Leitlinien der CDU sind vor allem aus einem
Grund schlimm: Nicht nur, dass wichtige Entwicklungen
der entwicklungspolitischen Diskussion nicht aufgegriffen werden, dass Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit kaum Gewicht erhalten und Gender- und Gleichberechtigungsfragen überhaupt nicht thematisiert werden,
nein, am Schlimmsten ist eigentlich, dass das Wort
„Frauen“ überhaupt nicht vorkommt.
({22})
Wer aber entwicklungspolitische Prozesse positiv gestalten will, der kommt nicht daran vorbei, festzustellen,
dass es die Frauen sind, die den Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung in den Händen halten.
({23})
Insofern hat das Papier der CDU wahrlich Rüttgers-Niveau. Es ist inkonsequent und widersprüchlich, enttäuschend dünn und inhaltlich konzeptionslos.
Kollegin Tröscher, Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.
({0})
Ich komme zum Schluss.
Wir vollziehen mit der heutigen erstmaligen Regierungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit einen
symbolischen Akt. Die Entwicklungspolitik steht, wie andere Politikfelder auch, vor der Aufgabe, ihre Rolle im
Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Ihre
gesellschaftliche und internationale Akzeptanz hängt von
einer realistischen Einschätzung ihrer Reichweite ab.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Das haben wir
schon bis jetzt gemacht; wir sollten es auch weiterhin tun.
Danke sehr.
({0})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Erika Reinhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
In den Reden hier ist
immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, dass man
mit Kuba nun endlich eine wirtschaftliche Zusammenarbeit beginnt. Jetzt habe ich doch einmal die Frage, ob denn
Ihre Anträge, die Sie einmal gestellt haben, noch gelten.
So haben Sie damals in einem Antrag die Regierung
aufgefordert, zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein,
weil das als Unterstützung der Diktatur verstanden werden könne. Allenfalls, so heißt es weiter, könnten Projekte
- insbesondere über Nichtregierungsorganisationen gefördert werden, die direkt der Not leidenden Bevölkerung, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften
und Reformen zugute kommen. In jedem Fall müsse die
Demokratisierung vorangehen.
All diese Punkte sind bis jetzt nicht erfüllt. Deshalb
stellt sich für mich schon die Frage: Haben Ihre eigenen
Worte noch Geltung?
({0})
Kollegin Tröscher,
Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Ich kann das kurz
machen. - Der Antrag, den Sie zitieren, ist vielleicht vor
100 Jahren gestellt worden. Aber es gibt ja Entwicklungen, denen wir uns öffnen. Zu Kuba haben wir
jetzt einen Antrag gestellt, der dem von Ihnen zitierten diametral entgegensteht. Ich kenne den Antrag, den Sie zitiert haben, nicht.
Wir unterhalten auch Beziehungen zu vielen anderen
Staaten - insbesondere afrikanischen -, die Diktaturen
sind. Wir hoffen, durch Zusammenarbeit, durch Entwicklung der Zivilgesellschaft eine Annäherung zu erreichen
und dazu beizutragen, dass sich diese Länder demokratisieren. Diesen Freiraum wollen wir nutzen. Das tun wir
im Falle Kuba in der nächsten Zeit.
Auch bei Ihnen gibt es viele, die so denken wie wir,
was das Embargo der USA gegenüber Kuba und die Entwicklungsmöglichkeiten dort anbelangt. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg und sollten der Ministerin
Glück wünschen, damit sie ein Stück weiterkommt.
({0})
Nun hat Kollege
Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich kann bei sehr vielem an
das anknüpfen, was die Frau Ministerin hier ausgeführt
hat, und will das mit meinen Intentionen machen.
Für mich ist sicher, dass das krasse Missverhältnis zwischen Armut und Reichtum, zwischen Einfluss und
Ohnmacht, zwischen kultureller Dominanz und der Zerstörung nationaler Kulturen auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist - und, so will ich dazu setzen, auch nicht
Adelheid Trösche
aufrechterhalten werden darf. 1,4 Milliarden Menschen jeder Vierte - leben heute unterhalb der Armutsgrenze,
aber das Vermögen der drei reichsten Männer der Welt ist
größer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Diese 48 Länder, in denen ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt, haben einen Anteil von nur 0,3 Prozent am
Welthandel; der ganze afrikanische Kontinent 1,1 Prozent. Die Länder der so genannten Dritten Welt sind mit
2 170 Milliarden US-Dollar verschuldet.
Ich finde, wer von Armut spricht, darf über Reichtum
nicht schweigen. Dieser Teil fehlte etwas in der Rede der
Ministerin;
({0})
deswegen will ich das ergänzen: Täglich werden Devisen
mit einem Gegenwert von 1,5 Billionen US-Dollar auf
den Finanzmärkten umgesetzt, was etwa dem Gesamtvolumen der Devisenbestände aller Zentralbanken der Welt
entspricht. 97 Prozent dieser Umsätze haben nichts mit
Produktion zu tun, sondern sind rein spekulativ, und
80 Prozent der Kapitalbewegungen haben eine Anlagedauer von weniger als sieben Tagen.
Oder werfen wir einen Blick auf die ständig wachsende
Macht der transnationalen Konzerne: 10 Prozent aller Beschäftigten auf der Erde - die Landwirtschaft ausgenommen - arbeiten bei einem der 44 000 transnationalen Unternehmen. Das Volumen der weltweiten Übernahmen
und Fusionen betrug 1999 3,1 Billionen Dollar.
All dies lastet besonders auf den Menschen der so genannten Dritten Welt. Dies sind die Probleme der Entwicklung. Wenn sie nicht gelöst werden, drohen viele der
Konflikte in gewaltsame Auseinandersetzungen umzuschlagen.
34 Kriege wurden schon 1999 gezählt. Denken wir gemeinsam an Angola, Kongo, Äthiopien, Eritrea, denken
wir an die Kaschmir-Region oder den Kaukasus.
Soziale Wohlfahrt und ökologische Vernunft sind auch
ein Weg, um Krieg zu vermeiden und Gewalt zu bekämpfen - ich finde, der beste Weg.
({1})
Vieles von dem, was ich angesprochen haben, wird in
den armen Zonen der Welt ausgetragen, hat aber seine Ursachen in der Politik der reichen Zonen der Welt. Ich habe
den Eindruck, dass zwei Begriffe für fast alles Unvernünftige zur Rechtfertigung herangezogen werden: „Globalisierung“ und „Markt“. Oder zusammengezogen: die
Bedingungen der globalisierten Märkte. Nur stehen hinter
den anonymen Begriffen „Globalisierung“ und „Markt“
konkrete Interessen. Auch über diese darf man nicht
schweigen.
Frieden durch Entwicklung bedarf einer anderen
Außenpolitik. Sie muss auf wirtschaftlichen Ausgleich,
auf Recht und Zivilität setzen. Frieden und Entwicklung
fordern eine Veränderung der Politik des Internationalen
Währungsfonds und der Weltbank, Schuldenerlass und
eine stärkere Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Seitdem ein bestimmter Kollege in diesem Parlament fehlt, werden ja diese Probleme auch von den
Regierungskoalitionsparteien nicht mehr angesprochen,
was ich bedauere. Beides bedauere ich, will ich dazu sagen.
({2})
- Ich habe den Namen nicht genannt. Ihr wisst ja, wen ich
meine.
Wer Frieden durch Entwicklung will, darf sich aus meiner Sicht nicht an Rüstungsexporten beteiligen. Das widerspricht dem.
Frieden durch Entwicklung verträgt sich aus meiner
Sicht nicht mit einer unipolaren Welt, in der die USA das
erste und das letzte Wort haben. Wenn sich Frieden durch
Entwicklung durchsetzen soll, muss sich die Politik ändern, auch und gerade ,wie ich finde, die Außenpolitik unseres Landes.
Ich möchte abschließend zwei kurze Bemerkungen zu
den vorliegenden Anträgen machen. Zuerst will ich ein
Dilemma ansprechen, das ich bei dem Entschließungsantrag Regierungsfraktionen sehe. Erstens stellen wir in
Rechnung, dass wir eine in dieser Frage engagierte
Ministerin haben.
({3})
Wir wollen nicht, dass die Widerstände gegen sie größer
werden. Sie hat genügend Probleme, auch in ihrer Partei,
sich durchzusetzen.
({4})
- Das weiß man doch.
Zweitens: Der Antrag ist analytisch gut und in seinen Forderungen mehrheitlich vernünftig. Wenn Sie etwas weniger Eigenlob hineingeschrieben hätten - lassen Sie sich
doch einmal von anderen loben, anstatt sich immer selbst
zu loben -,
({5})
wenn Sie in diesem Antrag klarer „Nein“ zu Rüstungsexporten gesagt hätten, hätte man ihm zustimmen können.
So bleibt nur eine Enthaltung.
Jetzt gibt es keine Kürnote, aber ich möchte doch sagen: Was die Ministerin angeht, meinerseits eine lobende
Enthaltung.
({6})
Ich fand die Rede, die hier gehalten wurde, auch bemerkenswert.
({7})
- Dann braucht sie sich ja nicht selbst zu loben.
Ein letzter Satz zu Kuba: Das, was ich hier von Kollegen der CDU gehört habe, ist wirklich politische Steinzeit
oder Eiszeit.
({8}) - Dr. Christian
Ruck [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)
Jeder hier im Hause weiß doch - wir wissen es alle, reden
wir doch einmal darüber! -, dass das US-Embargo gegen
Kuba weder sinnvoll noch moralisch gerechtfertigt und
durchzuhalten ist.
({9})
Wenn die deutsche Politik hier einen anderen Weg geht,
dann werden demokratische Entwicklungen gestärkt und
gestützt, dann gibt es eine kooperative Zusammenarbeit.
So souverän wie Italien oder Spanien sollte auch die deutsche Politik gegenüber Kuba sein.
Etwas mehr Mut, trauen Sie sich, Frau Ministerin! Eine
gute Reise und viel Erfolg in Kuba!
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Tobias Marhold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem sich die Diskussion um die ITFachkräfte in Nordrhein-Westfalen ja offensichtlich nicht
zum Stimmensammeln geeignet hat,
({0})
möchte ich dieses Thema in einen ganz anderen Zusammenhang stellen, den der Entwicklungspolitik.
Es erscheint Ihnen vielleicht ungewöhnlich, wenn ich
in der entwicklungspolitischen Debatte von neuen Technologien spreche. Doch wird der Zusammenhang schnell
klar, wenn wir uns die in den letzten Jahren merklich gewandelte Definition von Armut betrachten.
Armut ist nicht allein als Mangel an Nahrung, Einkommen und finanziellen Ressourcen zu verstehen, sondern beinhaltet auch den fehlenden Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Gesundheitsdiensten, politischer Partizipation, Dienstleistungen und Infrastruktur.
({1})
Sprechen wir in diesem Zusammenhang von dem Ziel
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die Entwicklungsländer in den Weltmarkt zu integrieren, muss
der Bildung besondere Aufmerksamkeit zukommen;
denn ohne gut ausgebildete einheimische Fachkräfte in
ausreichender Anzahl kann sich in Zukunft kein Land in
unserer globalisierten Welt im zunehmenden Wettbewerb
behaupten.
({2})
Das sehen wir zurzeit nur allzu deutlich an den entsprechenden Diskussionen in unserem eigenen Land. Den
Staaten des Südens muss daher der Zugang zu Informationen über das internationale Netzwerk anhand von
Technologietransfers ermöglicht werden. Bildung ist dabei ein Schlüsselelement der nachhaltigen Armutsbekämpfung.
({3})
Damit steht die Entwicklungszusammenarbeit vor
zwei großen Herausforderungen: die Basisversorgung der
Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu sichern sowie im Bildungsbereich die Alphabetisierung voranzutreiben und gleichzeitig die Ausbildung von Fachkräften,
vor allem in der Informationstechnik, auf hohem Niveau
zu ermöglichen.
Die neuen Technologien bieten dabei den Ländern des
Südens eine einmalige Chance; denn in den Schlüsselbranchen wie beispielsweise dem Maschinenbau oder der
chemischen Industrie haben die weniger entwickelten
Länder keine Möglichkeit mehr, den gewaltigen Vorsprung der Industrienationen aufzuholen. Hingegen eröffnen sich für alle Staaten dieser Welt durch die Informationstechnologien völlig neue Perspektiven, übrigens auch
für Deutschland, das ebenso erst am Anfang dieses Entwicklungsprozesses steht.
Sicher ist es wichtig, den Menschen langfristig eine
Grundversorgung, wie Nahrung, sauberes Wasser und
eine Grundbildung, zu garantieren, aber genauso notwendig - oder zukünftig noch wichtiger ist es, ihnen den Anschluss an die Zukunftsbranche der Welt zu ermöglichen.
({4})
Dabei bietet das weltweite Datennetz Möglichkeiten, denen selbst Deutschland bis vor kurzem noch nicht den
richtigen Stellenwert beigemessen hat.
Lassen Sie mich folgendes Beispiel nennen: Das vom
BMZ finanzierte Alumni-Programm für ehemalige Studierende aus Entwicklungsländern erlaubt durch den Einsatz der neuen Kommunikationstechnologie, der AlumniEntwicklungsländer-Datenbank des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, einen intensiven Informationsaustausch, der es ausländischen Studierenden trotz
der Rückkehr in ihre Heimatländer ermöglicht, am notwendigen Wissensaustausch teilzunehmen.
Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir bei dieser
Diskussion nicht vergessen: Mit der Verbreitung des Internets kann der Abwanderung der Fachkräfte nach Europa und in die USA wirksam entgegengesteuert werden,
denn durch die vernetzte Welt ist es unerheblich, ob eine
Fachkraft aus Bolivien oder aus München agiert.
Auch müssen wir uns gerade im Bereich der Informationstechnologie für ein verstärktes, auch finanzielles Engagement der Privatwirtschaft einsetzen. Instrumente
wie die Public Private Partnership, also die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und der privaten
Wirtschaft, bieten dabei gute Voraussetzungen.
Meine Damen und Herren, wir müssen also das eine
tun, ohne das andere zu lassen. Arbeiten wir an der Verwirklichung der weltweiten Grundversorgung aller Menschen und fördern wir gleichzeitig eine Entwicklung auf
hohem technologischen Niveau, um den betroffenen Staaten eine Perspektive aus eigener Kraft zu eröffnen!
({5})
Haben diese Länder im IT-Bereich erst einmal Fuß gefasst
und sich dadurch weitere Einnahmequellen erschlossen,
ist dies ein zusätzlicher Meilenstein bei dem Kampf um
ihre finanzielle Unabhängigkeit von den reichen Industrieländern. Unserer Unterstützung können sie sich dabei
sicher sein.
Darüber hinaus bieten die neuen Technologien eine
weitere Chance, die oft vergessen wird und die für mich
besonders wichtig ist, nämlich die Einbeziehung des
großen Potenzials der Frauen dieser Länder. Wie wir alle
wissen, liegt die Zukunft der Entwicklungsländer maßgeblich in den Händen der Frauen.
({6})
Gerade die Frauen sind es aber, die überproportional von
Armut betroffen sind. Verantwortlich für die Kinderversorgung tragen sie zusätzlich noch die Haupterwerbslast.
Es ist allseits bekannt, dass in den Ländern, in denen
Frauen am besten gebildet sind, die Entwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche am weitesten fortgeschritten ist.
Das hat unter anderem auch positive Auswirkungen auf
die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damit
auf eine geringere Kindersterblichkeit und eine geringere
Anzahl von Geburten und Krankheiten.
Frauen haben jedoch in den männerdominierten Gesellschaften in technischen Arbeitsfeldern kaum eine Gelegenheit, eine Ausbildung zu erhalten. Wenn man aber in
Zukunft von jedem Punkt der Erde ohne großen technischen Aufwand kommunizieren und Dienstleistungen erbringen kann, schafft das auch für Frauen eine realistische
Berufsperspektive. Deshalb müssen Frauen nicht nur bei
Projekten der Armutsbekämpfung, sondern verstärkt auch
bei der qualifizierten Ausbildung einbezogen werden.
({7})
Ziel unserer Politik muss daher sein, jedem Land die
Möglichkeit zu geben, sich auf die globalisierte Welt, die
vom technologischen Fortschritt vorangetrieben wird,
vorzubereiten. Da stehen wir in Deutschland und Europa
ganz klar in einer besonderen Verantwortung, übrigens
gerade gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Denn
wer, wenn nicht wir, muss heute handeln?
Genau wie bei der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit muss auch in der EU-Entwicklungszu-sammenarbeit der Bildung und Ausbildung stärkeres Gewicht zukommen. Der jetzige Zeitpunkt ist günstig, da auf
der europäischen Ebene über eine neue Strategie für die
gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit diskutiert
wird. Eine ressortübergreifende Abstimmung aller außenpolitischen Instrumente ist daher geboten. Nationale Eitelkeiten einzelner Mitglieder der Europäischen Union
haben da keinen Platz.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafür
sorgen, dass die Staaten des Südens im internationalen
Wettbewerb eine faire Chance erhalten. Wenn wir heute
handeln, profitieren auch wir in Zukunft von der gestärkten Position der Entwicklungsländer. Denn Prävention ist
immer besser und natürlich für unsere Haushalte auf
Dauer leichter zu verkraften.
Die Bundesrepublik Deutschland muss dafür Sorge
tragen, dass die in den Entwicklungsländern vorhandenen
Potenziale zur Elitenbildung ausgeschöpft werden, und
muss die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften
unterstützen.
({9})
Die neuen Technologien dürfen nicht an den armen Ländern vorbeigehen. Das würde zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Position auf dem Weltmarkt führen
und sie für immer an das untere Ende der Staatengemeinschaft verbannen. Arbeiten wir daran, dass der nächste
Bill Gates - besser: eine entsprechende Frau - aus Kamerun kommt!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Dies war die erste
Rede des Kollegen Marhold. Herzliche Gratulation!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Ruck,
CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! „Frieden braucht Entwicklung“ - dieses Motto kann jeder von uns unterschreiben.
Leider müssen wir konstatieren, dass uns die Entwicklungsprobleme auch im neuen Jahrtausend treu geblieben
sind und uns auch ins neue Jahrtausend gefolgt sind.
Aber mit der Globalisierung kommt ein neuer Akzent
hinzu. Globalisierung ist eigentlich die weltweite Vernetzung der Leistungsfähigen. Das ist auch für viele Entwicklungsländer eine große Chance. Die Entwicklungsländer insgesamt haben beim Anteil am Welthandel doppelt so viel erreicht wie der Rest der Welt.
Aber nicht alle Entwicklungsländer sind positiv betroffen. Die Globalisierung geht an Hunderten Millionen
von Menschen der Entwicklungsländer spurlos vorbei. Im
neuen Jahrtausend steckt darin das Risiko, dass sich die
sozialen Konflikte innerhalb der Länder vergrößern, statt
sich zu verringern, dass sich Migrationsbewegungen verstärken, statt zu verebben, dass Stellvertreterkriege ganz
neuer Art ausbrechen, Ordnungsrahmen von gewählten
Demokratien unterminiert werden und der Druck auf die
natürlichen Lebensgrundlagen weiter zunehmen wird.
Vor diesem Hintergrund sind für die Entwicklungspolitik drei Elemente von größter Bedeutung: Erstens der
Aufbau und die Durchsetzung verlässlicher internationaler Spielregeln mit sozialer und ökologischer Verantwortung; darauf ist schon hingewiesen worden. Zweitens. Es
müssen in der internationalen Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit im Rahmen des Globalisierungsprozesses
die richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt werden.
Drittens die Einflussnahme im Interesse von Good Governance.
Darauf ist die Politik der rot-grünen Bundesregierung
abzuklopfen. Hier sieht es trotz Lob und Eigenlob noch
sehr mager aus. In puncto internationale Spielregeln ging
die Debatte um eine Reform der Welthandelsordnung an
Deutschland vorüber, obwohl wir eigentlich mit der sozialen Marktwirtschaft ein Erfolgsmodell anzubieten hätten, das auch international tauglich wäre.
({0})
Bei der Diskussion über Weltbank und IWF produzierte die Bundesrepublik zwar Schlagzeilen, aber nur
beim stümperhaften Kampf um den Chefsessel beim IWF.
Die Vereinte-Nationen-Politik der Bundesregierung
siecht in Wirklichkeit genauso dahin wie die Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen selbst. Das einzig Bemerkenswerte war, dass neben viel Überflüssigem wirklich vernünftige Programme und Projekte, zum Beispiel
der Bevölkerungsfonds der UN, von uns zusammengestrichen wurden.
Auch bei der internationalen Entschuldungskampagne, die Sie sich, Frau Ministerin, etwas übertrieben ganz
allein auf Ihre Fahnen heften, gratulieren wir erst dann,
wenn die Ernte eingefahren ist. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ihr gestriger Beitrag, den ich nur am Fernseher verfolgen konnte - daher konnte ich leider nicht eingreifen ({1})
reizt mich natürlich sehr. Sie haben gesagt, eine Entschuldung gebe es erst seit dem Zeitpunkt, seitdem Sie
Ministerin seien. Das ist nachweislich falsch. Denn die
Wahrheit ist, dass das jetzt Geplante - wir stehen dahinter
und wünschen dazu viel Erfolg - bisher nur zu Luftbuchungen geführt hat. Es ist noch keine einzige müde Mark
geflossen. Wir stehen zwar zum Beispiel bei Bolivien und
Uganda ante portas. Aber es ist noch nichts umgesetzt
worden, wohingegen unter Ihren Vorgängern - das sollte
man der Ehrlichkeit halber bei solchen Diskussionen erwähnen - 9 Milliarden DM erlassen wurden.
({2})
Auch beim zweiten Punkt, bei der sachlichen Schwerpunktsetzung, ist Kritik angebracht. Es ist richtig, dass das
Wasser zum Schwerpunktthema geworden ist; aber das
hat noch die alte Bundesregierung eingeleitet.
Der Zivile Friedensdienst, so fürchte ich, wird ein
Flop; denn das, was er leisten kann, gibt es schon, und das,
was er eigentlich leisten müsste, nämlich in einem
gefährlichen und gewalttätigen Umfeld Frieden stiften,
kann er nicht.
Entscheidend hinsichtlich Ihrer Schwerpunktsetzung
ist aber, dass die kurz- und mittelfristige Kürzungsorgie
im BMZ-Haushalt ausgerechnet die Felder trifft, die als
Globalisierungshilfe von zentraler Bedeutung wären,
({3})
zum Beispiel die Armutsorientierung, die Bildung, Herr
Marhold, die Sozialstrukturhilfe und die Bevölkerungsund Umweltpolitik. Vor dem Hintergrund der Globalisierung müssten wir eigentlich die Selbsthilfekräfte der Benachteiligten besonders stärken, die Funktionsfähigkeit
von Staat, Demokratie und Verwaltung und den Kampf
gegen Umweltkatastrophen. Sie aber erreichen durch die
Kürzungen genau das Gegenteil. Wir stehen hinter Ihnen,
wenn Sie sich in Zukunft im Trend gegen diese Kürzungen aussprechen. Wenn Sie dagegen kämpfen, kämpfen
wir mit Ihnen.
Auch nach Ihren vollmundigen Ankündigungen nach
Ihrer Amtsübernahme reizt es einmal mehr, die Wahrheit
zu beleuchten; das haben Sie gestern Abend weniger getan. Frau Tröscher, dass Sie vom Haushalt nichts mehr
hören wollen, kann für uns natürlich nicht Leitfaden der
Politik sein. Die Behauptungen, an den Haushaltskürzungen sei die vorhergehende Regierung schuld, sind einfach falsch. Die Haushaltskürzungen sind erstens Schuld
der falschen Schwerpunktsetzung der jetzigen Regierung
und zweitens Schuld des ehemaligen Finanzministers
Lafontaine, der einmal schnell 30 Milliarden DM verfrühstückt hat.
({4})
Diese 30 Milliarden DM sind der eigentliche Grund dafür,
warum Ihr Haushalt in Schwierigkeiten ist.
Auch die Zahlen, die gestern genannt worden sind, sind
falsch. Während unserer Regierungszeit - das war
schmerzlich genug - mussten wir von 1993 bis 1998 Kürzungen von 8,2 Milliarden DM - das war die Rekordhöhe -auf 7,9 Milliarden DM hinnehmen. Nach der mittelfristigen Finanzplanung wäre eine weitere Absenkung
des Plafonds um 36 Millionen DM erfolgt. Und was machen Sie? - Sie kürzen die Mittel in einem Jahr um
8,7 Prozent und die Plafondabsenkung beträgt nicht
36 Millionen DM, sondern 960 Millionen DM. Das kann
doch wohl nicht unsere Schuld sein.
Deswegen fordern wir die Einlösung Ihres nächsten
Versprechens - Sie haben gestern gesagt: Was wir zugesagt haben, packen wir an -, nämlich mehr Geld für die
Entwicklungshilfe und nicht weniger. Wir fordern auch
eine Weiterentwicklung der Inhalte und Instrumente, zum
Beispiel ein Sektorprogramm zur Reform und Stärkung
des öffentlichen Dienstes, eine konsistente Energiekonzeption für Entwicklungsländer und die Einrichtung einer
politischen Notfallhilfe, mit der viel schneller als bisher
politische Hilfestellung geleistet werden kann.
Was die Diskussion um die Länderkonzentration anbelangt, so hat Herr Hedrich dazu schon das Wesentliche gesagt. Ich halte den bisherigen Verlauf der Abgrenzung für
schädlich. Es gibt ein wirklich gutes Abgrenzungskriterium, mit dem man gleichzeitig die Arbeitsteilung mit der
EU voranbringen könnte, und zwar die Absorptions-,
Regulierungs- und Koordinationsfähigkeit von Entwicklungsländern.
({5})
Dieses Kriterium ist logisch und nachvollziehbar und
richtet außenpolitisch keinen Schaden an.
Ein außenpolitischer Schaden aber tritt ein, wenn
ausgerechnet die Zusammenarbeit mit Schwellenländern,
zum Beispiel mit Malaysia und Argentinien, eingestellt
wird. Wir sind es doch, die von diesen Ländern etwas wollen, nicht umgekehrt. In Malaysia zum Beispiel wollen
wir den Tropenwald retten. Wenn wir die Zusammenarbeit mit diesen Ländern aufgeben, haben wir uns jede
Möglichkeit der Einflussnahme genommen.
Das ist der dritte und ebenfalls entscheidende Punkt:
die Einflussnahme auf Good Governance. Auch dazu
gibt es Kritik. Zum einen gibt es in dem AKP-Abkommen
einen Punkt, wo wir und auch Sie sich nicht entscheidend
durchgesetzt haben, nämlich in der Frage der Sanktionen.
Das ist innerhalb der EU eine offene Flanke. Zudem bedeuten die Kürzungen im BMZ-Haushalt, vor allem in der
FZ: weniger Geld, weniger Einfluss. Die Entschuldung
wiegt das in keiner Weise auf.
Nehmen wir einmal an, die Entschuldung kommt
wirklich zustande, was wir alle hoffen! Dann stehen
960 Millionen DM weniger im Haushalt. Dem stehen 60
bis allenfalls 80 Millionen DM entgegen, die Sie den Entwicklungsländern aus der Entschuldung pro Jahr praktisch geben. Sie kürzen also um das Zehnfache dessen,
was die Entwicklungsländer durch die Entschuldung bekommen. Da kann man wirklich nicht von einem fairen
Deal sprechen.
({6})
Lassen Sie mich auch noch das Folgende sagen. Wir
kritisieren die mangelnde Unterstützung des BMZ und
dessen Entwicklungspolitik durch das Auswärtige Amt
und andere Ressorts. Bezeichnenderweise war ja zu Beginn der Debatte, als Sie, Frau Ministerin, sprachen, kein
einziger von Ihren Kollegen im Raum.
({7})
Beim Einzug in das Außenministerium haben die grünen
Chefs ihren umweltpolitischen Anspruch abgelegt. Auch
wenn sich die Umweltsituation gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern dramatisch zuspitzt und
selbst viele unserer eigenen, ökologisch orientierten Entwicklungsprojekte politisch hochgradig gefährdet sind:
Fischer und Volmer riskieren dazu diplomatisch nichts.
Das gilt leider auch für Afrika. In der Tat sind viele
afrikanische Politiker dabei, jede Glaubwürdigkeit, jedes
Renommee und auch jede politische Existenzberechtigung zu verspielen. Was sich in Äthiopien und Eritrea
abspielt, ist zynisch und unverschämt.
({8})
Frau Ministerin, es sind nicht nur die Industrienationen,
die dorthin Waffen verkaufen. Es ist vor allem Russland,
({9})
das von Verkäufen an beide Seiten profitiert hat und den
Sanktionsbeschluss so lange hinausgezögert hat, dass
beide Seiten genug Waffen haben, um noch jahrelang weiter kämpfen zu können. Das ist ein Skandal, der von uns
nur außenpolitisch bekämpft werden kann.
({10})
Genauso zynisch sind das Kriegsengagement einer
ganzen Reihe von armen Staaten in Krisengebieten, das
Aufhetzen zur rassistischen Gewalt in Simbabwe und die
traurige Solidarität mit diesen gefährlichen Vorgängen
auch durch den südafrikanischen Staatspräsidenten. Das
muss man auch sagen; das hat mich ebenfalls enttäuscht.
Ich werfe der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und
dem Bundesaußenminister zuvörderst vor, dass sie für den
Frieden und die Entwicklung in Afrika nichts riskieren,
was diplomatisch und politisch wehtun könnte, dass es
auch kein Afrika-Konzept gibt, das diesen Namen verdient. Joschka Fischer schließt fünf Botschaften in Afrika
und joggt dann werbewirksam durch die Pyramiden von
Giseh. Das ist meiner und unserer Ansicht nach zu wenig.
({11})
Diese Unkollegialität gegenüber der Entwicklungspolitik wird nur noch durch das Finanzministerium in den
Schatten gestellt, insbesondere durch die Person des
Staatssekretärs Overhaus und die Art und Weise, wie er
die Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe „Villa
Borsig“ - die Insider wissen, wovon ich spreche - abgebürstet hat. Ich glaube, dass deshalb der AWZ ein Recht
darauf hat, dass Finanzminister Eichel uns einmal persönlich Rede und Antwort steht und uns in Zukunft einen
Gesprächspartner aus seinem Hause mitgibt, der die Entwicklungspolitik nicht ruinieren will.
Kollege Ruck, Ihre
Zeit ist schon deutlich überschritten.
Dann fasse ich zusammen:
({0})
Gegen Ihre symbolischen Gesten, Frau Ministerin, habe
ich nichts einzuwenden; Ihre werbewirksamen Auftritte
sind wichtig, damit man Entwicklungspolitik begreiflich
machen kann. Wir haben auch nichts gegen flotte
Sprüche. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass entgegen allen vollmundigen Ankündigungen die
deutsche Entwicklungspolitik durch Rot-Grün in eine
Krise gestürzt wurde und den wachsenden Herausforderungen derzeit nicht gerecht werden kann.
({1})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Heidemarie
Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an die Adresse derer,
die mich angesprochen haben, Folgendes sagen. Ich beziehe mich zunächst auf die Frage der Entschuldungsinitiative. Ich finde, die Probleme, die ich heute angesprochen habe, sind so groß, dass wir die Diskussion
wirklich nicht im Kleinklein führen sollten. Vielmehr
sollten wir sie so führen, dass wir gemeinsam Ergebnisse
erzielen können.
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Sie
haben uns vorgeworfen, dass wir eine Entschuldungsinitiative im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar haben
mobilisieren können und dass das den deutschen Bundeshaushalt vergleichsweise wenig belastet. Ich finde, das ist
kein Vorwurf. Mit einem vergleichsweise nicht so hohen
Anteil haben wir ein Maximum für die Menschen in der
Welt erreicht. Das kann doch kein Vorwurf an uns sein.
Wir haben uns doch sinnvoll und richtig verhalten.
({0})
Ein zweiter Punkt. Ich danke den Kollegen, die versucht haben, sachlich zur Frage der Länderliste zu diskutieren. In entwicklungspolitischen und außenpolitischen Fragen setzen die Menschen in der Welt auf Kontinuität und Verlässlichkeit. Bitte lassen Sie uns die
Länderliste sachlich diskutieren.
Ich habe wirklich nicht verstanden, Herr Kollege
Hedrich, worin Ihr Vorwurf besteht. Sie haben einerseits
behauptet, wir hätten nicht frühzeitig genug die Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe eingestellt. Anschließend haben Sie uns vorgeworfen, wir hätten es nicht
als Partnerland mit aufgeführt. Was ist denn jetzt Ihr Vorwurf? Sie müssen doch an dieser Stelle die Auswirkungen
entsprechend mit bedenken.
Ich möchte den Sachverhalt klarstellen. In Bezug auf
Simbabwe haben wir die Entwicklungszusammenarbeit
im finanziellen Bereich zu dem Zeitpunkt eingefroren,
als sich Simbabwe in den Kongokrieg eingeschaltet hat,
also schon weit früher. Was wir durchführen - dazu stehe
ich -, sind die Projekte, die der armen Bevölkerung nutzen. Unser Prinzip ist: Wir werden die arme Bevölkerung
nicht für ihre schlechte Regierung bestrafen, und das werden wir auch durchhalten.
({1})
Wir haben Simbabwe selbstverständlich als potenzielles
Partnerland mit genannt.
Zu Herrn Ruck: Sie hatten, als im Zusammenhang mit
Lomé zwischen EU- und AKP-Staaten verhandelt wurde,
die Chance, die Frage der verantwortungsvollen Regierungsführung zu verankern. Ich lege Wert darauf, dass
unter unserer Verhandlungsführung im Abkommen zwischen der EU und den afrikanisch-karibisch-pazifischen
Ländern das Prinzip der verantwortungsvollen Regierungsführung verankert worden ist. Damit wird deutlich, dass in Fällen - das ist jedem AKP-Staat klar schwerer Korruption im Land selbst die Möglichkeit der
Unterbrechung der finanziellen Hilfe vonseiten der Europäischen Union gegeben ist. Das finde ich gut, weil ich
dafür bin, dass in solchen Fällen die entsprechenden
Sanktionen vollzogen werden; denn Korruption heißt, die
arme Bevölkerung in den betroffenen Ländern zu strafen
und ihnen das Geld vorzuenthalten. Deshalb haben wir
das verankert und dazu stehen wir auch.
({2})
Kollegin WieczorekZeul, die drei Minuten sind vorüber.
Gut.
({0})
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner
Schuster das Wort.
Lieber Kollege
Christian Ruck, ich freue mich, wenn diese Debatte den
Eindruck vermittelt, dass der nächste Bundestagswahlkampf vom Thema Entwicklungszusammenarbeit entschieden wird. Das wäre ein Novum. Aber dies erinnert
mich an die Apostelgeschichte, in der der Saulus zum
Paulus wurde. Ihr habt offensichtlich euer Damaskus rein
zufällig jetzt nach 16 Jahren Gestaltungsmöglichkeit.
Es ist sicher euer gutes Recht und eure Pflicht, uns zu
kritisieren. Aber tut das bitte schön mit Augenmaß. Wenn
ihr wirklich wollt, dass die Entwicklungspolitiker in der
Regierungskoalition erreichen, dass der Haushalt im
Jahre 2001 verbessert wird, dann müsst ihr uns seriöse
Vorschläge unterbreiten und könnt nicht einfach nur
Wahlkampfgetöse machen. Ihr habt gesagt, es habe sich
nichts verändert. Dazu will ich euch ein paar Fragen stellen.
Herr Hedrich und ich haben seit Jahren immer wieder
darauf hingewiesen, wie groß die Ineffizienz auf europäischer Ebene ist. Jetzt bewegt sich etwas in Brüssel. Ist das
nichts?
Wir haben darauf hingewiesen, dass Post-Lomé strukturell geändert werden muss. Die Frau Ministerin hat das
zusammen mit ihren drei Kolleginnen geschafft. Ist das
alles nichts?
Bei der multilateralen Entschuldung, Herr Hedrich,
gab es 1986 - ich war noch nicht dabei - einen einstimmigen Beschluss im Bundestag. Passiert ist damals nichts,
aber jetzt tut sich etwas. Ist das alles nichts?
Die PPP - sie ist von euch mehrfach angekündigt worden, ich habe dabei eine Menge vom Kollegen
Pinger gelernt - wird jetzt Realität. Ist das nichts?
Entwicklungszusammenarbeit findet zum ersten Mal
wieder die Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien, und
zwar dank der hervorragenden Präsentation der Ministerin. Ist das eigentlich alles nichts?
({0})
Wir haben zum Beispiel die Kernarbeitszeitnorm in die
ILO eingebaut. Ist das nichts?
({1})
Sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU, lieber
Christian Ruck, eine Aufgabe haben wir gemeinsam,
nämlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalb
der Fraktion für „Frieden braucht Entwicklung“ zu werben. Dies ist aber leider nicht umsonst zu haben.
({2})
Herr Kollege Ruck,
Sie haben Gelegenheit zu antworten.
Herr Präsident, ich
bin zweimal angesprochen worden, sodass ich jetzt sechs
Minuten lang reden kann, oder?
({0})
- Herr Kubatschka, ich bestätige Ihnen nicht allzu viel.
Ich habe zunächst eine Gegenfrage an Werner
Schuster: Sind die Kürzungen in Höhe von 960 Millionen DM auch nichts?
Nun komme ich auf die Intervention der Frau Ministerin zu sprechen. Ich möchte noch einmal sagen: Wir wünschen der Entschuldungskampagne viel Glück. Ich halte
es aber für übertrieben, dass Sie sich immer hinstellen und
sagen: Diese 70 Milliarden Dollar habe ich verbrochen
und die wiegen praktisch diese 960 Millionen DM pro
Jahr auf, um die wir kürzen müssen. Diese Rechnung
stimmt weder politisch noch mathematisch.
Wir könnten gern weniger über diese Zahlen sprechen,
wenn Sie nicht immer die Unwahrheit über die wirkliche
Entwicklung Ihres Haushalts im letzten Jahrzehnt sagen
würden - siehe gestern - und wenn - das muss ich leider
auch sagen - die Koalition nicht immer so riesige Versprechen wie zum Beispiel vor einem drei viertel oder halben Jahr machen würde, aber genau das Gegenteil macht.
Es kann niemand von uns als Opposition verlangen, dass
wir, liebe Adelheid Tröscher, sagen: Die Regierung
möchte das nicht mehr hören, deswegen sagen wir es auch
nicht. Das kann wirklich kein Mensch von uns verlangen.
({1})
Ich habe einige Punkte, die du bei mir als Defizite kritisiert hast, ausdrücklich in positivem Sinne angesprochen. Die Bewegung auf der EU-Ebene ist ein positiver
Schritt. Aber es bleibt trotzdem dabei, worauf wir immer
alle Wert gelegt haben: Entschuldung nur gegen Konditionierung, zum Beispiel bezogen auf die Armutsbekämpfung. Dies muss wasserdicht, zum Beispiel mit
NGOs, vereinbart werden. Dazu gibt es zwei Dinge: Das
Erste ist, dass in der EU nur der Fall der schweren Korruption geregelt ist, sonst nichts. Das ist zu wenig.
Das Zweite sind die Entschuldungsprogramme.
Noch kein einziges Mal ist der Beweis dafür angetreten
worden, dass es so - wie Sie das auch mittragen - auch
funktioniert. Es funktioniert noch nicht in Bolivien und es
funktioniert auch noch nicht in Uganda. Wir können gern
darüber fachsimpeln, was zum Beispiel in Bolivien passiert. In Bolivien wird es so, wie es bisher läuft, nicht
klappen, ganz einfach deshalb, weil die NGOs das, was
geplant ist, nicht mittragen können.
Wir können gern im Detail darüber diskutieren, aber
lassen Sie uns jeweils fair und sportlich bei der Wahrheit
bleiben, auch hinsichtlich dessen, was Ihre Vorgänger getan haben.
Es ist wahr, dass wir in 16 Jahren nicht alles richtig gemacht und auch nicht alle Probleme gelöst haben. Ich darf
aber daran erinnern, dass die Kriterien und die Schwerpunktsetzung von Herrn Spranger ausdrücklich von Ihnen
übernommen worden sind. Sie haben 16 Jahre lang gewartet. Jetzt können Sie alles besser machen. Nach fast
zwei Jahren werden wir Sie doch wohl fragen dürfen: Was
ist aus den großen Versprechen geworden? Dies lassen
wir uns nicht nehmen. Manches, das vielleicht im Sande
versickert ist, werden wir wieder ausgraben.
({2})
Nun erteile ich der
Kollegin Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der ganzen parteipolitischen Polemik würde
ich gern den Versuch unternehmen und auch die Opposition dazu einladen, zu prüfen, ob wir hinsichtlich des
Kerns des Verständnisses von Entwicklungspolitik immer
noch Gemeinsamkeiten haben oder nicht.
Deswegen möchte ich gern drei Gedanken zum
grundsätzlichen Verständnis von Entwicklungspolitik
äußern. Erstens zum Verständnis von Entwicklungspartnerschaft: Zu lange haben wir unsere Partnerländer
in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Leistungswillen
unterschätzt. Zu lange haben wir diese Länder aus einer
paternalistischen und sehr eurozentristischen Sichtweise
heraus in eine passive Rolle gedrängt. Das will diese Bundesregierung zurechtrücken und korrigieren helfen. Wir
stellen deshalb die Hilfe zur Selbsthilfe in den Kontext einer Entwicklungspartnerschaft, um den Realitäten in unseren Partnerländern besser Rechung zu tragen.
Diese Kurskorrektur von der Entwicklungshilfe zur
Entwicklungspolitik war längst überfällig, um wieder den
Anschluss an den aktuellen Stand der internationalen entwicklungspolitischen Diskussion zu finden.
({0})
Was heißt das nun für unsere praktische entwicklungspolitische Arbeit? Wir müssen darauf drängen, dass
grundlegende Aufgaben der nationalen Politik von den
Staatsregierungen unserer Partnerländer verantwortlich
und eigenständig wahrgenommen werden. Wir müssen
offen sein für alle Formen der Eigeninitiative dort. Wir
müssen uns als Geber davor hüten, mit Blaupausen zu
agieren, und wir müssen die selbstbestimmten Entwicklungsstrategien unserer Partner ernst nehmen.
Wir müssen unseren Partnerländern verdeutlichen,
dass Entwicklungszusammenarbeit nur komplementär zu
Eigenanstrengungen zum Zuge kommen kann.
({1})
Entwicklungspartnerschaft bedeutet auch, dass unsere
Entwicklungspolitik nicht als isoliertes Politikfeld, sondern nur als ganzheitlicher Ansatz erfolgreich sein kann.
({2})
Wir bemühen uns deshalb um eine möglichst kohärente
Gesamtpolitik, auch wenn dies nicht einfach ist, und dies
tun wir sowohl in der bilateralen Zusammenarbeit als
auch im internationalen Rahmen. Wir haben bereits
Schritte unternommen, unsere Entwicklungspolitik möglichst effizient mit anderen Politikfeldern zu vernetzen,
um so den quantitativen und qualitativen Nutzen unserer
Zusammenarbeit zu maximieren. Das zeigen zum Beispiel die Mitgliedschaft des Ministeriums im Bundessicherheitsrat und die Diskussionen und Entscheidungen
über Rüstungsexporte.
Meine zweite Bemerkung: Entwicklung braucht einen
langen Atem. All das, was hier zum Beispiel zu Bolivien
oder Uganda eingefordert worden ist, eine ganz schnelle
Entschuldung, haucht genau nicht diesen langen Atem,
Herr Ruck. Ich bitte Sie, statt auf Schnelligkeit und Quantität auf Qualität zu setzen.
