Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute in der Kabinettssitzung die Gründung eines nationalen Präventionsgremiums in der Form
des Deutschen Forums für Kriminalprävention behandelt.
Ich darf einleitend darauf hinweisen, dass wir erfreulicherweise auch in diesem Jahr eine positive Entwicklung
verzeichnen können: Die Zahl der registrierten Straftaten
geht zurück. Die Aufklärungsquote hat sich verbessert.
Gleichwohl sind die Zahlen der registrierten Straftaten, in
einigen Schwerpunktbereichen des Kriminalitätsgeschehens immer noch so hoch, dass wir uns trotz solch günstiger Entwicklungen nicht zurücklehnen und die Hände in
den Schoß legen können.
Die Bundesregierung vertritt bei der Kriminalitätsbekämpfung ein umfassendes Konzept. Es beinhaltet den
entschiedenen Einsatz repressiver Maßnahmen auf der einen Seite und ein Engagement im präventiven Bereich auf
der anderen Seite. Es gibt, wie Sie wissen, auf Landesund vor allen Dingen auf kommunaler Ebene bereits eine
große Zahl von Präventionsgremien. Die Namen sind unterschiedlich. Zum Teil heißen sie Sicherheitspartnerschaften, zum Teil kriminalpräventive Räte. Der Ansatz
ist jedenfalls überall der gleiche.
Wir haben zu Beginn unserer Regierungszeit in der
Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir auch auf der
nationalen Ebene, wie es in anderen Ländern bereits der
Fall ist, ein solches Präventionsgremium in der Gestalt
des Deutschen Forums für Kriminalprävention schaffen
wollen. In engem zeitlichen Zusammenhang hat die Länderinnenministerkonferenz ebenfalls beschlossen, ein
solches Gremium zu schaffen. Dieses Gremium soll die
Funktion einer zentralen Informations- und Servicestelle
erfüllen. Sie wird zudem konkrete Präventionsprojekte
unterstützen und selber in Gang setzen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir haben uns dann mit den Ländern geeinigt, dass wir
einen Aufbaustab gründen, der die Vorarbeiten leitet. Als
Ergebnis dieser Aufbauarbeit haben wir uns vorgenommen, eine Stiftung zu gründen, an der sich der Bund mit
einem namhaften Betrag - natürlich vorbehaltlich der
haushaltsmäßigen Absicherung - von 2,5 Millionen DM
beteiligen wird. Das Stiftungskapital wird 10 Millionen DM betragen. Die Länder werden ebenfalls 2,5 Millionen DM übernehmen. Der Rest soll aus privaten Mitteln aufgebracht werden.
Die Bedeutung eines solchen Forums für Kriminalprävention liegt auf der Hand. Es geht darum, im Zusammenwirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat dafür
zu sorgen, dass Kriminalität erst gar nicht entsteht. Das ist
- wir kennen das aus der Umweltpolitik - allemal billiger
und besser, als später Gefängnisse zu bauen.
Prävention hat die unterschiedlichsten Dimensionen.
Darauf will ich im Einzelnen nicht eingehen. Aber es geht
darum, das Fachwissen und die Kompetenz in den verschiedenen Bereichen - in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und beim Staat - zusammenzuführen.
Wir haben in der Zwischenzeit - sozusagen im Vorlauf
der Gründung dieses Forums - im Innenministerium zwei
Workshops unter Beteiligung der genannten Gruppen
durchgeführt. Man kann an der Themenwahl ablesen,
welche praktische Bedeutung solche eine präventive Arbeit hat.
Bei dem einen Workshop ging es um die Sicherheit des
Zahlungsverkehrs, konkret: um die Einführung des Euro.
Das ist sicherlich ein einmaliges Ereignis; aber dass es
hier bestimmte Sicherheitsprobleme geben kann, wird jeder einsehen. Auch beim Kreditkartenmissbrauch müssen
wir leider eine starke Zunahme der Straftaten feststellen.
Hier ist vor allem technische Prävention geboten.
Der zweite Themenbereich betrifft das sichere Wohnen. Ich glaube, man muss erkennen, dass die Frage der
Sicherheit des Wohnbereichs weit über die Frage des materiellen Verlustes hinausgeht. Man erfährt immer wieder,
dass die Menschen Furcht haben, Opfer eines Einbruchdiebstahls zu werden. Sie haben nicht nur Furcht vor dem
Verlust materieller Güter, sondern vor dem Eindringen in
die Intimsphäre. Deshalb müssen wir an dieser Stelle etwas tun, um die Sicherheitsbelange besser in den Griff zu
bekommen.
Ich hatte - das will ich als Letztes sagen - vor wenigen
Tagen eine Zusammenkunft mit Vertretern aus verschiedenen Wirtschaftszweigen. Ich fühle mich durch dieses
Gespräch sehr ermutigt; denn das Vorhaben der Gründung
des Deutschen Forums für Kriminalprävention wird von
der Wirtschaft entschieden unterstützt - natürlich mit unterschiedlichem Engagement, auch finanzieller Art. Im
Grundsatz wird das Ganze sowohl aus Eigeninteresse unterstützt - dieses Eigeninteresse kann man etwa bei der
Versicherungswirtschaft erkennen; sie ist daran interessiert, dass solche Schäden erst gar nicht eintreten, sodass
sie nicht entsprechende Schadensvergütungen vornehmen
muss - als auch - von Vertretern der Wirtschaft - unter
dem Vorzeichen der „corporate citizenship“, also auf der
Grundlage eines gesellschaftlichen Engagements aus der
Industrie und der Wirtschaft. Darüber freue ich mich sehr.
Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen
aus allen Fraktionen dieses Vorhaben unterstützen würden. Ich kann nur darauf hinweisen: In der Innenministerkonferenz besteht diesbezüglich eine allgemeine Übereinstimmung, unabhängig davon, nach welcher Farbe das
Land regiert wird.
Vielen Dank.
Danke schön,
Herr Innenminister. Gibt es zu dem eben angesprochenen
Themenbereich Fragen? - Bitte schön, Kollege Geis.
Herr Minister, wie schätzen Sie die generalpräventive Wirkung des Strafrechtes
ein, wenn Sie bedenken, dass im Justizministerium derzeit an einer Änderung dreier Vorschriften des Strafgesetzbuches gearbeitet wird? Bei einem Punkt geht es darum, bei einem Ersttäter eine Strafe von bis zu einem Jahr
nicht mehr als Freiheitsstrafe zu verhängen, sondern eine
andere Form der Bestrafung zu finden. Zweitens soll nach
diesen Plänen eine Ausweitung der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf drei Jahre
ermöglicht werden. Das heißt, eine Freiheitsstrafe kann
nach diesen Plänen zur Bewährung ausgesetzt werden,
wenn sie bis zu drei Jahre beträgt. Es ist also eine Erhöhung von zwei auf drei Jahre vorgesehen. Drittens soll
nach diesen Plänen die Haftstrafe auch für Schwerverbrecher bei der Erstverbüßung generell zur Hälfte erlassen
und der Rest zur Bewährung ausgesetzt werden. Was halten Sie angesichts dieser Pläne von der generalpräventiven Wirkung des Strafrechtes?
Herr Kollege
Geis, ich bedanke mich für Ihre Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem
Deutschen Forum für Kriminalprävention um ein ressortübergreifendes Projekt handelt, das in allerbestem Einvernehmen zwischen dem Bundesjustizministerium und
dem Bundesinnenministerium vorangetrieben wird. Wir
haben auch - wenn ich das an dieser Stelle sagen darf darauf geachtet, auch andere Ressorts, die sich mit Fragen
der Prävention befassen, in diese Arbeit einzubeziehen.
Dazu gehören das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie das Bundesministerium
für Gesundheit und das Bundesministerium für Bildung
und Forschung.
Ich bin der Überzeugung, dass das Strafrecht - wir haben das während unseres Jurastudiums gelernt, es wird
aber häufig übersehen - auch in seinen präventiven Wirkungen bedacht werden soll, das heißt sowohl hinsichtlich
der Generalprävention als auch der Spezialprävention.
Generalprävention und Spezialprävention müssen aber in
einem vernünftigen Verhältnis stehen. Was die Einzelheiten angeht, würde ich vorschlagen, dass Herr Staatssekretär Pick, der neben mir sitzt, die Frage ergänzend beantwortet. Er kann das Problem von der Sache her besser
darstellen, weil es in seinen Zuständigkeitsbereich fällt.
Herr Kollege Geis, ich will dem Kollegen Pick nicht
vorgreifen, darf aber auf Folgendes hinweisen: Es macht,
wenn man den Gesichtspunkt der Prävention insgesamt
beachten will, durchaus Sinn, den Rahmen so abzustecken, dass sowohl der Aspekt der Generalprävention
als auch jener der Spezialprävention angemessen zur
Geltung kommt. Manchmal ist es bei der Urteilsfindung
so, dass die Entscheidungsspielräume des zuständigen
Richters nicht ganz dem entsprechen, was von der Sache
her geboten wäre.
Im Übrigen gibt es eine Meinung, die Sie wahrscheinlich auch kennen: Das Strafrecht ist wichtig, auch wegen
seiner Signalwirkung, aber in gewissem Umfang kommt
das Strafrecht immer zu spät. Deshalb ist es wichtig, dass
wir unsere Bemühungen verstärken, um dem entgegenzuwirken. Ich sage nicht, wir könnten das Strafrecht vergessen; wie Sie wissen, gibt es auch solche Theorien. Ich
habe zu diesem Thema in dem Standardwerk zur Kriminologie von Kaiser nachgelesen, Dort wird auch die These
artikuliert, das Strafrecht solle man ganz aus der Welt
schaffen. Diese Auffassung teile ich bekanntlich nicht.
Ich glaube aber, wir sollten bei den hier zu diskutierenden Problemen durchaus solche Argumente aufgreifen, die sich aufgrund Ihrer Frage stellen. Deshalb möchte
ich ausdrücklich einladen, an der Arbeit eines solchen Forums teilzunehmen. In einem solchen Forum kann man
derartige derartige Fragen unter Sachverständigenurteil
diskutieren. Die besten Antworten auf die Probleme ergeben sich aus der Rechtstatsachenforschung. Es ist wichtig,
zu prüfen, welche Wirkungen die Verhängung einer Strafe
aufgrund einer bestimmten Straftat erzielt und welche
nicht. Auch das ist eine Frage, die in diesen Problemkreis
gehört.
Ich gebe zur näheren Erläuterung das Wort an den
Kollegen Pick.
Herr Kollege Geis, ich möchte
zunächst an die Ausführungen von Herrn Bundesminister
Schily anknüpfen. Das Justizministerium stimmt in der
Frage der Funktion des Strafrechts hinsichtlich Generalprävention und Spezialprävention mit Ihnen überein. Sie
wissen, dass bereits die vorige Bundesregierung eine
Kommission unter der Leitung unseres früheren Kollegen
Eylmann eingesetzt hatte, die sich mit dem Thema der Reform des Sanktionensystems beschäftigen sollte. Diese
Kommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt und im
Bundesministerium der Justiz werden zurzeit die von der
Kommission unterbreiteten Vorschläge geprüft. Wir werden sicher eine ganze Reihe von Vorschlägen aus diesem
Bericht aufnehmen.
Sie wissen, dass es auch Aufgabe dieser Kommission
war, alternative Sanktionsformen zu beraten. Auch hier
haben wir eine ganze Latte von Vorschlägen bekommen.
Ich will in diesem Zusammenhang auf gemeinnützige Arbeit, Entzug der Fahrerlaubnis und ähnliche Dinge hinweisen. Diese Vorschläge werden von uns auch unter dem
Gesichtspunkt geprüft, ob sie in unser System einzupassen sind.
Wichtig ist, dass der Gesetzgeber den Gerichten die
Möglichkeit gibt, möglichst individuell auf den einzelnen
Täter einzugehen und ihn entsprechend zu verurteilen.
