Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die
Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Peter
Rauen.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Eichel, Sie haben uns im Zusammenhang mit der Ökosteuer eben vorgeworfen, wir wollten die Politik der 70er-Jahre wiederholen. Das wollen
wir natürlich nicht. Soweit ich mich erinnern kann, standen damals nicht wir, sondern die SPD in der Regierungsverantwortung. Es war die Union, die in den 80erJahren die Einführung des Katalysators durchgesetzt und
Bundesminister Hans Eichel
maßgebliche Erfolge bei der Verhütung von Schadstoffemissionen in der Industrie zustande gebracht hat.
({0})
Wir wollen die Politik der 70er-Jahre nicht wiederholen.
Ihr Versuch, die gute konjunkturelle Entwicklung
Punkt für Punkt der Arbeit der Regierung zuzuschreiben,
ist ohnehin bemerkenswert.
({1})
Es ist gut, dass wir in Deutschland ein anständiges
Wachstum haben. Das ist wichtig für die Arbeitsplätze
und es verbessert die Einnahmen des Staates. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass einiges doch
sehr relativiert werden muss.
Die Weltkonjunktur ist gut. In den USA betrug das
Wirtschaftswachstum 5,3 Prozent. Da nehmen wir uns
doch recht bescheiden aus. Im Euro-Raum ist das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2000 um 3,5 Prozent
gewachsen. Auch hinter diesem Wert bleiben wir zurück.
Deutschland war über Jahrzehnte die Wachstumslokomotive in Europa. Wir sind unter Ihrer Regierung in dieser
Beziehung zum Fußkranken Europas geworden.
({2})
Es ist unverkennbar, dass mit den Wachstumsprognosen
einige Risiken für Deutschland verbunden sind.
({3})
Denn das Wachstum der vergangenen Monate war erheblich begünstigt durch den zwischenzeitlich auf bis zu
83 Cent gefallenen schwachen Euro, durch das starke
wirtschaftliche Wachstum in wichtigen Exportmärkten
- es lässt inzwischen wieder nach -, durch gestiegene Privatvermögen aufgrund steigender Aktienkurse, die wegen
des damit verbundenen Vermögenseffektes einen höheren
Konsum ermöglichen, durch eine vorübergehend euphorische Aufbruchstimmung in der New Economy und bei
Neugründern, durch vorgezogene Investitionen von Unternehmen aufgrund der Verschlechterung der steuerlichen Abschreibungsbedingungen ab dem 1. Januar 2001
und durch eine viele Monate anhaltende expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die den Eckzins bis
auf 2,5 Prozent gesenkt hatte.
Mit diesen Effekten können wir auf Dauer nicht rechnen. Diese Risiken - sie könnten die Annahmen der Forschungsinstitute zunichte machen - sollten bei allem Optimismus nicht unterschätzt werden. Die deutsche
Volkswirtschaft zahlt in diesem Jahr für die Ölrechnung
33 Milliarden DM mehr als noch im Jahr 1999. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ist nach einer Reihe
von Zinserhöhungen derzeit nur noch auf einem neutralen
Kurs. Weitere Zinserhöhungen drohen, wenn das Geldmengenwachstum nicht abflacht und wenn der Kurs des
Euro noch weiter fällt. Ich halte es im Übrigen für äußerst
problematisch, dass der Bundeskanzler selbst den Euro
mit seinen Bemerkungen schwachgeredet hat. Natürlich
begünstigt die schwache Währung den Export und das
Wachstum; dafür importieren wir jedoch Inflation. Versäumte Strukturreformen führen dazu, dass später umso
schmerzhaftere Eingriffe erforderlich werden.
Es besteht ein Risiko hinsichtlich der anstehenden
Lohnforderungen der Gewerkschaften. Wenn sich die
gestiegenen Energiepreise Anfang nächsten Jahres in
Nachzahlungen und steigenden Abschlagszahlungen im
Bereich der Mietnebenkosten bzw. der Energieverbrauchskosten der privaten Haushalte niederschlagen,
wenn die nächste Erhöhung der Ökosteuer am 1. Januar
2001 kommt, ist es nicht unrealistisch, mit Forderungen
nach Nachschlagzahlungen und höheren Löhnen seitens
der Gewerkschaften zu rechnen.
({4})
Das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik
ist unausgewogen. So bleibt die Konjunktur der wichtigen
Bauwirtschaft nach wie vor ausgesprochen schwach.
Neben dem niedrigen Volumen im öffentlichen Bau
führen die abgesenkten Einkommensgrenzen für die Eigenheimzulage, die eingeschränkte Verlustverrechnungsmöglichkeit und der Unfug durch den neuen § 2 b EStG
zu einem starken Rückgang beim Eigenheimbau und
beim Mietwohnungsbau. Die durch den schwachen Euro
verursachten Zinserhöhungen, die Diskussion um die
Höherbewertung des Grundbesitzes bei der Erbschaftssteuer und die Unsicherheit bei der Altersvorsorge verschärfen die Problematik. Besonders dramatisch ist die
Lage der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern.
Herr Minister, Sie führen immer wieder die Erfolge auf
dem Arbeitsmarkt an. Hier muss man allerdings einmal
genauer hinschauen: Die Erwerbstätigenstatistik verzeichnete in der letzten Zeit erhebliche Zuwächse an Erwerbstätigen. Nach der neuesten Statistik lag die Zahl der
Erwerbstätigen in der ersten Jahreshälfte 2000 um
630 000 höher als im Vorjahr. Davon sind 530 000 Personen reine statistische Umbuchungen aufgrund der im
April 1999 eingeführten Sozialversicherungspflicht für
ausschließlich geringfügig Beschäftigte.
({5})
Sie werden jetzt mitgezählt, was vorher nicht der Fall war.
Mehr gearbeitet wird deshalb aber in Deutschland nicht.
({6})
Der tatsächliche Zuwachs an Arbeitsplätzen betrug in den
gesamten sechs Monaten gerade einmal 100 000 Erwerbstätige. Dies ist angesichts des starken wirtschaftlichen
Wachstums in dieser Periode zu wenig. Die Zeitschrift
„Wirtschaftswoche“ bemerkt dazu kritisch:
Der Rentner, der sich etwas hinzuverdient, die Hausfrau, die ihr Haushaltsgeld durch Putzen aufbessert,
die Studentin, die in der Kneipe jobbt, sie alle gelten
auf einmal genauso als Erwerbstätige wie der MaloPeter Rauen
cher im Stahlwerk, der Uniprofessor oder Angestellte.
({7})
Das Ganze ist ein plumper statistischer Trick. Mit mehr
Beschäftigung hat das nichts zu tun.
({8})
Durch diese neue Berechnungsmethode fiel die Erwerbstätigkeit im Durchschnitt des Jahres 1999 um
1,8 Millionen Personen höher aus als gemäß alter Statistik bisher ausgewiesen; im ersten Vierteljahr 2000 gibt es
immerhin eine Differenz von 2,2 Millionen Personen.
Sicher, der Arbeitsmarkt entspannt sich, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Dies ist aber kein Erfolg Ihrer
Politik.
({9})
Es ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass aufgrund der
demographischen Entwicklung mehr Arbeitnehmer in den
Ruhestand treten, als junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt hinzustoßen.
({10})
Schon im April 1999 haben die wirtschaftswissenschaftlichen Institute festgestellt, dass in den Jahren 1999
und 2000 das Erwerbspersonenpotenzial um 520 000
zurückgehen wird.
({11})
Einerseits rechnet diese Regierung die Erwerbstätigkeit
also künstlich hoch. Andererseits beruhen ihre Arbeitsmarkthoffnungen im Wesentlichen darauf, dass möglichst
viele ältere Arbeitnehmer in Rente gehen. In Wahrheit hat
sich auf dem Arbeitsmarkt viel zu wenig geändert. Es sind
dringend Strukturreformen erforderlich. Dies fordern
nicht nur wir, sondern auch die OECD und der Internationale Währungsfonds.
Meine Damen und Herren, Herr Minister Eichel, Sie
feiern immer selbst Ihre eigenen Konsolidierungserfolge.
({12})
- Herr Poß, wenn Sie eine Frage stellen, dann kann ich sie
Ihnen beantworten. - Der Rückgang der Nettokreditaufnahme in den letzten Jahren ist allerdings nur zum geringeren Teil auf Ihre Sparsamkeit zurückzuführen. Während
Theo Waigel die Ausgaben des Bundes in den Jahren 1993
bis 1998 per saldo konstant gehalten hatte - ich darf die
Zahl einmal nennen: 1993 457,5 Milliarden DM, 1998
456,9 Milliarden DM -,
({13})
hat Ihr unmittelbarer Vorgänger Lafontaine vor allem erst
einmal die konsumtiven Ausgaben kräftig gesteigert.
Was Sie unmittelbar nach Ihrem Amtsantritt als großes
Sparprogramm verkauft haben, war im Wesentlichen die
Kompensierung der von Lafontaine verteilten Wohltaten.
Der Hauptgrund, weshalb Sie heute mit einer geringeren
Nettokreditaufnahme auskommen, liegt in dem starken
Anstieg der Steuereinnahmen. Dieser starke Anstieg ist
zum einen eine Folge der günstigen Konjunkturentwicklung, zum anderen hängt er mit dem Auslaufen der Sonderabschreibungen für die neuen Bundesländer zusammen.
Sie verkennen immer wieder die Tatsache, dass es in
den Jahren 1994, 1995, 1996 und 1997 Finanzämter gab,
die mehr Steuern erstatteten, als Einnahmen da waren.
Das hat mit der deutschen Einheit zu tun. Mit dem Auslaufen dieser Sonderabschreibungen ist zwangsläufig
auch ein höherer Steuereingang einhergegangen.
({14})
Schließlich ist ein Teil der in diesem Jahr bereits erzielten und für das kommende Jahr zu erwartenden Mehreinnahmen auf den Anstieg der Geldentwertungsrate
zurückzuführen. Während Sie noch in der Steuereinschätzung vom Mai von einer Inflationsrate von 0,7 Prozent
ausgegangen sind, liegen wir aktuell bei 2,5 Prozent und
werden im Jahresdurchschnitt wahrscheinlich bei 1,8 Prozent bis 1,9 Prozent landen. Allein durch diese höhere Inflationsrate werden in diesem Jahr 8 Milliarden DM bis
10 Milliarden DM mehr in die öffentlichen Kassen gespült.
({15})
- Natürlich, es ist ein Entzug der Kaufkraft.
Herr Eichel, wenn Sie immer wieder behaupten, dass
diese Steuerreform unsere Binnenkonjunktur langfristig
stärken wird, muss ich Ihnen sagen: Mit dieser Steuerreform wird der Mittelstand in Deutschland nicht erreicht.
({16})
Wer mit einer Reform den Mittelstand nicht erreicht, wird
auch keine durchschlagenden Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen haben.
({17})
Ein Weiteres: Diese Entlastungsstufen kommen viel zu
spät. Ich habe es mehrmals gesagt und es ist bisher nicht
widerlegt worden: Es ist eine Tatsache, dass ein Arbeitnehmer, der in den nächsten fünf Jahren eine Lohnerhöhung von 2,5 bis 3 Prozentpunkten hat, trotz der nächsten Stufen der Steuerreform und damit eines Steuersatzes
von 42 Prozent im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern
zahlen wird als im Jahr 2001.
({18})
Sie geben den Menschen durch die einzelnen Stufen auf
lange Sicht lediglich das zurück, was ihnen durch die kalte
Progression vorher weggenommen wird.
({19})
Das ist für die Arbeitsmarktentwicklung und für die Konjunktur von großem Nachteil.
Herr Eichel, in allen Ländern, wo durch eine Steuerreform anschließend auch Wachstum und Beschäftigung
angestiegen sind, war Voraussetzung, dass damit eine moderate Lohnpolitik einhergegangen ist. Die Tarifpartner
können nur zu einer moderaten Lohnpolitik kommen,
wenn die Arbeitnehmer durch eine wirkliche und zeitnahe
Reform entlastet werden. Dies geschieht durch Ihre Reform nicht. Das wird der entscheidende Schwachpunkt für
die Binnenkonjunktur in den nächsten Jahren sein.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert zur Stärkung der Binnenkonjunktur und für ein stabiles Wachstum eine Nachbesserung der Steuerreform zugunsten
der mittelständischen Unternehmen und ein Vorziehen der
nächsten Stufen der Steuerreform in das nächste und
übernächste Jahr
({20})
sowie weitere Schritte zur Senkung der Staatsquote, der
Steuer- und Abgabenquote und - wie auch in unserem Antrag gefordert - die Senkung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent. Wir
fordern ferner geeignete Schritte zur Flexibilisierung und
Modernisierung des Arbeitsrechts. Hierbei sagen wir auch
in der Zeit der Globalisierung ein klares Ja zur sozialen
Partnerschaft. Wir fordern den Abbau und die Modernisierung verkrusteter Regelungen, die die Wirtschaft behindern und nicht mehr in das 21. Jahrhundert passen.
({21})
Es ist schon bemerkenswert, dass Bundeskanzler
Schröder selbst das Ladenschlussgesetz nicht mehr anpacken will. Zur Vorlage eines schlüssigen Konzeptes für
die Energie- und Umweltpolitik gehört eine bessere Abstimmung zwischen Energie- und Umweltpolitik sowie
die Aufhebung der Ökosteuer, die gescheitert ist.
({22})
Von einer konsequenten Wirtschafts- und Finanzpolitik ist diese Bundesregierung meilenweit entfernt. Die
scheinbar gute Konjunktur täuscht darüber allenfalls hinweg. Mit der missratenen Steuerreform hat sich der Reformwille dieser Bundesregierung offenbar erschöpft.
({23})
Notwendige Reformen am Arbeitsmarkt, in der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung, bei der Arbeitslosenhilfe und bei der Sozialhilfe: alles Fehlanzeige.
Der Spagat zwischen der von der Regierung entdeckten „neuen Mitte“ und dem Versuch, es allen recht zu machen, wird Ihnen auf Dauer nicht gelingen.
({24})
Herr Abgeordneter, ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen.
Ja.
Diese Regierung will alles gleichzeitig. Sie gibt vor, zu
modernisieren, und ist gleichzeitig dabei, wieder kräftig
zu reglementieren. Populismus und Beliebigkeit sind mit
einer zukunftsgerichteten Politik im Interesse Deutschlands unvereinbar.
({0})
Herr Kollege
Poß, bevor ich Ihnen das Wort gebe, muss ich Sie dringend ermahnen: Mentale Schädigungen anderen Mitgliedern hier im Parlament zu unterstellen entspricht nicht
dem parlamentarischen Brauch.
({0})
- Dann werde ich Sie noch einmal ermahnen, dass die
Präsidentin nicht kritisiert gehört, jedenfalls nicht, solange ich hier oben sitze.
({1})
Jetzt haben Sie das Wort.
Frau Präsidentin, ich habe Sie
nicht kritisiert, ich habe nur festgestellt, dass wir das anhand des Protokolls klären werden. Das werden Sie doch
wohl hinnehmen.
Herr Kollege
Poß, ich erteile Ihnen jetzt einen Ordnungsruf.
({0})
Frau Präsidentin, das ändert
nichts daran, dass wir das anhand des Protokolls klären
werden. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
({0})
- Wissen Sie, Herr Ramsauer, ich bin dafür, dass man das
sachlich klärt. Wenn ich etwas gesagt habe, was nicht in
Ordnung ist, nehme ich das gerne hin. Ich bin nur dafür,
dass man das in der Sache feststellt.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe, dass sich Herr Rauen vorhin so schwer getan hat.
Herr Rauen, ich muss Ihnen bescheinigen, dass es Ihnen
gelingt, die Ideenarmut Ihrer Politik besonders anschaulich zu machen. Das haben Sie heute Morgen deutlich gezeigt. Ihre Aussagen stehen in krassem Gegensatz zu den
Ausführungen des Herbstgutachtens der Wirtschaftsforschungsinstitute. Die zentrale Botschaft dieses Gutachtens lautet: Konjunktur und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeigen weiterhin stetig nach oben,
wenn auch mit - zugegeben - leicht verringerter Dynamik. Der anhaltend hohe Ölpreis führt zu einem Transfer
von Kaufkraft in Milliardenhöhe von Deutschland zu den
Erdöl exportierenden Ländern und Unternehmen. Trotzdem wird es keine Einbrüche in der wirtschaftlichen Entwicklung geben. Das Problem, mit dem wir es heute Morgen zu tun haben, ist, dass Ihnen diese Botschaft nicht
passt.
({2})
Die Forschungsinstitute machen in ungewöhnlicher
Deutlichkeit klar, woran das liegt. Es sind die von uns
durchgesetzten massiven steuerlichen Entlastungen, die
dafür sorgen, dass die Wirtschaft auf Kurs bleibt, und
zwar mit einer beachtlichen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 2,7 Prozent auch im Jahre 2001. Die Arbeitslosenquote sinkt auf 8,5 Prozent und das Preisniveau
bleibt stabil. Das sind positive Botschaften, die von den
Menschen in Deutschland durchaus registriert werden,
und zwar trotz Ihres Geredes.
({3})
Die ökonomischen Aussichten sind gut, aber Sie versuchen das aus machtpolitischem Kalkül kaputt zu reden.
In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere die
Herren Austermann und Merz auf eine wesentliche Aussage im Herbstgutachten hinweisen. Die Gutachter weisen detailliert nach, dass die regierende Koalition die Bürgerinnen und Bürger im Jahre 2001 bei den Steuern und
Sozialabgaben insgesamt um 46,4 Milliarden DM entlastet. Dabei ist besonders bedeutsam, dass das Aufkommen
der Ökosteuer hierbei bereits abgezogen worden ist. Das
bedeutet eine Entlastung von knapp 50 Milliarden DM für
alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik
Deutschland, und zwar entgegen Ihrem Gerede und Ihren
Täuschungen.
({4})
Wer jetzt noch behauptet, die Steuer- und Abgabensenkungen würden durch die Ökosteuer aufgezehrt, der
handelt unredlich und täuscht bewusst die Öffentlichkeit.
Daher kann ich jedenfalls verstehen, dass ein Mensch wie
Herr Polenz für eine Oppositionspolitik, die sich in gezielten Unwahrheiten und platten Parolen erschöpft, nicht
mehr zur Verfügung steht. Der neue Generalsekretär der
CDU, Herr Meyer - der „Säbel“ - ist uns aus NordrheinWestfalen als Spezialist für das Täuschen und Verdrehen
von Tatsachen sattsam bekannt. Auch dafür ist der Mann
von Frau Merkel geholt worden.
Die Forschungsinstitute sprechen von „kräftigen Impulsen durch die Steuerreform“ und formulieren:
Vor allem aber werden die privaten Haushalte und
Unternehmen durch die Verringerung der Einkommensteuersätze und die Reform der Unternehmensbesteuerung deutlich entlastet.
({5})
- Nein, im Jahre 2001! Sie haben das Konjunkturgutachten offenbar gar nicht gelesen, lieber Kollege.
Niemand wird bestreiten, dass ein anhaltender hoher
Ölpreis die Entwicklung der wirtschaftlichen Dynamik
dämpft. Aber durch den von uns eingeleiteten Politikwechsel ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland
schon heute wesentlich stabiler als noch zu Ihrer Zeit.
Selbstverständlich bleibt noch viel zu tun. Der Bundesfinanzminister hat zu Recht auf die schwierige Situation in
Ostdeutschland hingewiesen.
Durch das im Sommer verabschiedete Steuersenkungsgesetz und das Steuersenkungsergänzungsgesetz
haben Investoren und Unternehmen in Deutschland die
notwendigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Damit
können wir uns in Europa und auch weltweit sehen lassen.
({6})
Die große internationale Beratungsgesellschaft Arthur
Andersen - das steht im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kollege Rauen - hat in einem Gutachten für das „Handelsblatt“ erst kürzlich festgestellt:
Alle Unternehmen werden unabhängig von ihrer Rechtsform durch das Steuersenkungsgesetz und seine Ergänzung deutlich entlastet. Das gelte vor allem für den Mittelstand. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
({7})
Auch das beweist, dass Ihr Vorwurf, der Mittelstand
werde durch unsere Steuerpolitik benachteiligt, schlicht
absurd ist. Das Gegenteil ist richtig: Der Mittelstand ist
ein großer Gewinner unserer Steuerpolitik. Ich wiederhole: In Ihrer Verantwortung ist die Schieflage zulasten
des Mittelstandes entstanden. Wir korrigieren nun diese
Schieflage zugunsten des Mittelstandes.
({8})
Wir erwarten natürlich auch, dass Unternehmen und
Investoren die sich jetzt bietenden Chancen und günstigen
Bedingungen tatsächlich nutzen, um verstärkt in Deutschland zu investieren und so Arbeitsplätze zu schaffen. Als
wir die Regierungsverantwortung übernahmen, haben wir
für eine grundlegende Trendwende in der Steuerpolitik
gesorgt - diese war auch überfällig -, um die ökonomischen Herausforderungen der Zukunft bestehen zu
können.
Jetzt gilt es, die Infrastrukturdefizite, die Sie hinterlassen haben, zu beseitigen. Das tun wir mit unserem Zukunftsinvestitionsprogramm, das ein Volumen von
15 Milliarden DM hat. Die Öffentlichkeit weiß doch gar
nicht, was Sie hinterlassen haben, wie zum Beispiel der
wahre Zustand der Bahn ist. Wir unterstützen die Bahn
jährlich mit 2 Milliarden DM und verbessern so Stück für
Stück ihren Zustand.
({9})
Ich verspreche Ihnen: Wir werden über Ihre Hinterlassenschaften noch weiter im Bundestag diskutieren. Die eigentliche Bestandsaufnahme ist noch gar nicht gemacht
worden. Sie haben nicht nur bei den steuerlichen RahmenJoachim Poß
bedingungen, sondern auch bei der Infrastruktur total versagt. Auch das packen wir an. Das unterscheidet unser
Handeln von dem, was Sie gemacht haben.
Mit der außerplanmäßigen Schuldentilgung in Höhe
von fast 100 Milliarden DM verfolgen wir einen Kurs
strikter und konsequenter Haushaltskonsolidierung. Wie
sah es bei Ihnen aus? Jahr für Jahr wuchs der Schuldenberg.
({10})
Jahr für Jahr mussten Sie sogar bangen, ob Sie überhaupt
einen der Verfassung entsprechenden Haushalt aufstellen
können. Sie haben die finanzielle Handlungsfähigkeit des
Bundes untergraben. Wir müssen diese jetzt mühsam wieder herstellen. So sieht die Situation aus.
({11})
Deswegen werden wir den Konsolidierungspfad konsequent verfolgen, und zwar auch in den nächsten Jahren.
Dazu gibt es im Übrigen keine Alternative.
Die Struktur dieses Zukunftsinvestitionsprogramms
macht deutlich, dass wir zwei Ziele gleichzeitig verfolgen. Wir wollen einerseits das Wirtschaftswachstum
verstetigen und andererseits die Strukturen von Produktion und Konsum moderner und zukunftsfähiger
machen. Voraussichtlich gut die Hälfte dieser 15 Milliarden DM wird in ökologische Verkehrsstrukturen, in
Energieeinsparprogramme und in die Erforschung regenerativer Energiesysteme gehen. Auch die Forschungsinstitute sagen in ihrem Herbstgutachten klar, dass die
Anstrengungen erhöht werden müssen, um die Abhängigkeit vom Öl in Deutschland noch weiter zu verringern.
Wir machen das, und zwar konkret mit diesem Zukunftsinvestitionsprogramm.
({12})
Es ist ja nicht zu bestreiten, dass in dieser Politik weg vom
Öl auch ein großes Beschäftigungspotenzial liegt.
Ich möchte an dieser Stelle Herrn Töpfer zitieren. Er
sagte in einem Interview in der „Zeit“:
Es ist nicht sinnvoll, die Ökosteuer als K.o.-Steuer zu
bezeichnen. ... ich sehe mit Besorgnis, in welchen
Misskredit ein sinnvolles Instrument gerät.
Diese Äußerungen sind deshalb bemerkenswert, weil hier
ein früherer Umweltminister, auch nachdem er sein Amt
verlassen hat, seine Überzeugung nicht nach dem Wind
dreht. Ganz im Unterschied dazu hat Frau Merkel ihren
Wechsel in das Amt der Parteivorsitzenden der CDU mit
einem grundlegenden Gesinnungswandel in der Umweltpolitik verbunden. Damit hat sie sich völlig um ihre
Glaubwürdigkeit gebracht.
({13})
Aber mehr noch - und das ist wohl auch die Sorge von
Herrn Töpfer -: Mit der CDU verhält sich eine Volkspartei mit Blick auf die nachfolgenden Generationen vollkommen verantwortungslos.
({14})
Das unterscheidet uns - die Menschen müssen auch
wissen, wo die Unterschiede zwischen den Parteien liegen; denn es heißt ja, die Unterschiede würden verschwinden -: Wir Sozialdemokraten stehen für Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Sie stehen für
blanken Egoismus.
({15})
Sie tun so, als hätten Sie keine Kinder und Enkel. Das machen Sie - das ist bedauerlich - wider besseres Wissen.
Wir erleben derzeit die Verwandlung einer konservativen
Volkspartei in eine populistische Rechtspartei. Das ist das
Bedenkliche in der Bundesrepublik Deutschland.
({16})
Nachdem wir also die Schulaufgaben in den ersten
zwei Jahren konsequent angepackt haben, werden wir uns
jetzt noch stärker mit der Tatsache beschäftigen, dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft immer abhängiger von internationalen Entwicklungen werden. Immer
stärker werden weltweit zum Beispiel die Rolle und das
Verhalten der internationalen Finanz- und Devisenmärkte diskutiert, und das mit Recht. Die Vergangenheit
hat gezeigt, dass es ausgehend vom Verhalten internationaler Akteure sowie ausländischer Staaten und Institutionen zu Störungen der deutschen Wirtschaft kommen
kann. Der Bundesfinanzminister hat zum Euro das Richtige gesagt: Die Entwicklung ist zum großen Teil irrational. Wir haben eine gesunde ökonomische Basis. Also:
So wichtig nationale Reformen sind, immer wichtiger
wird eine stärkere europäische und internationale Koordination und Zusammenarbeit. Unser Ziel als Sozialdemokratie ist, dass wir in Fragen der europäischen und
internationalen Finanzpolitik nun wirklich dafür sorgen
- die Bundesregierung ist auf dem Wege dahin -, Europa
handlungsfähig zu machen. Europa muss auf diesem
Markt Akteur werden; wir dürfen nicht länger Spielball in
diesem Hin und Her bleiben, das wir tagtäglich erleben.
Ich denke, das ist ein gutes Ansinnen für die zweite
Hälfte unserer Legislaturperiode. Wir haben bisher nicht
alles geschafft, was Sie uns nach 16 Jahren hinterlassen
haben. Helmut Schmidt hat zu Recht einmal auf dem
Leipziger Bundesparteitag der SPD gesagt: Man braucht
eigentlich zwei Legislaturperioden, um die Fehlentwicklungen, die Sie zu verantworten haben, zu korrigieren.
- Wir sind dabei, dies zu tun.
({17})
Dabei werden wir uns jetzt auch noch viel stärker um das
kümmern, was international in Ordnung gebracht werden
muss.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Konjunkturhimmel verdunkelt
sich. BDI und Mittelstand warnen vor einer Verschlechterung der Konjunktur. Die Forschungsinstitute geben ihre
Prognosen nur unter Vorbehalt ab, weil die Anzeichen für
eine Abschwächung des Wachstums deutlicher werden.
Der ifo-Index für das Geschäftsklima ist zum vierten Mal
hintereinander zurückgegangen. Die Preise steigen. Die
Binnennachfrage ist mangels privater Kaufkraft nach wie
vor schwach. Der Euro kränkelt immer stärker.
Es ist übrigens bezeichnend, dass der Wirtschaftsminister an dieser Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gar
nicht teilnimmt.
({0})
Das dokumentiert die Bedeutungslosigkeit dieses Ministeriums. Ich muss daher sagen - das hat nichts mit einer
mangelnden Würdigung der Arbeit von Herrn Mosdorf zu
tun -: Ein Wirtschaftsminister, der bei der Debatte zum
Jahreswirtschaftsbericht nicht anwesend ist, ist eigentlich
überflüssig. Vielleicht bereitet er sich auf den Ruhestand
vor.
({1})
Die direkten und indirekten Interventionen der EZB
sind an den Devisenmärkten verpufft, weil bei den
großen EU-Ländern, Deutschland, Italien und Frankreich,
kein abgestimmter Politikwechsel hin zu mehr Flexibilität
auf den Arbeits- und Gütermärkten stattgefunden hat.
Jetzt soll dem Zentralbankpräsidenten Duisenberg der
schwarze Peter zugeschoben werden. Er ist mit seinen
unglücklichen Äußerungen vielleicht für eine Abschwächung von drei Cent verantwortlich. Aber die Politik in Deutschland, Frankreich und Italien ist für eine
Abschwächung von 30 Cent verantwortlich.
({2})
Als größte Volkswirtschaft im Euro-Raum trägt
Deutschland die größte Verantwortung an der Euro-Misere. Aus der einzigen früheren Konjunkturlokomotive
Europas ist eher ein Schlafwagen geworden. Beim Wirtschaftswachstum liegt die Bundesrepublik auf dem vorletzten Platz der elf Euro-Länder. Von der angebotsorientierten Agenda aus dem Schröder/Blair-Papier
hinsichtlich Unternehmertum, Verbesserung der Investitionsneigung, Flexibilität der Arbeits- und Gütermärkte
ist nichts mehr zu hören und schon gar nichts mehr zu sehen. Die Untätigkeit der Bundesregierung wird von den
Devisenmärkten mittlerweile als bewusste Abwertungsstrategie interpretiert. Das beschleunigt den Sinkflug des
Euros weiter.
Bedenklich stimmt - nicht nur die internationalen Anleger -, dass die Bundesregierung offenbar wieder zur
Hühnerhaufenstrategie vom Anfang dieser Legislaturperiode zurückkehrt. Da werden beim Ladenschluss und bei
der Betriebsverfassung sozusagen Beruhigungspillen an
die Gewerkschaften verteilt, damit sie bei der Rentenreform stillhalten. Da wird der Ölhahn künstlich zugedreht
und die Atomenergie ohne Not aufgegeben. Ein Konzept
zum Ausgleich des Verlustes im Umfang von 50 Prozent
des Primärenergieverbrauchs hat die Bundesregierung
nicht. Der Aufbau Ost wird zur Chefsache erklärt. Doch
mehr als heiße Luft kommt dabei nicht heraus. Da werden
Projekte zur Gen- und Biotechnologie verschoben, weil
die Grünen ideologische Gefechte von gestern austragen.
({3})
Ich empfinde es als besonders dreist, dass sich die Grünen als Hüter des Internets aufspielen wollen. In ihrem
Parteiprogramm steht immer noch, dass Computer zur
Sinnentleerung des Menschen führen. Das ist ihre Programmatik.
({4})
Jahrelang waren es grüne Technikkritiker, die die modernen Kommunikationsmedien abgelehnt und bekämpft
haben. Dass genau diese Partei jetzt noch die unzureichende Verbreitung neuester Kommunikationstechniken
kritisiert, ist pure Heuchelei.
({5})
Wenn Deutschland bei der Digitalisierung dem Tempo der
Grünen gefolgt wäre, würden wir heute nicht über Datenautobahnen, sondern über Buschtrommeln kommunizieren.
({6})
Herr Bundesfinanzminister, einzig die Steuerreform,
die die F.D.P. maßgeblich mitgestaltet hat und damit überhaupt erst möglich gemacht hat, verbessert die Angebotsbedingungen langfristig. Es muss möglichst bald eine
Steuerreform II folgen, um die Nachteile für den Mittelstand auszugleichen.
({7})
Bis vor kurzem stand Ihre Konsolidierungspolitik noch
auf der Habenseite. Doch diese torpedieren die Koalitionsfraktionen immer wieder aufs Neue. Grün-Rot verfällt auf eine strukturkonservierende, zudem prozyklische
Nachfragepolitik.
Nach bester keynesianischer Manier wird ein zusätzliches Investitionsprogramm in Höhe von 15 Milliarden
DM aufgelegt.
({8})
Am Anfang war nur von 5 Milliarden DM die Rede, die
im Zuge der UMTS-Erlöse verteilt werden sollten. Jetzt
hat sich diese Summe verdreifacht.
Ich weiß, dass diese Politik nicht auf Ihrem Mist, Herr
Eichel, gewachsen ist. Sie haben sogar für ein anderes
Vorgehen gekämpft. Denn auch Sie wissen: Die neu erwachte Ausgabenfreude der Bundesregierung gefährdet
Ihren Ruf als Sparminister. Zudem ist dieses Programm
volkswirtschaftlich umstritten, weil die vorgesehenen
staatlichen Investitionen private Vorhaben verdrängen
werden. Es ist mehr als fraglich, ob dadurch ein zusätzliches Wachstum ausgelöst wird.
({9})
Dabei steigen die Preise weiter. Zu den derzeitigen
Preistreibern, zur Euro-Schwäche, zur Ökosteuer und
zum hohen Ölpreis, kommt das so genannte Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung hinzu. Die
nächste Zinserhöhung der EZB ist nur eine Frage der Zeit;
die Zinsfalle droht.
Was das für Investitionen und für das Wirtschaftswachstum bedeutet, dürfte auch der Bundesregierung klar
sein. Ihr vermeintlicher Wahlkampfknüller ZIP wird zum
Konjunkturkiller.
({10})
- Auf Sie bin ich bestimmt nicht neidisch.
Besonders drollig ist für mich in diesem Zusammenhang das Verhalten der Grünen. Zuerst wollten auch Sie
mit den UMTS-Erlösen die bestehenden Schulden tilgen.
Ihr haushaltspolitischer Sprecher Metzger warnte - ich
zitiere ihn wörtlich -: „Eichels Sparkurs zerrinnt wie Butter in der Sonne.“ Jetzt unterstützen die Grünen das Vorhaben, 3 Milliarden DM aus den UMTS-Erlösen für den
Straßenbau einzusetzen,
({11})
obwohl Sie den Bürgern im Rahmen der Ökosteuer das
Autofahren eigentlich verbieten wollten.
Wer auf unseren Straßen fahren soll, blieb bis letzten
Donnerstag Ihr Geheimnis. Doch dann hat sich Herr
Schlauch im „Stern“ zum wiederholten Male als Spaßautofahrer geoutet. Die Logik der Grünen ist ganz einfach: Mit der Ökosteuer machen Sie die Straßen frei, damit Ihr Fraktionsvorsitzender ordentlich Gummi geben
kann.
({12})
Elitärer geht es nicht mehr. Es ist ein Schlag in das Gesicht des Normalbürgers, wenn die Grünen Straßen bauen,
auf denen nur noch Sportwagenökologen fahren können.
Das ist die neue Zweiklassengesellschaft.
({13})
Ihr Koalitionspartner, die SPD, hat die soziale Schieflage, die durch die Ökosteuer entsteht, längst erkannt.
Sie, Herr Eichel, haben den Anfang gemacht: Als erstes
Regierungsmitglied haben Sie das bisherige Ökosteuerkonzept infrage gestellt. Herr Klimmt und Herr
Riester haben sich hinzugesellt. Damit verabschieden sich
einige SPD-Fachminister von der Ökosteuer. Der Kanzler
ebenfalls: Er will über neue Instrumente diskutieren.
({14})
Besonders interessant war Herrn Riesters Aussage, die
Rentenversicherung brauche keine weiteren Zuflüsse
aus dem Aufkommen der Ökosteuer. Damit gibt er zu,
dass die Ökosteuer nur der Teilsanierung seiner Rentenkasse dient.
({15})
Die Argumentation der Grünen, nur mit der Ökosteuer
sei die Rente sicher, ist zutiefst unredlich. Eine umfassende Rentenreform ist ohne dieses ganze Geeiere, Geschiebe und Gegackere über die Ökosteuer billiger,
bürgerfreundlicher und systematischer zu haben.
({16})
Auch der Verweis auf die Senkung der Lohnnebenkosten ist an den Haaren herbeigezogen. Sie entziehen
den Bürgern und den Unternehmen durch die Ökosteuer
mehr Kauf- und Investitionskraft, als Sie über die Senkung der Rentenbeiträge zurückgeben.
({17})
Tatsächliche Senkungspotenziale bei der Arbeitslosenversicherung werden nicht realisiert, obwohl selbst Teile der
Grünen das öffentlich fordern. Damit versuchen Sie von
den Grünen, sich ab und zu zu profilieren. Ihr Koalitionspartner, die SPD, hat Sie aber so platt wie eine Flunder gemacht, sodass Sie nicht einmal mehr aufmucken.
({18}): Am schlimms-
ten sind platte Reden!)
Soll in Bezug auf die Rentenbeiträge kein Verschiebebahnhof entstehen, müssen wir eine ordentliche Rentenreform durchführen. Nur mit einer Kapitaldeckung und
der Steuerfreiheit der Beiträge ist das Rentenproblem
wirklich lösbar. Hinsichtlich der Kapitaldeckung sind Sie
von den Koalitionsfraktionen unseren Vorstellungen weitgehend gefolgt, obwohl Sie vor der Wahl propagiert haben, das reine Umlagesystem bleibe bestehen.
Bei der Rentenbesteuerung steht ein Systemwechsel
an. Auch EU-Kommissar Bolkestein hat das gefordert.
Ich weiß, dass auch Sie, Herr Eichel, das wollen. Sie müssen es nur durchsetzen. Dabei werden Sie von der F.D.P.
unterstützt. Wir werden auch bei der Rentenreform kein
populistisches Spiel treiben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die heutigen Rentner bei einem Systemwechsel
zu einer nachgelagerten Besteuerung einen Bestandsschutz genießen. Wir werden auch betonen, dass es für
viele Jahrgänge Übergangsregelungen geben wird. Doch
der Systemwechsel bei der Rentenversicherung muss eingeleitet werden, sonst bleibt die Reform Stückwerk.
({19})
Versagt hat Grün-Rot bei der Arbeitsmarktpolitik.
Die positiven Effekte gehen auf das Wohlverhalten der
Tarifpartner und die demographische Entwicklung zurück. Der Arbeitsminister hat freie Hand, sodass dieser
heute den schon verregelten Arbeitsmarkt noch zusätzlich
„verriestern“ darf. Teilzeitzwang, Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung und die Einschränkung
befristeter Arbeitsverträge machen den deutschen Arbeitsmarkt noch enger, noch starrer und noch weniger flexibel. So werden wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland
nicht umfassend abbauen können.
({20})
Hier meldet sogar das sehr leise Wirtschaftsressort Kritik
an. Sonst ist es in diesen Fragen leider untätig.
Das Desinteresse der Regierungen an Reformen setzt
sich auf europäischer Ebene fort. Dort wird auf höchster
Ebene für den Erhalt öffentlicher Unternehmen, für unsinnige Steinkohlebeihilfen und für ordnungspolitisch bedenkliche Ökostromförderungen gekämpft.
Die wiederholten Versuche von Frankreich, die Geldpolitik zu politisieren, hat die Bundesregierung öffentlich
nicht kommentiert. Angesichts der Schwäche des Euro ist
das verantwortungslos. Stattdessen leiht sie der PDS politisch das Ohr. Es gibt eine Vorwärtsstrategie mit der PDS
nach hinten. Die Kritik von Herrn Gabriel und Herrn
Clement daran spricht deutliche Bände, dass das auch in
der SPD mit großer Sorge betrachtet wird. Gehen Sie doch
auf das Schröder/Blair-Papier zurück. Sorgen Sie für eine
ordentliche Reformpolitik. Deutschland braucht Viagra
und nicht Valium. Deutschland braucht Gelb und nicht
Grün.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margareta Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, ob
Deutschland mehr Viagra braucht, eines scheint mir aber
sicher zu sein: Deutschland braucht weniger Miesmacher
wie Sie - das hat Herr Eichel schon gesagt -, sondern
mehr Mitmacher.
({0})
Das Herbstgutachten der Institute zeigt, dass wir mit
unserem Zukunftsprogramm auf dem richtigen Weg waren, dass wir mit den Steuersenkungen für Unternehmen
und Beschäftigte sowie mit der Senkung der Arbeitskosten in diesem Land wichtige Signale für Investitionen und
somit für Wachstum und Beschäftigung gesetzt haben.
Herr Kollege Brüderle, Sie haben gerade gesagt, wir
hätten ein fehlendes Unternehmertum in diesem Lande.