({3})
Entwicklung funktioniert nicht von heute auf morgen.
Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich hoch komplexe
gesellschaftliche Umwälzungsprozesse nur in kleinen
Schritten vollziehen und nicht immer unserem europäischen Entwicklungsraster entsprechen. Darum müssen
wir Geduld aufbringen und versuchen, auch alternative,
das heißt auch andere Entwicklungsmuster zu verstehen
und zu unterstützen.
Geduld bedeutet aber nicht Langmut. Wir dürfen unsere Partner nicht aus ihrer Verantwortung für eine entwicklungs- und armutsorientierte Politik entlassen.
({4})
Wir müssen unseren Partnerländern - das ist sehr wichtig, das vergessen wir häufig - auch das Recht auf Fehler
einräumen und dürfen uns nicht als Lehrmeister aufspielen.
({5})
Ich sage dies, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass
gerade heute, da wir die Katastrophe in Sierra
Leone vor Augen haben, da der brutale Krieg zwischen
Eritrea und Äthiopien herrscht, diese Ansicht auf Kritik
stößt. Trotzdem meine ich, dass wir im Prinzip unseren
Partnerländern auch Fehler zugestehen müssen.
Nur so können wir einen ernsthaften und auf gegenseitigem Respekt beruhenden Dialog führen, Entwicklungen
in diesen Ländern früher und besser einschätzen und gemeinsam über Entwicklungsalternativen nachdenken.
Um der Vielfalt der kulturellen, sozioökonomischen und
historisch gewachsenen Realitäten gerecht zu werden,
müssen wir noch viel stärker als bisher flexible Instrumente entwickeln und einsetzen.
Meine dritte und letzte Bemerkung: Ich glaube - gerade auch, wenn ich mir meine Partei ansehe -, wir haben
manchmal vergessen, dass Wirtschaftswachstum
Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung ist. Eine
Vielzahl von Ländern hat es bewiesen: Um ein langfristig
hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, müssen und
wollen die Entwicklungsländer am Welthandel teilhaben
und die positiven Effekte der Globalisierung ausschöpfen.
Es geht also darum - ich zitiere den Präsidenten der
Weltbank -, „die Herausforderungen der Einbeziehung“
einer globalen Zukunftsfähigkeit zu meistern. Gemeint ist
damit die Notwendigkeit, die Entwicklung menschlich zu
gestalten und die Schwachen und Verletzlichen am Rande
der Gesellschaft in die Mitte zu nehmen. Diesen Herausforderungen müssen wir uns stellen und dürfen Globalisierung nicht immer als Bedrohung für die Entwicklungsländer begreifen.
({6})
Es ist daher auch die Aufgabe der Entwicklungspolitik,
unsere Partnerländer für den Weltmarkt fit zu machen.
Dazu unterstützen wir sie beim Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und treten für ein umfassenderes
Mitspracherecht der Entwicklungsländer im internationalen Rahmen ein. Das heißt beispielsweise, dass wir uns
in bilateralen Projekten zur Kleingewerbeförderung
ebenso wie bei der Gestaltung der Welthandelsordnung
für unsere und mit unseren Partnerländern engagieren.
Zugleich wollen wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, dass das wirtschaftliche
Wachstum im Einklang mit der Natur und sozial verträglich gestaltet wird. Somit leistet unsere Entwicklungspolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssicherung für alle.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
danke insbesondere der Ministerin, Heidemarie
Wieczorek-Zeul, dass sie zum ersten Mal eine Regierungserklärung zum Thema Entwicklungszusammenarbeit abgegeben hat. Es ist ein symbolisch sehr wichtiger
Fortschritt.
Aber wir können uns mit Symbolen nicht zufrieden geben. Die Lage ist viel zu ernst. In vielen Ländern der Dritten Welt ist die Lage gefährlich gespannt. Die Globalisierung der Weltwirtschaft hat nicht etwa verhindert, sondern eher befördert, dass die Schere zwischen Arm und
Reich, insbesondere innerhalb der Länder, weiter auseinander klafft. Das weitere Aufklaffen dieser Schere ist
eine der ganz großen Ursachen für gefährliche Konflikte.
Insofern ist gerade im Kontext der Globalisierung Entwicklung eine der besten Formen des Friedenserhalts.
({0})
Es ist besorgniserregend, wenn der globale Wettbewerb um höchste privatwirtschaftliche Kapitalrenditen
die Geberländer dazu veranlasst, einen Wettbewerb um
sinkende Staatsquoten zu veranstalten und dabei auch
die Entwicklungshilfe zu kürzen.
({1})
Was ist zu tun? Der schon genannte Meltzer-Bericht
geht exakt in die falsche Richtung.
({2})
Der Report behauptet unter lauter Beteuerungen, es gehe
ihm um die Ärmsten, die meisten Länder hätten nun Zugang zu den privaten Kapitalmärkten. Bei 15 Prozent Zinsen ist das eine zynische Strategie gegenüber den Ärmsten
und auch gegenüber der Umwelt und gegenüber jeder
langfristig angelegten Entwicklungspolitik.
({3})
Bildung, Forschung und Infrastruktur werfen keine
15 Prozent Zinsen ab.
Entwicklungszusammenarbeit ist eines der großen
Querschnittsthemen auch für die neugegründete
Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“. Wir sehen mit großer Freude, dass sich unter Ihrer Führung, Frau Ministerin, das BMZ auf eine enge Zusammenarbeit mit dieser Kommission eingestellt hat. Wir
erwarten davon fruchtbare Fortschritte. Ich bedanke mich.
({4})
Weil wir erst am Anfang sind, ist das Zukunftsmusik.
Deswegen möchte ich ein paar Worte zu dem sagen, was
uns alle in den letzten zehn Jahren vor und nach dem Erdgipfel in Rio de Janeiro insbesondere in Bezug auf die
nachhaltige Entwicklung beschäftigt hat.
In Sonntagsreden wird oft so getan, als gäbe es gar
keine Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung.
({5})
Die wunderschönen Worte „sustainable development“,
nachhaltige Entwicklung, gehen einem leicht über die
Lippen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr häufig so, dass
Entwicklung auf mehr und nicht etwa auf weniger Naturverbrauch hinausläuft. Wenn 6 Milliarden Menschen
den Lebens- und Wirtschaftsstil erreichen, den wir vorführen - gleichzeitig stellt sich Deutschland gerne als
Weltmeister im Umweltschutz dar -, dann ist die Erde
ökologisch am Ende. Das heißt, gerade bei uns müssen
wir eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Technologiestile entwickeln, damit nachhaltige Entwicklung weltweit zustande kommen kann.
({6})
Für uns ist das ein Programm der Modernisierung. Für die
Entwicklungsländer ist es angesichts von Wasser- und
Energieknappheit sowie des Mangels an Geld für Rohstoffimporte eine Frage des Überlebens. Ich sehe mit Genugtuung, dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dieses Themas systematisch annimmt.
({7})
Herr Kollege Schlauch hat bereits die Wichtigkeit der
internationalen Umweltabkommen erwähnt. Die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt hat für die
Nord-Süd-Beziehungen eine herausragende Bedeutung.
Der Norden muss dabei aufpassen, dass er seine eigene
Glaubwürdigkeit nicht gefährdet. Mit Empörung haben
die Menschen in Südasien vor fünf Jahren reagiert, als das
Europäische Patentamt in München der amerikanischen
Firma Grace ein Patent auf das Öl aus dem Niembaum erteilt hat, um es als Pestizid zu nutzen. Die Inder haben das
Öl seit Jahrhunderten selbstverständlich genutzt. Nun sollen sie auf einmal Patentgebühren dafür zahlen.
Das ist nun glücklicherweise ein Beispiel mit einem
Happy End; denn vor etwa zwei Wochen hat das Europäische Patentamt dieses Patent widerrufen. Daraufhin
wurde vor zwei Tagen in Nairobi, wo gerade die
Vertragsstaatenkonferenz über die Konvention zum
Schutz der biologischen Vielfalt abgehalten wird, ein
Freudentanz aufgeführt und symbolisch ein Niembaum
gepflanzt. Hier haben Nichtregierungsorganisationen aus
dem Norden und dem Süden seit Jahren politischen Druck
ausgeübt und wesentlich dazu beigetragen, dass sich endlich ein Politikwandel - in diesem Fall bis hin zum Europäischen Patentamt - vollzogen hat.
Herr Kollege Hedrich hat vollkommen Recht, wenn er
sagt - das ist aber für die Regierung und für die sie tragenden Koalitionsfraktionen überhaupt nichts Neues -,
dass die Rolle der Nichtregierungsorganisationen gar
nicht überschätzt werden kann. Ohne die Kooperation
zwischen der demokratischen Öffentlichkeit in den Staaten und den Nichtregierungsorganisationen wäre ein solcher Fortschritt völlig undenkbar.
({8})
Die Globalisierung beschert uns ein spannendes und
neuartiges Dreieck zwischen dem Staat, der Wirtschaft
und der Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaft
müssen ein großes Interesse daran haben, dass insbesondere im internationalen Wirtschaftsgeschehen mehr
Transparenz einzieht. Eine der unter Globalisierungsgesichtspunkten interessantesten Nichtregierungsorganisationen ist vor einigen Jahren in Berlin gegründet worden,
nämlich Transparency International, eine Nichtregierungsorganisation, die sich spezifisch mit der Bekämpfung des Betrugs und der Korruption beschäftigt.
({9})
Die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit kooperieren auf das Engste mit Transparency
International, um die Glaubwürdigkeit der Geberländer,
der Nehmerländer und der Privatwirtschaft wieder herzustellen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine
Nichtregierungsorganisation die Politik wesentlich mitgestalten kann.
({10})
Der Druck von demokratischen Öffentlichkeiten, Konsumentengruppen und sogar von Investoren auf die Privatwirtschaft ist entscheidend dafür, dass Entwicklung
und Frieden weltweit zustande kommen. „Frieden
braucht Entwicklung“, so heißt es sowohl in der Regierungserklärung als auch in unserem Antrag. Frieden und
Entwicklung in einer globalisierten Wirtschaft brauchen
den Frieden stiftenden Druck der demokratisch gesinnten
Kräfte der Öffentlichkeit in Nord und Süd.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entsch-
ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/3388. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/3128 und 14/3396 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder
({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/ DIE GRÜNEN
Fortsetzung der Berichterstattung der Bundes-
regierung zum Stand der deutschen Einheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Weiterführung des Jahresberichtes der Bun-
desregierung zum Stand der deutschen Einheit
- Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715,
14/2608 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Dr. Michael Luther
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Vera
Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Investitionsförderung verstetigen - regionale
Wirtschaftsstrukturen stärken
- Drucksache 14/2242 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder ({2}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter
Grill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Strompreise in Deutschland angleichen - neue
Stromsteuern im Osten aussetzen
- Drucksachen 14/1314, 14/2404 Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Dr. Michael Luther
Werner Schulz ({3})
Gerhard Jüttemann
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul
Krüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({5}),
Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen in den neuen Ländern fortsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz,
Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Förderung und Unterstützung von technologieorientierten Unternehmensgründungen
({6}) bedarfsgerecht weiterentwickeln
- Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954 Berichterstattung:
Abgeordnete Jelena Hoffmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Debatte ist der Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal den Bericht
zum Stand der deutschen Einheit aus dem vergangenen
Jahr. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einige Anmerkungen zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in den
neuen Ländern und auch zur Angleichung der Lebensverhältnisse zu machen, einem Thema, das die Ostdeutschen
sehr bewegt.
Dabei hat für die Menschen die Angleichung der Einkommen natürlich ein ganz besonderes Gewicht. Was den
öffentlichen Dienst betrifft, sind wir zurzeit in der
Schlichtung. Ich persönlich habe in den zurückliegenden
Monaten aus meinen Hoffnungen - bei aller gebotenen
Zurückhaltung - keinen Hehl gemacht. Ich will deswegen
zu Beginn meiner Rede ausdrücklich sagen: Ich bin sehr
zuversichtlich, dass es den Tarifparteien gelingen kann,
eine Perspektive für die Angleichung aufzuzeigen, die das ist mir besonders wichtig - den finanziellen Leistungsmöglichkeiten der ostdeutschen Länder und Gemeinden entspricht.
Die Perspektiven für den Aufbau Ost sind gut. Immer
deutlicher wird das verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland zum konjunkturellen Zugpferd. Zweistellige
Wachstumsraten bei den wichtigsten Kennziffern, vom
Export bis hin zu den Ausbildungsplätzen im Handwerk,
zeigen, dass der Osten auf dem richtigen Weg ist. Das ist
keine Schönfärberei. Natürlich gibt es daneben noch
schmerzhafte Anpassungsprozesse, vor allen Dingen in
der ostdeutschen Bauwirtschaft, die auf die Arbeitsmarktsituation des gesamten Ostens durchschlagen.
Aber die Trendwende ist geschafft. Die positiven Signale sind überdeutlich. Die Industrie in den neuen Bundesländern wächst schon heute schneller als die im Westen. Die in den letzten Wochen und Monaten gelegentlich
geäußerten Befürchtungen, die neuen Länder könnten auf
Dauer vom Wirtschaftswachstum und von der steigenden
Beschäftigung im Land abgekoppelt sein, sind deshalb
unbegründet.
({0})
Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass das
mittelständisch geprägte verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland im ersten Quartal dieses Jahres einen Produktionsanstieg von 13,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr verbuchen konnte.
({1})
Das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe wächst damit fast
zweieinhalbmal so schnell wie das in den alten Bundesländern. Das gleiche Bild zeigt sich erfreulicherweise bei
den Auftragseingängen und bei den Erwartungen der ostdeutschen Unternehmen. Ich erinnere an das letzte Konjunkturbarometer, das vor kurzem im „Handelsblatt“ erschienen ist. Ich sage ganz klar: Der Osten ist auf dem
richtigen Weg.
({2})
Besonders freut mich: Das schlägt auch auf den Export durch - jahrelang eine große Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Mit einem Plus von 10,5 Prozent
verzeichnete das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe
1999 einen außerordentlichen Exporterfolg. Damit wuchsen die ostdeutschen Ausfuhren deutlich schneller als die
Ausfuhren in den alten Bundesländern, und das übrigens
nicht nur in traditionellen Bereichen, in denen der Osten
auch in der Vergangenheit schon stark war: beispielsweise
beim Maschinenbau, bei der Elektronik oder im Fahrzeugbau. Die ostdeutschen Ausfuhren stiegen auch in Bereichen der so genannten Spitzentechnologie: in der Medizintechnik, in der Optik oder auch in der Datenverarbeitung. Ostdeutsche Produkte fassen zunehmend auf den
internationalen Märkten Fuß und sind in der Lage, den
harten Wettbewerb zu bestehen.
Meine Damen und Herren, der Export wird zu einer
wichtigen Säule des Wachstums im Osten. Immer deutlicher wird das verarbeitende Gewerbe zum Träger der
Konjunktur im Osten. Das ist die neue Qualität des
Wachstums. Darüber sollten wir alle uns in diesem Hause
freuen.
({3})
Die Exportquote hat natürlich noch nicht den westdeutschen Wert erreicht; das ist völlig klar. Wir liegen etwas über der Hälfte des Wertes in den alten BundeslänVizepräsidentin Petra Bläss
dern. Im vergangenen Jahr stieg die Exportquote in Ostdeutschland auf 18,4 Prozent. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres stieg sie jedoch auf 20,7 Prozent. Das ist
ein gewaltiger Sprung, der zeigt, dass der Exportboom Herr Kollege Türk, wir haben im Ausschuss darüber geredet -, der in den alten Bundesländern greift, nicht an
Ostdeutschland vorbeigeht. Auch das ist ein wichtiges Signal, meine Damen und Herren.
({4})
Deutlich sind auch die Signale hinsichtlich der Beschäftigungssituation. Im verarbeitenden Gewerbe gibt
es einen Beschäftigungszuwachs; 1999 betrug der
Arbeitsplatzzuwachs rund 1,4 Prozent. Im Februar dieses
Jahres lag die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden
Gewerbe bereits um 2,5 Prozent über dem Vorjahreswert.
Auch hier gehen die Zahlen also nach oben; das ist die
richtige Entwicklung.
({5})
Besonders freut mich, dass es auch bei den Ausbildungsplätzen positive Signale gibt. Nicht nur hat sich das haben wir mehrfach debattiert - über das wichtige Jugendsofortprogramm des letzten Jahres zum ersten Mal
die sich in den zurückliegenden Jahren immer weiter öffnende Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland wieder etwas geschlossen, wenn auch nicht so wie in den alten Bundesländern. In diesem Jahr - Sie haben die April-Zahlen vor
kurzem debattiert - gibt es Signale, dass nun auch im betrieblichen Bereich die Zahl der Ausbildungsplätze nach
oben geht. Die regionalen Handwerkskammern melden,
wie gestern geschehen, dass die Handwerksbetriebe aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung fast
18 Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr anbieten. Über diese positiven Signale sollten wir uns alle
freuen, meine Damen und Herren.
({6})
Dieser Erfolg kommt nicht von selbst. Dahinter stehen
in erster Linie - ich sage das ganz deutlich - die harte Arbeit und der Einsatz der Ostdeutschen und natürlich auch
die konsequente Politik der Förderung des Aufbaus Ost,
der Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, die wichtige aktive Arbeitsmarktpolitik, die Verstärkung von Forschung und Entwicklung in Ostdeutschland und schließlich die Gründung von innovativen Unternehmen sowie
die gezielte steuerliche Entlastung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, die Kernpunkt unserer
Steuerreform ist. Deshalb werden wir an diesem Kurs,
meine Damen und Herren, ausdrücklich festhalten.
({7})
Insbesondere ertragsschwache kleinere und mittlere
Unternehmen - von ihnen gibt es in den neuen Ländern
bekanntlich überproportional viele - profitieren von der
schrittweisen Senkung des Eingangssteuersatzes auf
15 Prozent und von der Anhebung des Grundfreibetrags.
Gerade in Ostdeutschland versteht übrigens niemand,
worin der Vorteil einer weiteren Senkung des Spitzensteuersatzes liegen soll. Die Ertragssituation der Unternehmen in Ostdeutschland liegt weit unter dem westdeutschen Durchschnitt. Von einer weiteren Senkung des Spitzensteuersatzes, wie von der Opposition gefordert, würden vor allen Dingen Unternehmen profitieren, die ein zu
versteuerndes Einkommen von weit über 120 000 DM haben. Diese, meine Damen und Herren, muss man in Ostdeutschland mit der Lupe suchen. Deshalb sage ich ausdrücklich noch einmal: Spitzenverdiener, die hier begünstigt werden sollen, sitzen überwiegend in den alten
Bundesländern und nicht in Ostdeutschland.
({8})
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu einer aktuellen Forderung, die von der CDU/CSU in dieser Woche
zu vernehmen war: Mit ihrer Forderung, im Zusammenhang mit der Steuerreform entweder den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent zu senken oder den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, bricht bei der CDU eine klare antiostdeutsche Haltung durch.
({9})
Sie wollen die Regierung im Vermittlungsausschuss
zwingen, entweder Spitzenverdiener, die in den alten
Bundesländern sitzen, zu entlasten oder dem Solidarpakt
die finanzielle Grundlage zu entziehen. Das tun Sie,
während wir gerade darangehen, einen zweiten Solidarpakt auszuhandeln.
({10})
Die Verlierer bei einer solchen Forderung, die Sie sich auf
die Fahnen geschrieben haben, sitzen in beiden Fällen in
Ostdeutschland. Ich habe die Debatte gestern aufmerksam
verfolgt. Sie haben nichts zu dieser Forderung gesagt. Ich
bin gespannt, ob Sie sich hier hinstellen, vielleicht auch in
der Person der Parteivorsitzenden, und diese Forderung
zurücknehmen; sie zeugt nämlich eindeutig von einer
feindlichen Haltung gegenüber dem Osten.
({11})
Zum Schluss möchte ich noch ausdrücklich sagen, die
Förderung und die Unterstützung vor allen Dingen innovativer Prozesse bleiben ein ganz zentraler Punkt beim
Aufbau Ost. Ich bin sehr froh, wie gut, wie umfangreich
und wie durchschlagend gerade auch die neu konzipierten
Förderprogramme des Bundes dabei greifen. Ich möchte
dabei das Thema Inno-Regio wenigstens noch einmal ansprechen.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie, bevor Sie das tun, eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Luft?
Ich würde dieses gerne im Zusammenhang beenden.
Sie können die Zwischenfrage nur jetzt zulassen, denn danach ist die Redezeit vorbei.
Ich möchte trotzdem im Zusammenhang vortragen.
Ich bin sehr froh, wie gut Inno-Regio an dieser Stelle
greift. Die Überlegung, verstärkte Kooperationen aufzubauen und Netzwerke zwischen Wirtschaft, wissenschaftlichen Einrichtungen und Verwaltungen zu knüpfen, ist
ein richtiger Schritt gewesen. Bei vielen Besuchen dieser
Projekte vor Ort merkt man, dass ein Ruck durch die Region geht und es als etwas Wichtiges und Neues, als eine
Chance begriffen wird, solche Innovationsprozesse aus
den Regionen heraus zu entwickeln.
Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich ausdrücklich: Wir sollten diese Erfolge nicht kleinreden und
auch nicht vor dem Hintergrund einseitiger parteipolitischer Interessen die wirtschaftliche Situation schlechtreden.
({0})
Die Signale sind klar: Die Entwicklung im Osten zieht an
und die Menschen, die dafür vor Ort in Ostdeutschland
gesorgt haben, können zu Recht auf diese Entwicklung
stolz sein.
({1})
Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Günter Nooke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
Ihnen scheint die Rede nicht so sehr gefallen, zumindest
Sie nicht überzeugt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck zeigte
jedenfalls keine Begeisterung.
({0})
Bezüglich der Ausführungen zum Solidaritätszuschlag möchte ich anmerken, dass es hier darum geht,
dass wir das Geld für den Osten organisieren. Entscheidend ist, was hinten herauskommt. Wenn sich am Ende
nebenbei auch eine Vereinfachung beim Steuerrecht ergeben sollte, haben wir überhaupt nichts dagegen.
Bei seiner Regierungserklärung hat sich der Bundeskanzler letzte Woche über schöne Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftszahlen gefreut. Dabei gab es bei objektiver
Betrachtung - das entspricht ja auch dem, was jetzt hier
gesagt wurde - dazu überhaupt keinen Grund. Mir kam
das vor, als wenn sich der Besitzer eines Hauses, dessen
Dach undicht ist, über eine bessere Großwetterlage freut,
weil es dann weniger hereinregnet. Nein, zur Freude gibt
es längst noch keinen Anlass. Kluge Hausbesitzer freuen
sich nicht über schönes Wetter, sondern reparieren die
Dächer möglichst schnell. Herr Bundeskanzler, das haben
Sie bisher versäumt.
Der Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche hier
im Hause deutlich gemacht, welche Bedeutung er den
neuen Ländern zumisst. Im Zusammenhang mit einigen
Zahlen über Wirtschafts- und Ausbildungsplätze sprach
er, wie immer vermeintlich leicht und locker, von „bei uns
im Westen“ und damit implizit von den Ostdeutschen als
„ihr“ und „euch“.
({1})
Herr Gysi musste den Kanzler daran erinnern, dass auch
der Osten zu Deutschland gehört. Wenn die Sache nicht so
ernst wäre, könnte man lästern: Hier sind alte und neue
Spalter unter sich. Aber ich glaube, wir alle sind uns einig - nicht nur in dieser Debatte über die deutsche Einheit -: Wir in Deutschland gehören zusammen; wir sind
gemeinsam für Erfolg und Misserfolg verantwortlich.
({2})
Der Aufbau Ost geht uns alle an. Er bleibt eine Aufgabe
für alle Deutschen. Damit meine ich nicht, der Westen gibt
das Geld und der Osten gibt es aus. Vielmehr geht es darum, diese Aufgabe als materielle und geistige Herausforderung für alle - im Westen wie im Osten der Republik - zu begreifen.
Während die einen denken, dem Osten gehe es schon
viel zu gut, kommen die anderen aus dem Zustand des
Klagens und des Selbstmitleides nicht heraus. Weder Jammern noch Schönreden, sondern Fakten sind gefragt.
Diese Fakten, Herr Bundeskanzler, sind bedrückend. Allein im April - und das bei schönem Wetter - gab es
55 000 mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist. Die Jugendarbeitslosigkeit im Osten ist um 20 Prozent gestiegen. Das sind Ihre Arbeitslosen, Herr Bundeskanzler.
({3})
Ihre Zahl nimmt ständig zu. Aber die Menschen im Osten
haben dafür kein Verständnis. Sie wollen teilhaben an der
wirtschaftlichen Entwicklung und sich in die Gesellschaft
einbringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach tatenlos zusehen.
Wir werden nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise den
Radikalen von links und rechts die Wähler zutreiben. Wir
werden uns mit eigenen Konzepten einmischen.
({4})
Bleiben wir erst einmal bei den Zahlen. Unglaublich
viel wurde erreicht, dank der Initiative der Menschen in
den neuen Bundesländern, dank der Hilfe aus Westdeutschland und dank der alten Bundesregierung unter
Helmut Kohl.
({5})
Wir dürfen aber am Ernst der derzeitigen Lage nicht vorbeireden, so wie es Staatsminister Schwanitz gerade getan
hat. Während die Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist
wie in Westdeutschland, beträgt das Gesamtsteueraufkommen je Einwohner weniger als 30 Prozent von dem
der westdeutschen Länder. In Westdeutschland wird jährlich mehr Vermögen vererbt, als in ganz Ostdeutschland
vorhanden ist.
Der teilungsbedingte Nachholebedarf bei der Infrastruktur wurde kürzlich von den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten mit etwa 40 bis 45 Prozent berechnet. Das sind keine akademischen Zahlen. Sie zeigen vielmehr konkret den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung
in den neuen Ländern. Der Sachverständigenrat hat 1999
festgestellt, dass Personen- und Gütertransporte in den
neuen Ländern durchschnittlich 20 Prozent zeitaufwendiger sind als in den alten Ländern. Die Zahlen sehen also
nicht gut aus.
Doch die Regierung hat auch hier Glück: Eine verantwortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzureden. Ich fordere Sie,
Herr Bundeskanzler, aber auf: Nehmen Sie sich einmal
ein paar Stunden Zeit und schauen sich diese Zahlen genau an!
Herr Bundeskanzler, wir reden heute über Ihre Versäumnisse beim Aufbau Ost.
({6})
Der Wanderzirkus Ihres Kabinetts führt Sie meist nur zu
den fein gedeckten Tafeln in den Staatskanzleien der
neuen Länder.
({7})
Aber die Wirklichkeit ist sehr viel rauer. Um im Bild von
vorhin zu bleiben: An unserem deutschen Haus ist das
Dach am Westgiebel undicht geworden. Der Ostgiebel ist
aber noch gar nicht gedeckt. Herr Bundeskanzler, Sie sind
jetzt der Bauleiter. Bauen Sie dieses Haus Deutschland!
Legen Sie die Pläne der Chefsache Aufbau Ost vor! Nennen Sie Ihr Ziel! Die Verringerung der Arbeitslosigkeit
kann es ja nicht sein; denn dann hätten Sie hier und heute
Ihr Scheitern eingestehen müssen.
({8})
Erst wenn Sie wissen, was Sie wollen, lohnt es sich,
qualifizierte Handwerker zu beauftragen und den Baufortschritt zu kontrollieren. Setzen Sie die richtigen Prioritäten! Es reicht nicht aus, den Westgiebel zu streichen,
wenn die Ostseite noch offen ist. Keinem in Deutschland
ist geholfen, wenn unser Haus nur auf einer Seite bewohnbar ist.
({9})
- Das ist doch gerade unser großes Problem. Hören Sie
einmal zu!
Nie zuvor in den letzten zehn Jahren haben so viele
Menschen in den neuen Bundesländern daran gedacht
wegzuziehen. Die Prognose ist niederschmetternd: 1 Million Menschen in den nächsten zehn Jahren. Gerade die
jungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen Ostdeutschland. Leerstand und Geisterstädte in Ostdeutschland sind die Folge. Anders als 1990 gehen sie nicht nur
nach Westdeutschland, sondern auch nach Übersee.
Deutschland verliert viel zu viele gute Leute. Das ist die
Realität, Herr Bundeskanzler. Da hilft es wenig, mit der
Scheinlösung Green Card gute Leute aus Indien abzuwerben. Eines zeigt doch Ihre Kampagne auch: So attraktiv
wie Deutschland einmal vor Jahrzehnten für jugoslawische Putzfrauen oder türkische Gemüsehändler war, ist es
für indische Computerspezialisten lange nicht. Das hat
Gründe. Deutschland ist im internationalen Vergleich keineswegs immer Spitze, sondern meist nur Mittelklasse.
({10})
Wenn einer aus dem Ausland rein will, dann darf er nicht.
Das muss sich ganz schnell ändern.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum die Situation in den neuen Bundesländern besonders schlimm ist.
Beim größten ostdeutschen Unternehmen, dem ostdeutschen Braunkohleverstromer VEAG - mit 6 500 Arbeitsplätzen von 20 000 Beschäftigten im Bereich der Braunkohlewirtschaft insgesamt - verfolgte die Bundesregierung offenbar eine Strategie im Interesse westdeutscher
protagonistischer Anteilseigner.
({11})
Der Wirtschaftsminister hatte freie Hand, über ein Stabilisierungsmodell zu verhandeln, das fast ein Jahr Zeit kostete - wertvollste Zeit, die andere Unternehmen zur
Marktpositionierung nutzen konnten. Bundeswirtschaftsminister Müller hat hier auf das falsche Pferd gesetzt.
({12})
Er kam zwar aus dem richtigen Stall, aber er lief auf der
falschen Rennbahn.
({13})
Er wollte Atomausstieg mit Braunkohle verrechnen, aber
hat dabei nicht beachtet, dass in der Politik nicht - wie in
der Wirtschaft - die Bilanzen über die Macht, sondern die
Macht über die Bilanzen entscheidet. Warum sollten denn
die westdeutschen Energiekonzerne frühzeitig Zugeständnisse machen? Oder hat er wirklich gedacht, der
grüne Koalitionspartner sei neben dem ideologisch begründeten Atomausstieg an einem tragfähigen energiepolitischen Gesamtkonzept interessiert?
({14})
Wir haben ausländische Unternehmen zur Übernahme
der VEAG-Anteile bereits zu einem Zeitpunkt aufgefordert, als uns die Bundesregierung noch weismachen
wollte, das sei gar nicht nötig. Der Wirtschaftsminister
fehlt heute, daher muss ich mich an den Herrn Chefsachenkanzler wenden: Wie soll ich dieses Verhalten
werten, grob fahrlässig oder bedingt vorsätzlich? Das ist
eine Frage, auf die wir eine Antwort erwarten, und zwar
nicht hier, sondern in Form von Ergebnissen.
Wer verhandelt eigentlich mit den Wettbewerbsbehörden und bemüht sich, dass ein großes Regionalversorgungsunternehmen mit abgegeben werden muss, damit
die VEAG einen eigenen Zugang zu den Kunden erhält?
Sorgen Sie dafür, dass - nachdem 1990 den westdeutschen Stromkonzernen erlaubt wurde, die DDR-Staatsmonopolisten unter sich aufzuteilen - wenigstens ein international wettbewerbsfähiges Stromunternehmen in
Ostdeutschland übrig bleibt.
({15}))
Wir erwarten nicht Geld von Eichel, um die VEAG als eigenständiges Unternehmen zu erhalten, sondern einfach
Engagement der Bundesregierung.
({16})
Der Aufbau der neuen Länder braucht endlich wirksame Impulse. Ein West-Ost-Gefälle kann nicht hingenommen werden.
Dies ist ein Zitat aus dem Arbeitsprogramm der Bundesregierung von 1999. Schön, dass wir in dieser Aussage
übereinstimmen. Doch, wie gesagt, nicht an ihren Worten,
sondern an den Taten sollt ihr sie erkennen - und die Bilanz fällt eindeutig aus!
Herr Kollege Nooke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?
Jetzt erst einmal nicht.
({0})
Wollten Sie zur VEAG fragen, Frau Luft?
({1})
- Gut, dann bitte.
Herr Kollege Nooke, wie ist
Ihre Position zu der aus den Reihen des Arbeitnehmerflügels der Christlich-Demokratischen Union erhobenen
Forderung - geäußert neulich von Ihrem Parteikollegen
Eppelmann -, recht bald eine Ost-West-Angleichung bei
den Löhnen herbeizuführen? Ist das in Ihrer Fraktion inzwischen Mehrheitsposition oder ist das eine Einzelmeinung, mehr auf - was man immer uns vorwirft - populistische Wirkung gemünzt? Wie ist Ihre Meinung
dazu?
Sehr geehrte Kollegin
Luft, das ist eine ernst zu nehmende Position in unserer
Fraktion. Nur, ich rede hier nicht über das Verteilen, sondern über den Standort Ostdeutschland und über Wirtschaftspolitik.
({0})
Deshalb müssen wir die Löhne im produktiven Bereich
immer mit im Blick haben.
Meine Damen und Herren, da ich so etwas vermutet
habe, lassen Sie mich noch einmal ausführen, was „belasten“ hier eigentlich heißt. Sinnbild dafür ist doch die Ökosteuer. Hunderttausende von Pendlern in den neuen Bundesländern werden dadurch tagtäglich zusätzlich belastet,
weil sie weite Wege zurücklegen müssen. Die Umbrüche
auf dem Arbeitsmarkt fordern auch heute noch diesen hohen Tribut. Immerhin sind heute 80 Prozent der Menschen
im Osten nicht mehr dort beschäftigt, wo sie vor der
Wende beschäftigt waren. Die Menschen wollen bei ihrer
Flexibilität aber nicht überproportional durch höhere
Spritkosten belastet werden. Auch dort könnte man den
Menschen helfen. Ebenfalls nicht vergessen sind
überproportionale Belastungen im Bundeshaushalt 2000,
die der Osten zu tragen hat. Dies nennt die Bundesregierung „wirksame Impulse“.
Wie soll es weitergehen? Die Pressespatzen pfeifen es
bereits von den Dächern: Mit dem Thesenpapier des Bundesfinanzministers „Aufbau Ost - Perspektiven der Förderung durch den Bund“ sollen weitere Programme für
die neuen Länder zurückgeführt werden.
Aufbau Ost verkommt zunehmend zum Rückbau Ost.
Wenn dies nicht der Wahrheit entsprechen sollte, fordere
ich den Bundesfinanzminister auf, zu bestätigen, dass es
mit ihm bis zum Jahre 2004 keine weiteren Kürzungen
beim Aufbau Ost geben wird. Ich sage Ihnen bereits jetzt:
Der Bundesfinanzminister wird eine solche Zusage nicht
geben.
Noch eine klare Bemerkung zum Sparen, weil mich
das gestern wirklich geärgert hat.
({1})
Wir waren und sind nicht gegen das Sparen. Im Gegenteil,
die Vorschläge der Unionsfraktion hätten sogar zu weniger Ausgaben im aktuellen Haushalt geführt als die Maßnahmen der Bundesregierung. In den 80er-Jahren wuchs
unter Unionsführung der Schuldenstand des Bundes deutlich langsamer als in den 70er-Jahren und auch langsamer
als der Schuldenstand in den Bundesländern.
({2})
- Das ist völlig richtig. - Aber Herr Eichel hat hier noch
etwas anderes erwähnt: Sie haben nämlich so getan, als
hätten Sie das Sparen erfunden. Aber was er tut, ist nichts
anderes, als die deutsche Einheit immer wieder schlechtzureden.
({3})
- Hören Sie doch mal zu!
Er hat in der Steuerreformdebatte gefragt: Was werden
unsere Kinder sagen, wenn sie 2010 deutlich mehr Schulden haben als beispielsweise dänische Kinder? Ich kann
Ihnen die Antwort geben. Unsere Kinder werden sagen:
Wir beteiligen uns gern am Schuldenabbau. Ihr habt 1990
mit der deutschen Einheit die richtige Entscheidung getroffen. Meine Kinder werden noch hinzufügen: Sonst
wäre unsere Reise nach Amerika nämlich an Mauer und
Stacheldraht hier kurz vor der Tür schon gescheitert.
({4})
Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wahr, dass
wir für die Wiedervereinigung und die damit verbundenen Kosten Schulden gemacht haben. Ich bereue keine
einzige Mark für den Aufbau Ost. Ich kenne niemanden in
der Union, der diese Ausgaben bereut, selbst wenn wir mit
dem Wissen von heute sagen, vielleicht wäre das eine oder
andere auch effizienter gegangen.
Wir haben keinen Unsinn finanziert. Wir haben nach
all den großen deutschen Misserfolgen - und davon gibt
es genug - das größte, sinnvollste und friedlichste Projekt
finanziert, das Deutschland im 20. Jahrhundert jemals mit
eigener Kraft betrieben hat.
({5})
Wir haben etwas zu reparieren versucht, was zuvor zwei
Diktaturen in Deutschland angerichtet haben. Die deutsche Einheit ist deshalb keine Schuldenlast, sie ist eine
historische Investition in die Zukunft Deutschlands und
eines neuen Europa.
Wir sind noch beim Stichwort „belasten“. Auf der Einnahmeseite will der Bundesfinanzminister beispielsweise
die Preise für Bundeseigentum massiv erhöhen und damit den gleichen Effekt erzielen: Mehreinnahmen für die
öffentliche Hand und Belastungen für die Bürger. Konnten Erwerber von land- und forstwirtschaftlichen Flächen
in den neuen Ländern noch bis Ende 1998 Flächen um bis
zu 65 Prozent verbilligt erwerben und damit sowohl die
Nachteile der Vergangenheit ausgleichen wie auch den
Aufbau landwirtschaftlicher Betriebe stützen, so schneidet die Bundesregierung nunmehr dieses Programm auf
maximal 35 Prozent zurück. Selbst in bereits abgeschlossene Kaufverträge wird eingegriffen.
({6})
Noch ein konkretes Beispiel: „Chancen verspielt“.
Deutschland profitiert vom Export, so die führenden Wirtschaftsinstitute in ihrem aktuellen Frühjahrsgutachten.
Der schwache Euro trägt - ob gewollt oder ungewollt dazu bei. Die wesentlichen Zahlen sind bekannt, aber ich
will sie wiederholen: Die Prognose für Deutschland liegt
mit 2,8 Prozent pro Jahr merklich unter den Wachstumsraten Europas.
Was die Bundesregierung als Erfolg feiert, ist in Wahrheit die weitere Abkoppelung vom europäischen Wachstumspfad. Es kommt schlimmer: Es ist in Wahrheit vor allem auch die weitere Abkoppelung Ostdeutschlands von
den gesamtdeutschen und weltwirtschaftlichen Chancen.
Denn das ostdeutsche Wachstum wird 2000 und 2001 weit
unter den 2,8 Prozent für Gesamtdeutschland liegen.
Nach den bescheidenen 1,2 Prozent in den ostdeutschen
Flächenländern im Jahre 1999 wird das Inlandsprodukt
wohl durchschnittlich nur um 2 Prozent in 2000 zunehmen. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Spanien wird mit 3,9 Prozent ungefähr doppelt so stark steigen wie das in Ostdeutschland. In Portugal sind es
3,5 Prozent, 4,8 Prozent in Polen und 5 Prozent in Ungarn.
Sind ostdeutsche Arbeiter schlechter als Portugiesen oder
Polen? Ganz sicher nicht.
({7})
Die Bundesregierung koppelt Ostdeutschland nicht nur
von Westdeutschland, sondern genauso von Europa ab.
Eigentlich wollten die Menschen in den neuen Bundesländern den Abstand zum Westen verringern und nicht
von Polen eingeholt werden. Die neuen Länder müssen
also stärker am Exportboom teilhaben; da sind wir uns sicher einig mit der Bundesregierung. Der Anteil der neuen
Länder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz ist
aber mit circa 6 Prozent weiter viel zu niedrig. Im verarbeitenden Gewerbe liegt der Anteil des Auslandsumsatzes
am Gesamtumsatz bei nur 18 Prozent. Damit ist er um die
Hälfte niedriger als die vergleichbare Exportquote westdeutscher Unternehmen.
({8})
Westdeutschland ist Exportweltmeister, Ostdeutschland spielt in der Regionalliga. Da wirkt es schon zynisch,
wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung
letzte Woche gesagt hat: Lasst uns ein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Exportwirtschaft gut geht.
({9})
Die frühzeitige Stärkung des ostdeutschen Exportes
hätte zu einer wesentlich stärkeren Partizipation Ostdeutschlands geführt. Ich erinnere an den Antrag unserer
CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Absatzförderung Ost,
den wir zuerst vorgelegt haben.
({10})
Bereits 1999 wurde die Entwicklung verschlafen. Die
Weichen wurden falsch gestellt, bei der EU-Osterweiterung wurden keine klaren Aussagen getroffen. Da muss
man sich über die negative Wirtschaftsentwicklung in
Bezug auf die mittel- und osteuropäischen Staaten
nicht wundern. Betrug der Export 1998 noch 98 Milliarden DM, so betrug er im Jahre 1999 nur noch 84 Milliarden DM.
Was ist zu tun, um den Aufbau Ost wieder voranzubringen? Die Zahlen in den Ländern des Ostens Deutschlands sind nicht gut. Aber das Ziel kann nur eine sich
selbst tragende Wirtschaftsentwicklung sein. Heute fehlende Investitionstransfers sind schon morgen Sozialtransfers. Die neuen Länder bleiben auf absehbare Zeit
eine große nationale Herausforderung, eine Aufgabe, die
Regierung und Opposition gleichermaßen fordert. Wir
sind bereit, mit Ihnen zusammen Bilanz zu ziehen und aus
den Erfahrungen der letzten zehn Jahre die richtigen
Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Wir wollen keine Gegensätze konstruieren, wo keine sind, sondern klare
Schwerpunkte setzen.
Ganz kurz die wichtigsten Punkte. Wir brauchen eine
Förderpolitik aus einem Guss. Die Leistungen für die
neuen Länder, die Staatsminister Schwanitz in der Liste
zusammengefasst hat, müssen im kommenden Haushalt
erhalten bleiben. Mit Mogelpackungen sollte es erst gar
nicht versucht werden.
({11})
Wir sollten uns zunehmend von der Vorstellung trennen, der Osten müsse den Westen kopieren und ihn dadurch einholen. Wer ständig Vergleiche zieht und merkt,
dass der Abstand sogar größer wird, fällt weiter zurück.
Diese auch mentale Sperre muss überwunden werden.
Vielleicht stimmt die Formel „Überholen, ohne einzuholen“ ja doch. Wir erleben den Wechsel von einer Industriezu einer Wissens- und Ideengesellschaft. In diesem Prozess müssen wir neue Ziele definieren; industrielle
Leuchttürme bleiben wichtig, Hightech-Signale sind genauso notwendig. Es geht darum, in den Zukunftsbereichen sowohl schneller als auch besser zu sein. Das mag
unrealistisch klingen; aber nur wer das Unmögliche anstrebt, kann das Mögliche erreichen.
Gleichwohl braucht eine solche Förderpolitik auch
künftig ein solides Fundament. Die Zahlen zu Beginn haben es deutlich gemacht: Investitionen in die Infrastruktur
sind das A und O. Investitionen in Straßen, Schienen,
Datenautobahnen bleiben für eine Volkswirtschaft überlebensnotwendig. Sie stärken den Standort Ost und regen zu
neuen Ansiedlungen an. Haben Sie den Mut, Herr Bundeskanzler, künftig weniger Geld für den zweiten und
dritten Arbeitsmarkt und mehr für den ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen!
({12})
Die Menschen verdienen echte Perspektiven in Dauerarbeitsplätzen.