Die Gerichte sollen flexibel und angemessen auf Straftaten reagieren können.
Eine Nachfrage
des Kollegen Geis.
Herr Kollege Pick, ich
kenne natürlich den Schlussbericht der eben erwähnten
Kommission. In diesem wird gerade empfohlen, Haftstrafen bis zu zwei und nicht bis zu drei Jahren zur Bewährung auszusetzen und den Grundsatz „Schwitzen statt
Sitzen“ bei Haftstrafen bis zu einem Jahr nicht anzuwenden. Ich weiß, dass man sich im Justizministerium über
diese Empfehlungen hinwegsetzen will. Ich möchte gerne
wissen, warum.
Sie sind etwas voreilig, wenn Sie
vermuten, dass wir uns über die Empfehlungen der Kommission hinwegsetzen wollen. Wir nehmen die Vorschläge der Kommission ernst. Es ist eine ausgesprochen
hochrangig besetzte Kommission mit sehr viel Sachverstand gewesen. Einige Fragen konnten dort aus Zeitgründen nicht abschließend beantwortet werden. Wir aber sind
nicht der Verantwortung enthoben, uns Gedanken über
Fragen zu machen, die entweder nicht oder im Gegensatz
zu unseren Vorstellungen beantwortet wurden. Die Bundesregierung wird die Argumente sehr sorgfältig gegeneinander abwägen und dann entsprechend ihrer Verantwortung entscheiden.
Der Bundesinnenminister möchte noch etwas hinzufügen.
Herr Kollege
Geis, erlauben Sie mir noch eine ergänzende Bemerkung.
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, wenn Sie sagen, dass ein
Strafrichter und ein Staatsanwalt bei ihren Entscheidungen auch generalpräventive Gesichtspunkte berücksichtigen müssen. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Gerichtsurteil, sondern auch im Hinblick auf andere
Entscheidungen. Eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht
- egal, mit welchem Fall es befasst ist - muss sich immer
darüber Gedanken machen, ob die rechtlichen Maßnahmen im individuellen Fall angemessen sind und welche
generalpräventiven Wirkungen von einer rechtlichen Entscheidung ausgehen. Wenn ein Verfahren zum Beispiel
wegen Geringfügigkeit gegen Zahlung einer Geldbuße
eingestellt werden soll, dann muss das Gericht oder die
mit dem Fall betraute Staatsanwaltschaft selbstverständlich prüfen, ob generalpräventive Gesichtspunkte dagegen sprechen.
Ein anderes Beispiel: Jemand begeht einen Ladendiebstahl und ist Ersttäter. Auch wenn die zuständige rechtliche Instanz der Auffassung ist, die Einleitung des Verfahrens solle eine Warnung sein, aber das Verfahren solle
gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt werden, wird
sie sich immer mit der Frage auseinander setzen müssen,
ob der generalpräventive Gesichtspunkt bei einer solchen
Entscheidung zu kurz kommt oder nicht. Ich finde, das
muss man in jeder Richtung gelten lassen.
Jetzt hat der
Kollege Dehnel das Wort, bitte.
Herr Minister, ich
begrüße ausdrücklich, dass das Deutsche Forum für Kriminalprävention gegründet wird. Sie wissen, das Sicherheitsbedürfnis und das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung in Ostdeutschland - wir haben es gerade in
Sachsen und Brandenburg erlebt - sind stark ausgeprägt
und werden durch solche Fälle wie den Fall Schmökel
beeinträchtigt. Wird dieses Forum erst jetzt gegründet,
nachdem der Fall Schmökel - letzten Endes glücklich gelöst worden ist? Ich habe schon vor einem Jahr in einer
Regierungsbefragung eine stärkere Vernetzung im Bereich der Sicherheit und eine bessere Sicherung der Strafanstalten gefordert. Haben die Bundesländer nicht ihre
Aufsichtspflicht vernachlässigt, weil Straftäter unzureichend beaufsichtigt wurden und deshalb immer wieder
ausbrechen und neue Straftaten begehen konnten?
Herr Kollege
Dehnel, Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt. Die Koalitionsvereinbarung stammt vom 20. Oktober 1998. Der
Beschluss der Innenminister der Länder ist vom 20. November 1998. Mittlerweile ist eine gewisse Zeit vergangen; wir schreiben das Jahr 2000. Man muss wissen: Viele
technische und organisatorische Fragen, die sich aus der
Arbeit des Aufbaustabs ergaben, sind zu klären. In den
Ländern und im Bund hat eine relativ große Zahl von Institutionen - ich will das nicht übertreiben - mitzureden.
Bis man zu einem Einvernehmen kommt, vergeht eine gewisse Zeit. Alle, die mit solchen Themen zu tun hatten und
entsprechende Erfahrungen gesammelt haben, wissen
das. Es hat also nichts mit dem von Ihnen gerade angesprochenen Fall zu tun.
Ich möchte eine Bemerkung hinzufügen - ich habe das
schon vor vielen Jahren sehr deutlich gesagt und es ist bis
heute meine Überzeugung -: Im Hinblick auf Menschen,
die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere für Kinder, darstellen, hat für mich
der Sicherungsgedanke absoluten Vorrang. Darüber muss
völlige Klarheit herrschen. An dieser Stelle muss sich jeder fragen, ob er diesem Grundsatz gerecht geworden ist
oder nicht.
Wenn Sie sich umschauen, dann werden Sie feststellen:
Im Laufe der Jahre hat es in allen Ländern mitunter Probleme damit gegeben, dass der Sicherungsgedanke nicht
ganz befolgt worden ist. Ich bin da nicht derjenige, der mit
Steinen wirft. Wie gesagt, ganz unterschiedliche Regierungen waren mit entsprechenden Situationen konfrontiert.
Bei den Vollzugsbeamten sollten wir unsere Schwierigkeiten wahrlich nicht abladen. Vollzugsbeamte, gerade
im Strafvollzug, haben es besonders schwer. Ich habe
hohe Achtung vor der Arbeit dieser Menschen. Wer die
Verhältnisse dort kennt, der weiß, mit welchen Problemen
sie konfrontiert sind.
Das heißt nicht, dass man sagt, es sei alles in Ordnung.
Im Fall Schmökel mussten wir Hundertschaften von Polizisten aussenden. Glücklicherweise ist es gelungen, den
Täter zu fassen. Jeder muss sich prüfen, ob die Sicherungsmaßnahmen ausgereicht haben oder nicht. Wie gesagt, diese Frage muss in erster Linie in den Landtagen
erörtert werden, da sie in die Zuständigkeit der Länder
fällt. Von unserer Seite können wir wenig dazu beitragen.
Eine Nachfrage
des Kollegen Dehnel.
Ist Ihrem Bundesministerium bekannt, ob es in den letzten zwei Jahren in verstärktem Maße Ausbruchbemühungen von Schwerstverbrechern gegeben hat? Oder war die Zahl im Gegenteil
sogar rückläufig und hat ein Einzelfall wie der Fall
Schmökel nur ein größeres Aufsehen erregt?
Wir führen in
dieser Frage keine Statistik. Vollzug ist Ländersache, Herr
Kollege Dehnel.
Ist es nicht aber eine
Bundesangelegenheit, wenn verschiedene Länder betroffen sind?
Nein, Strafvollzug ist Ländersache, Herr Kollege Dehnel.
Warum schaffen Sie
ein nationales Präventionsgremium, wenn Strafvollzug
Ländersache ist?
Jedes Land
kann selbstverständlich an einem nationalen Präventionsgremium teilnehmen. Übrigens handelt es sich beim
Deutschen Forum für Kriminalprävention nicht nur um
eine Institution für den Bund, sondern auch die Länder
haben die Möglichkeit, dort solche Fragen anzusprechen.
Ich glaube allerdings nicht, dass man in diesem Forum
hinsichtlich der Sicherungsmaßnahmen großartige neue
Erkenntnisse gewinnt. Was Sicherungsmaßnahmen angeht, spielen Baulichkeiten und anderes eine Rolle. Es
steht allen Ländern frei, die Initiative zu ergreifen und
sich länderübergreifend zu überlegen, wie man mit bestimmten Situationen umgeht. Das ist durchaus möglich.
Nur, der Bund hat in diesem Bereich keine Zuständigkeit,
Herr Kollege Dehnel.
Es geht nicht um die
Zuständigkeit, sondern um die Auskunft bezüglich einer
Statistik.
Es tut mir
Leid: Wir führen da keine Statistik, weil das nicht in unsere Zuständigkeit fällt.
Gibt es zu diesem Themenbereich noch weitere Fragen? - Das scheint
nicht der Fall zu sein.
Gibt es andere Fragen an die Bundesregierung zur heutigen Kabinettssitzung? - Bitte, Herr Niebel.
In der Öffentlichkeit wurde berichtet, dass die Frage der Erwerbsunfähigkeitsrenten
auch ein Thema der Kabinettssitzung gewesen sein soll.
Wenn das so war, würde mich interessieren, aus welchem
Grund das Bundesgesundheitsministerium im Vorfeld der
geplanten Gesetzesänderung offenkundig erst in einer
sehr späten Phase - wir wollten ja heute abschließend darüber beraten - bemerkt hat, dass die gesetzlichen Krankenkassen von dieser Rechtsänderung finanziell betroffen
wären, und ob Sie Erkenntnisse dazu haben, warum Vertreter der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen an der in diesem Zusammenhang durchgeführten Anhörung nicht teilgenommen haben.
Wir klären jetzt
erst einmal, ob diese Frage Thema der heutigen Kabinettssitzung war. Wenn das nicht der Fall war, handelt es
sich um eine allgemeine Frage an die Bundesregierung.
Zunächst einmal der Herr Innenminister.
Diese Frage
war nicht Thema der Kabinettssitzung. Sie fällt außerdem
in die Zuständigkeit des Bundesgesundheitsministeriums.
Es liegt mir fern, etwas dazu zu sagen.
Wenn es keine
anderen Fragen zu Themen gibt, die während der Kabinettssitzung behandelt wurden, kommen wir jetzt zu allgemeinen Fragen an die Bundesregierung.
Ich nehme die gestellte Frage auf und erteile dazu Frau
Staatssekretärin Nickels das Wort.
Herr Kollege, hierbei handelt es sich um ein Gesetz, das schon 1997 beschlossen
wurde und im Jahr 2000 in Kraft treten sollte. Das InKraft-Treten ist auf das Jahr 2001 verschoben worden.
Dieses Gesetz ist also schon in der alten Legislaturperiode
beraten und beschlossen worden.
Aufgrund der vorliegenden Zahlenmaterialien und der
Berechnungsmodalitäten war nicht ohne weiteres ersichtlich, in welchem Umfang Belastungen auf die GKV zukommen. Der Umgang mit diesen Belastungen ist Gegenstand von intensiven Gesprächen zwischen den
Häusern. Sie haben auch der Debatte, die gegenwärtig
hierüber in der Presse geführt wird, entnehmen können,
dass sich in dieser Frage der Koalitionsausschuss bzw. die
Spitzen der die Koalition tragenden Parteien eingeschaltet haben. Wir gehen davon aus, dass zu dieser Frage in
absehbarer Zeit eine Regelung getroffen wird.
Eine Nachfrage
des Kollegen Niebel.
Frau Kollegin, Sie haben gerade
gesagt, es handele sich um ein Gesetz aus der letzten Legislaturperiode. Ist es nicht vielmehr so, dass Ihr Gesetzentwurf gerade dazu dienen sollte zu verhindern, dass
zum 1. Januar kommenden Jahres das in der letzten Legislaturperiode von der alten Regierung beschlossene Gesetz zur Neuregelung der Erwerbsunfähigkeitsrente in
Kraft tritt? Dabei ist im Gesundheitsministerium offenkundig verpennt worden, dass die Krankenkassen hiervon
betroffen sind.
({0})
Nein, Herr Kollege.
Gibt es weitere
Fragen an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall.