Es gibt keine Aufbruchstimmung in diesem Lande. Wenn
Sie das Telefonieren einstellen könnten - Ihr Büro kann
Ihnen sicherlich noch hinterher sagen, dass Ihre Rede unglaublich gut war -, so könnte ich Ihnen etwas vorlesen.
({1})
Herr Kollege Brüderle, in dieser Woche schrieb der
Journalist Uwe Jean Heuser in der „Zeit“ - Zitat -:
Während die Aufregung sich an Börse und Euro, an
New Economy und Öl entzündete, hat sich das Wichtigste an der Wirtschaft gravierend verändert: die
Einstellung der Menschen. Noch vor fünf Jahren galt
die Marktwirtschaft zwar als notwendig, aber auch
als hässlich. Das Unternehmertum stand weithin im
Ruf der Ausbeutung, neue Technologie löste bei der
Mehrheit Gleichmut oder Angst aus. Und wer redete
schon ... über Aktien? Heute lässt sich der tonangebende Teil der Gesellschaft von einer techno-ökonomischen Begeisterung tragen, die an Amerika erinnert ... Die neue Wirtschaft ist Teil der Alltagssprache
geworden. Internet hier und Geschäftspläne da ... Sie
wollen an den neuen Möglichkeiten teilhaben. Auch
der Rückschlag an der Börse hat dieser Grundhaltung nichts anhaben können. Es ist die Zeit der Ökonomie.
Abschließend führt „Die Zeit“ aus:
Die Aussichten für Wirtschaftsdeutschland sind
glänzend.
So repliziert „Die Zeit“ auf das Herbstgutachten der Institute. Ihre Miesmacherei interessiert niemanden mehr.
({2})
Und selbst Hans-Olaf Henkel, der scheidende
BDI-Präsident, von dem wir wissen, dass er alle Regierungen, die er begleitet hat, kritisiert hat, sagt heute: Und
Deutschland bewegt sich doch. Der größte Fortschritt,
den wir zurzeit konstatieren können, ist, dass es vorangeht. Wenn er zudem sagt, Herr Kollege Brüderle und
Herr Kollege Rauen: „Die Bundesregierung unterstützt
den Mittelstand dabei, neue Märkte zu erreichen“, dann
empfinden wir das als Kompliment. Ein solches Kompliment haben Sie nie bekommen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Die Bundesbank stellt in ihrem August-Bericht - Herr
Poß hat schon auf Arthur Andersen verwiesen; die Bundesbank schreibt es auch - „entgegen der Meinung so
mancher Auguren“ fest, die Bundesregierung entlaste mit
dem Steuerkonzept die Personengesellschaften mindestens ebenso wie die Kapitalgesellschaften. Herr Rauen,
lassen Sie also Ihre Augurensätze; sie bringen uns einfach
nicht weiter, sie bringen nur schlechte Stimmung in dieses Land und entbehren jeder Grundlage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent. Das Entscheidende an
dieser Zahl ist, dass sie eine Verdoppelung der Wachstumsquote gegenüber dem Vorjahr darstellt, obwohl die
Ölpreise entgegen den im letzten Jahr geäußerten Erwartungen der Institute angestiegen sind. Die Prognose der
Institute unterstellt dabei, dass der Preis im Winterhalbjahr 2000/2001 durchschnittlich 31 US-Dollar pro Barrel
beträgt und im weiteren Verlauf des Jahres 2001 auf
25 US-Dollar zurückgeht. Sie gehen davon aus, dass für
einen merklichen Rückgang des Rohölpreises die Tatsache spricht, dass die OPEC-Länder einen Preiskorridor
von 22 bis 28 US-Dollar anstreben. Ich halte einen festgelegten Preiskorridor in der Größenordnung 25 +/- 3 USDollar pro Barrel, also eine gewisse Preisstabilität, für
einen stabilisierenden Faktor für die gesamte Weltwirtschaft. Er läge also sowohl im Interesse der Schwellenländer als auch im Interesse der Industrieländer. Wir sollten mit den OPEC-Ländern darüber reden, dass sie
tatsächlich einen solchen Preiskorridor einziehen; wir haben das neulich im Iran schon getan.
Für das nächste Jahr prognostizieren die Institute trotz
der Euro-Entwicklung und des Ölpreises ein Wachstum
von 2,7 Prozent. Sie müssen uns konzedieren, dass die
Institute damit sagen, die Weichen seien in diesem Lande
für mehr Beschäftigung und Wachstum gestellt. Die Voraussetzung für diese Entwicklung ist die Steuerreform.
Das Wichtigste an der Steuerreform ist, dass sie Klarheit
und Planungssicherheit schafft und die Menschen bis zum
Jahre 2005 um 93 Milliarden DM entlastet.
({4})
- Wissen Sie, Sie haben lange über eine Steuerreform geredet, aber Sie haben keine hingekriegt. Vor allen Dingen
konnten Sie keine Planungssicherheit garantieren, Herr
Kollege.
({5})
Diese Steuerreform - das konzedieren alle; da können
Sie noch so viel dazwischenrufen - wirkt offensichtlich
wie ein Turbolader in diesem Land. Der Aufschwung gewinnt an Breite, die Binnennachfrage steigt, Herr
Brüderle,
({6})
und aufgrund der soliden Konstitution wird die deutsche
Konjunktur die gestiegenen Ölpreise gut verkraften.
Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt ansprechen, den ich für besonders erfreulich halte: Die Zahl der
Erwerbstätigen ist in diesem Jahr ständig gestiegen. Die
Zahl der Arbeitslosen - so sagen die Institute - wird im
Jahr 2001 auf 3,5 Millionen sinken.
({7})
Bei weiterhin positiver gesamtwirtschaftlicher Entwicklung können im Jahre 2002, Herr Kollege Niebel, die
Lohnnebenkosten unter 40 Prozent gesenkt werden. Das
ist unser beschäftigungs- und konjunkturpolitisches Ziel.
Als arbeitsmarktpolitische Unterstützung dürfen wir
auch das eindeutige Petitum der Institute begreifen, „über
neue Wege der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken, mit
denen die Beschäftigung von Problemgruppen erhöht
werden kann“. Die Institute schlagen vor - Herr Niebel,
es wäre hilfreich, wenn Sie einmal zuhörten -, in stärkerem Ausmaß zeitlich begrenzt die Einstellung gering Qualifizierter in unserem Land zu subventionieren. Sie wissen
vielleicht, dass wir im Bündnis für Arbeit angeregt haben,
vier Modellprojekte für den so genannten Niedriglohnsektor zu etablieren.
({8})
Wir werden die Erfahrungen mit diesen Projekten auswerten und dann festlegen, ob die Subventionierung des
Niedriglohnsektors eine Strategie zur Erleichterung des
Transformationsprozesses in den ersten Arbeitsmarkt sein
kann.
Darüber hinaus sollte im Zeitalter des Strukturwandels
die Koppelung von Zeiten der Erwerbstätigkeit bzw. von
Freistellungszeiten mit Weiterbildung im Zentrum der
neuen Beschäftigungspolitik stehen. Meine Damen und
Herren, vor zehn Jahren wurde in Dänemark ein arbeitsmarktpolitisches Instrument entwickelt, das hohe Aufmerksamkeit verdient, die so genannte Job-Rotation.
Dahinter steht die Idee, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem aus kleinen und mittleren Unternehmen, für die Dauer der Weiterbildungsmaßnahmen durch
Arbeitslose zu ersetzen. Wir schätzen das
({9})
- richtig, dazu gibt es auch einen Antrag -, weil dadurch
einerseits die Unternehmen angeregt werden, ihre Arbeitskräfte weiterzuqualifizieren, und andererseits den
Erwerbslosen die Chance gegeben wird, sich wieder in
den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie die Kollegin
von der CDU/CSU richtig sagte, werden wir dazu im
Kontext der SGB-III-Novelle einen Antrag in dieses Haus
einbringen,
({10})
dem Sie dann hoffentlich zustimmen.
({11})
Das heißt zusammengefasst: Es war und ist richtig, mit
viel Kreativität und Experimentierfreude arbeitsmarktpolitisch tätig zu werden. Es war und ist richtig, das Zukunftsprogramm aufzulegen. Es war und ist richtig zu
sparen. Denn Sparen ist kein Selbstzweck, Sparen ist
Voraussetzung für Modernisierung.
({12})
Das haben wir auch bewiesen.
({13})
Margareta Wolf ({14})
Es war und ist richtig, den Weg der Haushaltskonsolidierung konsequent weiterzugehen. Es war und ist richtig, die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger mit
der Steuerreform in großem Umfang zu entlasten. Es war
und ist richtig, die soziale Marktwirtschaft mit neuem
Leben zu erfüllen, die Menschen wieder zur Politik zu
holen, die Brücke zwischen Menschen und Politik wieder herzustellen. Wenn Sie sich erinnern: Auf den Soziologentagen von 1996 bis 1998 wurde vornehmlich über
das Phänomen diskutiert, dass es keine Brücke mehr zwischen Bevölkerung und Politik gibt, dass Politik zum
Selbstzweck geworden ist. Dies haben wir geändert. Auch
das zeigt dieses Herbstgutachten.
({15})
Es war und ist richtig, mit dem Bündnis für Arbeit den
Dialog zwischen Politik und den Sozialpartnern zu verbessern und Letztere in die Gesamtverantwortung für unser Land mit einzubeziehen.
Es war und ist richtig - Hans Eichel hat darauf schon
hingewiesen -, die Ökosteuer in diesem Lande einzuführen, im Interesse der nachfolgenden Generationen, und
die Ökologisierung über die Ökosteuer voranzutreiben.
Insofern freuen wir uns besonders, dass die Institute ganz
eindeutig dafür plädieren, die beschlossene Ökosteuer zu
realisieren.
({16})
Sie verweisen darauf, dass das Aussetzen der Ökosteuer
die Steuerpolitik von den recht volatilen Bewegungen des
Ölpreises abhängig machen würde, wovor sie dringend
warnen. Herr Kollege Niebel, Sie sollten das Gutachten
einmal lesen; denn Lesen soll bisweilen weiterhelfen.
Die von den Instituten gelobte Lohnzurückhaltung
durch den Abschluss von mehrjährigen Vereinbarungen
als eine der Säulen für den Konjunkturaufschwung liegt
doch in einer gesellschaftspolitisch, in einer gesamtwirtschaftlich verantwortungsvollen Verabredung im Bündnis für Arbeit begründet. Bei aller Kritik am Kooperatismus muss man nach der Halbzeitbilanz sagen, dass sich
das Bündnis für Arbeit für dieses Land als Verantwortungsbündnis erwiesen hat, eine Tatsache, die wir ausdrücklich begrüßen.
({17})
Einen weiteren wichtigen Beitrag auf dem Weg zur
Wissensgesellschaft stellt das von uns verabschiedete Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der
Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ dar.
Gegenwärtig erleben wir - das kann man, glaube ich, sagen - den dynamischsten Strukturwandel in der Wirtschaft, den man nur noch mit der industriellen Revolution
vergleichen kann. Dieser Strukturwandel muss von uns,
von der Politik, aktiv gestaltet werden, damit er nicht zu
einer Spaltung der Gesellschaft führt. Er muss aber auch
gestaltet werden, damit die soziale Marktwirtschaft gestärkt und der Wettbewerb gefördert wird.
Die Unternehmen der New Economy sind Vorreiter für
eine neue Unternehmenskultur in diesem Land. Sie setzen
auf das Miteinander und auf flache Hierarchien. Dort
spricht man nicht mehr von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, sondern von Mitunternehmern. Durch die
völlig andere Definition von Arbeit im Unternehmen bietet sich auch für die Old Economy eine Chance. Deshalb
ist die Brückenbildung zwischen New Economy und Old
Economy so wichtig.
({18})
Um diese neue Unternehmenskultur nachhaltig zu fördern, unterstützt meine Fraktion die Initiative der 40 am
Neuen Markt gelisteten Unternehmen, Aktienoptionen
von Mitarbeitern steuerlich Optionen, die von Privaten
gehalten werden, gleichzustellen. Wir glauben, dass Optionen ein wichtiger Weg sind, um Mitarbeiter am Produktivkapital zu beteiligen. Sie sind ein Mittel, um die
Eigenkapitalquote der Unternehmen anzuheben, und sie
sind ein Mittel, um die Wachstumsprozesse nachhaltig zu
unterstützen.
Ein weiterer Aspekt, der mir mit Blick auf die New
Economy, die Wachstumsbranche der Zukunft, sehr wichtig zu sein scheint, ist: Wir müssen verhindern, dass Monopolstrukturen bei den Herstellern entstehen, und plädieren für die verstärkte Anwendung von Open-Source,
wie es ja auch der Bundeswirtschaftsminister respektive
Herr Mosdorf tun.
Wir halten es für ausgesprochen erfreulich, dass sich
die Zahlen beim Zugang zum Internet seit 1998 verdoppelt haben und dass wir es durch die Vereinbarungen in
der „D 21“-Initiative geschafft haben, dass 60 000 neue
Ausbildungsplätze in der Multimediabranche geschaffen werden - Ausbildungsplätze, die wir 1996/1997 überhaupt noch nicht kannten. Ich denke, das ist ein unglaublicher Kraftakt, den wir begrüßen und unterstützen
sollten.
Lassen Sie mich aber anknüpfend an die positive Bewertung, der Situation in den neuen Bundesländern durch
die Institute noch einige Bemerkungen zur Arbeitsmarktpolitik machen. Es ist Konsens in diesem Hause, dass der
wirtschaftliche Strukturwandel, die informationstechnische Revolution, die zunehmenden Qualifikations- und
Flexibilitätsanforderungen auch Anpassungen des Arbeits- und Sozialrechts erforderlich machen. Gefragt ist
heute eine moderne Beschäftigungspolitik, die sich den
Veränderungen stellt und die gestiegenen betrieblichen
und individuellen Bedürfnisse nach mehr Flexibilität und
Zeitsouveränität mitgestaltet
({19})
und tatsächlich auch als Chance begreift. Wir sehen, dass
das System der Flächentarifverträge gerade in den fünf
neuen Bundesländern von Erosion gekennzeichnet ist
- das ist schon länger so, Herr Niebel; Sie haben gar nichts
dagegen getan - und dass gerade in den neuen Wachstumsbranchen die Tarifbindung ausgesprochen gering ist.
Wir wollen als Fraktion ausdrücklich das System der
Flächentarifverträge erhalten und stellen uns gerade deshalb der notwendigen Reform - die letzte Reform war
1972 und Sie haben in der Zeit danach einfach zugeschaut, Herr Kollege -, die auf Basis des Tarifvorrangs
Margareta Wolf ({20})
den Spielraum für betriebliche Lösungen vergrößern
sollte.
Unser Vorschlag ist, dass der Arbeitsplatzerhalt bei der
Günstigkeitsabwägung berücksichtigt werden muss. In
angespannten Arbeitsmarktsituationen können ein konditionierter befristeter Lohnverzicht und befristete Arbeitszeitverlängerung für die Arbeitnehmerin und für den Arbeitnehmer günstiger wirken, wenn damit Entlassungen
verhindert werden.
({21})
Wir diskutieren über eine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips in § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes, weil wir
glauben, dass hier eine Veränderung aus beschäftigungspolitischen Gründen wünschenswert ist.
({22})
- Sie haben einen Antrag eingebracht, der vorsieht, § 77
Abs. 3 völlig abzuschaffen, Herr Kollege. Wir stehen hinter den Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft.
Das unterscheidet uns von Ihnen maßgeblich.
Eine Schlussbemerkung. Ich möchte unseren Haushälterinnen und Haushältern ganz ausdrücklich zu ihren Verhandlungen in Sachen Verteilung der UMTS-Erlöse gratulieren. Es ist begrüßenswert, dass wir die Investitionen
in die Bildungspolitik und in die Erforschung der Brennstoffzelle - heute ist darauf schon hingewiesen worden erhöhen konnten, dass wir mehr Mittel in den Bau von
Umgehungsstraßen, in die Bahn und in die Wärmedämmung investieren. Ich denke, das Herbstgutachten und
diese Infrastrukturmaßnahmen beweisen: Wir sind eine
moderne, eine zukunftsorientierte Regierung. Lassen Sie
endlich die Miesepeterei, lassen Sie uns zusammen in die
Zukunft schauen. Ich denke, dieses Land ist auf einem
guten Weg.
Danke schön.
({23})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christa Luft.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Grundton des Herbstgutachtens, das wir heute debattieren, ist optimistisch und der
Bundesfinanzminister fühlt sich angesichts dieses Gutachtens in seiner Politik geadelt. Dabei kommt es vor,
dass er für seine Bilanz zutreffende Fakten ebenso verwendet wie solche, die offensichtlich nicht zutreffen. Ich
will nur auf einen Satz von ihm zurückkommen. Er sagte,
in der Zeit der rot-grünen Regierung seien die Insolvenzzahlen gesunken.
Da muss ich ganz energisch protestieren. In einer Mitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 4. Oktober
- sie liegt sicherlich auch Ihnen vor - heißt es, dass die
Zahl der Insolvenzen im ersten Halbjahr 2000 gegenüber
dem ersten Halbjahr 1999 um 25 Prozent zugenommen
hat, wobei die Zahl der Unternehmensinsolvenzen um
5 Prozent gestiegen ist. Ich denke, dies darf nicht außer
Betracht bleiben. Wenn man schon seine Erfolgsbilanz
präsentiert, muss man auch die Dinge ganz deutlich ansprechen, die misslungen sind. - Ich werde noch auf andere Aspekte zurückkommen.
({0})
Herr Brüderle, Sie haben sich hier ganz tapfer
({1})
öffentlich von der PDS distanziert. Aber Sie dürfen auch
einem PDS-Mitglied abnehmen, dass die Insolvenzen im
Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen
weniger damit zu tun hatten, dass die Steuerbelastung zu
hoch ist. Vielmehr hing dies ganz wesentlich damit zusammen, dass die Zahlungsmoral derart schlecht geworden ist, dass viele Unternehmen in ihrer Liquidität beschränkt sind und nicht überleben können. Deshalb
sollten wir - unabhängig davon, dass wir uns in der Öffentlichkeit voneinander distanzieren - quer über alle
Fraktionen hinweg etwas tun, um der schlechten Zahlungsmoral in diesem Lande sowohl bei privaten Kunden
als auch bei der öffentlichen Hand ganz schnell beizukommen. Das wäre eine wichtige Schlussfolgerung aus
der heutigen Diskussion.
({2})
Bei allem optimistischen Grundton dieses Gutachtens
kommen wir aber nicht umhin, einen Widerspruch zu konstatieren: Das Wirtschaftswachstum hält an, wenngleich
auch leicht gedämpft. Der Export wird weiterhin boomen.
Die Beschäftigung wird in der Statistik als günstiger ausgewiesen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen - zumindest in den alten Ländern - nimmt ab. Dennoch, obwohl so viel Positives verzeichnet werden kann, nimmt
die allgemeine Wohlfahrt nicht adäquat zu. Das halte ich
für einen Widerspruch, der heute angesprochen werden
muss.
({3})
Immer mehr Erwerbstätige haben Beschäftigungsverhältnisse, die nicht existenzsichernd sind. Dabei habe ich
nicht nur die zunehmende Zahl von 630-Mark-Jobs im
Auge. Ich spreche auch die zunehmende Leiharbeit an
und die Tatsache, dass in der privaten Wirtschaft - in Ostdeutschland ist das ganz verbreitet, in Westdeutschland
nimmt das zu - Stundenlöhne von 7 oder 8 DM gezahlt
werden; das ist nicht existenzsichernd. Trotz einer zunehmenden Beschäftigung gibt es immer mehr Menschen, die
erwerbstätig sind, aber zum Leben zusätzlich Sozialhilfe
brauchen. Das muss hier angesprochen werden; sonst ist
die Bilanz unvollständig.
({4})
Die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt
hält an. In Ostdeutschland arbeiten knapp 18 Prozent der
Frauen freiwillig Teilzeit. Sie müssen Teilzeitarbeitsverhältnisse eingehen, weil es andere Arbeitsangebote gar
Margareta Wolf ({5})
nicht gibt. Aber damit können sie nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze für
junge Leute reicht in den neuen Bundesländern nach wie
vor nicht aus. Ich war schon erstaunt über den Akzent des
Bundesfinanzministers, der dies positiver gesehen hat.
Ich halte es auch für höchst ungerecht, dass dieses JUMPProgramm, für das sich meine Fraktion immer ausgesprochen hat, vom Beitragszahler und nicht vom Steuerzahler
finanziert wird. Das ist ungerecht; denn die Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dieses Problem kann nicht beim Beitragszahler abgeladen werden.
({6})
Die Vermögenspolarisierung nimmt zu. Die Dynamik
der Spareinlagenentwicklung nimmt - zumindest im
Osten - ab. Jedes siebte Kind lebt in einer als arm definierten Familie. Da fragt man sich doch - diese Frage
müssen wir uns heute stellen -: Was ist eigentlich der
Maßstab für wirtschaftlichen Aufschwung und für wirtschaftlichen Erfolg?
({7})
Wenn die Wirtschaft nicht Selbstzweck sein, sondern im
Dienste der menschlichen Gesellschaft stehen soll, dann
müssen sich verbesserte Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten auch in verbesserten sozialen Bedingungen für die
Bevölkerung widerspiegeln. Davon sind wir leider weit
entfernt.
Das hat viele Gründe. Die Erfolgsmeldungen bezüglich des Arbeitsmarktes stützen sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf eine statistische „Innovation“. Ich
weiß nicht, wer in diesem Hause den Bericht, den wir
debattieren, wirklich gelesen hat. Lesen Sie die Seite 54
des Herbstgutachtens! Dort bescheinigen Ihnen die Gutachter, dass die Dynamik bezüglich der Beschäftigungslage, die im Bericht statistisch ausgewiesen ist, von dem
Faktum getrübt wird, dass die Zahl der 630-Mark-Jobs
neu ermittelt wird.
Sie können sich also nicht ständig loben, es seien so
viele neue Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstanden. Nein, es gibt schon eine ganz konkrete Ursache,
die Ihnen auch die Gutachter nennen.
Die Entlastungen der Erwerbstätigen durch die Einkommensteuerreform werden größtenteils kompensiert
durch Mehrbelastungen wegen gekürzter öffentlicher
Ausgaben des Bundes und der Länder sowie durch die
Ökosteuer. Die Binnenkonjunktur - auch das muss man
sagen - hinkt deutlich hinter dem Export her. Sie bleibt
anfällig, weil sie vornehmlich auf der Euro-Schwäche beruht.
Ich muss den Kolleginnen und Kollegen von der alten
Koalition sagen: Sie können die Euro-Schwäche doch
bei weitem nicht der neuen Regierung anlasten. Sie haben
vielmehr in Ihrer Regierungszeit nicht die Grundlagen
dafür gelegt, dass neben einer Einheit Europas im Bereich
der Währung auch auf anderen Gebieten eine Harmonisierung erfolgt. Daran krankt der Euro doch ganz wesentlich.
({8})
Die aktive Arbeitsmarktpolitik will die Koalition im
Jahr 2001 weiter einschränken, indem sie den Zuschuss
für die Bundesanstalt für Arbeit völlig streicht. Dabei wird
es im Jahr 2001 - die neuen Eckdaten liegen ja vor - wiederum mindestens 100 000 Arbeitslose mehr geben. Damit ist Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU-Fraktion, den Sie heute einbringen, nämlich den Beitrag für die Arbeitslosenversicherung zu senken, in diesen Stunden doch schon obsolet geworden.
Wir leugnen die positiven Tendenzen, die es gibt, nicht.
Wir fordern aber die Bundesregierung auf, in stärkerem
Maß zu einer aktiven, zu einer gestaltenden Wirtschaftspolitik zurückzukehren.
Dazu gehört erstens ein beschleunigter ökologischer
Umbau bei kräftiger Stärkung der Binnennachfrage. Nur
so kann man die Abhängigkeit von den hohen Ölpreisen
und einem schwachen Euro mindern. Wir fordern, dass
die in Koalitions- und Regierungskreisen für das Jahr
2003 angedachte grundlegende Änderung der Ökosteuerverwendung hin zu langfristigen volkswirtschaftlichen
Umbauprogrammen vorgezogen wird. Man sollte da nicht
noch zweieinhalb Jahre verstreichen lassen. Es ist notwendig, dass früher gehandelt wird. Wir wollen nicht die
Aussetzung der Ökosteuer, sondern wir fordern, dass die
Einnahmen früher für andere Zwecke verwendet werden.
Zweitens brauchen wir eine Innovationsoffensive im
ganzen Land, vor allen Dingen in Ostdeutschland. Man
kann Ostdeutschland im vereinten Deutschland nicht weiterentwickeln und keinen sich selbst tragenden Aufschwung herbeiführen, wenn man dort weiter auf Lohnzurückhaltung, auf Installierung von Niedriglohnsektoren,
auf Verdrängungskonkurrenz, die nur auf einem Kostenwettbewerb beruht, setzt. Wir brauchen dort eine höhere
Wertschöpfung. Sonst kommt der Osten nicht aus dem Tal
heraus, in dem er sich jetzt befindet, und es werden noch
mehr junge qualifizierte Menschen abwandern.
Wir fordern einen Stopp der Wirtschaftsförderung, die
es heute ermöglicht, dass Unternehmen aus dem Westen
in den Osten verlagert werden, ohne dass es einen zusätzlichen Arbeitsplatzeffekt gibt. Das geschieht nur, weil
man die niedrigeren Tarife nutzen will.
({9})
Schließlich meinen wir, man könnte insbesondere der
Not leidenden ostdeutschen Bauwirtschaft einen Impuls
geben, indem man sich schnell entschließt, eine Entschuldung der dauerhaft leer stehenden Wohnungen vorzunehmen. Wir fordern dafür 3 Prozent der UMTS-Lizenzeinnahmen. Das wären 3 Milliarden DM. Sie wären für
einen guten Zweck eingesetzt. Die Bauwirtschaft käme auf
die Füße. Menschen hätten Arbeit, bekämen existenzsichernde Arbeit. Sie würden wieder Steuerzahler. Es würde
etwas in den Steuersack zurückfließen. Das ist einer unserer Vorschläge.
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wieczorek.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine
Freude, hier zu sein. Ich erinnere mich an viele Debatten
zu Jahreswirtschaftsberichten und zu den Gutachten der
Wirtschaftsforschungsinstitute. Ich habe selten eine für
die Regierung so gute Konjunkturanalyse gelesen wie die
der Institute in dieser Woche.
({0})
Ich finde das sehr erfreulich. Dass es Sie ärgert, kann ich
nachvollziehen.
Es ist richtig, dass wir im Moment durchaus mit
Schwierigkeiten zu rechnen haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir in den zwei Jahren, seit wir an der Regierung
sind, die Grundlagen für eine stabilere innere wirtschaftliche Entwicklung gelegt haben.
Wir sind fast wieder beim früheren klassischen Konjunkturzyklus der Bundesrepublik angekommen: starke
Exporte, Investitionen, private Nachfrage. Es ist unbestreitbar - das zeigen ja auch die Zahlen und Einschätzungen des ifo-Institutes und anderer Institute -, dass sich
inzwischen die in den 90er-Jahren ausgesprochen schwache private Nachfrage stabilisiert. Es ist ja kein Zufall,
dass wir das hinbekommen haben. Wir haben es nämlich
geschafft, dass die Zahl der Beschäftigten um 1 Million
auf deutlich über 38 Millionen gestiegen ist; am Ende Ihrer Regierungszeit lag sie unter 37 Millionen.
({1})
Außerdem sind die Realeinkommen gerade der Arbeitnehmer gestiegen; dies war in den 90er-Jahren nicht der
Fall. Das ist ganz wichtig.
Ich möchte Sie daran erinnern, wie wir das zustande
gebracht haben: Wir haben durch eine Konsolidierung
der Haushalte, auch wenn das in einzelnen Bereichen
immer unpopulär ist, Sicherheit gegeben. Die von uns
durchgeführte Haushaltskonsolidierung hat den Weg
dafür geebnet, dass wir in anderen Bereichen neue Handlungsfähigkeit gewonnen haben. Das hat auch Auswirkungen auf die Lohnpolitik, die allerdings nicht unsere,
sondern Sache der Tarifvertragsparteien ist. Aber die
durch das Bündnis für Arbeit vermittelte Sicherheit, dass
vonseiten des Staates keine weiteren Belastungen auf die
Bürger zukommen und die Steuern nicht, wie in den 90erJahren, dauernd erhöht werden, trug ganz entscheidendend dazu bei, dass sich die Gewerkschaften darauf einlassen konnten, langfristige Tarifverträge abzuschließen,
und es zuließen, dass die Gehaltssteigerungen zum Teil
geringer als die Produktivitätsentwicklung ausfielen. So
wurde eine Senkung der Lohnstückkosten möglich. Auch
dieses trug zu den Exporterfolgen bei, dafür war nicht allein der schwache Euro verantwortlich.
Außerdem haben die Gewerkschaften eine Flexibilisierung in den Betrieben zugelassen; dieses wurde zu einem echten Standortvorteil. Sie dagegen tragen immer
noch wie ein Banner die Aussage vor sich her, dass es zu
wenig Flexibilisierung in den Betrieben gäbe. Ich nenne
Ihnen zwei Gegenbeispiele: Es ist doch kein Zufall, dass
Ford seine Autofertigung von London nach Köln verlagert. Das hätte man doch nicht getan, wenn hier alles so
schlecht wäre. Das zweite Beispiel stammt aus meinem
eigenen Wahlkreis: Es ist doch kein Zufall, dass General
Motors entschieden hat, ein bedeutendes neues Werk in
Rüsselsheim zu bauen. Es wird zwar auf dem Gelände des
alten Werkes gebaut, aber es handelt sich um ein völlig
neues Werk. Auch das hat etwas mit unserer Politik zu tun.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auch noch bemerken, wie wichtig es ist, dass wir uns des Betriebsverfassungsgesetzes annehmen. Dieses wurde seit 1972 nicht
mehr novelliert. Es stimmt heute in einigen Bereichen
nicht mehr mit der Realität überein. Dies gilt insbesondere
für die Bereiche verlängerte Werkbank, Heimarbeitsplätze usw. Dieses Gesetz ist nämlich die Basis dafür, dass
es in den Betrieben verlässliche Betriebsräte gibt, mit denen man diese Flexibilisierungsabkommen abschließen
kann. Das ist ein wesentlicher Standortvorteil.
({2})
Weil der Strukturwandel vernünftig gestaltet wird,
besteht aber zugleich wieder mehr Vertrauen in die zukünftigen Beschäftigungsmöglichkeiten. Das hat - ich
habe es schon gesagt - zur Zunahme der privaten Nachfrage geführt. Dank unserer Politik, die Steuern gerade
beim Eingangssteuersatz zu senken sowie soziale Gerechtigkeit durch Erhöhung von Kindergeld, Wohngeld,
Erziehungsgeld und jetzt BAföG zu verstärken, wissen
die Leute, dass sie mehr zur Verfügung haben. Auch statistisch ist das nachweisbar. Auch das führt dazu, dass
mehr Vertrauen da ist. Damit befinden wir uns in einer Situation - ich will jetzt auf die anderen Punkte nicht mehr
eingehen -, in der wir auf die auf uns zukommenden Bedrohungen viel besser reagieren können als manches andere europäische Land. Wir haben bei den Wachstumszahlen ja deutlich aufgeholt. Das ging bei uns erst
langsam, da wir von den Krisen vor drei Jahren - 1998
Russland und seine Nachbarländer und ein halbes Jahr
davor die Krise in Ostasien - viel stärker betroffen waren.
Ich möchte deswegen einmal fragen, wie denn die
Konjunktur bei uns aussehen würde, wenn wir diese Maßnahmen nicht durchgeführt hätten. Es gibt ja eine gewisse
Dämpfung durch den Abfluss von Kaufkraft in Richtung
OPEC und Ölkonzerne aufgrund der gestiegenen Ölpreise. Wie würde unsere Lage denn aussehen, wenn wir
zum Beispiel die Staatsquote nicht auf 47 Prozent abgesenkt hätten? Jetzt ist unsere Lage stabiler als in manch
einem anderen europäischen Land.
({3})
Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Politik fortsetzen.
Es gibt nämlich innerhalb der Euro-Zone Länder, in denen
sich erste Auswirkungen dieser Schwierigkeiten viel
deutlicher zeigen.
Ich verweise hier in einer Randbemerkung auf Spanien. Ich will zwar nichts Negatives über Spanien sagen,
da ich es bewundere, wie man dort den Wandel geschafft
hat, aber an einigen Stellen - das sage ich insbesondere an
Ihre Adresse, Herr Brüderle, da sie eben gerade nickten zeigen sich erste negative Auswirkungen des schnellen
Wandels. Wenn für über 40 Prozent der Arbeitsplätze das
Hire-and-fire-Prinzip gilt, die Arbeitnehmer also praktisch von heute auf morgen, nämlich innerhalb von 14 Tagen, gekündigt werden können, steigt schon bei den ersten leichten Kälteerscheinungen die Arbeitslosigkeit an.
Die Arbeitslosigkeit kann dann nicht mehr abgebaut werden.
({4})
Sie können selber nachrechnen, welche Auswirkungen
das auf das Konjunkturklima hat.
Es ist sehr wichtig, dass wir diese Politik fortsetzen.
Der Haushaltsplan sieht das vor. Wir müssen die Steuerreform so, wie geplant, durchsetzen. Ich halte es auch für
wichtig, dass wir bis zum Frühsommer des nächsten Jahres endlich die Rentenreform zustande bringen. Ich hoffe,
dass Sie sich darauf besinnen, dass das Grundkonzept der
Rentenreform vernünftig ist. Mit dem Gelingen der Rentenreform können wir das Vertrauen der Bevölkerung in
die langfristige Entwicklung gewinnen: Die Menschen
haben das Gefühl, gesichert zu sein. Wichtig ist auch, dass
sie weiterhin mehr Geld in der Tasche haben. Ich sage das,
auch wenn Sie alle wissen, dass große finanzielle Sprünge
nicht möglich sind. Wir können die Konjunkturstabilisierung auf der Binnenseite mit den derzeitigen Windfall
Profits - ich halte diese Bezeichnung insofern für angemessen, als diese Gewinne aus der Euro-Schwäche resultieren - aus dem Export verbinden.
Lassen Sie mich etwas zur Euro-Schwäche sagen. Die
Schwäche des Euro ist eine Schwäche seines Außenwertes. Ich betone: Es ist nicht seine innere Schwäche. Unsere Inflationsrate bewegt sich trotz dieser immensen
Energiepreissteigerungen - nicht nur die Preise für Öl,
sondern auch die für Gas sind gestiegen, weil der Gaspreis
an den Ölpreis gekoppelt ist - um 2 Prozent. Die Kerninflationsrate hat sich im letzten Jahr praktisch überhaupt
nicht geändert; sie liegt bei 1,2 Prozent oder bei 1,3 Prozent. Wir haben also im Grunde genommen ein spannungsfreies Wachstum; denn gegen die externen Effekte
kann man sich nicht wehren.
Auch was den Umgang mit Öl und Gas angeht, müssen
wir aufholen. Vorhin ist das Zukunftsinvestitionsprogramm der alten sozialliberalen Regierung - es bestand
bis 1982 - angesprochen worden. Dieses Programm hat
Energieeinsparungen gebracht. Danach ist nichts mehr
geschehen. Jetzt machen wir wieder so etwas. Auch das
ist eine Investition in die Zukunft. Ich erinnere daran, dass
die Mittel für die Altbauwärmedämmung gerade in Ostdeutschland für das Bauhandwerk und das Ausbaugewerbe eine bedeutende Wirkung haben werden.
({5})
Ich möchte auf die Bedrohungen der gegenwärtigen Situation zu sprechen kommen. Wir setzen unsere binnenorientierte Politik konsequent fort, weil niemand dafür garantieren kann, dass wir den Teil der Windfall Profits, der
sich aus dem Euro-Kurs ergibt, weiterhin haben werden.
Im Moment haben wir es mit einer sehr deutlichen
Euro-Schwäche zu tun. Dagegen kann man kaum etwas
machen.
Die Zinserhöhungen der EZB sind an ihr Ende gekommen. Ich bin bei weitem nicht mehr der Einzige - vor
vier Wochen war ich es noch -, der diese Ansicht vertritt.
Heute besteht auf den Märkten weitgehend Einigkeit: Bei
weiteren Zinserhöhungen kann die Konjunktur noch
schwächer werden - sie ist schon durch die bisherigen
Zinserhöhungen geschwächt worden -, weniger in
Deutschland als vielmehr in anderen europäischen Ländern, die bedeutend zinsempfindlicher sind. Das ist eine
ganz große Gefahr.
Die EZB sollte sich ihre Politik sehr gut überlegen. Wir
können ihr keine Ratschläge geben; sie ist zu Recht autonom. Die EZB sollte überlegen, ob eine weitere Schwächung der Konjunktur nicht dazu führt, dass noch mehr
privates Geld, zum Beispiel Portfolio-Investitionen, in die
USA abwandert, wie wir es bereits erlebt haben. Unsere
größte Sorge hinsichtlich dieses Geldes - über 160 Milliarden, davon über die Hälfte in kurzfristigen Portfolio-Investitionen - ist, dass in den USA keine weiche, sondern
eine harte Landung - Kollege Poß hat es angesprochen erfolgen können. Für die Weltwirtschaft wäre eine solche
Entwicklung außerordentlich problematisch. Es kommt
darauf an, dass wir unsere internen Kräfte stärken.
Herr Brüderle, Sie haben die Situation so dramatisch
dargestellt, dass man das Gefühl hatte, ein Untergang
fände statt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Problem liegt
doch woanders. In den USA gibt es bereits Probleme bei
der Kreditversorgung. Die Entwicklung der Positionen in
den so genannten Neuen Märkten ist völlig überzogen.
Selbst bei einem Unternehmen wie Amazon stellt man die
Frage, ob es überhaupt überleben könne. Überlegen Sie,
was für ein Land wie die USA mit einer privaten Sparquote, die praktisch bei null liegt, ein Umkippen der Entwicklung bedeutet.
Ich erinnere mich daran, wie es war, als in den 80erJahren der Dollar um 3,80 DM kostete. Die gegenwärtige
Schwäche des Euro ist im Vergleich damit geradezu moderat. Ich weiß noch, welche Probleme das plötzliche
Umkippen der Situation für unsere Konjunktur verursachte.
Ich bitte Sie, mit dem Thema sehr vorsichtig umzugehen. Helfen Sie mit, mit einem Policymix - so nennen es
die Ökonomen - die interne Konjunktur zu stärken. Dies
sollte in Verbindung mit den europäischen Nachbarländern geschehen, damit keiner eine Beggar-my-Neighbour-Policy macht, wie sie ein großes westliches Nachbarland im Bereich der Mineralölsteuer zuletzt praktiziert
hat. Das war nicht positiv. Auch das darf man hier einmal
sagen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Minister Eichel, lieber Herr
Kollege Wieczorek, es tut mir herzlich Leid, aber ich
muss das Bild von der schönen neuen SPD-Welt, das hier
gemalt worden ist, ein wenig eintrüben;
({0})
denn es ist so beim besten Willen nicht richtig.
({1})
Es gibt in der Mitte dieser Legislaturperiode einige interessante Negativrekorde, die bisher von Ihnen, Herr
Minister, und von anderen Kollegen der SPD heute Morgen nicht genannt worden sind. Zunächst einmal: Noch
nie mussten die Bürger in Deutschland so viel Steuern
zahlen wie heute unter Ihnen, Herr Minister Eichel, und
unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({2})
Dazu kommen die Abgaben. Ich will sie gar nicht aufzählen. Aber 33,6 Prozent des Einkommens gehen heute
für die Einkommensteuer, die Mehrwertsteuer, die KfzSteuer, die Tabaksteuer, die Kaffeesteuer und was es sonst
noch alles an Steuern gibt, weg.
({3})
Eine solche Belastung, Herr Minister Eichel, hat es noch
nie gegeben. Das Einzige, was ich bei Ihnen bewundere,
ist, dass Sie es geschickt darstellen und den Eindruck erwecken, als ob Sie die Belastungen senken würden.
({4})
Das ist Ihre Kunst.
({5})
Der zweite Rekord ist: Noch nie mussten die Bürger an
der Tankstelle für einen Liter Benzin so viel wie heute unter Ihnen bezahlen, Herr Minister. Was nützen die vielen
kleinen Prozentzahlen und Trendberichte, die Sie genannt
haben, wenn die Bürger - zum Beispiel an der Tankstelle - in diesem Maße zur Kasse gebeten werden? Das
ist für die Bürger relevant; nicht die kleinen Zahlen und
Erleichterungen, die Sie genannt haben.