({13})
Die Luftbuchungen bei der Bundesanstalt für Arbeit kann
ich überhaupt nicht akzeptieren. Wirklich neue Arbeitsplätze schafft nämlich nur die Wirtschaft.
({14})
Diesen Punkt halte ich für äußerst wichtig. Wir sollten
den Bürgern nicht den Eindruck vermitteln, die öffentliche Hand allein könne mit Steuergeldern den weiteren
Aufbau der neuen Bundesländer bewältigen. Die Politik
kann Impulse geben, sie kann anregen und überzeugen.
Aber sie kann und darf sich nicht auf die Rolle des Heilsbringers festlegen lassen. Wir brauchen die Unterstützung
der Wirtschaft, vor allem die der eigenen westdeutschen
Wirtschaft. Ich bin mir hier nicht zu schade, auch zu sagen: Wir müssen an den Patriotismus der Unternehmer in
Deutschland appellieren.
({15})
Bundeskanzler Kohl hatte diesen entscheidenden Ansatz bereits 1993 erkannt, als er die Wirtschaft für den Solidarpakt I mit an den Tisch geholt und dort Zusagen zugunsten des Ostens erhalten hat. Wir brauchen eine Einkaufsoffensive nicht nur für ostdeutsche Produkte,
sondern zum Beispiel auch für ostdeutsche Dienstleistungen.
Herr Kollege Nooke,
Sie sind jetzt schon weit über die Redezeit. Ich bitte Sie,
zum Schluss zu kommen.
({0})
Es gab ja eine Zwischenfrage.
Ich möchte das noch zu Ende führen: Wir müssen
Dienstleistungen, Anwaltsleistungen und auch Versicherungsleistungen in Ostdeutschland einkaufen.
Ich lasse aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die anderen Punkte, die ich noch nennen wollte, weg.
({0})
Ich möchte aber an dieser Stelle noch auf Folgendes deutlich hinweisen.
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie wirklich bremsen. Sie hatten eine reichliche
Redezeit und die ist jetzt vorbei.
({0})
Wir müssen das nächste
Mal über die in den neuen Bundesländern im Bildungsund Studienbereich bestehenden Fehlentwicklungen sprechen. Da sehen die SPD-geführten Länder ganz schlecht
aus.
({0})
Während die CDU-geführten Länder das Abitur nach
zwölf Jahren übernommen haben, haben die SPD-geführten Länder Wettbewerbsvorteile leichtfertig aus der Hand
gegeben.
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie noch einmal erinnern.
Ich höre auf.
Ich möchte als Letztes einen Vorschlag machen:
({0})
Herr Kollege Nooke,
ich möchte Ihnen nicht unbedingt das Mikrofon abschalten. Deshalb wäre es gut, Sie würden von sich aus das
Rednerpult verlassen.
Dann bedanke ich mich
für Ihre Aufforderung.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Schubert,
SPD-Fraktion.
Herr Kollege Nooke,
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede wörtlich gesagt - ich zitiere -: „Eine verantwortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzureden.“ Ich stelle nach Ihrer Rede fest: Sie haben weiter
nichts getan, als den Standort Ost schlechtzureden.
({0})
Sie haben nicht nur den Standort Ost schlechtgeredet, sondern auch die gesamte Debatte ideologisiert. Sie sind aufgrund Ihrer ideologischen Vorprägung nicht bereit, das,
was der Kanzleramtsminister im Hinblick auf die Daten
und Fakten in Ostdeutschland gesagt hat, positiv zu würdigen. Ich verlange von Ihnen als Opposition nicht, dass
Sie Hurra schreien. Wenn Sie aber von uns und übrigens
auch vom Bundeskanzler
({1})
als Gesprächspartner ernst genommen werden wollen,
dann verlange ich von Ihnen, dass Sie zumindest die Fakten zur Kenntnis nehmen. Das war der erste Punkt.
Ein zweiter Punkt - er passt übrigens zu der ideologisierten Unverantwortlichkeit, die Sie hier zum Besten gegeben haben -: Ich war gespannt auf Ihre Antwort auf die
von Ihnen gestellte rhetorische Frage: Was ist zu tun? Was
Sie in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, verehrter Herr Nooke, war außer lauer Luft und der Aussage,
dass die Politik nicht zuständig sei - auch das habe ich
gehört - der Hinweis: Wir machen weiter so, wie das Herr
Kohl begonnen hat. Genau das ist ein wesentliches Problem dafür, weshalb wir zurzeit in Ostdeutschland nicht
nur glänzen, sondern auch vor schwierigen Situationen
stehen.
Wenn Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen neue
Wege eingeschlagen und neue Strategien ergriffen haben,
die zu wirken beginnen, dann sind Sie für uns - es tut mir
wirklich Leid - ein unverantwortlicher Oppositionspolitiker, mit dem sich im Grunde genommen ein Dialog nicht
lohnt.
({2})
Herr Kollege Nooke,
zur Erwiderung bitte.
Sie hätten mich ja ausreden lassen können - ich hätte nur noch eine Minute gebraucht -, dann wäre dies jetzt nicht nötig gewesen, Herr
Schubert.
({0})
Ich habe ausgeführt, dass wir nicht einfach sagen können, die Bauwirtschaft gehe zurück, da wir in Ostdeutschland diese Investitionen zum einen für den Aufbau
der Infrastruktur und zum anderen für die Verbesserung
der Situation auf dem Arbeitsmarkt und für höhere
Wachstumsraten bräuchten. Wir brauchen keine neue Verteilungsdebatte, wie die Lohnangleichung aussehen muss.
Vielmehr brauchen wir einen sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung. Ich habe Sie aufgefordert, im Hinblick auf all diese Punkte und auf den Export aus den vergangenen zehn Jahren die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Aber was ich nicht machen kann, ist, die wirklich bedrückenden Zahlen schönzureden. Ich kann einfach nicht
so tun, als sei das Problem Ostdeutschland mit dem Gefälle zwischen Nord und Süd in Westdeutschland zu vergleichen. Das ist nicht richtig. Herr Schubert, wir müssen
uns klarmachen: Der Aufbau Ost ist eine nationale Herausforderung. Das sollte Ihre Fraktion der Bundesregierung deutlich machen. Es kann nicht sein, dass der Aufbau Ost so nebenher angegangen wird, keiner den zuständigen Staatsminister kennt und der Kanzler in diesem
Zusammenhang immer den Eindruck erweckt, als sei er
gelangweilt.
({1})
Es geht darum - davon bin ich sehr überzeugt -, zu verhindern, dass der Osten Deutschlands zum Mezzogiorno wird. Es wäre nett, wenn der Kanzler in diesem
Sommer seinen Urlaubsaufenthalt von Positano nach Ostdeutschland verlegen
({2})
- das wäre doch gut - und sich dort einmal umschauen
würde. Es gibt dort schöne Ecken. Aber es gibt noch unwahrscheinlich viel zu tun.
Danke.
({3})
Nächster Redner in
der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Günter Nooke, ich halte es für falsch, den Zustand der
deutschen Einheit am Gesichtsausdruck des Kanzlers ablesen zu wollen.
({0})
Das war schon früher nicht möglich. Da hing alles,
({1})
obwohl es durchaus Aufwärtstendenzen gab. Aber ich
glaube, es ist falsch, wenn man den Aufschwung Ost als
eine politische Face-Lifting-Veranstaltung betrachtet.
({2})
Es handelt sich vielmehr um eine ernsthafte und anstrengende Angelegenheit, von der ich glaube, dass wir sie
durch Parlamentsdebatten nicht allein voranbringen werden - damit enttäusche ich dich aufgrund deines gerade
gezeigten Einsatzes vielleicht -; denn dies hängt von der
Leistungsbereitschaft und der Tatkraft der Leute in den
neuen Bundesländern und von den politischen Maßnahmen der Bundesregierung, auch dieser Bundesregierung,
ab. Deshalb ist es nicht angebracht, alles pauschal in
Bausch und Bogen zu kritisieren.
({3})
Es ist ein Pauschalvorwurf, wenn gesagt wird, diese
Regierung habe kein Konzept. Ich kenne das, mir kommt
das Ganze irgendwie sehr vertraut vor.
({4})
Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten wir nicht nur
unsere Rollen getauscht, sondern zugleich auch unsere
Texte.
({5})
- Dass ich mich in meiner Kritik wiederhole, darf Sie
doch wirklich nicht wundern. Einiges ist ja so geblieben;
da muss noch nachgebessert werden.
Anfang der 90er-Jahre war die Kritik, dass es kein
Konzept gab, durchaus berechtigt. Aber mittlerweile gibt
es ein Konzept. Und ein Bestandteil dessen ist, Günter
Nooke, dass wir mit den erfolgreichen Teilen der alten
Bundesregierung, die es ja gegeben hat - das stellen wir
überhaupt nicht in Abrede -, fortfahren.
({6})
Zudem gibt es einen Reparaturplan, also einen Plan, was
wir alles in Ordnung bringen, wo es Fehler und Fehlallokationen gegeben hat. Das ist Ihnen bekannt. Wir haben ja
gerade bezüglich der Entwicklung der Kapazitäten in der
Bauwirtschaft damit zu kämpfen, dass Kapital auf der
grünen Wiese im wahrsten Sinne des Wortes in den
Sand gesetzt worden ist. Die Überkapazitäten, dieser
Normalisierungsprozess im Bauwesen, haben also mit
den Fehlern der alten Bundesregierung zu tun.
Und wir haben Ansätze, zum Beispiel die Konzentration auf Innovations- und Investitionsförderung. Hier gibt
es völlig neue Gesichtspunkte. Ich bitte also zu berücksichtigen, dass diese Regierung ein gestrafftes neues Konzept hat.
Wenn ich mir allerdings einige Ihrer Anträge anschaue,
die heute zur Diskussion stehen, zum Beispiel den Antrag
zur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, so muss ich feststellen, dass wir dies bereits 1995 gefordert haben. Damals haben Sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass es überhaupt einen solchen Bericht gibt.
({7})
Jetzt kann er nicht lange genug weitergeführt werden.
Jetzt soll es ihn bis 2005 geben. Ich habe nichts dagegen.
Aber wir dürfen bestimmte Dinge nicht durcheinander
bringen.
Ich erinnere an die Anpassung der Strompreise.
Günter Nooke, wir haben doch in der Volkskammer gemeinsam gegen den Stromvertrag gekämpft.
({8})
Das ist doch die Ursache dafür, dass es zur Lex VEAG,
dass es durch die erhöhten Strompreise zu einem Standortnachteil für ostdeutsche Betriebe gekommen ist. Womit wir es jetzt zu tun haben, ist das Abräumen von Fehlern der Regierung Kohl - um dies einmal ganz klar zu sagen.
({9})
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke?
({0})
Ja, bitte.
Das ist ein wichtiges
Thema. Ich glaube nicht, dass sich die deutsche Stromwirtschaft mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um die deutsche Solidarität zwischen Ost und West geht. Das will ich
ganz deutlich sagen.
Herr Kollege Schulz, es ist mir schon wichtig, dies zu
sagen, auch da Staatssekretär Tacke jetzt hier ist: Dieses
Jahr, das wir durch die VEAG verloren haben, weil ein
unsägliches Stabilisierungsmodell umzusetzen versucht
wurde, welches jetzt gescheitert ist, geht zu Ihren Lasten.
({0})
Stimmen Sie mir darin zu, Herr Werner Schulz, dass es
nicht nur in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, sondern dass es hier auch ganz konkrete Fehler der jetzigen
Bundesregierung gibt?
Günter Nooke, was die ostdeutsche Stromwirtschaft anbelangt, so haben wir acht Jahre verloren.
({0})
Werner Schulz ({1})
Womit wir uns jetzt herumschlagen - ich wiederhole es -,
sind die Fehler, die am Anfang gemacht wurden, indem im
Grunde Monopolstrukturen erhalten und ausgeweitet
worden sind, indem drei westdeutsche EVUs die gesamte
ostdeutsche Stromwirtschaft übernommen haben, dieses
Gebiet in gewisser Weise wie ein Sondergebiet behandelt
worden ist und Wettbewerb überhaupt nicht möglich war.
Wir haben jetzt einen neuen Ansatz der Privatisierung, um
überhaupt ausländisches Kapital hereinholen und einen
eigenständigen ostdeutschen Stromkonzern erst einmal
aufbauen zu können. Das ist doch der Punkt.
({2})
- Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man nicht
mehr weiß, was man getan hat. Wir haben es doch mit der
so genannten PSA-Formel - Privatisierung, Sanierung,
Abwicklung - zu tun gehabt.
({3})
Dies ist häufig in einem Projekt, einem Betrieb erfolgt.
Noch heute gibt es eine Schmierspur, die nach Leuna
führt. Ich will gar nicht alles, womit wir zu tun haben, aufrollen.
Wir haben, um einen Kalauer bzw. Kohlauer aufzugreifen, 1998 keine blühenden Landschaften übernommen, sondern eher eine Landschaft im Umbruch, im
Zwielicht. Auf der einen Seite ging es um eine Verbesserung der materiellen Ausstattung der Lebensbedingungen.
Das geht auf die alte Bundesregierung zurück. Da ist viel
passiert; das kann niemand in Abrede stellen. Jeder, der
die Städte im Osten besucht, weiß, was dort in Bezug
auf den Städtebau und den Wohnungsbau geschehen ist,
dass die Lebensbedingungen vorangebracht worden sind.
Auf der anderen Seite erleben wir Defizite im Hinblick
auf den Aufbau einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur. Das sind im Grunde genommen
die Schwächen. Es ist auch müßig, immer wieder zu betonen, dass der Osten beim Wachstum zurückbleibt.
({4})
Das gilt dann, wenn man das gesamte Bruttoinlandsprodukt betrachtet. Dort ist das der Fall. Aber wenn man es
differenziert betrachtet, Kollege Türk, sieht das anders
aus: Wir haben zwar einen Rückgang in der Bauwirtschaft, aber wir haben zweistellige Wachstumsraten bei
den interessanten, modernen Branchen, bei der IT-Branche, in der Medizintechnik, in der Biotechnik und anderen. Man muss sich das also schon etwas genauer
anschauen. Es sind im Osten vor allen Dingen kapitalintensive Betriebe aufgebaut worden und weniger arbeitsintensive Betriebe.
Das ist auch ein Grund dafür, dass es diese hohe Arbeitslosigkeit gibt. Ursprünglich waren es einmal 9 Millionen Beschäftigte, jetzt sind es noch 6 Millionen. Wir
haben dort eine extrem hohe Arbeitslosenquote; sie ist
doppelt so hoch wie im Westen, keine Frage. Wenn man
verdeckte Arbeitslosigkeit mit einrechnet, haben wir eine
Arbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent. Allerdings gibt es
auch eine wesentlich höhere Erwerbsquote, bezogen auf
die Bevölkerungszahl. Auch das ist hochinteressant. Auch
darüber muss man diskutieren.
({5})
- Nein, das habe ich immer betont, Paul Krüger. So ist es
doch nicht.
Das sind interessante Phänomene, die man nicht so einfach abtun kann. Man kann nur nicht sagen: Die Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen ist zu hoch; wenn
es die nicht gäbe, könnten wir das Problem lösen. Das ist
Ihr Ansatzpunkt; ihn teile ich nicht.
({6})
- Ich kenne diesen Ausdruck von Kurt Biedenkopf; es ist
die Wahrheit. Er hat zusammen mit Meinhard Miegel die
Auffassung vertreten: Wenn man die Erwerbsneigung der
ostdeutschen Frauen wieder auf die drei Ks zurückdrängen kann, also Kinder, Kirche, Küche, dann ist die Sache
geritzt und dann könnte man einen gewissen Gleichstand
herstellen.
({7})
Was ich interessant finde - das sollte man vielleicht
auch einmal betrachten -, ist dieAnnäherung bei den Realeinkommen in Ost und West. Wenn man sich den vorletzten Wochenbericht des DIW anschaut, wird man auf
das interessante Phänomen stoßen, dass es in dieser Frage
im Westen eher eine Rückentwicklung gibt. Die Zahl - soweit ich sie jetzt in Erinnerung habe - lag da im Schnitt
bei 38 000 DM und ist jetzt auf etwa 37 000 DM zurückgegangen, während sie im Osten von 24 000 DM auf
30 000 DM gestiegen ist. Das heißt, es findet eine Angleichung der Einkommensverhältnisse und damit auch
der Lebensverhältnisse statt. Man muss auch berücksichtigen, dass man im Osten heutzutage da und dort immer
noch etwas preiswerter lebt.
({8})
- Vielleicht nicht da, wo Sie, Herr Jüttemann, herkommen; ich weiß es nicht. Wir leben im Moment im Osten
auf einem Niveau, das 85 Prozent des Westniveaus entspricht. Das kann man sagen. Es hat eine Annäherung gegeben.
Man sollte auch vorsichtig sein, inwieweit man die
Forderung nach Angleichung der Löhne kurzfristig
hochschrauben sollte, wie die PDS das beispielsweise tut.
Das ist ein ambivalentes Problem. Im Moment ist das
Lohnniveau im Osten ein Standortvorteil. Ich kann aber
Werner Schulz ({9})
auch sehr gut verstehen, dass die Leute eine Perspektive
brauchen, damit sie sehen können: Wie geht es weiter?
Wie entwickeln sich die Löhne? Dazu sage ich: Schauen
Sie sich beispielweise einmal den öffentlichen Dienst an.
Wenn wir im öffentlichen Dienst Ihre Forderung, die
Löhne anzugleichen, erfüllen würden, dann würde das zu
Entlassungen führen; das müssen Sie fairerweise hinzufügen. Die Beschäftigtenquote im öffentlichen Dienst,
bezogen auf 1 000 Einwohner, liegt im Westen bei etwa
20 Beschäftigten; in Sachsen sind es 23, in Sachsen-Anhalt 33 und in Brandenburg sind es, glaube ich, 27. Das
heißt, die Zahlen im Osten liegen weit höher als im Westen. Das würde bedeuten, dass wir, wenn wir im öffentlichen Dienst im Osten zu vergleichbaren Kosten arbeiten
wollten, einen Beschäftigungsabbau vornehmen müssten.
Die gleiche Lohnsumme würde sich also auf weniger
Beschäftigte verteilen.
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
Ja.
Herr Kollege Schulz, was ich
bei Ihrer Argumentation nicht verstehe, ist, warum Sie nur
von der Kostenseite her diskutieren. Es gibt ja zum Beispiel die gesetzliche Bestimmung, wonach jedem Kind ab
dem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zur Verfügung stehen muss. Dies ist in den alten Bundesländern bei
weitem noch nicht erreicht, in den neuen Bundesländern
konnte es zum Glück erhalten werden. Auch das ist eine
Ursache dafür, dass die Quote im öffentlichen Dienst in
den neuen Bundesländern höher ist als in den alten Bundesländern.
Wenn Sie nur über die Kosten diskutieren und dabei
völlig wegwischen, welche Aufgaben durch die öffentliche Hand erfüllt werden, kommen wir, so glaube ich,
nicht zu einem sinnvollen Vergleich. Damit können wir
die gesellschaftlichen Aufgaben, die anstehen, nicht bewältigen.
({0})
Das war mehr eine Feststellung, die ich nicht einmal widerlegen kann. Ich glaube bloß, dass die Garantie
auf einen Kindergartenplatz nicht die hohe Beschäftigungsquote im öffentlichen Dienst auslöst. In diesem
Fall haben Sie Recht, auf der anderen Seite ist es aber so,
dass der öffentliche Dienst, dass die Verwaltungen im
Osten einfach überbesetzt sind. Das wissen wir, das ist ein
Problem.
Bei den Lehrern wurde das Problem gelöst, indem die
Lehrer im öffentlichen Dienst blieben und teilweise für
weniger Geld arbeiten. Das ist eine kreative Lösung und
man sollte sie nicht angreifen und sagen, sie müssten jetzt
alle gleich bezahlt werden. Wir haben das auch deshalb
gemacht, damit die Leute - das halte ich für den besseren
Weg - in Beschäftigung bleiben und dafür auf einen gewissen Teil ihres Einkommens verzichten.
({0})
Wir haben eine positive Einkommensentwicklung - sie
geht zwar manchen nicht schnell genug -, aber man muss
aufpassen, dass sie nicht kontraproduktiv wird.
({1})
Wenn man sich die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen
näher anschaut, sieht man, dass im Osten jährlich 15 000
bis 20 000 neue Arbeitsplätze hinzukommen. Das heißt,
der Osten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung überhaupt nicht abgekoppelt. Im Gegenteil: Das kommt in den
nächsten Jahren noch besser zum Tragen. Das hat der
Bundeskanzler letzte Woche in seiner Regierungserklärung bereits ausgeführt.
Hier muss natürlich - ich will das jetzt nicht vertiefen,
denn wir haben bereits gestern diese Diskussion geführt die Steuerreform, das Steuerentlastungsgesetz gewürdigt werden. Ich finde, es hat vor allen Dingen positive
Auswirkungen auf den Osten. Der Osten gehört wirklich
zu den Gewinnern des Steuerentlastungsgesetzes, und
zwar nicht nur bei den privaten Einkommen. Dort ist das
Gros der Entlastung zu erwarten, weil es im Osten überwiegend mittlere und kleine Einkommen gibt. Familien
mit Kindern werden durch das erhöhte Kindergeld, die
Existenzfreibeträge und die Senkung des Eingangssteuersatzes besser gestellt. Hier wirkt sich das Gesetz aus. Das
DIW hat festgestellt - das wurde eingangs schon erwähnt -, dass das Realeinkommen der Haushalte zugenommen hat.
Aber auch die kleinen und mittelständischen Betriebe
im Osten sind im Vorteil. Es werden zum Beispiel, was
von der CDU/CSU, so von Herrn Rauen, an anderer Stelle
kritisiert wird, die reinvestierten Gewinne besser gestellt.
Das, was hier vorgenommen wird, lohnt sich gerade für
Existenzgründer, deren Kapitaldecke dünn ist. Das sind
überwiegend Betriebe im Osten, für sie ist das rentabel.
Das gilt genauso für die Anrechnung der Gewerbesteuer
auf die Einkommensteuer. Auch das zahlt sich für viele
aus; denn sie können das komplett absetzen. Die Steuerreform ist, wenn Sie so wollen, ein sehr mittelstandsfreundliches Konzept für den Osten.
({2})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die ostdeutschen CDU-Abgeordneten daran herumkritteln. Da haben
sie selbst während der Regierungszeit von Helmut Kohl
mehr Mut gehabt und sind hervorgetreten und haben ihre
eigenen Interessen vertreten. Ich hoffe, dass zumindest
die ostdeutschen Ministerpräsidenten, auch die der CDUregierten Länder, nicht gegen ihre eigenen Interessen im
Bundesrat stimmen werden.
({3})
Werner Schulz ({4})
Denn wer gegen das Steuerentlastungsgesetz stimmt, der
stimmt gegen das Wirtschaftswachstum im Osten, der
spricht sich gegen die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus
({5})
und vertieft auf diese Weise auch die Spaltung zwischen
Ost und West.
({6})
Ich würde Ihnen empfehlen, das noch einmal gründlich
zu überlegen und Ihre Haltung zu revidieren.
({7})
- Darüber haben wir gestern schon ausführlich diskutiert.
Ich will das hier nicht vertiefen, aber es ist tatsächlich so.
Ihr Einwand, dass wir darüber reden müssen, erschüttert
mich nicht sonderlich. Das tun wir doch hier.
({8})
Wir haben überhaupt keinen Grund, beim Aufbau Ost
einen Gang zurückzuschalten, denn die Sache läuft relativ gut. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass die
Entwicklung noch auf hohe gesamtstaatliche Transfers
angewiesen ist.
Deswegen wird es in der nächsten Zeit auch darauf ankommen, dass wir einen neuen Solidarpakt schließen, damit das Föderale Konsolidierungsprogramm fortgesetzt
wird.
Anknüpfend an die Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt Entwicklungshilfe möchte ich sagen: Auch
hier gilt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müssen aufpassen, dass keine große Wunschliste zusammengestellt wird, die sich möglicherweise aus den Gutachten
der fünf Institute ableitet und zur Folge hat, dass große
Leistungen zur Erfüllung dieser Ansprüche erbracht werden müssen.
Wir müssen uns die Entwicklung im Osten - auch hinsichtlich der Infrastruktur - genauer und differenzierter
ansehen. In einigen Bereichen ist die Infrastruktur in den
neuen Bundesländern mittlerweile moderner als in den alten Bundesländern, so zum Beispiel bei der Telekommunikation. Dort liegen Zukunftsinvestitionen unter der
Erde. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Verkehrsinfrastruktur, hinken wir nach wie vor hinterher.
Dort muss nachgerüstet werden. Dies bezieht sich nicht
nur auf die 19 Verkehrsprojekte deutsche Einheit mit einem Volumen in Höhe von 65 Milliarden DM, übrigens
von der alten Bundesregierung unterfinanziert. Deswegen
haben wir hier auch so große Schwierigkeiten.
Bei manchen Dingen müssen wir uns im Osten selbstkritisch an die eigene Nase fassen. Wir haben uns vielfach
länger mit der Umbenennung einer Straße als mit ihrem
Zustand und ihrer Qualität beschäftigt. Den Kommunen
war es wichtiger, sich zu überlegen, wie eine Straße
heißen sollte, als festzulegen, wie sie aussehen sollte. Es
geht also darum, wie wir Fördermittel abrufen und wo wir
sie einsetzen.
Wir wissen, dass wir nach wie vor in das Bildungssystem investieren müssen. Die Bildungseinrichtungen, zum
Beispiel die Schulen, sind nach wie vor in einem schlechten Zustand. Die Attraktivität der Hochschulen lässt noch
zu wünschen übrig. Deswegen ist der Zulauf zu den ostdeutschen Hochschulen noch nicht befriedigend. Demgegenüber sind wir bei vielen weichen Standortfaktoren,
was Dienstleistungen anbelangt, mittlerweile moderner
als der Westen.
Für den Abschluss des Solidarpaktes II kommt es sehr
darauf an, ob der Osten in der Lage ist, zwischen seinen
Wünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden, ob
er seine Bedürfnisse genau benennt und ob er auf die Solidarität des Westens, der alten Bundesländer, bauen kann.
Ich glaube, das Beste, was der Osten selbst leisten
kann, ist die Konzentration auf Erneuerung, auf Innovation. Insofern finde ich es hochinteressant, dass der
Innenminister von Sachsen einen Vorschlag zur Länderfusion unterbreitet hat. Er bezog sich nicht nur auf
Berlin und Brandenburg, sondern er schlug vor, Sachsen,
Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt zusammenzulegen. Ich weiß, dies führt zu großen Debatten. Dabei geht
es um Identitäten, gewachsene Bindungen und dergleichen mehr. Aber wir müssen uns heute in diesem komplizierten Europa schon darüber verständigen, wie man Regionen in Deutschland wettbewerbsfähig und leistungsfähig machen kann, wie das Ganze zusammengefügt
werden kann. Wir müssen auch überlegen, ob wir alles
immer nur in Form eines hochkomplizierten Länderfinanzausgleichs regeln können, oder ob vieles nicht durch
eine Länderfusion einfacher und kostengünstiger geregelt
werden könnte.
Hier kommen zumindest interessante Denkanstöße aus
dem Osten. Ich glaube, damit und nicht durch ein Lamento auf schwachem Niveau kann er auf sich aufmerksam machen.
({9})
Nächster Redner ist
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um den
Bericht zur deutschen Einheit. Dieser liest sich in Teilen
wie ein Lamento oder eine Selbstbeweihräucherung, obwohl dies nicht sein Zweck ist. Es geht hier vielmehr um
Fakten. Und ohne Fakten kann man die Ursachen nicht
beseitigen, das heißt, wenn man sie nicht erkennt und benennt.
({0})
Aber dies setzt sich fort: In der vorigen Woche hat der
Kanzler seine Regierungserklärung zur „modernen Wirtschaftspolitik“ abgegeben. Sie war eine einzige Beweihräucherung und Schönrederei.
({1})
Werner Schulz ({2})
Heute geht es mit dem Staatsminister so weiter. Ich glaube
nicht, dass man den Aufbau Ost so betreiben kann. Ich
glaube auch nicht, dass dies eine gute Voraussetzung für
die Schaffung der deutschen Einheit ist, denn der Aufbau
Ost ist nach wie vor eine Voraussetzung für die deutsche
Einheit.
Vieles, was negativ ist oder so ausgelegt werden
könnte, taucht im Bericht nicht auf. Ich habe ihn mir wirklich sehr genau angesehen. Bei der Zahl der Patentanmeldungen beispielsweise gibt es zwischen Ost und West immer noch große Unterschiede. Dazwischen liegen Welten.
Ein weiteres Beispiel: In dem Bericht findet sich kein
einziges Wort darüber, dass im Sommer 1999 eine Haushaltssperre für alle vom Wirtschaftsministerium geförderten Forschungs- und Entwicklungsprogramme in den
neuen Bundesländern verfügt wurde. Diese Sperre, dieses
Hin und Her hat der ostdeutschen Forschungslandschaft
geschadet.
({3})
Ungeachtet aller anders lautenden Beteuerungen setzt die
Bundesregierung diesen Zickzackkurs in der Forschungsförderung auch jetzt noch fort. Auch in diesem Jahr wurde
bereits eine Haushaltssperre von 6 Prozent verhängt.
Das Weglassen solcher wichtiger Daten und Fakten im
Bericht erinnert mich in fataler Weise an ein Argument
aus Zeiten der alten DDR: Man darf dem politischen Gegner keine Munition liefern. - Das bringt uns aber wirklich
nicht weiter. Die Folge ist, dass uns jetzt ein Bericht vorliegt, der nicht ausgewogen ist. Er liefert keine objektive
Zustandsanalyse, die wir brauchen,
({4})
um beim Aufbau Ost gemeinsam voranzukommen.
({5})
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür Sorge
zu tragen, dass die künftigen Berichte über die Entwicklung in Ostdeutschland deutlich differenzierter Auskunft
geben.
({6})
Im Jahresbericht wimmelt es geradezu von Beteuerungen der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wolle,
um den Aufbau Ost zu befördern. Aber Versprechen sind
das eine, Taten das andere. Ein weiteres Beispiel: Zwar
hat die Bundesregierung die von uns 1997 begonnene und
1999 ausgelaufene Fördermaßnahme „FUTOUR“ bis
2003 verlängert. Aber während wir damals für 200 Technologieunternehmen noch 500 Millionen DM zur Verfügung hatten, sehen Sie hier heute lediglich 140 Millionen
DM vor.
({7})
Mit Sicherheit wird das nicht sehr viel weiterhelfen. Das
reicht nicht. Wenn man also Entscheidungen wie diese
trifft, dann braucht man sich wirklich nicht zu wundern,
warum keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden ({8})
und das bei einer Arbeitslosigkeit von jetzt circa 20 Prozent im Osten.
Legt man also an den Kanzler, der nicht da ist, die Latte
an, die er für sich selbst zum Maßstab gemacht hat, nämlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dann hat er
die Latte im Osten gerissen, denn im letzten Jahr gab es
im Osten fast 55 000 Menschen mehr ohne Arbeit. Darüber kann man natürlich nicht mit einem einfachen „Weiter so“ hinweggehen, sondern man muss untersuchen, wie
man das ändern kann.
({9})
Wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit, die heute schon
angesprochen worden ist, hinzurechnet, dann sieht es
natürlich noch schlimmer aus.
Ihr Ausweg ist: Wir legen beim zweiten Arbeitsmarkt
etwas drauf. Ich glaube, das ist ein Schuss, der inzwischen
wirklich nach hinten losgeht.
({10})
Um sachlich zu bleiben: Der zweite Arbeitsmarkt ist ja
von uns allen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gedacht. Man muss ganz realistisch feststellen, dass das
nicht mehr aufgeht. 5 Prozent kommen in den ersten Arbeitsmarkt, und diejenigen, die im zweiten Arbeitsmarkt
beschäftigt sind, belasten den ersten. Das ist kontraproduktiv. Da muss man sich wirklich - ich bin dafür, dass
wir das gemeinsam machen - überlegen, wie man das ändern kann.
({11})
Die Regierung ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass am
ersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze entstehen - das ist ja
ihre generelle Aufgabe -, und die entsprechenden notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die gestern verabschiedete ungerechte Steuerreform so will ich sie einmal bezeichnen - kann es nicht sein.
Trotz gegenteiliger Behauptungen, die heute immer wieder vorgetragen wurden, belastet sie die Kleinen und Mittleren.
({12})
Das kann natürlich nicht die Rahmenbedingung sein, in
der der Aufbau Ost vorangebracht werden könnte.
({13})
Aber es gibt ja noch Chancen. Die Entscheidung über
die Steuerreform steht bald im Bundesrat an. Wir haben
zum Beispiel den Brandenburger Ministerpräsidenten
Manfred Stolpe, der sich dafür einsetzen will, dass hier
nachgebessert wird. Ich meine, Sie bessern ja ohnehin
schon ständig nach. Warum dann nicht auch an dieser
Steuerreform, um das einmal wieder auf die Füße zu stellen?
({14})
Die Stunde der Wahrheit kommt bald im Bundesrat.
Außerdem sind wir der Meinung, dass insbesondere
Ostdeutschland ein flexibles Tarifvertragsrecht braucht.
({15})
Das ist natürlich für ganz Deutschland eine sinnvolle Forderung, aber insbesondere für den Osten, denn dort gibt es
kein Tarifvertragsrecht mehr, weil keiner mehr daran teilnimmt. Wir haben dort also einen totalen Wildwuchs.
40 Prozent der Unternehmen sind noch dabei. Ich kann
Sie namens der F.D.P. nur auffordern, dort wieder Ordnung zu schaffen, damit der Flächentarif im Osten nicht
völlig verschwindet. Hier muss endlich etwas gemacht
werden; er muss reformiert werden.
Dass wir bei den Lohnzusatzkosten eine Entlastung
brauchen, ist klar. Es muss also schnell etwas in Sachen
Rentenbeitragspunkte gemacht werden. Das kann man
nicht auf das nächste Jahr verschieben und hier, wie so oft,
auf das Bundesverfassungsgericht warten. Wir müssen
uns schneller einigen und dürfen das Thema nicht endlos
verschieben, wie wir es bei der Steuerreform erlebt haben.
Ostdeutschland braucht, Herr Staatsminister Schwanitz,
auf keinen Fall die Ökosteuer,
({16})
die kleine und mittlere Unternehmen, besonders im
Transportgewerbe, in ihrer Existenz gefährdet. Man kann
nicht immer sagen - das ist totaler Unsinn -, dass sie insbesondere dem Osten etwas bringe. Man muss das mal
untersuchen und sich mit den Leuten, die davon betroffen
sind, unterhalten und fragen, ob das wirklich so ist oder
ob man nicht doch etwas anderes machen müsse.
Warum, Herr Schwanitz, haben Sie solche den Aufbau
Ost gefährdenden Belastungen zugelassen? Es ist doch
Ihre Aufgabe, keine Maßnahmen zuzulassen, die insbesondere den Osten belasten. Denn für den Osten war gerade Entlastung und nicht zusätzliche Belastung angesagt.
Oder hatten hier etwa die Grünen das Sagen?
Nein, Herr Schwanitz, Gesundbeten und Schönreden - so
habe ich das heute empfunden -, wie Sie das auch heute
wieder in der „Freien Presse“ betrieben haben, bringt den
Aufbau Ost nicht weiter. Es ist doch nicht Ihre Aufgabe,
auf ein Wachstum im Jahre 2002 - so steht es im Interview - zu verweisen, das zufälligerweise ein Wahljahr ist.
Wir müssen jetzt etwas tun, damit der Aufbau Ost nicht
abgehangen wird.
({17})
Es stellt sich außerdem die Frage, warum der „Bericht
über gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsfortschritte in Ostdeutschland“ - so etwas gab es
einmal - von der Bundesregierung 1999 abgeschafft
wurde. Etwa deshalb, weil es keine Fortschritte mehr
gibt? Oder deshalb, weil darin festgestellt wurde, dass die
Kapitalausstattung der Arbeitsplätze erst 70 Prozent
des Westniveaus erreicht hat? Das hat natürlich etwas
mit Arbeitsproduktivität zu tun. Wenn ich nur 70 Prozent
der Kapitalausstattung habe, ist es schwer, die gleiche Arbeitsproduktivität zu erreichen.
Sie machen sich und uns etwas vor, wenn Sie die Industrie mit einem Wachstum von 6 Prozent als Hoffnungsträger aufbauen. Sie haben davon gesprochen, dass
das Wachstum im letzten Quartal einen zweistelligen Wert
erreicht habe. Aber eine Schwalbe - sprich: ein solches
Quartalsergebnis - macht noch keinen Sommer. Darauf
kann man nicht bauen. Lassen Sie die konjunkturelle Lage
in der Welt ein bisschen einbrechen - und schon bricht
Ostdeutschland wieder weg.
Warum wird die Misere in der ostdeutschen Bauwirtschaft nicht analysiert? Wir reden zwar immer davon,
dass es sie gibt, aber man muss sie doch auch einmal analysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus
ziehen. Ich habe erwartet, dass das in dem „Jahresbericht
1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen
Einheit“ geschieht. Sich hier hinzustellen und zu sagen,
dass sich der überhitzte Bausektor wieder abkühlen
müsse, ist doch eine billige Aussage, die nicht weiterhilft.
Ich weiß auch, dass der Bausektor etwas überhitzt war.
Aber man muss natürlich nach Lösungen suchen. Das
muss man insbesondere dann, wenn man weiß, dass ein
investitionshemmendes Infrastrukturloch von 300 Milliarden DM besteht. Es ist also nicht nach einer Beschäftigungstheorie für die Bauwirtschaft zu suchen; vielmehr
müssen wir hier erst einmal diese 300 Milliarden DM aufbringen.
Sparen und Schuldenabbau sind wichtig. Das unterstützen wir auch weiterhin. Wenn aber der Aufbau Ost
rückläufig ist, dann werden Sie aus dem Sparstrumpf bald
das Doppelte herausnehmen müssen. Das kann nicht Sinn
und Zweck der Sache sein.
Im Übrigen: In den immer leerer werdenden Plattenbausiedlungen tickt eine Zeitbombe. Das muss man
bei dieser Gelegenheit sagen. Hier steht neben der Altschuldenbefreiung eine umfassende Wohnumfeldverbesserung, einschließlich eines schonenden Rückbaus, an.
Das alles sind sinnvolle und notwendige Leistungen für
die Not leidende Bauwirtschaft. Es geht hier also nicht um
Beschäftigungstheorie, sondern um sinnvolle Arbeit.
Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Betreuung neu
gegründeter und bereits länger am Markt vorhandener
kleiner und mittlerer Unternehmen durch die Hausbanken. Hier sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht
nach dem Vorbild der Deutschen Ausgleichsbank Förderbanken Leistungen, einschließlich qualifizierter Beratung, aus einer Hand anbieten.
Zum Schluss fordere ich Sie auf: Verhindern Sie, dass
die Zahl der Großbetriebe in Ostdeutschland noch weiter
abnimmt - dort gibt es schon jetzt zu wenige -, indem Sie
den ostdeutschen Kohle- und Energieversorgern bei
der Suche nach neuen Anteilseignern und deren Etablierung mehr als bisher helfen. Hier muss ich Sie, Herr
Schwanitz, fragen: Wo waren Sie? Das ist unser letztes
großes Vorhaben; denn nur eine zügige Entflechtung wird
zu stabilen und wettbewerbsfähigen Unternehmen führen.
Die Chance ist da!
Als Cottbuser sage ich Ihnen: Wir brauchen ostdeutsche
„Energie“, aber in der Ersten Bundesliga.
({18})
Herr Kollege Türk,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Ich denke, dass das ein echter
Beitrag zur deutschen Einheit wäre.
Ich sage Ihnen allen: Glück auf!
({0})
Es spricht jetzt für die
SPD-Fraktion die Kollegin Jelena Hoffmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu Hause
in meinem Wahlkreis in Chemnitz bin und mit den Menschen rede oder Betriebe besuche oder einfach durch die
Stadt gehe, dann bin ich stolz auf das, was wir in den letzten zehn Jahren erreicht haben.
({0})
Wir haben bei weitem noch keine blühenden Landschaften, außer vielleicht zu dieser Jahreszeit im Erzgebirge. Ich weiß, dass für viele die Angleichung der Verhältnisse in Ost und West noch viel zu langsam vorankommt. Aber die Veränderungen sind klar und deutlich
erkennbar. Wer diese nicht sieht, der ist wirklich blind,
Herr Nooke. Das, was wir schon aufgebaut haben, kann
sich sehen lassen.
Ich möchte an dieser Stelle auf Ihre Rede eingehen,
Herr Nooke. Ich habe Sie oft im Ausschuss reden gehört.
Aber heute haben Sie mich unheimlich enttäuscht. Ich
habe vier Jahre beobachtet, wie Ihre Fraktion den Wirtschaftsstandort Deutschland im Deutschen Bundestag
schlechtgeredet hat.
({1})
Jetzt machen Sie das mit Ostdeutschland. Dann wundern
Sie sich auch noch, dass die Menschen aus Ostdeutschland weggehen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Beitrag für die Einheit von West- und Ostdeutschland ist.
({2})
Ich möchte wiederholen: Das, was wir aufgebaut haben, kann sich sehen lassen. In den neuen Ländern stehen
die produktivsten Automobilfabriken. Durch zahlreiche
Unternehmensgründungen sind neue und meistens leistungsfähige Strukturen entstanden. Über 530 000 Unternehmen sind aufgebaut worden. Dort arbeiten mehr als
3,2 Millionen Menschen. Die Produktivität ist stetig gestiegen. Beim Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist
die ostdeutsche Wirtschaft ein gutes Stück vorangekommen. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert. Wir
haben schon vieles geschafft. Darauf können und müssen
wir auch stolz sein, Herr Nooke.
Dennoch müssen wir in vielen Bereichen deutlich zulegen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dürfte in
Ostdeutschland erst bei circa 60 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen. Die niedrigen Löhne im Osten bedeuten meiner Meinung nach - darüber kann man sehr
kontrovers diskutieren - einen direkten Kaufkraftverlust
für die meistens regional agierende einheimische Wirtschaft. Die industrielle Basis ist noch immer nicht ausreichend. Die noch immer zu hohen Arbeitslosenzahlen sind
ein Beleg für viele ungelöste Probleme. Dieses Feld muss
mit Nachdruck bearbeitet werden. Dabei werden wir und
die Bundesregierung die ostdeutschen Betriebe auch weiterhin nach Kräften unterstützen.
Staatliche Förderungen sind in vielen Bereichen noch
immer unerlässlich, zum Beispiel bei Investitionen und
Innovationen sowie bei Existenzgründungen. Die Investitionsförderung bleibt auch weiterhin der Schwerpunkt
der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern. Deshalb
haben wir die I-Zulage zuerst auf 10 Prozent bzw. für
kleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent verdoppelt und dann noch einmal um 25 Prozent erhöht.
Zur gezielten Förderung des Mittelstandes kann man
an drei Punkten des „betrieblichen Lebenszyklus“ anknüpfen: an der Förderung von Existenzgründungen, an
der Wachstumsphase und schließlich an der Übergabe an
einen Nachfolger.
Der erste Aspekt - Existenzgründung - ist gerade für
den Aufbau stabiler wirtschaftlicher Strukturen in den
neuen Ländern von ganz entscheidender Bedeutung.
({3})
Wir brauchen unbedingt mehr Mut, mehr Engagement
und mehr Unternehmenskultur, um ein solides Fundament
für nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Doch
oft reichen Mut und Engagement nicht aus. Oft braucht
man auch finanzielle Unterstützung.