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 14/4468 Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Michael Naumann bereit.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Hans-Joachim
Otto auf:
Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungsfolklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der
Deutschen vor sich selbst“ bewertet ({0})?
Bitte, Herr Staatsminister.
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich die
Frage wörtlich vorlese, weil meine Antwort dann verständlicher wird. Die Frage lautet:
Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungsfolklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der
Deutschen vor sich selbst“ bewertet …?
Herr Abgeordneter, Überschriften, die man selber nicht
zu verantworten hat, verhalten sich manchmal zu einem
Artikel wie zum Beispiel Herr Möllemann zum Wesen der
F.D.P. Mit anderen Worten: Irgendwie haben beide etwas
miteinander zu tun, aber zugleich wird eine Überspitzung
vorgenommen.
({0})
- Als Fallschirmspringer zum Beispiel.
Jetzt hat der
Staatsminister erst einmal das Wort.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Mit anderen Worten: Die Überschrift „Zentralismus schadet nicht“
({0})
- ich weiß, ich will es nur erklären - stammt natürlich
nicht von mir. Auch sage ich keineswegs, wie es in Ihrer
Frage heißt, dass „die Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als Verfassungsfolklore“ anzusehen sei. In Wirklichkeit sage ich - Sie
können es ja auch vorlesen, Herr Otto -, dass der Begriff
der Kulturhoheit im Grundgesetz nicht auftaucht und insoweit „Verfassungsfolklore“ ist. Wenn Sie mir eine
Fundstelle für diesen Begriff zeigten, wäre ich dankbar;
ich habe ihn im Grundgesetz nicht gefunden.
Das, was dieser Begriff bezeichnet, wird von mir aber
überhaupt nicht infrage gestellt, sondern in meinem Artikel mehrfach lobend und selbstverständlich auch affirmativ herausgestellt. Ich habe mich in meinem Artikel lediglich gegen den politischen Gebrauch dieses Begriffes
gewehrt, also dagegen, mit diesem Begriff gleichsam wie
mit einer Monstranz in dem Augenblick auf den Bund zuzugehen, in dem er die im Grundgesetz positiv rechtlich
geregelten Kompetenzen wahrnimmt, die ihm kulturpolitisch zustehen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Otto, bitte.
Selbstverständlich, lieber Herr Dr. Naumann, habe ich den Artikel
gelesen. Deswegen habe ich die Frage auch nicht nach der
Überschrift gestellt. Allerdings gibt sie den Inhalt Ihres
Beitrages korrekt wieder.
Sie leiten die Aufforderung zu einer verstärkten Bundeskulturpolitik nicht aus einer Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes ab, sondern gebrauchen den, wie ich finde,
höchst nebulösen Begriff der „grundgesetzlichen Legitimation einer Bundeskulturpolitik“. Meine erste, verfassungsrechtliche Frage: Was dürfen wir denn darunter verstehen? Darf jeder - nicht nur Michael Naumann - sich
aus einer vermeintlichen Legitimation heraus Kompetenzen in dem fein austarierten grundgesetzlichen Kompetenzzuweisungskatalog anmaßen?
Zunächst reden wir hier über die Frage, ob es
überhaupt eine Bundeskulturpolitik geben darf. Da es im
Bundestag einen Kulturausschuss gibt, der genau diese
Politik mitformuliert, kontrolliert und bereichert, gehe ich
davon aus, dass es auch eine Bundeskulturpolitik geben
kann. Was nun eine solche Kulturpolitik im Kompetenzbereich des Bundes anbetrifft, muss sie ja offenkundig in
der von Ihnen eben zu Recht geschilderten sorgfältig austarierten Gemengelage von Bundes-, Landes- und Kommunalzuständigkeiten liegen. Das tut sie auch.
Zur verfassungsrechtlichen Frage einer prinzipiellen
Kompetenz gibt es - ich bin kein Verfassungsrechtler und
auch kein Jurist - sehr wohl Verfassungsgerichtsurteile,
die das relativ klar ausdrücken. Mit Erlaubnis der Frau
Präsidentin möchte ich aus einem Urteil zitieren
- BVerfGE 3,407 -: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht „eine stillschweigende
Bundeszuständigkeit kraft Sachzusammenhang immer
dann, wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene
Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann,
ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene
Materie mit geregelt wird, wenn also ein Übergreifen in
nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerlässliche
Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie“. Im Rahmen der
Kompetenzen kraft Sachzusammenhang betreibt der
Bund damit, um nur ein Beispiel zu geben, Filmförderung
nach Maßgabe des Filmförderungsgesetzes, was zweifellos ein Bereich ist, der in Landeskulturkompetenzen liegt,
aber eben auch - mit Ihrer Mithilfe, Herr Otto - in Bundeskompetenz.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Otto.
Nachdem
ich eine verfassungsrechtliche Frage gestellt habe,
möchte ich natürlich auch eine politische stellen. Halten
Sie es bzw. - in meiner Ausgangsfrage habe ich ja auf die
Auffassung der Bundesregierung abgehoben - hält es die
Bundesregierung in der jetzigen Situation, gerade auch
angesichts der Verhandlungen um die Hauptstadtkulturförderung, für sinnvoll und zielführend, mit einem solchen Beitrag, der auf Zentralismus hinzielt oder jedenfalls
hindeutet, die Verhandlungen mit den Ländern zu erschweren und aus allen 16 Bundesländern Protestaktionen hervorzurufen?
Herr Otto, wir stehen im Augenblick keineswegs
in finanziellen Verhandlungen mit den Ländern hinsichtlich der föderal organisierten Stiftung „Preußischer Kulturbesitz“, wenn Sie darauf abheben wollten. Diese Verträge laufen erst im Jahre 2005 aus.
Ich werde mich aus Prinzip nicht sozusagen zur Kopfwäsche beugen und sagen, die freie Meinungsäußerung
eines Bürgers sei inopportun, wenn doch gleichzeitig klar
ist - das ist meine Erfahrung -, dass alle Reaktionen, die
ich von führenden Politikern auch meiner Partei vernommen habe, nachweisbar auf der schnellen Lektüre der
Überschrift und einer Unterzeile, die diese Thematik
ebenfalls verzerrend wiedergibt, beruhen. Der Unterschied zwischen Überschrift und Inhalt eines Artikels beruht sicherlich auf dem nachvollziehbaren Bedürfnis der
Redaktionen, Zoff zu machen.
Der Artikel selbst ist ausgewogen. Er lobt und stellt an
sehr vielen Stellen heraus - die kann ich Ihnen alle zitieren -, dass die föderative Struktur unseres Landes gerade
in dem Kernbereich der Kulturpolitik einen außerordentlichen Vorteil im Konzert der Nationen Europas darstellt.
({0})
Ich weise darauf hin, dass wir 100 Opernhäuser haben;
Spanien hat drei. Ich weise ferner auf die Vielfalt der
Theater und Bühnen in Deutschland hin, die unvergleichlich reichhaltiger ist als anderswo.
Ich weise allerdings auch darauf hin, dass jedes Mal,
wenn der Bund die ihm per Verfassung zugewiesenen
Kompetenzen wahrnimmt, aus gewissen Landesteilen
- ich sage nicht: aus Hessen - mit einem geradezu
pawlowschen Reflex von der Kulturhoheit der Länder
- in dem Sinne: er hat uns nichts zu sagen - gesprochen
wird. Aber in dem Augenblick, in dem der Bund Zuwendungen an gewisse Regionen infrage stellt, scheint es mit
dem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Ländern
nicht mehr so weit her zu sein und es wird über die kulturpolitische Untätigkeit des Bundes geschimpft. Wenn
aber das Geld fließt, dann ist alles wieder in Ordnung.
Auf diese merkwürdigen Verhältnisse hinzuweisen war
die Absicht meines Artikels. Dass auf Bundesebene und
auf Landesebene die Notwendigkeit zur Koordination besteht, ist allen klar, die in den entsprechenden Gremien
mitarbeiten.
Jetzt hat der
Kollege von Klaeden die Möglichkeit, eine Zusatzfrage
zu stellen.
Herr Staatsminister, ich will einmal die Äußerung über Ihren Artikel von
Kurt Beck in Erinnerung rufen. Er sagte wörtlich: „Er will
das Grundgesetz rasieren“. Der stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen spricht von einer
„Überheblichkeit, die sich selbst richtet“. Wolfgang
Clement sagt: „bar jeder Realität und jedes Bezugs zur
Verfassung“.
Ihre Ausführungen lassen drei Möglichkeiten zu. Die
erste Möglichkeit ist: Diese Herren haben Ihren Artikel
nicht richtig lesen können.
({0})
Die zweite Möglichkeit ist: Sie kennen den Föderalismus
nicht. Die dritte Möglichkeit ist: Es trifft beides zu.
Ich ziehe natürlich die erste Möglichkeit vor. Ich
habe mich durch Telefonate versichert, dass sie dem Sachverhalt entspricht.
({0})
- Ich kann nur wiederholen: Das Verhältnis von Überschrift zum Inhalt eines Artikels entspricht dem Verhältnis von Herrn Möllemann zum Wesen seiner Partei. Das
bedeutet nichts anderes, dass die Partei angesichts von
Überspitzungen manchmal klarstellen muss - dies ist
auch bei dem Artikel der Fall - , dass sie es eigentlich ganz
anders meint.
Bitte, Herr Kollege Koppelin, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Sie
anscheinend von den genannten Ministerpräsidenten und
dem stellvertretenden Ministerpräsidenten missverstanden worden sind, darf ich zur Klarstellung folgende Frage
an Sie richten: Können Sie folgenden Satz aus Ihrem Artikel klarstellen? Dort heißt es wörtlich:
Unsere föderale Verfassung ist außerdem und immer
noch Ausdruck der Angst der Deutschen vor sich
selbst.
Herr Abgeordneter, angesichts der Tatsache, dass
wir hier Textexegese betreiben, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie die drei vorangegangenen Sätze zur föderalen
Struktur ebenfalls vorlesen würden.
({0})
Aber das ist Zeitverschwendung. Sie haben den Artikel ja
gelesen.
({1})
- Herr Koppelin, Sie wären der Erste, der mich schonen
wollte. Das ist ja fast ein Koalitionsangebot.
({2})
Um es klar zu sagen: Sie und ich wissen ganz genau,
dass unsere Verfassung 1949 unter dem Eindruck der Erfahrungen aus dem Dritten Reich geschrieben worden ist.
Man wollte mit all den Kautelen und Barrieren, die im
Grundgesetz verankert sind, sicherstellen, dass sich diese
Ereignisse nicht wiederholen. Das bedingte ein außerordentlich ausdifferenziertes System von „checks and balances“.
({3})
- Das ist völlig in Ordnung.
Aber man darf doch sagen, dass das so ist. Man darf
auch die historische Herkunft der Verfassung benennen
und dann darauf hinweisen, dass in den Jahren, die seitdem vergangen sind, eine Sache nicht mehr zur Debatte
stehen sollte, nämlich die zivilisierte, grundgesetzlich
versierte und im Übrigen demokratische, da auf dem Boden der Verfassung stehende Art und Weise aller Politiker
in diesem Haus, auch auf der Regierungsbank, Politik zu
machen. Das heißt mit anderen Worten: Die in der Verfassung selbst mit festgeschriebene Furcht vor dem Wiederaufleben eines Totalitarismus in Deutschland, die sich
unter anderem darin manifestiert, dass meine Person von
Herrn Zehetmair indirekt mit Herrn Goebbels verglichen
wird, ist überflüssig. Weder bin ich Goebbels, noch halten
Sie mich dafür; nur Herr Zehetmair glaubt, diesen Vergleich ziehen zu können.
Die Kollegin
Griefahn hat das Wort. Bitte.
Ich habe zwei Fragen. Erstens. Wie ist die Planung in Bezug auf Veränderungen im
Haushalt des nächsten Jahres gegenüber diesem Jahr hinsichtlich dessen, was die Länder anteilig bekommen sollen?