({6})
Der dritte Rekord: Noch nie bekamen die Bürger beim
Umtausch ihres Euros so wenig wie heute. Es wurde hier
eben gesagt, das sei doch alles gar nicht so dramatisch,
weil das keinen Einfluss auf die Kaufkraft habe. Herr
Minister Eichel rühmte in seiner Erklärung die Preisstabilität. Auch Norbert Wieczorek nannte diesen Aspekt.
({7})
Ich empfehle Ihnen: Investieren Sie heute Morgen einmal
3 DM in den Kauf des „Handelsblatts“ und lesen Sie als
Hauptaufmacher: Die Euro-Schwäche treibt die Preise. Nicht nur die Mineralölpreise sind davon betroffen, sondern das gilt auch für alle anderen Preise in Deutschland.
Ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen, dieses Thema
nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, weil Sie glauben, Sie könnten im Moment politisch den Kopf aus der
Schlinge ziehen, indem Sie diese drohende Gefahr einfach negieren.
({8})
Nein, dies darf nicht gemacht werden. Die Bürger bekommen heute für einen Euro nur noch 82 Cents. Zu Beginn waren es 117 Cents.
Die Finanzmärkte, Herr Minister, sind die objektivsten
Beobachter Ihrer Politik.
({9})
Wenn Ihre Politik als zu leicht empfunden wird, dann fällt
der Euro. Diese Entwicklung haben wir derzeit.
({10})
Deswegen können wir alle lebhaften Beiträge und Zurufe
von den Kollegen der SPD überhören. Sie interessieren
nicht. Entscheidend ist, wie Ihre Politik in New York, Tokio und Frankfurt von den objektiven Beobachtern eingestuft wird. Dieses ist schlichtweg negativ.
({11})
Nun spreche ich einen Punkt an, mit dem sich die Sozialdemokraten - das gilt heute Morgen für alle Redner besonders gebrüstet haben, nämlich die angeblich so hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir
müssen zwischen der Arbeitslosenzahl und der Beschäftigtenzahl unterscheiden. Ich komme zunächst zu der Arbeitslosenzahl. Sie schaffen es nicht einmal, die Arbeitslosenzahl so zurückzuführen, wie es allein aufgrund des
Überalterungseffektes in Deutschland der Fall sein
müsste.
({12})
Stattdessen - das hat Peter Rauen schon sehr eindrucksvoll dargelegt ({13})
ändern Sie schlichtweg die Statistik. Dadurch gelingt es
Ihnen, die Arbeitslosenquote um 0,7 Prozent zurückzuführen.
({14})
Meine Damen und Herren, alleine durch eine Neudefinition in der Statistik gelingt es der Regierung von SPD
und Grünen, die ausgewiesene Arbeitslosenquote in
Deutschland um 0,7 Prozent zurückzuführen. Ich kann
wirklich nur sagen: Das ist eine propagandistische SuperGunnar Uldall
leistung. Es wäre besser, wenn an dieser Stelle eine effektive Leistung stehen würde, Herr Minister.
({15})
Zum anderen gibt es neben der Zahl der Arbeitslosen
die Zahl der Beschäftigten. Norbert Wieczorek hat eben
gesagt, wir hätten in diesem Jahr rund 600 000 Beschäftigte mehr als im vergangenen Jahr. Die Ursache ist auch
hier eine Änderung der Statistik. Ich empfehle Ihnen allen, einmal einen Blick in das Gutachten zur Lage der
Weltwirtschaft zu werfen, über das wir heute debattieren.
Das Gutachten wurde vor einigen Tagen von den Wirtschaftsinstituten veröffentlicht, und in einer besonderen
Ausführung zur Revision der Erwerbstätigenstatistik
heißt es:
Diagnose und Prognose der Entwicklung am Arbeitsmarkt werden zurzeit durch erhebliche Korrekturen der amtlichen Erwerbstätigenstatistik erschwert.
Es heißt weiter:
In der ersten Jahreshälfte 2000 war die Zahl der Erwerbstätigen um 630 000 höher als im Vorjahr.
Hurra, werden die Sozialdemokraten rufen. Aber der
nächste Satz lautet:
Alte Statistik: nur 100 000.
Das, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis Ihrer Politik: ein Anstieg der Zahl der Beschäftigten um 100 000.
Nun schauen wir uns das Ganze einmal an: Bei 38 Millionen Beschäftigten sind das nicht einmal 0,3 Promille;
es sind nur gut 0,2 Promille. Es ist Ihnen also gelungen,
eine Verbesserung der Zahl der Beschäftigten um 0,2 Promille herbeizuführen. Man kann nun wirklich nicht davon
sprechen, dass sich hier eine Trendwende vollzogen hat.
Vielmehr müssen wir leider feststellen: Nach wie vor haben wir auf dem Arbeitsmarkt eine Stagnation zu verzeichnen.
({16})
Statistiken werden nur von erfolglosen Regierungen
verändert. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik bedarf
einer Veränderung der Statistik nicht.
({17})
Nun sollte sich Herr Minister Eichel einmal fragen,
warum der erwartete Konjunktur- und Wachstumsschub
trotz seiner Einkommensteuerreform nicht stattgefunden
hat. Es müsste doch eigentlich so sein, dass die Prognosen
nicht alle nach unten gehen.
({18})
Vielmehr müsste es so sein, dass die Prognosen, nachdem
Ihre Reform verabschiedet worden ist, entsprechend den
Erwartungen nach oben gehen. Alle Prognosen sind aber
nach unten gegangen,- auch wenn Sie das bezweifeln.
({19})
- Ja. Die Prognosen gehen zurück.
Ich lese weitere Prognosen vor. DG Bank: von 3,2 auf
3,0; Institut der Wirtschaft: von 3,0 auf 2,9;
({20})
Hessische Landesbank: von 3,0 auf 2,8; Commerzbank:
von 3,0 auf 2,7. Das reicht doch wohl. Nun muss man sich
fragen: Warum wurden diese Prognosezahlen nicht alle
kräftig nach oben gesetzt, nachdem die grandiose Steuerreform von Herrn Eichel umgesetzt worden ist?
Ich möchte nur einen Satz in den Raum stellen. Einer
der renommiertesten Finanzwissenschaftler in Deutschland schreibt: Eichel hat sein Ziel mit dieser Reform verfehlt.
({21})
- Professor Lang aus Köln, dessen Kompetenz auch Sie
nicht bestreiten werden, Herr Kollege.
({22})
Diese Reform ist keine tiefgreifende Strukturreform.
Sie ist eine Tarifreform, aber eine Tarifreform, deren positiven Effekte sofort wieder dadurch aufgehoben werden,
dass Sie die Ökosteuer erhöhen und die Abschreibungstabellen korrigieren. Alle Erleichterungen werden also
gleich wieder zurückgenommen. All das führt dazu, dass
diese Regierung mit der Einkommensteuerreform eine
Riesenchance vertan hat. Es wäre für die konjunkturelle
Entwicklung gut gewesen, wenn wir eine richtige Reform
gehabt hätten. Leider müssen wir auf diese positiven Effekte verzichten.
({23})
Bedauerlicherweise ist es so, dass wir in Deutschland
eine politische Entwicklung haben, die das Marktgeschehen kontinuierlich einengt.
({24})
Deswegen ist es dringend erforderlich, dass wir uns wieder zu mehr Marktwirtschaft, zu mehr Vereinfachungen in
unseren Systemen und zu mehr Eigenverantwortung von
Unternehmen und Arbeitnehmern hinwenden. Damit
würden wir mehr Chancen für alle Menschen in Deutschland schaffen.
({25})
Das Wort hat nun der
Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Sommer 1998 eine Diskussion über die notorisch schlechte
Laune in Deutschland gehabt. Manche werden sich daran
erinnern, dass der damalige Bundespräsident davon gesprochen hat, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen, weil Deutschland in einer ungeheuren mentalen
Depression verharre; so hat damals Roman Herzog geschrieben. Er hat hinzugefügt, die Deutschen seien mutlos geworden, und wenn sich daran nicht bald etwas ändere, werde das Land im internationalen Vergleich
zurückfallen. Das war die Ausgangssituation im Sommer
1998.
Nun, lieber Gunnar Uldall, habe ich heute Morgen die
Investition in Höhe von 3 DM getätigt und das „Handelsblatt“ gekauft. Dort steht: „Henkel gibt der Regierung
Schröder eine gute Gesamtnote für die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Das kann man nach zwei Jahren Regierungszeit doch als ordentliches Ergebnis bezeichnen.
({0})
Manche sind ja der Auffassung, dass man Olaf Henkel,
der als ein unerschrockener Interessenvertreter auftritt,
mit Henkell Trocken vergleichen muss: Man kann mit
ihm nur anstoßen; wenn man etwas Gutes tun will, muss
man aber einen anständigen Wein trinken. Doch in der Sache hat er Recht. Wenn Herr Rauen heute Morgen davon
gesprochen hat, wir seien dabei, Deutschland zum Fußkranken Europas zu machen, muss ich sagen: Herr Rauen,
ich weiß nicht, wo Sie leben. Ich weiß nicht, ob Sie den
„Economist“ lesen, der gerade mit dem Thema „Can do
Schröder better?“ aufgemacht hat.
„Yes, he can.“ Der „Economist“ schreibt, wir hätten in
den letzten zwei Jahren unglaublich viel bewegt. Viele
Dinge, die Sie liegen gelassen haben, sind erledigt worden. Wir holen auf und sind dabei, in Europa wieder Spitzenpositionen einzunehmen. Ich glaube, Herr Rauen, Sie
haben sich irgendwo im Pfälzer Wald verirrt.
({1})
Jedenfalls sind Sie hier in der falschen Veranstaltung. Ihre
Rede war auf jeden Fall mehr als dürftig, und ich bin gespannt, was wir in Zukunft noch von Ihnen hören werden.
Das Gutachten, das wir heute debattieren, kommt zu
dem Ergebnis, dass im Zuge der kräftigen Konjunktur die
Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt Ende 2000 bei
3,8 Millionen und Ende 2001 bei 3,49 Millionen liegen
wird. Damit werden wir das Ziel erreichen, das wir uns
selbst gesetzt haben, nämlich die Arbeitslosigkeit endlich zu drücken; das ist das zentrale Anliegen dieser Bundesregierung. Wir machen das in einem durchaus schwierigen Spagat. Wir müssen den Haushalt konsolidieren und
sanieren, gleichzeitig die Steuern und Abgaben senken
und trotzdem in Zukunftsfelder investieren. Dieser Spagat
ist nicht einfach, aber wir machen das und finden mittlerweile bei den internationalen Organisationen, bei Einrichtungen, die wirklich unverdächtig sind und ein sachliches Urteil fällen, ein positives Echo.
An diesem Montag - vor wenigen Tagen - ist das
Deutschlandexamen des IWF abgeschlossen worden. Es
hat bestätigt, in welchem Maße die Reformpolitik der
Bundesregierung konkrete Wirkungen hat. Der IWF stellt
fest, die Steuerreform habe einen entscheidenden Anteil
daran, dass in Deutschland der Reformstau überwunden
wurde; die niedrigen Steuersätze hätten eine Signalfunktion, insbesondere für die ausländischen Investoren.
Das ist ein wichtiges Ergebnis. Der IWF merkt an, dass
eine völlige Kehrtwende eingetreten ist. Vorher waren die
ausländischen Investoren über zehn Jahre hinweg sehr
zurückhaltend. Jetzt kommen wir zu einem Ergebnis, das
sich sehen lassen kann.
Wenn Herr Stihl am 24. Oktober in der Zeitung „Die
Welt“ ausführt, der Standort Deutschland sei heute attraktiver als vor zwei Jahren bei unserem Regierungsantritt,
ist das ein Zeugnis, mit dem wir sehr gut leben können. Er
hat Recht, wir haben eine Menge bewegt. Es ist völlig
klar, dass wir dabei sind, gerade auch in den Wachstumsfeldern zu überzeugen.
Das ist übrigens der Grund, warum das World Economic Forum Deutschland in seinem in den letzten Tagen erschienenen „Global Competitiveness Report“, der jährlich vorgelegt wird, höher gruppiert hat, und zwar um
zehn Plätze. Deutschland ist hinsichtlich der Produktivität
auf Rang drei vorgerückt.
({2})
- Ich glaube auch, dass man denen das schriftlich geben
muss.
Der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland kommt
voran. In den ganzen 90er-Jahren lag das Wirtschaftswachstum in Deutschland trotz des Vereinigungsbooms
durchschnittlich nur bei 1,4 Prozent. Zum ersten Mal seit
längerer Zeit liegt es jetzt wieder bei 3 Prozent. Das ist ein
enormer Fortschritt. Das wirtschaftliche Wachstum wirkt
sich inzwischen auch positiv auf den Arbeitsmarkt aus.
Wir haben angesichts der Erlöse aus der Versteigerung
der UMTS-Lizenzen nicht gesagt: Wir nehmen das Geld
und geben es aus. Vielmehr haben wir die wichtige
Grundsatzentscheidung getroffen, den Erlös in Höhe von
100 Milliarden DM zur Schuldentilgung zu verwenden,
und zwar in einer Phase, in der die Konjunktur gut läuft.
So etwas hätten wir bei Ihnen nie erlebt. Im Vergleich zu
Ihnen gehen wir den umgekehrten Weg: Wir verwenden,
wie gesagt, die 100 Milliarden DM zur Schuldentilgung
und nutzen den durch die Zinsersparnisse entstehenden
geringen Spielraum für wichtige Zukunftsinvestitionen;
denn eines ist klar: Der Spagat zwischen Konsolidierung
und Zukunftsinvestitionen muss durchgehalten werden.
Wir müssen weiter sanieren, weiter Steuern und Abgaben
senken und weiter in die Zukunft investieren. Diese Trias
wird unsere Politik auch in den nächsten Jahren wesentlich bestimmen.
({3})
Wir haben auch auf den Zukunftsfeldern wichtige Fortschritte erzielt. Wir haben auf den Wachstumsfeldern von
morgen, insbesondere bei der Informations- und Kommunikationstechnologie, wichtige Weichenstellungen
vorgenommen. Die Informations- und Kommunikationsbranche weist in diesem Jahr ein Wachstum von 10,4 Prozent auf. Im nächsten Jahr rechnen wir mit einem Wachstum von 10 Prozent auf diesem wichtigen Zukunftsfeld.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse
bezeichnet Deutschland als die derzeit führende Internetnation in Europa, weil von den 150 größten börsennotierten Internetunternehmen 56 aus Deutschland kommen.
Das heißt, wir haben uns in diesem wichtigen Zukunftsfeld neu aufgestellt und versprechen uns davon enorme
Arbeitsplatzeffekte. Wir erwarten, dass insbesondere
durch die Weichenstellungen in der Informations- und
Kommunikationstechnik 750 000 neue Arbeitsplätze bis
zum Jahr 2010, also in zehn Jahren, entstehen werden,
dass wir durch die Weichenstellungen in den Wachstumsbranchen von morgen gut aufgestellt sind und dass wir
von der Orientierung hin auf diese Wachstumsfelder profitieren werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Das, was Roman Herzog angemahnt hat, nämlich dass ein
Ruck durch Deutschland gehen müsse, ist befolgt worden. Das Klima in Deutschland ist heute ein völlig anderes als das von vor zwei Jahren. Das drückt sich sowohl
in dem Herbstgutachten der Sachverständigen als auch im
Urteil der wichtigsten internationalen Institute über die
Entwicklung in Deutschland aus. Ich finde, man sollte
dann auch eine positive Zwischenbilanz ziehen. Man
muss nicht immer aus parteipolitischen Gründen gegen
alles sein, wenn es einmal positiv in Deutschland läuft.
Man kann ruhig einmal zugeben, dass sich etwas verändert hat.
({4})
Das heißt aber nicht, dass wir aufhören können. Wir
müssen weiterhin hellwach sein. Wir müssen innovativ
sein. Es gilt der Satz von Benjamin Britten: „Lernen ist
wie Rudern gegen den Strom. Wer aufhört, fällt zurück.“
Aber das muss man heute nicht der Regierung, sondern
der Opposition sagen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Handwerk hat vor einigen Tagen ein Memorandum zur Mittelstandspolitik vorgelegt. Dieses Memorandum beginnt mit dem Satz:
„Mittelstandspolitik ist ihrem Wesen nach eine Querschnittsaufgabe.“ Das heißt mit anderen Worten: Mittelstandspolitik beschränkt sich nicht auf Sonntagsreden, in
denen sie ja immer gelobt wird.
({0})
Echte Mittelstandspolitik zu machen heißt, in allen Bereichen der Gesetzgebung und des staatlichen Handelns für
Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen mittelständische Betriebe erfolgreich arbeiten können.
({1})
Ich glaube, dem wird niemand hier im Saal widersprechen. Aber handeln Sie auch danach, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierung?
({2})
Das Handwerk ist nicht dieser Meinung. Sein Präsident
findet, dass Ihre Mittelstandspolitik allein als Reparaturbetrieb funktioniert. Erst verfassen Sie Gesetze, ohne auf
den Mittelstand Rücksicht zu nehmen. Kommt ein Protest, reparieren Sie wieder ein bisschen. Das ist so geschehen bei der Scheinselbstständigkeit, das ist so geschehen bei der Steuergesetzgebung: Immer wieder wird
sukzessive ein bisschen nachgebessert. So geschehen ist
das jetzt auch bei den Betriebsveräußerungen. Ich rate Ihnen: Bessern Sie richtig nach. Beziehen Sie die Betriebsveräußerungen ab dem Jahr 1999 ein, sonst müssen Sie
wieder reparieren. So geschehen ist es auch beim Rechtsanspruch auf Teilzeit, wo Sie nachträglich eine Kleinbetriebsklausel mit eingebaut haben. Warum arbeiten Sie
nicht von Anfang an sorgfältig, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Regierung?
({3})
Hätten Sie im Sinne des Mittelstandes richtig vorgearbeitet, dann hätten Sie sich die ganze Gesetzgebung zur
Scheinselbstständigkeit sparen können; denn die von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze hätten ausgereicht. Sie hätten eine gute Steuerreform gemacht, wenn
Sie nicht zwischen guten und schlechten Einkünften unterschieden hätten.
({4})
Sie hätten außerdem bei der Teilzeitarbeit auf Freiwilligkeit setzen sollen.
Zum Thema Teilzeit: Sie wollen jedem Beschäftigten
einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben. In
Ihrem Gesetzentwurf steht, der Arbeitnehmer könne sich
sogar eine gewünschte Verteilung der Arbeitszeit auf die
einzelnen Arbeitstage in der Woche aussuchen.
({5})
Können Sie mir sagen, wie Sie dann noch eine vernünftige Personalplanung machen wollen?
({6})
Stellen Sie sich vor, ein Verkäufer aus dem Einzelhandel
kommt am 2. November zu seinem Chef und sagt: Chef,
ab 1. Dezember will ich nur noch montags bis freitags von
9 bis 13 Uhr arbeiten. Der Chef sagt natürlich - es kommt
ja die Weihnachtszeit -: Das geht aus betrieblichen Gründen nicht. Dann sagt der Arbeitnehmer: Diese betrieblichen Gründe erkenne ich nicht an. Was passiert dann?
Dann wird diese Interpretation vor dem Gericht ausgetragen. Bis eine Entscheidung des Gerichts vorliegt, ist das
Weihnachtsgeschäft vorbei.
({7})
Ich warne auch noch vor etwas anderem: Prozessanfälligkeit hat sich in unserem Staat immer mehr zu einem
Standortnachteil entwickelt.
({8})
Dem müssen wir von vornherein durch eine ausgewogene
Gesetzgebung entgegenwirken. Sie planen einen massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit. Der Arbeitgeber wird
zu einer Vertragsänderung gezwungen, die er nicht will.
Ob das mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wollen wir mal
dahingestellt lassen. Wir wissen aber, dass es immer dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss,
wenn ein starker Grundrechtseingriff vorgenommen wird.
Sie brauchen dafür Rechtfertigungsgründe. Bei Ihnen gibt
es aber keine Gründe. Bei Ihnen soll jeder einen Anspruch
auf Teilzeitarbeit haben. Ihr Konzept beruht auf dem von
der Wirtschaftswissenschaft tausendfach widerlegten Irrglauben, man könne Beschäftigung schaffen, indem man
einfach die vorhandene Arbeit auf mehr Köpfe umverteilt.
Es gibt aber kein feststehendes Arbeitsvolumen - in einer
globalisierten Wirtschaftsordnung schon gar nicht.
Auch glaube ich, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dass mit diesem Gesetz keine Teilzeitstellen geschaffen werden. Im Gegenteil: Es werden Teilzeitstellen
vernichtet; denn welcher Arbeitgeber wird zukünftig noch
mehr Teilzeitkräfte einstellen, wenn er daran denkt, dass
diese später auch einen Anspruch auf Vollzeitstellen in
seinem Betrieb haben werden? Sie haben außerdem eine
immense Schwellenangst geschaffen: Wer wird zukünftig
noch den 16. Arbeitnehmer in seinen Betrieb aufnehmen?
In den letzten Wochen hat Sie beim Thema Arbeitsrecht eine immense Regulierungswut erfasst. Sie schaden
damit dem Mittelstand und verhindern damit mehr Beschäftigung. Ebenso ist es mit dem von Ihnen geplanten
Betriebsverfassungsgesetz. Wir haben bis jetzt schon eines der stärksten Mitbestimmungsgesetze der Welt.
({9})
Die von Ihnen geplante Ausweitung der Mitbestimmung
wäre ein fatales Signal gegen Investitionen. Wir entfernen
uns damit auch immer mehr von unseren europäischen
Partnern. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, dass
wir in Europa ein immenses Mitbestimmungsgefälle verursachen und somit dem europäischen Binnenmarkt nicht
sehr förderlich sind?
Sie planen auch eine Ausweitung der Mitbestimmung
im Bereich des Umweltschutzes.
({10})
Wissen Sie eigentlich, dass Sie damit einen Systemwechsel mit unabsehbaren Folgen vornehmen? Erstmals würden die Betriebsräte nicht nur für die inneren Angelegenheiten eines Betriebes, sondern auch für die nach außen
gerichteten Aktivitäten eines Unternehmens zuständig.
Man hat fast das Gefühl, dass Ihnen Demokratie und
Minderheitenschutz inzwischen ganz egal sind. Im Hauruck-Verfahren sollen zukünftig Betriebsratswahlen durchgeführt werden. Minderheiten hätten in einer kurzfristig
anberaumten Betriebsversammlung die Möglichkeit, einen
Betriebsrat durchzusetzen, der möglicherweise nicht dem
Interesse der Belegschaft entspricht.
Es scheint Ihnen auch völlig egal zu sein, was die Umsetzung Ihrer Pläne kostet. Wir sind ja von Ihnen gewöhnt, dass Sie sich für die Kostenfrage nicht interessieren und dass Sie dem Mittelstand die Kosten, die durch
Ihre Gesetze entstehen, einfach auferlegen. Was glauben
Sie, welche Kosten sich ergeben, wenn man die Grenze
hinsichtlich der Freistellungen und der Betriebsratsgröße
herabsetzt? Der Mittelstand ist momentan am wenigsten
in der Lage, eine solche Kostenerhöhung zu tragen.
({11})
Wir wissen auch, dass es für die Unternehmen wichtig
ist, flexibel und schnell ihre Arbeitsorganisation den Bedürfnissen des Marktes anpassen zu können. Es sind oft
schnelle Veränderungen am Produkt und in den Produktionsabläufen gefragt. Deswegen darf die Mitbestimmung
das unternehmerische Handeln nicht lahm legen. Ich lege
Ihnen ans Herz: Bitte beachten Sie diesen Punkt, wenn Sie
Ihren Entwurf vorlegen! Wir brauchen Freiräume für die
Betriebe.
({12})
Frau Wolf hat dies zu Recht gesagt. Ich appelliere an Sie:
Handeln Sie auch danach! Wir müssen zu einer Ausweitung des Günstigkeitsprinzips kommen. Hören Sie also
auf Ihre Kollegin Frau Wolf und setzen Sie ihre Anregung
um!
({13})
Ihnen geht es aber gar nicht um eine Stärkung der Betriebsräte. Man hat vielmehr manchmal das Gefühl, es
geht Ihnen um eine Stärkung des Gewerkschaftseinflusses.
({14})
Anscheinend soll dies ein verspätetes Dankeschön für die
Unterstützung im Wahlkampf sein. Man kann da von einem politischen Kuhhandel sprechen, wie es auch beim
Ladenschluss im Zusammenhang mit der Rentenreform
der Fall war.
Frau Kollegin, bitte
achten Sie auf Ihre Redezeit.
Ich will zum Schluss darauf hinweisen: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland
hängt ganz entscheidend vom Mittelstand ab.
({0})
Wenn es dem Mittelstand gut geht, dann geht es auch der
Wirtschaft gut. Denken Sie daran und behandeln Sie die
Mittelstandspolitik nicht als „Reparaturbetrieb“!
({1})
Nun erteile ich für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Jörg-Otto Spiller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Wöhrl,
ich finde, die Maske der Weinerlichkeit steht Ihnen nicht.
({0})
Der Kollege Michelbach hat die Rolle, über die angeblich
schlechte Behandlung des Mittelstandes zu klagen, so gut
drauf, dass Sie ihm in dieser Hinsicht keine Konkurrenz
machen sollten.
({1})
Das schadet auch Ihrem Ansehen. Ich kann allerdings verstehen, dass Sie darüber traurig sind und dass es Sie ärgert, dass die Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition mehr und mehr Zustimmung gerade
auch im Mittelstand findet.
({2})
Die deutsche Wirtschaft befindet sich seit 1999 wieder
in einer Phase des konjunkturellen Aufschwungs. Das
ist die Kernaussage des Gemeinschaftsgutachtens der
sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das jetzt
vorgelegt wurde.
({3})
Herr Kollege Rauen und Herr Kollege Brüderle, wenn
man Ihre Reden hört, hat man den Eindruck: Das tut Ihnen richtig Leid.
({4})
Bei Ihnen, Herr Kollege Brüderle, schwingt noch ein
bisschen die nostalgische Erinnerung an den Wirtschaftsminister Rexrodt mit, der seine Rolle so verstanden hat,
den Standort Deutschland immer madig zu machen.
({5})
Jedes Mal, wenn der Mann in seiner amtlichen Funktion
im Deutschen Bundestag geredet hat, hat er die Reformunfähigkeit in Deutschland beklagt. Solange er mit in der
Regierung saß, hatte er sogar Recht.
({6})
Es hat sich inzwischen eine Menge getan, und das hat
eben auch mit der Politik zu tun. Das heißt, der politische
Hintergrund, den der Aufschwung bzw. der Wachstumsprozess benötigen, ist inzwischen wieder vorhanden.
Die Institute heben insbesondere hervor, dass der Aufschwung an Breite gewonnen hat. Nicht mehr nur die
Auslandsnachfrage trägt den Aufschwung. Vielmehr haben neben dem Export, der auch weiterhin eine Auftriebskraft darstellt, insbesondere die Investitionen, vor
allem die Ausrüstungsinvestitionen, zugenommen. Das ist
das klassische Muster eines erfolgreichen konjunkturellen
Prozesses, ausgelöst durch die starke Konkurrenzfähigkeit.
({7})
Auf internationaler Ebene nimmt die Stärke der deutschen
Wirtschaft zu. Sie zieht mit eigenen Investitionen, inzwischen übrigens auch mit Erweiterungsinvestitionen, nach
und schafft neue Arbeitsplätze sowie neue Kapazitäten.
Das strahlt auf die Massenkaufkraft der Beschäftigten
aus.
Eine Sache haben Sie die ganze Zeit über angemahnt,
aber nie erreicht: Wir befinden uns jetzt endlich wieder in
der Situation, dass ein Anstieg der Bruttolöhne und
-gehälter nicht durch wachsende Abgaben und durch
Lohnsteuerbelastungen kaputtgemacht wird.
({8})
- Frau Wöhrl, hören Sie einmal zu. Wahrscheinlich hatten
Sie bei der Vorbereitung Ihrer Rede keine Zeit, in das
Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute hineinzuschauen.
({9})
Sie sollten es einmal nachlesen. Einen wirklich schönen
Hinweis werden Sie
({10})
- doch, doch, ich finde ihn schon - auf Seite 50 der jetzigen Fassung finden:
Im kommenden Jahr werden von der Verringerung
der Abgabenbelastung, insbesondere von der Einkommensteuerreform, spürbare Impulse auf den privaten Konsum ausgehen.
({11})
Die Bruttolöhne und -gehälter werden mit 3,3 Prozent im gleichen Tempo wie im Vorjahr, die Nettolöhne und -gehälter wegen der Steuerentlastung
mit 5,3 Prozent deutlich kräftiger zunehmen.
Das haben wir immer gewollt.
({12})
Es ist völlig in Ordnung, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute darauf mit aller Deutlichkeit hinweisen.
Die Politik spielt in der Wirtschaft eine Rolle. Wirtschaft
findet eben nicht nur in der Wirtschaft statt, wie die F.D.P.
glauben machen wollte. Zu ihr gehört vielmehr auch der
richtige politische Rahmen. Man kann sich eben nicht davonstehlen, wie Sie das immer wollten.
({13})
- Das haben Sie aber immer gepredigt. - Wir machen in
Deutschland jetzt eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die
dem Wachstumsprozess hilft und inzwischen auch zu einer Zunahme der Beschäftigung führt. Das schlägt sich
nicht nur in steigender Produktion nieder, sondern auch in
steigender Beschäftigung und sinkender Arbeitslosigkeit.
Noch immer haben wir zu viele Arbeitslose in Deutschland. Aber Schritt für Schritt sinkt die Arbeitslosigkeit und
steigt die Beschäftigung.
Herr Kollege Uldall meinte, darauf hinweisen zu müssen, geringfügig Beschäftigte würden in den statistischen Erhebungen anders behandelt als vorher. Das trifft
zu. Aber der Kern ist ein anderer Punkt: Geringfügig Beschäftigte werden nicht nur in der Statistik, sondern auch
in der Realität anders behandelt. Das, was Sie jahrelang
befürwortet oder zumindest hingenommen haben,
({14})
nämlich dass normale versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Billigjobs umgewandelt wurden, das
haben wir zurückgedreht. Auch für Beschäftigte mit geringem Arbeitsumfang haben wir eine anständige soziale
Sicherung geschaffen.
({15})
Ein paar Worte noch zur Wirkung der Steuerreform auf
die Unternehmen, und zwar insbesondere mit Blick auf
Ostdeutschland. Bei aller Freude, die wir über die Zunahme der Beschäftigung und den Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland insgesamt empfinden, ist darauf
hinzuweisen, dass sich der auf dem Arbeitsmarkt festzustellende Erholungsprozess bisher in Ostdeutschland
kaum gezeigt hat. Das liegt insbesondere daran, dass dort
nach wie vor die Produktivität der Betriebe geringer ist.
Die Lücke ist in vielen Bereichen geringer geworden.
Auch die ostdeutschen Unternehmen nehmen inzwischen am Exportwachstum teil. Insgesamt aber bleibt
eine Lücke. Deswegen ist gerade unsere Steuerreform,
die die Inves-titionskraft der Unternehmen stärkt und die
den Gewinn, der im eigenen Unternehmen bleibt, steuerlich deutlich geringer belastet, eine wesentliche
Voraussetzung für den weiteren Erholungsprozess in
Ostdeutschland.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
weiß, dass Ihnen das nicht schmeckt, denn Sie konnten
solch gute Ergebnisse nie vorweisen. Das Herbstgutachten der Institute ist eine volle Bestätigung unserer Politik.
Vielen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/4076.
Der Ausschuss empfiehlt unter Ziffer 1 seiner Beschlussempfehlung, den Jahreswirtschaftsbericht 2000 der Bundesregierung auf Drucksache 14/2611 zur Kenntnis zu
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Ziffer 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2721 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe!
- Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist diese
Beschlussempfehlung angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Günther Friedrich
Nolting, Hildebrecht Braun ({0}), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 14/1728 ({2}) ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({4})
- Drucksache 14/4420 Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier
Volker Beck ({5})
Sabine Jünger
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({6})
- Drucksache 14/4380 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({8})
- Drucksache 14/4420 Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier
Volker Beck ({9})
Sabine Jünger
Ich weise darauf hin, dass über den zuletzt genannten
Gesetzentwurf namentlich abgestimmt werden soll.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, was eine einzige Frau alles bewegen kann: Erinnern wir uns an Tanja Kreil, die sich 1996 bei der
Bundeswehr für den Bereich „Instandsetzung von Waffensystemen“ beworben hatte. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt mit dem Hinweis auf Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 des
Grundgesetzes. Demzufolge war Frauen lediglich der Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst offen. Ansonsten waren sie vom Dienst mit der Waffe, auch dem freiwilligen, ausgeschlossen.
Der Europäische Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung vom 11. Januar 2000 fest, dass dieser allgemeine
Ausschluss der Frauen vom Dienst mit der Waffe gegen
die europäische Gleichstellungsrichtlinie vom 9. Februar
1976 verstößt. Daran haben wir uns zu halten.
Der Verteidigungsminister hat bereits entsprechend
reagiert. Durch eine Änderung des Soldatengesetzes
und der Laufbahnverordnung ist es jetzt den Frauen möglich, sich freiwillig für den Dienst mit der Waffe in der
Bundeswehr zu bewerben.
Nun gilt es noch zu klären, ob über diese einfachgesetzliche Regelung hinaus auch eine Änderung des
Grundgesetzes erforderlich ist. Die F.D.P. ist dieser Ansicht und hat bereits im Oktober 1999 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Streichung des Satzes 2 in Art. 12 a
Abs. 4 des Grundgesetzes vorsieht. Der Wortlaut dieses
Satzes - „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe
leisten.“ - begründete das generelle Verbot für Frauen,
Dienst an der Waffe zu leisten.
Es stellt sich hier jedoch nach wie vor die Frage: Wer
sind „sie“? Da diese Formulierung im Abs. 4 als Satz 2
steht, kann sie sich für den unbefangenen Betrachter eigentlich nur auf Satz 1, also auf die dort erwähnten
zwangsverpflichteten Frauen im Verteidigungsfall, beziehen.
Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des
Grundgesetzartikels zur Wehrpflicht der Männer ist dieses Waffendienstverbot aber lange Zeit auf alle Frauen
schlechthin bezogen worden. Zwischenzeitlich hat sich
das gesellschaftliche Bewusstsein gewandelt. Der Ausschluss von Frauen, die freiwillig Dienst mit der Waffe
leisten wollen, wird als Verstoß gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau angesehen. So haben schon
seit längerem namhafte Rechtsexperten diesem Artikel
eine frauenfreundliche Interpretation gegeben und ihm
nur noch das Waffendienstverbot für dienstverpflichtete
Frauen entnommen, nicht aber das Verbot des freiwilligen
Waffendienstes aller Frauen. Die Anhörung der Sachverständigen am 23. Februar 2000 hat dies im Wesentlichen
bestätigt.
Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zwingt nicht zu einer Grundgesetzänderung. Europarecht ist zweifelsfrei höherrangiges Recht und bei der
Auslegung des Art. 12 a GG entsprechend anzuwenden.
Bei Zugrundelegung der dargelegten Interpretation des
Art. 12 a GG wären die Anforderungen des EuGH erfüllt
gewesen. Die Neuauslegung entspräche auch viel eher einem unbefangenen Textverständnis als die bisherige enge
Auffassung. Die Verfassung würde also nicht missverständlicher, wenn Art. 12 a GG unverändert bliebe, sodass
es meines Erachtens auch im Sinne einer Klarstellung keiner Grundgesetzänderung bedarf.
({0})
Dies war die Auffassung der Regierungskoalition und es
war auch meine Auffassung. Es war jedoch nicht die Auffassung der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion; das ist
zuzugestehen.
Um ihre Ansicht durchzudrücken, verlangten die beiden Oppositionsfraktionen ein Koppelgeschäft mit Art. 16
GG.
({1})
Bei der Änderung des Art. 16 GG geht es darum, dass
künftig unter bestimmten Voraussetzungen auch deutsche
Staatsbürger aus der Bundesrepublik ausgeliefert werden
können. Dies war lange Zeit vollkommen unstrittig, nämlich so lange, bis CDU/CSU und F.D.P. das Mittel der
Nötigung entdeckten
({2})
und ihre Zustimmung zur Änderung des Art. 16 davon abhängig machten, dass die Koalitionsfraktionen einer Änderung von Art. 12 a zustimmen.
({3})
- Aber ohne Vorsatz, wie ich hoffe.
Dieses Junktim war und ist für mich nicht nachvollziehbar und wird dem Anliegen auch nicht gerecht. So
kann man meines Erachtens mit Verfassungsänderungen
nicht umgehen.
({4})
Unser Grundgesetz ist eine allgemein gültige Rechtsnorm
und sollte nicht Gegenstand von Streitereien sein.
Der nach langem Ringen gefundene parteienübergreifende Konsens sieht jetzt die folgende Neuformulierung
für Satz 2 vor:
Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe
verpflichtet werden.
Dieser Kompromiss ermöglicht zum einen den Frauen
den freiwilligen Zugang zur Bundeswehr in allen Bereichen und schließt zum anderen aus, dass Frauen einer
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wehrpflicht unterliegen. Dies entspricht im Ergebnis sicherlich dem politischen Willen aller Fraktionen dieses
Hauses.
Im Sinne einer parteienübergreifenden Einigung stimmen wir der gefundenen Formulierung zu.
({5})
Jetzt erteile ich Professor Dr. Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau BrandtElsweier, das Wort „Nötigung“, das Sie eben benutzt
haben - mir steht es nicht zu, die Präsidentin wegen Unterlassung zu kritisieren -, war eine schlichte Unverschämtheit.
({0})
Es war auch wirklich unnötig, denn das Entscheidende ist:
Wir sind in diesem Hause in der Sache einig,
({1})
dass der freiwillige Dienst von Frauen an der Waffe künftig zu ermöglichen ist. Darüber besteht Einigkeit.
Einigkeit bestand - nun sehe ich: bei Ihnen immer noch
nicht - darüber nicht, ob dies einer Verfassungsänderung
bedarf. Ich finde es erstaunlich, dass Sie nun wieder die
Position vertreten haben, dass es keiner Verfassungsänderung bedürfe. Sie haben das Urteil des EuGH zitiert. Sie
vergessen aber, deutsche Gerichte zu zitieren. Sie vergessen, das Bundesverfassungsgericht und auch das Bundesverwaltungsgericht zu zitieren, das noch 1999 ganz klargestellt hat, dass auch der freiwillige Dienst an der Waffe
für Frauen nach der geltenden Fassung des Art. 12 a Abs. 4
Satz 2 des GG ausgeschlossen ist. Das ist dann mit Recht
Staatspraxis geworden. Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 war eine
Schutznorm für Frauen, auf der Grundlage trauriger Erfahrungen, die wir vor allem unter dem nationalsozialistischen Regime gegen Ende des Zweiten Weltkriegs machen mussten.
Das gesellschaftliche Bewusstsein in dieser Frage hat
sich in der Tat geändert. Ich denke, es hat sich mit Recht
geändert. Unsere Bundeswehr ist heute integraler Bestandteil unserer Gesellschaft; der Bürger in Uniform ist
integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Das führt
dazu, dass auch die Bürgerin in Uniform berechtigter integraler Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft
sein muss.
({2})
Das ist eine klare Ausgangssituation, die es nun rechtlich umzusetzen gilt. Sie haben zunächst geglaubt, Sie
könnten das mit dem Federstrich des Gesetzgebers auf
einfachgesetzlicher Ebene über das Soldatengesetz machen. Damit wären Sie wiederum in einen massiven Gegensatz vor allem zur höchstrichterlichen Rechtsprechung
geraten.
({3})
Das Feld, um das es hier geht, ist sehr sensibel. Denken Sie einmal an den Ernstfall, daran, wenn eine Frau
wirklich einmal in den Krieg muss. Das wünscht man niemandem, weder einem jungen Mann noch einer jungen
Frau; aber das ist die Konsequenz. Da geht es um eine
Fürsorgepflicht, die nicht nur dieses Haus, sondern jedermann hat. Wollen Sie eine Frau auf einer ungewissen
rechtlichen Grundlage in einen bewaffneten Einsatz
schicken?
({4})
- Eben, das wäre das Schlimmste, Frau von Renesse.