Besondere Akzente setzen wir bei der Stärkung von
Innovationsfähigkeit und Forschungskompetenzen.
Neben Programmen wie PRO INNO, Inno-Net, BTU,
Inno-Regio - ich hoffe, Sie, liebe Oppositionskollegen,
haben noch nicht vergessen, dass wir trotz aller Sparzwänge für die Folgejahre in diesem Bereich eine „Zukunftsmilliarde“ vorgesehen haben - möchte ich besonders das Programm FUTOUR ansprechen.
Zu den beiden Anträgen von CDU/CSU und PDS, die
heute unter anderem beraten werden, möchte ich sagen:
Es sieht ganz danach aus, als wäre der Schuss nach hinten
losgegangen, da wir das, was Sie fordern, bereits machen,
und zwar auf ökonomisch vernünftige Weise.
({4})
Wir haben die richtige Entscheidung getroffen, indem
wir das Programm FUTOUR über das Haushaltsgesetz
2000 verlängern. Wie ich aus dem Wirtschaftsministerium erfahren habe, ist das Programm sehr erfolgreich angelaufen. Bislang sind 180 Betriebe in den Genuss von
FUTOUR gekommen. Die Berliner, vor allen Dingen die
Ostberliner, können sich besonders freuen, weil in Ostberlin 55 Unternehmensgründungen realisiert worden
sind. In Sachsen wurden 38 und in Sachsen-Anhalt 29
neue Unternehmen gegründet.
Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen,
dass zum Beispiel in meinem Wahlkreis Chemnitz Verfahren in Lasertechnik entwickelt wurden und dass weltweit agierende Hightechunternehmen im Bereich optischer Prüf- und Messtechnik entstanden sind. In Zwickau
ist ein weltweit neues System zur Nutzung der Energie bei
Luftaustauschprozessen erfunden worden.
Ich möchte Sie fragen: Wissen Sie, was SynotecPsychoinformatik ist? Nein? - Ich wusste es auch nicht. Dann müssen Sie mit mir nach Geyer im Erzgebirge fahren, weil dort daran gearbeitet wird - das alles dank unserer Unterstützung. Allein in Südwestsachsen sind 1999
durch die Unterstützung von Existenzgründungen im
Technologiebereich 964 Arbeitsplätze in 206 neuen Unternehmen entstanden.
({5})
Das hat Roman Herzog mit seiner „Ruck“-Rede gemeint.
Aber das haben Sie nicht einmal begriffen, geschweige
denn umgesetzt.
({6})
In diesen speziellen Förderprogrammen wirkt natürlich unsere Politik der wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen. Das Zukunftsprogramm 2000 gibt uns
ein gutes Stück der finanzpolitischen Handlungsspielräume zurück, die wir für den Aufbau Ost ganz dringend
brauchen. Auch die Steuersenkungen werden zu einem
Investitionsschub führen, der - davon bin ich überzeugt gerade den Ostbetrieben zugute kommen wird. Wir haben
die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt und bemühen
uns nachhaltig, das Ausbildungsproblem zu lösen.
Alle diese Maßnahmen sind gut und richtig. Wir brauchen sie dringend, um die Probleme zu lösen, die zweifelsohne noch anstehen. Ich bin die Letzte, die dafür wäre,
die Probleme unter den Teppich zu kehren.
({7})
Wir müssen uns aber auch bewusst machen, was die Menschen in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon erreicht haben. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen halten, dann gewinnen wir auch die Kraft und Motivation,
die Aufgaben zu meistern, die noch vor uns liegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus der
Krise an die Spitze ist hart, manchmal sehr hart, aber er
lohnt sich auf jeden Fall, vor allen Dingen im Interesse der
Menschen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort für die PDSFraktion hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ihre Zuversicht hinsichtlich der Entwicklung der Realeinkommen Ost, Herr Kanzleramtsminister Schwanitz, würde ich ja gern teilen. Aber die Realität spricht leider eine andere Sprache. Wie Sie wissen,
kämpft die ÖTV gegenwärtig unter anderem um die
Angleichung der Löhne und Gehälter Ost an das Westniveau. Derzeit werden im Osten nur 86 Prozent gezahlt.
Hauptgegner der ÖTV ist dabei das Bundesinnenministerium,
({0})
das diese Angleichung nach Möglichkeit auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben will. Hochinteressant ist in
diesem Zusammenhang eine Dienstinformation des Bundesministeriums des Inneren an die obersten Bundesbehörden und andere unterstellte Institutionen. Darin
heißt es, dass für die beabsichtigte Einstellung eines bisher im Westen beschäftigten Arbeitnehmers im Tarifgebiet Ost der Osttarif anzuwenden sei.
Herr Kollege
Jüttemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lengsfeld?
Frau Lengsfeld, Ihre
Fragen sind niveaulos. Lassen wir das lieber, danke.
({0})
Die dadurch entstehenden Einkommensverluste könnten jedoch - so heißt es in dem Schreiben - zu Problemen
bei der Personalgewinnung führen. Als Konsequenz wird
in der BMI-Information Folgendes ausgeführt:
Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,
erhebe ich - im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen - keine Bedenken, wenn dieser
Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt wird und anschließend in das Tarifgebiet Ost
wechselt.
Im Klartext heißt das nichts anderes als das Einverständnis der Bundesregierung zur Tarifangleichung Ost an
West, allerdings nur für Leute aus dem Westen. So viel zur
viel zitierten Behauptung, vor dem Gesetz seien alle
gleich! Seit Heinrich Heine hat sich offenbar nicht allzu
viel verändert:
({1})
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
({2})
Noch ein Wort zur Angleichung der Löhne in Ost und
West: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
in seiner jüngsten Studie vom 10. Mai erstmalig die Tendenz einer solchen Einkommensangleichung registriert.
Die durchschnittlichen Jahreseinkommen der Haushalte
Ost seien 1997 - neuere Zahlen standen nicht zur Verfügung - auf 85 Prozent des Westniveaus angestiegen.
Interessant ist die Begründung: Neben den steigenden
Löhnen im Westen führt das DIW hier nämlich auch die
Jelena Hoffmann ({3})
seit 1992 rückläufigen Realeinkommen im Westen an.
Setzt sich diese Tendenz fort, wird die Angleichung
der Löhne - das Gleiche gilt im Übrigen auch für die
Lebensverhältnisse im Allgemeinen - eine Angleichung
nach unten sein. Das heißt, das allgemeine Niveau wird
gesamtgesellschaftlich abgesenkt. Das kann ja wohl weder im Interesse der Bevölkerung im Osten noch der im
Westen sein.
({4})
Lassen Sie mich diese Tendenz noch an einem Beispiel
belegen: Am 6. März dieses Jahres erhielt der Betriebsrat
der niedersächsischen Firma Hemeyer-Verpackungen
Bad Lauterberg die Nachricht vom Unternehmer, dass das
Werk am 31. Dezember 2000 seine Pforten schließen und
nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt umsiedeln werde.
({5})
Ähnliches vernimmt man aus der Firma Brandt Zwieback
aus Hagen, die es nach Thüringen zieht.
Was ist der Hintergrund solcher Umzüge, die es gehäuft bei kleineren Firmen im ehemals grenznahen Raum
gibt? Erstens locken natürlich im Osten die Fördermittel
der Gemeinschaftsaufgabe. Zweitens werden im Osten in
aller Regel weniger Arbeitskräfte eingestellt, als im Westen entlassen werden. Drittens bekommen sie durchweg
entschieden weniger Lohn. Viertens schließlich ist der
Stand der Mitbestimmung im Osten, also gewerkschaftliche Vertretung, gewerkschaftliche Stärke, Betriebsräte
usw., weitaus niedriger, fast null. Das wissen Sie doch
selbst.
Unterm Strich heißt das alles nichts anderes, als dass
gesamtgesellschaftlich gesehen schon einmal erreichte
soziale Standards abgebaut werden und damit das Gesamtniveau der Lebensverhältnisse gesenkt wird. Dafür
werden auch noch staatliche Fördermittel ausgereicht.
({6})
Die PDS-Fraktion hält solche Vorgänge für einen eindeutigen Missbrauch von öffentlichen Geldern und fordert
die Veränderung der Förderrichtlinien dahin gehend, dass
ein solcher Missbrauch verhindert wird.
({7})
Zum ersten Jahresbericht der deutschen Einheit, den
die neue Bundesregierung vorgelegt hat, möchte ich nur
so viel sagen, dass er im Gegensatz zu früheren Berichten
eine Reihe realistischer Einschätzungen des tatsächlichen, in vielen Fragen unbefriedigenden Zustandes enthält. Man findet in ihm darüber hinaus eine Reihe von
Stichworten und Maßnahmen, die durchaus zur Verbesserung der Situation beitragen könnten. Der entscheidende
Mangel des Berichts ist jedoch, dass er keine erkennbare
Strategie enthält, um die Hauptprobleme der neuen Länder in einem klar abgesteckten Zeitraum zu lösen. Hierzu
gehört der Abbau der Massenarbeitslosigkeit im Zusammenhang mit einem sich selbst tragenden kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Ohne eine solche
Strategie wird die Angleichung der Lebensverhältnisse
in der gewünschten Form, also ohne Abschwung West, jedoch nicht zu haben sein.
Wir halten deshalb die Frage, ob der Jahresbericht zur
deutschen Einheit zukünftig in der bisherigen oder in einer veränderten Form vorgelegt wird, für nicht so entscheidend. Wichtig ist allein der Inhalt; wichtig ist, dass
der nächste Bericht endlich eine solche Strategie, verbunden mit einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse, enthält, den die PDS ebenso kontinuierlich einfordert, wie sich die Regierung seiner Aufstellung bisher
verweigert.
({8})
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu unserem FUTOUR-Antrag. Auf nachdrückliche Erinnerung
der PDS hat die Bundesregierung im Zuge der Haushaltsberatungen 1999 eine Verlängerung des Programm
FUTOUR bis 2003 realisiert.
({9})
Besonders der Verband der Innovativen Unternehmen
hatte auf die prekäre Situation technologieorientierter Unternehmen aufmerksam gemacht. Deshalb hat die PDS die
Bundesregierung aufgefordert, zukünftig ostdeutsche
industrielle Forschungsvereinigungen und -verbände an
der Ausgestaltung neuer Förderprogramme zu beteiligen.
Wie der VIU treten auch wir für eine langfristig angelegte
Programmlaufzeit von zehn Jahren ein. Gründern von
technologieorientierten Unternehmen in den neuen Bundesländern, aber auch in strukturschwachen Regionen der
alten Bundesrepublik soll eine Förderung zugesichert
werden. Die Förderung soll vorrangig auf die Gründung
von technologieorientierten Unternehmen mit ökologisch-sozialer Ausrichtung konzentriert werden, die in
regionale und Landesentwicklungskonzeptionen strukturpolitisch eingebunden werden, um so einen ökologischsozialen Umbau zu unterstützen.
Zum CDU-Antrag zur Angleichung der Strompreise
und zur Aussetzung der Stromsteuern im Osten nur ein
Satz: Das klingt zwar alles recht gut, läuft aber am Ende
auf nichts anderes als auf die Subventionierung der
VEAG-Eigentümer mit öffentlichen Mitteln hinaus. Diesen Großkonzernen in Ostdeutschland käme das sicher
sehr gelegen; aber letztlich lässt sich mit diesem Antrag
nicht ein einziges Problem lösen: nicht das der Überkapazitäten, nicht das der Sicherung der Arbeitsplätze bei der
VEAG und auch nicht das der ökologischen Energiegewinnung.
In diesem Rahmen möchte ich noch ein anderes Beispiel erwähnen. Keine Antwort ist ja auch eine Antwort.
In der Fragestunde des brandenburgischen Landtages
kam es zu einem Eklat. Die Landesregierung verweigerte
zum zweiten Mal die Antwort auf eine Anfrage der PDSAbgeordneten Esther Schröder. Diese bestand auf einer
Offenlegung der Personalstruktur im Landesdienst hinsichtlich der Ost- oder Westherkunft der Bediensteten.
Diese Anfrage hatte sie schon vor Wochen einmal gestellt,
war aber mit der Begründung zurückgewiesen worden,
dass der dafür notwendige Aufwand nicht angebracht sei
und zehn Jahre nach der Wende die geographische HerGerhard Jüttemann
kunft keine Rolle mehr spielen dürfe. Die Abgeordnete
äußerte gestern vor dem Parlament den Verdacht, dass ostdeutsche Bewerber noch heute schlechtere Karten beim
Versuch des Eintritts in den Landesdienst hätten als Bewerber aus den alten Ländern, obwohl sie ihre Ausbildung
nach der Wende gemacht haben.
({10})
Die gleiche Frage könnte man doch einmal den anderen
Landesparlamenten im Osten stellen, wie viele Bedienstete dort prozentual aus den neuen Bundesländern kommen. Hat man denn kein Vertrauen in die Menschen? Akzeptiert man die Bildung, die sie genießen, einfach nicht?
Oder ist der wahre Grund, dass wir im Osten einfach noch
nicht anerkannt werden? Es wird höchste Zeit, dass sich
hier etwas ändert.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist
der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte
findet an einem fast historisch zu nennenden Tag statt;
denn am gestrigen 18. Mai vor zehn Jahren wurde in Bonn
von Theo Waigel und Walter Romberg der Staatsvertrag
über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der DDR unterzeichnet.
({0})
Lieber Herr Staatsminister Schwanitz, diese Tatsache hätten Sie in Ihrer Rede ruhig einmal erwähnen können.
({1})
Dieser Vertrag war ein erster entscheidender Schritt auf
dem Weg zur deutschen Einheit. Mit ihm begann ein
neuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Der Vertrag
entsprach der Forderung nach nationaler Solidarität und
den Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheit
und Wohlstand. Dieser Vertrag wurde sowohl im Deutschen Bundestag als auch in der Volkskammer der DDR
fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit gebilligt.
Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass im
Bundesrat zwei Ministerpräsidenten dagegen stimmten.
Es handelt sich um den jetzigen Bundeskanzler Schröder
- er ist nicht mehr anwesend; die Debatte scheint ihn so
wie damals auch heute nicht zu interessieren ({2})
und den ehemaligen Finanzminister Lafontaine. Ich erwähne das der Vollständigkeit halber; denn bei manchen
Debattenbeiträgen der Koalition hatte man heute den Eindruck, Sie hätten die Einheit gegen die CDU erkämpft.
Dem war aber nicht so.
({3})
Dieser Vertrag war die Grundlage für die Einführung
der sozialen Marktwirtschaft in der DDR und damit die
Grundlage für das wirtschaftliche Zusammenwachsen
Deutschlands. Bereits in der letzten Debatte zum Jahresbericht, die wir am 11. November des letzen Jahres führten, waren wir uns fraktionsübergreifend einig, dass seitdem unbestreitbar große Erfolge beim Aufbau Ost erzielt
wurden. Diese Erfolge sollten wir nicht kleinreden.
({4})
- Sie von der SPD können ruhig klatschen.
Am deutlichsten werden die Erfolge, wenn wir uns die
Krisenanalyse des letzten Vorsitzenden der Staatlichen
Plankommission, Gerhard Schürer, vom 30. Oktober 1989 anschauen. Sie enthält zum Beispiel die Aussage:
Allein ein Stoppen der Verschuldung der DDR würde
im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um
25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar
machen.
Das war die Wahrheit aus Sicht der Staatlichen Plankommission der DDR des Jahres 1989. Seitdem haben wir dank gesamtdeutscher Solidarität und dank der Leistungsbereitschaft in Ost und West - ein großes Stück des
Weges zurückgelegt und viel erreicht.
Aber bei der heutigen Debatte muss auch ausgesprochen werden, dass die wirtschaftliche Angleichung in
Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre stagniert und unter
Rot-Grün zum Stillstand gekommen ist. Herr Schwanitz
und Herr Schulz, Sie können zwar viele Zahlen vorlegen,
Sie kommen aber nicht an der Tatsache vorbei - ich sage
das mit Bedacht -, dass seit Mitte der 90er-Jahre die wirtschaftliche Angleichung zum Stillstand gekommen ist.
Das müssen wir ändern.
Schauen Sie sich einmal die Wachstumsraten an! Sie
müssen sie erst zur Kenntnis nehmen und können sie dann
interpretieren. Während in der ersten Hälfte der 90erJahre die Wirtschaft im Osten mit einer Rate von bis zu
10 Prozent wuchs, wächst sie seit vier Jahren langsamer
als die im Westen: um 1,7 Prozent gegenüber 2,3 Prozent
im Jahre 1997; um 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent im
Jahre 1998, um 1,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent im
Jahre 1999 und dieses Jahr voraussichtlich nur noch um
2,2 Prozent gegenüber 2,8 Prozent. Seit vier Jahren geht
also die Schere wieder auseinander, Herr Schwanitz.
({5})
- Sie regieren aber seit fast zwei Jahren.
Nehmen Sie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt
Ost je Einwohner. In 1991 betrug es 30 Prozent des Westwertes. Bis 1994 stieg es rasant auf 53 Prozent und stagniert seitdem bei rund 55 Prozent des Westwertes. Die
Steuerdeckungsquote Ost hatte in 1991 einen Ausgangspunkt von 22,3 Prozent und stieg bis auf 50 Prozent in
1995. Auf diesem Niveau sind wir geblieben.
Herr Schulz, das sind die wesentlichen wirtschaftlichen Zahlen. Sie können natürlich auch die eine oder andere positive Zahl finden. Aber das sind die wichtigsten
Kerndaten. Im europäischen Rahmen betrachtet lässt sich
sagen: Die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands liegt
nach wie vor stabil unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts und damit auf dem Niveau vieler südeuropäischer
Regionen und Länder wie Portugal, Sizilien und Griechenland. Deutschland droht also, wenn Sie, Herr
Schwanitz, nicht handeln - Sie haben im Augenblick die
Regierungsverantwortung -, eine dauerhafte wirtschaftliche Spaltung. Das akzeptieren wir von der Union nicht.
({6})
Anstatt dem Aufbau Ost neue Impulse zu geben, hat die
rot-grüne Bundesregierung seit 1998 bei den Investitionen überproportional gekürzt.
({7})
Die allgemeine Investitionsquote im Bundeshaushalt
sinkt kontinuierlich - von 12,5 Prozent in 1998 auf
11,6 Prozent in 1999 bis auf 10,6 Prozent im Jahre 2003.
Das besondere Opfer dieser rückläufigen Investitionsquote sind die Verkehrswegeinvestitionen Ost. Wir wissen alle: Verkehrswege sind von ganz besonderer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung. Unser Kollege
Wolfgang Dehnel aus der CDU-Landesgruppe Sachsen,
der hinter mir als Schriftführer sitzt, hat das in der
Schkeuditzer Erklärung im Januar dieses Jahres für die
Landesgruppe überzeugend herausgearbeitet: Ohne Verkehrswegeinvestitionen gibt es keinen wirtschaftlichen
Aufschwung.
({8})
Was aber hat die Bundesregierung unternommen, Herr
Schwanitz? Die Bundesregierung hat am 3. November
1999 ein vom Bundesverkehrsminister - er ist nicht da;
ihn scheint das nicht zu interessieren - aufgelegtes Investitionsprogramm - besser wäre der Name „Investitionsverhinderungsprogramm“ gewesen - für die Jahre 1999
bis 2002 beschlossen,
({9})
was, Frau Kaspereit, die Verkehrsinvestitionen in dieser
Legislaturperiode um 3,5 Milliarden DM zurückführt.
Insbesondere im Osten kürzen Sie. Sie haben die Schienenanbindung Mitteldeutschlands, das Verkehrsprojekt
deutsche Einheit Nr. 8, gestoppt. Deswegen haben wir
jetzt den Schildbürgerstreich, dass der neue Leipziger
Flughafen ohne ICE-Anschluss ist.
({10})
Herr Kollege Kolbe,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Kaspereit?
Wenn es nicht von der
Redezeit abgeht, ja.
Herr Kollege Kolbe, können Sie mir bitte die Höhe der Unterdeckung im Verkehrswegeplan der alten Bundesregierung nennen?
Frau Kollegin, Sie verwechseln permanent den Verkehrswegeplan mit dem
Haushaltsplan. Der Haushaltsplan ist ein Finanzierungsplan; der Verkehrswegeplan ist ein Investitionsplan. Ich
kann nur feststellen, dass zu unserer Regierungszeit gebaut worden ist - und die Bauten sind auch bezahlt worden -,
({0})
während Sie die Bauten gestoppt haben. An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. Wenn das so weitergeht,
dann warten wir noch 20 Jahre auf eine Autobahn zwischen den beiden großen Städten Leipzig und Chemnitz
mit einer halben Million und einer drittel Million Einwohner. Das ist doch keine zukunftsorientierte Politik.
({1})
Die ausbleibenden Infrastrukturmaßnahmen behindern
die weitere wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands
und führen sogar dazu, dass die Abwanderung aus dem
Osten, die uns alle ganz besonders große Sorgen macht,
weitergeht. Wir kommen nicht um die Feststellung
herum: Unter Schröder und Schwanitz ist der Aufbau Ost
von der Chefsache zur Nebensache degradiert worden.
Die CDU wird dafür sorgen, dass er wieder zur Chefsache
wird.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten
Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren Kollegen! Der Kollege Jüttemann hat gemeint, in die Debatte ein Schreiben aus dem Bundesinnenministerium einführen zu müssen.
({0})
- Lassen Sie mich doch darauf eingehen! Es ist ja interessant, Informationen dazu zu bekommen.
Ich habe nicht die Absicht, mit der Debatte auf das
Schlichtungsverfahren im Rahmen der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst Einfluss zu nehmen. Aber
einige Feststellungen sind, so denke ich, notwendig.
Das erwähnte Schreiben betrifft die Frage der Personalgewinnung. Bei dem Absatz, der hier zitiert worden ist,
dürfen Sie folgenden Satz nicht übersehen:
Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,
- so hat der Mitarbeiter aus dem Ministerium geschrieben erhebe ich keine Bedenken, wenn dieser Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt
wird.
Das betrifft meiner Kenntnis nach ganz wenige Fälle, die
man an einer Hand abzählen kann, ist also keine generelle
Vorgabe, die die Tarifstruktur berührt.
Herr Kollege Jüttemann, der Bund verhält sich in dieser Frage solidarisch mit den neuen Bundesländern und
den Kommunen. Ich kann nur den Kollegen Milbradt zitieren, der an den Tarifgesprächen unmittelbar beteiligt
ist. Er weist zu Recht darauf hin, dass er, wenn es um
Transferleistungen geht, zunächst einmal daran denkt, die
Transferleistungen für Investitionen zu verwenden und
nicht für Tariferhöhungen, und dass auch der Abstand zur
freien Wirtschaft - das Lohnniveau im Osten liegt nämlich bei 75 Prozent des Westniveaus - deutlich erkennbar
bleiben muss. Ich glaube nicht, dass wir im öffentlichen
Dienst eine Anhebung auf 100 Prozent verantworten können, wenn in der freien Wirtschaft nur 75 Prozent gezahlt
werden.
Das sind die Bedingungen, an denen man sich orientieren muss. Man kann sehr viel wünschen; das tue ich
auch. Ich hätte ja persönlich überhaupt nichts dagegen,
wenn wir auf 100 Prozent steigern würden. Allerdings
sollten dann im Osten netto nicht mehr als 100 Prozent
herauskommen. Das wäre auch nicht die richtige Lösung.
Ich wäre dankbar, Herr Kollege Jüttemann, wenn Sie
die Polemik, die aus Ihren Kreisen in diesem Bereich betrieben wird, etwas zurückfahren könnten und den Menschen reinen Wein - Sie haben über Wein und Wasser gesprochen - über die wahren Gegebenheiten in den neuen
Bundesländern einschenken würden.
({1})
Zur Erwiderung der
Kollege Jüttemann, bitte.
Ich habe wörtlich vorgelesen. Es stimmt ja wohl. Die Frage ist doch: Wie gehen
Sie an die Sache heran? Sie billigen möglicherweise einem Beamten, der im Ostteil arbeiten will, zu, über einen
Umweg erst im Tarifgebiet West eingestellt zu werden,
aber dann zurück ins Tarifgebiet Ost zu kommen und
Westgehalt zu bekommen. Es ist doch keinem Normalbürger hier verständlich zu machen, dass heute zwei beamtete Schutzpolizisten nebeneinander die gleiche Arbeit
machen, von denen der eine länger arbeitet und 15 Prozent weniger Lohn kriegt. Das können Sie nach zehn Jahren Wiedervereinigung niemandem erklären. Versetzen
Sie sich einmal in die Situation. Hätte die alte Bundesregierung den Menschen 1990 so etwas erzählt, hätte man
die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das
wäre unfassbar gewesen.
({0})
Zehn Jahre nach der Wende versuchen Sie, mit Taschenspielertricks westlichen Kollegen Dinge zugute kommen
zu lassen, und die östlichen Kollegen haben keine
Chance. Das ist doch die wahre Situation. Ich habe kein
Wort falsch vorgelesen. Natürlich sagen Sie, es betreffe
bloß wenige Fälle. Das können wir schlecht prüfen. Aber
es betrifft Fälle; das ist die Tatsache.
({1})
Nächste Rednerin in
der Debatte ist jetzt die Kollegin Ingrid Holzhüter für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich will eingangs auf Äußerungen wie
„Schönrederei“ usw. zurückkommen. Ich denke, eine angemessene Portion Stolz
({0})
in den neuen Ländern ist angebracht.
({1})
Da leben nämlich flexible, intelligente und fleißige Leute
mit einer Biografie, hinter der sie sich nicht immer verstecken müssen nach dem Motto: Das war ja DDR. Ich
denke, wir müssen ein bisschen offensiver mit den Dingen umgehen und dürfen nicht so tun, als hätten wir auch
an dieser Stelle noch die Teilung zwischen gut und böse,
zwischen intelligent und faul oder wie auch immer.
({2})
Das ist doch in der Öffentlichkeit oft ein Thema. Wir müssen dafür sorgen, dass das endlich aus den Köpfen verschwindet, dass hier der eine jammert und da der andere
rudert, und dass wir alle daran denken: Wir haben überall
sone und solche.
({3})
Der Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit setzt im Vergleich zu den Vorgängerberichten deutlich neue Akzente. Es ist der erste
Bericht der neuen Regierung. Er macht deutlich, dass
beim Aufbau Ost eine Menge erreicht wurde. Durch
Schwerpunktsetzung ist der vorliegende Bericht der Bundesregierung übersichtlicher und lesbarer geworden.
Lieber Herr Türk, es kann also nun endlich konkret nachvollzogen werden, welche der aufgeführten Leistungen
wirklich in den Aufbau Ost geflossen sind, und der unsinnige Mix aus so genannten Transferleistungen, die Ost
und West inzwischen gleichermaßen zustehen, ist endlich
verschwunden.
({4})
Der Bericht zeigt auch auf, wo es noch drückende Probleme bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West gibt und welche mit Priorität angegangen werden müssen.
Der Aufbau Ost ist von dieser Bundesregierung aus
guten Gründen zur Chefsache erklärt worden. Rolf
Schwanitz wurde die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten der neuen Länder
übertragen und es gibt einen neuen Bundestagsausschuss
für Angelegenheiten der neuen Länder. Damit wird deutlich, wo wir den Aufbau Ost ansiedeln.
Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Erreichung einer
Einheit in der Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein der
Menschen; dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt.
Dieses Ziel haben wir trotz aller Bemühungen noch nicht
erreicht. Wir versprechen keine Wunder und wir haben
auch noch einen langen Weg vor uns. Aber einige Voraussetzungen haben wir schon geschaffen. Wir haben das
höchste Wachstum seit dem so genannten Einheitsboom,
wir haben über 3 Prozent mehr Lehrstellen, und wenn wir
den Prognosen glauben dürfen - ich glaube an die Zukunft -, dann werden wir demnächst 300 000 neue Jobs
haben.
Die Politik der Bundesregierung hat also Erfolg. Die
Förderprogramme für die berufliche Erstausbildung in
den neuen Ländern, auf die ich noch zu sprechen kommen
möchte, belegen dies exemplarisch.
Leider ist es so, dass die konjunkturellen Impulse in
den neuen Ländern und Berlin noch nicht ausreichend
zum Tragen gekommen sind. Die vielen Versäumnisse der
Vergangenheit lassen sich eben nicht kurzfristig beheben.
Bundeskanzler Schröder hat darauf hingewiesen, dass
es bei den Ausbildungsplatzangeboten im Osten weiterhin
Probleme gibt. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass im
Zuge der ostdeutschen Transformationsprozesse ganze
Branchen weggebrochen sind, sodass einige Betriebe fehlen. Aber es gibt, wie auch im Westen, Betriebe, die nicht
ausbilden. Hier müssen wir etwas tun, wobei ich nicht
vergesse, dass es für kleine und mittlere Betriebe manchmal schwierig ist auszubilden. Da müssen wir ihnen helfen, auch durch schon ausgebildete Hightechkräfte, damit
sie auf diesem Gebiet noch etwas nachbessern können.
Es wird erwartet, dass die Industrie im Osten gerade in
diesem Bereich schon bald schneller wachsen wird als im
Westen. Fachleute bestätigen, dass die neuen Länder bald
modernere Strukturen aufweisen werden als die alten
Länder. Sie werden also im wahrsten Sinne neue Länder
sein.
Noch ein Wort zur überbetrieblichen Ausbildung.
Diese ist oft besser als ihr Ruf und keine „Discountausbildung“. Ich höre sogar oft, dass man sich in diesen Betrieben oft sehr viel intensiver um die Auszubildenden
kümmert als in den gewinnorientierten Firmen.
Wenn uns die Opposition nun vorwirft, wir würden die
Jugendlichen dort nur parken, so hat sie sich durch diese
Aussage selbst gründlich disqualifiziert.
({5})
Es bleibt notwendig, die gezielten arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen fortzusetzen. Das Riester-Programm trägt dazu bei. Doch, wie schon angedeutet, auch
die Wirtschaft muss in dieser Richtung etwas tun.
Aber die Fahrtrichtung stimmt. Ich nenne einige
Schlaglichter. Die Aprilbilanz 2000 deutet auf eine Steigerung der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin; die
Ausbildungslücke in den neuen Ländern ist jedoch noch
groß. Mit den neu erarbeiteten Ausbildungsverordnungen
in den neuen Berufen ist auch hier ein erster Schritt getan,
um Ausbildungsprofile und sich schnell verändernde
wirtschaftliche Betätigungsfelder neu aufeinander abzustimmen. Gerade im Bereich der Dienstleistungen zeichnen sich weitere Wachstumsfelder ab, die durch das Berufsbildungsgesetz, die Handwerksordnungen usw. bis
jetzt nicht erfasst werden.
Das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ des
BMBF hat seit seinem Beginn im Juli 1995 einen wesentlichen Beitrag zur Mobilisierung geleistet. Allein im Zeitraum vom 1. März bis zum 31. August 1999 wurden über
14 000 Ausbildungsplätze zugesagt, von denen in der Regel 70 Prozent realisiert werden. Dieses Programm werden wir fortführen.
({6})
Auch durch die von den Kammern durchgeführten Programme „Ausbildungsberater“ und „Lehrstellenwerber“
wurden im letzten Jahr mehrere tausend Ausbildungsplätze geschaffen.
Für das Programm „Ausbildungsberater“ sind für 2000
Fördermittel in Höhe von 2 Millionen DM eingeplant.
Das ist doch etwas!
({7})
Ich möchte an dieser Stelle auf das Riester-Programm
eingehen. Das Ziel dieses Sofortprogramms war der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Es gab bis zum 31. Dezember 1999 219 055 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Allein in Ostdeutschland sind so 72 787 Jugendliche zu
einer Ausbildung gekommen. Auch in diesem Jahr stehen
wieder 2 Milliarden DM für dieses Programm zur Verfügung.
({8})
Auch die Zusage der Wirtschaft, bis 2003 60 000 neue
Ausbildungsplätze im IT-Bereich zur Verfügung zu stellen, weist in die richtige Richtung.
Aber wir brauchen nicht nur IT-Fachleute, sondern
auch andere Fachkräfte. Nicht jeder Jugendliche ist ein
geborener Akademiker. Viele Jugendliche haben eher
handwerkliche Fähigkeiten. Auch Jugendliche ohne einen
qualifizierten Schulabschluss dürfen von uns nicht vernachlässigt werden. Es gibt auch im nicht akademischen
Raum durchaus zukunftsträchtige Berufe.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es neben der Unterqualifizierung noch ein weiteres Handicap gibt: die
Überqualifizierung. Das ist gerade in den neuen Ländern
der Fall. Ich kenne Frauen mit akademischer Ausbildung,
denen, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, seitens potenzieller Arbeitgeber gesagt wird: Sie sind überqualifiziert;
Sie sind mir zu teuer. Dann gibt es noch die Menschen, die
älter als 45 Jahre alt sind und angesichts unseres Jugendwahns teilweise überhaupt keine Chancen mehr haben.
Wir werden zwar immer älter; aber ab 45 gehören wir
schon fast zum alten Eisen. Ich packe alles noch hervorragend, obwohl ich schon über 45 bin, wie viele von Ihnen.
Die Bundesregierung hat die Probleme auf dem Weg
zur Vollendung der inneren deutschen Einheit im Auge
und weist dies im vorliegenden Bericht nach.
Meine Redezeit ist knapp; aber trotzdem will ich den
Goldenen Plan Ost erwähnen. Ich bin auch Sportpolitikerin. Ich denke, dass es ein gutes Zeichen ist, dass wir
auch an anderen Stellen zur Gleichheit beitragen möchten.
({9})
Der Bundeshaushalt steckt natürlich den Rahmen ab.
Das wissen Sie so gut wie wir. Trotzdem liefert der vorliegende Bericht den notwendigen Überblick, was insgesamt noch zu tun ist und was wir tun können.
({10})
Der Bericht liefert kompakte Informationen. Denn auch
wir als Parlament sind aufgefordert, etwas zu tun. Wir
können und wollen ja nicht alles der Regierung überlassen.
Als so genannter „Wossi“ mit Berliner kommunaler
Erfahrung sage ich Ihnen: Wir sind auf dem richtigen
Weg. Deshalb bitte ich um zustimmende Kenntnisnahme des vorliegenden Jahresberichtes. Ich fordere die
Bundesregierung auf, uns die Fortführung des Berichtes
in gleicher Weise zur Kenntnis zu geben.
Ich bedanke mich für die gute Arbeit.
({11})
Ein bisschen weniger zu jammern und sich etwas mehr zu
freuen wäre - auch für unser Haus - eine ganz gute Sache.
Vielen Dank.
({12})
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger, Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere aus dem Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit.
Seit der Wiedervereinigung sind beachtliche Fortschritte in der Angleichung der Lebensverhältnisse
zwischen Ost- und Westdeutschen erreicht worden.
Ich finde, das ist eine positive Aussage, die ich ausdrücklich unterstreichen will.
({0})
Das ist - so muss man hier feststellen - natürlich in erster
Linie auf die Arbeit der alten Bundesregierung zurückzuführen und nicht auf die der neuen Bundesregierung.
({1})
Denn ich hatte heute manchmal den Eindruck, als ob für
alle positiv zu verzeichnenden Entwicklungen die jetzige
Regierung verantwortlich sei.
({2})
Ich zähle Ihnen einige Fakten auf, die positiv sind: die
Angleichung der sozialen Bedingungen insbesondere im
Bereich des Gesundheitswesens, der Aufbau der Kommunikations- und Verkehrsnetze, bei denen es noch immer
viele Defizite gibt, der Wohnungsbau und vor allen Dingen die Wohnungssanierung, die Zahl der Existenzgründungen und deren Entwicklung sowie - nicht zu vergessen - die Umwelt- und Altlastensanierung. Diesen Katalog könnte man erweitern. Ich zähle diese Dinge deshalb
auf, damit Sie nicht behaupten können, wir würden alles
mies machen. Im Gegenteil - Herr Nooke hat deutlich darauf hingewiesen -, es gibt eine positive Entwicklung dies ist immer wieder zu konstatieren - und die haben wir
gestaltet.
({3})
Trotzdem scheint es heute in den neuen Bundesländern
eine gewisse Stagnation - man möchte fast sagen: eine
Resignation - zu geben. Herr Schwanitz, da stimme ich
mit Ihrer Einschätzung nicht überein.
Die neue Bundesregierung muss sich fragen lassen:
Wo sind die Ursachen für die stagnierende Unternehmensentwicklung, das stagnierende Wachstum und die
zunehmende Zahl von Insolvenzen zu suchen? Womit
sind die rückläufigen Investitionen zu begründen?
({4})
Einen Grund dafür hat Herr Kolbe hier aufgezeigt: Der
Bundeshaushalt weist rückläufige Investitionszahlen aus.
Es ist klar, dass diese daraus resultierenden Einbrüche
auch den Bausektor belasten. - Was ist der Grund für die
Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für die
Stagnation der Zahl der Arbeitslosen bei gleichzeitigem
Wegfall von Arbeitsplätzen in einem enormen Umfang?
Zur schlechten Stimmung tragen auch emotionale Faktoren bei; darauf geht der Bericht ein. Dort steht: Die Verwirklichung der deutschen Einheit ist mehr als finanzielle
Hilfen und wirtschaftliches Wachstum. Die innere Einheit braucht auch eine emotionale Basis. - Ich frage
mich: Wer ist eigentlich verantwortlich für die schlechte
Stimmung, die hier eingetreten ist? Die neue Bundesregierung hat es innerhalb eines Jahres geschafft, das
Vertrauen, das viele Bürger gerade in Ostdeutschland in
sie gesetzt haben, massiv und nachhaltig zu erschüttern.
Dafür gibt es leider viele Beispiele.
({5})
Lassen Sie mich einige Beispiele dafür aufführen,
warum die Menschen erkannt haben, dass der Aufbau Ost
für die neue Bundesregierung nicht Herzens-, sondern
nur Chefsache ist. Schauen Sie sich einmal die
Mehrbelastungen an! Die Ökosteuer zum Beispiel belastet die ostdeutschen Haushalte und Unternehmen in besonderem Maße. Die Mineralölsteuererhöhung benachteiligt die Vermögens- und Einkommensschwachen bei
gleicher Belastung natürlich überproportional. Dies gilt
auch für die Flächenländer, die dünn besiedelten Länder
in Ostdeutschland.
({6})
Genauso ist es mit der mittelständischen Wirtschaft.
Es ist eben nicht so, wie Sie heute gesagt haben. Die mittelständische Wirtschaft wird durch die Steuerreform, die
Sie gestern verabschiedet haben, verstärkt belastet.
({7})
Herr Schwanitz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie sagen,
in Ostdeutschland gebe es nur kleine Unternehmen. Wir
haben nicht nur Existenzen mit kleinen Einkommen bzw.
kleinen Gewinnen. Gerade die Unternehmen im innovativen Bereich brauchen Gewinne, die sie wieder einsetzen
können, um wachsen zu können. Genau an dieser Stelle
aber greifen Sie ein. Damit blockieren Sie das Wachstum
in Ostdeutschland.
({8})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben
den Transrapid auf das Abstellgleis geschoben. Das trifft
Ostdeutschland ganz besonders hart.
({9})
Man muss es sich einmal vorstellen: 30 Jahre lang ist entwickelt worden. Alle möglichen Regierungen haben dieses Projekt unterstützt. Aber jetzt, da es sozusagen baureif
ist, stellen Sie es auf das Abstellgleis.
({10})
Das trifft die neuen Länder besonders hart.
({11})
Sie machen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik; darauf ist heute schon eingegangen worden.
({12})
Ich will noch ein Beispiel nennen, das mich besonders
bekümmert. Der A3XX ist das größte Industrieprojekt
Europas, welches derzeit verwirklicht wird. Ich habe mir
gestern von der Dasa die Zahlen geben lassen. Die DASA
gibt an, dass durch dieses Projekt 15 600 direkte Arbeitsplätze und 31 200 indirekte Arbeitsplätze - macht zusammen 46 800 Arbeitsplätze - in Deutschland geschaffen
werden.
({13})
Die Masse dieser Arbeitsplätze wird jedoch nicht in Ostdeutschland entstehen. Im Gegenteil, dort wird fast kein
Arbeitsplatz entstehen, und das, obwohl die Bundesregierung auf diese Entwicklung natürlich nachhaltig Einfluss
hat; denn sie soll auch dieses Projekt fördern, und zwar
mit einem enormen Investitionsvolumen. Wir wissen alle,
dass die Flugzeugindustrie in Deutschland mit Unterstützung des Staates aufgebaut worden ist. Trotzdem
kümmert sich dieser Bundeskanzler, der jetzt leider nicht
mehr hier ist, keinen Deut darum, dass aufgrund dieses
Projekts in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern, mehr Arbeitsplätze entstehen. Das
halte ich für einen politischen Skandal.
({14})
Wenn Sie solche Maßnahmen beschließen, dürfen Sie
sich nicht wundern, dass in der Folge die Konjunktur in
Ostdeutschland einbricht, dass die Arbeitslosigkeit nicht
sinkt, sondern stagniert, und dass gleichzeitig Arbeitsplätze vernichtet werden bzw. nicht entstehen können.
Eine weitere Folge sind die Abwanderung von Leistungsträgern, insbesondere von qualifizierten Jugendlichen,
und der Wohnungsleerstand, den wir allenthalben beklagen müssen. Herr Nooke ist darauf eingegangen.
Meine Damen und Herren, wir müssen eine positive
Stimmung erzeugen. Dass es Beispiele dafür gibt, dass
wir sie erzeugen können, kann ich Ihnen sagen. Ich
nenne das Programm „FUTOUR“. Die Mittel für
„FUTOUR“ waren im letzten Haushalt gestrichen worden; das Programm sollte 1999 auslaufen. Im Haushalt für
2000 waren keine Mittel dafür enthalten. Wir haben uns
daraufhin bemüht, mit einem Antrag und durch massive
Intervention das Programm wieder zu starten. Das ist uns
nach langem Kampf gelungen. Die Bundesregierung hat
das eingesehen. Warum sollte man das von dieser Stelle
aus nicht positiv erwähnen? Die Bundesregierung hat unsere Initiative aufgegriffen und hat das Programm verlängert. Dadurch können - das hat heute schon jemand gesagt - in den neuen Bundesländern viele Arbeitsplätze
entstehen. Wir können doch auch anders. Warum orientieren wir uns nicht mittelfristig an diesen positiven Beispielen?
Deshalb fordere ich Sie und die Bundesregierung auf:
Nehmen Sie in dieser Hinsicht Vernunft an. Sorgen Sie
dafür, dass eine positive Stimmung in den neuen Bundesländern entstehen kann. Machen Sie eine mittelstandsfreundliche Steuerreform. Realisieren Sie die Transrapid-Strecke von Berlin nach Hamburg. Machen Sie eine
Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitslosen eine echte
Chance auf Dauerarbeitsplätze sichert. Setzen Sie sich für
den A3XX-Standort in Mecklenburg-Vorpommern ein.
Dann haben die Menschen in Ostdeutschland und hat nicht
zuletzt die Wiedervereinigung wieder eine echte Chance.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich möchte
zuerst zu dem etwas sagen, was Herr Krüger gerade zum
A3XX vorgetragen hat. Herr Krüger, Sie sind bei diesem
Thema in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender stets
so vorgegangen, dass Sie das Fell des Bären immer schon
verteilt haben, ehe er überhaupt erlegt war.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass bis heute dazu keine Entscheidung getroffen wurde.