Zweitens. Wie sehen Sie im Zusammenhang mit der
Entwicklung der Europäischen Union den Stellenwert der
Frage, was die Länder und was der Bund jeweils mit der
Europäischen Union verhandeln sollten?
Frau Abgeordnete, was den ersten Teil der Frage
betrifft, möchte ich, um nur ein Beispiel zu nennen, am
Fall Sachsen, des Landes eines der schärfsten Kritiker dieses Artikels, nämlich Herrn Biedenkopf, exemplarisch
ausführen, was sich verändert hat. Im Jahr 1998, also unter der Vorgängerregierung, bekam das Land Sachsen
vom Bund 17,7 Millionen DM kulturpolitisch begründeter Zuwendungen. Im Jahr 1999 waren es über 55 Millionen DM. Das heißt, wir haben die Zuwendung in einer
bundeskulturpolitisch wohl begründeten Entscheidung
vor allem für die neuen Länder mehr als verdoppelt. Darüber hinaus haben wir sie über die gesamte Legislaturperiode auf eine Gesamtsumme von mehr als 240 Millionen DM verstetigt. Dies addiert sich, da es sich um eine
Komplementärfinanzierung handelt, aufgrund dieser Politik zu einer neu zur Verfügung gestellten Summe von einer halben Milliarde DM, hauptsächlich für kulturelle
Bauinvestitionen in den neuen Ländern.
Ebenfalls neu für die neuen Länder ist: Nach zehnjähriger Verweigerungshaltung des Finanzministers
Waigel öffnet sich das Investitionsförderungsprogramm
„Aufbau Ost“, das in der Vergangenheit für kulturelle Investitionen keinen Platz hatte, für ebensolche Projekte,
die von den Kulturministern und Wirtschaftsministern der
neuen Länder in dieses Programm hineingeschrieben
werden können. Hier obliegt es dann dem jeweiligen Land
auf der Empfängerseite, diese zusätzlichen kulturellen Investitionsmittel im Verteilungskampf in den jeweiligen
Kabinetten zu mobilisieren. Das ist zum Beispiel in Sachsen, dem Land von Herrn Biedenkopf, ganz besonders gut
gelungen.
Ich glaube, dass der Schwerpunkt, den wir gesetzt haben, auch für das nächste Haushaltsjahr, nämlich die Förderung der neuen Länder, nicht nur politisch berechtigt
ist, sondern auch einen nachhaltigen Effekt zeitigen wird.
Frau Abgeordnete, können Sie den zweiten Teil Ihrer
Frage bitte wiederholen?
Die Frage war, über welche
Teile die Länder und der Bund im Zusammenwachsen der
Europäischen Union verhandeln können.
Ich glaube, es gibt eine ganze Fülle von Aufgaben von kulturpolitischer Relevanz, die - Herr Otto, verstehen Sie das nicht als Kritik am Föderalismus - in der
Vergangenheit vielleicht nicht mit der Emphase in Brüssel
verhandelt werden konnten, wie das jetzt dank dieser
neuen Funktion möglich ist.
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Bei der sattsam
bekannten Debatte um die Buchpreisbindung habe ich für
Bund und Länder gefochten. Mein Kollege Herr
Zehetmair, von der KMK abgeordnet, ist zu den entsprechenden Sitzungen nicht gekommen, hat meines Wissens
auch keine diesbezüglichen Gespräche mit den Mitgliedern der zuständigen Generaldirektionen geführt und hielt
das Ganze aus München betrachtet für einen „Kampf gegen die Windmühlen von Brüssel“. Mit anderen Worten:
Ich war der Don Quichotte. Wer er in diesem Gespann
war, möchte ich jetzt nicht vermuten.
({0})
- Vielleicht die Windmühle, aber vielleicht auch der
Komparse, den ich jetzt nicht beim Namen nennen
möchte, weil er dann möglicherweise geknickt wäre. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie auf europäischer Ebene Bundespolitik greifen kann.
Dasselbe trifft auf die gesetzlichen Harmonisierungszwänge in den Bereichen der medialen Selbstkontrolle zu.
Dies gilt selbstverständlich auch für die duale Rundfunkordnung. Die Länder werden in Brüssel die Beibehaltung
der dualen Rundfunkordnung in Deutschland verteidigen.
Das Interessante aber ist, dass der Bund in der Auseinandersetzung mit der Kommission einen längeren Verhandlungshebel hat, weil wir in den Budgetdebatten mit den
anderen Mitgliedstaaten, die in Brüssel ein anderes Repräsentationssystem haben als wir, Bündnisse schmieden
können, die dadurch enger und haltbarer sind, dass von
mir ein unmittelbarer Etat-Verhandlungszusammenhang
mithilfe des Bundesfinanzministers hergestellt werden
kann und wird. Das heißt, hier ist dem Bund eine natürlich nicht überzubewertende europäische Verhandlungsmacht zum Vorteil von Bund, Ländern und Kommunen
zugewachsen.
Herr Kollege
Niebel.
Herr Staatsminister, waren Ihre
Antworten auf die Fragen der Kollegen Otto, Koppelin
und von Klaeden dazu, ob die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder Verfassungsfolklore sei bzw. inwieweit der Föderalismus als
Ausdruck der Angst der Deutschen zu bewerten sei, Ihre
Ansicht oder war das die Ansicht der Bundesregierung?
Ich bin ein Mitglied der Bundesregierung. Sie
werden wahrscheinlich nicht Herrn Funke für das haftbar
machen wollen, was ich sage. Solange ich ein Mitglied
der Bundesregierung bin, liegt es in Ihrem Belieben, wie
Sie meine Antworten interpretieren. Ich habe das jedenfalls nicht als Privatmann gesagt.
Es gibt keine
weiteren Nachfragen. Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für Ihre Antworten.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Fritz Rudolf Körper wird die Fragen zu diesem Geschäftsbereich beantworten.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({0}) auf:
Mit welchen konzeptionellen Überlegungen verbindet die
Bundesregierung ihre Absicht, insgesamt 233 Planstellen beim
Bundesgrenzschutz ({1}) Schleswig-Holstein auch weiterhin
mit einem kw-Vermerk zu verbinden, obwohl nach den Erfahrungen an den Westgrenzen der Bundesrepublik Deutschland der Personalaufwand für den BGS nach Schengen nicht geringer, sondern
höher ausgefallen ist und eine solche Situation sich auch nach dem
Schengenbeitritt des Königreiches Dänemark nach Aussagen von
Experten auch an dieser Grenze ergeben wird, das heißt, es einen
erhöhten und nicht geringeren Stellenbedarf gibt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Börnsen, die dem
Bundesgrenzschutzamt Flensburg im Rahmen der Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes zum 1. Januar 1998
zusätzlich zugewiesenen 233 Dienstposten mit kw-Vermerk dienen ausschließlich dazu, den bis zur Inkraftsetzung des Schengener Durchführungsübereinkommens
bestehenden Verstärkungsbedarf zur Gewährleistung des
Schengener Kontrollstandards abzudecken. Diese
233 Dienstposten sind mit Planstellen unterlegt, die nach
dem Haushaltsplan ebenfalls mit kw-Vermerk versehen
sind.
Es handelt sich hierbei um Planstellen, die nach einer
Absprache zwischen den früheren Bundesministern
Kanther und Waigel 1997 zusätzlich in den Haushalt 1998
eingebracht wurden, um eine größere Anzahl von BGSBeamtinnen und BGS-Beamten nach ihrer Ausbildung
ohne zeitliche Verzögerung anstellen zu können. - Das
war der Hintergrund.
Sicherheitsdefizite in diesem Bereich sind durch den
Wegfall der kw-Dienstposten entsprechend den dargestellten haushaltsmäßigen Vorgaben nicht zu erwarten.
Die Personalausstattung mit 453 Dienstposten bleibt trotz
des Wegfalls der Grenzkontrollen gegenüber den vor der
Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes ursprünglich
vorgesehenen 312 Dienstposten auf Dauer um 141 erhöht.
Dies gewährleistet - auch unter Berücksichtigung der
Personaldichte an den Westgrenzen - eine personell ausreichend ausgestattete polizeiliche Präsenz zur Wahrnehmung der verbleibenden gesetzlichen Aufgaben, insbesondere zur Verhinderung illegaler Einreisen. - So weit
der Sachstand.
Bitte.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. - Ich hatte nach den Zahlen
von Schleswig-Holstein gefragt. Sie haben in Ihrer Antwort Zahlen lokalisiert auf die Fördestadt Flensburg genannt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie
gesagt, dass die 233 kw-Stellen, um die es geht, nur theoretischen Charakter, aber keine Auswirkung auf den
Personalbestand des Bundesgrenzschutzes in SchleswigHolstein haben. Ich hatte Sie aber nach den konzeptionellen Überlegungen gefragt, die dahinter stehen. Sie wissen
wie ich, dass das Schengener Übereinkommen ab dem
21. März auch für Skandinavien/Deutschland gilt. Für die
Bürgerinnen und Bürger vor Ort stellt sich daher die
Frage, ob es ein Mehr oder ein Weniger an Sicherheit gibt,
wenn die Grenzen endgültig fallen.
Meine Frage dazu ist: Gehört zu Ihren konzeptionellen
Überlegungen auch die Aufnahme unseres Vorschlages,
wie in Offenburg an der deutsch-französischen Grenze
jetzt auch für die nordische Passunion - eingeschlossen
sind Dänemark, Schweden und Finnland - an der deutschdänischen Staatsgrenze ein gemeinsames Lage- und Sicherheitszentrum einzurichten?
Herr Kollege Börnsen, zunächst
eine Bemerkung: Das, was sich jetzt an der Grenze zu
Dänemark abspielt - Sie haben das entscheidende Datum
genannt: 21. März 2001 -, ist von den Erfahrungswerten
her nicht neu. Deswegen habe ich versucht, mit der
Unterlegung der Zahlen deutlich zu machen, dass es
zu den ursprünglich vor der Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes vorgesehenen 312 Dienstposten mit
453 Dienstposten eine Differenz gibt. Dies ist im Grunde
genommen die personelle Reaktion auf das, was aufgrund der Veränderungen, des Beitritts Dänemarks zum
Schengener Abkommen, zu erwarten ist.
Die Arbeit zur Gewährleistung der Sicherheit ist anders. Das haben wir an der Westgrenze erfahren. Die Hinterfeld- oder Vorfeldarbeit - egal, wie man sie bezeichnet - ist natürlich stärker gefragt. Dies ist personell
unterlegt.
Bezogen auf Ihre Frage zu den 233 Dienstposten, habe
ich ganz bewusst einmal den Werdegang geschildert. Er
war - das sage ich Ihnen in aller Offenheit - nicht so sehr
sicherheitspolitisch unterlegt. Es gab vielmehr ein personelles Problem, das gelöst werden musste. Daher hat man
diese kw-Vermerke an zwei Stellen untergebracht. Eine
davon betrifft Schleswig-Holstein; dort geht es um
233 Dienstposten. Die anderen beziehen sich auf den
Köln/Bonner Raum.
Bitte.
Frau
Präsidentin, wenn ich nachfragen darf: Meine erste Frage,
die Frage nach dem gemeinsamen Lage- und Sicherheitszentrum, ist nicht beantwortet worden. Sie haben sehr
fundiert Auskunft gegeben. Die Frage aber schloss sich an
das gemeinsame deutsch-skandinavische Lage- und Sicherheitszentrum an.
Inwieweit dies einbezogen werden wird, ist derzeit nicht definitiv zu beantworten. Ich
gebe Ihnen da gerne noch einen weiteren Sachstandsbericht. Ich gestehe Ihnen dabei in aller Offenheit ein, dass
wir noch einmal überprüfen, ob die derzeit vorhandene
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Konzeption der Sachlage gerecht wird. Das zuständige
Präsidium Nord ist gerade damit befasst. Ich denke, dass
wir gute Lösungen finden werden.
Frau
Präsidentin, ich begrüße es, dass der Herr Staatssekretär -
Herr Kollege,
eigentlich dürfen Sie keine Zusatzfrage mehr stellen.