({5})
Deshalb bedarf es auch insoweit der Verfassungsänderung. Dabei handelt es sich um eine konstitutive Verfassungsänderung. Es ist gut, dass wir diese im Ergebnis
heute gemeinsam vornehmen.
Über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in
dem Falle Tanja Kreil sollten wir nicht sonderlich streiten.
Man mag dieses Urteil begrüßen, man mag es kritisieren.
Eines steht auf jeden Fall fest: Dieses Urteil beinhaltet einen eindeutigen Kompetenzverstoß des Europäischen Gerichtshofs. Er hat sich unter Berufung auf die Gleichbehandlungsrichtlinie auf ein Entscheidungsfeld gewagt,
das nicht zu den Zuständigkeiten der Europäischen Union
gehört, nämlich das Feld der Sicherheitspolitik, der Streitkräftestrukturen. Das geht auch nicht über die Gleichbehandlungsrichtlinie.
({6})
Denken wir an unsere Debatte zur Europäischen Grundrechte-Charta zurück. Damals ist in diesem Haus einhellig begrüßt worden, dass in Art. 49 der Europäischen
Grundrechte-Charta steht, dass diese nicht zur Begründung neuer Kompetenzen dienen darf. Die Gleichbehandlungsrichtlinie begründet letztlich den Gleichbehandlungsgrundsatz und damit ein Grundrecht. Der
Europäische Gerichtshof hat damit etwas getan - was
auch jetzt mit der Grundrechte-Charta bescheinigt wird -,
was nicht statthaft war. Also bildet auch dieses Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für dieses schwierige und
- ich betone es noch einmal - sehr sensible Feld ganz eindeutig keine tragfähige Rechtsgrundlage.
Deshalb ist es nicht nur verfassungspolitisch richtig,
sondern auch verfassungsrechtlich richtig, dass Sie, die
Koalition, den Kurs aufgenommen haben, den wir und die
F.D.P. eingeschlagen haben, wobei ich ganz ausdrücklich
hervorheben möchte: Die F.D.P. hat bereits vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine entsprechende
Verfassungsänderungsinitiative eingebracht.
({7})
Ich möchte noch einmal zurückblicken. Das Thema der
Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit einer solchen
Verfassungsänderung, durch die den Frauen der freiwillige Dienst an der Waffe ermöglicht wird, ist schon ziemlich lange in der Diskussion, gerade in der Union. Ich darf
an die viel zu früh verstorbene Kollegin Michaela
Geiger, frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium und dann Vizepräsidentin des
Deutschen Bundestages, erinnern. Sie hat dieses Thema
schon damals mit großem Nachdruck und großer Überzeugungskraft vertreten. Auch das sollte man in einer solchen Stunde nicht vergessen.
Die Stimmen und das Werben für diese Änderung sind
alt, aber heute ist der Tag, an dem dieses Thema nun in der
richtigen Form - mit einer entsprechenden Verfassungsänderung - abgeschlossen wird. Diese Verfassungsänderung ist im Konsens erreicht worden.
Noch einmal, Frau Brandt-Elsweier: Man sollte nicht
wie Sie mit Vokabeln arbeiten, mit denen man im Grunde
diesen Diskussionsprozess, den wir gemeinsam geführt
haben, diskreditiert. Das war bedauerlich.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Entwurf stärken wir die Berufsfreiheit in
Deutschland. Wir beenden ein Stück Diskriminierung von
Frauen im Berufsleben und schaffen hierfür zugleich die
notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in der
Verfassung.
Frauen werden künftig auf freiwilliger Basis in allen
Bereichen der Streitkräfte, auch an der Waffe, Dienst leisten können. Die Verfassung jedenfalls legt ihnen ab dem
heutigen Tag keine Steine mehr in den Weg. Verfassungsrechtliche Bedenken, die es aufgrund einer unklaren
Rechtslage gab, werden mit dem vorliegenden Entwurf
ausgeräumt.
({0})
Meine Damen und Herren, der Europäische Gerichtshof hat im Januar dieses Jahres im Fall der Anlagenelektronikerin Tanja Kreil zu Recht gerügt, dass den Frauen in
Deutschland bislang bei der Bundeswehr nur der Zugang
zum Sanitäts- und Militärmusikdienst erlaubt ist. Dieser
Verstoß gegen die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie gehört jetzt in Deutschland der Vergangenheit an.
Frauen werden künftig alle beruflichen Chancen und
Möglichkeiten bei der Bundeswehr haben. Die hierfür erforderlichen Änderungen im Soldatengesetz hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht.
Mit dieser Grundgesetzänderung erledigt sich endlich
der leidige Expertenstreit darüber, ob der bisherige Satz 2
des Art. 12 a Abs. 4 GG auch den freiwilligen Waffendienst von Frauen mit verbietet. Eine Interpretation in
diesem Sinne, wie sie übrigens vom überwiegenden juristischen Schrifttum und auch vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung geteilt wurde
({1})
und wie es auch jahrzehntelang deutsche Staatspraxis in
diesem Bereich war,
({2})
wäre mit dem Judikat des Europäischen Gerichtshofs ohnehin nicht mehr zu vereinbaren gewesen. Jetzt aber widerspricht sie eindeutig unserer Verfassung.
Meine Damen und Herren, ich habe mich von Anfang
an - wie auch meine Kollegin, die verteidigungspolitische Sprecherin aus unserer Fraktion - für eine solche
verfassungsrechtliche Klarstellung ausgesprochen und
gegen eine bloße gemeinschaftskonforme Auslegung des
Grundgesetzes. Die Rechtslage ist jetzt eindeutig und das
ist gut so. Es drohen keine Gerichtsurteile, die den Freiwilligendienst von Frauen für verfassungswidrig erachten. Wir schaffen Rechtssicherheit, die wir den Bürgern - in diesem Fall, besser gesagt, den Bürgerinnen schuldig sind.
Diese Gesetzesänderung ist übrigens auch rechtspolitisch vernünftig, so wie wir sie gemacht haben, denn ich
halte nichts von einer schleichenden Uminterpretation des
Grundgesetzes, nur weil es uns gerade opportun zu sein
scheint.
({3})
Beabsichtigt hatte der Gesetzgeber damals, dass
Frauen weder aufgrund freiwilliger Meldung noch aufgrund gesetzlichen Zwanges zu einem Dienst mit der
Waffe herangezogen werden durften. Ich möchte Sie an
die Worte der damaligen Berichterstatterin erinnern - ich
zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus der 132. Sitzung
des Deutschen Bundestages der 2. Legislaturperiode vom
6. März 1956 -: Es komme darauf an, so hieß es damals,
dass mit programmatischem Nachdruck im Grundgesetz
ausgesprochen wird, dass unsere Auffassung von der Natur und der Bestimmung der Frau einen Dienst mit der
Waffe verbietet. - Soweit das Zitat. Man merkt, seitdem
sind doch einige Dinge ins Land gegangen. Ich freue mich
darüber, dass diese heutige Grundgesetzänderung auf eine
breite, parteiübergreifende Zustimmung stößt.
Das war ja nicht immer so. Ich erinnere mich noch recht
gut daran, dass der Unionskollege im Rechtsausschuss,
Herr Scholz, seinerzeit noch die Auffassung vertrat - annäherungsweise hat er das heute ja wieder getan -, dass die
europäische Gleichbehandlungsrichtlinie auf den nationalen militärischen Bereich überhaupt keine Anwendung
findet. Das war damals ja nicht nur eine juristische Position, sondern es war vom Kollegen Scholz eben auch in
der Sache nicht gewollt, zum letzten Mal nachzulesen in
der „FAZ“ vom 22. Juli 1999.
Meine Damen und Herren, die heutige Verfassungsänderung öffnet die Bundeswehr für die Frauen, sie führt
aber nicht zu einer Wehrpflicht der Frauen. Das sei noch
einmal an alle gesagt, die die Befürchtung haben, mit dieser Grundgesetzänderung verbänden sich auch ganz andere Dinge und Möglichkeiten. Das ist auch gut so; denn
wir vom Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Ausweitung der Zwangsdienste, sondern deren Abschaffung.
({4})
Natürlich drängt sich jetzt die Frage auf, ob die bestehende einseitige Wehrpflicht für Männer verfassungsrechtlich noch zulässig und vernünftig ist. Italien hat in
dieser Woche eine nach meiner Überzeugung richtige
Entscheidung getroffen. Dort hat man die Armee für
Frauen geöffnet und sich zugleich von der Wehrpflicht für
Männer verabschiedet.
({5})
Damit verzichtet mittlerweile mehr als die Hälfte der
NATO-Staaten, einschließlich der USA, Großbritannien
und Frankreich, auf die zwangsweise Heranziehung junger Männer in Friedenszeiten.
Dieser konsequente Weg hin zu einer Berufsarmee
steht Deutschland noch bevor; das bestätigen die Zahlen
der Weizsäcker-Kommission. Die heute zu beschließende Grundgesetzänderung kann somit auch als Anfang
und bereits als Bestandteil einer umfassenden Reform
der Bundeswehr angesehen werden.
Meine Damen und Herren, ich will zum Schluss noch
einige Missverständnisse ausräumen, die es im Vorfeld
der heutigen Debatte in verschiedenen Fraktionen und
Ausschüssen gegeben hat. Es sei noch einmal betont, dass
die Klarstellung in Art. 12 a GG zu keinerlei Nachteilen
für die betroffenen Frauen führt. Sie schränkt lediglich
ein, dass Frauen, die im Kriegsfall zum Zwangsdienst herangezogen werden, nicht zum Dienst mit Waffen verpflichtet werden dürfen. Für diesen Fall bleibt das Verpflichtungsverbot erhalten.
Das ist wichtig und richtig und macht auch den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Vorschlag der F.D.P.Fraktion aus, die diesen Satz ursprünglich einfach streichen wollte. Dann aber hätte man sich fragen müssen:
Wollte der Gesetzgeber mit der Streichung des Satzes 2
zum Ausdruck bringen, dass man Frauen im Rahmen der
Zwangsdienste auch zum Waffendienst verpflichten darf
oder nicht? Wir haben jetzt eine viel saubere und rechtsklarere Lösung gefunden.
Für Frauen, die sich freiwillig in den Dienst der Bundeswehr begeben, hat diese Grundgesetzänderung keine
weitere, die Praxis einschränkende Bedeutung; denn für
sie ist allein ihr Dienstvertrag maßgeblich. Um es einfach
zu formulieren: Wer sich selber verpflichtet hat, kann
nicht mehr verpflichtet werden, weil er bereits verpflichtet ist.
Einstellungen und Beförderungen werden sich künftig
ausschließlich nach dem beamtenrechtlichen Leistungsprinzip in Art. 33 Abs. 2 GG, der persönlichen Eignung
und Qualifikation, richten. Nur für Frauen, die aufgrund
der in Art. 12 a Abs. 4 Satz 1 GG skizzierten Notlage zum
Dienst herangezogen werden, gilt das Verbot. Wir leisten
den Frauen und der Rechtsklarheit einen guten Dienst,
wenn wir diese Grundgesetzänderung heute einvernehmlich beschließen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({6})
Als Nächster hat der
Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion freut sich heute in besonderem Maße; denn wir waren die erste Partei, die sich dafür ausgesprochen hat, den
Frauen den gleichberechtigten Zugang zur Bundeswehr
zu ermöglichen.
({0})
Wir waren auch die erste und einzige Fraktion, die einen
entsprechenden Antrag dazu in den Bundestag eingebracht hat.
In dieser Debatte war schon die Rede davon, dass manches konservatives Vorurteil zu überwinden war. Aber
auch die andere Seite musste sich bewegen. Ich kann mich
noch daran erinnern, dass vor wenigen Jahren die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen ganz heftig gegen das Anliegen der F.D.P. polemisiert hat, indem sie
sagte: Wenn der Dienst der Bundeswehr für die Frauen
geöffnet wird, dann kommt es zu einer Militarisierung der
Gesellschaft. - Ich bin froh, dass wir heute weiter sind.
({1})
Heute ist ein Tag, auf den nicht nur die Frauen, sondern
wir alle stolz sein können; denn heute fällt das letzte geschlechtsspezifische Berufsverbot in der Verfassung. Ich
denke, dies ist gut so.
Sie wissen, dass ich hier nicht nur als Berichterstatter
der F.D.P.-Bundestagsfraktion spreche. Wir haben immer
die Notwendigkeit gesehen, dass es hier zu einer Verfassungsänderung kommen muss. Die Verfassung muss klar
sein. Der bisherige Satz „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst
mit der Waffe leisten“ war klar und eindeutig. Es musste
hier eine Änderung erfolgen, um sicherzustellen, dass der
Dienst der Frauen in der Bundeswehr eine eindeutige und
klare verfassungsrechtliche Grundlage hat. Das war übrigens auch das Ergebnis der Anhörung. Die meisten
Sachverständigen haben uns dringend geraten, eine solche Verfassungsänderung vorzunehmen.
Viele wissen, dass ich regelmäßig Dienst in der Bundeswehr tue.
({2})
Als Brigadekommandeur, der ich dann bin, bin ich damit
häufig auch Vorgesetzter von vielen Frauen. Mir ist immer
wieder begegnet, dass junge Frauen in der Bundeswehr
zum Beispiel gesagt haben: Ich möchte Panzerkommandantin, ich möchte Zugführerin eines PanzergrenadierVolker Beck ({3})
zugs sein. Nur weil ich Soldat sein wollte, bin ich in die
Sanitätstruppe eingetreten.
Es ist gut, dass diese Frauen ihrem Berufswunsch jetzt
auch Folge leisten können.
({4})
Deshalb sagt die F.D.P.-Bundestagsfraktion ein klares Ja
zu dieser Verfassungsänderung.
Wir teilen übrigens nicht die Kritik, die der Kollege
Professor Scholz gegen das Urteil auf der europäischen
Ebene vorgebracht hat. Wir sind der Auffassung, dass die
Befugnis dazu durchaus bestand. Aber wir hätten uns gewünscht, dass es einen Änderungsantrag zu dem ursprünglichen F.D.P.-Antrag gegeben hätte. Das hätte nämlich
deutlich gemacht, dass wir uns nicht dem Urteil des europäischen Gerichts beugen, sondern aus eigener Initiative
zu einer neuen Bewertung gekommen sind.
Es sind leider die Grünen gewesen, die uns dazu gezwungen haben. Das war das kleinste politische Karo, das
wir nach vielen Verhandlungen erreicht haben. Ich denke,
das war dieser Sache nicht angemessen.
({5})
Frau Kollegin Brandt-Elsweier, ich bin eigentlich traurig, dass Sie hier den Begriff „Nötigung“ verwandt haben.
Denn der Sprecher der Grünen hat ja deutlich gemacht,
({6})
dass es auch Auffassung der Grünen war, dass man zu einer Verfassungsänderung kommen musste. Wenn auch Ihr
Koalitionspartner das wollte, macht bereits das deutlich,
dass hier keine Nötigung stattfinden konnte. Deshalb sollten wir hier nicht solche Töne anschlagen,
({7})
sondern uns darüber freuen, dass wir gemeinsam für die
Frauen in unserem Land ein Stück vorangekommen sind.
Herzlichen Dank.
({8})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom Januar dieses Jahres geht es in der politischen Debatte längst nicht mehr um ein Pro und Kontra
Frauen in die Bundeswehr. Eine Vielzahl gutachterlicher
Interpretationen und die Debatte infolge des Urteilsspruchs haben gezeigt, dass die Umsetzung des Urteils,
das heißt die Ermöglichung des Zugangs von Frauen zur
Bundeswehr, eigentlich keine Grundgesetzänderung erforderlich macht. Die Diskussionen in dieser Woche auf
Fraktions- und Ausschussebene haben aber deutlich gemacht, wie kompliziert die Materie dennoch ist.
Fakt ist, dass die heute zur Abstimmung stehende Verfassungsänderung lediglich festschreiben wird, dass
Frauen im Verteidigungsfall nicht zum Dienst an der
Waffe verpflichtet werden können. Dagegen ist nichts zu
sagen. Deshalb werden die Abgeordneten der PDS auch
nicht gegen die Verfassungsänderung stimmen.
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Debatte und Abstimmung findet nicht im luftleeren Raum
statt. Sie ist in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext
eingebettet. Der Weg für Frauen in die kämpfenden Einheiten der Bundeswehr ist nun frei. Daran führt kein Weg
vorbei. Das ist unsere gemeinsame Geschäftsgrundlage.
Doch stellt sich die Frage, ob wir damit der Emanzipation von Frauen tatsächlich näher kommen. Schreitet
die Militarisierung der Gesellschaft voran, wenn jetzt
auch Frauen kämpfende Soldatinnen werden? Diese Fragen werden auch in meiner Fraktion durchaus kontrovers
diskutiert.
Die PDS ist eine Antikriegspartei, die sich für eine
grundlegende Reform der Bundeswehr ausspricht. Wir
fordern, die Bundeswehr auf ihre defensive Aufgabe der
Landesverteidigung zu beschränken und den Personalbestand auf 100 000 zu reduzieren. Wir wollen die
Wehrpflicht abschaffen und eine Freiwilligenarmee. Ein
entsprechender Antrag liegt in den Ausschüssen zur
Beratung vor.
Aus friedenspolitischen Gründen müssten wir diese
Verfassungsänderung eigentlich ablehnen,
({0})
denn sie führt weder zur Abschaffung der Wehrpflicht
noch zu einer Reduzierung der Bundeswehr. Im Gegenteil: Die Rekrutierungsbasis wird eher erweitert.
Für die PDS ist aber gleichzeitig die Gleichstellung
von Frauen und Männern ein zentrales politisches Ziel.
Wir wollen Frauen, die für sich die Entscheidung für die
Bundeswehr getroffen haben, den Zugang nicht verwehren und sie nicht bevormunden. Die Mehrheit der PDSFraktion wird sich deshalb bei der heutigen Abstimmung
der Stimme enthalten.
Ich will das auch aus feministischer Sicht begründen.
Ob die Öffnung des Waffendienstes in der Bundeswehr
für Frauen deren gesellschaftliche Diskriminierung verringert, bleibt mehr als zweifelhaft. Frauen haben bisher
formal den freien Zugang zu allen anderen Berufsfeldern.
Dennoch wird niemand ernsthaft behaupten wollen, sie
würden dort nicht diskriminiert. Allein die einschlägigen
Zahlen sprechen Bände. Formale Gleichstellung, liebe
Kolleginnen und Kollegen, schafft noch keine Gleichberechtigung. Es gibt einen Unterschied zwischen emanzipatorischer Politik, die auf größtmögliche Freiheitsrechte
aller Menschen zielt, und formaler Gleichstellungspolitik.
Feministischer Politik geht es darum, die Bürgerinnenund Bürgerrechte sowie die Freiheitsrechte jeder und jedes Einzelnen zu stärken.
Für den Bereich der internationalen Beziehungen und
für die Verteidigungspolitik heißt das, neue Wege zu finden, zum Beispiel durch den Auf- und Ausbau ziviler
Kräfte, die bei gewalttätigen innerstaatlichen oder internationalen Konflikten zur Regulierung eingesetzt werden.
Das können Einheiten mit Polizeicharakter sein, die notfalls - auch unter Einsatz von Waffen zum Selbstschutz den Boden für eine Konfliktregulierung bereiten. Das
können zivile Friedenskräfte sein, die bereits vor Ausbruch gewalttätiger Konfliktsituationen versuchen, diese
zu entschärfen und zu regulieren.
Wenn nun sämtliche Laufbahnen der Bundeswehr für
Frauen geöffnet werden, dann brauchen wir in der Konsequenz allerdings auch schnell verbindliche Frauenförderpläne für die Bundeswehr und einen effizienten Schutz
von Soldatinnen vor sexueller Belästigung. Wir sollten
hier die Erfahrungen von Frauen in Armeen anderer Länder berücksichtigen. Vor allem aber müssen wir das
Thema Wehrpflicht angehen. In einer für alle offenen
Bundeswehr nur die Männer zur Wehrpflicht heranzuziehen, widerspricht gleichstellungspolitischen Prinzipien. Deshalb muss die Wehrpflicht insgesamt weg. Wir
werden dazu in Kürze eine parlamentarische Initiative
starten.
({1})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir haben heute ein Jubiläum
zu feiern: Vor 25 Jahren, im Herbst 1975, wurden die ersten Soldatinnen der Bundeswehr eingestellt, zunächst als
Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnen und Veterinärmedizinerinnen im Offiziersrang, seit 1991 auch als
Unteroffiziere und Mannschaften im Sanitäts- und Militärmusikdienst.
Zurzeit dienen etwas 4 700 Frauen in unseren Streitkräften. Hinzu kommen rund 50 000 Frauen, die zivil in
der Bundeswehrverwaltung arbeiten; das sind mehr als
ein Drittel der Zivilbeschäftigten. Auch von den
5 000 jungen Leuten, die dort jährlich eine Ausbildung
absolvieren, sind mehr als ein Drittel weiblich. 200 Frauenbeauftragte sehen in allen Bereichen der Bundeswehr
nach dem Rechten. Frauen und Bundeswehr - das ist also
kein ganz neues Thema. Die Bundeswehr ist kein reiner
Männerverein, schon heute kein unberührtes Reservat des
Patriarchats mehr. Das ist gut so.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
vom 11. Januar 2000 werden nun ab Januar bzw. Juli 2001
die ersten Einstellungen von weiblichen Unteroffizieren,
Mannschaften und Offiziersanwärtern in allen Laufbahnen vorgenommen. Einschränkungen soll es nicht geben.
Auch KSK-Kämpferinnen, Fallschirmjägerinnen, Fernspäherinnen und Kampfschwimmerinnen sind möglich.
Franziska van Almsicks Karriere muss noch nicht vorbei
sein.
Die Bewerberlage ist gut. Relativ bestehen mehr
Frauen als Männer die Eignungstests. Das muss einen gar
nicht wundern, denn inzwischen machen in Deutschland
auch mehr Mädchen als Jungen Abitur. Die Bundeswehr
wird davon profitieren. Mittelfristig rechnet das Verteidigungsministerium mit einem Frauenanteil von 7 bis
10 Prozent am gesamten Bewerberaufkommen. Der Frauenanteil in den Streitkräften dürfte so langfristig auf die
10 Prozent zugehen. Damit liegen wir international im
oberen Feld.
Es ist übrigens interessant, welche militärischen Tätigkeitsbereiche bei den Bewerberinnen besonders beliebt
sind: Das sind der Stabsdienst und der fliegerische Dienst.
Wenn alles gut geht, dann kann in 30 Jahren der Inspekteur der Luftwaffe eine Frau sein. Vorher gibt es vielleicht
eine Inspekteurin des Sanitätswesens oder eine Verteidigungsministerin. Die Bundeswehr wird gewiss nicht die
Vorhut der Gleichstellung sein; aber sie geht mit der Zeit.
Wir wollen keine Quoten in der Bundeswehr. Es bleibt
bei Einstellungen, Verwendungen und Beförderungen
nach Eignung, Befähigung und Leistung. Es wird keine
gesonderten weiblichen Dienstgradbezeichnungen geben.
({0})
Gleichbehandlung mit männlichen Kameraden im täglichen Dienst muss die Leitlinie sein. Frauen werden, wie
schon jetzt die Soldatinnen des Sanitätsdienstes, an
Einsätzen der Bundeswehr im Ausland beteiligt sein, mit
allen Risiken und Gefahren.
In diesen Einsätzen können übrigens Fähigkeiten eine
Rolle spielen, die Frauen zusätzlich in die Bundeswehr
einbringen. Es kann durchaus konfliktdämpfend wirken,
wenn in einem muslimischem Umfeld beispielsweise Sicherheitskontrollen an Frauen nicht von männlichen, sondern von weiblichen Soldaten durchgeführt werden. Angesichts der Fülle von quasistaatlichen Funktionen, die
unsere Kontingente in den Friedenstruppen zu erfüllen
haben, böte das Zusammenwirken von Männern und
Frauen auch ein staatsbürgerliches Vorbild. Kurz: Die
Bundeswehr muss heute auf andere Einsätze als vor zehn
Jahren eingestellt sein. Dazu braucht sie zum Teil andere
Fähigkeiten. Frauen bringen solche anderen Fähigkeiten
mit.
Natürlich wird es nicht nur Gleichstellungsjubel, sondern auch Probleme geben, wenn künftig in allen Einheiten der Streitkräfte Frauen dienen werden. Frauen werden
auf sehr lange Sicht in der Bundeswehr in der Minderheit
sein. Die weibliche Minderheit in einem männerdominierten Umfeld sollte deshalb nie zu klein werden. Es sollten in einer Einheit besser vier oder fünf Soldatinnen als
eine einzelne sein.
({1})
Soldatinnen werden alle Benachteiligungen, denen
Frauen in der Gesellschaft heute ausgesetzt sind, auch in
der Bundeswehr sichtbar machen. Der Beruf des Soldaten
und der Soldatin ist kein Beruf wie jeder andere; aber die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in jedem Beruf
ein Thema. Übrigens heißt das Thema nicht nur „Frau und
Beruf“, sondern genauso „Mann und Beruf“. Wir brauchen keine in besonderer Weise frauenfreundliche,
„durchfeminisierte“ Bundeswehr; vielmehr müssen wir
alles tun, damit unsere Gesellschaft familienfreundlicher
wird, sodass jeder Beruf für Frauen und Männer besser
mit dem Familienleben, das wir alle wollen, zu vereinbaren ist.
Dies können wir allerdings nicht durch eine Grundgesetzänderung erreichen. Dazu muss sich viel mehr ändern.
Die heutige Debatte ist auch ein Anlass, daran zu erinnern.
Schönen Dank.
({2})
Ich erteile nun der
Kollegin Irmgard Karwatzki, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter anderem der Mut
einer jungen Frau, Tanja Kreil, hat uns die heutige Debatte
beschert. Tanja Kreil hatte den Mut, vor den Europäischen
Gerichtshof zu gehen und die Klage in Bezug auf Gleichberechtigung von Frauen in der bisherigen Männerdomäne Bundeswehr einzureichen.
({0})
Die Möglichkeit, Frauen in allen Bereichen der Streitkräfte einzusetzen, wird in unserer Gesellschaft nach wie
vor kontrovers diskutiert. Frauen fürchten, Lückenbüßer
zu sein. Andere halten die Frau für die Rolle eines Soldaten für völlig ungeeignet. Manche Kritiker fürchten gar,
die Kampfkraft der Bundeswehr werde durch den Einsatz
von Frauen eingeschränkt. Sie vertreten die Auffassung,
bei einer Abwägung von Vor- und Nachteilen überwögen
die Nachteile. Ich gebe zu: Vor einigen Jahren war auch
ich dieser Meinung.
Insgesamt ist die gesellschaftliche Akzeptanz der
weiteren Öffnung der Streitkräfte für Frauen inzwischen
aber groß. Die Auffassung, dass Frauen ein Dienst an der
Waffe nicht zugemutet werden kann, hat mit der Realität
wenig zu tun. Viele von ihnen wollen den Sonderstatus,
den ihnen das Grundgesetz eingeräumt hat, nicht mehr.
Das Bild von Polizistinnen und Bundesgrenzschutzbeamtinnen, die Waffen tragen und auch zum eigenen Schutz
benutzen, ist für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Eben hat ein Kollege bereits gesagt - ich glaube, es war
Herr van Essen -, wir könnten eine große Gruppe nicht
etwa im Wege eines Berufsverbotes von vielen Tätigkeiten ausschließen.
({1})
Ich denke hier an die technisch anspruchsvollen Tätigkeiten, die die Bundeswehr bietet. Auch dürfen wir nicht
außer Acht lassen, dass die Bundeswehr attraktive Ausbildungsplätze stellt, zu denen Frauen bisher keinen Zugang hatten.
({2})
Wichtig ist mir auch der Aspekt, dass es den Frauen nicht
nur um eine gute Karriere in der Bundeswehr, sondern
auch um eine verantwortungsvolle Aufgabe geht, nämlich
die Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten.
Liebe Kollegen, ich weiß es zu schätzen, dass in den
Männern der „Beschützerinstinkt“ bei der Vorstellung erwacht, Frauen könnten im Rahmen von Kampfhandlungen gefangen genommen, vergewaltigt, misshandelt oder
sogar ermordet werden.
({3})
- Der Zwischenruf der Kollegin von Renesse ist richtig:
„Das können sie als Zivilistinnen auch.“ Aber wir behandeln hier einen ganz speziellen Bereich. - Ich möchte hinzufügen: Trotz allem wissen Frauen, die diesen Dienst
freiwillig leisten, dass sie beim Dienst an der Waffe ein
besonderes Risiko eingehen. Im Übrigen gilt dies auch für
Männer. Frauen und Männer sind im Kampfeinsatz gleichermaßen betroffen.
({4})
Eines möchte ich hier nachdrücklich sagen: Eine
Wehrpflicht für Frauen darf es nicht geben.
({5})
Frauen haben in Sachen Dienst an der Gesellschaft keinen
Nachholbedarf. Sie leisten ihre Arbeit in der Familie, bei
der Kindererziehung und im Ehrenamt, um nur einige
Aspekte zu nennen.
Bisher stand das Grundgesetz dem Dienst von Frauen
an der Waffe entgegen. Nach langen und eingehenden
Diskussionen haben wir heute die Möglichkeit, darüber
zu entscheiden. Der Gesetzgeber sorgt mit dieser Entscheidung für eine klare verfassungsrechtliche Grundlage. Wir sind uns einig - auch dies möchte ich an dieser
Stelle noch einmal ausdrücklich festhalten -, dass durch
diese Grundgesetzänderung Frauen der freiwillige Dienst
in den Streitkräften und damit auch an der Waffe ermöglicht wird. Nicht gewollt ist aber erstens, dass Frauen auch
Wehrdienst leisten müssen, und zweitens, dass etwa das
gesamte System der Wehrpflicht infrage gestellt wird.
Dies wollen wir nicht.
({6})
Es stellt sich nun die Frage: Was ändert sich dadurch
konkret für die Frauen? Es ist schon ausgeführt worden,
dass Frauen bisher nur im Sanitätsdienst und beim Militärmusikdienst arbeiten konnten. Zukünftig sind die
Streitkräfte in ihrer ganzen Vielfalt für den freiwilligen
Dienst von Frauen geöffnet. Alle Laufbahngruppen,
Laufbahnen und Tätigkeitsbereiche stehen ihnen offen.
Das heißt, dass sie in der Bundeswehr ab 2001 in allen
militärischen Laufbahnen, auch in jenen, die bisher als
ureigene Männerdomänen galten - Kampfjetpilot, Fallschirmjäger und Kampfschwimmer -, Dienst leisten.
Es ist für mich außerordentlich wichtig zu erfahren, ob
das Bundesverteidigungsministerium überhaupt in der
Lage ist, den Frauen, die ab dem 1. Januar 2001 in der
Bundeswehr den Dienst leisten wollen, entsprechend
ihren Wünschen Plätze anzubieten.
Ich will einen weiteren Punkt anmerken. Auch wenn
die Dienstleistung von Frauen in den Streitkräften gesellschaftlich zunehmend auf Akzeptanz stößt und die Frauen
rechtlich dieselben Karrierechancen wie Männer haben,
so sieht die Praxis dennoch anders aus. Das hängt damit
zusammen, dass Frauen in vielen Armeen von Kampffunktionen und Kampfeinsätzen fern gehalten werden.
Sie üben eher die weniger prestigeträchtigen und damit
karrierefeindlichen „Zuliefererjobs“ aus. Ein Problem ist
dabei aber sicherlich auch die Tatsache, dass in der männlich dominierten Welt des Militärs die Anerkennung von
weiblichen Vorgesetzten und Truppenführern schwer
fällt.
Lassen Sie mich abschließend anmerken: Ich hoffe,
dass die Auffassung der Frauenbeauftragten des Bundesministeriums der Verteidigung, die gesagt hat - ich zitiere
sie gerne -: „Frauen von heute treffen auf Männer von
gestern“, bald überholt sein wird. Ich persönlich bin sehr
gespannt, wie sich unsere heutige Entscheidung auf die
Perspektive von Frauen in der Bundeswehr und in unserer Gesellschaft auswirken wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Jetzt hat die Kollegin
Margot von Renesse, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Jahre meines
Lebens war ich Schülerin eines katholischen Mädchengymnasiums in Münster, das sich den Namen der Annette
von Droste-Hülshoff zugelegt hat. Da wir von ihr viele
Gedichte gelernt haben, ist mir bekannt - ich teile es Ihnen hier wahrscheinlich zu Ihrer Überraschung mit -, dass
Annette eine Vorkämpferin von Tanja Kreil und des
EuGH war.
Ich habe von ihr ein Gedicht gelernt, dessen letzte Strophe ich Ihnen teilweise zitieren möchte. Sie müssen sich
ein katholisches, unverheiratetes, ältliches Fräulein in
Westfalen vorstellen, das mit einer Schwester auf der
Meersburg lebt. Sie schaut aus ihrem Zimmer oben im
Turm auf den See und sehnt sich nach Freiheit. Die letzte
Strophe lautet wie folgt:
Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muss ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde, ...
Das war es, was Tanja Kreil und was den EuGH bewegt
hat.
({0})
Das war das Motiv: das Eingeschnürtsein, das das biedermeierliche Fräulein am eigenen Leibe massiv erfahren
musste und das Tanja Kreil von einem heiß ersehnten
Hightech-Beruf ausschloss, nur weil sie weiblichen Geschlechts war.
Aber der Beruf des Soldaten, wie ihn sich die Annette
oben auf der Meersburg ersehnt hat, schien nur Freiheit zu
sein. Er war damals die einzige Möglichkeit; für Tanja
Kreil ist das schon nicht mehr so. Hightech-Berufe stehen
Frauen heute Gott sei Dank offen. Wo es noch Hindernisse
gibt, sprechen Gerichte und Gesetze - Gott sei Dank!
Wer sich als Frau den Soldatenberuf erwünscht, als ein
Stück Freiheit, als „ein Stück nur von einem Soldaten“,
verkennt die ganz wichtige Beziehung dieses Berufs zur
Umwelt. Es ist kein Beruf wie der des Schreiners, des Arztes, des Lehrers, des Fleischers oder was weiß ich, sondern ein Beruf, dem eine Gewissensentscheidung zugrunde liegt. Es ist ein Beruf, der den Kombattantenstatus
nach sich zieht, das heißt, die Erlaubnis oder sogar den
Befehl zum Töten oder Sich-töten-Lassen.
Das bedeutet mehr als alles andere - Frau Karwatzki
hat es angedeutet -: Er schließt eine ganz besondere Verantwortung für sich und andere ein. Auf einer Kommandeurstagung haben mir einmal die Offiziere, mit denen ich
dort zu tun hatte, samt und sonders erklärt: Gewissen ist
etwas für den Wehrdienstverweigerer; es steht so im Gesetz. Die Bundeswehr ist die Normalität, da wird das Gewissen an den Gesetzgeber abgegeben. Der Gesetzgeber
ist das Gewissen.
Nein, es ist anders: Der Kombattantenstatus, wie wir
ihn aus den Kriegsrechtsordnungen kennen, ist immer
auch mit einer Gewissensentscheidung verbunden.
({1})
Herr Bartels hat es ganz deutlich gemacht: Gerade die
Einsätze in der heutigen Zeit, mit denen die Bundeswehr
ernsthaft zu rechnen hat, verlangen mehr als den Hightech-Könner, als den Technikfreak und allemal mehr als
den Rambo oder den Macho. Sie verlangen einen Menschen, der mit sich und anderen verantwortlich umgeht mit den eigenen Leuten und mit denen, denen man gegenübersteht und für die man ein Stück Staat, ein Stück
Rechtsstaat, ein Stück freiheitliche Demokratie repräsentiert.
Wenn Frauen hier mitmachen wollen, so werden sie
durch nichts daran gehindert;
({2})
aber sie sollten es genauso wenig wie Männer nach dem
Motto „Herausforderung Bundeswehr“ tun, mit dem die
Bundeswehr manchmal wirbt. Freiheit, Abenteuer und
Technik werden versprochen. Aber das ist keine gute Werbung.
({3})
Die Bundeswehr ist nicht das Dorado der Abenteurer,
schon gar nicht bei Einsätzen im Kosovo oder in Osttimor.
Sie ist vielmehr der Ort, an dem sich freiheitliche Demokratie, Verantwortung und Rechtsstaat zu bewähren haben.
({4})
Irmgard Karwatzk
Wenn Frauen dazu beitragen, umso besser. Wir kennen
dies von der Polizei, zu der Frauen zwar spät Zugang erhielten, in der sie aber schließlich doch sehr stark repräsentiert sind. Die Frauen haben die Polizei verändert. Ich
möchte nicht, dass die Bundeswehr die Frauen verändert,
bin aber sehr zufrieden, wenn die Frauen die Bundeswehr
verändern.
Danke!
({5})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung lie-
gen mir nach § 31 der Geschäftsordnung Erklärungen der
Kollegen Martin Hohmann1) und René Röspel2) sowie
mehrere Erklärungen von Kolleginnen und Kollegen der
PDS3) vor. Weiter liegen mir Erklärungen von Dr. Antje
Vollmer, Steffi Lemke und Franziska Eichstädt-Bohlig4)
vor.
Die Kollegin Christina Schenk möchte eine mündliche
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben.
Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, dass wir noch zwei namentliche Abstimmungen
haben werden.
Aber zunächst hat die Kollegin Christina Schenk das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich werde - im Unterschied zur
Mehrheit der PDS-Bundestagsfraktion - dem Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 12 a, zustimmen.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die
Aufhebung des Ausschlusses von Frauen vom freiwilligen Dienst an Waffen in der Bundeswehr erforderlich
macht, habe ich sehr begrüßt. Ich bin der Auffassung, dass
niemand wegen seines Geschlechts von Rechten ausgeschlossen werden darf, die andere Menschen haben. Das
bisherige Verbot für Frauen, in der Bundeswehr an Waffen Dienst zu tun - auch in Kampfverbänden -, ist eine
klare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die
gleiche Rechtsstellung von Frauen und Männern im Gesetz ist für mich eine der unabdingbaren Voraussetzungen
für die Abwesenheit von Diskriminierung.
Wird dieser Grundsatz - aus welchen Gründen auch
immer - zur Disposition gestellt, ist dies aus meiner Sicht
das Eingeständnis, dass man letztlich willkürliche Ausschlüsse oder Einschlüsse - Diskriminierungen also beibehalten will bzw. zumindest in Kauf zu nehmen bereit
ist. Insofern scheint mir die Haltung zu der Frage, ob
Frauen nunmehr Zugang zum freiwilligen Dienst in der
Armee unter alleiniger Berücksichtigung von Eignung,
Leistung und Befähigung bekommen sollen, im Zusammenhang mit dem Demokratieverständnis zu stehen.
Denn ohne konsequente Achtung des Prinzips „Gleichheit
im Recht“ sind für mich demokratische Verhältnisse nicht
vorstellbar.
Daher begrüße ich - ungeachtet meiner ablehnenden
Haltung zum Denken in militärischen Optionen und Kategorien im Allgemeinen und zur Bundeswehr und ihrem
in verteidigungspolitischen Richtlinien definierten Auftrag im Besonderen - alle Bemühungen, die rechtlichen
Rahmenbedingungen für einen freiwilligen Zugang von
Frauen zur Bundeswehr klarzustellen. Ich wünschte mir,
es gäbe keine Armeen, aber solange es sie gibt, muss der
Zugang unabhängig vom Geschlecht, von der Hautfarbe,
der sexuellen Orientierung oder der Religionszugehörigkeit möglich sein.
Ich begrüße es, dass es zu einer Klarstellung im
Grundgesetz kommt. Es täte der Autorität des Grundgesetzes nicht gut, nachdem mehr als 50 Jahre lang der letzte
Satz des Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz dergestalt interpretiert wurde, dass der Dienst von Frauen an Waffen ausgeschlossen ist, nun einfach erklären zu wollen, man hätte
sich auf eine neue Interpretation verständigt.
Ich bin weiterhin der Meinung, dass auch künftig ausgeschlossen bleiben muss, dass Frauen, die im Verteidigungsfall nach Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz dienstverpflichtet werden können, zum Dienst an Waffen
gezwungen werden. Dies wird durch die hier vorgeschlagene Änderung des Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz verdeutlicht. Ich stimme ihr daher zu.
Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen,
dass mit dem freiwilligen Zugang von Frauen zur Bundeswehr die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zwar verringert, nicht aber aufgehoben ist. Wollte
man hier Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz Rechnung tragen,
kann es nur eine Konsequenz geben: die Abschaffung der
Wehrpflicht. Dies steht für mich jetzt auf der Tagesordnung. In diesem Punkt bin ich mit meiner Fraktion wieder
einer Meinung.