({1})
Sie haben in der Anhörung, die Sie veranstaltet haben,
versucht, die Vertreter von Airbus Industrie zu einer Aussage zu nötigen. Sie wissen ganz genau, dass das Vertreter der Wirtschaft sind, denen Sie keine Vorschriften machen können. Den Gefallen, eine Aussage zu treffen, haben sie Ihnen auch nicht getan. Sie haben aber sowohl der
Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern als
auch der Bundesregierung bestätigt, dass sie alles getan
haben, um eine Ansiedlung vorzubereiten und zu ermöglichen. Das wollte ich hier noch einmal gesagt haben.
({2})
Nun zur Sache. Bei der Berichterstattung zum Stand
der deutschen Einheit konzentriert sich die neue Bundesregierung künftig auf eine aktuelle und insgesamt auch
kürzere und prägnante Darstellung. Wir werden zukünftig
die Zahlungsströme herausstellen, die der wirtschaftlichen Entwicklung ausschließlich in Ostdeutschland in besonderer Weise zugute kommen. Da gehören solche
Dinge wie BAföG und Kindergeld überhaupt nicht mit hinein. Das haben Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, ja immer in Ihre Zahlenspiele mit hinein genommen. Wir haben uns dann immer über diese großen
Zahlen gewundert, mit denen Sie argumentiert haben. Ich
begrüße, dass die neue Bundesregierung einen Weg des
ehrlichen Umgangs mit den Zahlen gewählt hat.
Insgesamt - das lässt sich für jedermann erkennen setzt die Koalitionsregierung neue Maßstäbe beim Aufbau Ost. Lassen Sie mich das wie folgt begründen:
Erstens. Um in Zukunft, was die Entwicklung der
neuen Bundesländer betrifft, noch handlungsfähig zu
sein, ist es unumgänglich, die Staatsfinanzen zu sanieren.
Das jahrelange Wirtschaften auf Pump und die sich daraus
ergebende enorme Zinsbelastung haben dramatische Auswirkungen gerade für den Gestaltungsspielraum in Ostdeutschland. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative
zur Haushaltskonsolidierung. Wenn es uns gelingt - ich
bin davon überzeugt, dass es uns gelingt -, die Staatsverschuldung abzubauen, werden wir die freigesetzten Mittel, die wir dann nicht mehr für Zinsen ausgeben müssen,
zum Beispiel in die Infrastruktur der neuen Bundesländer
lenken. Da haben wir die Mittel, die uns heute fehlen,
dringend nötig.
({3})
Zweitens. Die neue Bundesregierung hat ein Steuerentlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das insbesondere den Menschen in Ostdeutschland zugute kommt.
({4})
Die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent
und der erhöhte Steuerfreibetrag stärken gerade die vielen
Bezieher niedriger Einkommen
({5})
und Familien mit geringem Einkommen. Sie wissen genauso gut wie ich, Herr Türk, dass gerade jene überproportional in den neuen Bundesländern vorhanden sind.
({6})
- Jawohl! Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage im Bereich des Handels und des Handwerks und stärkt nicht zuletzt die Kaufkraft. Das ist doch ein positiver Effekt, den
wir alle wollen.
({7})
Wir machen eine Unternehmensteuerreform, von der
die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland besonders profitieren werden. Entgegen allen
Behauptungen ist dies deshalb der Fall, weil in den neuen
Ländern die kleinen und privaten Personengesellschaften
vorherrschend sind.
({8})
Viele Unternehmen kommen, was das Betriebsergebnis betrifft, gar nicht erst in die Gelegenheit, den von der
Union favorisierten gesenkten Spitzensteuersatz zahlen
zu müssen. Das wissen Sie doch ganz genau.
({9})
Der liegt für so manche Personengesellschaft in ganz weiter Ferne. Denen helfen wir aber nur dadurch, dass wir den
Eingangssteuersatz - in Verbindung mit dem Steuerfreibetrag - heruntersetzen.
({10})
Hinzu kommt: Die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer führt zu einer Stärkung
der Eigenkapitalbasis in den Betrieben.
({11})
Das schafft Investitionsanreize, die sich längerfristig auch
auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen werden.
Beides - die Haushaltskonsolidierung und die bereits
im Vorfeld angekündigte Steuerentlastung für die Unternehmen - hat in Deutschland einen Aufschwung bewirkt,
wie es ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat.
({12})
Nach Zeiten der Stagnation gehen die Arbeitslosenzahlen in den alten Ländern deutlich nach unten. Die Preissteigerungsraten bleiben stabil. Das ist - nebenbei gesagt - ein besonders sozialer Faktor auch für die Menschen in Ostdeutschland.
({13})
Motor bei dieser Entwicklung ist die Exportwirtschaft.
Zwar auf niedrigem Niveau, aber doch ebenfalls deutlich - das ist sehr erfreulich, darauf hat der Staatsminister
hingewiesen - entwickeln sich die Exportchancen auch
für die ostdeutschen Unternehmen. Wir unterstützen mit
unserer Fraktion und dem Ausschuss für Angelegenheiten
der neuen Länder einen Antrag zur „Stärkung von Absatz
und Export der ostdeutschen Wirtschaft“.
Es geht uns darum, kleinen Unternehmen und zahlreichen Neugründern zu helfen, die nach wie vor erhebliche
Schwierigkeiten haben, auf internationalen Märkten Fuß
zu fassen. Bei ihnen fehlt es oft am Know-how, an ausreichenden finanziellen Mitteln und am Einsatz moderner
Informationstechnologien. Hier werden wir flankierende
Hilfen anbieten und wir ermuntern die Wirtschaft sowie
die Regierungen der neuen Länder, ihre Export- und Absatzhilfen fortzuführen. Man kann beispielsweise Unterstützung bei Messeauftritten im In- und Ausland oder im
Bereich der sprachlichen Hilfestellung leisten.
Das prognostizierte Wachstum von 2,8 Prozent in diesem Jahr und die positiven Aussichten für das nächste Jahr
sind die Voraussetzung für einen deutlichen Abbau der Arbeitslosigkeit, auch im Osten. In Ostdeutschland wird sich
dieser Effekt, der in den alten Bundesländern bereits eingetreten ist, zwar zeitversetzt und von einem niedrigen
Niveau ausgehend, ebenfalls einstellen. Davon bin ich
überzeugt.
Erfreulich ist das wirtschaftliche Wachstum in den
neuen Bundesländern im Bereich des verarbeitenden Gewerbes von 5 Prozent im Jahre 1999. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hält in diesem Jahr 6,5 Prozent für
möglich. Diese Zahlen - dessen bin ich mir bewusst werden allerdings durch die nicht befriedigende Entwicklung im Bauhauptgewerbe beeinträchtigt. Das ist hier bereits mehrere Male angesprochen worden, und wir wissen
alle, dass sich hier gegenwärtig noch ein Strukturwandel
vollzieht.
Drittens. Wir gestalten die Wirtschaftsförderung gezielter und effizienter, und zwar gerade vor dem Hintergrund der notwendigen Überprüfung und Anpassung an
veränderte Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung
hat mit einem Bündel von Maßnahmen den Aufschwung
Ost vorangetrieben. Dabei kommt der Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung sowie deren Vernetzung mit der Wirtschaft eine große Bedeutung zu.
Beispielgebend sei hier das Programm Inno-Regio genannt, das regionale Initiativen in einem Wettbewerb mobilisiert. Es hat exemplarische Funktion für eine neue Förderpolitik des Bundes. Das muss man doch zur Kenntnis
nehmen!
({14})
Das Programm PRO INNO, das die Forschungskooperation zwischen Unternehmen und mit Forschungseinrichtungen im In- und Ausland einschließlich eines zeitweiligen Personalaustausches fördert, ist ein weiteres
Beispiel. Daneben tun wir etwas im Bereich der zukunftsorientierten Wirtschaftsförderung.
Ich hätte mir gewünscht, die alte Bundesregierung
wäre hier ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dann
hätten die neuen Bundesländer heute Vorreiter auf diesem
Gebiet sein können. Auch die aktuelle Green-Card-Kampagne verdeutlicht, dass im Osten Chancen im Zuge der
Umstrukturierung der Ausbildung vergeben wurden.
Auch das muss man an dieser Stelle einmal deutlich sagen.
({15})
Die Bundesregierung setzt neue Akzente bei der
Risikokapitalfinanzierung von Existenzgründern. So wurde
das ERP-Innovationsprogramm, das von der Kreditanstalt für Wiederaufbau durchgeführt wird, seit Januar 1999
um eine Beteiligungsvariante - hier handelt es sich um voll
haftendes Risikokapital anstelle von Bankdarlehen - ergänzt.
Viertens haben wir bei der Arbeitsmarktpolitik gehandelt. Angesichts der immer noch erheblichen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist dies auch unverzichtbar. Mein Wahlkreis liegt in Mecklenburg-Vorpommern
zwischen Müritz und dem Oderhaff, einer landschaftlich
sehr reizvollen Gegend. Aber trotz einer aufstrebenden
Tourismuswirtschaft gibt es dort immer noch eine strukturell bedingte Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent.
Daher hat das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und
Wettbewerbsfähigkeit eine große Bedeutung für die
Überwindung der Arbeitslosigkeit.
({16})
Erfreulich ist, dass sich alle Bündnispartner ihrer Verantwortung bewusst sind. Dies ist keine „Quasselbude“, wie
Sie es immer beschrieben haben. Vielmehr zeigen die
jüngsten maßvollen Tarifeinigungen in der Bauindustrie
Ostdeutschlands, wie dieser Verantwortung Rechnung getragen wird.
({17})
Gerade den arbeitslosen Jugendlichen haben wir mit
unserem JUMP-Programm wieder eine Perspektive gegeben. Ich war in den Arbeitsämtern meines Wahlkreises.
In den Gesprächen mit den Leitern dieser Arbeitsämter ist
mir bestätigt worden, dass diese Initiative greift und dass
auch erfolgreiche Eingliederungen in den ersten Arbeitsmarkt zu verzeichnen waren.
All die von mir aufgezeigten Beispiele machen deutlich, dass die Bundesregierung neue Akzente setzt, dass
sie gehandelt hat und weiterhin handeln wird, um die Probleme in Ostdeutschland einer Lösung zuzuführen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme gleich zum Ende. Dazu bedarf es allerdings auch weiterhin des solidarischen Handelns aller Bundesländer. Dies gilt auch im
Hinblick auf den ab 2004 neu zu gestaltenden Solidarpakt II.
({0})
Den Bemühungen der bayerischen Landesregierung sowie Baden-Württembergs, die die Intention haben, sich
aus der Verantwortung für Ostdeutschland zu verabschieden, werden wir auch in Zukunft energisch entgegentreten.
({1})
Die Bundesregierung bemüht sich aus meiner Sicht
nach Kräften, den Aufbau Ost voranzutreiben.
({2})
Die CDU-geführten Länder müssen sich aber genau überlegen,
Herr Kollege,
dies muss nun wirklich der letzte Satz sein.
- ob sie mit ihrer Ablehnung
der Spar- und Steuerbeschlüsse von Hans Eichel letzten
Endes die Voraussetzungen für den weiteren Aufbau Ost
blockieren.
Ich danke.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Krüger das Wort. Sie haben
dann die Möglichkeit zu antworten.
Herr Hempel, Sie
haben mich vorhin direkt angesprochen. Ihre Aussage
kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb bitte ich die Kollegen um Verzeihung, dass ich ihre wertvolle Zeit jetzt
noch in Anspruch nehme.
({0})
- Lassen Sie doch Ihre unqualifizierten Störungen.
Herr Hempel, so einfach, wie Sie es dargestellt haben
und wie Sie es sich machen, ist es leider nicht. Wenn sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung
nichts weiter tun, als das Konzept für den Standort Rostock/Laage, das dazu dienen sollte, die Endmontage des
Großflugzeuges A3XX dort anzusiedeln, zu übergeben
und danach zu schweigen bzw. lediglich auf irgendwelchen Veranstaltungen, an denen in der Regel kaum Publikum von außen teilnimmt, den Eindruck zu vermitteln
versuchen, dass man für diesen Standort kämpfen würde,
dann reicht das nicht.
({1})
Die gesamte Flugzeugindustrie in Deutschland ist
durch massive staatliche Interventionen in den 60er-,
70er- und 80er-Jahren entstanden ist. Dies wissen Sie alles. Die Gelder, die gezahlt worden sind, um diese Industrie aufzubauen, gehen in die Milliarden. Es waren brutto
etwa 15 Milliarden DM. Es sind Rückzahlungen erfolgt,
sodass in diese Industrie netto etwa 10,2 Milliarden DM hineingeflossen sind. Heute wäre dies wegen der internationalen Wettbewerbskontrolle gar nicht mehr möglich.
Das Konsortium Airbus International hat vor, ein neues
Großflugzeug zu bauen. Der Entwicklungsaufwand
beläuft sich auf etwa 11 Milliarden Dollar. Allein in
Deutschland entstehen - dies mögen sich alle auf der
Zunge zergehen lassen - 46 800 neue Arbeitsplätze; so
prognostiziert von der deutschen Airbus.
Wir wollen, dass Mecklenburg-Vorpommern zusätzlich zu dem marginalen Anteil, den die neuen Bundesländer an der Zulieferindustrie haben, trotz Konkurrenz mit
den vielen westdeutschen Standorten eine Chance
bekommt, dort wieder Flugzeuge zu bauen. In diesem Land wurden vor dem Krieg von etwa 20 000 Menschen Flugzeuge gebaut, so wie im Chemiedreieck die
Chemieindustrie und in anderen Regionen, so in Sachsen,
die Mikroelektronikindustrie angesiedelt war oder ist.
Da kann man sich darüber streiten, ob es möglich ist,
einen Endmontageplatz für ein solches Flugzeug auf die
grüne Wiese zu setzen. Wir haben uns dafür eingesetzt,
und da die Bundesregierung hier nicht gehandelt hat, sondern Herr Schröder sich sogar durch aktives Handeln für
den Hamburger Standort eingesetzt hat, haben wir gemeint, wir müssen dagegen etwas unternehmen.
Deshalb haben wir mit dem gesamten Ausschuss übrigens auch mit Ihren Stimmen - diese Anhörung
durchgeführt und versucht, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, welcher politische Skandal es ist,
wenn die neue Bundesregierung sich mit keinem Federstrich dafür einsetzt, dass tatsächlich in MecklenburgVorpommern wieder Flugzeugbau stattfindet.
({2})
Herr Kollege
Krüger, eine Kurzintervention dauert wirklich nur drei
Minuten.
Dafür werden wir
weiter kämpfen, und ich bin auch hoffnungsfroh, dass es
uns gelingen wird, hier zumindest im Zulieferbereich einiges zu tun. Aber wesentlich mehr Engagement durch die
Bundesregierung hätte man hier nicht nur erwarten dürfen, sondern müssen.
({0})
Herr Krüger, wir hatten ja
nichts gegen die Anhörung, aber man kann sich dann nicht
hinstellen und die Vertreter von Daimler-Chrysler und
von Airbus Industrie zu einer Aussage nötigen. Das wissen Sie doch ganz genau.
({0})
Sie wissen auch genau, wie sensibel dieses Thema eigentlich zu behandeln gewesen wäre, denn wenn sich
zwei streiten, freut sich in der Regel der Dritte, in diesem
Fall Toulouse.
Zunächst einmal muss das Ding nach Deutschland
kommen, und dann können wir uns darüber unterhalten.
Das war immer unsere Intention. Ansonsten sind wir da
überhaupt nicht unterschiedlicher Meinung.
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Sie haben sich da
strategisch nicht vernünftig verhalten. Das muss ich Ihnen
immer wieder vorwerfen.
({1})
Danke. Ich
schließe damit die Debatte. Wir kommen zu den Abstimmungen und Überweisungen.
Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf
Drucksache 14/2608 zu drei Vorlagen zum Stand der
deutschen Einheit.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit zur Kenntnis
zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? ({0})
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der
CDU/CSU angenommen worden.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sehr spät. Ich
bemühe mich, die Verhandlungen hier bei allem, was passiert, einigermaßen zügig durchzubringen. Bitte unterstützen Sie mich doch dabei.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortsetzung der
Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der
deutschen Einheit auf Drucksache 14/2238 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen
worden, aber die CDU/CSU hat sich enthalten.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Drucksache 14/1715 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P.
und PDS angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Strompreise in
Deutschland angleichen - neue Stromsteuern im Osten
aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1314 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zur Fortsetzung der Förderung
technologieorientierter Unternehmensgründungen in den
neuen Ländern auf Drucksache 14/2954.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1594
für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur
bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Förderung und
Unterstützung von technologieorientierten Unternehmensgründungen: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf
Drucksache 14/2152 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen
worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung, insbesondere des
deutschen Außenministers Joseph Fischer, zu
den europapolitischen Aussagen des Bürgers
Joschka Fischer am 12. Mai 2000
({2})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.
({3})
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Außenminister ist rechtzeitig zurück aus Indien, von einer sehr wichtigen Reise, die wir ausdrücklich begrüßen, und wir haben
heute wenigstens kurz die Möglichkeit, sehr wichtige europapolitische Vorstellungen dort zu diskutieren, wo sie
eigentlich hingehören, nämlich im Parlament, meine
Damen und Herren.
({0})
Seit langer Zeit fordert die F.D.P. eine Grundsatzdiskussion über Ziele und Finalität des europäischen Integrationsprozesses. Insofern, Herr Fischer - damit hier
keine Missverständnisse entstehen -, begrüßen wir eine
grundsätzliche Diskussion über Europa ausdrücklich. Es
gibt in Ihren Überlegungen ja auch eine Menge guter Vorstellungen von Herrn Genscher, von Herrn Kinkel: Verfassungsidee, föderative Struktur. Das ist wahrlich nichts
Neues. Am Gedenktag von Robert Schuman ist aus
Joschka Fischer kein zweiter Robert Schuman entstanden,
aber es ist eine solide Grundlage.
Wir haben heute nicht die Zeit, über die ganze Sache zu
sprechen. Aber es gibt zwei wichtige Knackpunkte. Erstens. Die F.D.P. wendet sich gegen jede aufgewärmte
Form einer Kerneuropaidee. Wir wollen umgekehrt, dass
wir möglichst viele Versuche machen, alle Länder einzubeziehen. Wir sind auch gar nicht der Meinung, dass
die sechs Gründerländer die integrationsfreundlichsten
Länder sind, Herr Fischer. Wir sollten Länder wie die
skandinavischen Länder, insbesondere Finnland und andere Länder, in der Avantgarde nicht ausschließen.
({1})
Zweitens. Der Zweikammervorschlag bedarf einer
äußerst sorgfältigen Erörterung. Es ist eine gute Idee. Dieser Punkt sollte aber nicht außerhalb des Parlamentes,
sondern hier diskutiert werden; denn er betrifft unsere
Möglichkeiten, unsere Rechte in vitaler Weise.
Der Kernpunkt der Aktuellen Stunde ist jedoch folgender: Warum sind dies nur Äußerungen von Ihnen privat in
der Universität? Dagegen haben wir nichts, aber warum
sind dies keine Vorschläge der Bundesregierung?
({2})
Meine Damen und Herren, es ist doch interessant:
Wir haben Stellungnahmen der Sozialdemokraten. Wir
haben Stellungnahmen der Christdemokraten. Wir haben
Stellungnahmen der Freien Demokraten.
({3})
- Es gibt aber bisher, Herr Schlauch, überhaupt keine Stellungnahme vonseiten der Grünen zu Herrn Fischers Vorschlägen.
({4})
Ich kann nur sagen, dass das eine schwache Vorstellung
ist.
Herr Fischer, große Initiativen waren immer Initiativen
zweier oder dreier Länder. Ich erinnere an die ColomboGenscher-Initiative, die sehr wichtig war. Ich erinnere an
die Initiative von Herrn Genscher zum Weimarer Dreieck
mit Herrn Kubiczewski und Herrn Dumas. Die Frage ist:
Inwieweit ist das ein persönlicher deutscher Alleingang?
Inwieweit sind das Vorstellungen, die unser wichtigster
Partner, Frankreich, teilt, was bei solchen Initiativen immer entscheidend ist?
Der entscheidende Punkt aber ist, Herr Fischer: Sie
machen den dritten vor dem ersten Schritt. Heute geht es
darum, zu fragen, welche Zwischenschritte es gibt. Wo
bleibt die Umsetzung? Visionen sind gut, meine Damen
und Herren. Aber in zehn Jahren haben die Grünen mit der
konkreten Gestaltung der Regierungspolitik in Sachen
Europa sowieso nichts mehr zu tun, meine Damen und
Herren.
({5})
Deshalb, verehrte Sozialdemokraten, fordere ich Herrn
Fischer auf: Kehren Sie zu einer realistischen Europapolitik zurück! Derzeit gehen von Deutschland keine konkreten Fortschritte aus.
Herr Schlauch, nehmen Sie zur Kenntnis, dass die
F.D.P. die Grünen bei den letzten wichtigen Wahlen geschlagen hat und dass die Freidemokraten inzwischen die
dritte Kraft sind!
({6})
Die Zustimmung zu Europa ist bei uns und in den
neuen Beitrittsstaaten Osteuropas rückläufig. Wir brauchen endlich konkrete Schritte. Wir brauchen eine
deutsch-französische Initiative.
({7})
Herr Fischer, beenden Sie die unsägliche Behandlung
Österreichs,
({8})
die inzwischen in vielen kleinen Staaten, insbesondere
auch in Osteuropa, die Befürchtung ausgelöst hat, dass
große Staaten mit kleinen immer so umgehen könnten.
({9})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Das ist ein ernstes Problem. Reden Sie einmal mit Vertretern der baltischen Staaten über dieses Problem!
({10})
Wann wird endlich der konkrete Zeitplan für die
Osterweiterung vorgelegt?
({11})
Die Debatte, die in Polen über Europa geführt wird, ist
äußerst negativ.
Es ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, Herr Fischer, als
Außen- und Europaminister die Stabilität der europäischen Währung, das wichtigste europäische Projekt, zu
verteidigen. Heute hat der Euro erneut einen historischen
Tiefstand erreicht: unter 0,90 US-Dollar! Selbst die Europäische Zentralbank, die zu Recht zu politischer Neutralität verpflichtet ist, hat heute mitgeteilt: Die EuroSchwäche ist hausgemacht. Die Euro-Staaten kommen
bei der Lösung ihrer Arbeitsmarktprobleme nicht voran.
Wir brauchen ernsthafte reformerische Anstrengungen,
damit vor Einführung des europäischen Geldes der Euro
wieder stärker wird.
Dies sind die konkreten Schritte, die wir von Ihnen erwarten. Wir erwarten nicht nur Visionen von Ihnen. Diese
Schritte müssen bitte im Namen der Bundesregierung und
nicht im Namen eines Privatmannes angekündigt und getan werden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Haussmann,
was wollen Sie eigentlich? Einmal beklagen Sie das
Fehlen von Visionen bei der Bundesregierung in Sachen
Europapolitik. Dann wird von einem überzeugten
Europäer etwas ausgeführt. Anschließend fordern Sie
wieder konkrete Schritte. Ich frage nur: Was wollen wir
eigentlich mehr? Endlich ist eine Debatte über Europa
angestoßen worden, deren Fehlen wir in der Vergangenheit ständig beklagt haben. Jetzt ist sie endlich da!
({0})
Die Rede, mit der diese Debatte angestoßen worden ist,
hat ein überzeugter Unionsbürger und Europäer, unser
Außenminister, gehalten. Ich finde, diese Debatte ist auch
überfällig. Es ist notwendig, dass wir diese Debatte über
Europa im Parlament und in unserem Land führen. Es ist
auch notwendig, dass unsere Partner diese Debatte
führen.
Herr Fischer hat es vor einer Woche in seiner Rede auf
den Punkt gebracht: Ist die Europäische Union mit künftig 27 oder mehr Mitgliedstaaten noch tragfähig, wenn die
bisher üblichen Methoden der Integration angewandt
werden? Man muss nicht alle seine Überlegungen teilen.
Es handelt sich schließlich um eine Diskussion. Wir waren uns darüber einig, dass wir auch hier im Parlament
eine breit angelegte Debatte führen müssen. Die gegenwärtige Regierungskonferenz zeigt auch - ich möchte auf
Ihre Rede eingehen, Herr Dr. Haussmann -: Eine größer
werdende Europäische Union, die wir alle wollen,
benötigt nicht nur eine andere Statik, sondern vor allem
auch eine andere Perspektive und eine Vision. Diese hat
Joschka Fischer vor einer Woche sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
({1})
Vor wenigen Tagen haben wir uns - insofern gibt es einen Konsens - der Rede Robert Schumans und seiner Gedanken erinnert. Dabei ist auch das Thema einer europäischen Föderation aufgegriffen worden. Es ist in der Tat
wichtig, eine breit angelegte Diskussion über die Frage zu
führen: Was bedeutet eigentlich „europäische Föderation“? Natürlich kann man über manches, was Sie, Herr
Außenminister, gesagt haben, unterschiedlicher Auffassung sein. Aber mit den Fragen: „Wie nehme ich die Bürgerinnen und Bürger bei diesem Prozess in Europa mit?
Warum erscheint vielen bei uns Europa als superferne
Bürokratie?“ ist ein wichtiger Anstoß gegeben worden.
Über diesen Anstoß sollten wir in den folgenden Debatten
im Bundestag und an anderen Stellen diskutieren.
Weil gelegentlich - zu Recht oder zu Unrecht - Kritik
geäußert worden ist, will ich gar nicht auf die vielen
Mäkeleien aus den Reihen der CDU/CSU, die es vor allem in Presseveröffentlichungen gegeben hat, eingehen;
stattdessen will ich mich auf einen wesentlichen Punkt
konzentrieren: Joschka Fischer hat davon gesprochen - es
ist wichtig, das herauszuheben -, dass es mit ihm kein
Kerneuropa als Exklusivklub gibt. Dies haben andere
Unionsbürgerinnen und -bürger, auch aus Ihrer Fraktion,
vor einigen Jahren ganz anders gesehen; insofern ist das
ein ganz deutliches Signal gegenüber anderen.
({2})
Der Leitsatz dieser Diskussion muss lauten: Differenzierung in der Europäischen Union ohne Diskriminierung
anderer. Diese Europäische Union ist in der Tat auch bei
dieser Vision offen für andere Länder.
Wir Sozialdemokraten fanden und finden diese Rede
zukunftsweisend. Es war vor allem eine integrationsfreundliche Rede, die es verdient, einer breiten Debatte
unterzogen zu werden. Ich wünsche mir vor allem, dass
wir dies in den nächsten Wochen - das müssen wir in diesem Parlament entsprechend regeln - tun werden. Ich
hoffe zugleich, Herr Außenminister, dass Ihre fulminante
Rede vor der Humboldt-Universität einen Impuls für die
laufende Regierungskonferenz gibt.
Dabei können sicherlich nicht alle Fragen in den nächsten Monaten geklärt werden. Vor dem Hintergrund dessen, was wir in den nächsten Jahren in Europa leisten
müssen, ist es wichtig, dass wir auf der Regierungskonferenz in konkreten Punkten weiterkommen. Signale aus
den verschiedenen Mitgliedstaaten und von Regierungen
zeigen, dass Sie einen wichtigen Impuls gegeben haben.
Sie haben sich nicht hinter diplomatischen Floskeln verschanzt, sondern Herzblut für dieses Europa gezeigt. Ich
glaube, das ist auch für die laufende Debatte wichtig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihre Rede in der Humboldt-Universität, Herr
Bundesaußenminister, war ein wichtiger Beitrag zu der
Frage, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. Es ist gut,
dass wir im Parlament Gelegenheit haben, einmal über die
damit verbundenen Gedanken zu sprechen.
({0})
Ich unterstütze dabei ausdrücklich Ihre Idee eines
Verfassungskompromisses zwischen den Nationalstaaten
und Europa. Wir sollten ein wenig die Hitze aus der Debatte nehmen. Wir sind im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, im Reichstagsgebäude; auf der einen Seite befindet sich die Bundesflagge und auf der anderen Seite die
Europaflagge. Diese historische Synthese zwischen Europa und den Nationalstaaten kommt in diesem Raum
symbolisch zum Ausdruck. Ich finde es interessant, die
von Ihnen aufgeworfenen Ideen einmal weiterzudenken.
({1})
Unser Ziel sind die vereinigten Nationalstaaten von Europa.
Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort in die Debatte einführen. Herr Kollege Gloser und andere Kollegen
haben im Vorfeld Äußerungen gemacht, die den Sachverhalt nicht treffen. Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung einer europäischen Föderation, Herr Bundesaußenminister,
und mit der Ausgestaltung dieses Vorschlages sind Sie das muss ich Ihnen sagen - auf dem Boden der Programmatik angekommen, die CDU und CSU in den letzten
Jahren entwickelt haben. Das begrüßen wir.
({2})
Dabei erscheint uns aber kritikwürdig, dass Sie den
Denkanstoß, der beispielsweise in dem von Wolfgang
Schäuble und Karl Lamers erarbeiteten Papier vorgelegt
wurde, nämlich die Idee eines Kerneuropas, absolut
falsch interpretieren. Kein Mensch, der diese Papiere gelesen hat, kommt zu einer solchen Interpretation, wie sie
bedauernswerterweise Herr Gloser vorgenommen hat.
Natürlich ist die Idee der Union von einem Kerneuropa im Gegensatz zu dem, was Sie ihr unterstellen - eine Idee
des Integrationszugewinnes und der Integrationsbeschleunigung; sie ist eine Idee, wie wir Europa effizienter,
transparenter und handlungsfähiger machen können. Sie
wollen ja auch, dass diejenigen, die das wollen, das auch
können. Vielleicht liegt darin die Chance zu einem gemeinsamen Projekt. „Gravitationszentrum“, „Kompetenzabgrenzung“ und „Verfassungsvertrag“ sind Begriffe,
die in der Union entwickelt worden sind und erfreulicherweise bei Ihnen auftauchen. Auch das will ich in dieser
Debatte einmal sagen.
({3})
In der Tat seltsam ist - Herr Kollege Haussmann hat es
angesprochen - die Trennung zwischen dem Bundesaußenminister Fischer und dem Bürger Fischer. Ich will
hierüber gar keine Scherze machen. Aber gerade der Bundesaußenminister und die gesamte Bundesregierung sind
gefordert, aus dem lähmenden Stillstand in der Regierungskonferenz, für den die Regierung Mitverantwortung
trägt, in ganz konkreten Fragen herauszukommen. Sie
können nicht einfach sagen: Ich verabschiede mich von
meinem Amt und trage eine große Vision vor, weil ich mit
der konkreten Wirklichkeit nicht fertig werde. Vielmehr
sind hier im Parlament und zusammen mit den europäischen Partnern Initiativen zu entwickeln, wie wir konkret
zu mehr Integration und zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten und
damit zu einer höheren Effizienz und Transparenz in Europa kommen. Wir wollen Ihnen nicht durchgehen lassen,
dass Sie zwar eine Vision liefern, die wir gerne diskutieren und auch interessant finden, dass zugleich aber auf der
Regierungskonferenz die konkreten Dinge auf der Strecke
bleiben.
({4})
Jetzt möchte ich in kurzen Stichworten darauf hinweisen, dass die Risiken und Nebenwirkungen Ihres Planes
natürlich auch im Blick zu halten sind. Ein Binnenmarkt,
der sich in Kerne auflöste, wäre das Gegenteil dessen, was
wir wollen; darauf ist eben schon einmal hingewiesen
worden. Kern-Europa muss eine Zugewinnchance in sich
bergen und als Integrationskern ausgestaltet werden. Es
darf keinen Rückfall in das Intergouvernementale geben,
sondern wir müssen hin zu mehr Integration. Darauf müssen wir gemeinsam achten.
({5})
Ich persönlich halte übrigens die Euro-Zone schon für einen solchen Kern, aus dem heraus sich das entwickeln
kann.
Warum ist Europa so schwerfällig? Zwei Punkte: Erstens gibt es eine ungute Kompetenzvermischung zwischen Europa und den Nationalstaaten und zweitens keine
klare Gewaltenteilung, sondern ein Durcheinander von
Exekutive und Legislative im Rat. Hierzu Folgendes wiederum nur in Stichworten: Ihre negative Bewertung der
ersten Kammer, also des Europäischen Parlaments, teile
ich ausdrücklich nicht. Das Parlament ist der wahre Gewinner von Amsterdam. Es ist auch kompetenter und effektiver geworden. Ihr Vorschlag eines Parlamentes aus
Doppelmandataren führte zu einem gelähmten Riesen;
dann würde man weder die Aufgaben in Brüssel noch die
in Berlin richtig wahrnehmen können, insbesondere nicht
die Kontrollfunktion. Deswegen bin ich für eine Stärkung
des Europäischen Parlaments.
({6})
Der letzte Gedanke: Die Minister und ihre Beamten
fühlen sich - das ist eine Entwicklung, an der wir auch unseren Anteil haben - im Rat quasi allzuständig: für die europäische Gesetzgebung, für die europäische Exekutive,
also für das Erlassen und das Durchführen von Gesetzen.
Sie haben auch im Rahmen der jetzt bestehenden Verträge
eine Chance, diese zweite Kammer, also den allgemeinen
Rat, so auszugestalten, dass es mit dieser Vermischung ein
Ende hat und hier ein Fortschritt eintritt. Wir laden Sie ein,
Ihre Vision in den Handlungsfeldern, auf denen Sie handeln können, ein Stück weit Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei sollte der Privatmann Fischer dem Bundesaußenminister Fischer vielleicht ein paar Tipps für die Regierungskonferenz geben und dafür sorgen, dass es zu
mehr Kompetenzabgrenzung, einer stärkeren Selbstbeschränkung des Rates, zu höherer Effizienz und mehr
Transparenz kommt.
Der Weg zu den Vereinigten Nationalstaaten von
Europa lohnt eine gemeinsame Anstrengung. Es war in
diesem Hause immer Tradition, dass wir in den großen
Fragen der Europapolitik zusammenzufinden versuchten,
dass wir zusammen diskutierten und das Ergebnis der
Diskussion gemeinsam vertraten. Ihr Plan bietet einen
Ansatzpunkt für eine solche gemeinsame Initiative. Lassen Sie uns sie angehen!
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
hat sich bisher noch nicht erschlossen, was eigentlich die
Ratio dieser Aktuellen Stunde sein soll.
({0})
Ist es wirklich der Vorwurf, dass der Außenminister als
Unionsbürger eine wegweisende Rede hält? Das rechtfertigt wohl wirklich keine Aktuelle Stunde.
Sie müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen,
dass es keine Kritik, sondern Unterstützung zum Beispiel
aus dem Bundeskanzleramt gab. Das war oft in den Zeitungen zu lesen. Insofern konstruieren Sie Widersprüche
innerhalb der Regierung, die keineswegs existieren. Dann
wurde die Haltung der Fraktionen angesprochen. Ich kann
Ihnen davon berichten, dass der europapolitische Sprecher der SPD und der der Grünen, also Herr Kollege
Gloser und ich, bei dieser Rede anwesend waren.
({1})
Ich habe in einer Erklärung, die auch über den Ticker lief,
unmittelbar nach der Rede diese Rede sehr begrüßt und
gehe auch weiterhin davon aus, dass diese Rede einen
enormen Schub für die europapolitische Debatte darstellt.
Ein Kabinett stimmt über Gesetzentwürfe, über Haushalte
und politische Maßnahmen, aber nicht über Visionen ab.
({2})
Insofern können wir durchaus nachvollziehen, dass Ihnen
während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit der Sinn für visionäre Politik ziemlich abhanden gekommen ist.
({3})
Viele diesbezügliche Erfahrungen haben Sie ja nicht gemacht.
Eröffnen Sie also keine Nebenkriegsschauplätze, sondern stellen Sie sich der Debatte über das, was angestoßen
worden ist!
({4})
Dazu ist die Aktuelle Stunde nicht der richtige Ort.
({5})
Ich frage mich, warum Sie sich geweigert haben, hier in
diesem Hause darüber eine vereinbarte Debatte zu führen.
({6})
Wir hätten dann Zeit gehabt, auch inhaltlich tiefer gehend
zu diskutieren.
({7})
Nein, Sie eröffnen Nebenkriegsschauplätze, um mit
lockeren Sprüchen über das, was diese Rede enthält, hinwegzutäuschen. Das ist ein Punkt, der hier nicht in Vergessenheit geraten darf.
({8})
Die Rede enthält Visionen. Das ist der notwendige
Denkanstoß. Sie aber entfachen eine Neiddebatte.
({9})
Ihre einzige Vision besteht offensichtlich in der Hoffnung
auf erneute Regierungsbeteiligung. Das haben Sie ja auch
hier ganz deutlich zum Ausdruck gebracht.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu der Bedeutung
dieser Rede sagen. Ich glaube, dass die Bedeutung erstens
darin liegt, dass die vor sich hindümpelnde Europadebatte
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirklich einen ganz kräftigen Impuls erhalten hat.
({10})
Das zeigen auch die positiven Reaktionen in den anderen
EU-Ländern. Dort ist dieser Ball aufgenommen worden.
Ich hoffe, dass auch Sie diesen Ball in Zukunft inhaltlich
und politisch aufnehmen,
({11})
mitdiskutieren und nicht Debatten über Nebenkriegsschauplätze führen.
Zweitens liegt die Bedeutung darin, dass mit dieser
Rede ein Tabubruch einherging, weil endlich offen über
„Finalität“ gesprochen und diskutiert wurde und nicht gemeinsam geschwiegen wurde. Das Schweigen ist ja ein
Element, das Ihre Europapolitik in den letzten Jahren sehr
stark geprägt hat.
({12})
Es wird endlich eine Debatte geführt, wie wir über Regierungskonferenzen hinaus zu einer gemeinsamen Vorstellung von Europa kommen. Dieser tabuisierte Bereich
wurde nun offen zur Diskussion gestellt. Ich kann Sie nur
auffordern: Beteiligen Sie sich ernsthaft an dieser Debatte!
({13})
Der dritte wichtige Punkt ist, dass es Joschka Fischer
in seiner Rede gelungen ist, sehr verschiedene und isoliert
geführte europapolitische Diskurse zusammenzuführen.
Es gab die Debatte um ein Kerneuropa, es gibt die Debatte
um Kompetenzen innerhalb Europas, es gibt den Verfassungsdiskurs, Diskussionen über die Demokratisierung
der EU und die Föderalismusdebatte. Alle diese Debatten
wurden relativ isoliert geführt. Aber in dem Entwurf, in
dieser Vision einer Föderation Europa ist es gelungen, alles, was bisher puzzlehaft nebeneinander lag, zusammenzufügen. Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb hat die
Rede eine solche Bewegung ausgelöst und einen solchen
Anstoß gegeben, der die Debatte in Europa hoffentlich
dauerhaft bereichert.
Insofern hoffe ich, dass dieser Anstoß, der der Debatte
damit gegeben worden ist, sich nicht auf die heutige Aktuelle Stunde beschränkt. Ich kann Sie nur auffordern, mit
uns gemeinsam diesen Ball aufzunehmen, ihn weiterzuspielen
({14})
und das Momentum, das dadurch ausgelöst wurde, aufrechtzuerhalten. So kann ein weiterer Schub in Richtung
Integration ausgelöst werden.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde die Formulierung des Themas dieser
Aktuellen Stunde ausgesprochen witzig. Es ist doch
vielleicht schon eine Stunde wert, dass man zu einem
witzig formulierten Thema reden kann.
({0})
- Okay, das war es dann auch schon.
Ich habe auch eine plausible Erklärung dafür, warum
eine Trennung zwischen dem Außenminister und dem Privatmann Fischer vorgenommen wurde: Das ist ein Medientrick, auf den wir alle abgefahren sind.
({1})
Auch ich war natürlich außerordentlich neugierig, was der
Privatmann Fischer im Gegensatz zum Außenminister
Fischer sagen kann. Der Trick ist gelungen; denn wir debattieren heute über dieses Thema.
({2})
Schluss mit diesen Vorbemerkungen, zur Sache selbst:
Für mich hatte und hat das Ziel „Vereinigte Staaten von
Europa“ - Außenminister Fischer benutzt ja diesen Begriff nicht; ich glaube, er benutzt ihn bewusst nicht -, ein
föderatives Staatswesen, begründet auf Wohlfahrt und
Demokratie, eine ganz starke Anziehungskraft, wenngleich ich zugeben muss: Ich habe mir das Zustandekommen immer ganz anders vorgestellt. Es gibt darüber auch
eine längere theoretische Debatte in der Linken.
Die Vereinigten Staaten von Europa, gegründet auf
eine demokratische Verfassung, bedingen - ich glaube,
hier hat Fischer Recht - einen Vertrag, der die Rechte der
Nationalstaaten und der Föderation demokratisch und zugleich sensibel bestimmt. Nationalstaat und europäische
Integration können in ein neues, sinnvolles und beiderseitig nützliches Verhältnis gebracht werden. Die europäische Einheit - das ist meine feste Überzeugung - muss
eine Einheit in der Vielfalt sein und darf sich nicht auf
Zentralisierung gründen.
({3})
Einheit in der Vielfalt ist die Chance für einen gemeinsamen Weg zu einem geeinten Europa.
Ein föderales Europa - dieser Gedanke ist in der Rede
des Außenministers nicht vorhanden - braucht in diesem
Sinne eine europäische Staatsbürgerschaft. Ich kann mir
gut vorstellen, dass wir alle über eine doppelte Staatsbürgerschaft verfügen werden: eine nationalstaatliche und
eine europäische. Gerade dieser Gedanke einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft weist über nationalstaatliche
Identitäten hinaus. Ich weiß sehr gut, dass diese Fragen
auch in der politischen Linken Europas höchst umstritten
sind. In der politischen Linken habe ich viele Freunde, die
sich mit solchen Gedanken nur wenig anfreunden können.
Ich halte allerdings diese Gedanken für zukunftsfähig und
perspektivisch.
Obwohl ich, wie ich gerade ausgeführt habe, den Anstoß des Außenministers interessant finde, liest sich seine
Rede - so war mein Eindruck; ich habe sie nicht gehört,
sondern gelesen - über weite Teile sehr blutleer. In dieser
Rede kommen die Menschen - die tatsächlichen Menschen, um die es ja geht - gar nicht vor. Die in Europa lebenden Menschen sind bei Außenminister Fischer offenkundig nur eine Fiktion, irgendeine Komponente angesichts dessen, was als Motor der Integration angesehen
wird.
Der Außenminister benennt drei Faktoren: den Euro,
das gemeinsame Recht und die gemeinsame Militärpolitik. Zugegeben: Das sind wichtige Faktoren. Aber es findet sich kein Wort über gemeinsame Beschäftigungs- und
Sozialpolitik, über kooperative Bildungspolitik und vernünftige Umweltpolitik. Ein Mehr an Erwerbsarbeit, sozialer Sicherung, Umweltstandards und Bildung, ein
Mehr an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder
Schwesterlichkeit könnte die Menschen für Europa aufschließen und den Menschen Ängste vor Europa nehmen.
({4})
Das müssen wir erreichen. Ein vereintes Europa von oben
wird es nicht geben. Wir müssen die Ängste vor diesem
Europa gemeinsam abbauen. Darüber fand sich in der
Rede kein Wort.
In der Rede von Außenminister Fischer - ich sollte
vielleicht „Privatperson Fischer“ sagen - wird auch nicht
darüber nachgedacht - das hat mich schon sehr gewundert -,
warum Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa zunehmen, obwohl deren Bekämpfung ein
wichtiger Schritt zum vereinten Europa wäre. Der Bundespräsident hat das in seiner Rede am gleichen Tag getan. Mit dem Timing müssen sich andere auseinander setzen.