Das gerade war eine Nachfrage zu meiner ersten Frage, weil die
Antwort nicht auf den Punkt gebracht worden ist, Frau
Präsidentin. Kann ich jetzt trotzdem zu meiner zweiten
Frage kommen?
Es liegt im Ermessen der Antwortenden, sich gelegentlich so auszudrücken, wie sie es möchten.
({0})
Aber
wir haben es mit einem Staatssekretär zu tun, der in der
Sache ausgesprochen kompetent ist und insofern eine
zweite Frage zulässt.
Da sind wir uns
einig. Bitte.
Herr
Staatssekretär, ich habe Verständnis dafür, dass Sie noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass Ihre Konzeption
für den Nordteil Deutschlands und damit für Skandinavien ähnlich der Konzeption der früheren Regierung an
der Westgrenze gewesen ist, den Personalbestand trotz
des Schengener Abkommens zu erweitern und zu verstärken, um die Sicherheitssituation für die Bürger zu verbessern.
In dem Zusammenhang möchte ich Sie gerne fragen,
ob Sie der Auffassung sind, dass eine elektronische Überwachung, wie es das Königreich Dänemark betreibt - ich
habe mir das mit meinem dänischen Kollegen Erik
Jacobsen angesehen -, auch von der Bundesrepublik
Deutschland durchgeführt werden sollte.
Sie wissen, dass wir allein in den letzten anderthalb
Jahren über 3 800 Aufgriffe hatten. Es erfolgten also über
die Hälfte aller Aufgriffe in Deutschland an der Nordgrenze.
Herr Kollege Börnsen, Tatsache
ist, dass mit dem 21. März 2001 Grenzkontrollen wegfallen. Das heißt, diese Arbeit wird nicht mehr erledigt. Die
Sicherheit wird dann durch andere Verfahren und Methoden, die im Übrigen auch personell mit entsprechenden
Zahlen unterlegt sind, wie ich es geschildert habe, gewährleistet.
Ich habe das Schengener Abkommen immer so verstanden, dass man keine elektronischen Grenzkontrollen
haben wollte, und die Erfahrung ist, dass dies im Grunde
genommen auch nicht notwendig ist.
Was die konkreten diesbezüglichen Planungen der dänischen Seite anbelangt, kann ich Ihnen derzeit Konkreteres nicht sagen. Eigentlich würde mich das, was Sie anführen, etwas verwundern.
Es gibt keine
weiteren Zusatzfragen zu diesem Punkt. Danke schön,
Herr Staatssekretär.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Fragen wird Frau Staatssekretärin Hendricks beantworten.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Max
Straubinger:
Ist der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung von
Einkünften mit den Plänen der Bundesregierung, eine Entfernungspauschale in Höhe von 0,80 DM je Kilometer einzuführen,
noch gewährleistet, angesichts der Tatsache, dass ein Berufspendler, der mit der Deutschen Bahn fährt, zum Beispiel auf der
Strecke Landau-München ({0}) bei einem Jahresaufwand von circa 3 600 DM dann
20 000 DM bei der Jahressteuererklärung als Werbungskosten in
Ansatz bringen kann?
Bitte.
Herr Kollege Straubinger,
die Bundesregierung sieht in der geplanten Entfernungspauschale von 0,80 DM keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil alle
Berufspendler, also auch die Kfz-Pendler, die Entfernungspauschale erhalten.
Die Umstellung auf eine einheitliche verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale schafft hinsichtlich
der steuerlichen Entlastungswirkung Wettbewerbsgleichheit zwischen den Verkehrsträgern, verbessert die Ausgangslage für den öffentlichen Personennahverkehr und
fördert die Bildung von Fahrgemeinschaften. Sie ist deshalb auch ein wichtiger umweltpolitischer Beitrag.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin,
betrachten Sie es aber nicht trotzdem als riesige steuerliche Subvention, wenn die Entfernungspauschale letztendlich solche Verwerfungen verursacht, wie ich sie in
meiner Frage aufgezeigt habe, indem bei einer Entfernung
von 125 Kilometern - das ist ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis - und bei unterstellten 200 Arbeitstagen jemand, der einen Jahresaufwand von 3 487 DM hat - ich
habe mich extra nochmals kundig gemacht -, 20 000 DM
als Werbungskosten steuerlich geltend machen kann und
dies im Endeffekt bei einem 50-prozentigen Steuersatz
bedeutet, dass der Steuerpflichtige für einen Aufwand von
3 487 DM dann 10 000 DM effektiv herausbekommt? Widerspricht das nicht eklatant den Grundsätzen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Einkünften?
Herr Kollege Straubinger,
es kann selbstverständlich zu Überkompensationen kommen. Das liegt im Übrigen in der Natur einer Pauschalierungsregelung und das ist auch nicht neu. Auch die derzeit geltende Kilometerpauschale von 0,70 DM kann je
nach der Art des verwendeten Kraftfahrzeugs und der Entfernung zu einer Überkompensation führen.
Es ist in der Tat so, dass eine Pauschalierung nicht auf
die tatsächlichen Aufwendungen abstellt, und insofern
geht es hier um die Gleichstellung der zurückgelegten
Entfernung, unabhängig von dem dazu benutzten Verkehrsmittel. Pauschalierungen haben immer - jeweils abhängig von den persönlichen Einkommensteuerverhältnissen - unterschiedliche Auswirkungen.
Bitte.
Frau Staatssekretärin,
ich habe ja Verständnis für Pauschalierungen, weil sie
manches im Vollzug erleichtern, aber wenn dann solche
Ergebnisse zutage treten, wie ich sie aufgezeigt habe,
müsste man dann nicht darüber nachdenken, unterschiedliche Pauschalsätze einzuführen? Nach dem Steuerrecht
müsste ja eigentlich gegeben sein, dass nur die tatsächlichen Aufwendungen oder die zu erwartenden Aufwendungen abgesetzt werden können, aber nicht irgendwelche fiktiven Höchstbeträge.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Betrieben erlaubt wird, dass sie in der Betriebsmittelrechnung den
Jahreshöchststand des Heizölpreises in Ansatz bringen
können.
Herr Kollege Straubinger,
es können natürlich nur die tatsächlich angefallenen Betriebskosten geltend gemacht werden. Das ist klar und
selbstverständlich. Diese lassen sich in der Bilanz nachweisen. Hierbei handelt es sich auch nicht um Pauschalen.
Ich habe gerade schon versucht, deutlich zu machen,
dass Pauschalen immer auch einen Vereinfachungstatbestand beinhalten und dass Pauschalen bei einem mit einer
Progression arbeitenden Steuerrecht auch eine progressive Wirkung haben. Ich kann mir schlechterdings nicht
vorstellen, dass wir hier nach Einkommenshöhe degressiv
gestaffelte Pauschalen vorsehen könnten. Dies wäre ja der
Vorschlag, der in Ihrer Frage enthalten ist. Wenn man den
tatsächlichen Aufwand ohne irgendeine Pauschalierungsregelung geltend machen könnte, würde dies zu einem
unvertretbaren Verwaltungsmehraufwand führen.
Insofern stellt die Einführung einer Entfernungspauschale von 80 Pfennig je Kilometer zwar einen neuen Tatbestand im Sinne der Erfüllung einer Höchstforderung
und im Sinne der Gleichstellung der Verkehrsträger dar.
Aber auch die Entfernungspauschale wirkt wie jede andere Pauschale.
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.
Frau Staatssekretärin, der entscheidende Unterschied - das teilen Sie
aber nicht mit - zur Kilometerpauschale liegt aber darin,
dass bei der Kilometerpauschale ein Aufwand tatsächlich
entstanden sein muss. Bei der Entfernungspauschale hingegen ist das nicht gefordert. Deswegen ist die Frage des
Kollegen Straubinger berechtigt.
Ich frage Sie ganz präzise: Halten Sie es wirklich für
vertretbar, dass ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer, die
überhaupt keinen messbaren Aufwand haben, trotzdem
die Entfernungspauschale geltend machen können?
Herr Kollege Otto, da Sie
auf das Beispiel des Herrn Kollegen Straubinger abheben,
der in seiner Frage beispielhaft die Strecke zwischen Landau und München von 125 Kilometern angeführt hat,
gehe ich davon aus, dass hiermit kein Fußgänger gemeint
ist.
({0})
- Gut. Ich wollte dies nur zunächst einmal klarstellen.
({1})
Kosten können in der Größenordnung, die Herr Kollege Straubinger in seiner Frage aufgezeigt hat, für
Fußgänger niemals entstehen, weil Fußgänger diese Entfernung schlechterdings arbeitstäglich nicht zurücklegen
können.
Wenn Sie davon ausgehen, dass ein Fußgänger auf dem
Weg zur Arbeit eine Entfernung zurücklegt, die einigermaßen plausibel erscheint, nämlich zum Beispiel fünf Kilometer für einen Weg - was schon bedeuten würde, dass
man dann, wenn man geht und nicht rennt oder läuft, etwa
eine Stunde braucht -, bedeutet das, dass die Entfernungspauschale zu keiner besonderen Entlastung führt,
denn man muss sich mindestens elf Kilometer von zu
Hause bis zur Arbeitsstätte bewegen, um überhaupt über
den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2 000 DM,
den man sowieso hat, zu kommen. Wenn man also nicht
zugleich noch andere Aufwendungen wie zum Beispiel
Beiträge für Gewerkschaften, Berufsverbände, Aufwendungen für Berufskleidung und anderes hat, müsste man
als Fußgänger mindestens elf Kilometer am Tag zurücklegen, um überhaupt in den Genuss einer naturgemäß begrenzten Entfernungspauschale zu kommen. Ansonsten
wäre dies schon durch den normalen Arbeitnehmerpauschbetrag abgegolten.
Zusatzfrage des
Kollegen Deß.
Frau Staatssekretärin
Hendricks, entsteht durch diese neue Entfernungspauschale nicht eine Ungerechtigkeit dahin gehend, dass es
auf dem flachen Land, wo keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, viele Arbeitnehmer gibt, die
tagtäglich auf ihr Auto angewiesen sind und die oft in der
Niedriglohngruppe arbeiten, also fast nichts steuerlich absetzen können, während ein gut verdienender Angestellter, der mit seinen Fahrten in die nächste Großstadt unter
die Entfernungspauschale fällt, gewaltige Summen „abstauben“ kann? Entsteht hier nicht eine soziale Schieflage?
Herr Kollege Deß, Sie
müssen sich vorstellen, dass nun erstmals zum Beispiel
Menschen aus dem ländlichen Raum, wo keine öffentlichen Verkehrsmittel in nennenswertem Umfang zur Verfügung stehen - diese Menschen sind also auf ihr Auto angewiesen -, in der Weise steuerlich gefördert werden, dass
jeder Einzelne jetzt auch in einer Fahrgemeinschaft die
Fahrtkosten steuerlich geltend machen kann, was vorher
nur für einen möglich war. Insofern ist eine Möglichkeit
gegeben, die gerade auch für Arbeitnehmer im ländlichen
Raum wirken kann.
Im Übrigen ist es natürlich auch möglich, seine Verkehrsmittel zu kombinieren, also zum Beispiel mit einem
Auto, einem Motorrad oder einem Fahrrad zum nächstgelegenen Bahnhof zu fahren und dann eine Fahrkarte des
öffentlichen Personennahverkehrs zu lösen.
({0})
Ich glaube, jetzt
gibt es keine weiteren Zusatzfragen. Dann danke ich Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf wird die Frage 4 der Kollegin Kopp beantworten:
Bleibt es bei der am 11. Oktober 2000 im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie genannten hälftigen Kostenaufteilung für
die Weltausstellung EXPO 2000 zwischen dem Bund und dem
Land Niedersachsen und gibt es Anzeichen für eine Überschreitung des derzeit bekannten Defizits der EXPO 2000 in Höhe von
2,4 Milliarden DM?