Danke schön.
({0})
Nun kommen wir zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P.
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Art. 12 a des Grundgesetzes, Drucksache 14/4380. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4420 unter
Buchstabe a, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen ange-
nommen.
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
4) Anlage 5
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 des Grundgesetzes für ein Gesetz zur Änderung
des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der
Mitglieder des Bundestages, das heißt, mindestens
446 Stimmen, erforderlich ist. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
Abstimmung. -
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratung fort und kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 12 a des
Grundgesetzes, Drucksache 14/1728 ({0}). Der Rechts-
ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4420 unter Buch-
stabe b, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe!
- Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas
Disziplin; denn wir kommen jetzt zu den nächsten Punk-
ten der Tagesordnung. Das Beste wäre, wenn Sie alle Platz
nehmen und zuhören würden. Wer das nicht will, möge
sich bitte aus dem Saal begeben; Stehen ist nicht möglich.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 14/2668 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 14/4419 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({4})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Römischen Statut des Internationalen
Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 ({5})
- Drucksache 14/2682 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 14/4421 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({8})
Norbert Röttgen
Volker Beck ({9})
Dr. Evelyn Kenzler
Ich weise darauf hin, dass über den Gesetzentwurf zur
Änderung des Grundgesetzes namentlich abgestimmt
werden muss.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
Aussprache von einer Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind
Sie damit einverstanden? - Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Bundesjustizministerin, Frau
Professor Herta Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Tagen und in den vergangenen
Sitzungswochen hatte der Bundestag mehrfach Gelegenheit, die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte zu
betonen und über den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu beraten. In der vergangenen Sitzungswoche betraf das die Grundrechte-Charta der Europäischen Union.
Gestern haben wir über die Europäische Menschenrechtskonvention debattiert, über dieses einzigartige System
zum Schutz der Menschenrechte. Es war gut - lassen
Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen, sodass es auch
alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch reden, ganz
klar mitbekommen -, dass wir in diesen Fragen eine Gemeinsamkeit feststellen konnten, die sich deutlich und
wohltuend von den üblichen Unterschieden zwischen den
Parteien abhebt.
({0})
Heute nun, meine Damen und Herren, wollen wir einen
weiteren Schritt beschließen - auch den gemeinsam -:
Mit der Zustimmung zum Entwurf eines Gesetzes zum
Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
und zu dem damit verbundenen Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes schaffen
wir die Voraussetzungen für die Ratifizierung dieses Statuts durch die Bundesrepublik Deutschland.
Frau Ministerin, entschuldigen Sie bitte. Man gibt mir Signale, dass man Sie
nicht versteht.
({0})
- Ach so! Ich dachte schon, die Mikrofonanlage sei nicht
in Ordnung. - Die Möglichkeit der Präsidentin, für Ruhe
zu sorgen, ist begrenzt. Da wir aber ein wichtiges Thema
beraten und die Frau Justizministerin spricht, finde ich,
dass der Anstand es gebietet, dass Sie jetzt alle einmal
zuhören.
({1})
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Ergebnis Seite 12351 C
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich werde auch
nicht so laut reden müssen, wenn die Lautsprecheranlage
entsprechend aufgedreht wird. - Das wäre sehr freundlich.
({0})
Lassen Sie mich sagen, warum das heute ein ganz
wichtiger Schritt ist. Wir reihen uns mit dem Beschluss in
die Kette der bisher 22 Staaten ein, die die Ratifizierung
des Römischen Statuts schon vollzogen haben; darunter
befinden sich viele Mitgliedstaaten der EU. Wir haben im
außenpolitischen Bereich gerade in dieser Frage eine gewisse Vorbildfunktion für manch andere Staaten, übrigens
nicht zuletzt wegen der aktiven Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland - hier erwähne ich gerne unsere Vorgängerregierungen - bei den Verhandlungen über den Internationalen Strafgerichtshof gespielt hat.
Wir kommen mit dem heutigen Beschluss - ich glaube,
dessen sollten wir uns ganz bewusst sein - dem wirklich
tief greifenden, ja historischen Ereignis der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs ein gutes Stück
näher. Es wird zwar noch einige Zeit dauern - das wissen
wir -, bis die 60 Ratifizierungen wirklich vorliegen.
Wir können aber sagen: Der Internationale Strafgerichtshof rückt in greifbare Nähe. Wenn das Gericht seine
Arbeit aufnimmt, wird eine Forderung erfüllt, die seit
mehr als 100 Jahren mit zunehmender Dringlichkeit gestellt wurde.
({1})
Es ist die Forderung, dass schwerste völkerrechtliche Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen - das alles sind schwerste
Menschenrechtsverletzungen - endlich wirksam verfolgt
werden. Das ist nur dann möglich, wenn sich die Folterknechte, die Befehlshaber und die anderen an Schreibtischen und in Befehlsstuben dafür Verantwortung Tragenden in ihren Ländern nicht mehr wie bisher sicher
fühlen können.
Bisher war die staatliche Souveränität - sie ist es leider
immer noch - ein wirksamer Schutz für diese Verbrecher.
Das können wir jeden Tag mit Trauer und mit Wut feststellen. Künftig soll sich aber keiner der verantwortlichen
Folterknechte und Befehlshaber hinter der staatlichen
Souveränität von Diktaturen oder vergleichbaren Unrechtsregimen mehr verstecken können.
({2})
Auch die Oppositionsparteien werden mir zustimmen,
wenn ich sage: Unser gemeinsames Ziel ist es, das Recht
weltweit durchzusetzen, damit das allzu häufig praktizierte Prinzip vom Recht des Stärkeren zurückgedrängt
wird und schließlich verschwindet.
({3})
In diesem Ziel waren und sind sich - Gott sei Dank - die
Parteien des Bundestages einig. Es ist gut, dass wir diese
Gemeinsamkeit haben. Ich darf in diesem Zusammenhang feststellen, dass auch die früheren Regierungen parteiübergreifend unterstützt worden sind, als es darum
ging, die Verhandlungen in Rom zu einem erfolgreichen
Abschluss zu führen.
Wir können mit Fug und Recht und mit einem gewissen Stolz - allerdings auch in dem Bewusstsein, dass unsere Erfahrungen mit der eigenen Geschichte, speziell mit
dem mörderischen Naziregime, uns dazu verpflichten sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Verhandlungen maßgeblich beeinflusst hat. Die Verhandlungen zum Statut wurden mithilfe der Mitglieder des
Deutschen Bundestags und vieler Interessierter aus dem
Bereich der Zivilgesellschaft zu einem guten Abschluss
gebracht.
({4})
Mit dem Statut soll ein unabhängiges Gericht auf
rechtsstaatlicher Basis geschaffen werden, das wirksam
tätig werden kann. Dieses Gericht wird die Täter zur Verantwortung ziehen, nämlich die schon genannten Folterknechte, die Massenvergewaltiger, die Kriegsverbrecher
und jene staatlichen Repräsentanten, die ihre Macht - in
welcher Funktion auch immer - als Terrorinstrument gegen die eigenen und auch gegen ausländische Bürgerinnen und Bürger missbrauchen.
Der Internationale Strafgerichtshof wird seine Arbeit
aufnehmen. Dennoch bleibt die Verantwortlichkeit der
einzelnen Nationalstaaten mit ihren jeweiligen Gerichten voll erhalten. Dies soll schon aus praktischen Gründen
der Fall sein; denn jeder internationale Gerichtshof wäre
überfordert, wenn er weltweit allein zuständig wäre. Aus
diesen pragmatischen, aber auch aus grundsätzlichen
Gründen werden die rechtsstaatlichen Demokratien auch
auf dem Gebiet der Strafverfolgung schwerster Verbrechen weiterhin selbst tätig werden. Wir in der Bundesrepublik tun es bereits heute und werden dies auch in der
Zukunft tun.
Der Internationale Strafgerichtshof ist für jene Fälle
zuständig, in denen die Gerichte der betroffenen Nationalstaaten entweder nicht anklagen können, weil es die
staatliche Ordnung nicht zulässt, oder nicht anklagen wollen, weil es politisch nicht gewollt ist. Der Internationale
Strafgerichtshof ist daher als ein komplementärer Gerichtshof anzusehen. Er soll und wird die Gerichtsbarkeit
der rechtsstaatlichen Demokratien ergänzen.
Es ist auch klar - darauf haben gerade wir in der Bundesrepublik Deutschland großen Wert gelegt; wir legen
weiterhin großen Wert darauf -, dass dieses Statut des Internationalen Strafgerichtshofs all unsere Anforderungen
an rechtsstaatliche Standards erfüllt. Gerade in dieser
Frage können und wollen wir keinerlei Abstriche machen.
Das betrifft die Unabhängigkeit des Gerichts selbst, aber
auch die Garantien für ein faires Verfahren. Darunter fallen die Schutzgarantien für die Angeklagten und die Verteidigung. Das betrifft ferner den Schutz gefährdeter Zeugen und das Recht der Opfer, im Verfahren angemessen
angehört und beteiligt zu werden.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist nun gelungen, dies alles in diesem Statut, das weltweit gilt, zu verankern. Das
gehört in der Tat zu den historischen Fortschritten. Das ist
Grundlage der Rechtsstaatlichkeit, die wir bejahen. Diese
Rechtsstaatlichkeit wird eben nicht nur von Anforderungen auf nationaler Ebene geprägt, sondern auch von denen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und der gestern zu Recht gefeierten
Europäischen Menschenrechtskonvention.
({6})
Diese klare rechtsstaatliche Festschreibung ermöglicht
es uns, der Grundgesetzänderung zuzustimmen, die wir
heute gemeinsam mit dem Entwurf eines Gesetzes zum
Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
vorlegen. Denn bisher - wir alle wissen das - verbietet
Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes die Auslieferung deutscher Staatsbürger an das Ausland. Grund dafür ist, dass
wir deutsche Staatsangehörige mit rechtsstaatlichen Garantien ausgestattet sehen wollen, wenn sie vor Gericht
gestellt werden.
Jetzt - das ist der Sinn der Ihnen vorliegenden Grundgesetzänderung - machen wir eine Ausnahme von diesem
Grundsatz, und zwar bei einem internationalen Gerichtshof wie dem Internationalen Strafgerichtshof, der wie
auch andere - denken Sie zum Beispiel an den Jugoslawien-Gerichtshof in Den Haag und dessen hervorragende
Arbeit - zweifelsfrei den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit entspricht. Damit leisten wir einen Beitrag zur Schaffung einer wirksamen internationalen Strafgerichtsbarkeit, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit um der Gerechtigkeit für die Opfer willen
nicht ungesühnt lassen will. Wir reihen uns hier ausdrücklich ein, obwohl die Bundesrepublik Deutschland
als rechtsstaatliche Demokratie - das habe ich schon erwähnt - schwerste Menschenrechtsverletzungen bereits
heute strafrechtlich verfolgt und dies auch weiterhin tun
wird.
Wir machen eine zweite Ausnahme von dem Grundsatz, dass Deutsche nicht an das Ausland ausgeliefert werden dürfen. In der geänderten Fassung wird es Art. 16
Abs. 2 des Grundgesetzes dem Gesetzgeber ermöglichen,
die Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union vorzusehen. Auch das ist ein selbstverständlicher Ausdruck der europäischen Integration, der
Integration in ein System von Staaten, die durch hohe
rechtsstaatliche Standards geprägt sind, die auch wir in
unserem Land wollen und haben.
Im geänderten Text des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, der Ihnen vorliegt, ist zur Klarstellung der geltenden
verfassungsrechtlichen Grundsätze hinzugefügt worden
- das war in den Beratungen des Rechtsausschusses des
Deutschen Bundestages selbstverständlich -, dass diese
Ausnahme vom Verbot, deutsche Staatsbürger an das Ausland auszuliefern, nur bei klarer Beachtung unserer gemeinsamen rechtsstaatlichen Standards, die wir in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union längst haben, in
Betracht kommen kann.
Ich freue mich, dass wir heute diese klare gemeinsame
Formulierung bekräftigen. Die Annahme der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe, also des Entwurfes eines Gesetzes zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes und
des Entwurfes eines Gesetzes zum Römischen Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs, schaffen die Voraussetzungen für die Ratifizierung des Römischen Statuts.
Diese werden wir möglichst bald vornehmen.
Weitere Schritte müssen und werden folgen. Das
nächste Ziel ist die Einbringung eines Entwurfes eines
Ausführungsgesetzes zum Römischen Statut, das die erforderlichen Regelungen hinsichtlich unserer Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und seine
Unterstützung enthalten wird. Der Internationale Strafgerichtshof ist darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten
seine Arbeit unterstützen. Gestern haben wir über die im
Bereich des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes
bestehenden Probleme gesprochen und die Notwendigkeit der Unterstützung durch Deutschland festgestellt.
Das gilt natürlich auch für diesen neuen, weltweit zuständigen Strafgerichtshof.
Dabei geht es um weitere Fragen, die wir bereits aus
der Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Gerichtshof in
Den Haag kennen. Es geht um die Unterstützung durch
Verhaftung und Überstellung von beschuldigten Personen, die Übersendung von Beweismaterial und die Übernahme der Vollstreckung von Haftstrafen in nationalen
Strafanstalten, die durch dieses internationale Gericht
verhängt wurden. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme
der Vollstreckung eines vom Gerichtshof in Den Haag
verurteilten Verbrechers, die wir gerade in diesen Tagen
vollziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten, wie Sie
wissen, in einem weiteren Schritt an der Schaffung eines
nationalen Völkerstrafgesetzbuches, das in Verbindung
mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes
eine moderne und bessere Rechtsgrundlage für die Ahndung von Völkerstraftaten in unserem Land selbst bilden
soll.
Wir werden mit Unterstützung einer hochrangigen Expertengruppe und in Abstimmung mit den Bundesländern
die Arbeit an dem Entwurf im kommenden Jahr abschließen, ihn dann vorlegen und den parlamentarischen Gremien zur Beratung zuleiten. Ich glaube, dann haben wir
das, was wir tun können, erreicht. Dies ist auch erforderlich.
Ich habe vorhin den Begriff „historischer Fortschritt“
ganz bewusst benutzt. Nüchterne Schwaben wie ich tun
dies nicht sehr häufig. Ich denke aber, dass es angebracht
ist. Wir wissen, dass mit der Ratifizierung durch die
Bundesrepublik Deutschland und alle Staaten der Europäischen Union allen Vorbildfunktionen zum Trotz das
gemeinsame Ziel noch nicht erreicht ist. Wir wissen auch,
dass wichtige Partnerstaaten der Bundesrepublik, nämlich
die USA und die Volksrepublik China, noch erhebliche
Vorbehalte haben. Wir sagen deutlich, dass das bedauerlich ist. Selbstverständlich werben wir darum, dass
sich auch diese Staaten beteiligen.
({7})
Es wäre gut, wenn das Gericht dann, wenn es seine Arbeit
aufnehmen kann, weltweit verankert wäre, obwohl - lasBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
sen Sie mich das hinzufügen - der jetzige Geltungsbereich für mehr als die Hälfte der Menschheit schon einen
riesigen Fortschritt bedeutet.
({8})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist, dass
wir alle einen internationalen Strafgerichtshof wollen und
auch brauchen, der in Unabhängigkeit, für und gegenüber
allen auf der Grundlage gemeinsamen Rechtes und unter
klarer Beachtung der beschlossenen rechtsstaatlichen
Grundsätze seine Aufgaben erfüllen kann.
Die Menschenrechte bekommen in unserer Zeit weltweit zu Recht ein immer größeres Gewicht. Die Stärke des
Rechts wird und muss die internationale Politik immer
stärker bestimmen. Die Opfer der vielen schrecklichen
Menschenrechtsverletzungen, der Kriegsgräuel und der
Verbrechen gegen Menschen in Bürgerkriegen erwarten
von uns nicht nur Schutz, sondern dort, wo trotz aller
Bemühungen dieser Schutz nicht gegeben werden konnte,
wenigstens einen Beitrag zur Schaffung von Gerechtigkeit. Diesen Beitrag müssen sie von uns erwarten können.
Der heutige Schritt führt in die richtige Richtung.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich gebe das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 12 a des Grundgesetzes der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und F.D.P. auf den Drucksachen 14/4380 und
14/4420 bekannt. Abgegebene Stimmen 543. Mit Ja haben gestimmt 512, mit Nein haben gestimmt 5, Enthaltungen 26.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 543;
davon
ja: 512
nein: 5
enthalten: 26
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel ({0})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({1})
Klaus Brandner
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({2})
Bernhard Brinkmann
({3})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({4})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({5})
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Harald Friese
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({7})
Angelika Graf ({8})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack ({9})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({10})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({11})
Walter Hoffmann ({12})
Iris Hoffmann ({13})
Frank Hofmann ({14})
Eike Hovermann
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({15})
Johannes Kahrs
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({16})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({17})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({18})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({19})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({20})
Jutta Müller ({21})
Christian Müller ({22})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({23})
Gerhard Neumann ({24})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Gudrun Roos
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Birgit Roth ({26})
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer ({27})
Ulla Schmidt ({28})
Wilhelm Schmidt ({29})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({30})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({31})
Brigitte Schulte ({32})
Reinhard Schultz ({33})
Volkmar Schultz ({34})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({35})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({36})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({37})
Helmut Wieczorek ({38})
Heino Wiese ({39})
Brigitte Wimmer ({40})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff ({41})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen ({42})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({43})
Hartmut Büttner
({44})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen ({45})
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Renate Diemers
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({46})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({47})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich ({48})
({49})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke ({50})
Norbert Hauser ({51})
Hansgeorg Hauser ({52})
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Klaus Holetschek
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers ({53})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({54})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann ({55})
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({56})
Erwin Marschewski ({57})
Dr. Martin Mayer ({58})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Elmar Müller ({59})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({60})
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({61})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch ({62})
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({63})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({64})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({65})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur
Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei
Dritteln der Mitglieder des Bundestages, also mindestens
446 Jastimmen. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
({66})
In der Debatte zu Tagesordnungspunkt 19 a und b gebe
ich nun dem Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Stellen Sie sich
vor, wir hätten in Deutschland zwar ein Strafgesetzbuch,
aber keine Staatsanwaltschaft, die Verbrechen und Straftaten anklagt, und kein Gericht, das verurteilt. Bis vor
kurzem war ganz genau das die Situation für Kriegsverbrecher, für diejenigen, die Völkermord und schwerste
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten.
Diese mussten kein irdisches Gericht fürchten.
Die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes bedeutet, dass es in Zukunft eben nicht nur ein materielles, humanitäres Völkerrecht gibt, sondern dass es sich
auch durchsetzt. Das war bislang der Mangel des Rechts:
Es bestand, aber es war ohne Wirkung. Die Frau Bundesjustizministerin hat bereits gesagt, es soll in Zukunft das
Recht und nicht das Recht des Stärkeren gelten. Das ist die
Veränderung, die stattfindet.
({0})
Bei allem inflationären Gebrauch des Attributs „historisch“ ist auch unsere Fraktion der CDU/CSU der Auffassung, dass wir es hier mit einer historischen Veränderung
zu tun haben.
Es handelt sich um ein politisches Ergebnis, das in der
Tat in der Kontinuität deutscher Außen- und Justizpolitik
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({1})
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({2})
Heinz Wiese ({3})
Hans-Otto Wilhelm ({4})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({5})
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({6})
Volker Beck ({7})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({8})
Joseph Fischer ({9})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({10})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Simone Probst
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({11})
Werner Schulz ({12})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({13})
Margareta Wolf ({14})
F.D.P.
Hildebrecht Braun ({15})
Ernst Burgbacher
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({16})
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({17})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Birgit Homburger
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto ({18})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Heinrich Fink
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Sabine Jünger
Rolf Kutzmutz
Pia Maier
Angela Marquardt
Christina Schenk
Nein
SPD
Renate Rennebach
René Röspel
CDU/CSU
Manfred Carstens ({19})
Martin Hohmann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Monika Knoche
Enthalten
SPD
Anke Fuchs ({20})
Konrad Gilges
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Ulrich Kasparick
Adolf Ostertag
Dagmar Schmidt ({21})
Hildegard Wester
Hanna Wolf (München
CDU/CSU
Wolfgang Dehnel
Margarete Späte
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Irmingard Schewe-Gerigk
PDS
Roland Claus
Wolfgang Gehrcke
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Kersten Naumann
Petra Pau
Dr. Ilja Seifert
liegt. Insbesondere die Vorgängerregierungen haben dieses Ziel immer nach Kräften gefördert. Dieses Ziel wurde
immer im Konsens aller Fraktionen und Parteien verfolgt.
Es ist sehr positiv, dass wir bei diesen Kernfragen der nationalen und internationalen Politik Übereinstimmung haben, was auch eine Voraussetzung des Erfolges ist.
({22})
Die neue Qualität, die nun eingetreten ist, besteht in der
Bereitschaft der Nationen zum Verzicht auf staatliche
Souveränität. Die Staaten geben etwas von ihrer Souveränität auf und übertragen sie an eine unabhängige internationale Institution, an einen allgemein zuständigen
Internationalen Strafgerichtshof. Dort, wo der Strafgerichtshof in Zukunft zuständig sein wird, wird der Schutz
der Menschenrechte, also die Verfolgung von Verletzungen der Menschenrechte, außerhalb und oberhalb der internationalen Interessenpolitik der Staaten liegen. Jetzt ist
es nicht mehr eine Frage der Opportunität, ob Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verfolgt werden; dies hängt nicht mehr davon ab, ob es den betroffenen Staaten in ihren machtpolitischen Kram passt. Nein,
es ist jetzt eine Frage des Rechts. Eine unabhängige Institution wird solche Verbrechen anklagen und verfolgen.
({23})
Darum ist die Entscheidung für die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes die Mitteilung an alle
Kriegsverbrecher und an alle Verbrecher gegen Menschlichkeit und Menschenwürde, in welcher Ecke der Welt
sie sich auch befinden: Ihr werdet nach euren Taten keinen ruhigen Lebensabend haben, eure Taten werden verfolgt und angeklagt werden, ihr werdet zur Rechenschaft
gezogen und verurteilt werden. Dies ist eine gute Mitteilung, über die wir uns ausdrücklich freuen sollten.
({24})
Bei aller Freude über diesen Erfolg müssen wir erkennen, dass hier ein Prozess gerade erst begonnen hat. Er ist
noch nicht vollendet, wie eben schon erwähnt worden ist.
60 Ratifikationen sind dafür notwendig, dass das Statut
überhaupt in Kraft tritt; gut 20 liegen vor. Das heißt, dieser Prozess wird noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland wird dem Statut
beitreten und seine Bestimmungen, beginnend mit den
heutigen Beschlüssen, innerstaatlich in vollem Umfange
umsetzen.
Dies bedeutet für die Bundesrepublik Deutschland,
dass wir auch eine Verfassungsänderung vornehmen. Bislang sieht unsere Verfassung in Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes ein uneingeschränktes Verbot der Auslieferung
von deutschen Staatsangehörigen vor. Wenn wir die geschilderte Entwicklung nicht nur begrüßen, sondern an ihr
teilnehmen wollen, dann können wir nicht sagen, das solle
für alle gelten, nur unsere Staatsbürger müssten ausgenommen werden, wenn sie denn betroffen sein sollten.
Das wäre ein widersprüchliches Verhalten und darum ist
es richtig, dass wir diese Grundgesetzänderung vornehmen.
Wir haben uns diese Änderung nicht leicht gemacht.
Das ist auch richtig so. Manche haben kritisiert, dass darüber so lange geredet werde. Diese Änderung ist aber in
ihren Auswirkungen gravierend und von grundsätzlicher
Bedeutung; denn die Auslieferung bedeutet, dass wir unsere Staatsangehörigen außerhalb des Geltungsbereiches
des Grundgesetzes verbringen und ihnen im Ergebnis
auch den grundgesetzlichen und grundrechtlichen Schutz
entziehen. Dieser Vorgang ist so gravierend, dass er nicht
leicht genommen werden darf.
Das Grundgesetz sieht in der nun vorgeschlagenen
Fassung vor, dass aufgrund eines Gesetzes - nicht pauschal - die Auslieferung an ein internationales Gericht
oder an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union erlaubt sein soll. Ich möchte darauf hinweisen, dass es auch
um die Auslieferung an unsere Partnerländer in der Europäischen Union geht. Wir sollten erkennen, dass es sich
hierbei um einen Meilenstein in der europäischen Rechtsentwicklung handelt.
({25})
Der Tampere-Prozess, der mit der Entwicklung eines
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begonnen worden ist, stellt einen weiteren Schritt nach vorn in
der europäischen Rechtsentwicklung dar. Das ist zu begrüßen und darf in dieser Debatte nicht vernachlässigt
werden.
({26})
Die europäische Integration auf dem Gebiet des Rechts
schreitet weiter voran.
Der Gesetzgeber ist, wenn er die Auslieferung durch
Gesetz ermöglicht, verpflichtet, in jedem Fall zu prüfen,
ob der rechtsstaatliche Schutz in dem Land, an das er ausliefert, bzw. durch das Gericht, an das ausgeliefert wird,
garantiert ist. Ein Gesetz, das die Auslieferung an ein Gericht in einem Mitgliedsland vorsieht, das die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht erfüllt, wäre verfassungswidrig.
Darüber haben wir debattiert und uns auseinander gesetzt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die F.D.P.Bundestagsfraktion haben es für notwendig gehalten,
diese Hürde ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen,
auch als Mahnung an den zukünftigen Gesetzgeber, der
diese Hürde nicht leicht überspringen können soll. Es soll
bei jedem Staatsangehörigen, den wir außer Landes bringen wollen, eine rechtsstaatliche Prüfung vorgenommen
werden.
Dass wir darüber länger diskutiert haben, ist positiv. Es
zeugt von der Ernsthaftigkeit des Bundestages in Bezug
auf den rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Schutz
seiner Bürger. Wir haben ein Einvernehmen erreicht. Das
ist ein Erfolg langjähriger Bemühungen der deutschen
Außen- und Justizpolitik.
Ich glaube, es ist nicht zu viel gesagt, dass sich, wenn
das Statut eines Tages in Kraft tritt und der Internationale
Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen kann, erweisen
wird, dass die Tätigkeit dieses Gerichtshofes ein wesentlicher Ausdruck der internationalen Geltung des Rechts
und des Rechtsdenkens sowie ein wesentlicher Beitrag
zur friedlichen Ordnung in der Welt sein wird.
Die CDU/CSU-Bundestagfraktion begrüßt diese Entwicklung und unterstützt sie nachdrücklich.
Herzlichen Dank.
({27})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zeit der
Straflosigkeit für Kriegsverbrecher und Völkermörder
geht zu Ende. Das ist eine gute Botschaft.
({0})
Mit Spanien hat diese Woche bereits der fünfte EUStaat - von insgesamt 22 Ländern - das Römische Statut
zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert. Auch die deutsche Ratifizierungsurkunde ist mit
dem heutigen Tage abgeschickt worden, Adressat: die
Vereinten Nationen in New York. Darauf können wir stolz
sein.
({1})
Wenn man berücksichtigt, dass das Vertragswerk von
Rom mittlerweile von 115 Ländern gezeichnet wurde, ist
mir auch im Hinblick auf die zum In-Kraft-Treten noch
erforderlichen 37 Ratifizierungen nicht wirklich bange.
Das kann sehr schnell gehen und das sollte es auch. Denn
jeder Tag, der bis zum In-Kraft-Treten des Statutes noch
vergeht, ist für die Opfer von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ein verlorener Tag.
Es ist erfreulich, dass die Bundesrepublik zu den
Gründungsmitgliedern des Gerichts gehören wird. Ein
Erfolg ist das auch deshalb, weil Deutschland bereits bei
der Ausarbeitung des Vertragswerkes in Rom vor zwei
Jahren eine ganz herausragende Rolle gespielt hat, übrigens mit Unterstützung von diversen Nichtregierungsorganisationen. Sie haben erhebliche Verdienste daran, dass
man sich in den nächtelangen Verhandlungsrunden und
hitzigen Debatten nicht von den Skeptikern anderer Staaten in die Knie zwingen hat lassen.
Amnesty International möchte ich an dieser Stelle für
ihr weltweites Engagement in Sachen Strafgerichtshof
ausdrücklich danken. Ohne ihre Unterstützung wäre die
Liste der Nichtunterzeichnerstaaten sicher noch länger
ausgefallen. So müssen wir jetzt nur noch über sieben
Staaten sprechen.
Meine Damen und Herren, der Internationale Strafgerichtshof ist ein historischer Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts, er ist ein Meilenstein für unsere
Rechtskultur insgesamt,
({2})
weil eine effektive und angemessene Ahndung schwerster
Verbrechen künftig nicht mehr an absurden Hindernissen
scheitern wird. Kein Pinochet dieser Welt wird sich künftig mehr bei dieser Art von Verbrechen hinter irgendwelchen Immunitätsvorschriften verstecken können.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zu dem Schauspiel sagen, das
sich im Umfeld der Sommerpause im Rechtsausschuss
zugetragen hat. Es war angesichts der Bedeutung dieses
Themas und der grundsätzlichen Übereinstimmung in der
Sache - Frau Brandt-Elsweier hatte es vorhin schon in einer anderen Debatte angesprochen - schon etwas merkwürdig, dass es für die Zustimmung zu dieser Grundgesetzänderung, die die Glaubwürdigkeitsfrage bei der
Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs stellt, Gegengeschäfte geben musste, dass man
Ihnen diese Zustimmung abringen musste.
({4})
Verehrte Kollegen von der Opposition, diese Koalition
steht vorbehaltlos zum Internationalen Strafgerichtshof.
Sie wollen ihn offensichtlich aber nur im Doppelpack mit
anderen Grundgesetzänderungen. Ein wirklicher inhaltlicher Zusammenhang bestand da nicht. Das finde ich beschämend
({5})
und dies finden übrigens auch die Bürgerinnen und Bürger. Herr Scholz, Herr Röttgen, Herr Funke, haben Sie den
Appell der 70 Universitätsprofessoren an den Deutschen
Bundestag gelesen?
({6})
Da kommen Sie nicht gut weg. Kein Wunder, denn ein
solches Thema eignet sich nicht zur parteipolitischen Profilierung, schon gar nicht dann, wenn in der Sache parteiübergreifend Einigkeit besteht.
({7})
Lassen Sie uns jetzt noch einmal gemeinsam die Debatte
({8})
aufgreifen und unsere Gesprächsfäden
({9})
in die Vereinigten Staaten nutzen, um unsere amerikani-
schen Freunde davon zu überzeugen, dass sie a) das Sta-
tut dieses Internationalen Strafgerichtshofs ratifizieren
und b) auch amerikanische Staatsbürger - wie wir das
heute mit der Grundgesetzänderung für deutsche Staatsbürger regeln - im Zweifelsfall nach dem Statut dieses
Gerichtshofs an diesen Gerichtshof überstellen. Das brauchen wir als Glaubwürdigkeitstest der Demokratien, um
auch deutlich zu machen, dass auf dieser Welt für alle
Länder die gleichen Spielregeln des Völkerrechts und der
Menschenrechte gelten.
Vielen Dank.
({10})
Für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. begrüßt ausdrücklich die
Grundgesetzänderung, durch die eine Auslieferung deutscher Staatsbürger an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen internationalen Gerichtshof nunmehr grundsätzlich ermöglicht wird.
({0})
Ebenso begrüßt die F.D.P.-Fraktion ausdrücklich die
Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, denn dieser Gerichtshof ist ein großer Fortschritt des humanitären Völkerrechts und reduziert erneut
die immer noch bestehende Vorherrschaft militärischer
Aspekte bei internationalen Konfliktlösungen.
({1})
Es waren insbesondere die liberalen Außenminister,
Dr. Klaus Kinkel zum Beispiel, und der liberale Justizminister Professor Dr. Schmidt-Jortzig, die sich massiv für
die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs eingesetzt haben.
({2})
Das Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs
ist maßgeblich durch diese beiden liberalen Minister geprägt worden. Dafür auch meinen herzlichen Dank.
({3})
Mit der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland
zum Statut werden Hoheitsrechte auf den Internationalen
Strafgerichtshof übertragen. Auch deswegen ist es notwendig, Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, der bislang einschränkungslos die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger verbietet, zu modifizieren.
Diese Ergänzung liegt Ihnen heute zur Beschlussfassung vor. Sie bekräftigt, dass der Verfassungsgeber, also
auch der Bundestag, die Auslieferung von deutschen
Staatsbürgern nicht voraussetzungslos erlauben darf. Vielmehr ist dieser erhebliche Grundrechtseingriff nur dann
zulässig, wenn durch Gesetz bei Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof
rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Diese Einschränkung der Auslieferungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland war in dem ursprünglichen Formulierungsvorschlag der Bundesregierung nicht ausdrücklich
enthalten. Sie ist erst nach längeren Diskussionen in mehreren Berichterstatter- und Obleutebesprechungen von der
Bundesregierung akzeptiert worden.
Diese Formulierung, die sich an die Formulierung des
Art. 23 des Grundgesetz anlehnt, ist kein Ausdruck
des Misstrauens gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof oder gar gegenüber mit uns befreundeten
europäischen Ländern. Realistischerweise müssen wir aber
bedenken, dass es auch in den Ländern der Europäischen
Union Situationen geben kann, in denen zumindest zeitweise die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze infrage
steht. Das Verteidigungsbündnis der westlichen Welt, die
NATO, die sich ebenfalls rechtsstaatlichen Grundsätzen
verpflichtet fühlt, hat erleben müssen, dass einzelne Staaten von diktatorischen Regimen, zumindest von Regimen,
die rechtsstaatlichen Grundsätzen etwas ferner standen, regiert wurden. In solchen Situationen kann eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger natürlich nicht erfolgen.
({4})
Die Diskussionen im Rechtsausschuss haben dazu geführt, dass der Gesetzentwurf aus dem Jahre 1999 erst
heute, nach fast einem Dreivierteljahr, beschlossen werden kann. Die Oppositionsparteien hätten es begrüßt,
wenn ihr Kompromissangebot von der Koalition frühzeitiger akzeptiert worden wäre. Dann nämlich wäre es ohne
weiteres möglich gewesen, dass die Bundesrepublik
Deutschland entsprechend den Bemühungen der
Vorgängerregierung als einer der ersten Staaten das Römische Statut ratifiziert hätte. Nur durch das leider viel zu
lange Beharren der Bundesjustizministerin auf ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf, ohne auf die Bedenken der
Opposition einzugehen, ist es zu dieser bedauerlichen
zeitlichen Verzögerung gekommen.
Dabei hatte mein Fraktionskollege Schmidt-Jortzig bereits in der ersten Lesung am 24. Februar dieses Jahres
deutlich dargelegt, warum die F.D.P.-Bundestagsfraktion
die vorgeschlagene Lösung für noch klärungs- und
präzisierungsbedürftig hält. Er hat bereits damals, übrigens als erster und einziger Redner, im Wesentlichen gleiche rechtsstaatliche Standards der Rechts- und Prozessordnung, aber auch des Vollstreckungsrechts für
notwendig erachtet und angemahnt.
Für meine Fraktion ist daher die gemeinsame
Beschlussfassung ein großer Erfolg und ein Zeichen
dafür, dass es auch in grundsätzlichen rechtsstaatlichen
Fragen in diesem Hause Einigkeit geben kann. Dafür bin
ich dankbar. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Eberhard Brecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Volker Beck hat eben an die tätige
Mitarbeit der NGOs erinnert. Ich möchte es an dieser
Stelle nicht versäumen, in unserem Haus einen Gast zu
Volker Beck ({0})
begrüßen. Auf der Zuschauertribüne sitzt Herr Professor
Whitney Harris, der eigens für unsere Debatte aus den
USA angereist ist. Professor Harris war nicht nur Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, sondern er hat auch
maßgeblich an den Verhandlungen zum Römischen Statut
teilgenommen. Herzlich Willkommen!
({1})
Deutschland hat ein natürliches Interesse an einer multilateralen Weltordnung unter dem Dach der Vereinten
Nationen. Im Fall des Internationalen Strafgerichtshofes
steht der begrenzten Abtretung nationaler Kompetenzen
ein Zugewinn an internationaler Sicherheit gegenüber.
Lassen Sie mich das an drei Punkten verdeutlichen.
Erstens. Der Internationale Strafgerichtshof wirkt
präventiv, indem er potenziellen Diktatoren und deren
Schergen die juristischen Konsequenzen ihres Handelns
vor Augen führt. Ein Urteil der unabhängigen Richter
wird wie ein Damoklesschwert über jenen Menschen hängen, die ähnlich wie Milosevic, Pol Pot, Hitler, Stalin,
Saddam Hussein oder Pinochet gegen die Menschenrechte verstoßen. Potenziellen Tätern wird klar gemacht,
dass sie nicht nur einer internationalen Gerichtsbarkeit
unterliegen, sondern dass es für sie kaum noch Asyl geben wird.
Einst konnten sich gesuchte Nazikriegsverbrecher gefahrlos nach Lateinamerika absetzen. Aber je mehr Staaten das Römische Statut annehmen, desto dichter wird das
Netz, in dem sich die Verbrecher gegen die Menschlichkeit verfangen können. Der Weg dieser Täter wird zunehmend, wenn auch manchmal über Umwege, nach Den
Haag führen.
Dies bedeutet doch: Je mehr diese präventive Abschreckung ihre Wirkung entfaltet, desto weniger wird die
internationale Gemeinschaft künftig mit exzessiven Gewaltausbrüchen konfrontiert werden.
Zweitens. Mit der Ratifikation des Römischen Statuts
wird aber auch ein jedes Land genötigt, sein nationales
Strafrecht den international vereinbarten Prinzipien anzupassen. Damit wird die genannte Präventionswirkung auf
Landesebene noch einmal verstärkt.
Drittens. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
wird durch das In-Kraft-Treten des Römischen Statuts
sein Monopol zur Feststellung einer Aggression verlieren.
Der Internationale Strafgerichtshof kann nämlich diese
Feststellung unabhängig, sachlich und vor allem ohne
Rücksicht auf das interessenpolitische Kalkül einzelner
Staaten feststellen. Damit wird auch ein gewisser Druck
auf andere UN-Institutionen entstehen, bei Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel in Ruanda aktiv zu
werden. Ruanda ist nämlich das deutlichste Beispiel
dafür, dass gerade der Sicherheitsrat diesen Druck dringend nötig hat. Weder der amerikanische Präsident noch
der russische Präsident sollen ein Entscheidungsmonopol
darüber haben, was Gut und was Böse ist.
Meine Damen und Herren, mit der Einrichtung eines
Internationalen Strafgerichtshofs würde der Völkergemeinschaft ein Quantensprung des Völkerrechts auf dem
Weg zur weltweiten Respektierung der Menschenrechte gelingen. Es muss Ziel deutscher Außenpolitik
sein, dass das Römische Statut von vielen Staaten und so
rasch wie möglich ratifiziert wird. Denn nach Vorliegen
der erforderlichen 60 Ratifizierungsdokumente kann das
Gericht dann auch unabhängig und uneingeschränkt arbeiten.
Es ist aber nicht nachvollziehbar, dass einige Staaten,
darunter auch einige Bündnispartner - ich nenne hier ausdrücklich die Vereinigten Staaten -, einerseits zum Beispiel Jugoslawien auffordern, seine nationalen Vorbehalte
gegen eine Auslieferung von Slobodan Milosevic an das
internationale Jugoslawien-Tribunal aufzugeben, andererseits aber ihre eigene Zustimmung zum Statut von Rom
aufgrund nationaler Vorbehalte verweigern. Dieser Zustand ist nicht haltbar.
({2})
Vor dem Internationalen Strafgerichtshof müssen alle
gleich sein, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Ansonsten wird dieses Gericht ad absurdum geführt.
Meine Damen und Herren, ging es beim Reichstag zu
Worms 1495 um den Ewigen Landfrieden, so geht es
heute, 500 Jahre später, um Weltinnenpolitik, um den
„ewigen Weltfrieden“. Die Existenz eines Strafgerichtshofs wird keine Wunder vollbringen können. Dafür sind
seine Instrumente zu sehr ein Ergebnis von Kompromissen. Dennoch wird ein solches internationales Gericht einen spürbaren Beitrag zur globalen Zivilisierung liefern
können.
Meine Damen und Herren, ich werbe dafür, dass wir
diesem Antrag heute möglichst geschlossen zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort für die PDS-Fraktion
hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion wird dem Ratifizierungsgesetz zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zustimmen, weil wir die Gründung dieses
Gerichtshofs für einen bedeutsamen Fortschritt im Völkerrecht halten.