({5})
Offensichtlich hat der Außenminister Europas Grenzen
fest im Kopf. Aber gehören nicht Weißrussland, die
Ukraine und auch Russland zu Europa? Zumindest nachdenken muss man wohl darüber. Es darf nicht zu einer
Abschottung kommen. Das europäische Haus, das
jetzt gebaut werden muss, wird immer - wie ich hoffe:
gute - Nachbarn haben.
Warum, so frage ich, sollen europäische Interventionskräfte, für die nach den Worten des Außenministers der
Kosovo der Anstoß war, uns Europäer - verzahnt mit der
NATO - zusammen bringen? Die militärische Zusammenarbeit wird Europa nicht einigen. Wenn Europa und
Frieden in Europa und gegenüber der Welt nicht mehr in
einem Atemzug genannt werden können, dann nimmt Europa Schaden.
Ich glaube, dass das Europa, das der Außenminister
vorgestellt hat, von oben gedacht ist. Mein Europa soll
von unten wachsen. Noch besser wäre es, wenn an diesem
Europa von oben und unten gleichzeitig gearbeitet würde.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken sagen. Wenn
man die Vereinigten Staaten von Europa ernsthaft will,
muss dieser Prozess für alle Länder offen sein: für kleine
und große Staaten, für Länder der ersten Stunde und für
Länder, die später hinzukommen, für Länder aus dem
Osten und für die aus dem Süden.
Dass die deutsch-französische Zusammenarbeit dabei einen herausragenden Platz einnimmt, ist historisch erwachsen, begründbar und nicht zu ersetzen. Ein Europa
der unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir bereits heute. Ich glaube aber, dass das etwas anderes ist als
der Vorschlag eines Kerneuropas. Mit einer Trennung in
Kern und Rest entstünde ein Bündnis im Bündnis. Dies
wird, einmal geschaffen, seine eigene Dynamik entfalten.
Das wäre aus meiner Sicht kein Weg zur Integration, sondern ein Hindernis auf diesem Weg.
Einen letzten Satz: Ich würde sehr vorsichtig mit dem
Begriff der „Finalität“ dieses Prozesses sein. Ich hoffe,
dass er unumkehrbar ist; sichergestellt ist es noch nicht.
Es wird keine Finalität eines solchen Weges geben, wenn
er ein Prozess bleibt - genauso wie es kein Ende der Geschichte gibt. Es wird ein offener, zu gestaltender Prozess
bleiben, der noch nicht final ist.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Michael Roth.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehrcke,
merken Sie sich diesen Tag: Die PDS-Fraktion hat selten
so viel Applaus von der F.D.P. erhalten. Das wird sicherlich in die Annalen Ihrer Fraktion eingehen.
({0})
- Galt der Beifall jetzt mir, Herr Westerwelle?
({1})
- Wunderbar, der Tag wird gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist - ich sage das
einmal in aller Offenheit - eigentlich schnurzpiepegal, ob
zukunftsweisende Reden von Unionsbürgern, Europäern
oder
({2})
glücklicherweise bundesdeutschen Außenministern gehalten werden. Es kommt auf den Inhalt an. Es ist etwas
vorgetragen worden, was sicherlich einer langen und intensiven Debatte bedarf, vor allem auch hier im Bundestag. Insofern freue ich mich auch ein bisschen über die
Aktuelle Stunde,
({3})
weil sie mir Gelegenheit gibt, etwas zu dem einen oder
anderen Punkt anmerken zu dürfen.
Die Verfassungsdebatte ist belebt worden. Die Vorschläge des Außenministers betten sich ja in zahlreiche
andere Vorschläge ein: Helmut Schmidt, Valéry Giscard
d´Estaing, Jacques Delors, die drei Weisen haben etwas
vorgelegt, Außenminister Védrine hat sich geäußert, kürzlich gab es eine Veröffentlichung des Hochschulinstitutes
Florenz, in der es auch um die zukünftige Struktur der Europäischen Verträge geht. Ich finde diese Einbettung wunderbar.
Ich finde es auch gut, Herr Kollege Hintze, wenn Sie
hier vor dem Bundestag erklären, dass wir zur Zusammenarbeit bereit sein müssen, und Ihre Bereitschaft dazu
unterbreiten, wobei ich im Augenblick das Problem
weniger aufseiten der Koalitionsfraktionen sehe. Mich
treibt eher die Sorge um, dass aus dem Süden dieser Republik immer wieder Schwadronaden bis nach Berlin vordringen, die alles andere als integrationsfreundlich sind.
Insofern müssen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen für
Remedur, für Ordnung sorgen
({4})
und klare Vorschläge unterbreiten. Das ist zumindest die
Meinung der SPD-Fraktion.
Ich will eine Anmerkung zu den Vorschlägen für ein
Kerneuropa machen. Herr Lamers hat diesbezüglich vor
ein paar Jahren etwas sehr Kluges zum Ausdruck gebracht. Jedoch haben Sie damals - im Gegensatz zum
Außenminister Fischer - einen massiven Fehler gemacht.
Sie haben nämlich in Ihrem Papier explizit einige Mitgliedstaaten benannt, die diesem Kerneuropa angehören
sollen; andere wiederum haben Sie nicht genannt. Dann
sind Sie sehr umständlich wieder zurückgerudert. Ich
meine, die Fairness gebietet es, Herr Lamers, dass heute
noch einmal deutlich gesagt wird: Der Nukleus, das „Gravitationszentrum“, von dem Herr Fischer gesprochen hat,
meint etwas anderes als die Ideen, die Sie im Rahmen Ihrer Vorschläge zu einem Kerneuropa unterbreitet haben.
({5})
Die Verfassungsdebatte ist meines Erachtens notwendig, weil wir bei unseren zahlreichen Debatten hier im
Bundestag über die Regierungskonferenzen an einem relativ enttäuschenden Punkt angelangt sind. Wir hangeln
uns bei jeder Regierungskonferenz von einem kurz- und
mittelfristigen Problem zum nächsten,
({6})
obwohl wir wissen, dass wir auf den Regierungskonferenzen - auch in Nizza - nicht alles Notwendige auf den
Weg bringen können, was die Bürgerinnen und Bürger
von uns erwarten. Umso wichtiger ist es, dass wir neben
den kurz- und mittelfristigen Schritten, die auf den Regierungskonferenzen auf den Weg gebracht werden, eine
langfristige Perspektive entwickeln. Das ist mit der Rede
von Außenminister Fischer geschehen.
Ich appelliere auch an Offenheit. Es gibt nun einmal in
Europa verschiedene Denkschulen, es gibt auch verschiedene Modelle. Es gibt eine eher intergouvernementale Linie und eine eher integrationsfreundliche Linie. In der
Bundesrepublik gilt eher die zweite Linie. Wir sollten
diese Differenzen auch nicht unter den Tisch kehren.
Es muss mit unseren Partnern in Europa ganz offen
über diese verschiedenen Modelle geredet werden. Nur
wenn wir Argumente kraftvoll und überzeugend herüberbringen, können wir auch überzeugen für unsere Linie
und für die Vorschläge, die von Vertretern der Bundesregierung und von Vertretern des Bundestages gemacht
werden.
({7})
Ich halte auch nichts von einem Streit um Terminologien. Wir sollten uns über die Frage unterhalten: Was ist
eigentlich unser Ziel? Das wurde auch in dieser Rede klar
anvisiert. Wir wollen ein demokratischeres, ein handlungsfähigeres und ein bürgernäheres Europa.
Wir sollten auch gar keine Angst vor Begriffen haben.
Ich habe kein Problem damit, von einer europäischen Verfassung zu reden. Auch von der Föderation kann man reden. Begriffe sind nicht das Entscheidende. Es geht darum: Was steht hinter diesen Begriffen?
Einen Punkt sehe ich allerdings - das ist auch schon erwähnt worden - etwas anders als der Kollege Fischer.
Wenn wir eine Parlamentarisierung in Europa anstreben,
sollten wir nicht abgehen von dem Weg der direkten
demokratischen Legitimation der Mitglieder des Europäischen Parlaments.
({8})
Ich glaube, dass die Bundestagsabgeordneten wahrlich
genug zu tun haben und nicht noch einzelne Aufgaben in
Brüssel übernehmen sollten. Das ist meine ganz persönliche Auffassung. Nur mit einer Parlamentarisierung machen wir auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich,
worum es bei einer Europawahl geht. Im Augenblick ist
das nicht klar. Wenn sich bei einer Wahl des Europäischen
Parlaments dann irgendwann in der Konsequenz eine
neue Mehrheit widerspiegelt und deutlich wird, wer überhaupt in der europäischen Regierung sitzt, welche politische Kraft in Europa gestalterisch tätig wird, haben wir
eine ganze Menge erreicht.
Ich glaube, das war eine mutige Rede. Europa braucht
Mut und Europa braucht mutige Bürgerinnen und Bürger.
Wenn einer unter den mutigen Bürgerinnen und Bürgern
dann Joschka Fischer heißt, ist das meines Erachtens
nichts Schlechtes, sondern etwas sehr Gutes.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer,
Sie haben am Freitag eine wirklich bemerkenswerte Rede
gehalten, die Anerkennung verdient. Wir hätten uns diese
Rede vom deutschen Außenminister gewünscht und
darüber reden wir hier.
({0})
Sie sprachen in Ihrer Rede selber von Einschränkungen, denen Sie unterliegen. Sie sagten, das sei Ihre persönliche Zukunftsvision. Sie sagten dort, den Außenminister würden Sie jetzt definitiv weit hinter sich lassen.
Wie geht das eigentlich, wenn man Außenminister ist?
Sie sprachen von der beengenden Rolle des deutschen
Michael Roth ({1})
Außenministers, die es Ihnen nicht erlaube, derartige zukunftsträchtige Ausführungen zu machen. Wer beengt
Sie? Was beengt Sie? Beengt Sie die Bundesregierung?
Beengt Sie der Kanzler? Beengt Sie Ihre eigene Partei, so
etwas hier zu sagen?
({2})
Ich finde, es ist notwendig, dass jemand Anstöße gibt.
Das ist zu Recht gewürdigt worden, übrigens ausdrücklich auch von der Fraktion der Freien Demokraten. Aber
es ist notwendig, meine Damen und Herren, dass dann im
Deutschen Bundestag eine solche Debatte stattfindet. Was
ist das denn für ein Parlamentsverständnis, wenn man hier
eine Debatte beantragt, weil ein Privatmann eine Rede
hält, der zufällig noch Minister ist? Setzt man eigentlich
als Minister mal einen Hut auf und setzt ihn dann wieder
ab und wenn man ihn abgesetzt hat, darf man sagen, was
man will, und wenn man ihn aufgesetzt hat, darf man nur
sagen, was andere ihm vorgegeben haben?
({3})
Wir wünschten, dass solche zukunftsträchtigen Ausführungen - und das waren sie - die Politik der Bundesregierung wären und nicht die Politik des Privatmannes
Joschka Fischer.
({4})
Sie haben angekündigt, hier zu sprechen. Sie stehen
auch auf der Rednerliste und das ist gut. Allein das zeigt,
dass die von uns beantragte Debatte hier Sinn macht. Sie
haben jetzt gleich die Gelegenheit, hier zu sprechen, übrigens dann als Außenminister Fischer. Kommen Sie nicht
auf die Idee, gleich als Privatmann zu uns zu sprechen.
({5})
Hier sprechen Sie als Außenminister und wir möchten
gleich von Ihnen als Außenminister hören: Sind die klugen Ausführungen der künftige Leitfaden der europäischen Politik der deutschen Bundesregierung? Ich finde
es ausgesprochen interessant, was der Langstreckenläufer
Fischer uns zu erzählen hat, aber die Außenministermeinung ist gefragt. Wenn jemand Außenminister ist, muss er
auch wie ein Außenminister handeln.
({6})
Der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich
Genscher, der Ehrenvorsitzende der F.D.P., hat das, wie
ich finde, in einem bemerkenswerten Artikel im „Tagesspiegel“ in dieser Woche öffentlich ausgeführt. Ehre,
wem Ehre gebührt. Er sagt dort:
Die Bundesregierung gewinnt damit nach anfänglicher Abstinenz europapolitisches Profil. Fischers
Vorstellungen sind weit reichend; sie werden auch
Widerspruch hervorrufen, aber die Richtung stimmt.
({7})
Besser kann man es in wenigen Sätzen nicht ausdrücken.
Es ist notwendig, dass Sie sich zu Ihrer Rolle als
Außenminister bekennen. Natürlich wissen wir alle,
warum Sie vor einer Woche, kurz vor der Wahl, unbedingt
in der Humboldt-Universität sprechen wollten:
({8})
Sie haben sich davon eine Wirkung erhofft. Ich finde es,
offen gestanden, einen reichlich fragwürdigen Akt, dass
Sie am selben Tag wie der Bundespräsident eine Konkurrenzrede zu seiner Berliner Rede halten mussten. Das
bleibt Ihnen überlassen. Es ist in meinen Augen eine Stilfrage. Die Verfassungsorgane, Privatmann Fischer und
Bundespräsident Rau werden sich damit noch auseinander setzen.
Es ist wirklich eine bemerkenswerte Debatte, die Sie
angestoßen haben; das soll anerkannt werden. Aber es ist
auch mein Parlamentsverständnis, dass Sie als deutscher
Außenminister, wenn Sie solche Anstöße geben, gegenüber diesem Parlament, das Sie als Regierungsmitglied
schließlich zu kontrollieren hat, erklären: „Das ist unser
Weg“ oder „Das ist nicht unser Weg“, auch damit wir,
wenn wir uns als Parlamentarier mit Ihren einzelnen Vorschlägen auseinander setzen möchten, wie es Herr Kollege Roth und andere vorhin getan haben, nicht damit vertröstet werden können: Das hat der Außenminister gar
nicht gesagt, das geht Sie als Abgeordnete gar nichts an.
Diese Rede hatte zu Recht eine große internationale
Wirkung. Sie hätten sie deswegen auch mit Ihren Amtskollegen, wenigstens mit einigen von ihnen, abstimmen
müssen. So muss man, aus unserer Sicht jedenfalls,
europapolitische Initiativen starten. Die Bundesregierung
fährt schlecht damit, wenn sie zunächst einmal, gewissermaßen als Minenhund, den Privatmann Fischer dem
Außenminister Fischer vorgehen lässt, bevor sie sich vielleicht anschließend verhaftet fühlt.
Der deutsche Bundeskanzler hat, wie wir vom Regierungssprecher erfahren durften, im Kabinett mit freundlichem Nicken darauf reagiert. Dann hätten wir das auch
hier gern einmal gehört! Sie sprechen jetzt gleich. Sagen
Sie zu uns, zum Deutschen Bundestag, zu dem Verfassungsorgan Bundestag, zu den Volksvertreterinnen und
Volksvertretern, die wir alle gewählt sind: Das ist der Kurs
der Regierung.
({9})
Dann haben Sie auch unseren Respekt und unsere Anerkennung dafür.
({10})
Aber bei der Vorstellung, dass der Außenminister als
Privatmann reden kann, weil er sich ansonsten zu beengt
fühlt, kann man nur sagen: Machen Sie sich frei, Herr
Fischer, geistig gesehen!
({11})
Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Außenminister Joschka
Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere
mich an die letzte Debatte, die etwas später am Tag
stattgefunden hat, über die ganz wichtige Frage der Regierungskonferenz, bei der es auch um einen Bedeutungsverlust des Deutschen Bundestages ging; darin
waren sich die wenigen anwesenden Europapolitikerinnen und Europapolitiker einig. Jene Debatte hat wenig Interesse gefunden. Die heutige Debatte zeigt - das hat der
Kollege Westerwelle gerade nachhaltig demonstriert -,
dass sie weit über die Europapolitiker hinausreicht. Das
ist gut so.
({0})
- Dass Sie neuerdings sich selber Beifall klatschen, Herr
Westerwelle, finde ich interessant. Aber bitte.
({1})
Ich möchte das jetzt nicht vertiefen, obwohl ich Lust
hätte; denn Sie haben mich gerade in einer Rede, in der
mindestens 38-mal das Wort „Außenminister“ vorkam,
dazu verpflichtet, als Außenminister zu sprechen, und das
will ich auch tun.
({2})
Aber gestatten Sie mir doch eine Vorbemerkung. Sie
mögen das glauben oder nicht, aber das hat mit den
Wahlen wirklich nichts zu tun gehabt. Die Rede war seit
langem geplant.
({3})
- Dass die F.D.P. das so sieht und dass Sie so denken, kann
ich ja verstehen. Aber glauben Sie mir - das wissen auch
Kollegen aus der Opposition, die mich in der Europapolitik schon länger kennen -: Erstens bin ich nicht der Meinung, dass man mit einem solchen Thema landespolitisch
große Wählerströme bewegen kann, zweitens war diese
Rede nicht ohne Risiko, was die öffentliche Reaktion betrifft, und drittens wissen alle, dass es mir hier wirklich
um die Sache geht. Insofern war der 50. Jahrestag einer
bedeutenden und zentralen Rede von Robert Schuman der
eigentliche Anlass. Herr Westerwelle, vielleicht können
auch Sie eines Tages nachvollziehen, wie wichtig das für
einen überzeugten Europäer ist.
({4})
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine
weitere Vorbemerkung. Sie haben ja aus dem von HansDietrich Genscher im „Tagesspiegel“ erschienenen Artikel zitiert - ich bedanke mich nachdrücklich für diesen
Artikel sowie für das, was Sie, Herr Hintze, gesagt haben;
ich komme darauf gerne noch einmal zu sprechen -, der
die Überschrift „Allons, enfants de l’Europe: Folgt
Fischers Initiative!“ hatte. Wenn das die Haltung der
F.D.P. ist, dann bedanke ich mich auch bei der F.D.P.
({5})
Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Westerwelle,
etwas intensiver mit der Tradition meines Amtsvorgängers - von Hans-Dietrich Genscher, der ein bedeutender
Vorgänger von mir und ein großer Liberaler ist, kann man
sehr viel lernen, vor allen Dingen, was das jeweilige
Vorgehen betrifft - und damit beschäftigt, wie er vorgegangen ist, wenn er einen neuen Akzent setzen wollte,
bei dem er nicht so ohne Weiteres davon ausgehen konnte,
dass es dabei schon um die Schlussabstimmung ging - der
Beginn einer Debatte ist nach Meinung der
jetz-igen Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen
keine Schlussabstimmung. In diesem Zusammenhang
möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: Kollege
Genscher hat in diesem Artikel zu Recht geschrieben,
Außenminister Fischer habe mit seiner Europarede eine
gute Tradition des Auswärtigen Amtes als Ideengeber und
Motor der Europapolitik fortgesetzt. Da kam kein Wort
der Kritik über den Privatmann bzw. den Bundestagsabgeordneten, den Sie ja sehr gering einschätzen.
Auf die deutsch-italienische Initiative für eine Politische Union im Jahre 1981 folgte - das ist für mich der entscheidende Punkt - 1988 der konzeptionelle Vorstoß des
AA, sprich: von Hans-Dietrich Genscher, zur Währungsunion. Es war - das ist aus dem Deckblatt ersichtlich und
alle, die damals beteiligt waren, erinnern sich noch sehr
gut - seine persönliche Initiative. Dafür gab es damals
Gründe. Dies war eine Initiative, mit der er völlig Recht
hatte und die später zur Politik der Bundesregierung bzw.
der damaligen Koalition und somit historische Wirklichkeit wurde. Aber angestoßen hatte er dies auf eine ähnliche Art und Weise wie ich.
Herr Westerwelle, regen Sie sich also ab. Von HansDietrich Genscher kann man sehr viel lernen. Das kann
ich Ihnen nur empfehlen.
({6})
Nun zur Sache. Ich freue mich über die heutige Diskussion. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Diskussion
bei nächster Gelegenheit etwas ausführlicher fortsetzen
könnten. Diese Debatte hat es nicht verdient, sie auf das
Niveau kurzfristiger parteipolitischer Interessen herunterzuziehen.
({7})
Interessen werden dann, wenn Entscheidungen anstehen,
wichtig genug. Im Rahmen der dann stattfindenden Regierungskonferenz mag ein solches Vorgehen angemessen
sein.
Aber wir stehen doch vor der Situation, dass nach der
historischen Herausforderung von 1989/1990, die bis
heute nicht wirklich durchdacht und bewältigt wurde, Europa zusammengefunden hat. Nach 1945 gab es zwei zentrale Entscheidungen, die das Schicksal unseres Kontinents grundsätzlich verändert haben, nämlich zum einen
die Tatsache, dass die USA auf diesem Kontinent geblieben sind. Zum anderen die zentrale Entscheidung von
Robert Schuman sowie Jean Monnet und dann auf deutscher Seite von Adenauer und all den anderen Europäern,
statt auf das Prinzip des Gleichgewichts der Mächte zu
setzen, das zu der Katastrophe von zwei Weltkriegen und
zur Selbstzerstörung Europas geführt hat, in Europa ein
neues Prinzip zu kreieren und durchzusetzen, also auf das
Europa der Integration zu setzen. Dies führte zum Zusammenführen der materiellen Interessen mit dem Fernziel der Vollendung der europäischen Integration und der
Schaffung eines wie auch immer gestalteten einheitlichen
Europas.
Von der Erarbeitung dieser Idee ging es im Laufe der
Zeit über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hin
zur Gemeinsamen Schlussakte, schließlich zur Europäischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion.
Nur, dies hatte einen Nachteil: Erzwungen durch die Teilung Europas und auch Deutschlands war diese Idee immer nur in Westeuropa zu Hause. Die Ost- und Mitteleuropäer konnten sich nicht daran beteiligen; sie waren
durch den Eisernen Vorhang von diesem Projekt getrennt.
Die Tatsache, dass 1989/1990 Mauer und Stacheldraht
gefallen sind, führte dazu, dass wir jetzt vor der historischen Notwendigkeit der Erweiterung stehen.
({8})
Diese Erweiterung ist beim Europäischen Rat in Helsinki
beschlossen worden. Insofern ist die Position, die besagt,
dass es über die Dimension, über die Außengrenzen der
Union Unklarheiten gebe, nicht richtig. Diese Frage ist
durch die Beschlüsse von Helsinki definiert worden.
Die Verhandlungen mit 12 neuen Kandidaten werden
aufgenommen. Das bedeutet aber in der Konsequenz,
dass sich die Union spätestens jetzt die Frage stellen
muss, wie denn eine Union mit 27 oder gar 30 Mitgliedstaaten funktionieren und stark bleiben kann, sich also
nicht zurückentwickelt zu Handlungsunfähigkeit oder
Stagnation.
({9})
Ich halte die Erweiterung historisch für unverzichtbar. Europas Sicherheit darf nicht zwei Prinzipien folgen; das
würde den Integrationsprozess gefährden. Dies zwingt
uns diese Debatte auf.
Es war übrigens mein Kollege Hubert Védrine, der mir
diese Frage zum ersten Mal gestellt hat. Und die Diskussion zwischen uns läuft bereits seit November 1998. Die
Planungsstäbe wurden eingeschaltet, mehr und mehr aber
auch die Minister selbst.
Ein bilateraler Besuch von mir in Portugal hat schließlich dazu geführt, dass die Präsidentschaft diese Diskussion zum ersten Mal auch beim Informellen Rat auf den
Azoren im Kreise der Kollegen eröffnet hat. Das war eine
hervorragende Diskussion, in der genau diese Themen
besprochen wurden. All das, was dort zusammengeflossen ist, wurde mit der französischen Seite auf der Ebene
der Außenminister und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit November 1998 intensivst diskutiert, ohne dass
eine Harmonisierung unserer Positionen stattgefunden
hat.
Aber man kann doch auch beim besten Willen nicht erwarten, dass bereits zu Beginn einer Debatte über eine
solch entscheidende Frage, über die Frage, wie eine
Union mit 30 Mitgliedstaaten als politisches Subjekt
funktionieren kann, fertige Konzepte vorliegen werden.
Zunächst muss die Debatte beginnen.
({10})
Ich muss mich auch beim Kollegen Lamers bedanken;
denn er hat mich anlässlich eines Abendessens vor vielen
Monaten auf einen ganz entscheidenden Punkt gebracht.
Er hat insistiert und die Notwendigkeit angesprochen,
dass die Erweiterung nicht zu einem Erlahmen des Integrationsprozesses führen darf. Ansonsten nämlich wäre
die Erweiterung selbst gefährdet. Das macht die Schwierigkeit dieses Prozesses aus.
Wir hatten vor etwa drei Wochen mit Jacques Delors
und Richard von Weizsäcker ein Brainstorming, das ebenfalls überaus nützlich und hilfreich war. Und wenn man
noch die Interventionen von Helmut Schmidt und Giscard
d’Estaing und die jetzigen Äußerungen des Kommissionspräsidenten Prodi hinzunimmt, dann wird doch klar,
dass wir angesichts der Herausforderung, eine Union mit
30 Mitgliedstaaten funktionsfähig halten zu müssen, nicht
mehr ausschließlich nach der Methode Monnet vorgehen
können.
Ich stimme allen zu, Herr Kollege Hintze, die sagen,
dass wir uns nicht auf die Intergouvernementalisierung,
das heißt: auf die Regierungsarbeit, zurückziehen dürfen,
so wichtig sie auch als Bindeglied sein kann. Es stellt sich
letztendlich die Frage der Vergemeinschaftung. Man muss
allerdings die praktischen Probleme berücksichtigen, die
es schon heute gibt.
Herr Kollege Gehrcke, das ist natürlich ein offener Prozess. Man kommt aber an einen Punkt, wo ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Das heißt im Klartext: In dem
Moment, da sich Teile der Europäischen Union oder die
ganze Union entscheiden, den Schritt zur Vollendung der
Union zu gehen, wird ein Kapitel beendet und ein neues
aufgeschlagen. Das bedeutet Finalität. Meine These ist,
dass wir uns in den praktischen Problemen festlaufen werden, wenn wir die Finalitätsdebatte heute nicht beginnen,
weil wir als Europäer, als überzeugte Integrationisten angesichts dieser historischen Herausforderung kneifen
werden. Und diesen Prozess habe ich mit meiner Rede
versucht anzustoßen.
({11})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Europäer - ich lege das jetzt bewusst überparteilich an,
weil sich dies nicht an Parteigrenzen festmacht - versuchen müssen, die rationalen Gründe, die hinter der EuroSkepsis stecken, zu berücksichtigen. Ganz entscheidend
sind in diesem Zusammenhang - das halte ich für rational - die Intransparenz - so erscheint es den Bürgern - des
europäischen Institutionen- und Entscheidungsgeflechtes, die Angst, etwas zu verlieren, was man kennt, wo
man sich zu Hause fühlt, was auch den Charakter einer
Schutzgarantie hat, zum Beispiel soziale Schutzgarantie
oder Grundrechtsschutzgarantie, gegenüber Superstrukturen, die man nicht durchschaut. Hier hält man an einem
Nationalstaat fest und daraus speist sich meines Erachtens
eine Euro-Skepsis, die man ernst nehmen muss.
Wenn man gleichzeitig aber weiß, dass an einer Vollendung der Integration im 21. Jahrhundert - wie schnell
es auch immer gehen mag - kein Weg vorbeiführt, und
wenn man gleichzeitig sieht, dass die Nationalstaaten und
vor allen Dingen die Nationen mit ihrer Geschichte, ihrer
Sprache und ihrer Kultur auf für uns nicht absehbare Zeit
Realität bleiben werden, dann heißt die Aufgabe: Wie
können wir dies in ein europäisches Integrationskonzept
zusammenführen? Wir gehen also weg von einer abstrakten bundesstaatlichen Konstruktion und hin zu einer
vollen Übertragung der Kernsouveränitäten und der Übertragung alles dessen, was unverzichtbar europäisch geregelt werden muss, auf die europäische Ebene. Diese
Föderation sollte auf selbstbewussten Gliedern, auf Nationalstaaten, die fortexistieren werden, gründen.
({12})
Schauen Sie, das war mein Problem mit der Aktuellen
Stunde. Ich wollte hier meine Position erläutern. Dann
kommt der Parlamentarische Geschäftsführer der F.D.P.Fraktion und sagt - formal zu Recht übrigens -, dass ich
meine Redezeit überschritten hätte.
({13})
Ich kann meine Position aber nicht in den vorgesehenen
acht Minuten darlegen.
({14})
- Wenn Sie die Kritik vorbringen, ich hätte es hier machen
sollen, dann können Sie mir jetzt doch nicht sagen: Er redet aber länger als acht Minuten!
({15})
Sonst muss ich ähnliche Schlagworte produzieren wie andere hier. Ich glaube, damit wäre der Sache nicht gedient.
Ich würde das gern zu Ende bringen.
({16})
Der entscheidende Punkt, Kollege Hintze, ist für mich
nicht die Kritik an den Europa-Abgeordneten. Ich weiß,
was sie leisten, wie schwer es ist, was sie tun, und dass es
teilweise hervorragend ist, was sie leisten. Vielmehr zielt
meine Kritik auf die Institution - ich habe mich in dieser
Frage auch bei anderen Kollegen erkundigt -: Die Anbindung dieses Parlaments an die politische Realität, an die
Menschen im Land ist völlig unzureichend.
({17})
Das ist keine Schuld des Parlaments; damit Sie mich hier
nicht missverstehen. Dieses Problem geht zurück auf die
von den Sprachen und den Kulturen gezogenen Grenzen.
Die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie
bringt man die politischen Eliten, die von den Bürgerinnen und Bürgern aller Parteien identifiziert werden, in die
Verantwortung für dieses Europa? Es wird nicht funktionieren, wenn man hier eine abstrakte Trennung vornimmt. Es gibt unterschiedliche Optionen; ich habe sie erwähnt. Eine haben Sie angesprochen.
Ich bin der festen Überzeugung: Wir, die wir jetzt diese
Debatte führen, müssten sie auch beispielsweise mit der
französischen Seite und mit Partnern aus allen Mitgliedsländern führen. Es sollte eine Debatte zwischen politischen Eliten sein, die in ihren jeweiligen Ländern Verantwortung tragen. Das Ziel sollte sein, das zusammenzufügen.
Wir werden nie ein einheitliches europäisches Staatsvolk, sondern immer nur Staatsvölker haben. Das ist der
große Unterschied zu den USA. Das liegt daran, dass Europa ein sehr geschichtsträchtiger Kontinent mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen ist. Deswegen habe
ich an die Konstruktion mit den zwei Kammern gedacht.
Wenn jemandem etwas Besseres einfällt, um das Problem
zu lösen, wäre ich dafür offen. Mich interessiert die praktische Lösung und nicht eine sozusagen nur theoretische
Positionierung. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber
in Abwägung aller Faktoren komme ich zu keinem anderen Vorschlag.
Gestatten Sie mir, dass ich das Folgende auch noch
kurz anspreche. Diese europäische Föderation wäre eine
schlanke Föderation, die sich auf die Kernsouveränitäten
und auf das unbedingt europäisch Notwendige konzentrieren würde. Gleichzeitig würde es eine Souveränitätsteilung mit fortexistierenden Nationalstaaten geben. Dieses müsste in einem Verfassungsvertrag definiert werden.
Das wäre dann die Subsidiarität als Verfassungswirklichkeit, wie sie etwa auch der Realität unserer Verfassung
entspricht.
Wie kann der Weg dorthin aussehen? Der erste Schritt
ist die verstärkte Zusammenarbeit. Das ist der entscheidende Punkt, an dem diese perspektivische Debatte Auswirkungen auf die Regierungskonferenz haben wird. Zu
dem Treffen mit dem französischen Präsidenten, dem Premierminister und dem Außenminister wollen der Bundeskanzler und ich nachher aufbrechen. Das wird dort sicher
auch eine Rolle spielen. Unser Ziel ist es, dass die
Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft
praktisch ein Erfolg wird. Das ist der entscheidende
Punkt.
({18})
Gleichzeitig wird dieser Erfolg einen weiteren Schritt
erforderlich machen. Ein Bindeglied wird dabei die verstärkte Zusammenarbeit und die Diskussion darüber, wie
sie formal und inhaltlich ausgestaltet wird, sein. Dieser
Punkt wird auch über die nächste Regierungskonferenz
hinaus von Bedeutung sein.
Ich bin der Meinung, dass sich über kurz oder lang die
Frage stellen wird, ob Einzelne vorangehen sollen.
Meine Überzeugung ist: Einzelne werden in der Diskussion vorangehen. Wenn dann allerdings die Europäer merken, dass es ernst wird, wie etwa im Zusammenhang mit
der Wirtschafts- und Währungsunion, werden viele nachziehen. Das heißt, das Avantgardemodell - ich kann dem
Kollegen Lamers nur Recht geben, er hat das in den Medien geäußert - wird ein Movens sein.
Aber angesichts der Erfahrungen mit der Wirtschaftsund Währungsunion glaube ich, ehrlich gesagt, bezüglich
der praktischen Perspektive nicht mehr, dass ein solcher
Kern entstehen wird. Ich glaube eher, dass sich viele der
heutigen Mitglieder dafür entscheiden werden. Sie muss
dabei offen bleiben für die neuen Mitglieder - auch das
muss völlig klar sein -, sie darf nicht exklusiv, sondern
muss inklusiv sein.
Es führt kein direkter Weg von der verstärkten Zusammenarbeit in die Föderation, in den Verfassungsvertrag, in
die Souveränitätsteilung, sondern das wird eines Tages
ein politisch notwendiger Sprung sein. Er wird noch viele
Diskussionen erfordern. Das ist auch die Position des
Außenministers Joschka Fischer. Ich würde mich freuen,
Herr Westerwelle, wenn Sie das so ähnlich sähen. Ich
harre Ihrer Unterstützung.
({19})
Sie haben es sicherlich gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab
hier vorne einige Debatten. Ich will Sie nun über den
Sachverhalt aufklären. Normalerweise hat die Bundesregierung in einer Aktuellen Stunde ein Rederecht von zehn
Minuten. Wenn sie darüber hinaus redet, tritt § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung in Kraft, wenn das eine Fraktion
beantragt. Das hat soeben die F.D.P. getan, das heißt, es
wird im Anschluss an diese Aktuelle Stunde noch eine
Debatte über diesen Punkt geben. Damit verlängert sich
die Debattenzeit über diesen Punkt.
Es ist aber nicht richtig, Herr Kollege Koppelin - das
möchte ich Ihnen jetzt sagen -, dass Sie die Präsidentin
zwingen können, etwas vorzunehmen. Ich halte mich genau an die Geschäftsordnung. Sie erwerben nur Rechte.
Ich habe nicht die Möglichkeit, den Außenminister zu
zwingen, seine Rede zu unterbrechen. Das darf ich nämlich laut Geschäftsordnung nicht.
Ich glaube, wir haben das jetzt korrekt festgestellt. Im
Übrigen ist das kein Fall, der heute zum ersten Mal auftritt, sondern er ist bereits bei vielen Regierungsreden in
der Vergangenheit vorgekommen.
Da es in der Aktuellen Stunde keine persönlichen Erklärungen gibt, rufe ich als nächsten Redner den Kollegen
Karl Lamers auf.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben bislang
eine bemerkenswerte und gute Debatte geführt.
({0})
Wir sollten jetzt nicht in einen Streit über die Geschäftsordnung eintreten, zumal sonst die Gefahr besteht, dass
wir uns nachher wieder verwässern und nicht der Sache
angemessen debattieren.
Herr Minister, Sie haben zweifelsfrei das Verdienst, die
bislang äußerst enge, ja gefährlich enge, fast beengte und
dahinmarodierende Debatte über Europa wieder angestoßen und ihr - so hoffe ich - eine Perspektive gegeben
zu haben, die der Herausforderung, vor der Europa steht,
angemessen ist. Wenn Ihnen das endgültig gelungen sein
sollte - das hängt nicht nur von uns ab -, dann haben Sie
sich ein großes Verdienst erworben. Ich bin der Letzte, der
nicht bereit wäre, das anzuerkennen.
Sie haben gesagt, wir brauchen angesichts der Osterweiterung nicht nur ein vertieftes Nachdenken über Europa, sondern auch Antworten auf eine Herausforderung,
die, gemessen an den bisherigen Herausforderungen,
neuer Natur ist. Nun muss ich allerdings ein kritisches
Wort sagen: Das ist schon seit einiger Zeit bekannt, lieber
Herr Fischer, und Wolfgang Schäuble und ich haben 1994
aus genau diesem Grund erwähnt, dass wir mit Blick auf
die Erweiterung, die wir alle in diesem Haus genauso wollen wie Sie, eine Lösung für Europa brauchen, das viel
differenzierter sein wird, als es sich uns jetzt darbietet.
Wir brauchen differenzierte Formen der Mitgliedschaft.
Die Frage ist: Sind sie temporär oder dauerhaft und befinden sie sich im institutionellen Rahmen oder außerhalb
desselben?
Sie haben uns - das bedaure ich - in Ihrer Rede unterstellt, wir hätten eine dauerhafte Differenzierung gewollt,
obwohl das Papier nun wirklich vollkommen eindeutig
ist. Damals haben unsere französischen Freunde zu unserem großen Bedauern unseren Vorschlag diskreditiert,
weil sie nicht antworten, sondern ausweichen wollten. Sie
haben das getan, indem sie behaupteten, wir wollten die
anderen dauerhaft ausschließen, obwohl es in Wirklichkeit - das kann ich Ihnen unter vier Augen erzählen - prominente Franzosen gab, die genau das wollten. Es ist so
gewesen, glauben Sie es mir. Sie sollten dies nicht wiederholen. Ich sage das nur deswegen - es ist mir fast zu
dumm, dies zu sagen -, weil ich meine, dass wir klar feststellen müssen, wo wir einer Meinung sind und wo wir
unterschiedlicher Meinung sind. In diesem Punkt sind wir
ganz klar einer Meinung. Damit will ich es bewenden lassen.
({1})
Das Zweite ist: Einen Verfassungsvertrag haben
Wolfgang Schäuble und ich vor ziemlich genau einem
Jahr auch vorgeschlagen. Unser Vorschlag hat viel weniger Furore gemacht, aber wir haben ihn gemacht. Ich
freue mich, dass Sie auch hier sagen: Das ist ebenfalls
meine Meinung. - Auch Edmund Stoiber hat die Möglichkeit eines Verfassungsvertrages ausdrücklich anerkannt. Dieser hat im Kern die Frage zu beantworten: Wer
macht was, und zwar sowohl auf der jeweiligen Ebene als
auch zwischen den Ebenen? Dies haben Sie sich zu Eigen
gemacht.
Man kann eigentlich auch nicht anders denken, vor allen Dingen dann nicht, wenn man wie Sie zu Recht sagt:
Wir brauchen eine Teilung der Souveränitäten und die Nationalstaaten werden nicht einfach aufgelöst. Dies ist übrigens ein Thema, über das wir noch nachdenken müssen.
Es geht nicht nur um den Nationalstaat, sondern auch um
die Nation. Wenngleich beides nicht ganz voneinander zu
trennen ist, sind es doch zwei verschiedene Dinge.
Ich sage dies auch deswegen, lieber Herr Fischer, weil
ich Ihre soeben zum Ausdruck gebrachte Meinung über
den europäischen Souverän - so will ich dies einmal nennen - nicht ganz teile. Natürlich wird es kein europäisches
Volk geben, wie es heute die nationalen Völker, die Nationen gibt. Aber schon heute haben wir ein europäisches
Bewusstsein. Jedenfalls entwickelt sich eine Gemeinschaft, die sich ihrer selbst bewusst ist.
Übrigens können wir nur dann wählen, wenn wir sie
bekommen. Das Europäische Parlament ist in mancher
Hinsicht ein Vorgriff auf diesen sich entwickelnden europäischen Demos. Aber wenn wir daran nicht glauben,
sieht es sehr schlecht um die Zukunft der Demokratie in
Europa aus und wir wollen ja nicht nur ein starkes und effizientes, sondern - wir müssen dies auch wollen - ein demokratisches Europa, damit es von den Bürgern anerkannt wird.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Chancen sagen.
Sie werden sicher gelesen haben, was Alain Juppé, der
neuerdings Berater des französischen Präsidenten für die
Fragen der institutionellen Reformen ist und der ohne jeden Zweifel - ich sage es vorsichtig - einer der Europäischsten in dem uns nahe stehenden Lager, ein überzeugter Europäer ist, gesagt hat: Wir müssen die Frage
„Wer macht was?“ beantworten. Nun will ich dies nicht
für mich beanspruchen, aber Alain Juppé und ich haben
über diese Frage sehr eingehend gesprochen. Ich kann Ihnen nur versichern: Dies ist nicht nur so dahingesagt. Er
hat klar erkannt, dass wir in diese Richtung gehen müssen.
Wenn es ihm gelingt, mit Frankreich - von dem Sie zu
Recht gesagt haben, dass wir es für jeden europäischen
Fortschritt brauchen - einen „accord“ zu finden, haben wir
eine Chance, diese Regierungskonferenz so zu beenden,
dass sie sicherstellt - was Sie meiner Meinung nach zu
Recht in unserem persönlichen Gespräch zitiert haben -,
dass der europäische Einigungsprozess, dass das politische Projekt Europa auch nach dieser Erweiterung weitergeht. Dies liegt nicht nur im Interesse der heutigen Mitglieder, sondern gerade auch im Interesse der zukünftigen
Mitglieder, die zu überzeugen allerdings unsere gemeinsame und nicht ganz leichte Aufgabe sein wird.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Lamers,
ich finde das, was Sie gerade gesagt haben, sehr bedenkenswert. Ich möchte daran anknüpfen. Was uns in Europa fehlt - das haben Sie gerade deutlich gesagt -, ist so
etwas wie die Grundlage des europäischen Souveräns und
die Beantwortung der Frage, wer das denn sei. In den Nationalstaaten haben wir diesen Souverän sehr wohl. Genau dies ist der Grundgedanke, den Joschka Fischer in den
Mittelpunkt seiner Rede gestellt hat und an den er anknüpft.
Jetzt befinden wir uns in einem Staatenverbund oder wie die Politikwissenschaftler dazu sagen - in einer Mehrebenenpolitik, was dies auch immer sei.Gerade in dieser
Mehrebenenpolitik sind wir in einem ungeahnten Maße
effizient, ob Sie als Beispiel den Euro, das Schengener
Abkommen oder andere Absprachen, die auf der regulatorischen Basis festgehalten worden sind, nehmen. Wir
haben dabei ein ungeheures Ausmaß an technischer Effizienz.
Was aber fehlt - das hat Kollege Lamers eben angesprochen -, ist die Antwort auf die Frage nach der Legitimation mit dem Blick auf das, was künftig geschehen soll.
Das Ganze hat sich jetzt mittlerweile fast bis an den Rand
jener Möglichkeiten der technischen Effizienz entwickelt.
Aber was kommt danach? Was soll perspektivisch aus
diesem Europa werden, wenn die bisherigen Grenzen der
westeuropäischen Integration fast erreicht sind? Das ist
genau das Problem, nämlich die Legitimationsbasis für
politisches Handeln. Sie konnte bei dem alten Nationalstaat, der noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, aber
an dessen Fundamenten der Legitimation es ja Probleme
gibt, leicht beschrieben werden. Wie kann eine neue Legitimation für das, was jetzt kommen wird - einerseits die
Erweiterung, die wir alle wollen, und andererseits aber
eben auch das, was als Legitimation formuliert werden
muss -, gefunden werden? Solange wir leben werden und
die, die hier im Plenum sind, ihre Politik machen werden,
wird es kein europäisches Volk als Legitimationsbasis für
das politische Handeln geben. Das ist wohl ziemlich sicher.