Frau Präsidentin! Liebe Frau Kopp, Sie haben noch einmal die EXPOFrage aufgeworfen. Ich möchte darauf hinweisen, dass es
am 24. August ein Gespräch des Bundesfinanzministers
mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten gab und
dass in diesem Gespräch Übereinstimmung erzielt wurde,
dass alle Anstrengungen darauf gerichtet werden müssen,
den Verlust der EXPO Hannover GmbH so gering wie
möglich zu halten. Im Übrigen sollen die Gespräche nach
Abschluss der Weltausstellung in Kenntnis ihres wirtschaftlichen Ergebnisses fortgesetzt werden.
Durch die, wie Sie wissen, in den letzten Wochen anziehenden Besucherzahlen kann es sein, dass die Ergebnisse besser ausfallen, als wir befürchten mussten.
({0})
Aber die Entscheidung ist noch nicht abzusehen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Wir hoffen sehr, dass die Überschreitung, die Sie befürchtet haben, nicht eintritt und man sich
dann in sinnvoller Weise auf ein Verfahren einigt.
Bitte.
Herr Staatssekretär, haben Sie
denn derzeit Kenntnis von einer möglichen Überschreitung dieses Defizits von 2,4 Milliarden DM? Denn darum
geht es mir speziell.
Nein, habe ich
nicht. Die abschließenden Zahlen liegen noch nicht vor.
Ich habe die Besucherzahlen der letzten Wochen gesehen,
die deutlich angestiegen sind. Wir haben im Gesamtergebnis, auch weil Herr Otto selber noch einmal da war, beachtliche Besucherzahlen erreicht.
({0})
Deshalb will ich einfach abwarten, wie das ausgeht, und
lieber später positive Meldungen verbreiten. Wir haben
keine Anhaltspunkte dafür, dass das Defizit überschritten
wird.
Bitte.
Ich hätte auch gern eine Antwort zu Teil zwei, zu der Kostenaufteilung 50:50.
Aber darf ich noch die Frage anschließen: Wann rechnet denn die Bundesregierung mit einem Ergebnis? Wann
werden Sie Sicherheit haben?
Wir sind jetzt
dabei, die Prozesse im Einzelnen abzuwickeln. Ich kann
es nicht auf einen Tag genau sagen.
({0})
- Ich kann auch nicht sagen, dass wir Ihnen das zu Weihnachten liefern. Ich bin sicher, dass wir darüber im Wirtschaftsausschuss berichten werden.
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.
({0})
- Sie hatten schon zwei Fragen.
Zu Teil zwei
wollte ich nur sagen: Es gibt keine neuen Verabredungen.
Die Vereinbarungen zwischen dem Ministerpräsidenten
Gabriel und dem Finanzminister gelten weiterhin.
In diesem
Zusammenhang die Frage an Sie, Herr Staatssekretär:
Sind Sie nicht der Auffassung, dass es die Verhandlungsposition des Bundes erheblich verfestigen würde, wenn
Sie klipp und klar vor dem Deutschen Bundestag erklärten, dass es bei der hälftigen Aufteilung bleibt? Bisher gab
es windelweiche Erklärungen: Wir reden darüber; das war
vereinbart worden. - Sind Sie nicht der Auffassung, dass
es für die finanziellen Interessen des Bundes vorteilhaft
wäre, dass Sie heute vor dem Deutschen Bundestag erklären, dass es dabei bleibt?
Jede Erklärung
eines Staatssekretärs vor dem Deutschen Bundestag ist in
ihrem Wert nicht zu unterschätzen. Deshalb bleibt es bei
dem, was ich eben schon Frau Kopp, die die Fragestellerin war, gesagt habe, nämlich dass es bei der Verabredung
zwischen dem Finanzminister und dem Ministerpräsidenten bleibt.
({0})
- Ja, das war die Prämisse. Dabei bleibt es.
Zusatzfrage der
Kollegin Lippmann.
Herr Staatssekretär, ich
möchte genau da anknüpfen. In der niedersächsischen
Presse ist in den vergangenen Monaten immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es Absprachen zwischen
Bundeskanzler Schröder und dem Ministerpräsidenten
Sigmar Gabriel über eine anderweitige Aufteilung gegeben habe: Der niedersächsische Anteil werde niedriger
sein als bisher. Sie haben dies bisher nicht bestätigt. Können Sie uns sagen, in welchem Verfahren dies gegebenenfalls vom Haushaltsausschuss oder vom Parlament
verabschiedet werden müsste?
Ich kann nur das
wiederholen, was ich eben gesagt habe: Wir sind dabei,
die Prozesse abzuwickeln. Wir werden dann mit den im
Vertrag vorgesehenen Verfahren, wenn alle betriebswirtschaftlichen Ergebnisse vorliegen, eine Einigung herbeiführen, wobei die Grundpfeiler eben von mir dargelegt
worden sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Straubinger.
Herr Staatssekretär,
werden bei möglichen Verhandlungen über eine höhere
Beteiligung des Bundes, die über die 50 Prozent beim zu
erwartenden Defizit hinausgehen - das kennen wir noch
nicht genau -, getätigte Infrastrukturmaßnahmen in die
Rechnung einbezogen, um auch diese bewerten zu können und damit zu einer ganz neuen Form der Gemeinschaftsfinanzierung zu kommen?
Es ist vereinbart
worden, dass der Bund und das Land Niedersachsen über
das, was am Ende unterm Strich übrig bleibt, sprechen. Da
der niedersächsische Ministerpräsident gesagt hat, dass es
gar kein Defizit gibt, weil wir Steuereinnahmen haben,
sind wir sehr zuversichtlich, dass die EXPO ein Erfolg
wird und dass wir auch die Finanzierung gut abschließen
werden, Herr Straubinger.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Seifert.
Herr Staatssekretär, da Sie von
einem „möglicherweise etwas besseren Ergebnis“ sprachen, mit dem man rechnen kann, möchte ich dazu etwas
anmerken. Es handelt sich doch hier, wenn ich das richtig
sehe, um eine privatrechtliche Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Wäre es bei einem Verlust von
2,5 Milliarden DM nicht angemessener, bestenfalls von
einem „etwas weniger schlechten Ergebnis“ zu reden?
Denn ein besseres Ergebnis ist die Steigerung eines guten
Ergebnisses.
Ich glaube, Sie
haben die Kategorien verwechselt. Ein besseres Ergebnis
kann man auch gegenüber einem schlechteren Ergebnis
erzielen. Besser ist nicht unbedingt die Steigerung von
gut - jedenfalls nach meinem Sprachempfinden. Mehr
will ich dazu nicht sagen.
Weitere Nachfragen liegen nicht vor. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Die Frage 5 wird schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Der Staatsminister Ludger Volmer wird
die Fragen beantworten.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Otto auf:
Wie bringt die Bundesregierung ihre mir in der Fragestunde
am 25. Oktober 2000 zu Frage 8 ({0}) erteilte Auskunft, sie habe keine Kosten verursachende PR-Kampagne in Tschechien gestartet, in Einklang mit der
Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 2. Oktober 2000, wonach dieses von Ende August
bis Ende September 2000 zur „Förderung nachbarschaftlichen
Zusammenlebens und des Nachbarschaftsgefühls“ unter der
Schirmherrschaft des Bundeskanzlers eine PR-Aktion in Polen
und Tschechien mit Kosten von „circa 2,4 Millionen DM“ veranstaltet habe?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Otto, die Antwort von Staatsminister
Dr. Zöpel auf Ihre Frage „Trifft es zu, dass die Bundesregierung angesichts des als schlecht kritisierten Images der
Bundesrepublik Deutschland in Tschechien eine PRKampagne in den dortigen Medien startet und welche
Kosten sind dafür geplant?“ lautete am 25. Oktober 2000
korrekt: Nein. Die Bundesregierung hat in der Tat keine
solche PR-Kampagne in den tschechischen Medien
durchgeführt oder geplant.
Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, auf das Sie sich jetzt in Ihrer Frage beziehen,
({0})
hat vielmehr in der Zeit vom 26. August bis 30. September dieses Jahres in sechs Orten entlang der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze - davon einem in der Tschechischen Republik - Bürgerfeste unter
dem Motto „Nachbarn treffen Europa“ veranstaltet. Die
Bürgerfeste fanden in Eisenhüttenstadt am 26. August, in
Görlitz am 2. September, in Pirna am 16. September, in
Reichenberg - das ist in Tschechien - am 23. September,
({1})
in Schwedt am 23. September und in Swinemünde in Polen am 30. September 2000 statt.
Es handelte sich dabei nicht um eine PR-Aktion in Polen und Tschechien, sondern, wie aus der von Ihnen zitierten Pressemitteilung des Bundespresseamtes erkennbar, um eine Veranstaltungsreihe mit Schwerpunkten in
Brandenburg und Sachsen. Die sechs Bürgerfeste dienten
im Vorfeld der EU-Erweiterung dem Ziel, das nachbarschaftliche Zusammenleben und das Nachbarschaftsgefühl beiderseits der deutsch-polnischen und deutschtschechischen Grenze, vor allem unter den Bürgerinnen
und Bürgern, weiter zu fördern.
Bitte.
Herr Staatssekretär -
Er ist Staatsminister.
Hans-Joachim Otto ({0}) ({1}): Entschuldigung, Herr Staatsminister. Das war ein schweres Versehen. Herr Staatsminister, ich hoffe, Sie verzeihen mir dieses schwere Versehen? - So ganz nicht, das merke ich.
({2})
Was erwidern Sie mir, wenn ich behaupte, dass die Antwort des Herrn Staatsministers Dr. Zöpel auf meine Frage
symptomatisch für die wirklich inakzeptable Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber den Abgeordneten in der Fragestunde ist; zumal ein Großteil der Kosten dieser Aktion, die Sie erwähnt haben,
Schaltungskosten in tschechischen Medien waren? Was
erwidern Sie auf meinen Vorwurf?
Ich erwidere auf ihre Frage, dass ich Ihre Einschätzung nicht teile.
Bitte.
Herr Staatsminister, kann ich in Zukunft auch vom Auswärtigen Amt
erwarten, dass ich, wenn ich eine präzise Frage nach einer
PR-Aktion und nach Schaltungen in tschechischen Medien stelle, wahrheitsgemäße und nicht - wie dieses Mal nicht wahrheitsgemäße Antworten erhalte, zumal in dieser Aktion in Tschechien Schaltungskosten in erheblichem Maße angefallen sind? Kann ich von Ihnen in
Zukunft präzisere und wahrheitsgemäße Antworten erwarten?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, wenn Sie nach
Schaltungskosten fragen, erhalten Sie Antworten zu
Schaltungskosten. Wenn Sie nach PR-Aktionen fragen,
erhalten Sie Antworten zu PR-Aktionen.
({0})
Sie bekommen immer auf das eine Antwort, wonach Sie
fragen.
Wir kommen
zur Frage 7 des Abgeordneten Koschyk:
Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über eine etwaige polnische Bereitschaft, der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. Oktober 1992 beizutreten, und wie beurteilt die Bundesregierung das vom Parlament
der Republik Polen am 7. Oktober 1999 beschlossene Gesetz über
die polnische Sprache vor allem hinsichtlich des Gebrauchs von
regional- und Minderheitensprachen in Polen, zum Beispiel der
deutschen Sprache in den Hauptwohngebieten der deutschen Minderheit in Polen, im öffentlichen Raum?
Herr Kollege Koschyk, die Bundesregierung würde
es begrüßen, wenn möglichst viele europäische Staaten
der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen beitreten würden. Die Republik Polen hat
nach Kenntnis der Bundesregierung die Europäische
Charta der Regional- oder Minderheitensprachen bislang
nicht unterzeichnet. Der Bundesregierung liegen hinsichtlich der polnischen Bereitschaft keine konkreten Angaben vor.