({0})
Zum ersten Mal in der Geschichte wird eine allgemeine, also nicht nur auf einen Sonderfall bezogene, individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für schwerste internationale Verbrechen verbindlich festgelegt, und
zwar ohne Rücksicht auf die amtliche Eigenschaft des Täters.
Wir stimmen allerdings - im Unterschied zu anderen ohne Euphorie und übertriebene Erwartungen zu. Ich
habe schon in der ersten Beratung auf erhebliche Mängel
des Statuts hingewiesen. Nur an einen Punkt will ich
noch einmal erinnern: Das Statut stellt den Einsatz von
atomaren, chemischen und biologischen Waffen sowie
von Landminen nicht unter Strafe und lässt den Tatbestand der Aggression vorerst ungeregelt.
Wir verbinden unser Ja mit der Erwartung, dass sich
die Bundesregierung konsequent dafür einsetzt, dass erstens die Universalität des Statuts erreicht wird - das erfordert auf jeden Fall die Teilnahme der USA, Indiens und
Chinas -, zweitens möglichst nicht erst auf der vorgesehenen Überprüfungskonferenz sieben Jahre nach InKraft-Treten des Statuts die Mängel beseitigt werden und
drittens Versuche vereitelt werden, das Statut zu unterwandern.
({1})
Letzteres betrifft vor allem die USA, die verhindern
möchten - das haben sie mit ihrem demonstrativen Fernbleiben unterstrichen -, dass jemals ein amerikanischer
Staatsbürger vor die Schranken dieses Gerichts kommt.
Ganz entschieden spreche ich mich auch gegen die bekannt gewordenen Versuche aus, sexuelle Gewalttaten gegen Frauen aus dem Tatbestand der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit heraus zu nehmen,
({2})
wenn sie, wie es heißt, im Familienkontext begangen wurden oder religiös bzw. kulturell sanktioniert sind.
Meine Fraktion wird auch der Änderung von Art. 16
des Grundgesetzes die Zustimmung nicht versagen. Der
Vorbehalt der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze
bei der Auslieferung von Deutschen an einen internationalen Gerichtshof oder an einen EU-Staat ist in meinen
Augen allerdings überflüssig und könnte als deutsche Anmaßung ausgelegt werden. Wir interpretieren ihn als einen Auftrag an den deutschen Gesetzgeber, ein rechtsstaatlich einwandfreies Ausführungsgesetz zu erlassen.
Diese Fassung wurde nach erbitterten Auseinandersetzungen im Rechtsausschuss zwischen den Koalitionsfraktionen auf der einen und den Oppositionsfraktionen auf
der anderen Seite ausgehandelt.
Ganz zufällig - man möchte meinen, irrtümlich wurde meine Fraktion an den intensiven Berichterstattergesprächen nicht beteiligt. Ich war zwar ordnungsgemäß
als Berichterstatterin benannt worden, meine Einladung
zu Gesprächen wurde jedoch - natürlich wieder rein zufällig, ja völlig unabsichtlich - vergessen. Selbstverständlich wurden wir auch wiederum ganz zufällig nicht gefragt, ob wir den gemeinsamen Antrag aller Fraktionen als
Miteinreicherin mittragen würden. Das ist zwar nicht
mehr die brutalstmögliche „Mit euch nicht auf einen Antrag“-Variante, jedoch eine subtilere Form davon und das
Ergebnis ist dasselbe.
Wir sind aber nicht nachtragend, sondern geben sachlichen Argumenten den Vorrang. Wir stimmen deshalb im
Interesse des zügigen In-Kraft-Tretens des Statuts zu. Entscheidend werden ohnehin die einzelnen Bestimmungen
für die mögliche Auslieferung von Deutschen im Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes sein.
Wir erwarten, dass hierzu möglichst bald ein Entwurf vorgelegt wird.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Herr Staatsminister im Auswärtigen
Amt Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor etwa zwei Jahren, am 17. Juli 1998, konnte
bei dem Streben nach weltweiter Gerechtigkeit und der
weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ein entscheidender Durchbruch erzielt werden. Nach
jahrzehntelangen Bemühungen wurde endlich in Rom die
Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes beschlossen. 120 Staaten stimmten für das Römische Statut,
welches dem Deutschen Bundestag heute bei der abschließenden Beratung des Internationalen-Strafgerichtshofs-Statutgesetzes und des damit verbundenen Gesetzes
zur Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes vorliegt.
Mit dem Römischen Statut wurde die Errichtung eines
Strafgerichtshofs beschlossen, der künftig immer dann
strafverfolgend tätig wird, wenn nationale Strafrechtssysteme versagen oder wenn Staaten nicht willens oder in
der Lage sind, Völkermord oder Verbrechen gegen die
Menschlichkeit oder schwere Kriegsvergehen ernsthaft
zu verfolgen. Der künftige Strafgerichtshof ergänzt insoweit die innerstaatliche Gerichtsbarkeit, deren Vorrang im
Statut vielfach verankert ist.
Mittlerweile ist das Strafgerichtshofvorhaben in
Deutschland wie in der internationalen Öffentlichkeit so
bekannt, dass man die große Bedeutung des Gründungsvertrags von Rom und den damit verbundenen rechtspolitischen Fortschritt kaum mehr betonen muss. 115 Staaten
haben das Römische Statut gezeichnet und bereits
22 Staaten haben es ratifiziert. Die Bundesregierung
möchte ihrerseits die Ratifikationsurkunde in New York
sobald wie möglich hinterlegen.
Die Idee, dass sowohl politisch Verantwortliche wie
auch Soldaten nicht hinter dem Schutzschild von Immunität und staatlicher Souveränität straflos schwerste
Verbrechen begehen können, ist erstmals in den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio verwirklicht worden. Damals wurde deutlich, dass die Menschenwürde auch mit Mitteln des Völkerstrafrechts
geschützt werden muss. Ich freue mich deshalb, dass mit
Professor Harris ein bedeutender Zeitzeuge bei den heutigen Beratungen des Bundestages anwesend ist.
({0})
Der Bundesregierung ist sehr bewusst, dass auch die
letzte Bundesregierung mit ihrem konsequenten Eintreten
für einen möglichst starken und unabhängigen Internationalen Strafgerichtshof gute politische Arbeit geleistet und
das deutsche Ansehen bei den Vereinten Nationen gemehrt hat. Umgekehrt rechnet die jetzige Bundesregierung nun auf die Unterstützung der heutigen Opposition,
wenn sie an dem von ihr konsequent fortgesetzten Kurs
auch dann festhält, wenn es starken Gegenwind und Kritik besonders aus Washington gibt.
({1})
Die Bundesregierung ist entschlossen, an dieser bisher
von allen Parteien unterstützten Linie festzuhalten. Wir
hoffen daher, dass die heute vor uns liegenden Gesetzentwürfe möglichst einmütig verabschiedet werden können.
Eine baldige Ratifikation des Römischen Statuts durch
Deutschland würde für viele Staaten in der Welt, die wie
wir das Strafgerichtshofvorhaben unterstützen, eine große
Ermutigung bedeuten.
({2})
Es ist daher richtig, dass wir uns zusammen mit dem
Gesetz über den Internationalen Strafgerichtshof vertragskonform in die Lage versetzen, dass erforderlichenfalls auch Deutsche überstellt werden können. Angesichts
der fortschreitenden Integration Europas ist es nur folgerichtig, diese Möglichkeit auch in Bezug auf die EU-Partnerländer Deutschlands vorzusehen.
Lassen Sie mich abschließend in aller Nüchternheit sagen: Der Internationale Strafgerichtshof ist noch nicht errichtet, er ist noch nicht gesichert und es bleibt noch viel
Arbeit zu tun. Im Bundestag werden wir in absehbarer
Zeit über Entwürfe für ein Ausführungsgesetz zum Römischen Statut und für ein Völkerstrafgesetzbuch zu beraten haben. Bei den Vereinten Nationen in New York
wird es schwierige Verhandlungen insbesondere über die
Finanzierung des Strafgerichtshofs und über weitere
wichtige Nebeninstrumente geben.
Darüber hinaus geht es darum, die Integrität des Vertragswerks von Rom gegenüber denjenigen zu schützen,
die den Vertrag nachträglich doch noch abändern und dadurch schwächen wollen. Es ist auch sehr wichtig, dass
wir rechtzeitig qualifiziertes deutsches Personal für den
Strafgerichtshof vorsehen, für den wir uns seit fast einem
Jahrzehnt einsetzen.
Es ist also noch einiges zu tun. Die Bundesregierung
wird engagiert daran weiterarbeiten, dass der Tag näher
rückt, an dem der Gerichtshof seine Arbeit in Den Haag
aufnehmen kann.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Art. 16 des Grundgesetzes, Drucksachen 14/2668 und
14/4419. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 446 Stimmen, erfordert. Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir gegen
14 Uhr eine weitere strittige Abstimmung durchführen
werden. Deshalb bitte ich um eine entsprechende Präsenz
auch nach dieser namentlichen Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Die Sitzung ist wieder
eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des
Art. 16 des Grundgesetzes, Drucksachen 14/2668 und
14/4419, bekannt. Abgegebene Stimmen 531. Mit Ja haben gestimmt 528, mit Nein hat ein Abgeordneter oder
eine Abgeordnete gestimmt, Enthaltungen 2.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 531;
davon
ja: 528
nein: 1
enthalten: 2
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Klaus Barthel ({0})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({1})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({2})
Bernhard Brinkmann ({3})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({4})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Vizepräsidentin Petra Bläss
Lothar Fischer ({5})
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Lilo Friedrich ({6})
Harald Friese
Anke Fuchs ({7})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({8})
Angelika Graf ({9})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack ({10})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann ({13})
Iris Hoffmann ({14})
Frank Hofmann ({15})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({16})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({17})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann ({18})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({19})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({20})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({21})
Jutta Müller ({22})
Christian Müller ({23})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({24})
Gerhard Neumann ({25})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Birgit Roth ({27})
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer ({28})
Ulla Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Wilhelm Schmidt ({31})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({32})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann ({33})
Brigitte Schulte ({34})
Reinhard Schultz ({35})
Volkmar Schultz ({36})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({37})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({38})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({39})
Helmut Wieczorek ({40})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Heino Wiese ({41})
Brigitte Wimmer ({42})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({43})
Waltraud Wolff ({44})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen ({45})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({46})
Hartmut Büttner ({47})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen ({48})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({49})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Vizepräsidentin Petra Bläss
Dr. Gerhard Friedrich
({50})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({51})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke ({52})
Norbert Hauser ({53})
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers ({54})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({55})
Dr. Manfred Lischewski
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({56})
Erwin Marschewski ({57})
Dr. Martin Mayer ({58})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Elmar Müller ({59})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({60})
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({61})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch ({62})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({63})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({64})
Birgit Schnieber-Jastram
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({65})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({66})
Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({67})
Heinz Wiese ({68})
Hans-Otto Wilhelm ({69})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({70})
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({71})
Marieluise Beck ({72})
Volker Beck ({73})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({74})
Joseph Fischer ({75})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({76})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({77})
Werner Schulz ({78})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({79})
Margareta Wolf ({80})
F.D.P.
Hildebrecht Braun ({81})
Ernst Burgbacher
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({82})
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({83})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Birgit Homburger
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto ({84})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Roland Claus
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Petra Pau
Dr. Ilja Seifert
Nein
CDU/CSU
Herbert Frankenhauser
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Carstens ({85})
F.D.P.
Marita Sehn
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
({86})
Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur
Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei
Dritteln der Mitglieder des Bundestages, zumindest aber
446 Jastimmen. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
({87})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs,
Drucksache 14/2682. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 14/4421, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Ich verweise noch einmal darauf, dass die
strittige Abstimmung erst gegen 14 Uhr stattfinden wird.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Baumann, Hans-Dirk Bierling, Klaus Brähmig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Für mehr Sicherheit an der deutsch-tschechischen Grenze
- Drucksache 14/3672 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({88})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Kollegin
Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion hat ihre Rede zu Proto-
koll gegeben.1) - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Günter Baumann.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der Staat und alle gesellschaftlichen Gruppierungen sind gefordert, gemeinsam
dafür Sorge zu tragen, dass sich jeder Bürger in unserem
Land, an jedem Ort und zu jeder Zeit, sicher fühlen kann.
Neben der Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität und
jeder Form des Extremismus gehört dazu auch ein entschiedener Kampf gegen illegale Einwanderung und Kriminalität an den Grenzen und im Grenzbereich.
Deutschland kommt durch die Schengen-Außengrenzen zu Polen und Tschechien hierbei eine besondere Verpflichtung zu. Der Freistaat Sachsen hat dabei durch seine
Lage mit einer EU-Außengrenze von 566 Kilometern, davon 454 Kilometer allein zu Tschechien, einen ganz besonderen Stellenwert. Leider gibt es im deutsch-tschechischen Grenzbereich eine Vielzahl von Straftaten, die
unsere Bürger in hohem Maße verunsichern; es machen
sich berechtigte Gefühle von Angst breit. Ich kenne dies,
da ich ebenfalls unmittelbar an der Grenze wohne und insofern einige Erfahrungen gemacht habe.
Illegale Grenzübertritte, Schleusungen von Menschen
aus vielen Ländern, Schmuggel sowie Einbrüche und
Diebstähle sind in einigen Grenzorten leider fast schon
an der Tagesordnung. Diese Illegalen - wir wissen das nutzen den Grenzübertritt, um in größeren Städten und
Ballungsgebieten unterzutauchen. Schwarzarbeit und
Straftaten sind die Folge. Frau Staatssekretärin SonntagWolgast erklärte am 18. Oktober, dass jährlich etwa eine
halbe Million Menschen in die EU geschleust werden.
Durch organisierte Kriminalität werden in Deutschland
Umsätze von jährlich 17,6 Milliarden DM erzielt.
Zeitungsschlagzeilen informieren leider beinahe täglich über die traurige Realität, zum Beispiel: „Schleuser
bevorzugen Erzgebirge und Vogtland“, „18 Illegale in
zwei PKWs geschnappt“, „Menschenhandel floriert an
Sachsens Grenzen“ oder - diese Woche ganz aktuell „BGS-Fahrzeug bei Kontrolle gerammt“, „Schleuserfahrzeug verursacht Unfall“. Ich könnte noch Weiteres aufführen.
Im Bundesgrenzschutz-Jahresbericht für das Jahr 1999
des BMI wird festgestellt:
Die Schwerpunkte der unerlaubten Einreisen haben
sich erkennbar verlagert und liegen nunmehr mit
12 846 Aufgriffen an der deutsch-tschechischen EUAußengrenze.
Dies sind circa fünfmal so viel Aufgriffe wie an der polnischen Grenze. Von den aufgegriffenen Schleusern wurden 30 Prozent an der tschechischen Grenze festgenommen. Es gibt auch eine Zunahme an von Ausländern
begangenen Straftaten im Grenzbereich. So hat die Zahl
von Wohnungs- und Garageneinbrüchen sowie von PKWDiebstählen in den unmittelbaren Grenzorten stark zugenommen.
Die Männer und Frauen vom Bundesgrenzschutz, vom
Zoll und der Polizei leisten in diesen Regionen eine hervorragende Arbeit
({0})
und verzeichnen - nicht zuletzt durch eine gut funktionierende Zusammenarbeit - viele Erfolge. Es ist mir an
dieser Stelle ein Bedürfnis, den Angehörigen des BGS,
der Polizei und des Zolls für ihre verantwortungsvolle Arbeit, die sie täglich für unsere Sicherheit leisten, herzlich
zu danken.
({1})
Ich freue mich ganz besonders, dass eine Gruppe von
50 BGS- und Polizeibeamten, die ihren Dienst unmittel-
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 6
bar an der Grenze zu Tschechien tun, von der Besuchertribüne aus unsere heutige Diskussion verfolgt. Sie setzen
natürlich große Hoffnungen auf unsere Entscheidungen.
Meine Damen und Herren auf der Besuchertribüne, nehmen Sie bitte unseren Dank für Ihre wichtige Arbeit in
Ihre Einheiten und in Ihre Dienststellen mit.
({2})
Da die Probleme im deutsch-tschechischen Grenzgebiet nicht nur zur Verunsicherung der Bevölkerung
führen, sondern auch nicht sehr förderlich für den Tourismus sowie für die Ansiedlung von neuem Gewerbe und
damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen sind, ist der
Staat gefordert zu handeln. Die Mitglieder der sächsischen Landesgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
haben sich gemeinsam mit Herrn Staatssekretär Körper
mit diesem Thema in Oberwiesenthal, also vor Ort,
beschäftigt. Es waren auch Verantwortliche des BGS, des
Zolls und der Polizei sowie Bürgermeister und Landräte
aus der betroffenen Grenzregion eingeladen worden. Wir
haben gemeinsam in der so genannten Oberwiesenthaler
Erklärung die Probleme aufgelistet, die aus unserer Sicht
gelöst werden müssen. Hieraus entstand der heutige Gesetzentwurf.
Wir fordern:
Erstens. Im unmittelbaren Grenzbereich zu Tschechien
müssen BGS und Zoll personell verstärkt werden.
({3})
Nur dadurch kann die Aufgabe der Sicherung der Schengen-Außengrenze ordentlich erfüllt werden. Die Schritte
der Neuorganisation des BGS sollten konsequent und
zügig erfolgen. Auch einige Standorte sind neu zu überprüfen. Ich bin der Meinung, dass zehn Jahre nach der
deutschen Einheit nur noch wenige Argumente für die
Aufrechterhaltung von BGS-Standorten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze sprechen.
({4})
Die Kräfte, die dort ihren Dienst tun, müssen in den
Brennpunktbereichen, zum Beispiel an der tschechischen
Grenze, eingesetzt werden. Ich denke hierbei - das sage
ich ganz offen - an Standorte wie Fulda und Duderstadt.
Bei besonderen Gefahrensituationen im Grenzbereich
muss der BGS auch kurzfristig verstärkt werden können.
Dafür müssen entsprechende Mittel bereitgestellt werden.
Zweitens. Die technische Ausstattung des BGS hat
sich zwar in der letzten Zeit verbessert. Aber sie ist keineswegs ausreichend und nicht immer zweckmäßig. Der
Fahrzeugbestand muss beispielsweise schneller schrittweise erneuert werden. Dabei sollte daran gedacht werden, dass noch stärker geländegängige Fahrzeuge und Zivilfahrzeuge zum Einsatz kommen sollten.
({5})
Entscheidend ist eine dezentrale Beschaffung. Auch
darüber haben wir in Oberwiesenthal gesprochen. Damals
wurde uns eine solche dezentrale Beschaffung zugesagt.
Leider wurde sie bis heute nicht realisiert. Vor Ort kann
die Beschaffung sinnvoller erfolgen als zentral. Dafür ein
Beispiel: Zurzeit werden Fahrzeuge des Typs Rover zum
Stückpreis von etwa 90 000 DM beschafft. Die Beamten
vor Ort und auch ich können das nicht nachvollziehen;
denn mit den gleichen finanziellen Mitteln könnten mehr
Geländefahrzeuge deutscher Herkunft, die auch ihren
Zweck erfüllen würden, beschafft werden.
({6})
Eine schnelle Verbesserung der Kommunikationstechnik, zum Beispiel Bildübertragung zum BKA und zu Europol, ist besonders wichtig. Gesuchte Straftäter müssen
an der Grenze identifiziert werden können.
Herr Innenminister, im Einzelplan 06 des Planentwurfs
2001 darf es für den BGS keine Kürzungen geben. Ich
bitte Sie, noch einmal mit uns über den jetzigen Entwurf
zu diskutieren.
Drittens. Um die Aufgaben im Grenzbereich besser erfüllen zu können, müssen bürokratische Wege vereinfacht
werden. Es muss mehr selbstständig vor Ort entschieden
werden können. Es kann nicht angehen, dass zum Beispiel
beim Aufgriff einer größeren Gruppe von Ausländern faktisch keine Grenzsicherung mehr erfolgt, da fast alle
BGS-Beamten mit Formalitäten und Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind.
Herr Innenminister, wir brauchen nach meiner Meinung auch kein neues Referat im Bundeskriminalamt für
Schleuserkriminalität. Dies ist Aufgabe des Bundesgrenzschutzes. Eine bürokratische Zerteilung dieses Aufgabengebietes, die sich gegenwärtig andeutet, ist nicht sinnvoll.
Viertens. Am 19. September 2000 wurde ein Vertrag
zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik
über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der
Grenzschutzbehörden in den Grenzregionen unterzeichnet. Hier muss es schnellstmöglich zur Ratifizierung kommen. Ich begrüße es, dass der sächsische Innenminister,
Klaus Hardraht, heute in Prag mit dem neuen tschechischen Innenminister, Stanislav Gross, zusammengekommen ist und dort bereits über die Umsetzung dieses Vertrages verhandelt. Die Zusammenarbeit mit Tschechien
- gemeinsame Streifendienste, Bildung gemeinsamer
Dienststellen und gemeinsamer Ermittlungsgruppen - ist,
glaube ich, der richtige Weg.
Fünftens. Wir sehen es als notwendig an, dass Hilfen
und Hinweise der Bevölkerung im Grenzbereich zur Aufklärung von Straftaten noch stärker als bisher in die Arbeit
von BGS, Polizei und Zoll einbezogen werden. Das System des Einsatzes von Bürgerkontaktbeamten hat sich
als richtig erwiesen, aber es reicht nicht aus. Wenn in
mehreren Landkreisen nur ein Bürgerkontaktbeamter für
die Präventionsarbeit in Schulen, bei Einwohnerversammlungen usw. tätig ist, so ist dies einfach zu wenig.
Sechstens. Ich sehe es als besonders wichtig an, den
aus der Grenzregion stammenden BGS-Kräften die
Möglichkeit zu eröffnen, nach der Ausbildung auch in
ihrer Heimat zum Einsatz zu kommen. Ihre Ortskenntnis sollten wir unbedingt nutzen. Die gegenwärtige
Regelung, dass junge BGS-Beamte nach der Ausbildung
erst drei Jahre bei einer Bundesgrenzschutzabteilung
Dienst machen müssen, bevor sie in Einzeldienststellen
kommen, müsste meiner Meinung nach überdacht werden. Zumindest müsste es möglich sein, Einzelfallregelungen zu treffen.
Ich bitte die Mitglieder der Regierungskoalition, unsere
Vorschläge aufzugreifen und mit uns gemeinsam - ohne
Parteienpolemik - zu diskutieren, sodass wir gemeinsam
dringend notwendige Veränderungen angehen können.
Unsere Mitbürger in den deutsch-tschechischen Grenzgebieten und die dort tätigen Angehörigen von Bundesgrenzschutz, Zoll und Polizei erwarten, dass wir, die Politiker, unverzüglich handeln. Lassen Sie uns dies gemeinsam tun.
Danke.
({7})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Günter Graf.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, das uns
hier heute beschäftigt, ist nicht neu. Ich will in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass auch die Vorgängerregierung Anstrengungen unternommen hat, um die Sicherheit im Grenzbereich in Gänze zu verbessern, und dass sie
in diesen Fragen stets die Unterstützung der damaligen
Opposition genossen hat. Ich will auch von Anfang an
sehr deutlich sagen, dass die jetzige Bundesregierung mit
dem Bundesinnenminister Otto Schily dieses Bemühen in
den letzten zwei Jahren in erheblichem Maße verstärkt
hat. All das, was jetzt zwischen dem sächsischen Freistaat
und der tschechischen Regierung geschieht, geschieht in
bestem Einvernehmen.
({0})
Es ist gut, dass man sich in Fragen der Sicherheit auf Gemeinsamkeiten verständigt und diese Gemeinsamkeiten
weiter pflegt. Es geht nicht um uns als Abgeordnete, es
geht nicht um die Parteien. Es geht um die Menschen, die
im Grenzraum leben. Es geht aber auch um die Menschen,
die in skrupelloser Weise von Schleppern und dergleichen
in unser Land gebracht werden und die dann hier mit ihren
Problemen zu kämpfen haben.
({1})
Wir alle wissen mittlerweile, dass das Geschäft der
Schleusung von Menschen in die Bundesrepublik
Deutschland über die Außengrenzen zu einem lukrativen
Geschäft im Bereich der organisierten Kriminalität geworden ist. Man kann heute davon ausgehen, dass die Einnahmen, die durch diesen Menschenhandel - so kann man
das wohl bezeichnen - zustande kommen, die Einnahmen
aus dem Bereich der Drogenkriminalität übersteigen. Wir
alle wissen, um welche Zahlen es sich dabei handelt. Insofern ist es notwendig, das Bemühen ständig zu verstärken, illegale Einreise zu verhindern.
Aber eines will ich vorweg auch ganz deutlich sagen:
Wir können mit noch so viel Material und technischer
Ausrüstung und mit noch so vielen Beamten niemals absolut verhindern, dass illegale Einreisen erfolgen. Das ist
genau wie mit der Kriminalität. Man kann sehr vordergründig sagen: Wir müssen mehr tun, dann gibt es keine
Kriminalität mehr. - Kriminalität hat es stets gegeben; es
gibt sie heute und es wird sie trotz allen Bemühens auch
weiterhin geben.
Aufgabe der Politik muss sein - da sind wir auf einem
sehr guten Wege - den Abstand zwischen Rechtsbrechern
und den staatlichen Verfolgungsorganen so gering wie
möglich zu halten und alles zu tun, unseren Behörden die
notwendige Unterstützung zu gewähren.
({2})
Ich denke, in dieser Frage gibt es einen Konsens.
Ich möchte mich im Folgenden auf das beziehen, was
der Kollege Baumann eben ausgeführt hat. Es ist gut, dass
Sie die Gemeinsamkeiten betont haben. Wir werden in
den Ausschussberatungen sehr differenziert über die einzelnen Punkte sprechen. Wir werden dann allerdings auch
sehr schnell erfahren, dass wir in Bezug auf das, was Sie
im Einzelnen in Ihrem Antrag fordern, gerade in den letzten zwei Jahren, vor allem in diesem Jahr, ein gutes Stück
vorangekommen sind, vielleicht schneller, als dies in der
Vergangenheit der Fall war.
Wenn wir über illegale Einreise reden, müssen wir aber
eines bedenken: Wir haben zu Ihrer Regierungszeit erlebt,
dass wir einen massiven Druck illegaler Einwanderung
über die deutsch-polnische Grenze hatten. Die Reaktion
des damaligen Innenministers war - wir haben sie mitgetragen, weil wir die Notwendigkeit anerkannt haben -,
den Personalbestand und die technische Ausstattung im
Bereich der deutsch-polnischen Grenze zu verbessern.
Dieses Vorgehen war erfolgreich; denn wir haben in der
Folge festgestellt, dass die illegale Einwanderung über die
deutsch-polnische Grenze massiv zurückging.
Wir konnten aber auch feststellen, dass in dem Maße,
in dem dort ein Rückgang zu verzeichnen war, eine verstärkte illegale Einwanderung über die deutsch-tschechische Grenze stattfand. Der Innenminister, Otto Schily, hat
angesichts dieser Situation gleichermaßen reagiert - Gott
sei Dank haben wir ihn alle darin unterstützt -, sodass die
technische und personelle Ausstattung verbessert werden
konnte.
Herr Kollege Baumann, Sie haben die Fahrzeuge angesprochen. Ich will in diesem Zusammenhang daran
erinnern, dass ich mit den Kollegen Wiefelspütz und
Kemper und mit der Kollegin Barbara Wittig beim Grenzschutzamt in Pirna war. Wir haben nachts an einer Grenzkontrollstreife teilgenommen. Am nächsten Tag haben wir
Gespräche mit den Verantwortlichen vor Ort und auch mit
den Beamten geführt. Ich war überrascht, dass es einen
Fahrzeugpark mit geländegängigen Mercedes-Fahrzeugen gibt. Wir können davon ausgehen, dass auf zwei
BGS-Beamte ungefähr ein Kraftfahrzeug kommt.
({3})
Am Rande sei erwähnt: Die Verhältnisse in Bayern
sind derart - ich will gar nicht in Abrede stellen, dass dort
der Einwanderungsdruck geringer geworden ist -, dass
dort auf sieben Beamtinnen und Beamte ein Fahrzeug
kommt. Ich will mit diesem Vergleich deutlich machen,
welche Bemühungen die Bundesregierung unternommen
hat.
Auch bei der personellen Aufstockung des BGS Ost
sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Wir haben eine
bis dahin noch nicht gekannte Größenordnung erreicht.
Aber bei all unseren Bemühungen sollten wir eines nicht
übersehen: Wenn wir erreichen wollen, dass es überhaupt
keine illegale Einreise mehr gibt, dann müssten wir in
Europa ein Bollwerk errichten, das angesichts der EUOsterweiterung keiner will. Wir sollten die Anrainerstaaten vielmehr ermutigen, ein bisschen mehr auf diesem
Gebiet zu tun.
Wir können angesichts des Verhältnisses zu unseren
polnischen Nachbarn feststellen, dass die Kooperation
zwischen dem Bundesgrenzschutz und den Grenzschützern auf polnischer Seite hervorragend funktioniert. Es
gibt gemeinsame Streifengänge mit den polnischen
Grenzschützern, auch auf polnischem Staatsgebiet.
Leider muss man sagen, dass wir in der Zusammenarbeit mit der tschechischen Seite noch nicht so weit sind.
Die Ursachen hierfür liegen in Tschechien. Ich will nicht
verschweigen, dass wir im Hinblick auf das Verhältnis
Tschechiens zur Slowakei sensibel sein müssen. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese beiden Staaten vor nicht
allzu langer Zeit ein Land waren und es daher natürlich
besondere Verbindungen zwischen diesen beiden Ländern
gibt. Wir müssen daher Verständnis dafür aufbringen, dass
sich die Zusammenarbeit mit Tschechien noch nicht so
positiv gestaltet. Wir streben das Ziel einer Kooperation
aber an. Die entsprechenden Abkommen sind von Ihnen,
Herr Kollege Baumann, schon erwähnt worden. Wir sind
auf einem guten Wege, dieses zu forcieren. Es gibt ein
großes Stück an Gemeinsamkeit.
Was die technische Ausstattung angeht, kann ich feststellen - ich bin in den letzten Jahren regelmäßig in dieser Region gewesen -, dass sich eine Menge getan hat.
Man kann immer sagen: Wir brauchen noch mehr Gerätschaft. Ich nenne als Beispiel das Wärmesichtgerät. Dazu
muss man aber wissen, dass dieses Gerät nur begrenzt einsetzbar ist. Wenn man entsprechende Geländeformationen hat, Berge und Täler mit dichtem Waldbewuchs, dann
hilft dieses Gerät herzlich wenig. Auch das ist bekannt: Jedes eingesetzte Gerät bindet zusätzliche Kräfte.
Dass dann, wenn eine Schleusung festgestellt wird und
dadurch Kräfte gebunden werden, weil sämtliche formalen Abwicklungen, zum Beispiel Überprüfungen, Vernehmungen und dergleichen, durchzuführen sind, die Grenze
in einem bestimmten Abschnitt ungesichert ist - auf dieses Problem haben Sie bereits hingewiesen -, ist nicht von
der Hand zu weisen. Die gleiche Situation werden Sie
aber haben, wenn Sie noch mehr Personal an der Grenze
einsetzen. Wenn die erste Gruppe beschäftigt ist, dann ist
die zweite für den nächsten Aufgriff zuständig und die
dritte Gruppe steht alleine da.
Das ist übrigens ein Problem, das auch die Polizei hat.
Es kann sein, dass in einer Dienststelle der Anruf kommt,
dass ein Verkehrsunfall geschehen ist, und dass zwei Minuten später ein Anruf wegen eines weiteren Verkehrsunfalles eingeht. Irgendwann ist die Kapazität des Personals erschöpft; denn Sie können nicht einen für alle Eventualitäten erforderlichen Personalpool vorhalten. Das haben Sie wahrscheinlich so nicht gemeint, als Sie das
angesprochen haben; aber ich wollte einfach einmal diese
Problematik aufzeigen.
Auch in diesem Bereich hat sich eine Menge bewegt.
Sie selbst haben entsprechende Zahlen genannt. Wir
haben zwischenzeitlich im Bereich des Grenzschutzpräsidiums Ost 8 000 Beamte eingesetzt. Diese Entwicklung
ist in Ordnung.
Weil die Menschen in der Grenzregion in besonderer
Weise persönlich von kriminellen Handlungen betroffen
sind, hat es eine Vielzahl an Maßnahmen gegeben, die
dazu geführt haben, dass sich die dortige Situation beruhigt hat. Ich kann mich noch gut an einen zusammen mit
dem Kollegen Kemper vor vier, fünf Jahren gemachten
Besuch bei den Einwohnern von Seifhennersdorf erinnern. Diese sind uns fast mit geballter Faust entgegengetreten. Denn just an dem Tage, an dem wir dort eine Familie besuchten, war innerhalb von wenigen Monaten der
siebte Einbruch durchgeführt worden. Wie angesichts
dessen die Stimmungslage bei den dort lebenden Menschen war, ist nachvollziehbar.
Auch dies hat dazu geführt, dass man etwas getan hat,
und zwar zum einen, was die Verstärkung im personellen
und technischen Bereich generell angeht, und zum anderen dadurch, dass Kontaktstellen eingerichtet wurden,
um den Bürgerinnen und Bürgern Ansprechstellen anzubieten. Diese Unternehmungen werden fortgesetzt. Wir
haben ein Bürgertelefon und zwischenzeitlich eine Hotline eingerichtet, um den dort lebenden Menschen jederzeit einen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen.
Vieles von dem, was ich hier ausgeführt habe, trifft
natürlich auch für die Zollverwaltung und die sächsische
Landespolizei zu, wobei ich bemerken muss, dass die Kooperation gerade im sächsischen Bereich sehr gut ist.
An dieser Stelle möchte ich einmal mit einer Mär
Schluss machen: In letzter Zeit hört man verstärkt, dass
die Zollverwaltung abgebaut wird. Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
der Fall. Die vom Zoll zu erarbeitende Konzeption dahin
gehend, wie er sich entwickeln wird, wird in enger Abstimmung mit dem zuständigen Ministerium erfolgen,
sodass keine Sicherheitsdefizite auftreten werden. In
diesem Bereich passiert also im Moment gar nichts. Wer
Ihnen etwas anderes erzählt, sagt Ihnen bewusst die Unwahrheit.
Ich möchte mich beim Bundesinnenministerium ausdrücklich dafür bedanken, dass es trotz der Enge der Finanzen, die wir alle seit Jahren kennen, in diesem Jahr
wieder gelungen ist, auch im Haushalt 2001 - das werden
wir im Laufe der Haushaltsberatungen noch sehen - in
massiver Weise Stellenhebungen durchzuführen. Wir
werden das weiterführen.
({4})
Günter Graf ({5})
Fairerweise will ich auf Folgendes hinweisen - denn es
soll kein falscher Eindruck entstehen -: Auch die alte Regierung hat damals mit diesen Stellenhebungen begonnen. Ich finde es gut, dass in diesen Fragen - zumindest
weitgehend - Übereinstimmung besteht. Man sollte allerdings nicht aus parteipolitischem Kalkül heraus versuchen, Punkte zu sammeln, die im Grunde genommen den
eigentlichen Interessen der Betroffenen zuwiderlaufen.
({6})
Mit Blick auf meine Redezeit möchte ich zum Schluss
kommen. Aber eines möchte ich nicht versäumen festzustellen - Herr Kollege Baumann hat das deutlich betont Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion ganz herzlich bei den Beschäftigten des Bundesgrenzschutzes, aber
auch der Zollverwaltung und der Polizei bedanken.
({7})
Ich habe in der Vergangenheit - früher in Bonn und seit
einem Jahr hier in Berlin - von dieser Stelle aus häufig gesagt: Viele, denen wir gedankt haben, könnten sich mit
den Protokollseiten, auf denen diese Dankesworte stehen,
ihre Räume tapezieren. Wenn man Dank sagt, dann muss
auch etwas folgen. Deswegen habe ich in besonderer
Weise auf das Stellenhebungsprogramm hingewiesen. Ich
kann Ihnen versichern, dass wir in unserem Bemühen
nicht nachlassen werden, die Situation der Bundesgrenzschutzbeamten und -beamtinnen zu verbessern.
({8})
Ich habe nach Ihrer heutigen Rede, Herr Baumann, das
Gefühl, dass wir gemeinsam auf einem guten Wege sind.
Ich habe die Hoffnung, dass wir das Ganze bei den Beratungen im Innenausschuss gemeinsam bewerkstelligen.
Wenn sich diese Zusammenarbeit so fortsetzt, dann bin
ich guter Hoffnung. Den Menschen in der Grenzregion
können wir dadurch deutlich machen, dass wir ihre Interessen erkennen und auch in entsprechender Weise wahrnehmen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich finde es gut, dass in dieser Debatte - der Kollege Graf hat in seiner Rede darauf hingewiesen - Gemeinsamkeit deutlich wird. Gerade in Fragen
der inneren Sicherheit tut es gut, wenn es einen Wettstreit
um die besten Ideen gibt. Wenn die eine oder andere Vorlage eingebracht wird, dann enthält sie nicht immer nur
Kritik, sondern auch die Aufforderung, darüber nachzudenken, ob die dort gemachten Vorschläge nicht möglicherweise zu einer Verbesserung der inneren Sicherheit
und damit der Sicherheit unserer Bürger führen. Das gilt
auch für die Situation an den Außengrenzen, insbesondere
den Ostgrenzen unseres Landes.
Ich habe nicht die Erfahrungen, die Sie an den Grenzen
zur Tschechischen Republik gemacht haben. Meine persönlichen Erfahrungen beziehen sich auf die Grenze zwischen der Bundesrepublik und Polen. Dort haben wir viele
ähnliche Probleme wie an der Grenze zur Tschechischen
Republik, zum Beispiel eine hohe Schleuserkriminalität. Herr Kollege Graf, es ist richtig, wenn Sie sagen,
dass diese Art von Kriminalität Menschen in besonderer
Weise ausbeutet. Menschen, die arm sind, müssen in aller
Regel hohe Beträge bezahlen, um geschleust zu werden.
Diese Beträge werden von Verwandten besorgt. Ganze
Familien legen Geld zusammen. Wenn man sieht, wie
menschenunwürdig diese Personen behandelt werden,
dann werden wir einsehen: Es muss das ein Schwerpunkt
unserer Anstrengungen sein, zu einer Eindämmung der
Schleuserkriminalität zu kommen.
({0})
Umso mehr ärgere ich mich darüber - ich weiß, dass
das nicht die offizielle Meinung der Partei ist -, dass zum
Beispiel eine grüne Kollegin aus Deutschland im Europaparlament sogar eine finanzielle Subventionierung dieser
Banden fordert.
({1})
Das ist genau der falsche Weg. Es ist Gott sei Dank nicht
die offizielle Auffassung der Partei. Ich bin auch sicher,
dass das nie geschehen wird. Dafür wird der Kollege Cem
Özdemir schon sorgen.
({2})
Es sind Dinge auch kritisch anzusprechen. Darauf
möchte ich das Hauptaugenmerk meiner Überlegungen
richten. Das bezieht sich insbesondere auf die Situation
der Beamten des Bundesgrenzschutzes. Sie haben angedeutet, dass bei der Besoldung, der Dienstgestaltung und
der Beförderungssituation über Verbesserungen nachgedacht wird.
({3})
- Richtig. Auch als wir noch an der Regierung waren, haben wir erste Schritte in diese Richtung eingeleitet. Trotzdem müssen wir weiterkommen.
Ich beobachte mit Sorge, dass es beim Bundesgrenzschutz eine Tendenz hin zu den Weststandorten gibt. Wir
alle kennen die Gründe, zum Beispiel die Besoldung.
Deshalb möchte ich ansprechen, was immer wieder genannt wird, wenn man über die Bundeswehr redet: Die ungleiche Besoldung in Ost und West in diesem Bereich
führt dazu, dass der schwere Dienst an dieser Grenze, der
in aller Regel sehr viel schwieriger ist als an anderen
Grenzen, manchmal noch schlechter bezahlt wird. Dies
muss unsere Hauptanstrengung sein: Wir müssen zu einer
gleichen Besoldung in West und in Ost kommen. Gleichzeitig muss der Tendenz in Richtung Weststandorte entgegengewirkt werden, die zum Teil - das überrascht einen
besonders - an der früheren innerdeutschen Grenze liegen. Man fragt sich, was da der Grund ist. Ich weiß, dass
Günter Graf ({4})
es auch dort Reformen gegeben hat, dass ein Abbau vorgenommen wurde.