Norbert Elias sagt, was für politische Legitimation
nötig sei, sei eine Wir-Identität. Diese Wir-Identität ist erst
in Anfängen erkennbar. Insofern - davon müssen wir ausgehen -: Solange wir mittelfristig Politik machen und
Konzeptionen entwickeln, können wir diesen neuen Legitimationsbedarf durch den alten Gedanken des Souveräns
nicht decken.
Wie soll dieser Bedarf, der für die Demokratie unverzichtbar ist - damit ich hier nicht missverstanden werde -, gedeckt werden? Ich will nicht darüber reden, dass
wir in der zukünftigen Entwicklung auf eine Legitimation
verzichten möchten. Es ist sozusagen die Konstituente jeder demokratischen Politik, dass sie auf einen fundamentalen Legitimationsbedarf bezogen sein muss. Wie kann
denn dieser Bedarf jetzt gedeckt werden?
Wenn Sie sich das, was der Citoyen Joschka
Fischer dazu gesagt hat, einmal anschauen, dann wissen
Sie meiner Meinung nach auch, was die Antwort darauf
ist: Wir brauchen ein zweites Grundelement neben dieser
Idee des Souveräns. Es besteht darin, eine Debatte zu erzeugen, Diskurse zu entwickeln. Das ist der zweite Punkt,
auf den es ankommt.
Es könnte doch sein, dass wir in eine Demokratieentwicklung hineingehen, die sich anders als bisher versteht,
nämlich als eine Demokratieentfaltung, die die Amerikaner deliberative Demokratie nennen.
Wenn Sie einmal lesen, was Jürgen Habermas dazu
schreibt, oder wenn Sie sich die gesamte amerikanische
Debatte, angefangen bei den Kommunitaristen über
Richard Rorty bis zu John Rawls - das müsste ja für Liberale ein ganz wichtiger Autor sein -, anschauen, dann
stellen Sie fest, dass der Grundgedanke eine Erweiterung
von Demokratie ist. Aber man kann doch nur dann dieses
Ziel ansteuern, wenn es Impulse gibt, wenn es Menschen
gibt - ob als Außenminister, ob als Staatsbürger -, die
diese Debatte erzeugen. Genau das ist der entscheidende
Punkt: Joschka Fischer erzeugt hier eine Debatte und
kommt genau auf die entscheidenden Punkte, die künftig
in der Entwicklung Europas wichtig sind.
({0})
Deswegen bin ich dankbar dafür, dass Joschka
Fischer diese Rede gehalten hat, und ich bin überzeugt davon, dass - das zeigt auch unsere Debatte hier - dieser Impuls seine Folgen haben wird. Ich hoffe sehr, er wird die
Folge haben, dass nicht nur die Verbindungslinie zwischen Frankreich und Deutschland lebendig ist, die ja als
Kernelement, als Motor dessen, was Integration heißt, den
gesamten Integrationsprozess Europas getragen hat, sondern es auch gelingt, diesen Prozess voranzutreiben.
Nehmen Sie den Begriff, den er, wie ich finde, vielleicht noch einmal überdenken sollte, nämlich den der Finalität. Dieser Begriff kommt aus der französischen Debatte. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt auch deutlich
machen, dass wir einen eigenen Begriff entwickeln könnten. Ich würde viel lieber den Begriff „Zweck“, den
Immanuel Kant benutzt hat, verwenden. Also: Zu welchem Zweck treiben wir diese Integration voran? Zu welchem Zweck nehmen wir die Erweiterung vor?
Der wesentliche Zweck muss in einem dringenden dritten Schritt liegen. Der erste Schritt betraf die Integration
der letzten 50 Jahre. Der zweite Schritt wird die Erweiterung sein. Der dritte Schritt muss meiner Meinung nach
ein neuer Gründungsakt für Europa sein. Dieser neue politische Gründungsakt kann die Teilung der Souveränität
sein, was Joseph Fischer sagt, um damit eine neue legitimatorische Basis für ein gemeinsames Europa zu schaffen, die zu einem späteren Zeitpunkt den nach uns kommenden Politikern eine Perspektive eröffnet, damit Europa seine eigene Souveränität als ein gemeinsamer
Souverän wirklich entfalten kann. Insofern ist das, was
Joseph Fischer in Gang gesetzt hat, ein fruchtbarer Prozess, den wir dringend brauchen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, als neues Mitglied des Ausschusses für Europaangelegenheiten einige Anmerkungen zu machen.
Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die
Dynamik der Europapolitik erlahmt ist. In der Bevölkerung nehmen die Zweifel zu, ob das Ziel erreicht werden
kann, ein modernes, zukunftsorientiertes, vereintes und
demokratisch kontrolliertes Europa zu schaffen. Ich habe
den Eindruck, dass die Bundesregierung für diese negative Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahren die Verantwortung trägt.
({0})
Nehmen wir einmal die Ratspräsidentschaft aus dem
Jahre 1999: Viele Punkte sind halbherzig angegangen
worden. Bei der Osterweiterung wurde zum Beispiel
überhaupt keine finanzielle Sicherung erreicht. Deutschland ist nicht mehr der Motor der europäischen Einigungspolitik.
Deshalb ist es geradezu wohltuend, dass der deutsche
Außenminister zwar nicht in seiner Ministerfunktion,
aber doch als Bürger der Bundesrepublik Vorstellungen
zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses
entwickelt hat, die die Bilanz unseres Bundeskanzlers
Schröder ein bisschen aufbessert, mit dem Ziel, eine engagierte, zukunftsorientierte Politik in Europa zu machen.
Die Rede des Außenministers ist deshalb ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Europapolitik der Bundesregierung.
({1})
Die Handlungsfähigkeit Europas muss gesichert werden. Die Gefahr der Selbstblockade der Europäischen
Union droht uns. Die Klärung der europäischen Kompetenzzuordnung - dies ist ein entscheidender Punkt - unter
den bestimmenden Gesichtspunkten der Subsidiarität im
Amsterdamer Vertrag duldet keinen weiteren Aufschub.
Es ist bemerkenswert, sehr geehrter Herr Minister, dass
Sie die langjährige Forderung Bayerns nach einer präzisen Kompetenzabgrenzung nicht nur aufgegriffen, sondern darüber hinaus zu Recht als Hauptachse des Verfassungsvertrages bezeichnet haben.
({2})
Deswegen stellen wir die Forderung: Was nicht unbedingt EU-einheitlich geregelt werden muss, hat in nationaler Kompetenz zu verbleiben, und zwar unabhängig davon, welche Kompetenzen die Kommission inzwischen
an sich gezogen hat. Die elementaren Interessen des Bundes und der deutschen Länder müssen gewahrt werden.
({3})
Meine Damen und Herren, die EU-Osterweiterung ich wohne unmittelbar an der Grenze zu Tschechien; deswegen ist mir die Erweiterung ein Herzensanliegen; wir
Gert Weisskirchen ({4})
dürfen nicht nur von der Osterweiterung der EU sprechen,
sondern wir können von der Wiedervereinigung Europas
sprechen - wird scheitern, wenn die Handlungsfähigkeit
der Institutionen nicht sichergestellt werden kann. Für die
Erweiterung der EU muss deshalb der entscheidende
Grundsatz lauten und gelten: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Die europäische Einigung ist nicht nur eine Abfolge
unzähliger EU-Gipfeltreffen und Regierungskonferenzen. Gerade wegen der um sich greifenden Europamüdigkeit innerhalb der Bevölkerung müssen wir die Menschen
mitnehmen und einbinden. Die positiven Seiten der europäischen Wiedervereinigung müssen den Menschen vermittelt werden. Europa und insbesondere die EU-Osterweiterung müssen in den Köpfen und auch - erlauben
Sie mir diese Bemerkung - in den Herzen der Menschen
verankert werden und eine entscheidende Rolle spielen.
({5})
Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Fischer, ist Ihr
vorgeschlagenes System mit einem aus zwei Kammern,
Abgeordneten- und Staatenkammer, bestehenden Europäischen Parlament als Legislative und mit einer europäischen Regierung als Exekutive grundsätzlich der richtige
Weg. Dieser Weg wird zum Beispiel von der Bayerischen
Staatsregierung und auch von unserem Ministerpräsidenten mitgetragen.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Ich bin stolz
darauf, dass insbesondere die Bayerische Staatsregierung
europäische Kompetenz nachweist, dass wir mit Nachdruck für Europa eintreten und dass die Europapolitik der
Bayerischen Staatsregierung und der CSU insgesamt
geradlinig und ehrlich ist. Bereits im Jahre 1993 ist die
Bayerische Staatsregierung für ein Mehrkammersystem
eingetreten.
({6})
Deshalb, Herr Außenminister, gilt heute ganz besonders:
Nicht nur reden, sondern handeln und das als richtig Erkannte in praktische Politik umsetzen!
Dass der amtierende Außenminister als Privatmann
eine Grundsatzrede zur Europapolitik hält, verwirrt uns.
Vermutlich gibt es keine abgestimmte Haltung innerhalb
der Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung der
EU. Es stimmt uns nachdenklich, dass die Bundesregierung zum Teil konzeptionslos in die Europadiskussion
geht.
Deutschland muss sich wieder an die Spitze des europäischen Einigungsprozesses stellen. Nutzen wir die historische Chance der europäischen Wiedervereinigung!
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
befinden uns längst in einer großen Debatte, die ursprünglich von der F.D.P.-Fraktion so nicht beantragt
worden ist, die aber von ihr hätte beantragt werden können. Wenn ich mich frage: „Wie ist es dazu gekommen?“
und mir den Titel der Aktuellen Stunde, die Unterscheidung zwischen dem Bürger und dem Außenminister
Fischer sowie die Klagen, Herr Fischer müsse doch als
Außenminister für die Bundesregierung sprechen, vor
Augen führe, dann stelle ich fest: Der Außenminister hat
Ihnen, Herr Westerwelle, geradezu eine Lektion in der
Frage „Wie setzt man Themenschwerpunkte?“ erteilt. Er
hat das an einem schönen Beispiel von Herrn Genscher
deutlich gemacht. Ich denke noch immer, dass die von der
Opposition beantragte Debatte ursprünglich in eine andere Richtung zielte. Aber inzwischen dürften wir alle
wohl die Veröffentlichung der Rede von Herrn Fischer im
„Staatsanzeiger“ beantragen. Wir alle schließen uns gerne
dem Lob der F.D.P. an.
({0})
Nachdem ich dies gesagt habe, lasse ich alles, was ich
mir noch sonst an Polemik zurechtgelegt hatte, beiseite
und trenne zwischen dem Abgeordneten Lippelt und der
Fraktion der Grünen; denn das, was ich jetzt sagen werde,
ist mit meiner Fraktion nicht abgestimmt, obwohl ich
glaube, dass die Fraktion meinen Ausführungen guten
Gewissens zustimmen kann.
Wir befinden uns in der inhaltlichen Debatte. Deshalb
sage ich Folgendes: Es gibt einige Punkte, über die wir
weiter diskutieren müssen. Der eine Punkt, mit dem der
Begriff „Finalität“ eng verbunden ist, betrifft die europäischen Grenzen. Dazu sage ich: Es ist ein großes Problem,
wenn zu früh über die endgültigen Grenzen der EU diskutiert wird; denn die EU ist verpflichtet, für einen Transfer von Stabilität in den Raum der ehemaligen Sowjetunion zu sorgen.
Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine an die Vorstellung,
der EU beizutreten, geradezu klammert, dann muss ich
auf das hinweisen, was der zuständige EU-Kommissar anrichtet, wenn er der Türkei eine Beitrittsperspektive eröffnet und der Ukraine nicht. Wir sind letztlich auch für die
Ausgestaltung der ukrainisch-russischen Grenze verantwortlich. Darüber nachzudenken ist eine Reaktion auf den
Prozess, in dem wir stehen. Stabilitätstransfer wird bei
Regelungen ähnlich dem Schengener Abkommen nicht
möglich sein.
Der Außenminister hatte einen persönlichen Grund
dafür, zu sagen, dass er erst einmal als Privatmann spricht.
Er hat für das, was er Visionen nennt, Modelle vorgegeben: Senat, Bundesrat, Zweikammersystem. Ich denke,
dass - im Ergebnis - die „obere“ Kammer früher oder später eine Staatenkammer sein wird, in der die Europäischen
Räte notwendigerweise vertreten sein müssen.
Zur Idee des Doppelmandats möchte ich Folgendes sagen: Ich habe meine größten Bedenken, wenn wir - wie in
den USA oder anderswo - versuchen, uns über ein Unterhaus mit einer einheitlichen Sprache usw. zu integrieren.
Der entscheidende Ort wird das Europäische Parlament
sein müssen.
Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Die Imagination der
Menschen wird durch nichts - auch nicht durch schöne
und noch so gute Reden - so sehr gefesselt wie durch Auseinandersetzungen. Eine, die wir erlebt haben, fand statt,
als das Europäische Parlament die Europäische Kommission, also seine Regierung, abgesetzt hat. Als das geschah,
wussten alle, was in Europa vor sich geht.
Ich bedaure ein bisschen, dass die kurzatmigen Gespräche in der Regierungskonferenz die Frage der Kommission offensichtlich kaum behandeln können. Vor Abschluss des Vertrages von Amsterdam haben die Franzosen einmal von einer Zahl zwischen sieben und zehn
EU-Kommissaren gesprochen. Auf meine Frage an
Giscard d’Estaing, ob das perspektivisch heiße, dass
Frankreich vielleicht einmal keinen Kommissar stelle,
antwortete er mit Ja und sagte, dass das damit verbunden
sein müsse.
Nachdem Prodi zum neuen Präsidenten der EU-Kommission berufen worden war - diese schnelle Einigung
war wirklich ein Erfolg der jetzigen Bundesregierung -,
haben wir, als er seine Kommissare bestimmen wollte, erlebt, wo bestimmte Grenzen sind. Es wird ganz wichtig
sein, dass sich die Regierungen an diesem Punkt auf Vorschlagslisten zurückziehen und von festen Nennungen abrücken.
Herr Kollege
Lippelt, die Zeit.
Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin.
Der Präsident der Kommission sollte wie ein Regierungschef in der Lage sein, sich ein Kabinett zusammenzustellen, das die Mehrheit im neu gewählten Europäischen Parlament repräsentiert.
Meine Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung.
Auch deshalb habe ich als „privater“ Abgeordneter gesprochen. Die Diskussion hatte einen schönen Anfang.
Wir müssen für den Anstoß zu dieser Diskussion und für
die Debattierlust unseres Außenministers dankbar sein.
Herr Kollege
Lippelt, das war doch so ein schöner Schlusspunkt.
Man kann den Gesprächen in Rambouillet nur den Erfolg
einer deutsch-französischen Initiative wünschen.
({0})
Meine Aufforderung an Sie war nur ein Vorschlag. - Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dass
die Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Universität eine gute und wichtige Rede gewesen ist. Es war eine
Rede, die nach anderthalb Jahren der manchmal etwas
kurzatmigen Politik, dem nationalen Schacher, der in Europa in den letzten Monaten vorgeherrscht hat, endlich
eine Perspektive, eine Vision entgegensetzt. Insofern
halte ich den Ansatz Ihrer Kritik, Herr Kollege
Haussmann, für nicht ganz richtig. Wir haben uns doch
immer die Diskussion um Visionen und Ziele gewünscht.
({0})
Im Übrigen können wir angesichts der Ausführungen
nicht nur von der F.D.P., sondern von fast allen Seiten des
Hauses mit viel Stolz sagen, dass wir auch jetzt noch einen relativ starken Konsens über Europa haben. Das sollten wir an dieser Stelle einmal deutlich machen.
({1})
Die Rede von Herrn Fischer birgt viele Konsensmöglichkeiten auch für die Zukunft in sich. Unser Land fährt
doch niemals besser, als wenn wir mit unseren europäischen Partnern und in der Welt untereinander einig sind.
Dass es trotzdem einige kritische Punkte gibt, braucht
dann niemanden zu verwundern. Über sie werden wir uns
auseinander setzen; sie sind ebenfalls, wenn ich es richtig
sehe, fraktionsübergreifend angesprochen worden.
Einig sind wir erstens darin - ich fand es gut, dass die
Bundesregierung das eigentlich zum ersten Mal deutlich
gemacht hat -, dass das Ziel der Osterweiterung als einer
historischen Notwendigkeit, die in unserem Interesse
liegt, wirklich glaubwürdig herübergekommen ist.
({2})
Zweitens ist in dieser Rede herübergekommen, dass es
wichtig ist, wenn wir Europa gestalten wollen, zwischen
Kernkompetenzen, die wir nach Europa geben, und den
übrigen Kompetenzen, die wir auf der nationalstaatlichen
bzw. regionalen Ebene belassen, zu unterscheiden und das
in einem Verfassungsvertrag niederzulegen. Darüber bestand absoluter Konsens, wenn ich das richtig sehe.
({3})
Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der einen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, ein
Gravitationszentrum oder einen Kern brauchen. Das ist
nichts Neues; das ist auch schon mehrfach gesagt worden.
Mit dem Euro oder dem Abkommen von Schengen haben
wir so etwas schon. Aber dass dieser Kern verstärkt werden muss, wenn sich die EU erweitert, wird - das glaube
ich herausgehört zu haben - niemand wirklich infrage
stellen.
Jetzt stellen sich aber doch auch ein paar kritische Fragen. Ich halte Herrn Fischers Bewertung der Möglichkeiten und Chancen der Supranationalität für zu pessimistisch. Gerade wenn wir an Monnet erinnern, müssen wir
doch feststellen, dass die Supranationalität - die Verflechtung der Ideen der Zusammenarbeit, zum Beispiel
die Schaffung einer Kommission und eines Parlaments
auf europäischer Ebene - der eigentliche Integrationsfortschritt war, der überhaupt erst Frieden auf diesem Kontinent geschaffen und dafür gesorgt hat, dass wir nicht mehr
gegeneinander Kriege führen.
({4})
Hier ist Herr Fischer zu pessimistisch, indem er jetzt all
das, was sich zukünftig tun soll, auf die intergouvernementale Ebene, also auf die Ebene zwischen den Regierungen, abschiebt. Das macht mich besorgt, denn er fängt
dabei schon mit dem Europäischen Parlament an. Natürlich muss man kritisieren, dass das Europäische Parlament nicht so demokratisch und bürgernah ist, wie wir es
uns wünschen, dass es über viele parlamentarische Möglichkeiten nicht verfügt und dass unsere nationalen Eliten
sich oftmals nicht hineinwählen lassen. Wir haben sehr
gute Europaparlamentarier; aber es könnte noch besser
sein. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, es
sei klug, ein Doppelmandat zu schaffen und das Europaparlament, das die Supranationalität mit am besten verkörpert und eine der größten Errungenschaften des vergemeinschafteten europäischen Ansatzes ist, dadurch zu ersetzen, dass nur noch nationale Delegierte nach Brüssel
geschickt werden, die dort dann immer einmal auf einer
Konferenz zusammensitzen. So würden weder die Kontrollkompetenzen noch die Gesetzgebung und erst recht
nicht die Demokratie gestärkt. Ich glaube, dies ist der
größte Irrtum der ganzen Rede von Herrn Fischer.
({5})
Überhaupt muss man sich fragen, ob das Schaffen von
verschiedenen Avantgarden außerhalb der EU-Verträge
nicht letztlich auch die große Gefahr einer Erosion in sich
birgt, die Gefahr, dass wir europäische Identität verlieren.
Es könnte eine Art Europa à la carte werden: Jeder pickt
sich die Form der Zusammenarbeit heraus, die er gerade
gerne hätte. Ich glaube nicht, dass dies der Minister intendierte. Aber die Gefahr ist da, wenn man sozusagen
alle zukünftigen Avantgardechancen eines Kerns, der
weiter voranschreitet, auf der Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und nicht mehr in den Gemeinschaftsinstitutionen und dem Gemeinschaftshaushalt ansiedelt. Das ist die Gefahr dieser Rede, meine Damen und
Herren.
Dann muss man sich fragen, was eigentlich die Mittelund Osteuropäer dazu sagen. Ich finde, dass das das
Schwierigste ist. Sie geben sich eine ungeheure Mühe, reformieren ihre Staaten, nehmen Arbeitslosigkeit in Kauf,
um einen unglaublichen Fortschritt zu machen, und bekommen dann von Herrn Fischer quasi gesagt: Wenn ihr
nach all diesen Anstrengungen letztlich in der Lage seid,
in das europäische Mietshaus einzuziehen, dann sind ein
paar bereits in die europäische Villa eingezogen; ihr seid
sozusagen Mieter zweiter Klasse. Damit entmutigt man
diese Länder. Dem muss man mit allen Mitteln entgegenwirken. Das sollten wir alle miteinander tun.
Deshalb ist unbeschadet von allem Positivem, was sich
in dieser Rede findet, festzuhalten, dass es fatal wäre,
wenn in Mittel- und Osteuropa der Eindruck entstünde,
als wären mit dieser Rede Formen von Abwehr und Isolierung verbunden. Es wäre fatal, wenn wir das, was Herr
Fischer als die Methode Monnet bezeichnet, links liegen
lassen würden. Wir sollten ihn alle miteinander ein wenig
erziehen, damit aus dem guten Kern der Rede etwas wirklich Vernünftiges für uns alle entwickelt wird.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der Beitrag von Herrn
Pflüger hat gerade gezeigt, dass wir uns in der Diskussion
jetzt auf dem richtigen Weg befinden. Es wurde deutlich,
dass die Rede des Außenministers, in welcher Eigenschaft
er sie letztlich auch immer gehalten hat, längst überfällig
war.
({0})
- Herr Haussmann, bei jedem Wortbeitrag sagen Sie, er
hätte sie gleich hier halten sollen. Ich kann es verstehen,
dass man vielleicht ein wenig beleidigt ist, weil man bei
der Rede in der Humboldt-Universität nicht dabei war und
über sie in der Presse lesen musste. Es macht sich natürlich auch gut, wenn die erstarkten Liberalen jetzt zu so einem wichtigen außenpolitischen Thema eine Aktuelle
Stunde beantragen. Das kann ich verstehen. Ich kann mir
in dem Zusammenhang aber auch nicht die Bemerkung
verkneifen, dass die Beiträge von Herrn Lamers oder von
Herrn Pflüger außenpolitisch viel konkreter waren als das,
was ich von Ihnen und Herrn Westerwelle gehört habe.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich, wenn Sie
schon eine Aktuelle Stunde hierzu beantragen, an die
große Tradition liberaler Außenminister angeknüpft hätten. Diese Chance haben Sie vertan. Sie haben sich in
Erbsenzählerei ergangen, wann wer was in welcher Funktion gesagt hat und ob das alles so richtig war. Sie haben
hier eine Chance verpasst Aber das ist nicht mein, sondern
Ihr Problem.
({2})
- Lassen Sie sich da auch einmal einladen, die nehmen Sie
bestimmt auch.
({3})
- Gut, sehr schön.
Ich möchte die derzeitige konstruktive Diskussion fortführen und auf das eingehen, was Herr Pflüger gesagt hat.
Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, dass die Interessen, die Gefühlslage und die Geschichte unserer
osteuropäischen Nachbarn sehr ernst zu nehmen sind. Ich
glaube, dass es uns als Europapolitikerinnen und Europapolitiker auszeichnen würde, wenn wir auf der Grundlage
der Rede des Außenministers weiterdiskutieren und das,
was er angestoßen hat, weiterentwickeln würden, nämlich
wie ein Gravitationszentrum aussehen kann, das nicht zu
einem Europa à la carte und nicht zur Rosinenpickerei
führt, und wie man deutlich machen kann, dass es eigentlich im Interesse eines funktionierenden Gravitationszentrums sein müsste, dass auch neue Mitglieder der Europäischen Union möglichst schnell in dieses Zentrum vorstoßen.
Anhand der Reaktionen, insbesondere auch anhand der
Äußerungen des polnischen Außenministers, können wir
feststellen, dass man in diesen Ländern zwar verunsichert
ist, weil man nicht weiß, wohin die Reise führt, aber
durchaus auch offen dafür ist, darüber nachzudenken und
sich in die Verhandlungen einzubringen, wie die Union so
weiterentwickelt werden kann, dass am Ende alle, die
wollen, die Chance haben, an diesem Beschleunigungsprozess teilzunehmen und in dieses Gravitationsfeld hineinzukommen.
({4})
Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich unterstreichen, dass der Außenminister in seiner Rede betont hat,
dass dieses Gravitationszentrum wirklich für alle ein Magnet sein soll, der sie förmlich anzieht, sich dort einzubringen. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und zu überlegen, wie wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Regierung dabei unterstützen können, dies
umzusetzen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns
immer wieder und auch in der heutigen Debatte klar machen müssen.
Wichtig ist auch, dass man zwischen langfristigen Perspektiven, mutigen Visionen und dem, was man so schön
das Tagesgeschäft nennt, unterscheidet. Wir müssen aufpassen, dass die jetzige Rede des Außenministers nicht
zum Anlass genommen wird, zum Beispiel den Forderungskatalog für die Regierungskonferenz zu überziehen
bzw. aufzublähen. Das würde wiederum die Gefahr mit
sich bringen, dass wir durch unsere überzogenen Forderungen am Ende weniger erreichen, als wenn wir geschickt und auf bestimmte Fragen konzentriert verhandeln würden. Auch in diesem Punkt müssen wir also abwägen.
Zum Schluss ist gesagt worden - auch das kann ich unterstreichen -, dass den Worten des Außenministers immer Taten folgen müssen. Ich glaube, das gilt nicht nur für
den Außenminister und die Regierungsmitglieder, sondern für uns alle.
({5})
Wir müssen so sensibel über Europa diskutieren, dass
das Thema für die Bürgerinnen und Bürger interessant ist
und sie nicht abgeschreckt werden. In unseren Diskussionen dürfen wir nicht immer nur die Risiken, die ein solcher dynamischer Prozess mit sich bringt, in den Vordergrund stellen - damit verunsichern wir die Bürger -, sondern wir müssen die Chancen herausarbeiten. Auch darin
liegt eine große Verantwortung für uns alle.
Auch wenn es eben schon angesprochen worden ist,
möchte ich Ihnen sagen: Hören wir auf die Unterüberschrift des Artikels des ehemaligen Außenministers Genscher! Diese lautet: „Folgt Fischer“. Lasst uns in diesem
Sinn konstruktiv diskutieren!
Vielen Dank.
({6})
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen
Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung könnte die F.D.P. eine zusätzliche Debatte
beantragen, da der Bundesaußenminister seine Redezeit
weit überzogen hat.
Es war richtig und gut, dass wir diese Aktuelle Stunde
beantragt haben, da der Bundesaußenminister zum ersten
Mal zu seiner Rede an der Humboldt-Universität in Berlin in diesem Parlament Stellung nehmen konnte und wir
darüber diskutieren konnten. Wir sind dankbar für diese
Diskussion. Die F.D.P. ist der Auffassung, dass dieses
Thema weiter auf der Tagesordnung bleiben muss.
Der Bundesaußenminister hat uns davon unterrichtet,
dass er einen wichtigen Termin hat. Er hat deshalb vorzeitig die Debatte verlassen müssen. Wir akzeptieren das.
({0})
- Frau Kollegin, der Herr Bundesaußenminister hat uns
darüber informiert, dass er einen Termin hat und deshalb
die Debatte vorzeitig verlassen muss. Wir akzeptieren das das ist ein Entgegenkommen der Opposition -, weil wir
wissen, welchen Termin er wahrnimmt.
Wir verzichten also auf eine Debatte nach § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung. Das Thema bleibt aber weiter auf
der Tagesordnung.
({1})
Vielen Dank.
Damit sind wir in der Lage, mit der ursprünglich vorgesehenen Tagesordnung fortzufahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit
- Drucksache 14/3158 ({0})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1})
- Drucksache 14/3392 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/3393 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Dr. Christa Luft
Die Abgeordneten Rennebach, Meckelburg, Kolb,
Deligöz und Grehn haben beantragt, ihre Reden zu Proto-
koll geben zu dürfen.*) Ebenso soll die persönliche Er-
klärung der Abgeordneten Hinsken, Feibel und Bleser zu
Protokoll gegeben werden.**) Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent-
wicklung der Altersteilzeit. Der Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/3392, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
- Drucksache 14/3372 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({4})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe
- zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte,
Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege
nicht gegangen - Bilanz der Behindertenpolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder
chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zur deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile
({5})
- Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913 Berichterstattung:
Abg. Silvia Schmidt ({6})
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst
- Drucksache 14/2415 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Barnett, Silvia Schmidt ({8}), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Katrin GöringEckardt, Volker Beck ({9}), Grietje Bettin, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der
Informationsgesellschaft - Gleichberechtigten
Zugang zum Fernsehen sichern
- Drucksache 14/3382 -
Der Redner der F.D.P., der Kollege Kolb, hat gebeten,
seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir
so.
Interfraktionell wurde eine Debattendauer von einer
Stunde vereinbart, wobei die PDS sechs Minuten erhalten
soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
*) Anlage 4
**) Anlage 2 *) Anlage 5
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Abgeordnete Ulrike Mascher.
({10})
- Ich rufe die Abgeordnete Ulrike Mascher auf, die gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin ist.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Freitagnachmittag und
vielleicht ist es bisher schon etwas erschöpfend gewesen.
Der Arbeitsminister Walter Riester hat am 2. Dezember vergangenen Jahres in seiner Rede zum Welttag der
Behinderten folgende Feststellung getroffen:
Schwerbehinderte Menschen ... sind leistungsfähig
und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte.
Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder der
Behinderung angepasst ist, wenn Gebrauch gemacht
wird von den technischen Möglichkeiten, um einen
Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertengerecht auszustatten, dann können Schwerbehinderte
die gleiche Leistung erbringen wie Nichtbehinderte.
({0})
An dieser Stelle gab es Beifall im ganzen Haus.
Wir haben also alle gemeinsam die Überzeugung, dass
eine Integration Schwerbehinderter in das Arbeitsleben
möglich ist. Dafür müssen dann aber die Rahmenbedingungen stimmen. Wir brauchen das notwendige Instrumentarium zur besseren Eingliederung Schwerbehinderter in das Arbeitsleben. Die Koalition hat in der Koalitionsvereinbarung angekündigt, dieses Instrumentarium zu
schaffen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter löst
dieses Versprechen ein. Es ist das Nahziel dieses Gesetzes,
die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten schon in den
nächsten zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu verringern.
({1})
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Entwicklung
von 1982 bis 1998 umkehren.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
Gerne, Herr Seifert.
Frau Staatssekretärin, es freut
mich, dass Sie das Zitat an den Anfang Ihrer heutigen
Rede gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich
im Anschluss daran sozusagen für die Regierung dafür
entschuldigen, dass der Deutsche Bundestag in der vergangenen Woche ein Gesetz verabschiedet hat, das es
schwerbehinderten Menschen verbietet, Steuerberater zu
werden. Ich möchte einmal Ihre Meinung dazu hören, ob
es eine Chance gibt, dies in sehr kurzer Zeit zu revidieren?
Herr Seifert, ich habe mit
meiner Kollegin, Frau Hendricks, gesprochen, die auch
damals hier geredet hat und mit der Sie bereits eine Diskussion darüber geführt haben. Nach diesem Gespräch
steht fest, dass wir unabhängig von diesem Fall auch in
anderen Berufsgesetzen prüfen werden, inwieweit darin
einschränkende bzw. diskriminierende Regelungen für
Schwerbehinderte enthalten sind. Ich denke, dies ist ein
guter Anlass, um nicht nur in Bezug auf die Steuerberater,
sondern insgesamt in allen Berufsgesetzen, die von verschiedenen Ressorts federführend betreut werden, nachzuprüfen, ob sie Regelungen enthalten, die mit Art. 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, der die Benachteiligung von
Behinderten verbietet, übereinstimmen. Sie haben dafür
einen wichtigen Anstoß gegeben und wir werden das
überprüfen.
({0})
Ich wiederhole: Wir wollen die Entwicklung von 1982
bis 1998 umkehren, die die Erfüllungsquote bei der Beschäftigungspflicht von 5,9 Prozent im Jahre 1982 auf
3,8 Prozent im Jahre 1998 hat sinken lassen. Wir wollen
eine Entwicklung umkehren, die die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten von 93 800 im Jahre 1981 auf 188 500
im Jahre 1998 hat ansteigen lassen.
Eine wesentliche Ursache für den seit Jahren rückläufigen Anteil Schwerbehinderter an der Zahl der Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen ist die Gestaltung der Ausgleichsabgabe. Diese Abgabe hat ja nicht
nur eine Ausgleichs-, sondern auch eine Antriebsfunktion.
Die Entwicklung der letzten 16 Jahre zeigt, dass die Ausgleichsabgabe nicht mehr so gewirkt hat, wie sie sollte.
Deswegen sehen wir eine Neugestaltung zur Erhöhung
der Wirksamkeit des Systems von Beschäftigungspflicht
und Ausgleichsabgabe vor.
Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung Schwerbehinderter bemühen und nur wenig unter der Pflichtquote
liegen, werden mit der Ausgleichsabgabe nicht stärker belastet als bisher. Sie zahlen also weiterhin 200 DM. Arbeitgeber hingegen, die ihre Beschäftigungspflicht gröblich verletzen, zum Beispiel überhaupt keinen Schwerbehinderten beschäftigen, haben künftig eine höhere
Ausgleichsabgabe zu zahlen als bisher, bis zu 500 DM
monatlich.
({1})
- Gut, aber es ist doch ein Schritt in die richtige Richtung,
Herr Seifert.
({2})
Wir wollen ein gestaffeltes System bei der Ausgleichsabgabe. Je höher der Grad der Nichterfüllung, desto höher
die Ausgleichsabgabe. Für Kleinbetriebe ist eine Sonderregelung vorgesehen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeitsplätzen haben nach wie vor 200 DM monatlich zu zahlen,
wenn sie keinen Schwerbehinderten beschäftigen.
Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass die 6-Prozent-Quote
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
nicht bedarfsgerecht, sondern übermäßig sei. Sie haben
darauf hingewiesen, dass die Beschäftigungspflicht gar
nicht zu erfüllen sei. Sie haben darauf hingewiesen, die
Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber werde sich vergrößern, wenn die Quote auf 5 Prozent abgesenkt werde.
Wir wollen mit der Veränderung der Quote die Arbeitgeber jetzt beim Wort nehmen, mehr zu tun als bisher.
({3})
Aber diese Reduzierung der Pflichtquote ist an eine
Bedingung geknüpft. Wird die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten bis Oktober 2002 nicht um 25 Prozent das sind rund 50 000 - abgesenkt, dann kehren wir ab
1. Januar 2003 automatisch wieder zu der bisherigen
Pflichtquote von 6 Prozent zurück.
Genauso wichtig wie die Verbesserung des Systems
von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist es,
diese Beschäftigungspflicht auch umzusetzen. Deswegen
wollen wir sowohl die Rechte der Schwerbehinderten
stärken als auch die Rechtstellung der Schwerbehindertenvertretung in Betrieben und Dienststellen verbessern.
Innerbetrieblich sollen die Arbeitgeber mit der Schwerbehindertenvertretung und dem Betriebs- oder Personalrat
verbindliche Regelungen zur Integration Schwerbehinderter vereinbaren.
Weil schwerbehinderte Frauen es bei ihrer Eingliederung in Arbeit vielfach besonders schwer haben, sollen in
der Integrationsvereinbarung Regelungen zur Beschäftigung eines angemessenen Anteils schwerbehinderter
Frauen getroffen werden.
({4})
Von diesen Vereinbarungen erhalten die Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämter Kenntnis. Diese sollen dann
geeignete Schwerbehinderte vorschlagen. Sie sollen sich
schon im Vorfeld um die Qualifizierung von Schwerbehinderten kümmern, denn Arbeitgeber werden nur geeignete Schwerbehinderte einstellen. Schwerbehinderte, die
für den Arbeitsplatz geeignet sind, werden ihren Arbeitsplatz auf Dauer behalten. An der Prüfung, ob Arbeitsplätze mit vorgeschlagenen Schwerbehinderten besetzt
werden können, wird die Schwerbehindertenvertretung
stärker beteiligt als bisher.
Um für die 865 000 erwerbstätigen Schwerbehinderten
die Arbeitsplätze sicherer zu machen, soll auch die betriebliche Prävention ausgebaut werden. Schon bisher
gab es Pflichten der Arbeitgeber gegenüber beschäftigten
Schwerbehinderten. Diese Pflichten werden zu Rechten
der Schwerbehinderten umgestaltet: Rechte auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz, auf Beschäftigung entsprechend den Kenntnissen und Fähigkeiten, auf bevorzugte Teilnahme an innerbetrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen, auf Erleichterung der Teilnahme an
außerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen und auf
Teilzeitarbeit, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art
und Schwere der Behinderung notwendig ist.
Ein für Schwerbehinderte besonders wichtiger Schritt
soll bei der Arbeitsassistenz gegangen werden. Schwerbehinderte haben künftig gegenüber der Hauptfürsorgestelle im Rahmen der begleitenden Hilfe einen aus der
Ausgleichsabgabe zu finanzierenden Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.
Einzelheiten bleiben einer Rechtsverordnung vorbehalten. Der Rechtsanspruch selbst ist jedoch nicht vom Erlass der Verordnung abhängig, er soll ab In-Kraft-Treten
des Gesetzes gelten.
Die Bundesanstalt für Arbeit und die Hauptfürsorgestellen sind die beiden wichtigsten Verwaltungen, die für
die Integration Schwerbehinderter in Arbeit, für die Beschaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu sorgen
haben. Wir wollen die Arbeit der Arbeitsverwaltung dadurch verbessern, dass wir neben einer Verstärkung der
Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten auch ein neues
Instrument, nämlich Integrationsfachdienste, einsetzen
wollen. Diese neuen Integrationsfachdienste sollen arbeitslosen Schwerbehinderten, die besondere Schwierigkeiten haben, in das Arbeitsleben integriert zu werden, zur
Verfügung stehen, um ihnen die notwendige aufwendige
und personalintensive Unterstützung zu geben.
Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Verschiedene Kolleginnen und Kollegen, aber auch Werkstätten für Behinderte, Organisationen und Verbände der Behinderten
haben die Befürchtung geäußert, dass die von uns allen
gewünschte Förderung der Beschäftigung von Schwerbehinderten, dass die Entwicklung neuer Instrumente, die
Schaffung von Integrationsfirmen, Integrationsabteilungen und Integrationsbetrieben, die Förderung von Werkstätten für Behinderte beeinträchtigen könnte. Ich sage
es deshalb noch einmal ganz deutlich: Die Möglichkeit
zur Förderung insbesondere von Werkstätten für Behinderte durch den Ausgleichsfonds des Bundesministeriums
für Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des erforderlichen Bedarfs und der verfügbaren Mittel bleibt unberührt.
Da ändert sich das Gesetz nicht.
Wir wollen aber hinsichtlich des Bedarfs an Werkstätten für Behinderte eine Erhebung machen, wieweit wir
über die 2003 zur Verfügung stehenden 200 000 Plätze in
den Werkstätten für Behinderte hinaus noch regionale
Schwerpunkte für eine Verstärkung des Netzes der Werkstätten für Behinderte brauchen. Wir werden Ende dieses
Monats erste Gespräche dazu führen. Wir haben uns mit
den Verbänden darüber verständigt, dass eine solche Bedarfserhebung notwendig und sinnvoll ist.
Auch die weiteren besonderen Fördermöglichkeiten
für Werkstätten für Behinderte bleiben erhalten.
({5})
Arbeitgeber, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen
und Ausgleichsabgaben zu zahlen haben, können diese
durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Behinderte reduzieren. Darüber hinaus sind Arbeitgeber der
öffentlichen Hand verpflichtet, Aufträge, die von Werkstätten für Behinderte durchgeführt werden können, bevorzugt diesen Werkstätten anzubieten.
Ich hoffe, dass damit Klarheit geschaffen worden ist,
dass niemand, weder die Regierung noch die Koalitionsfraktionen, den Bestand und die Weiterentwicklung der
Werkstätten für Behinderte durch die verstärkte Förderung der Beschäftigung von Schwerbehinderten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise einschränken oder tangieren will.
Alle Beteiligten, Arbeitgeber, Gewerkschaften und
Behindertenorganisationen, haben dieses Konzept, das
ich Ihnen jetzt in Kurzform vorgestellt habe, mit entwickelt. Es ist im Dialog entstanden. Das Ergebnis ist ein
Konsens. Dass er erreicht werden konnte, ist beachtlich.
Ich denke, er lässt uns alle gemeinsam hoffen, dass wir
das hochgesteckte Ziel, die Arbeitslosigkeit in zwei bis
drei Jahren um rund 50 000 zu reduzieren, tatsächlich erreichen.
({6})
Alle Beteiligten - das sage ich ausdrücklich noch einmal sind guten Willens.
Gehen wir gemeinsam an die Arbeit, verlieren wir
keine Zeit, nutzen wir die Chance des sich positiv entwickelnden Arbeitsmarktes auch für die Schwerbehinderten!
Ich danke Ihnen!
({7})
Herr Kollege
Koppelin, wenn Sie mit den protokollarischen Anweisun-
gen fertig sind, können wir hier vielleicht fortfahren.
Ich habe einige formale Dinge bekannt zu geben. Zum
Tagesordnungspunkt 17, Altersteilzeit, teilt die CDU/
CSU mit, dass sie zustimmen wollte. Da lag ein Versehen
vor. Wir nehmen das protokollarisch zur Kenntnis. Damit
ist das korrigiert.
Außerdem bitten die Abgeordneten Schmidt-Zadel und
Strebl, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt
zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann rufe ich jetzt als nächste Rednerin die Abgeordnete Claudia Nolte auf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe nur,
dass die heutige Debattenzeit nicht ein Omen für die neue
Prioritätensetzung in diesem Politikbereich ist.
({0})
Das erste konkrete Vorhaben dieser Bundesregierung zur
Behindertenpolitik hätte wahrlich mehr Aufmerksamkeit
verdient.
Wir beraten auch über einen Antrag, den alle in diesem
Hohen Hause unterstützt haben. Uns ist sehr wichtig, was
in diesem Antrag steht.
Uns ist dieser Antrag vor allem deshalb wichtig, weil
sich die Regierungskoalition darin ausdrücklich zur
Schaffung eines SGB IX bekennt. Leider hat man ja im
Moment den Eindruck, als ob sich bei der Arbeit an diesem Vorhaben die gleichen Schwierigkeiten ergeben, wie
auch wir sie hatten. Ich sage „leider“, weil wir natürlich
sehr gerne sehen würden, wenn wir in diesem Bereich einen großen Schritt nach vorne gehen könnten.
Wir haben im Moment eher den Eindruck, dass die
Rohentwürfe von Mal zu Mal weniger Substanz enthalten
und dass sich das große Ziel, zu einer stärkeren Homogenität in der Leistungserbringung und zu einer besseren
Verzahnung der Reha- und Eingliederungsleistungen
zu kommen, immer schwerer erreichen lässt. Ich frage
beispielsweise: Was beinhaltet die Aussage, dass der
Sozialhilfeträger künftig auch Rehaträger sein wird, konkret? Inwieweit gelten die Prinzipien für Rehaleistungen
dann künftig auch für die heute im BSHG stehenden Leistungen?
({1})
- Ich bin bei dem Antrag, in dem unter anderem gefordert
worden ist, ein neues SGB IX zu schaffen. Ich bitte, das
zu berücksichtigen. Ich finde das für die weitere Beratung
wichtig.
In den vorliegenden Entwürfen ist vom Wunsch- und
Wahlrecht wenig zu spüren.