Das polnische Gesetz über die polnische Sprache ist
am 8. Mai 2000 in Kraft getreten. Das Gesetz regelt - wie
im Übrigen auch anderswo üblich -, dass die Landessprache zugleich Amtssprache ist. Darüber hinaus gilt der allgemeine Grundsatz der Verwendung der polnischen Sprache bei öffentlichen Tätigkeiten und im Rechtsverkehr.
Hierdurch ist nicht nur die öffentliche Verwaltung im
Hinblick auf ihre eigenen Verwaltungshandlungen gebunden, sondern zugleich auch jede Person, die gegenüber
den in Art. 4 des Gesetzes ausdrücklich aufgezählten Verwaltungsorganen Erklärungen abgibt. Dies bedeutet, dass
zum Beispiel Genehmigungsanträge an die Organe der öffentlichen Verwaltung oder die lokalen Selbstverwaltungsorgane in polnischer Sprache einzureichen sind. Im
Vergleich mit dem vorherigen Rechtszustand in Polen bedeutet dies keine Änderung. Art. 2 des Gesetzes besagt,
dass durch das Gesetz die Rechte nationaler Minderheiten
und ethnischer Gruppen nicht beeinträchtigt werden.
Die nationalen und ethnischen Minderheiten in der Republik Polen haben laut Art. 35 der polnischen Verfassung
das Recht auf Wahrung und Entwicklung der eigenen
Sprachen sowie auf Entwicklung der eigenen Kultur und
Wahrung ihrer Bräuche und Traditionen. Darüber hinaus
regelt Art. 27 der polnischen Verfassung in Ausübung des
Rechts eines Staates zur Einführung und Verwendung einer einheitlichen Amtssprache, dass in der Republik Polen Polnisch Amtssprache ist.
Die Interessen der ethnischen und nationalen Minderheiten in Polen zur Verwendung der jeweiligen Minderheitensprache sollen in einem Minderheitengesetz geregelt werden. Dies liegt seit geraumer Zeit zur Beratung in
den Ausschüssen des Sejm. Der Gesetzentwurf sieht in
der jetzigen Fassung vor, dass Minderheitensprachen in
Minderheitengebieten im Verkehr mit den Behörden als
so genannte Hilfssprachen verwandt werden können.
Herr Kollege.
Herr Staatsminister,
herzlichen Dank.
Ich entnehme Ihrer Antwort, dass sich die Bundesregierung sehr ausführlich mit diesem polnischen Gesetz
über die polnische Sprache befasst hat.
Wie bewertet die Bundesregierung Art. 10 Abs. 2 dieses Gesetzes, wonach Namen und Texte in polnischer
Sprache auch unter den durch Verordnung des Ministers
für öffentliche Verwaltung bestimmten Bedingungen und
Voraussetzungen durch fremdsprachliche Übersetzungen
ergänzt werden können, im Hinblick auf die - auch in Fragestunden - immer wieder bestätigten Bemühungen der
Bundesregierung, gemäß dem Briefwechsel zum deutschpolnischen Nachbarschaftsvertrag zur Verwendung deutscher Ortsnamen in den Hauptwohngebieten der deutschen Minderheit in Polen zu gelangen? Das ist ja nach
der von mir zitierten Gesetzesstelle möglich. Hat die Bundesregierung unter Bezugnahme auf dieses polnische Gesetz einen entsprechenden Vorstoß gegenüber der polnischen Regierung unternommen?
Nach unserem Eindruck geht die polnische Gesetzgebung in Bezug auf die Sprachenfrage in eine Richtung,
die unserem Interesse entspricht. So ist in dem Gesetz
über die Minderheitensprachen vorgesehen, dass diese
zumindest als Hilfssprachen benutzt werden können.
Wenn dies praktisch zu dem führen würde, was Sie gerade
nennen, dann wäre das eine sehr begrüßenswerte Entwicklung.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
kann ich davon ausgehen, dass die Bundesregierung unter
Bezugnahme auf dieses Gesetz sowie auf die Aussage des
Briefwechsels zum deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag auf die polnische Regierung zugehen und unter
Hinweis auf die polnische Rechtslage ein Entgegenkommen von Polen bei der Verwendung von topographischen
Namen in deutscher Sprache in Hauptwohngebieten der
deutschen Minderheit erbitten wird?
Die Bundesregierung befindet sich ständig mit der
polnischen Seite im Gespräch, und zwar nicht nur auf der
Basis des Nachbarschaftsvertrages, sondern auch mit der
Perspektive einer möglichen EU-Mitgliedschaft Polens.
Dies ist ein weiterer Anlass, die gutnachbarschaftlichen
Beziehungen auszubauen und auf alle Fragen zu erstrecken, die von beiderseitigem Interesse sind.
Ich glaube, es
besteht nicht der Wunsch nach weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk:
Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über den
Stand des Gesetzgebungsprozesses im polnischen Parlament über
einen Gesetzentwurf zur Reprivatisierung von nach dem Zweiten
Weltkrieg enteignetem Vermögen und in welcher Weise werden in
den derzeitigen Beratungen zu diesem Gesetzentwurf Personen,
die zum Zeitpunkt des Verlustes des Vermögens nicht im Besitz
der polnischen Staatsangehörigkeit waren, bei Rückgabe- oder
Entschädigungsregelungen berücksichtigt?
Herr Koschyk, das polnische Parlament beschäftigt
sich seit mehr als einem Jahr mit dem Entwurf eines Gesetzes über Reprivatisierung von Liegenschaften, die vom
Staat übernommen wurden; so zumindest der Text des
Entwurfs. Der Gesetzentwurf wird noch in zweiter Lesung behandelt, ein Termin der Verabschiedung ist dem
Auswärtigen Amt nicht bekannt. Nach Art. 4 Ziffer 2 des
Gesetzentwurfes haben Personen, die die polnische
Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Dekrets vom
13. September 1946 über den Ausschluss von Personen
deutscher Volkszugehörigkeit aus der polnischen Gesellschaft endgültig verloren haben, sowie Personen, die zwar
die polnische Staatsangehörigkeit nachträglich erworben,
Polen jedoch bis zum 8. März 1984 verlassen haben, keinen Anspruch auf Reprivatisierungsleistungen. Andererseits haben Deutsche, die nachträglich die polnische
Staatsangehörigkeit erworben und diese bis zum 31. Dezember 1999 noch innehatten sowie länger als bis zum
8. März 1984 in Polen geblieben sind, einen Restitutionsanspruch.
Bitte.
Herr Staatsminister,
hat die Bundesregierung aufgrund der Umstände, die Sie
eben geschildert haben, nämlich dass es unter bestimmten
Gesichtspunkten einen Restitutionsanspruch gibt, geprüft, in welcher Weise dies dann auch für Angehörige der
deutschen Minderheit in Polen zutreffen würde?
Wir haben vor kurzem in einem Gespräch auf Beamtenebene darauf hingewiesen, dass beim EU-Beitritt
Polens - mit der Folge eines gemeinsamen Binnenmarktes - kein Grund vorhanden wäre, bestimmte Volksgruppen vom Grunderwerb auszuschließen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wie hat die polnische Seite darauf reagiert?
Wir haben den Eindruck, dass immer dann, wenn
völkerrechtliche oder staatsrechtliche Fragen nicht prononciert in den Vordergrund gestellt werden, sondern man
sich pragmatisch um Einzelfragen bemüht, die Bereitschaft vorhanden ist, zu vernünftigen Lösungen zu kommen.
Ich rufe jetzt die
Frage 9 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:
Wie steht der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph
Fischer, heute zu der Tatsache, dass 1973 der Ex-Terrorist HansJoachim Klein, gegen den jetzt vor dem Frankfurter Landgericht
das Gerichtsverfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuchten Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien im
Jahr 1975 begonnen hat, im Auto von Joseph Fischer gestohlene
Schusswaffen transportiert hatte?
Frau Präsidentin, ich möchte die Fragen 9 und 10,
die miteinander im Zusammenhang stehen, gemeinsam
beantworten.
Dann rufe ich
auch die Frage 10 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:
Welcher Art waren die Kontakte des Bundesministers des Auswärtigen, Joseph Fischer, zum Ex-Terroristen Hans-Joachim
Klein und bis zu welchem Zeitpunkt - bitte Jahresangabe - bestanden diese Kontakte fort?
Frau Kollegin, auf Wunsch der Bundesanwaltschaft
hat es Anfang der 80er-Jahre zu dem gesamten Problemkomplex, den Sie angesprochen haben, ein ausführliches
Gespräch mit dem damaligen MdB Fischer gegeben. Dem
ist keine weitere Erklärung hinzuzufügen.
Bitte, Frau Abgeordnete, eine Zusatzfrage.
Das ist keine Beantwortung meiner Fragen. Ich erlaube mir daher nachzufragen.
Da Sie offensichtlich weder meine erste noch meine
zweite Frage beantworten wollen, konkretisiere ich meine
Fragen dahin gehend, ob der heutige Außenminister
Fischer Erkenntnisse hat, um welche Art von Waffen es
sich handelte, die in seinem Wagen von dem Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein transportiert worden sind, gegen
den jetzt vor dem Frankfurter Landgericht ein Gerichtsverfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuchten
Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien
im Jahre 1975 begonnen hat.
Frau Kollegin, soweit es den ehemaligen Abgeordneten Fischer betrifft, habe ich Ihre Frage beantwortet.
Soweit Ihre Frage auf das zurzeit laufende Verfahren gegen Herrn Klein Bezug nimmt, möchte die Bundesregierung keinen Kommentar abgeben, weil sie sich nicht in
laufende Gerichtsverfahren einmischt.
Haben Sie noch
eine weitere Zusatzfrage?
Ja, natürlich. Meine Fragen beziehen sich auf Herrn Fischer und weniger auf das
laufende Gerichtsverfahren. Deshalb frage ich noch einmal: Wann hat Herr Joschka Fischer - heute Bundesaußenminister, damals MdB - konkret erfahren, dass in
seinem Wagen gestohlene Schusswaffen transportiert
wurden, bzw. wusste er davon, bevor er seinen Wagen an
den Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein verliehen hat?
Ich kann nur wiederholen, dass diese Fragen Anfang
der 80er-Jahre in einem Gespräch mit dem BKA abschließend geklärt worden sind.
Das beantwortet meine
Fragen nicht. - Ich möchte gern noch weitere Zusatzfragen stellen.
Sie können insgesamt vier Zusatzfragen stellen, weil Sie zwei Fragen
schriftlich eingereicht haben.
Ich stelle also eine weitere Zusatzfrage: Wie beurteilt der heutige Bundesaußenminister Joschka Fischer heute seine Kontakte zum ExTerroristen Hans-Joachim Klein?
Das hat der heutige Bundesaußenminister in diversen Büchern und Interviews mit aller Klarheit deutlich gemacht.
({0})
Ich möchte nicht über
Bücher unterrichtet werden. Ich habe hier im Parlament
eine Frage dazu gestellt und möchte, dass meine Frage
auch hier im Parlament beantwortet wird.
Ich denke, dass ich die Antwort mit aller Klarheit
gegeben habe.
({0})
Meine vierte und letzte
Zusatzfrage: Über welchen Zeitraum hinweg hatte Herr
Fischer Kontakt zu dem Ex-Terroristen Hans-Joachim
Klein?
Auch diese Frage habe ich Ihnen vorhin beantwortet.
Sie können
keine weiteren Zusatzfragen mehr stellen.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Deß eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Sie
sich immer auf die Erkenntnisse von 1980 berufen,
möchte ich die Frage stellen: Hat die Bundesregierung inzwischen Erkenntnisse darüber, ob das Auto, das dem
heutigen Bundesaußenminister Fischer gehörte, von
Herrn Klein gelegentlich benutzt wurde?
Da dies damals Gegenstand von Ermittlungen war
und diese Ermittlungen mit dem bekannten Ergebnis abgeschlossen worden sind, gibt es für die Bundesregierung
gar keinen Anlass, von sich aus zu recherchieren.