({5})
Herr Kollege van
Essen, da Sie gerade eine Pause machen: Lassen Sie eine
Frage des Kollegen Graf zu?
Ja.
Herr Kollege van
Essen, Sie wissen: Die Reformen haben wir damals gemeinsam gemacht. In Teilbereichen haben wir uns damals
kritisch dazu geäußert, indem wir gesagt haben, man hätte
flexibler, mit mobilen Komponenten - auch vor dem Hintergrund der beabsichtigten EU-Osterweiterung - arbeiten müssen. Was die Standorte an der ehemaligen
innerdeutschen Grenze, insbesondere Duderstadt, angeht:
Das war ein politisches Entgegenkommen zur damaligen
Zeit. Dass wir uns im Stadium der Abwicklung befinden,
dürfte auch Ihnen bekannt sein. Ist das so?
Richtig. Ich weiß, dass wir
dort in die richtige Richtung gehen. Ich weiß aber auch,
dass es Druck von Kollegen aus Ihrer Fraktion, die hohe
Funktionen haben, dahin gehend gegeben hat und noch
gibt, dass der eine oder andere Standort, der sich in der
Mitte Deutschlands befindet, erhalten bleibt. Das festzuhalten gehört auch zur Wahrheit.
Die letzte Überlegung, die ich in diese Debatte noch
einbringen wollte, ist: Angesichts der Erweiterung der Europäischen Union müssen wir natürlich dafür sorgen, dass
die Standorte des Bundesgrenzschutzes zukunftsfest sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Es spricht jetzt der
Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der
Union suggeriert, dass der Bundesgrenzschutz an der
Grenze zu unserem mitteleuropäischen Nachbarn Tschechien in einem völlig desolaten Zustand ist und dass die
Beamten dort von raubenden Horden aus Zentralasien geradezu überrannt werden.
({0})
- Dieser Eindruck entsteht, wenn man Ihren Antrag liest.
Notwendig ist eine nüchterne Betrachtung der Probleme. Dabei muss man die Sorgen der Menschen im
grenznahen Gebiet - darauf wurde in der Debatte zu
Recht hingewiesen - ernst nehmen. Dort gibt es tatsächlich Probleme, die absolut nicht hinnehmbar sind und die
für die Menschen dramatische Belastungen darstellen.
Ich vertraue den Regierungen sowohl in Prag als auch
in Berlin, dass sie gemeinsam mit den Beamten vor Ort alles tun werden, um diese zum Teil unhaltbaren Zustände
zu ändern. Der Kollege von der SPD hat bereits darauf
hingewiesen, dass die personelle und technische Ausstattung des Bundesgrenzschutzes und des Zolls fortlaufend
verbessert wird. Dies wird ja auch von allen Fraktionen im
Bundestag unterstützt.
Es geht nicht nur um eine nüchterne Betrachtung der
Situation an der Grenze selbst und im Grenzumland, sondern wir müssen uns auch mit den Ursachen für illegale
Grenzübertritte beschäftigen. Ferner muss man das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien sowie zwischen Tschechien und der Europäischen Union betrachten; auch diese Dimension muss einbezogen werden.
Wenn Menschen den gefährlichen und, wenn sie sich
Schlepperbanden anvertrauen, auch teuren Weg der illegalen Einreise nach Deutschland wählen, dann hat dies
viele Ursachen.
Weil Herr Kollege van Essen die Abgeordnete aus dem
Europäischen Parlament zitiert hat, die sich in für meine
Begriffe sehr falscher und unverantwortlicher Weise
geäußert hat, möchte ich bei dieser Gelegenheit auf Folgendes hinweisen: Dies ist nicht nur nicht die Position der
Bundestagsfraktion und der Bundespartei der Grünen,
sondern es ist auch nicht die Position der Fraktion der
Grünen im Europäischen Parlament. Die Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament hat sich davon klar
distanziert. Bei diesen Schleppern handelt es sich um Seelenverkäufer, die den Tod von Menschen billigend in Kauf
nehmen.
({1})
Das hat nichts Romantisches an sich; das muss man in
aller Klarheit sagen.
({2})
Wir werden diese Ursachen auch nicht ohne weiteres
beseitigen können. Ein Problem - das füge ich für meine
Fraktion ausdrücklich hinzu, auch wenn ich hier keine
einfache Lösung anbieten kann - liegt natürlich darin,
dass wir mit der Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes,
die hier 1993 beschlossen wurde, den Zugang auf dem
Landwege faktisch ausgeschlossen haben.
({3})
Man könnte böse formulieren, dass das eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Schlepperbanden sei.
({4})
- Sie haben ja darauf hingewiesen. Dieser Hinweis legt
uns dringend nahe, dass wir uns mit dem Gesamtkomplex
der Zuwanderung beschäftigen. Deshalb freut es mich,
dass in den letzten Tagen die Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg in die Richtung gelaufen ist, wie wir
die Zuwanderung steuern können.
Wir müssen verhindern, dass Menschen ihr Leben aufs
Spiel setzen und etwa beim Überqueren der Elbe lebensgefährliche Umstände in Kauf nehmen, um die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Niemand - weder die
Menschen im grenznahen Gebiet noch wir, die wir hier
sitzen - kann ruhig schlafen, wenn er sieht, dass Menschen ihr Leben bei dem Versuch verlieren, die Grenze zu
überschreiten.
Man muss diese Debatte auch dazu nutzen, dass wir im
Verhältnis zu unserem Nachbarn Tschechien zu einer ähnlichen Beziehung kommen, wie wir sie gegenwärtig zu
Polen haben. Wir haben hier sehr großen Nachholbedarf.
Natürlich - das wurde bereits gesagt - ist die Motivation
zur Zusammenarbeit auch in Tschechien nicht immer so
gewesen, wie man es sich wünscht. Das hat aber auch Ursachen, die ich in dieser Debatte nicht verschweigen
möchte. Hier wurden in der Vergangenheit Fehler gemacht, wenn ich daran denke, wie Tschechien von uns behandelt wurde und wie die Vorgängerregierung falsche
Akzente im Umgang mit Tschechien gesetzt hat.
({5})
- Ich erinnere daran, dass der Beitritt Tschechiens zur
Europäischen Union von Ihnen mit unzulässigen Fragen
verknüpft wurde.
({6})
Die neue Bundesregierung hat in dieser Frage ein klares
Signal gesetzt. Tschechien kann sich auf uns, auf die Bundesrepublik Deutschland, verlassen. Wir sehen uns als
Anwalt Tschechiens in der Frage der Annäherung an die
Europäische Union und in der Frage der Mitgliedschaft in
der Europäischen Union. Wenn Tschechien eines Tages
- hoffentlich in sehr naher Zukunft - Mitglied der Europäischen Union ist und die Grenze eine innereuropäische
ist, wird sich die Frage sicherlich auf eine andere Weise
stellen.
Ich denke, dass wir gegenüber unseren Freunden in
Tschechien, gerade angesichts der Vergangenheit der
Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang
- ich darf an 1938 erinnern, ich darf aber auch daran erinnern, dass die DDR beteiligt war, als 1968 schlimme
Dinge dort geschehen sind -, eine besondere Verantwortung haben. Deshalb empfehle ich einen sehr sensiblen
Umgang mit diesem Thema.
Ich möchte die Gelegenheit dieser Debatte auch nutzen, um einer Kollegin, der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, zu danken, die in der
Vergangenheit - ich glaube, von allen Fraktionen anerkannt - sehr viel für das deutsch-tschechische Verhältnis
getan und so dazu beigetragen hat, dass wir an dem Punkt
angelangt sind, an dem wir heute stehen. Wenn wir etwas
tun wollen, auch um das Verhältnis zueinander im grenznahen Gebiet zu verbessern, dann sollten wir uns für eine
Politik der guten Nachbarschaft, des intensiven Jugendund Kulturaustausches und der Integration Tschechiens in
die Europäische Union einsetzen. Dies wird den Menschen im grenznahen Gebiet zugute kommen.
Ich bin mir sicher, dass die Regierungen auf Landesebene, die Kommunen vor Ort, die Bundesregierung und
die Prager Regierung gemeinsam dafür sorgen werden,
dass die Probleme so schnell wie möglich einer Lösung
zugeführt werden.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Zunächst
darf ich mich bei den Fraktionen dafür bedanken, dass sie
mir außerhalb der vereinbarten Redezeit die Möglichkeit
zu einigen Bemerkungen geben.
Es freut mich, dass heute Beamtinnen und Beamte des
BGS unter uns sind. Ich halte es auch von meiner Seite aus
für geboten, ihnen für ihre hervorragende Arbeit ausdrücklichen Dank auszusprechen.
({0})
Herr Kollege Baumann, Sie haben selber erwähnt, dass
Herr Staatssekretär Körper in Ihrer Arbeitsgruppe war. Sie
können darin ein Zeichen erkennen, dass wir mit Ihnen
gern in einen Dialog eintreten, was die Verbesserungsmöglichkeiten angeht. Was gut ist, ist immer noch verbesserungsfähig; das bestreitet niemand. Wenn es dazu
von Ihrer Seite konstruktive Anregungen gibt, werden wir
diese vorurteilsfrei prüfen. Dann werden wir sehen, ob
sich an der einen oder anderen Stelle Möglichkeiten anbieten. Da bin ich völlig offen.
Ich will allerdings keine Versprechungen machen, die
ich nicht einhalten kann. Sie wissen, wir haben einen
Haushalt, der unter Konsolidierungszwang steht. Ich bin
sehr stolz darauf, Herr Kollege Baumann, dass ich trotz
der Sparvorgabe, die ich mit meinem Haushalt zu erfüllen
habe, der zu 60 Prozent der inneren Sicherheit dient und
zu 56 Prozent aus Personalkosten besteht, die Mittel für
den BGS im nächsten Jahr nicht absenken, sondern erhöhen werde. Das ist ein großer Erfolg.
({1})
Nur, damit wir uns richtig verstehen: Hier ist über die
Stellenhebungen gesprochen worden. Ich habe den Umfang des Stellenhebungsprogramms im vergangenen
Jahr verdoppelt. Ich erkenne an, dass auch die alte Regierung etwas getan hat; das muss man fairerweise anerkennen. Aber wir haben die Zahl der Stellenhebungen verdoppelt, und wir werden sie weiter erhöhen, weil die
Stellenstruktur im Bundesgrenzschutz im Vergleich zu
den Länderpolizeien nicht in Ordnung ist. Auch das muss
man anerkennen.
({2})
Mir ist bewusst, dass es an der deutsch-tschechischen
Grenze noch Verhältnisse gibt, die uns nicht frohlocken
lassen. Da haben Sie Recht, Herr Baumann; das haben
auch Herr Graf und andere gesagt. Wir haben die notwendigen Kooperationsformen dafür schon geschaffen.
Wir haben mit Tschechien eine Vereinbarung. Ich habe
mit dem Land Sachsen - da bedanke ich mich bei dem
Kollegen Hardraht, mit dem ich hervorragend zusammenarbeite; ich glaube aber, dass ebenso von Sachsen das
Verhältnis als sehr positiv beschrieben wird - eine Vereinbarung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen
dem BGS und der Polizei dieses Landes geschlossen.
Aber man muss die Kirche im Dorf lassen. Ich kann
nicht zu Herrn Eichel gehen, um noch ein paar Millionen
abzuholen, denn die werde ich nicht bekommen. Ich bin
schon froh über das, was ich bekomme. Wir müssen die
Realitäten erkennen.
Ich sage mit aller Vorsicht: Dort, wo Migrationsdruck
ankommt, kann man ihn - da hat der Kollege Graf
Recht - nur begrenzt abfedern.
Letztlich ist es eine vernünftige Politik, bei dem Migrationsdruck dort anzusetzen, wo er entsteht. Ich will
jetzt nicht Details schildern; da geht es auch um die
Grenze zur Slowakei und es geht um vieles an der
deutsch-tschechischen Grenze.
Eine letzte Bemerkung gestatten Sie mir, lieber Kollege Cem Özdemir. Ich schätze Sie, wie Sie wissen. Aber
über den Zusammenhang, den Sie zwischen Asylkompromiss und Migration hergestellt haben, sollten Sie noch
einmal eine Nacht schlafen.
({3})
Ich glaube, Sie können nicht sagen, dass es infolge
einer Zugangsregelung - wir werden immer Zuzugsbegrenzungen haben -, Schleuser gibt. Natürlich gibt
es einen ursächlichen Zusammenhang. Das macht die
Schleuserkriminalität nicht besser.
Da ich jedoch von Ihnen auch weiß, dass Sie nicht eine
unbegrenzte Zuwanderung wollen und auch nicht wollen,
dass Leute das Asylrecht als Zuwanderungsmöglichkeit
nutzen, müssen Sie diesen Zusammenhang noch einmal
genauer prüfen. Ich biete Ihnen auch dazu ein Gespräch
an, damit wir die Dinge richtig einordnen.
Jedenfalls freue ich mich darüber, dass es auf allen Seiten des Hauses das Bestreben gibt, die Verhältnisse dort
zu verbessern. Ich glaube, das ist eine gute Grundlage für
weitere Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Eigenheimzulagengesetzes
und anderer Gesetze
- Drucksache 14/4130 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer
({1}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes
- Drucksache 14/4131 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 14/4422 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Elke Wülfing
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Horst Schild, Wolfgang Spanier,
Dr. Michael Meister, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-
Michael Goldmann sowie Christine Ostrowski haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1) ({4})
Ich sehe keinen Widerspruch im Saal.
Deshalb kommen wir sofort zu den Abstimmungen,
und zwar zunächst über den von den Fraktionen der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent-
wurf zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und
anderer Gesetze, Drucksachen 14/4130 und 14/4422
Buchstabe a). Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Ent-
haltung der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Ei-
genheimzulagengesetzes auf Drucksache 14/4131. Der
1) Anlage 7
Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4422 unter
Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
({5})
- Ich habe hier keine Zustimmung aus der SPD-Fraktion
gesehen. - Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/4329 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Kultur und Medien
Es ist interfraktionell vereinbart worden, die Rede-
beiträge zu Protokoll zu geben, und zwar von den Kolle-
ginnen und Kollegen Gisela Schröter, Beatrix Philipp,
Cem Özdemir, Jörg van Essen, Petra Pau sowie vom
Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4329 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d sowie
Zusatzpunkt 17 auf:
22.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert,
Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturellem Mietwohnungsleerstand
- Drucksache 14/4010 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf
Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus
Treuhandliegenschaftsbeständen in den
neuen Bundesländern
- Drucksache 14/4011 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschulden auf dauerhaft leer stehenden Wohnraum
- Drucksache 14/4350 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes
- Drucksache 14/4351 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Vorlage einer Verordnung zur Umsetzung des
§ 6 a des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksache 14/4399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Christine Ostrowski für die PDS-Fraktion. - Ist es möglich, die Gespräche an der Regierungsbank zu beenden? Das wäre sehr nett.
Das wäre sehr nett.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Drittel der noch im Osten Beschäftigten sind in der Wohnungs- und Bauwirtschaft tätig. Auch das ist ein Grund
dafür, warum wir den Wohnungsleerstand Ost heute zum
wiederholten Male thematisieren - vielleicht zu Ihrer Unlust; denn es ist Freitag und bereits nach 13 Uhr.
Ich freue mich selbstverständlich wie Sie über sanierte
Gebäude, die unseren Städten wieder ein Gesicht geben.
Ich freue mich wie Sie über sanierte Wohnungen in Plattenbauten, in denen zu vergleichsweise niedrigen,
bezahlbaren Mieten große Teile der Bevölkerung wohnen.
Ich sage es ganz deutlich: Die DDR hätte es nicht geschafft, diese Wohnsubstanz zu erhalten.
Der Abstand des Ostens zum Westen misst sich aber
nicht an der Zahl der sanierten Gebäude, an MultiplexVizepräsidentin Petra Bläss
kinos, an Einkaufszentren, an der Infrastruktur. Er misst
sich nicht in zehntel Prozenten; er beträgt ein Vielfaches
davon. Wenn Sie die Lage genau beobachten, dann werden Sie merken, dass überall im Osten - ob der Ministerpräsident nun Biedenkopf oder Stolpe heißt - die Arbeitslosigkeit im Mittel doppelt so hoch ist wie im Westen,
dass die Kaufkraft deutlich niedriger ist, dass die Einkommen niedriger sind und dass es nirgendwo einen
selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung gibt. Weil das so
ist, sind in den letzten zehn Jahren über 2 Millionen Menschen abgewandert. Im Saldo hat der Osten einen Bevölkerungsverlust von über 1 Million Menschen hingenommen. Dazu kommen in den nächsten Jahren verstärkt eine
Alterung und auch ein Wegsterben der Bevölkerung.
Ich sage es Ihnen aus eigener Erfahrung: Ignorieren Sie
diese Tatsachen nicht! Wir haben auch keine Generallösung. Aber wir legen Ihnen heute fünf sachliche Anträge
vor in der ungetrübten Hoffnung, dass Sie diese sachlich
prüfen werden. Sie sind zwar keine Generallösung, würden aber einer Generallösung auch nicht widersprechen.
Man kann ihnen guten Gewissens folgen.
Der erste Antrag beschäftigt sich mit der Streichung
der Altschulden auf leer stehende und negativ restituierte
Wohnungen. Dafür möchten wir 3 Milliarden DM aus den
Erlösen der Versteigerung der UMTS-Lizenzen einsetzen.
Nun werden Sie sagen: 3 Milliarden DM sind aber furchtbar viel Geld. - Für sich genommen, ist das richtig. Aber
erstens sind 3 Milliarden DM nur 3 Prozent dieser unverhofften Erlöse. Zweitens ist gestern nahezu die gleiche
Summe - zu Recht, damit sind wir einverstanden - für den
Bau von Ortsumgehungsstraßen vorgesehen worden. Eigentlich ist es doch nur recht und billig, die Summe, die
man Orten gibt, die vom Autoverkehr gebeutelt sind, auch
für die Zukunft ostdeutscher Städte auszugeben.
({0})
Hinzu kommt, dass der Erblastentilgungsfonds
1,3 Milliarden DM an unverhofften Einnahmen durch die
negativ restituierten Wohnungen erzielt hat; darüber wird
mittlerweile geschwiegen. Es wäre doch das Mindeste,
diese Einnahmen dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden, nämlich für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft.
({1})
Zweitens schlagen wir Ihnen vor, den Eintritt in bestehende Genossenschaften zukünftig über eine Genossenschaftszulage zu fördern. Dies bezieht sich vor allem auf
Menschen, die weniger zahlungskräftig sind. Eine solche
Förderung ist eine Zukunftsinvestition für Ost wie für
West. Zudem ist sie ökologisch, da sie das Bleiben der
Menschen in den Stadtinnenkernen fördert und dem Erhalt des Wohnungsbestandes zugute kommt.
Drittens wollen wir den Wohnungsgenossenschaften,
die sich im Osten aus den ehemaligen Werkswohnungsbeständen gegründet haben, aber inzwischen zu Sorgenkindern geworden sind und nahe am Konkurs sind, finanzielle Hilfe zuteil werden lassen, um ihre Existenz auch
weiterhin zu sichern. Gerade für diese Genossenschaften
sollte der Bund Verantwortung übernehmen, weil sie sich
in absolut strukturschwachen Regionen befinden - und
zwar nahezu zu 100 Prozent -, weil die Genossenschaftsmitglieder zumeist älter sind, weil die Genossenschaften
einen großen Wohnungsleerstand haben, weil sie selbst
der Konkurrenz von bestehenden Genossenschaften nicht
mehr standhalten können, weil die Genossenschaftsmitglieder dort vergleichsweise hohe Beiträge geleistet haben.
Viertens wollen wir eine Maßnahme, die leicht machbar und zudem hilfreich ist. Wir möchten, dass den Wohnungsunternehmen die Grundsteuer auf leer stehende
Wohnungen erlassen wird.
Fünftens schlagen wir eine Härtefallregelung vor, die
im Gegensatz zu dem Entwurf der Regierung wirklich
existenzbedrohten Wohnungsunternehmen entgegenkommt. Es ist schon schlimm genug, dass wir überhaupt
konstatieren müssen, dass es existenzbedrohte Wohnungsunternehmen gibt. Unser Antrag setzt die Existenzgefährdung nicht bei 15 Prozent Leerstand, sondern bei
10 Prozent an. Er macht die Zahlung des Bundeszuschusses nicht von der Gnade der Banken abhängig. Er berücksichtigt Wendewohnungen und bereits abgerissene Wohnungen. Er geht vor allem an die Dinge nicht so heran,
dass Geld nur nach Maßgabe des Haushalts gezahlt wird,
sondern er geht vom Auftrag des Gesetzgebers aus, der
besagt, dass den existenzbedrohten Wohnungsunternehmen zu helfen ist. Dabei kann man nicht davon ausgehen, wie viel man in der Kasse hat, und hinterher
schaut, wie weit man kommt.
Ich weiß natürlich, dass Sie froh sind, überhaupt eine
Härtefallregelung erkämpft zu haben. Das ist mir durchaus bewusst. Aber Sie wissen: Die ostdeutsche Bevölkerung schrumpft schnell und altert schnell. Sie wissen, dass
dadurch der Wohnungsleerstand weiter wächst. Sie wissen, dass die schrumpfende Bevölkerung sich auf die
Nachfrage nach wirtschaftlichen Leistungen, Dienstleistungen, Infrastruktur auswirkt. Sie wissen, dass sich eine
Vermögensentwertung bisher unbekannten Ausmaßes
vollzieht.
Frau Kollegin
Ostrowski, Sie müssen zum Schluss kommen.
Damit komme ich zum
Schluss. - Ein Wittenberger Unternehmen schrieb uns
gestern - ich zitiere -:
Der Leerstand hat ... die 40-Prozent-Marke überschritten. Der Bevölkerungsrückgang um 2 bis
3 Prozent hält unvermindert an, sodass mit einem
weiteren Leerstand ... im gesamten Stadtgebiet ... zu
rechnen ist.
Ich sage Ihnen: Meine Erfahrung, dass man einen
Herzinfarkt nicht mit einer Schmerztablette heilen kann,
sollten Sie beherzigen. Ich bitte Sie, in Ihrer Politik entsprechend vorzugehen.
({0})
Da die Kolleginnen
und Kollegen Dr. Peter Danckert, Dr. Christine Lucyga,
Heinz Seiffert, Franziska Eichstädt-Bohlig, Dr. Karlheinz
Guttmacher - ich denke, mit Ihrem Einverständnis - ihre
Reden zu Protokoll gegeben haben, schließe ich die Aus-
sprache.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4010, 14/4011, 14/4350, 14/4351
und 14/4399 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den letzten Tagesordnungspunkt, und
zwar den Zusatzpunkt 18, auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu den arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der angekündigten Schließung von Bahnwerken durch die
Deutsche Bahn AG
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDSFraktion hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Bundestagsfraktion
hat eine Aktuelle Stunde zu dem eben angekündigten
Thema beantragt. Ausgangspunkt ist, dass der Vorstand
der Deutschen Bahn AG Mitte Oktober in einer wahren
Nacht-und-Nebel-Aktion die Schließung von sechs Spezialwerken, die zum Verbund der Deutschen Bahn AG
gehören, sowie von vier Instandhaltungswerken beschlossen hat, sollte sich in den nächsten Tagen und Wochen
nicht kurzfristig noch ein Investor finden. Darüber hinaus
wurde für vier weitere Standorte ein deutlicher Arbeitsplatzabbau angekündigt.
Diese Entscheidung des Bahnvorstandes macht uns
große Sorge. Die Umstände, wie dieser Beschluss zustande gekommen ist, und die Frage, mit welchen Folgewirkungen zu rechnen ist, sollen Thema unserer Aktuellen Stunde sein. Nicht nur der Vorstand der Deutsche
Bahn AG ist gefordert, auch die Bundesregierung darf
nicht tatenlos zusehen. Bislang haben wir aber den Eindruck, dass sie das tut. Das aber ist unverantwortlich.
({0})
Es handelt sich bei den angekündigten Schließungen
um die Werke Gleisbaumechanik Brandenburg, Stahlbau
Dessau, Fahrzeugbau Halberstadt, Stahlbau Vacha, das
Forschungs- und Entwicklungswerk Blankenburg ({1}) - alles Unternehmen in den neuen Bundesländern - sowie um das Fernmeldewerk in München-Aubing.
Bei den zur Schließung angekündigten Instandhaltungswerken handelt es sich um die Werke Stendal in
Sachsen-Anhalt, Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, Leipzig-Engelsdorf sowie um den Standort München-Neuaubing.
Darüber hinaus soll Arbeitsplatzabbau in Erfurt,
Chemnitz, Hannover sowie in Limburg vorgenommen
werden.
Insgesamt werden mit dieser Entscheidung des Bahnvorstandes mindestens 5 000 Arbeitsplätze von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den betroffenen Unternehmen akut gefährdet. In den Zulieferbetrieben und den
Servicebereichen sind darüber hinaus weitere 10 000 Beschäftigte betroffen. Die Situation ist also außerordentlich
angespannt; es handelt sich hier um ein akutes soziales und
arbeitsmarktpolitisches Problem.
Es ist kein Zufall, dass sich die Deutsche Bahn AG mit
dieser Entscheidung offensichtlich weiter für den bevorstehenden Börsengang fit machen möchte; denn vorangegangene Entscheidungen gehen ebenfalls in Richtung eines sozialen und auch wirtschaftlichen Kahlschlags. Zu
Recht sind deshalb die Proteste der Belegschaften massiv
angewachsen. Auch in anderen Unternehmensbereichen
sieht die Bahn AG künftig Kahlschlag vor: Dazu gehören
der Abbau von Interregio-Verbindungen oder der Verzicht
auf den Einsatz von Mitropa-Wagen in Reisezügen. Allein
durch Letzteres sind etwa 1 000 Arbeitsplätze bei der traditionsreichen Mitropa, einer Bahntochter, akut gefährdet.
Kahlschlagpolitik ist also angesagt. Diese Absichten
der Deutschen Bahn AG ordnen sich in die Politik von
Pleiten, Pech und Pannen ein. Auf dem Rücken der Belegschaft der Deutschen Bahn AG - es sind weitere Tausende Arbeitsplätze gefährdet - soll der Börsengang vorbereitet werden, bei dem eben nur noch renditestarke
Unternehmensbereiche an die Börse gebracht werden sollen. Das lehnen wir ganz entschieden ab.
({2})
Die Entscheidung ist im Bahnvorstand ohne jegliche
Einbeziehung gesellschaftlicher Gremien und unter
grober Missachtung des Betriebsverfassungsgesetzes getroffen worden. Der Vorstand der Transnet - Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands - hat davon erst aus
den Medien erfahren. Wo sind wir denn im Herbst 2000
angekommen, wenn solche Praktiken um sich greifen?
Ich begrüße vor diesem Hintergrund ganz herzlich anwesende Betriebsrätinnen und Betriebsräte, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker aus den betroffenen Unternehmen und Regionen.
({3})
Bei den betroffenen Regionen handelt es sich überwiegend um strukturschwache Gebiete in Ostdeutschland.
Ich frage mich: Welchen Wert hat noch das Wort des
Kanzlers, den Aufschwung Ost persönlich in die Hand zu
nehmen?
Der Vorstand der Deutschen Bahn AG wird von uns
aufgefordert, die angekündigte Schließung der zehn
Werke sofort rückgängig zu machen und alles dafür zu
tun, dass die entsprechenden Unternehmen wettbewerbsfähiger werden und eine echte Zukunftschance erhalten.
({4})
Ab sofort ist auch wieder das Betriebsverfassungsgesetz
einzuhalten. Auch die Bundesregierung ist aufgefordert,
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 9
denn der Bund ist 100-prozentiger Gesellschafter der
Deutschen Bahn AG.
Die Bundesregierung wird überdies aufgefordert, solche Rahmenbedingungen für die Unternehmen, die heute
zur Diskussion stehen, und auch für weitere, die zum Unternehmensverbund Deutsche Bahn AG gehören, zu
schaffen, dass eine zukunftsfähige Entwicklung und Innovationen möglich werden. Dafür gibt es gute Chancen.
Unterbleibt das, werden auch die strukturschwachen Regionen und Kommunen weiterhin große Sorgen haben
müssen. Der Arbeitsplatzabbau führt nämlich zu erheblichen Problemen in den Regionen und wird zu Belastungen führen, die wir alle hier nicht hinnehmen dürfen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich
dazu zu äußern, wie viel Bahn und wie viele dazugehörige
Bahnunternehmen sie haben will. Sie muss sich für die
Beschäftigten in der Deutschen Bahn AG und für diejenigen, die in von ihr abhängigen Bereichen einschließlich
der Bahnindustrie arbeiten, einsetzen; denn in der Bahnindustrie sind Arbeitsplätze ebenso massiv gefährdet.
({5})
Wir fordern Sie daher auf, die heutige Aktuelle Stunde
zu nutzen, um gegenüber den anwesenden Betriebsrätinnen und Betriebsräten, den Kommunalpolitikerinnen und
Kommunalpolitikern der Region konkrete und kontrollfähige Aussagen zu treffen und dementsprechende Entscheidungen in der nächsten Zeit im Deutschen Bundestag herbeizuführen.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sorge um die
Arbeitsplätze beschäftigt uns sicher alle. Es zeugt aber
schon von Populismus, wenn die PDS diese Aktuelle
Stunde zu einem Zeitpunkt ansetzt, nachdem Bahnvorstand und Gewerkschaft Gott sei Dank ein erstes Gespräch geführt haben.
({0})
In einem Beschäftigungsbündnis der DB AG mit den
Tarifpartnern wurde festgelegt, die notwendige Konsolidierung des Unternehmens sozialverträglich zu gestalten.
Dies erfordert für die Bahn die Rücksichtnahme auf die
im Betriebsverfassungsgesetz niedergelegten Rechte und
Pflichten. Ich gebe Ihnen von der PDS Recht: Die Art und
Weise, wie die Bahn ohne vorherige Rücksprache mit den
Mitarbeitervertreterinnen und -vertretern diese Maßnahme verkündet hat, hat schlichtweg - dies hat uns alle
auf die Palme gebracht - gegen das Betriebsverfassungsgesetz verstoßen.
({1})
Das können wir selbstverständlich so nicht hinnehmen.
Ich verstehe die Verärgerung der Betroffenen. Wir haben
großes Verständnis dafür gezeigt, dass die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner auf die Straße gegangen sind und
vor der Zentrale der DB AG demonstriert haben.
Für die Konsolidierung der Bahn - die sich wirklich in
einer schwierigen Situation befindet - wird wichtig sein,
dass wesentliche Veränderungen in Zukunft nur im Dialog mit den Vertretern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschlossen werden. Betriebsräte und Vorstand
der Bahn müssen zu einer gemeinsamen Linie kommen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch die Bundesregierung immer wieder klargestellt hat, dass betriebsbedingte
Kündigungen auf keinen Fall stattfinden werden. Dies hat
Bundesverkehrsminister Klimmt schon im Sommer festgestellt.
Wir begrüßen, dass nach der berechtigten Verärgerung
über die fehlgeschlagene Kommunikation zwischen
Bahnvorstand und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
- dies hat natürlich zu einer völligen Verunsicherung bei
ihnen und ihren Familien geführt, da sie um ihre Existenz
fürchten mussten - ein Gespräch zwischen Bahnvorstand
und Gewerkschaft stattgefunden hat. Bei diesem Gespräch wurde Folgendes festgelegt:
Erstens. Eine Versachlichung der weiteren Diskussion
soll stattfinden.
Zweitens. Die Instandhaltung gehört weiterhin zum
Kerngeschäft der Bahn.
Drittens. Es werden Gespräche mit potenziellen Investoren geführt, um Standorte und damit Arbeitsplätze zu erhalten.
Die Bundesregierung hat natürlich die Aufgabe, das
System Bahn - die Verkehrsinfrastruktur auf der
Schiene - zu unterstützen.
({2})
Schwerpunkt im Zukunftsinvestitionsprogramm sind
2 Milliarden DM, die pro Jahr in die Schiene investiert
werden sollen, und zwar zusätzlich zu den vorhandenen
Investitionsmitteln. Diese Mittel werden dazu beitragen,
das System Bahn zu erhalten und Arbeitsplätze abzusichern.
({3})
In den Jahren der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P.
sind die vorgesehenen Investitionsmittel jährlich um
3 Milliarden DM gekürzt worden.
({4})
Vor dem Hintergrund der jahrelangen mangelhaften Ausstattung muss man natürlich konstatieren, dass die
schwierige Situation der Bahn auch etwas mit Ihren massiven Kürzungen der Investitionsmittel zu tun hat.
({5})
Wir haben mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm den
wichtigen Einstieg geschafft, die Strecken der Bahn instand zu halten. Das heißt, das Netz erfährt eine Konsolidierung.
Abschließend möchte ich sagen, dass nur zusätzliche
Investitionen in die Bahn vonseiten der Bundesregierung
dieses Verkehrssystem für die Zukunft sichern werden.
Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Uns allen ist
klar: Die Sicherung des Verkehrssystems Bahn wird über
das Zukunftsinvestitionsprogramm hinaus, das einen
wirklich guten Start hatte, eine langfristige Angelegenheit
sein.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Otto.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
Deutsche Bahn AG bietet zurzeit - zumindest in der Öffentlichkeit - teilweise ein chaotisches Bild. Hieß es noch
vor einigen Wochen, sie wolle zehn Reparaturwerke
schließen und rund 5 000 Beschäftigte entlassen, so verlautete wenig später, von der Kündigung seien tatsächlich
nur 3 000 Mitarbeiter betroffen. Zu Beginn dieser Woche
gab es in der Presse eine Meldung, dass für etwa 1 000 Mitarbeiter eine Weiterbeschäftigung in anderen Betrieben
gesichert sei. Gerade gestern war in einigen Zeitungen zu
lesen, dass die Bahn die Schließung von vier Werken vorerst auf Eis gelegt habe. „Quo vadis, Bahnvorstand?“,
kann man dazu nur sagen. Oder besser: Wohin willst du
eigentlich?
So spricht es zum Beispiel nicht gerade für Kontinuität
und ein durchdachtes Konzept, dass die Bahntochter
DB Regio unlängst gemeinsam mit dem Land Thüringen
für 200 Millionen DM neue Triebwagen gekauft hat und
das dafür vorgesehene Instandhaltungs- und Wartungswerk in Erfurt personell massiv reduzieren will. Es hat
den Anschein, dass der Bahnvorstand - er ist sehr schnell
eingeknickt - entweder seine Entscheidungen mit der
heißen Nadel gestrickt oder sich dem massiven Druck der
Gewerkschaften gebeugt hat. Beide Möglichkeiten würden allerdings kein gutes Licht auf den Bahnvorstand
werfen.
({0})
In den lautstarken Protesten der vergangenen Tage, die
gerade von den Gewerkschaften und der PDS geschürt
wurden, sind dann aber alle vernünftigen Argumente untergegangen, sodass die unpopulären Schritte der Bahn
nicht erklärt wurden.
({1})
Von allen Seiten - auch aus diesem Hause - wurde die
Bahn AG aufgefordert, sich zu einem profitablen Unternehmen zu wandeln. Mit einer Reihe von Maßnahmen hat
der Vorstand nun diesen notwendigen Weg eingeschlagen,
um endlich aus den massiven betriebswirtschaftlichen
Problemen herauszukommen. Dass hierbei zum Teil tiefe
Einschnitte notwendig waren und sind, weiß jeder Kenner
der Materie. Ich will nichts dazu sagen, wie diese Maßnahmen sozial begleitet werden. Das ist ein anderes
Thema. Aber die Forderung, die Bahn in ein rentables Unternehmen umzuwandeln, steht im Raum.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, jetzt utopische Forderungen nach Erhalt aller
Werke, garniert mit einer Aufstockung von Bundesmitteln, aufstellen, dann ist das nichts weiter als blanker Opportunismus und Populismus.
({2})
In den Jahren von 1994 bis 2002 werden allein für den
Abbau wirtschaftlicher Altlasten bei der Bahn vom Bund
33 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Es kann beim
besten Willen nicht mehr so weitergehen, dass der Bund
ständig zuschießt und die Bahn ein unrentables Unternehmen bleibt. So können wir die Bahn letztlich nicht erhalten.
({3})
Ich betone hier ausdrücklich: Die Bahn ist nicht mehr
wie in der Vergangenheit ein staatsmonopolistischer Industriebetrieb, sondern ein Dienstleistungsunternehmen,
das sich wie jedes andere wirtschaftlich, also rentabel,
ohne Verluste, am Markt behaupten muss. Das, was die
Bahn heute beschließt, ist aber in jedem Fall eine betriebsinterne Entscheidung. Wir können nicht sagen: Die
Bahn ist zwar ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen, aber alle Entscheidungen, die innerhalb dieses
Unternehmens getroffen werden, werden kommentiert
und dann zurückgezogen, wenn sie schmerzhafte Einschnitte bedeuten. Wir können hier nicht seit Jahren die
Bahn AG auffordern, Kosten einzusparen, um dann, wenn
es zur Sache geht, einzuknicken; das geht nicht. Hier
braucht die Bahn von uns Flankenschutz. Allerdings verlangen wir von der Bahn eine gewisse Kontinuität.
Die Bahn muss sich jetzt von defizitären Aktivitäten
trennen. Dazu gehören eben auch die betroffenen Werke,
die nach Aussage der Bahn in den vergangenen Jahren
insgesamt dreistellige Millionenverluste gemacht haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bahn
kann nicht länger am Tropf des Bundes hängen. Aber wir
fordern natürlich vom Bund und von der Bundesregierung, dass die jetzt notwendigen Einschnitte durch die
Bundesregierung sozial begleitet werden. Der Bund als
Anteilseigner der Bahn hat eine gewisse soziale Verantwortung für die Arbeitnehmer in diesem Unternehmen.
Vielen Dank.
({4})
Es spricht jetzt Kollege Albert Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Otto, Sie haben an einigen Stellen Ihrer Rede davon gesprochen, die Gewerkschaften
hätten Druck aufgebaut, Betriebsräte hätten Proteste geschürt und so weiter.
({0})
- Das Wort „geschürt“ haben Sie gebraucht; Sie können
es im Protokoll nachlesen.
({1})
Ihren Vorhalt weise ich ausdrücklich zurück; ich will
Ihnen auch sagen warum.
Die Beschäftigten der Deutschen Bahn AG haben es
nicht nötig, von Ihnen darüber belehrt zu werden, dass die
DB künftig als privatisiertes Unternehmen auch wirtschaftlich zu führen ist. Denn in einer beispiellosen Anstrengung ist es in den letzten Jahren gelungen, die Produktivität dieses Unternehmens um über 100 Prozent zu
steigern. Gerade die Beschäftigten haben dazu einen immensen Beitrag geleistet.
({2})
Sie wissen, dass die Produktivitätsverbesserungen
noch weitergehen müssen. Gerade die aktuell verabredete
Lohnrunde hat gezeigt, dass beide Tarifpartner ihre Verantwortung sehr genau kennen. Sie brauchen ihnen keine
Belehrungen darüber zu geben, welchen Druck sie ausüben dürfen oder nicht.
({3})
Zum Zweiten weise ich, Herr Kollege Otto, Ihre Belehrungen darüber zurück, dass eine privatisierte Bahn
keine politischen Eingriffe mehr zu erdulden habe. Niemand anders als die CDU-geführte Bundesregierung hat
der Bahn politisch schöngerechnete Großprojekte aufs
Auge gedrückt. Die Neubaustrecke Frankfurt-Köln war
plötzlich 2 Milliarden DM teurer, als Sie uns damals vorausgesagt haben. Der Knotenausbau Berlin bringt plötzlich ein Loch von 2 Milliarden DM. Heute lesen wir in der
Zeitung, die Strecke Ingolstadt-München wird auch
1 Milliarden DM teurer. - Das waren die von Ihnen schöngerechneten Projekte. Gleichzeitig haben Sie die Investitionen jedes Jahr gekürzt. Die Löcher, die jetzt entstanden
sind, haben Sie zu verantworten.
({4})
Jetzt aber zur Sache, um die es heute geht. Die Parteipolitik sollte sich sicherlich in tarifliche Auseinandersetzungen - auch in Auseinandersetzungen um Arbeitsplätze - nicht in jedem Fall und immer gleich einmischen.