({2})
Es besteht keine Klarheit darüber, welche Leistungen des
Sozialhilfeträgers als Rehaleistungen bewertet werden
und welche dann vielleicht nur noch zu den Hilfen zum
Lebensunterhalt zählen. Auch wird nicht deutlich, inwieweit das Nachrangigkeitsproblem geklärt wird. Unklar ist
auch, ob die zu zahlende Eingliederungshilfe künftig von
einem zu erwartenden Erfolg abhängig gemacht wird, wie
das bei Rehaleistungen der Fall ist.
Ich finde, das sind wichtige Fragen, die beantwortet
werden müssen und auf die in den vorliegenden Entwürfen leider nicht klar eingegangen worden ist. Gerade weil
die Zahl dieser Fragen eher mehr wird statt weniger,
möchten wir die Regierung ausdrücklich bitten, zumindest in diesem Fall Qualität vor Schnelligkeit gehen zu
lassen.
({3})
Wir werden Ihnen keinen Vorwurf machen für den Fall,
dass der Termin 1. Januar 2001 nicht zu halten ist - das
verspreche ich Ihnen -, wenn wir dadurch ein Gesetz erreichen, das seinen Namen verdient und das wir alle unterstützen können.
({4})
Ich habe deshalb schon frühzeitig den Vorschlag ge-
macht, die Dinge, die man regeln muss, zum Beispiel die
Integrationsfachdienste, die Integrationsbetriebe und an-
deres, notfalls in einer vorgezogenen Novelle zum
Schwerbehindertengesetz zu regeln. Daher finde ich es
sehr gut, dass die Regierung diese Idee aufgegriffen hat
*) Anlage 5
bzw. selber hatte und wir heute darüber diskutieren können. Denn uns allen geht es doch so: Wir betrachten die
bei Schwerbehinderten bestehende hohe Arbeitslosenquote von 18 Prozent für unhaltbar und erdrückend. Deshalb werden wir all das, was dazu dient, etwas zum Positiven zu verändern, unterstützen.
Aus diesem Grunde stellen wir auch fest: Die Grundelemente des vorliegenden Gesetzentwurfes sind richtig.
Wir halten es sehr wohl für akzeptabel, wenn, da die bisherigen Regelungen zur Ausgleichsabgabe und Beschäftigungsquote nicht zum Erfolg geführt haben, versucht
wird, mit Modifizierungen mehr Anreize zur Beschäftigung von Schwerbehinderten zu schaffen. Integrationsfachdienste bzw. Integrationsprojekte aufzunehmen war
gleichermaßen unser Anliegen. Wir halten den Versuch,
die Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretung
zu stärken und Prävention zu etablieren, für ebenso notwendige Maßnahmen. Aus Erfahrung sind wir etwas vorsichtiger, was die Prognose, 50 000 Schwerbehinderte in
den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, anbelangt.
Wünschenswert ist dies ganz sicher.
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es leichter ist,
allgemeine Grundsätze zu formulieren, als Grundsätze in
einen Gesetzestext zu gießen, was dann obendrein noch
Erfolg zeigen soll. Deshalb hoffe ich ganz einfach, dass
wir während der weiteren Beratungen trotz des straffen
Zeitplans etwas Zeit für die Details haben werden.
Ich möchte nämlich schon noch nachfragen können, ob
die vorgesehene Form der Modifizierung von Beschäftigungsquote und Ausgleichsabgabe ihre Lenkungswirkung erfüllt. Wenn wir dann Großbetriebe weniger belasten und den Mittelstand stärker belasten, ist die Lenkungswirkung falsch. Das sollte - insbesondere im
Rahmen der in diesem Zusammenhang stattfindenden
Anhörungen - noch einmal durchgerechnet werden.
({5})
Ich würde auch prüfen, wie der folgende Punkt denn
nun wirklich geregelt werden soll: Frau Mascher, Sie haben soeben ausdrücklich betont, dass es keine Abstriche
bei der Förderung von Werkstätten und von Wohnheimplätzen für Behinderte gibt. Am Mittwoch dieser Woche
sagten Sie uns aber, die Regierung habe im Rahmen der
Modifizierung der Ausgleichsabgabe nicht unbedingt
Mehreinnahmen geplant. Nun ist es eine Aufgabe der Mathematik: Wenn nicht mehr in den Topf kommt, aber mehr
Leistungen finanziert werden sollen, muss dies zulasten
irgendeiner anderen Sache gehen, die heute finanziert
wird. Deshalb sind die bei den Verbänden und den entsprechenden Einrichtungen, zum Beispiel bei den Werkstätten für Behinderte, bestehenden Ängste zu verstehen
und gerechtfertigt.
Diese Befürchtung kommt nicht von ungefähr, Frau
Mascher. In den Vorbesprechungen zu diesem Gesetzentwurf ist von den Mitarbeitern Ihres Hauses gesagt worden, dass daran gedacht werde, die Förderung der
Werkstätten für drei Jahre auszusetzen und sie danach,
wenn Gelder da sind, vielleicht wieder einzuführen. Das
ist es doch, was die Leute aufgeschreckt und ihnen Angst
gemacht hat. Von daher sind die Befürchtungen gerechtfertigt. Ich glaube, dass nur der Protest der Einrichtung
dazu geführt hat, dass die Förderung nicht ausgesetzt
wird.
Ich denke auch, dass die Begründung, die für diese
Maßnahme angeführt worden ist, nämlich dass man das
Ziel hat, 3 500 Mitarbeiter der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt auszugliedern, was zu Ersparnissen führt, die
eine Investitionsförderung ermöglichen, vollkommen
wirklichkeitsfremd ist. Das ist einfach nicht zu erreichen.
Frau Kollegin Nolte,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mascher?
Ja, wenn Sie die Uhr sofort anhalten.
Das mache ich.
Gut.
Frau Kollegin Nolte, hat Ihnen Ihr Kollege Laumann die Beantwortung seiner Frage,
die schriftlich erfolgen musste, gegeben?
Die habe ich noch nicht
bekommen!
Darin findet sich nämlich eine
Zahl, die mir am Mittwoch nicht präsent war: Wenn wir
50 000 Schwerbehinderte zusätzlich beschäftigen, werden wir durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe, die
bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten zu zahlen
ist, immerhin eine Steigerung der jährlichen Einnahmen
von 180 Millionen DM erreichen. Ich möchte aber betonen, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die Einnahmen gegen null fahren zu lassen. Aber die Sorge der
Werkstätten um ihre Behinderten ist ausgeräumt worden.
Es gibt bezüglich der Förderung kein Moratorium von
drei Jahren. Ich frage Sie, ob das inzwischen bei Ihnen
angekommen ist.
Frau Mascher, ich nehme
das gerne zur Kenntnis, muss aber darauf hinweisen, dass
meine Aussagen nicht von mir erfunden wurden. Die Aussagen erfolgten seitens Ihres Hauses. Wenn das inzwischen zurückgenommen worden ist - umso besser. Was
die konkreten Zahlen angeht, so hoffe ich, dass uns in der
Anhörung Besseres zur Prüfung vorgelegt wird. - Vielen
Dank.
Dass Integrationsfachdienste und Integrationsprojekte institutionell abgesichert werden, ist richtig und notwendig. Ob die starre Festlegung, dass pro Arbeitsamtsbezirk nur ein Integrationsfachdienst tätig sein soll, sinnvoll ist, wage ich dagegen zu bezweifeln. Wir haben schon
heute viele Formen von Fachdiensten, die sich auf Behinderungsarten spezialisiert haben. Dass die Zusammenführung zu einem Integrationsfachdienst diese Arbeit
effizienter und wirkungsvoller macht, glaube ich nicht.
Lassen Sie uns auch darüber sprechen, ob diese strenge
Festlegung Sinn macht.
Ich bin auch immer dann skeptisch, wenn wir auf
Rechtsverordnungen verwiesen werden. Das entzieht sich
dann der parlamentarischen Beratung und Kontrolle.
Deshalb wäre ich doch sehr daran interessiert, von dieser
Praxis Abstand zu nehmen. Das betrifft im Übrigen auch
die Aufnahme der Möglichkeit, einen Arbeitsassistenten
zu fordern. Wir begrüßen dieses neue Instrument in jedem
Fall; es ist notwendig. Näheres sollte aber bitte im Gesetz
und nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden.
({0})
Die Beratung wird auch in dem Punkt interessant sein,
inwieweit die Ziele der Prävention und Mitwirkung der
Schwerbehindertenvertretung wirklich greifen oder ob
nicht nur eine Modifizierung des Verfahrens vorgenommen wird, der Schwerbehindertenvertretung also eigentlich gar nicht mehr Rechte eingeräumt werden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mein hauptsächlicher Kritikpunkt - das widerspricht
ein bisschen dem, was Sie, Frau Mascher, sagten, nämlich
dass alles abgestimmt sei und in großer Einigkeit erfolge bezieht sich auf eine sehr grundsätzliche Frage. Wenn
man sich die ersten Konzeptionen dieses Gesetzentwurfes
anschaut und diese mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf vergleicht, dann stellt man doch erhebliche Veränderungen fest. Diese sind vor allem der Tatsache geschuldet, dass Sie sich sehr darum bemüht haben, diesen Gesetzentwurf von der Zustimmungspflicht zu befreien.
({1})
Da frage ich mich schon: Warum hat Ihr Minister Angst
davor, dieses Gesetz mit den Bundesländern in aller Konsequenz zu beraten und am Ende zu verabschieden? Sie
müssen sich doch davor fürchten, irgendetwas nicht realisiert zu bekommen.
({2})
- Ja, aber wir hatten Gründe.
({3})
Deshalb frage ich: Was sind Ihre Gründe?
Aufgrund seiner Konstruktion bleibt dieses Gesetz ein
Torso; denn bestimmte Dinge können nicht geregelt werden. Es sind die Hauptfürsorgestellen, die einen Großteil der Aufgaben, die sich aus diesem Gesetz ergeben,
erledigen müssen. Sie aber müssten, damit dies möglich
wird, auch Veränderungen erfahren.
Nur um die Zustimmungsfreiheit zu erreichen, sind die
Hauptfürsorgestellen aus dem Gesetzentwurf herausgenommen worden. Ich weiß noch gar nicht, wie Sie das am
Ende umsetzen wollen.
({4})
Deswegen verstehe ich nicht, woher dieses Misstrauen
kommt. Ich nehme an, dass das auch der Grund dafür ist,
dass bestimmte Maßnahmen wie etwa die Prävention
nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form durchgeführt werden - dafür braucht man nämlich die Hauptfürsorgestellen -, dass beispielsweise bei der Vereinbarung
eines Integrationsplans die Hauptfürsorgestellen nicht
stärker einbezogen werden und nur die Formulierung gewählt wurde, dass auch sie eingeladen werden können,
oder dass nicht mehr in Bezug auf die Mitarbeit der
Hauptfürsorgestellen im Bereich der Integrationsprojekte
geregelt wird, bei denen die Zuordnung der Hauptfürsorgestellen zur Bundesanstalt für Arbeit nicht unbedingt
fachlich begründet erscheint oder nachvollziehbar ist.
Ich habe auch Sorge, ob die Umsetzung in dem vorgesehenen Zeithorizont zu schaffen sein wird, gerade wenn
ich berücksichtige, dass manche Maßnahmen bis Oktober
greifen sollen.
Alles in allem heißt das, dass wir im Anhörungsverfahren noch eine ganze Reihe von Punkten näher betrachten müssen. Ich betone noch einmal: Wir werden in diesem Bereich nur erfolgreich sein, wenn wir konstruktiv
zusammenarbeiten.
({5})
Das Misstrauen, das sich hier niederschlägt, lässt mich
befürchten, dass auch unsere konstruktive Zusammenarbeit beim SGB IX dadurch gefährdet werden könnte. Das
wäre sehr bedauerlich. Ich habe die Hoffnung, dass wir in
den Ausschussberatungen stärker einbezogen werden; das
fand bei diesen Gesetzen im Übrigen gar nicht statt. Wir
werden darauf achten, dass die Länder in einer Art und
Weise beteiligt werden, dass sie guten Gewissens zustimmen können. Dadurch würde dieses Gesetz abgerundet.
In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Nolte, einige Ihrer Fragen sind ja noch offen.
({0})
Deshalb werden wir im Anschluss an diese Debatte heute
noch eine Obleutebesprechung durchführen, um eine Anhörung gerade zu dieser Thematik zu beschließen, in der
dann alle Ihre offenen Fragen beantwortet werden können. Einer Sache können Sie sich allerdings schon jetzt
ganz sicher sein: Die Regierung wird hier in Kooperation
mit den Betroffenenverbänden und nach Rücksprache mit
den Interessenvertretern eine sehr gute, solide Arbeit leisten ({1})
im Interesse der behinderten Menschen und auch der nicht
behinderten Menschen in diesem Lande. Wir wollen Integration verwirklichen und nicht nur in der Theorie Worte
darüber verlieren.
({2})
Zurück zur Sachlichkeit, die gerade bei dieser Thematik angebracht ist. Arbeitslosigkeit hat in der Tat sehr viele
Faktoren: Alter, Geschlecht, eine unzureichende Ausbildung, Langzeiterwerbslosigkeit. Wenn man diese Risikofaktoren zusammen betrachtet, wird man feststellen, dass
alle diese Faktoren gleichermaßen auf gehandicapte Personen zutreffen. Meistens werden gehandicapte, schwerbehinderte Menschen aus dem Arbeitsleben aktiv ausgegrenzt, indem man ihnen eine Frühverrentung empfiehlt.
Sie erhalten keine Chance mehr, in den Arbeitsmarkt
zurückzukehren. Häufig trifft das vor allem diejenigen,
die etwas älter sind. Manche haben überhaupt gar keine
Möglichkeit gehabt, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zu
finden,
({3})
weil sie nicht die Möglichkeit hatten, eine Ausbildung abzuschließen, oder weil sie von vornherein nicht am Arbeitsmarkt teilhaben konnten. Aus diesem Grunde ist die
Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in diesem
Lande sehr hoch.
Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch etwas Erfreuliches zu vermelden. Die Zahlen vom März 2000 besagen, dass die Behindertenarbeitslosigkeit im Vergleich
zum Vormonat um 2,9 Prozent gesunken ist.
Mit dem heute hier in der ersten Lesung eingebrachten
Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine umfangreiche Integrationsförderung von Menschen mit Handicap vorsieht. Das Ziel, 50 000 neue Arbeitsplätze zu
schaffen, muss sowohl von der parlamentarischen Seite
als auch von der Bundesregierung kritisch begleitet werden. Noch nie wurde ein Gesetzentwurf von einem derart
großen Konsens in der Gesellschaft getragen wie der Gesetzentwurf, der heute vorliegt.
({4})
Wir möchten die Beschäftigungsquote von schwerbehinderten Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent innerhalb kürzester Zeit senken und heben gleichzeitig die
Staffelung der Ausgleichsabgabe auf 500 DM an. Die
Ausgleichsabgabe, von den Arbeitgebern oft als Strafinstrument bezeichnet, ist kein Strafinstrument.
({5})
Sie ist eine außerordentliche Möglichkeit der sinnvollen
Lenkung der Unterstützungsleistungen.
Frau Kollegin
Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Seifert?
Herr
Seifert, bitte.
Frau Kollegin Deligöz, die
Senkung der Pflichtquote auf 5 Prozent wird in Ihrem jetzt
vorgelegten Antrag damit begründet, dass es eine realistische Quote sei, die die Arbeitgeber seit langem fordern.
Gleichzeitig sagen Sie, wenn innerhalb von zweieinhalb
Jahren nicht zusätzliche 50 000 Arbeitsplätze geschaffen
werden, wird die Pflichtquote automatisch wieder auf
6 Prozent erhöht.
Können Sie meine Befürchtung entkräften, dass dann,
wenn die 50 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden,
gesagt wird, die 5 Prozent sind immer noch unrealistisch,
wir müssen sie weiter senken, anstatt sie wieder auf 6 Prozent anzuheben, um damit die Pflicht deutlich zu machen,
die die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen
hat? Ihre Argumentation kann ich beim besten Willen
nicht verstehen.
Herr
Kollege Seifert, ich finde es ein wenig bedauerlich, dass
Sie immer von vornherein mit Vorwürfen kommen. Zum
einen haben wir gerade diese Problematik im Gesetz
festgeschrieben, zum anderen werden wir die Situation
nicht verbessern, wenn wir nichts machen. Wir müssen
jetzt zu Taten schreiten, um nach vorn zu kommen, um
endlich einmal so etwas wie einen Paradigmenwechsel in
der Behindertenpolitik zu erreichen.
({0})
Wenn wir nicht jetzt handeln, werden wir in zwei Jahren eine noch viel schlimmere Situation haben. Gerade
deshalb ist es jetzt angebracht, diesen Gesetzentwurf gemeinsam, auch mit Ihrer Unterstützung - ich schätze Ihre
Unterstützung ganz besonders, weil Sie aus Erfahrung reden -, zu verabschieden,
({1})
damit wir in diesem Bereich endlich vorankommen.
Ich möchte in dieser späten Stunde am Freitagnachmittag zu der Ausgleichsabgabe als Strafinstrument
zurückkommen. Kein Arbeitgeber in diesem Land ist gezwungen, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Wenn die
Beschäftigungsquote erfüllt ist, wird auch nichts gezahlt.
Solange aber die Erfüllung dieser Quote in diesem Land
nicht selbstverständlich ist, solange einige Vorbehalte bei
den Arbeitgebern vorherrschen, müssen wir - vielleicht
leider, vielleicht erst recht - auf dieses Instrument zurückgreifen.
Wir nehmen die Kritik von Arbeitgebern ernst, die davon sprechen, dass sie zwar gern einen Schwerbehinderten einstellen würden, aber niemanden finden. Diese Kritik nehmen wir besonders ernst, wenn es darum geht, bestimmte Stellen zu besetzen. Wir nehmen sie aber
auch ernst angesichts des ganzen Gewirrs von Förderund Unterstützungsmöglichkeiten, die in diesem Land
bestehen, was dazu führt, dass die Arbeitgeber keinen
Überblick mehr haben bzw. ihn verlieren.
Gerade aufgrund dieser Probleme möchten wir die
Bundesanstalt für Arbeit zu einer engeren Zusammenarbeit heranziehen, um diese Probleme gemeinsam zu lösen. Wir setzen vor allem auf die Integrationsfachdienste, die bei der Vermittlung von behinderten Menschen
eine gute und wichtige Arbeit leisten. Die herausragenden
Vermittlungserfolge - über 60 Prozent - lassen sich darauf zurückführen, dass sie eine gute Vorauswahl treffen
und eine berufsbegleitende Beratung machen, dass sie
Profile festschreiben, dass sie auf zahlreiche Arbeitsmarktinstrumente zurückgreifen und für die Arbeitgeber
zuverlässig sind. Weil sie ein verlässlicher Ansprechpartner sind, möchten wir diese Dienste auch weiterhin unterstützen und ausbauen und dafür die Rahmenbedingungen
sicherstellen.
Aber es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für behinderte Menschen nur durch Appelle an das soziale Gewissen geschaffen werden. Das
greift zu kurz. Letztendlich interessiert es den Arbeitgeber
auch nicht, welches Handicap jemand hat, sondern ihn interessiert, ob die Arbeit erledigt wird und ob der Arbeitnehmer zuverlässig ist.
Umso notwendiger ist es, adäquate Arbeitsplätze zu
finden. Nur so lassen sich in einem Betrieb moderne und
humane Arbeitsbedingungen so verwirklichen, dass sowohl die betroffenen Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber zufrieden sind, Leistungsbereitschaft vorhanden ist
und auch die übrige Arbeitnehmerschaft in den Betrieben
mit den neu eingestellten Arbeitnehmern kooperieren
kann. Dies sollte nicht aus einem Zwang heraus geschehen, sondern weil man von der Qualität der Bewerber
überzeugt ist. Akzeptanz - und damit Unterstützung - lediglich vonseiten der die Einstellung vornehmenden Personen reicht nicht aus. Der Kollegenkreis ist besonders
wichtig. Erst dann, wenn sich in einem Betrieb alle gemeinsam für die Integration einsetzen, wird das Wort „Integration“ mit Leben erfüllt.
Der entscheidende Punkt dieser Gesetzesnovelle liegt
für mich darin, den Arbeitsmarkt zu stärken, die Mittel
des Arbeitsmarktes einzusetzen, Arbeitsassistenz zu gewähren, den Aus- und Aufbau von Integrationsfachdiensten zu fördern, Arbeitsmarktprogramme zu entwickeln, die besondere Gruppen von Schwerbehinderten
ansprechen und insbesondere auf die Probleme der
schwerbehinderten Frauen eingehen, gleich bei der Ausbildung anzufangen, schwerbehinderte Jugendliche anzusprechen und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. An diesem Punkt wird die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik in diesem
Land deutlich.
({2})
Ich bin etwas überrascht, dass uns immer wieder vorgehalten wird, wir würden bei der Werkstättenförderung
kürzen und damit Beschäftigungsmöglichkeiten erster
und zweiter Klasse schaffen. Oft haben sich die betroffenen Organisationen selbst immer wieder gewünscht und
von uns eingefordert, den Blick endlich einmal zu weiten
oder von einer rein institutionellen Förderung in den Sondereinrichtungen abzugehen.
Was beabsichtigen wir? Wir wollen die Integrationsfachdienste in die Regelfinanzierung übernehmen, wir
wollen Integrationsfirmen rechtlich stärken und wir wollen einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschreiben. Das sind unsere Ziele. Für uns sind diese Menschen
alle gleichermaßen arbeitsfähig. Das ist unser Ausgangspunkt. Gerade dafür möchten wir die Rahmenbedingungen schaffen.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss
kommen. Der Weg in die Zukunft liegt für uns nicht in
dem Entweder-oder zwischen Werkstatt, Integrationsdiensten, Arbeitsmarkt und institutioneller Förderung,
sondern unser Weg ist der goldene Mittelweg. Wir wollen
einerseits die Erwerbsrealität wahrnehmen und darauf
reagieren und andererseits Rahmenbedingungen schaffen,
damit in diesem Bereich tatsächlich Integration stattfindet. Teilhabe, Selbstbestimmung, Integration statt Ausgrenzung - das sind unsere Leitbilder, das ist unsere Motivation.
Ich freue mich, dass wir diesem Ziel heute einen Schritt
näher gekommen sind und wir in diesem Sinne weitermachen können.
Danke schön.
({3})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne und draußen! Wir haben heute so viele Anträge und andere Dokumente zu dieser Debatte vorliegen,
dass man kaum noch überschauen kann, was davon nun
gerade Gegenstand der Diskussion ist. Es handelt sich
also im Grunde genommen um eine allgemeine behindertenpolitische Debatte. Insofern ist es in Ordnung, dass
sich jeder den Punkt heraussucht, den er für besonders
wichtig erachtet.
Ich finde es gut, dass wir im Bundestag seit dem Regierungswechsel wesentlich häufiger, wesentlich intensiver und auch zielorientierter über Behindertenfragen reden, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall
war. - Das ist aber jetzt erst einmal genug Lob für euch.
({0})
Jetzt müssen wir einmal zur Sache reden.
({1})
Es reicht nicht aus, dass hier ein paar Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker sitzen und einen guten Vorschlag unterbreiten, wie wir in der Frage der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen vielleicht voranEkin Deligöz
kommen, während Ihre Justiz- oder Rechtspolitikerinnen
und -politiker, Ihre Finanzpolitikerinnen und -politiker
nicht einmal wissen, dass Sie hier andauernd von einem
Paradigmenwechsel reden.
({2})
-Nein, ich kann das schon begründen.
Vor einer Woche haben wir hier ein Gesetz verabschiedet, das von Ihnen, von Ihrer Regierung vorgelegt worden
ist, in dem der eindeutig diskriminierende Satz steht, dass
Personen, die körperliche Gebrechen haben - den Begriff
„körperliche Gebrechen“ gibt es in der Behindertenpolitik schon seit Jahren nicht mehr - oder bei denen
Schwächen der geistigen Fähigkeiten nachgewiesen werden
({3})
- ja, ich komme gleich dazu -, zu einem bestimmten Beruf nicht zugelassen werden können, selbst wenn sie alle
ihre Prüfungen bestanden haben. Als das hier im Plenum
diskutiert wurde, rührte sich keine Hand aus Ihrer Fraktion, Ihrer Koalition, wenigstens dem Antrag der PDS zuzustimmen - und das aus rein parteipolitischen, taktischen
Gründen.
({4})
Es ist nicht zu akzeptieren, dass Sie Sachfragen hier nicht
ins Kalkül ziehen.
({5})
Insofern freue ich mich sehr, Frau Mascher, dass Sie jetzt
angekündigt haben, diesen Fakt in verschiedenen Berufsgesetzen zu überprüfen. Ich hoffe, dass die Überprüfung
auch zu Änderungen führt.
Die zentrale Forderung der behinderten Menschen, die
auch dieses Jahr am 5. Mai, dem europaweiten Aktionstag, gestellt wurde, war: Wir brauchen ein Gleichstellungs- und Diskriminierungsverbotsgesetz.
({6})
Das haben wir von Ihnen bisher nicht bekommen. Auf unsere Anfrage an die Bundesregierung - die leider nur vom
BMJ beantwortet wurde, offenbar ist das etwas anderes
als die Bundesregierung - antwortete diese: Wir sind gerade dabei, den zivilrechtlichen Teil zu bearbeiten, das andere geht uns nichts an.
Ja, gibt es denn etwa keine Diskriminierung im berufsrechtlichen Teil? Gibt es keine Diskriminierung in allen
anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel im Baurecht, im Personenbeförderungsrecht und so weiter? Ist
das BMJ dafür nicht zuständig? Es will nicht zuständig
sein, obwohl ein klarer Entwurf der Behindertenjuristinnen und -juristen vorliegt, an dem man sich orientieren
könnte.
Deshalb: So schön es ist, wenn wir ernsthaft darüber
nachdenken, wie wir 50 000 schwerbehinderte Menschen
innerhalb von zweieinhalb Jahren in Arbeit bekommen da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite -, so unübersehbar
bleibt, dass das Stückwerk ist, das keine klare Konzeption
erkennen lässt, die den Menschenrechts- und den Bürgerrechtscharakter des Themas, über das wir hier beraten,
deutlich werden ließe. Sie machen daraus eine sozialpolitische Maßnahme, eine bildungspolitische Maßnahme,
eine berufspolitische Maßnahme, aber keine wirklich
menschenrechtspolitische Frage.
({7})
Das ist der Punkt, den ich Ihnen ankreide.
Wir haben - Frau Kollegin Nolte wies darauf hin heute unter anderem über eine gemeinsame Entschließung abzustimmen, die alle Fraktionen dieses Hauses
eingebracht haben; das will ich noch einmal hervorheben.
Zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode konnten sich
alle Fraktionen zu einer gemeinsamen Entschließung
durchringen.
({8})
- Frau Nolte, Sie sollten das nicht kleinreden. Es war eine
große Leistung, auch von Ihrer Fraktion, dass Sie über
Ihren Schatten gesprungen sind und Ihre ideologischen
Scheuklappen abgenommen haben.
Diese gemeinsame Entschließung fußt auf drei Anträgen: sowohl von Ihnen, der SPD und den Grünen, als auch
von der CDU/CSU und von uns. Mit dem Antrag zum
Teilhabesicherungsgesetz haben wir ein sehr umfangreiches und umfassendes Konzept im Bereich der Behindertenpolitik vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie der
Menschenrechtsaspekt, der Bürgerrechtsaspekt zur Geltung gebracht werden kann und wie das Verbandsklagerecht, die arbeitspolitischen Maßnahmen, die Änderungen
in vielen Einzelgesetzen und die Finanzierung durchgesetzt werden können.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen nicht nur das Recht
auf Arbeitsassistenz, so wichtig es ist, wir brauchen auch
eine finanzielle Untersetzung des Rechts auf Arbeitsassistenz. Wir brauchen eine Definition dessen, was Sie
unter notwendiger Arbeitsassistenz verstehen.
({9})
Wer definiert für wen, welche Assistenz er braucht? Wenn
das medizinische Aspekte sind - dann gute Nacht. Wenn
das finanzpolitische Aspekte sind - dann Mahlzeit. Wenn
es keine Menschenrechtsaspekte sind, brauchen wir nicht
ernsthaft darüber zu diskutieren.
Lange Rede, kurzer Sinn - ich will meine Redezeit
nicht zu sehr überziehen -: Sie werden uns auf Ihrer Seite
haben, wenn wir in den praktischen Dingen vorankommen. Sie werden aber die Menschen mit Behinderungen
auf der Straße finden und uns an deren Seite und im Parlament Laut gebend, wenn Sie nur Stückwerk liefern und
keine Konzeption dahinter steht, die uns insgesamt bürgerrechtlich voranbringt - Menschen mit und ohne Behinderungen.
Danke schön.
({10})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Karl-Hermann Haack das Wort.
Frau Präsidentin! Ich melde mich zu Wort wegen der Aussagen des
Kollegen Seifert, die sich auf das Gesetz bezogen, das wir
in der letzten Woche verabschiedet haben.
Als Beauftragter für die Belange der Behinderten kann
ich sagen, dass wir all das in dem Gleichstellungsgesetz
regeln werden, was er hier angesprochen hat. Das Problem liegt darin, dass wir mit allen 16 Ländern über Gesetze des Bundes reden müssen. Wir müssen alle Gesetze
der Länder, die dazugehörigen Verordnungen und Regelungen durchlesen und darauf durchforsten, ob darin antidiskriminierende Vorschriften stehen. Es ist bereits in der
Vergangenheit versucht worden, dies in einer Arbeitsgruppe zu erarbeiten. Aber nach meinen Recherchen ist
diese Arbeitsgruppe wegen des großen Arbeitsaufwandes
sanft entschlafen. Doch jetzt werden wir dies in irgendeiner Form zu leisten haben.
Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt ein Gleichstellungsgesetz machen, dann gibt es mit Sicherheit jemanden, der
sagt, dass wir noch etwas vergessen haben. Ich bitte Sie
aber, es positiv zu bewerten, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, und uns frühzeitig die Handreichungen zu
geben, die notwendig sind, damit ein solches Gesetz Erfolg hat.
Zum Stand der Dinge, die Sie anmahnen, Herr Seifert:
Es ist eine endgültige Klärung herbeigeführt worden, dass
Frau Justizministerin Däubler-Gmelin ein Dach über ein
„Antidiskriminierungsgesetz“ macht; so der Titel. Dieses
gilt für Menschen mit Behinderungen, für Ausländer,
sprachliche, ethnische Minoritäten und für das Problem
der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Darüber hinaus erarbeitet sie den zivilrechtlichen Teil.
Wir haben geklärt, dass in einem Verfahren erarbeitet
wird, wer den allgemeinen Teil des Gleichstellungsgesetzes unter Einbeziehung dessen, was Frau Däubler-Gmelin
macht, erarbeitet. Dazu habe ich - vereinbarungsgemäß
mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Mascher - die dafür zuständigen Parlamentarischen
Staatssekretäre der Ministerien für den kommenden
Freitag eingeladen. Ich habe sie gebeten, eine Erklärung
darüber abzugeben, inwieweit der Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes des Forums behinderter Juristinnen und
Juristen eine Grundlage sein kann. Sie sehen, dass prozessual alles gut organisiert ist.
Wenn wir am nächsten Freitag zu einem Ergebnis kommen und uns schriftlich dargelegt wird, was vom jeweiligen Ressort geleistet werden kann, dann muss auf Leitungsebene des Bundesministeriums für Arbeit geprüft
werden, welche nächsten Schritte für ein Gleichstellungsgesetz unternommen werden können. Nach der Geschäftsordnung, nach dem Geschäftsverteilungsplan sind sowohl
die Justizministerin als auch der Bundesminister für Arbeit für ein solches Gesetz zuständig. Das ist der Grund
für den längeren Klärungsbedarf.
Vielen Dank.
({0})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Dr. Seifert, bitte.
Herr Kollege Haack, ich danke
Ihnen für die Information. Sie haben mir sogar mehrere
Informationen gegeben.
Erstens. Wenn das Bundesjustizministerium bzw. die
Bundesregierung ein umfassendes Gleichstellungsgesetz
vorlegt, das wahrscheinlich sehr knapp formuliert sein
kann, dann werden Sie mich auf Ihrer Seite haben. Meine
Linie ist es immer gewesen, die verschiedenen so genannten Minderheiten nicht gegeneinander auszuspielen.
Herzlichen Dank! Ich hoffe, dass es bald vorgelegt wird.
Zweitens. Es gibt keinen Grund ich bitte Sie, dies zur
Kenntnis zu nehmen -, in der Zeit, in der ein Gleichstellungsgesetz vorbereitet wird, Gesetze zu verabschieden,
mit denen diskriminierende Tatbestände festgeschrieben
werden.
({0})
Aber genau das haben Sie in der vergangenen Woche gemacht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das können
Sie auch nicht mehr ungeschehen machen. Um solche diskriminierenden Tatbestände zu verbieten, benötigen wir
kein Diskriminierungsverbotsgesetz. Sie hätten sie einfach nicht festschreiben dürfen.
Erlauben Sie mir - drittens - eine letzte Bemerkung:
Geschäftsverteilungspläne mögen für die Regierung sehr
wichtig sein.
({1})
Aber für Menschen mit Behinderungen ist ausschließlich
wichtig, welche Gesetze gelten und in Kraft gesetzt werden und welche Botschaft wir von hier aus vermitteln,
also ob sie lautet: „Das Ganze ist ein bürokratischer Akt“
oder ob sie lautet: Wir wollen die Lebensbedingungen für
Menschen mit und ohne Behinderung verbessern, damit
sie so zusammenleben können, wie die Kollegin Deligöz
es beschrieben hat. Man muss sich im Umgang miteinander zwanglos wohl fühlen können und einen Behinderten
auch einmal doof finden dürfen. Auch ich als Behinderter
muss Nichtbehinderte blöd finden dürfen. Das ist schließlich eine Frage von Sympathie und Antipathie. So etwas
gibt es zwischen Menschen nun einmal. Wenn man einen
Behinderten doof findet, dann erfüllt man nicht gleich einen Diskriminierungstatbestand. Deshalb benötigen die
Behinderten - das möchte ich nicht verhehlen - einen leistungsgesetzlichen Anspruch, der nichts mit der Sozialhilfe zu tun hat. Wenn Sie einen solchen Rechtsanspruch
nicht sicherstellen, dann bleiben die Behinderten leider
viel zu weit zurück.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Silvia Schmidt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich bin enttäuscht angesichts
dessen, was hier vorgetragen worden ist; denn wir haben
in sehr kurzer Zeit etwas ganz Tolles und qualitativ
Hochwertiges geleistet. Das ist meine Überzeugung. Da
müssen Sie nicht den Kopf schütteln, Frau Nolte.
({0})
Von Ihnen habe ich etwas mehr erwartet. Auf der einen
Seite behaupten Sie, für Behinderte zu sprechen. Auf der
anderen Seite muss ich erleben, dass Sie für Verunsicherung sorgen, gerade im Bereich der Förderung von Werkstätten für Behinderte, über die gestern ausführlich diskutiert worden ist und zu der es auch Pressemitteilungen
vom Bundesarbeitsministerium gibt. Sie möchten zwar
mitarbeiten, verunsichern aber die Behinderten. Das können unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
gar nicht gebrauchen.
({1})
Sie behaupten - ich hoffe, Sie haben den letzten Entwurf des Gesetzes gelesen; das setze ich natürlich voraus,
wenn sie zu diesem Thema eine Rede halten -, es werde
nur ein Integrationsfachdienst eingerichtet. Tatsächlich
steht drin: „mindestens“ - das heißt, es werden mehrere
sein.
({2})
- Lassen Sie mich bitte ausreden! Die Hauptfürsorgestellen sind mit dabei. Das müssten Sie eigentlich vernommen haben.
Herr Seifert, über das Teilhabesicherungsgesetz haben wir bereits gesprochen. Ich hoffe, dass Sie, wenn es
um die Schaffung von 50 000 Arbeitsplätzen für Behinderte geht, genauso engagiert mitarbeiten werden, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Mensch
Arbeit hat, dann ist er nicht auf Sozialhilfe und Almosen
der Gesellschaft angewiesen. Das ist die Grundvoraussetzung. Behinderte Menschen wollen nicht nur einen
gesetzlichen Anspruch auf Zuwendungen haben; sie wollen auch mitarbeiten. Die Integration Behinderter in das
Arbeitsleben ist dieser Regierung besonders gut gelungen, Herr Seifert.
({3})
Ich habe heute trotzdem ein sehr gutes Gefühl, denn
wir haben - ich habe das bereits am Anfang meiner Rede
erwähnt - einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt. Das ist ein
qualitativ hochwertiger Schritt. Wir werden mit diesem
Gesetz die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nachhaltig
verringern. Damit haben wir einen großen Schritt zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit getan; denn diejenigen
Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin diskriminiert sind und benachteiligt werden, trifft die Arbeitslosigkeit doppelt schwer.
Es gehört zu den Grundelementen unserer Sozialpolitik,
für die Beseitigung derartiger Ungerechtigkeiten einzutreten.
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Nolte?
Nein, das muss jetzt
nicht sein. Wir können gern im Ausschuss reden. Ich habe
heute schon zu viel gehört.
({0})
Es ist einfach sozial ungerecht, wenn Menschen - aus
welchem Grund auch immer - aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, wenn wir keine Möglichkeiten zur
Integration bieten und ihnen, kurz gesagt, die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben verweigern.
Wir werden mit unserem Gesetzentwurf einen ersten
richtigen Schritt gehen, um diese Missstände abzubauen.
Es ist wichtig, dass es uns gelingt, innerhalb sehr kurzer
Zeit 50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu schaffen. Frau Staatssekretärin Mascher hat schon gesagt, mit
welchen rechtlichen Mitteln wir dieses Ziel erreichen
wollen. Die Zustimmung der Verbände und der Gewerkschaften sowie die Mitwirkung der Arbeitgeberverbände
geben uns Recht.
Eine entscheidende Ursache für den großen Anteil
der Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehinderten
liegt in der unzureichenden Vermittlung und Betreuung.
Schwerbehinderte brauchen eine gezielte Beratung, Schulung und Vermittlung, weil sie von vornherein auf dem
Arbeitsmarkt benachteiligt sind.
Das hat auch die meisten Arbeitsämter und Hauptfürsorgestellen überfordert. An diesem Punkt setzen wir an.
Jedes Arbeitsamt wird einen Ansprechpartner bekommen, der für die Beratung Schwerbehinderter geschult
wird und nur für deren Belange zuständig ist. Zusätzlich
wird ein breites Netz an Integrationsfachdiensten geschaffen, und zwar wird es für jeden Arbeitsamtbezirk
mindestens einen Fachdienst geben. Der Integrationsfachdienst kann von einem Verband eingerichtet werden
und aus einem Verbund mehrerer Verbände bestehen.
Die Integrationsfachdienste werden auf die spezifischen Bedürfnisse, die Ausbildung, die Fähigkeiten, die
Behinderung und die Ansprüche einzelner Schwerbehinderter zielorientiert eingehen. Sie werden dem Schwerbehinderten auch dann noch bei Problemen zur Seite stehen,
wenn er auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits Fuß gefasst
hat. Wir haben damit auch die Chance, schwerbehinderte
Frauen, Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind, und
gerade Schwerbehinderte in den neuen Bundesländern
vermehrt in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Ich möchte Ihnen kurz ein Beispiel nennen: Ich hatte
neulich ein Gespräch mit dem als Modelleinrichtung realisierten Integrationsfachdienst in Wittenberg. Dieses Gespräch machte mir einfach Mut. So sagte man mir zum
Beispiel, dass zunächst etwa 50 Prozent der privaten Firmen und Unternehmen nicht einmal wissen, was ein
Schwerbehindertenausweis ist, was er bedeutet und welche Fördermittel sie erhalten können, wenn sie einen
Schwerbehinderten einstellen. Nach einem klärenden
Gespräch mit den Unternehmen könnten Unsicherheiten
ausgeräumt und Ängste beseitigt werden, sodass einer
Einstellung Schwerbehinderter nichts mehr im Weg
steht. - In diesem Bereich bestehen erhebliche Defizite,
die wir gemeinsam mit den Verbänden, mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgeberverbänden durch Information abbauen müssen.
Übrigens sind wir damit voll im Trend; denn in der aktuellen Diversity-Diskussion geht es in vielen großen Unternehmen der USA schon darum, Talente, verschiedene
Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschiedlichster Gruppen zu nutzen, zum Beispiel in gemeinsamen
Teams von Männern und Frauen, Behinderten und Nichtbehinderten, Alten und Jungen sowie Menschen verschiedenster Herkunft.
Noch etwas anderes macht mir Mut: Die Vertreter der
Integrationsfachdienste sagten mir, dass etwa genauso
viele schwerbehinderte Frauen wie schwerbehinderte
Männer in Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt
vermittelt werden konnten. Den Weg der Integrationsfachdienste sollten wir weitergehen. Der Frauenanteil in
den Werkstätten für Behinderte liegt bei 42,2 Prozent. Das
ist eine relativ gute Zahl. Aber auch diese Frauen müssen
den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen.
Bedenkt man diese erschreckende Benachteiligung
schwerbehinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt, so kann
man die Bedeutung von Integrationsfachdiensten, aber
auch von Integrationsfirmen und -unternehmen gar nicht
hoch genug schätzen; denn sie haben bis jetzt 6 000
Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen geschaffen. Zum ersten Mal gibt es für diese Dienste, für diese
Firmen und für diese Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf eine Rechtssicherheit.
Das Forschungsprojekt „LIVE“ hat in einer umfangreichen Studie herausgestellt, dass Erwerbstätigkeit, Ausbildung und Beruf bei schwerbehinderten Frauen einen
außerordentlich hohen Stellenwert haben. Ich zitiere die
Aussage einer im Rahmen der Studie befragten Frau:
Ich glaube, dass Ausbildung für mich einen höheren
Stellenwert hat als für viele Nichtbehinderte, weil
man einfach besser sein muss, um das Gleiche zu bekommen wie Nichtbehinderte.
In dieser Studie zeigten sich überwiegend so genannte
gebrochene Berufsbiografien, wobei neben frauentypischen Gründen wie Erziehungsurlaub vor allem die Behinderung Ursache dafür war - also etwa bei Reduzierung
der Stundenzahl -, dass man sich nicht gut gefühlt hat;
Teilzeitarbeit gab es erst ab 55 Jahren. Die Studie zeigt
weiter, dass bei den befragten Frauen immer großes Bedauern und oft auch Resignation angesichts ihrer Berufsbiografien zu finden war.
Frau Kollegin
Schmidt, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Ja, das mache ich.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie dringend
notwendig es für den Gesetzgeber ist, endlich zu handeln.
Ich glaube, wir alle hier im Saal sind dieser Meinung. Wir
sind glücklich, dass endlich sehr viele Punkte wie zum
Beispiel der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz und
Teilzeitarbeit in unserem Gesetz verankert werden. Zum
Schluss betone ich noch einmal: Wir alle müssen gemeinsam mit den Verbänden, den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften dazu beitragen, soziale
Gerechtigkeit für die behinderten Mitbürger herzustellen.
Das ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft.
Wir nehmen diese Herausforderung an.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3372 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung auf Drucksache 14/2913. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung
zur Abstimmung vom Kollegen Dr. Ilja Seifert gibt.*)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/2913, folgende
Anträge für erledigt zu erklären: Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Die Integration
von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche
politische und gesellschaftliche Aufgabe“, Drucksache 14/2237, Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Alte
Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen Bilanz der Behindertenpolitik“, Drucksache 14/2234, sowie Antrag der Fraktion der PDS auf Vorlage eines Teilhabesicherungsgesetzes, Drucksache 14/827.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung, diese Anträge für erledigt zu erklären? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2415 und 14/3382 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. Juni 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.