Aber bei derart gravierenden Standortentscheidungen, um
die es hier geht - es sind die Arbeitsplätze tausender Menschen und damit auch ihre Familien, ihr gesamtes Umfeld
betroffen -, möchte ich deutlich sagen, dass alle Hilfsinstrumente der öffentlichen Hand mobilisiert werden müssen.
({5})
Ich bin sehr froh und dankbar, dass der Staatsminister im
Bundeskanzleramt genau dies vor wenigen Tagen klargestellt hat.
Wir stehen erst am Anfang und noch lange nicht am
Ende der Problemlösung. Aber ich bin sehr froh, dass die
erste Runde, die am vergangenen Dienstag stattgefunden
hat, zwischen Vorstand und Belegschaft bzw. Betriebsräten einige Klarstellungen gebracht hat:
Erstens. Das Drittkundengeschäft und der Fahrzeugumbau sollen auch weiterhin wirtschaftlich betrieben
werden. Damit soll Beschäftigung ausdrücklich gesichert
werden.
Zweitens. Die Instandhaltung von Fahrzeugen gehört
auch weiterhin zu den Kernaufgaben des Unternehmens.
Drittens. Es wird und muss in der nächsten Verhandlungsrunde für alle Beteiligten - auch für die Beschäftigten und ihre Vertretungen - nachvollziehbares Zahlenmaterial geliefert werden.
Damit hat eine gewisse Versachlichung stattgefunden,
aber noch längst keine Problemlösung. Ich möchte hier
von politischer Seite aus keine gute Ratschläge geben,
aber ich möchte doch klarstellen, dass wir hier im Deutschen Bundestag etwas erwarten. Wir erwarten, dass die
Zusage des Bundesverkehrsministers, wonach betriebsbedingte Kündigungen als Instrument der Sanierung ausscheiden, auch in diesem Fall und weiterhin gilt.
({6})
Wir erwarten ebenfalls, dass künftig Planungsbeschlüsse und Planungsvollzug Gegenstand eines Verfahrens sind, das mit dem Betriebsverfassungsgesetz in
Übereinstimmung zu bringen ist und das die Beteiligungsverfahren gemäß dem so genannten Interessenausgleich vom 20. September dieses Jahres berücksichtigen
muss. Wir erwarten zudem, dass die Durchführung des
weiteren Verfahrens inklusive sämtlicher notwendigen Informationen sichergestellt bleibt; wenngleich ich einräumen muss, dass die Planungen bereits Anfang 1998
- jedenfalls nach meiner Kenntnis - von der Unternehmensleitung gegenüber den Standorten zumindest informativ in Gesprächen erörtert worden sind. Schließlich erwarten wir, dass die Umsetzung von Planungsbeschlüssen
erst nach der Durchführung eines solchen Beteiligungsverfahrens vorgenommen wird.
({7})
Die nun laufenden Gespräche mit möglichen Investoren müssen fortgesetzt werden; das Ziel aller Aktivitäten
muss sein, die Standorte und die Arbeitsplätze zu erhalten.
Das ist der Kern unserer Zielsetzung. Von daher ist es in
der Tat eine positive Klarstellung der letzten Tage, dass
eine unternehmensinterne Erhebung eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für mindestens 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Konzern sieht. Im Übrigen wird
noch nach weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten gesucht. Zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten wird es
dann geben können, wenn an Standorten, die bekanntlich
schwarze Zahlen schreiben - zum Beispiel Stendal -, eine
echte Privatisierung ein lukratives Geschäft ermöglicht.
Dann ist es für die Beschäftigten nicht mehr die wichtigste Frage, ob sie ihren Arbeitsplatz innerhalb oder außerhalb des Konzerns haben, sondern wichtig ist für sie, dass
sie mit ihrem Arbeitsplatz in ihrer Firma eine Zukunft behalten.
({8})
Ich möchte abschließend sagen: Wir brauchen eine verantwortliche Zusammenarbeit der Tarifparteien. Ich habe
insofern uneingeschränktes Vertrauen. Beide Seiten haben in den letzten Jahren bestätigt, dass sie dazu in der
Lage sind. Weiterhin brauchen wir eine politische Unterstützung, und zwar auf allen Ebenen, von der Landes- bis
zur Bundesebene. Eine solche Unterstützung erwarte ich
ebenso wie die betroffenen Beschäftigten.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich bin kein ausgewiesener Verkehrspolitiker und rede trotzdem gerne zu diesem Thema,
weil mir die Produkte der betroffenen Werke als engagierter Eisenbahnfreund bekannt sind, weil ich sie besonders schätze und weil mich in diesem Zusammenhang
auch das Schicksal dieser Werke außerordentlich Weise
interessiert.
Es trifft zu, was der Kollege Otto gesagt hat.
({0})
Wir wollen, dass die Bahn wirtschaftlich handelt. Deshalb
haben wir die Entscheidung getroffen, die Deutsche Bahn
AG als selbstständiges wirtschaftliches Unternehmen zu
schaffen. Dazu gehört, dass dieses Unternehmen auch
eine wirtschaftliche Handlungsfreiheit haben muss, und
zwar auch dann, wenn unangenehme Entscheidungen notwendig sind. Das muss betont werden. Würde sich nämlich die Politik bei jeder einzelnen Maßnahme einmischen, würde - was wir uns eigentlich erhoffen - ein
Unternehmen, das am Markt Bestand haben kann und damit einen Zustand erreicht, der die Arbeitsplätze für die
Zukunft sichert, immer wieder in Frage gestellt. Das ist
der erste Gesichtspunkt.
Der zweite - für mich ebenso wichtige - Gesichtspunkt: Wir haben im Bereich der Bahnindustrie Überkapazitäten, und zwar nicht nur im Bereich der Bahn, sondern auch im Bereich der Privatwirtschaft. Auch im
letzteren Bereich sind Werke in den neuen Bundesländern
betroffen. Wer sich hier für den Erhalt des einen oder anderen von der DB betriebenen Werkes in die Bresche
wirft, muss auch auf die Frage nach den anderen, den privatwirtschaftlichen Unternehmen Antworten parat haben.
Wir hatten gerade wieder einen Zusammenschluss, weil
eine Unternehmenssparte im Bereich der Bahnindustrie
verkauft worden ist, und zwar die Firma Adtranz. Dieser
Vorgang wird zu Zusammenschlüssen und damit zu Kapazitätseinschränkungen sowie möglicherweise zu einem
Arbeitsplatzabbau führen. Auch das gehört mit zu den
Realitäten.
Deshalb geben wir als F.D.P. in diesem Zusammenhang eine zweifache Antwort: Wir wollen erstens, dass
alle Möglichkeiten innerhalb des Konzerns geprüft werden. Ich glaube, es macht für die Bahn auch Sinn, sowohl
eigene Instandhaltungskapazitäten als auch eigene Umbaukapazitäten weiter vorzuhalten. Wer sich zum Beispiel
vor Augen führt, welches neue Produkt aus den „langen
Halberstädtern“ geschaffen wird, muss zugeben, dass der
neu geschaffene Wagen wirklich wettbewerbsfähig ist. Er
erfüllt die Ansprüche der Bevölkerung an ein modernes
Fahrzeug voll. Wir wollen aber auch sehen, welche Möglichkeiten es für ein Outsourcing und für Privatisierungen
gibt. Wir wissen, dass zu diesem Thema bereits heute
Möglichkeiten angedacht werden.
Zweitens wollen wir, dass alle Maßnahmen für die Beschäftigten durchsichtig werden, dass sie einbezogen werden, dass alles versucht wird, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, und zwar nicht nur im Bereich der
Bahn, sondern auch in privatisierten Unternehmen.
Wenn dieser Weg der Vernunft gegangen wird, dann
dient das der Deutschen Bahn als Unternehmen und dann
dient es auch allen Mitarbeitern. Wir sollten uns gemeinsam anstrengen, diesen Weg zu begleiten, aber auch nur
zu begleiten; denn Aufgabe der Politik ist es nicht, sich in
Entscheidungen einzumischen oder sich sogar selbst zum
Entscheider zu machen. Darauf legen wir größten Wert.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion ist die Kollegin Jelena Hoffmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorige Woche, am
19. Oktober, haben die Eisenbahner hier in Berlin vor der
Zentrale der Deutschen Bahn AG demonstriert. Ich war
auch dabei. Ich war zwar in den letzten zehn Jahren auf
mehreren Demonstrationen und Kundgebungen, aber
zum ersten Mal hatte ich wieder ein Gefühl, das mich an
1989 erinnert hat.
Bitterernst war es den Frauen und Männern am SonyForum mit ihrer Forderung, die Personalpolitik à la
Mehdorn zu beenden. Es war nicht nur Wut, die allein aus
Chemnitz etwa 800 Eisenbahner nach Berlin gebracht hat.
Es war auch Verzweiflung und die Sorge um die Zukunft
ihrer Familien. Allen ist klar: Herr Mehdorn hat keine einfache Aufgabe. Viele Strecken sind marode. Man muss
Albert Schmidt ({0})
viel investieren. Doch die Umsatz bringenden Fahrgäste
fehlen. Aber auch die Eisenbahner muss man verstehen.
Sie haben Angst, weil sie wissen: Sie werden schlicht und
einfach rausgeschmissen.
Als wir im Jahre 1993 die Bahnreform beschlossen haben, war das hoffnungsvolle Ziel dieser Reform, die Bahn
durch Privatisierung zu einem selbstständigen, profitablen und auch kundenorientierten Unternehmen zu entwickeln. Dass wir dabei immer wieder auf unbequeme
Tatsachen stoßen würden, war uns auch klar. Trotzdem
kommt bei mir der Zweifel auf, ob die jetzige Bahnpolitik die richtige ist, vor allem im Osten des Landes.
Es sollen vier Standorte geschlossen werden. Drei davon liegen in den neuen Bundesländern, Stendal, LeipzigEngelsdorf und Neustrelitz. Es stehen noch fünf weitere
Standorte vor dem Aus. Davon liegen wiederum drei in
Ostdeutschland. Auch von den vier Werken, in denen Personal reduziert werden soll, liegen zwei in Ostdeutschland, und zwar in Erfurt und in Chemnitz, meinem Wahlkreis. Nach Personalabbau soll der Chemnitzer Betrieb
wohl ganz geschlossen werden. Aber wir brauchen keine
Entlassungspolitik in Ostdeutschland, sondern eine vernünftige Investitions- und Aufbaupolitik.
({1})
Das Chemnitzer Werk schreibt schwarze Zahlen. Dort
sind etwa 930 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Davon sind 36 Schwerbehinderte und 80 Azubis. In
der Region ist das Werk der größte Arbeitgeber im
produzierenden Gewerbe, an dem auch viele Arbeitsplätze bei den Zulieferern und Dienstleistern hängen.
Nach Aussage der Belegschaft bedeutet der Abbau von
400 Arbeitsplätzen den Untergang des Werkes, da der Betrieb mit dem Rest der Mitarbeiter nicht mehr wirtschaftlich arbeiten kann. Dabei entsteht für die Region ein Verlust an Fachkräften. Natürlich werden die jüngeren
Fachkräfte wegziehen. Dadurch entsteht ein Verlust an
Kaufkraft, der besonders die meist nur regional agierenden kleinen und mittleren Unternehmen trifft. Es entsteht
ein Verlust an Steuereinnahmen, der die Kommunen angesichts ihrer ohnehin knappen Kassen schwer trifft. Die
Beschlüsse von Herrn Mehdorn sind für die Region katastrophal und volkswirtschaftlich überhaupt nicht zu vertreten. Auch die betriebswirtschaftliche Rechnung versteht niemand im C-Werk in Chemnitz.
Chemnitz ist nur ein Beispiel aus der Streichliste von
Herrn Mehdorn. Mit der „Gleisbau-Mechanik“ aus dem
brandenburgischen Kirchmöser, bei der 130 Eisenbahner
beschäftigt sind, könnte ich die Liste fortführen. Ich begrüße die Betriebsräte und Mitarbeiter dieses Betriebs, die
oben auf der Besuchertribüne sitzen.
({2})
Hinzu kommt die Art und Weise, wie die Mitarbeiter
von den Plänen des Vorstandes erfahren haben: Weder die
Belegschaft samt Führungskräften noch die Vertreter der
Region sind in den Entscheidungsprozess einbezogen gewesen. Es ist nach dem Motto „Die Entscheidung ist gefallen, jetzt können wir miteinander reden“ verfahren
worden. Mag ja sein, dass die Bahn AG mit einigen wenigen Strecken, wie im Frankfurter oder im Düsseldorfer
Raum, wirtschaftlich gut dastehen wird bzw. schon dasteht. Aber ob dann das privatisierte Unternehmen auch
dem entsprechen wird, was im Jahre 1993 vom Bundestag gewollt war, wage ich zu bezweifeln.
Deshalb fordere ich den Vorstand der Bahn AG nachdrücklich auf, gemeinsam mit allen Beteiligten neue Vorschläge zu erarbeiten. Darauf warten die Menschen vor
Ort.
Danke.
({3})
Der nächste Redner ist
der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die
Nachricht über die Pläne der Deutschen Bahn AG, Werke
stillzulegen und Instandhaltungskapazitäten zurückzufahren, kam überraschend. Kollege Otto und Kollege van
Essen haben Recht: Die Bahn muss sich von unrentablen
Unternehmen trennen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob
hinreichend geprüft worden ist - da würde ich gern einmal den Herrn Aufsichtsrat der DB AG fragen, ob er an
einer solchen Prüfung beteiligt war -,
({0})
dass diese Unternehmen tatsächlich defizitär sind und so
unwirtschaftlich arbeiten, wie es immer heißt. Denn es
handelt sich um hoch spezialisierte Unternehmen. Das
sind Unternehmen, die auf die Bedürfnisse der Bahn zugeschnitten sind. Auch die Begründung der DB AG überrascht mich etwas. Sie sagt nämlich: Instandhaltung und
Spezialwerke gehören nicht zu unserem Kerngeschäft.
Tatsache ist doch, dass der Imageverlust der Deutschen
Bahn in den vergangenen Monaten und Jahren nicht zuletzt deswegen zustande kam, weil man - angesichts von
Verspätungen, Unglücken und Sonstigem - den Eindruck
hat, dass schon zu viel an Instandhaltungskapazitäten abgebaut worden ist.
Es wird deswegen meiner Ansicht nach zu Recht bezweifelt, dass das, was die Bahn braucht, tatsächlich so
leicht auf dem feien Markt erhältlich ist. Es scheint mir
außerordentlich kurzsichtig zu sein, wenn die Bahn hoch
qualifizierte Mitarbeiter und damit ein großes Potenzial
an qualifizierten Spezialisten verschenkt.
({1})
Sie sollte tatsächlich noch einmal nachrechnen, ob das
selbst kurzfristig betriebswirtschaftlich vernünftig ist.
Allerdings - lieber Herr Schmidt, da spreche ich Sie als
Jelena Hoffmann ({2})
Aufsichtsrat der Bahn an - habe ich die Befürchtung, dass
die Bahn zurzeit überhaupt nicht mehr in der Lage ist,
langfristige betriebwirtschaftliche Überlegungen und
Vergleiche anzustellen; sie befindet sich nämlich
offensichtlich in einer finanziellen Engpasssituation,
({3})
die sie panikartig zu Streckenstilllegungen, zum Abbau
von Service und zu solchen Reaktionen wie jenen, über
die wir jetzt reden, bewegt.
({4})
Ziel der Bahnreform war - das sage ich Ihnen ganz
klar -, dass die Aufgaben der Bahn effizienter, preisgünstiger und schneller erledigt werden. Ziel der Bahnreform
war aber doch nicht, dass die Aufgaben abgebaut werden,
die Bahn sich also sozusagen aus allen möglichen Aufgabenbereichen zurückzieht. Sie haben als Eigentümer der
Bahn - der Bund ist Eigentümer der Bahn - natürlich auch
nach der Privatisierung eine verkehrspolitische und auch
eine sozialpolitische Verantwortung; das ist doch unbestritten.
({5})
Angesichts dessen wundert es mich schon, dass die Frau
Kollegin Rehbock-Zureich sagt: Na ja, da gibt es den Dialog. - Was macht eigentlich die Bundesregierung? Warum
haben Sie denn offensichtlich erst aus der Presse erfahren,
dass es zu Stilllegungen kommt? Sie müssen sich doch als
Eigentümer rechtzeitig darum kümmern und auch einschalten, anstatt hinterher Krokodilstränen zu weinen.
({6})
Herr Schmidt, es ist schon ein dreistes Stück, wenn
man sagt, die alte Bundesregierung habe der Bahn Investitionen aufgenötigt. Sie stellen der Bahn zu wenig Mittel
zur Verfügung, um ihre Aufgaben zu erfüllen! Das ist
doch der Punkt.
({7})
Dass die Bahn, auch durch Verkehrsleistungen, attraktiver
werden muss, ist doch unbestritten. Ihre Doppelstrategie
ist einfach nicht mehr hinnehmbar.
({8})
Sie können die Leute nicht einfach bei der Ökosteuer abkassieren, damit sie alle mit der Bahn fahren, und den
Leuten dann, wenn sie fragen: „Wo ist denn die Bahn?“,
antworten: „Diese Strecke mussten wir betriebsbedingt
leider stilllegen.“ Das geht nicht; das ist eine Doppelstrategie, die wir auf Dauer nicht mitmachen.
({9})
Was die Steuerzahler erwarten, deren Geld beim Bau
des Lehrter Bahnhofs und von gewissen ICE-Strecken sozusagen vergraben wird, ist, dass das Verkehrsangebot
auch in der Fläche ausreichend vorhanden ist. Die Steuerzahler in Regensburg, in Weiden, in Marktredwitz, in Hof
und in Plauen wollen mit der Ertüchtigung ihrer Verkehrsanbindung nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
vertröstet werden, während sie am Lehrter Bahnhof und
an der ICE-Strecke Frankfurt-Köln sehen, dass sich dort
Großes bewegt.
({10})
Schließlich hat die Bahn - auch der Eigentümer der
Bahn AG - Rücksicht auf die Bahnbediensteten zu nehmen, und zwar in allen Geschäftsbereichen. Was diese
Menschen in den letzten fünf bis sechs Jahren mitgemacht
haben, muss man erst einmal schultern. Mein Respekt gilt
daher den Bahnbediensteten überall im Land, die diese
Veränderungen großartig verkraftet und gut gearbeitet haben. Sie haben ein Anrecht darauf, dass die Bundesregierung als Eigentümerin neben ihrer verkehrspolitischen
auch ihre sozialpolitische Verantwortung wahrnimmt.
Dazu fordere ich sie auf.
Vielen Dank.
({11})
Der nächste Redner ist
der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die DB AG beabsichtigt die Betriebseinstellung in einer Reihe von Werken der schweren Instandhaltung von Loks und Wagen sowie die Personalreduzierung
in weiteren Werken und die Einstellung der Arbeit in Spezialwerken. Außerdem soll es Personalreduzierungen in
einigen Servicebereichen geben. Hauptsächlich betroffen
sind hierbei Werke und Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern.
Klarzustellen ist, dass es sich bei der DB AG um ein allein dem Aktienrecht unterliegendes Unternehmen handelt. Intention der Bahnreform war, unternehmerische
Entscheidungen allein dem Unternehmen zu überlassen,
um diesem eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit
zu ermöglichen. Es ist zwar richtig, dass der Bund eine
grundsätzliche raumordnungspolitische Verantwortung
trägt und dass zumindest einige der betroffenen Werke in
strukturschwachen Regionen liegen.
({0})
Dies ermöglicht der Bundesregierung aber keine Einflussmöglichkeit auf die Geschäftspolitik der DB AG. Dies ist
eine Folge der Bahnreform, deren Grundlagen in einer
nicht immer glücklichen Weise von der früheren Regierung geschaffen worden sind.
Nicht zu übersehen ist, dass seitens der DB AG in den
vergangenen Jahren eine Vielzahl von Neufahrzeugen beschafft wurde, die einem deutlich geringeren Wartungsaufwand unterliegen als Altfahrzeuge. Dadurch konnten
die Instandhaltungsfristen verlängert und die Lebenszykluskosten gesenkt werden.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({1})
Nicht übersehen werden darf allerdings, dass die
DB AG den bisherigen Konsens mit den Gewerkschaften
verlassen hat. Dieses Vorgehen war - es ist bereits gesagt
worden - rechtswidrig. Auch die Geschäftspolitik der
DB AG war nicht immer glücklich. Diese Tatsache kann
ebenfalls nicht geleugnet werden.
Die faktische Entwicklung hat aber gezeigt, dass die
Tarifpartnerschaft zwischen Gewerkschaft und Unternehmen funktioniert. Nach den zwischen den Tarifpartnern
am Dienstag dieser Woche geführten Verhandlungen hat
der Bahnvorstand akzeptiert, an den Verhandlungstisch
mit der Gewerkschaft zurückzukehren, und anerkannt,
dass seine Abkehr vom bisherigen Konsens massive Unruhe unter den Arbeitnehmern ausgelöst hat. Die Tarifpartner sind sich jetzt einig, dass die Instandhaltung weiterhin zu den Kernaufgaben der DB AG gehört und dass
darüber hinaus das Drittkundengeschäft und das Geschäft
mit Fahrzeugumbauten nicht vernachlässigt werden sollen, um Beschäftigung zu sichern.
Der vom Vorstand getroffene Planungsbeschluss wird
Gegenstand eines nach dem Betriebsverfassungsgesetz
durchzuführenden Beteiligungsverfahrens der zuständigen Betriebsratsgremien sein. Der Bahnvorstand hat
sich bereit erklärt, hierfür nachvollziehbares Zahlenmaterial für die nächsten Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern zu liefern, und wird auch die Gespräche mit
potenziellen privaten Investoren fortsetzen, um die
Standorte möglichst zu erhalten sowie alternative
Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten der durch eventuelle Werksschließung betroffenen Mitarbeiter zu schaffen.
Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, die
Bahn zu fördern. Das zeigt gerade das soeben beschlossene Zukunftsinvestitionsprogramm mit hohen zusätzlichen Investitionen zugunsten der Bahn. Auch das sichert
Arbeitsplätze. Die Bundesregierung steht zu ihrer Verantwortung - der Bahn und den Eisenbahnern gegenüber.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin RehbockZureich, zunächst muss ich sagen: Die PDS-Fraktion hat
diese Aktuelle Stunde nicht gestern Nachmittag oder
heute Morgen, sondern am Montag beantragt. Vielleicht
ist es ja möglich, dass die Öffentlichkeit, die damit zusätzlich im Parlament geschaffen wurde, dazu beigetragen hat, dass die Gespräche zwischen der Deutschen Bahn
AG und den Gewerkschaften beschleunigt worden sind.
Das kann ja vielleicht sein.
({0})
Dem Kollegen Otto möchte ich, da er behauptet, die
PDS würde hier Unzufriedenheit schüren, sagen: Sie
überschätzen unsere Möglichkeiten. Im Übrigen kann
man niemandem Existenzängste einreden. Sie werden
vielmehr von den Beschäftigen gefühlt. Darum haben sie
sich ja so artikuliert, wie sie es getan haben.
Herr Staatssekretär, ich habe es als höchst bedauerlich
empfunden, dass weder der Minister noch Sie die Gelegenheit genutzt haben, sich mit den betroffenen Betriebsräten bei deren Besuch hier in diesem Hause - und sei es
nur für wenige Minuten - zu treffen. Wenn es so ist, dass
inzwischen „fast alles in Butter“ ist, wie die Kollegin
Rehbock-Zureich sagt, dann hätten Sie doch eigentlich
mit Freude vor die Betriebsräte treten können, um ihnen
zu sagen, dass ihre Sorgen zumindest abklingen können.
({1})
Ich habe es sehr bedauert, dass Sie diese Möglichkeit
nicht wahrgenommen haben - und das, nachdem heute
Morgen in diesem Hause über die wirtschaftliche Lage in
der Bundesrepublik Deutschland gesprochen worden ist
und die Bundesregierung noch einmal alle Schwüre geschworen hat, wie sehr ihr der Erhalt von Arbeitsplätzen
am Herzen liegt und was sie alles tun möchte, um zum Arbeitsplatzerhalt und zum Neuaufbau von Arbeitsplätzen
beizutragen. Wenn ich dann aber sehe, was mit den Bahnwerken geschehen soll, muss ich sagen, dass all die
Schwüre von heute Morgen ziemlich hohl waren.
Das, was hier abläuft, ist erstens die Wiederholung dessen, was in Ostdeutschland vielfach in der Industrie passiert ist. Dort hat man gesagt, dass die Unternehmen
- zunächst die volkseigenen Betriebe, dann die Treuhandunternehmen - viel zu groß seien; damit sie marktfähig
werden und sich wirtschaftlich betätigen können, müssten
sie sich klein und fein machen. Das war die Losung. Ich
erinnere mich ganz genau.
Inzwischen sind die Beschäftigtenzahlen der Bahnwerke in der Regel bis auf ein Zehntel der ursprünglichen
Beschäftigtenzahlen geschrumpft. Sie haben zudem ihre
Rentabilität erhöht. Jetzt heißt es: Ihr habt eine unterkritische Betriebsgröße, ihr seid am Markt nicht mehr überlebensfähig. Da sage ich mir doch: Das ist absurd und verhöhnt die Beschäftigten, die diese großen Umbrüche
hinter sich gebracht und immer noch mit Optimismus in
die Zukunft geschaut haben.
({2})
Das, was hier abläuft, ist zweitens Ausdruck dessen,
dass es dem Bund zuvörderst um Haushaltssanierung
geht. Darum will er sich von seinem Vermögen trennen.
Das ist zum Beispiel im Falle der Bundesdruckerei so, die
privatisiert werden soll. Die Umstände dort sind insofern
ähnlich, als Beschäftigte überhaupt erst durch gewisse Indiskretionen erfahren, in welcher Weise über ihr Schicksal inzwischen verhandelt worden ist.
Auch bei der Deutschen Bahn AG will man Aufwendungen für die Zukunft einsparen und daher möglichst schnell Strukturveränderungen herbeiführen. Dabei
übt der Anteilseigner Bund Druck auf die Bahn aus. Sie
soll sehr schnell ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, um
börsenfähig zu werden.
({3})
Helmut Wilhelm ({4})
Das alles ist ökonomisch zunächst einmal verständlich.
Aber die Bundesregierung als Anteilseignerin hat ihre eigenen Schulaufgaben, um die Bahn wettbewerbsfähiger
zu machen, bisher nicht erledigt, weil sie die Bahn nach
wie vor steuerlich stärker belastet als andere Verkehrsträger, weil also die Wettbewerbsverzerrung, die es in Bezug
auf andere Verkehrsträger gibt, nicht beseitigt ist. Nun
aber vorrangig Druck in Richtung Personalabbau und
Einsparungen im Sicherheitsbereich auszuüben, um wettbewerbsfähiger zu werden, das kann nicht gut gehen. Das
ist weder wirtschaftlich noch sozial.
({5})
Längerfristig ist das auch kontraproduktiv. Für die Mobilität der Menschen, die auf die Bahn angewiesen sind,
kann man Schlimmes befürchten.
Das, was hier abläuft, ist drittens: Betrieben droht die
Schließung nicht wegen fehlender Aufträge - die sind
nämlich vorhanden -, sondern offenbar deshalb, weil man
die Forcierung von Konzentrationsprozessen vorantreiben will. Als Beispiel nenne ich hier nur das Forschungsund Entwicklungswerk Blankenburg. Es hat vor wenigen
Monaten eine Ausschreibung gewonnen - dies spricht ja
wohl für Wettbewerbsfähigkeit -, wartet aber seit vielen
Monaten auf die Zusage einer Finanzierung der Aufträge.
Am 17. Oktober 2000 erging in dieser Angelegenheit ein
Brief des Betriebsrates an den Bundesverkehrsminister.
Bis heute wurde er nicht beantwortet. Das macht keinen
guten Eindruck, wenn es um soziale Belange von Menschen geht.
Schließlich: Dass gerade in Bundesunternehmen oder
solchen Unternehmen, bei denen der Bund Anteilseigner
ist, Strukturveränderungen - und davon berührte Personalfragen - stets ohne oder mit viel zu später Einbeziehung der Beschäftigten, der Betriebsräte und der Gewerkschaften erfolgen, ist nicht hinzunehmen. Das ist
kein vorbildliches Verhalten. Wie wollen wir der privaten
Wirtschaft etwas abverlangen, wenn der Bund selbst nicht
in Vorleistung tritt?
({6})
Informationen geraten an die Betroffenen oft nur durch
Indiskretion. Das ist kein gutes Zeichen.
Ich hoffe, dass sich die kritischen Akzente, die ich bei
einigen Koalitionsabgeordneten in der Debatte gehört
habe, nicht nur auf Äußerungen in der Aktuellen Stunde
beschränken, sondern dass Sie auf den Anteilseigner
Bund in geeigneter Weise Einfluss nehmen, damit den Beschäftigten ihre berechtigte Sorge genommen werden
kann.
Danke.
({7})
Für die Bundesregierung spricht der Parlamentarische Staatssekretär Siegfried
Scheffler.
Frau
Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Betriebsräte der betroffenen Werke und Regionen, ich darf
Sie alle recht herzlich begrüßen.
Wie so oft hat auch hier die Medaille zwei Seiten. Sowohl von der ganz linken Seite als auch von der rechten
Seite möchte im am Anfang einiges zurückweisen. Frau
Kollegin Luft, Sie haben gesagt, der Bund - damit meinen
Sie ja offensichtlich die DB AG - habe Druck gemacht,
damit Sicherheitsstandards eingeschränkt und Infrastrukturvorhaben nicht realisiert werden. Das weise ich ausdrücklich zurück. Wenn Druck entstanden ist, dann deshalb, weil man sich Anfang der 90er-Jahre auf eine
- parteiübergreifend verabschiedete - große Bahnreform
festgelegt hat, mit der die Deutsche Reichsbahn und die
Bundesbahn zu einem wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen zusammengeführt wurden. Der entscheidende
Punkt ist, dass im Jahre 2003 die wirtschaftliche Selbstständigkeit erreicht werden soll. Es geht also gar nicht darum - ich habe das heute noch nicht aus dem Deutschen
Bundestag heraus gehört; auch können Sie es noch nicht
von der Bundesregierung gehört haben -, dass zu diesem
Zeitpunkt die Börsenfähigkeit hergestellt sein soll. Das
gemeinsame, parteiübergreifende Ziel, das wir mit der
Bahnreform verbunden haben, war die Wirtschaftlichkeit.
Ob die alte oder die jetzige Bundesregierung, beide haben
- das ist auch unser Auftrag - gewaltige Anstrengungen
zur Beseitigung der Altlasten unternommen. Unser Auftrag im Rahmen der Bahnreform war: zum einen Ausbau
der Infrastruktur - ob in den alten oder den neuen Bundesländern - und zum anderen Bereinigung der Altlasten,
die mit der Zusammenführung der beiden deutschen Bahnen verbunden waren.
Wie schwierig dieser Prozess ist, zeigt nicht nur die
Diskussion um die Standorte, um die es heute geht. Es
geht um wesentlich mehr. Auch der Kollege Rössel weiß,
dass es bei der Deutschen Bahn AG um insgesamt
175 Unternehmen mit circa 23 000 Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern geht, die alle von derartigen Untersuchungen betroffen sind.
Dass die Gleisbauausbesserungswerke, die Instandhaltungswerke und die Reichsbahn-Ausbesserungswerke auf
dem Gebiet der ehemaligen DDR gegenüber den Betrieben in den alten Bundesländern natürlich in der Mehrzahl
waren, ist auch bekannt. Aber der jetzigen Bundesregierung vorzuwerfen, sie komme ihrer politischen Verantwortung zu wenig nach, das muss ich ganz klar zurückweisen.
({0})
Dass das nicht stimmt, beweist - Herr Kollege Albert
Schmidt hat das hier schon angesprochen - das Zukunftsinvestitionsprogramm Schiene. Aber wir haben für die
nächsten drei Jahre nicht nur die 6 Milliarden DM aus diesem Programm zur Verfügung, sondern setzen darüber hinaus ab 2003 aus dem Anti-Stau-Programm und den Einnahmen der streckenbezogenen LKW-Gebühr weitere
2,8 Milliarden DM ein.
Bevor ich zum eigentlichen Punkt komme, möchte ich
Ihnen noch verraten, dass mich gestern Abend Betriebsräte von anderen Standorten, die überwiegend in den
neuen Bundesländern sind, sowie der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie, also auch ein Vertreter der Schienenfahrzeugindustrie, angerufen und mir
gesagt haben: Herr Staatssekretär, die Bundesregierung
will doch wohl nicht Geld in die Hand nehmen, um angesichts der vorhandenen Überkapazitäten in Görlitz, in
Bautzen, bei Adtranz in Henningsdorf und in Pankow
Standorte zu subventionieren;
({1})
nachdem wir in den Lokomotivbau und in die Werke, die
das rollende Material - ob nun Güterwaggons oder Personenwaggons, ob Nahverkehrsmittel wie S-Bahnen oder
Regionalzüge - herstellen, immens investiert haben, können wir uns doch nicht eigene Wettbewerber schaffen. Insofern muss die Bundesregierung, die insgesamt verantwortlich ist, alle Probleme beachten.
Ich kritisiere aber die offensichtlich mangelhafte Informations- und Kommunikationspolitik der DB AG.
({2})
Da Sie uns aber gemeinsam von links und rechts Vorwürfe
gemacht haben,
({3})
muss ich noch einmal betonen: Der Abstimmungsprozess
mit den betroffenen Betriebsräten, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern läuft seit dem 1. Januar 1998,
als entsprechende Konzepte seitens der DB AG vorgestellt worden sind. Offensichtlich haben weder die Bundesregierung noch das Parlament - das gilt übrigens auch
für die PDS - bisher Veranlassung gehabt, hier einzugreifen; denn selbst das GdED-Info - ich habe heute noch einmal angerufen und auch mit Herrn Mehdorn persönlich
gesprochen - geht ja von einer Rückkehr an den Verhandlungstisch aus. Die Arbeitnehmervertreter haben ja
seit dem 1. Januar 1998 am Verhandlungstisch gesessen
und über die Prozesse gesprochen. Ich stimme Ihnen zu,
dass diese Verhandlungen formalisiert werden müssen.
Die Absichten der DB AG müssen Gegenstand eines Beteiligungsverfahrens nach dem Betriebsverfassungsgesetz werden.
Herr Kollege
Scheffler, da Sie, wie mir soeben gesagt worden ist, nicht
für die Bundesregierung sprechen, verfügen Sie auch nur
über die in einer Aktuellen Stunde normale Redezeit. Ich
muss Sie also an die Redezeit erinnern.
Wir
fordern also, dass Betriebsräte beteiligt werden. Aber der
Bund als Eigentümer erwartet von der Unternehmensführung auch, dass alle im Unternehmen möglichen Effizienzsteigerungen genutzt werden. Die Bundesregierung
erwartet ferner, dass die DB AG ein Minimum an unternehmerischer Verantwortung zeigt, wie es auch bei anderen Unternehmen selbstverständlich ist. Es gibt ja auch
positive Beispiele,
({0})
die von der Öffentlichkeit offensichtlich nicht wahrgenommen werden.
Herr Kollege
Scheffler, ich muss Sie noch einmal ermahnen. Ich tue das
sehr ungern. Aber Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Frau
Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss.
Als Beispiele nenne ich das Eisenbahnwerk in Arnstadt
oder in Greifswald.
Insofern sind wir hier sowohl mit den Betriebsräten
und der Gewerkschaft als auch mit Herrn Mehdorn einer
Meinung. Sie müssen gemeinsam an den Tisch zurückkommen. Auch die Bundesregierung fordert: keine betriebsbedingten Kündigungen!
Vielen herzlichen Dank.
Der nächste Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wieland Sorge. Er spricht
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Ich werde
versuchen, mich kurz zu fassen; das meiste ist gesagt
worden.
Wir sind eigentlich hier zusammengekommen, um darüber zu beraten, wie wir bei der Lösung der Probleme
helfen können, die dadurch entstehen, dass, wie jetzt von
der Presse angekündigt, 14 Werke der Bahn entweder geschlossen oder angepasst werden sollen. Da muss ich sagen, Herr Dr. Rössel und Frau Dr. Luft: Was Sie an Empfindungen haben, macht Ihnen keiner streitig. Sie haben
auch das Recht, diese Dinge hier darzustellen. Ich zolle
Ihnen ebenfalls meinen Respekt, wenn Sie sich bei
Schwierigkeiten einsetzen, um die Dinge zu bereinigen.
Aber dabei habe ich etwas vermisst: Weder bei Ihnen,
Herr Dr. Rössel, noch bei Ihnen, Frau Dr. Luft - das Gleiche gilt aber für die rechte Seite - habe ich Vorschläge
hören können, wie die Situation gerettet und Arbeitsplätze
bewahrt werden können. Das gehört jedoch dazu.
({0})
Gestatten Sie mir noch zwei Bemerkungen. Als Ostdeutscher kann ich natürlich nicht ruhig bleiben, wenn
von den 14 Werken, die hier zur Diskussion stehen, zehn
in Ostdeutschland sind. Die Bahn stellt sich die Frage:
Worauf können wir in diesem oder jenem Bereich verzichten, um den Auftrag, den uns der Bund gegeben hat,
erfüllen zu können? Diese Entscheidung müssen wir ganz
allein der Bahn zubilligen. Aber - da gebe ich Herrn
Schmidt Recht, der das hier deutlich gemacht hat - wir
können nicht tatenlos zusehen, weil wir eine soziale Verantwortung haben.
({1})
Damit komme ich zu Ihnen, Herr Friedrich.
({2})
Sie haben hier groß geredet, Sie würden die soziale Verantwortung in der Koalition vermissen.
({3})
- Dazu will ich das aufgreifen, was der Herr Staatssekretär gesagt hat: Seit dem 1. Januar 1998 gibt es in den Werken diese Diskussion. Wer mit diesen Werken als Abgeordneter in Verbindung stand, wird wissen, was sich dort
in dieser Zeit alles abgespielt hat.
Ich selbst stehe seit vielen Jahren mit solchen Werken
in Verbindung. Ich nenne als Beispiel nur das RAW Meiningen, das einen - das gebe ich zu - schmerzlichen Verlust von über 1 000 Leuten zu verzeichnen hat. Wir wollten dem Werk damals schon das Licht ausdrehen, weil wir
gedacht haben, dass es keine Perspektive mehr hat. Dann
haben wir überlegt, welche Möglichkeiten es gibt: an der
Seite der Bahn weiterarbeiten oder privatisieren. Es gab
nur Schwierigkeiten. Schließlich haben sich zwei Leute
als Geschäftsführer an die Spitze des Werkes gesetzt. Danach haben wir in den letzten anderthalb Jahren endlich
schwarze Zahlen geschrieben, mit dem Ergebnis, dass die
Bahn sagt: Ihr habt das toll gemacht, ihr habt viele Aufträge hereingeholt; wir übernehmen euch, keine Diskussion mehr. - Wir haben natürlich Geschäftsfelder
hereingeholt, die mit der Bahn überhaupt nichts zu tun
hatten, um so gut wie möglich arbeiten zu können. Heute
haben wir wieder die Chance, Leute einzustellen. Das ist
der richtige Weg!
({4})
- Gut, Herr Friedrich. Aber wieso sind wir denn allein in
der Bundesrepublik für die Bürger verantwortlich? Sie
doch auch! Sie sagen immer: „Machen Sie!“ Aber auch
Sie sind doch Abgeordneter und haben die gleiche Verpflichtung wie wir.
Nun zu dem Werk in Vacha. Dazu will ich etwas sagen,
weil es in meinem Wahlkreis liegt. In diesem Werk gibt es
19 Mitarbeiter. Es ist bedauerlich, wenn sie ihre Arbeit
verlieren. Es genügt natürlich nicht, Herr Dr. Rössel, dass
wir hier große Reden halten. Wir können jedoch nicht unseren Einfluss in der Form geltend machen, dass wir die
Bahn auffordern, das Werk in Vacha wieder funktionstüchtig zu machen und alle Entscheidungen zurückzunehmen. Wir können zur Landesentwicklungsgesellschaft
gehen, wir können zu anderen Firmen, die in der Nähe
sind, gehen, wir können zur Landesregierung gehen und
wir können zu Verbänden gehen. Das verspreche ich Ihnen: Vacha werde ich durch diese Maßnahmen wieder
zum Leben erwecken.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. November 2000, 13 Uhr, ein.
Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen,
die bis zum Schluss ausgeharrt haben, und wünsche allen - auch den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der
Tribüne - ein schönes Wochenende!
Die Sitzung ist geschlossen.