Herr Kollege
Deß darf eine weitere Zusatzfrage stellen, weil zwei
schriftlich eingereichte Fragen im Zusammenhang beantwortet wurden. - Bitte.
Herr Staatsminister, hat die
Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob im Rahmen
der damaligen Ermittlungen Fingerabdrücke auf den
Schusswaffen festgestellt wurden?
Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, zu Ermittlungen, die 1980 stattgefunden haben, heute Stellung
zu nehmen.
({0})
Jetzt hat der
Kollege van Essen eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gibt es
in der Zwischenzeit neue, insbesondere nachrichtendienstliche Erkenntnisse über den damaligen Vorgang, die
der Bundesregierung bekannt sind?
Ich wiederhole, dass wir nicht aus eigener Vollmacht recherchieren. Sollten nachrichtendienstliche Erkenntnisse vorliegen, würde ich sie hier nicht öffentlich
ausbreiten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schmidbauer.
Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, dass es besser wäre und im Interesse
des Bundesaußenministers, hier anständige Antworten auf
die Fragen zu geben, anstatt ausweichend zu antworten?
({0})
Herr Abgeordneter Schmidbauer, Sie müssen schon eine Zusatzfrage
zum Thema stellen. Sie dürfen sich nicht melden, um einen Kommentar zur Art und Weise einer Antwort zu geben. Das ist keine Frage im Sinne unserer Geschäftsordnung. Sie können nur zur Sache nachfragen.
Im Übrigen verweise ich auf die Praxis in diesem
Hause. Sie werden sich daran erinnern, dass Sie einmal
selbst in dieser Rolle waren.
Frau Präsidentin!
Ich bin mir sehr bewusst, was in Fragestunden möglich ist
und was nicht.
Außenminister Fischer ist in diesem Verfahren eine der
Hauptpersonen. Danach wurde von einer Kollegin gefragt. Meine Frage an den Staatsminister war, ob er nicht
glaube, dass im Zusammenhang mit dieser - ich gebe zu:
sensiblen - Fragestellung eine andere Auskunft besser
wäre, als sich die ganze Zeit vor dem Parlament um eine
entsprechende Aussage zu drücken. Er kann natürlich
Nein sagen. Wie Sie zu Recht betont haben, ist das seine
Angelegenheit. Das ist richtig.
Herr Kollege, ich weise Ihre Unterstellung zurück,
dass Herr Fischer Gegenstand des Verfahrens gegen Herrn
Klein sei.
({0})
Es ist beantragt
worden, die Sitzung zu unterbrechen, und zwar von
der Fraktion der Bündnisgrünen. Es gibt jetzt mehrere
Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Das Wort hat
zunächst Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!
Ich möchte für meine Fraktion den Geschäftsordnungsantrag stellen, die Fragestunde abzubrechen, weil angesichts
dieser Auskunftsverweigerung der Bundesregierung eine
Fragestunde keinen Sinn macht.
({0})
Es gibt eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Küster,
bitte.
Frau Präsidentin! Der Antrag
der Unionsfraktion ist mir sehr wohl zu Ohren gekommen. Da es sich um eine grundsätzliche Erwägung handelt, bitte ich, dass sich der Ältestenrat auf seiner morgigen Sitzung damit befasst. Ich gebe im Hinblick auf den
Antrag der Unionsfraktion jetzt gerne nach. Brechen wir
die Fragestunde ab! Wegen grundsätzlicher Erwägungen
bitte ich, dass sich der Ältestenrat und der Geschäftsordnungsausschuss morgen damit befassen. Dann können
wir darüber weiterdiskutieren.
Eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung des Kollegen Gehrcke.
Man kann sehr unterschiedlicher Auffassung sein, inwiefern der Herr Staatsminister die Fragen überhaupt beantwortet hat oder nicht.
Den Stil, den die Regierung praktiziert, muss der Herr
Staatsminister selber verantworten. Ich halte es aber nicht
für angebracht, die Fragestunde jetzt abzubrechen, weil
andere Kollegen andere wichtige Fragen gestellt haben.
Ich möchte beantragen, dass die Sitzung fortgeführt wird.
({0})
Zur Geschäftsordnung hat die Parlamentarische Geschäftsführerin von
Bündnis 90/Die Grünen, Steffi Lemke, das Wort.
({0})
- Sehr geehrter Herr von Klaeden, jede Fraktion hat das
Recht, sich zu Wort zu melden, wenn ein Geschäftsordnungsantrag gestellt worden ist.
Frau Lemke, bitte.
Frau
Präsidentin! Herr von Klaeden hat für die CDU/CSUFraktion den Abbruch der Fragestunde beantragt. Ich
möchte deshalb den Geschäftsordnungsantrag auf Sitzungsunterbrechung zurückziehen. Wir können die Fragestunde jetzt abbrechen. Ich finde es unmöglich, wie
diese Fragestunde seitens der Opposition missbraucht
wird,
({0})
um irgendwelche Schuldvorwürfe zu konstruieren, die
auf keiner juristischen Grundlage basieren.
({1})
Wir werden dieses Verfahren im Ältestenrat noch einmal erörtern. Ich finde jedenfalls, dass es dem Parlament
nicht gerecht wird, wie hier aufgrund solcher Fragen versucht wird, irgendwelche theoretischen Vorwürfe in Richtung des Außenministers zu konstruieren. Wir sollten die
Fragestunde an dieser Stelle abbrechen.
Gibt es noch
weitere Meldungen zur Geschäftsordnung? - Das ist nicht
der Fall.
Als Präsidentin muss ich jetzt entscheiden, wie wir
weiter verfahren. Ich sehe - auch nach Rücksprache - folgendes Problem und bitte auch die Kollegen Geschäftsführer, das zu bedenken: Wenn wir die Fragestunde jetzt
abbrechen, schränken wir das in der Geschäftsordnung
verankerte Recht der Abgeordneten ein, eine Antwort auf
ihre Fragen zu erhalten. Hierbei handelt es sich um ein
Minderheitenrecht. Minderheitenrechte dürfen meines
Erachtens nicht durch Mehrheitsentscheidungen aufgehoben werden.
({0})
Vor diesem Hintergrund entscheide ich in diesem Falle,
dass ich Ihrem Antrag nicht stattgeben kann. Ich verweise
aber auf die morgige Ältestenratssitzung, wo wir darüber
noch einmal sprechen sollten. Nach meinem Verständnis
der Geschäftsordnung entscheide ich richtig, wenn ich
eine Abstimmung darüber jetzt nicht zulasse; ein solches
Vorgehen ist nämlich grundsätzlich ausgeschlossen. Wir
werden das sicherlich morgen noch behandeln. Ich bitte,
jetzt so zu verfahren, wie ich es gesagt habe.
Gibt es noch weitere Anträge zur Geschäftsordnung? - Bitte.
Frau Präsidentin,
ich beantrage im Namen meiner Fraktion, dass wir die
Fragestunde unterbrechen und zu einer Sondersitzung des
Ältestenrates zusammenkommen.
Jetzt sofort? ({0})
Dem Antrag wird üblicherweise entsprochen. Wir verfahren so.
Ich unterbreche die Sitzung und bitte die Geschäftsführer, kurz zu mir zu kommen.
({1})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Der Vorgang, der zur Unterbrechung der Sitzung geführt hat, wird morgen im Ältestenrat anhand der dann
vorliegenden Bundestagsprotokolle erörtert. Die Fraktionen haben sich verständigt, die Fragestunde jetzt nicht
fortzusetzen, sondern mit der Aktuellen Stunde fortzufahren.
Ich rufe also den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
PDS
Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zu
den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im
Jahr 2001
Ich gebe als Erstem dem Antragssteller, dem Kollegen
Roland Claus, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Montagabend erreichte
uns die Neuigkeit, dass bei der beabsichtigten Rentenreform erhebliche Veränderungen vorgesehen seien. Das hat
unsere Fraktion veranlasst, zu diesem Thema von großem
öffentlichen Interesse eine Aktuelle Stunde zu beantragen.
Die Koalitionsvertreterinnen und -vertreter, die nach mir
sprechen, werden wahrscheinlich feststellen, dass sie der
PDS-Fraktion dafür dankbar sind, weil sie dadurch wieder in die Lage versetzt werden, dem Hause ihre erfolgreiche Politik vorzustellen. Ich darf Ihnen vorsichtshalber
versichern, dass das nicht unser Hauptmotiv war.
Wir wollten zuallererst - das sollte uns hier im Hause
einen - für Aufklärung in der Sache sorgen, dafür, dass die
Öffentlichkeit erfährt, was Sache ist. Diese gesellschaftliche Diskussion mit erheblicher Tragweite muss hier im
Plenum und nicht nur in so genannten Konsensrunden
stattfinden.
({0})
Die eigentlich spannende Frage lautet: Wie wollen Sie
erreichen, dass die versprochene Rückkehr zur Nettolohnanpassung bei der Rente zum 1. Juli 2001 erreicht
wird? Ich weiß, Sie haben dieses Versprechen mit der Bemerkung „im Grundsatz“ verbunden. Ich hoffe einmal,
dass es nicht so ist, wie wir es schon manchmal von der
Koalition erlebt haben, dass nämlich „im Grundsatz“ bei
Ihnen bedeutet, dass die Ausnahme zur Regel erklärt wird.
Wir haben es hier - das ist, glaube ich, unbestritten mit einer großen Verunsicherung der Öffentlichkeit zu
tun. Das Vertrauen in die Zukunft, in die Sicherheit der
Rente wächst mit solchen Schritten eben nicht. Man begegnet heute einer ganzen Reihe junger Leute - ich hoffe
einmal, dass es nicht mehr werden -, die sagen: Über die
Rente lassen wir die Alten reden; wir werden von der gesetzlichen Rentenversicherung wohl ohnehin nicht mehr
profitieren.
({1})
Ich hoffe einmal, dass das nicht gewollt ist.
Ich will Ihnen noch einmal unsere Grundkritik an Ihrer
Rentenreform vortragen. Nicht die 4 Prozent der privaten
Vorsorge sind unser Problem - es ist kein quantitatives
Problem -, sondern es ist die Tatsache, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung den Einstieg in den
Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung und
der paritätischen Rentenversicherungszahlung vornimmt
und damit einen Rückfall hinter Bismarck organisiert.
({2})
- Aber es wäre möglich, Herr Kollege, Bismarck zu überholen. Sie jedoch fallen hinter ihn zurück. Das ist doch unser Problem.
({3})
Die Arbeitgeber werden aus dem Solidarprinzip entlassen und selbst die Rentenreform von Blüm mit dem demographischen Faktor wäre vor dem Hintergrund dessen,
was Sie vorschlagen, sozial gerechter; allerdings nach der
zweifelhaften Logik: gleiches Unrecht für alle.
Dennoch - ich bin an dieser Stelle, wie manche meinen, ein hoffnungsloser Optimist - bietet diese vertrackte
Situation auch Chancen. Meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, Sie müssen sich eingestehen:
Der am 17. Dezember begonnene Weg, einen Rentenkonsens zu suchen, ist gescheitert. Die CDU/CSU-Fraktion
hat Ihnen ziemlich unmissverständlich erklärt, dass sie an
diesem Konsens nicht mitwirken wird. Deshalb wollten
wir Sie an dieser Stelle auffordern: Suchen Sie einen
neuen Konsens mit den Gewerkschaften, den Kirchen,
den Sozialverbänden und den Rentenversicherungsträgern, meinethalben auch mit der PDS, aber wir wollen uns
selbst nicht so wichtig nehmen.
({4})
Suchen Sie diesen Konsens mit dem Ziel einer existenzsichernden Rente für alle, bei der die Beiträge von
allen aufgebracht werden, ohne Absenkung des Rentenniveaus und unter Beibehaltung der paritätischen Finanzierung. Ich gebe zu: Das ist keine einfache, aber eine lösbare Aufgabe. Einen Rat erhalten wir aus der Schweiz, wo
es den interessanten Spruch gibt: Die Millionäre brauchen
die gesetzliche Rentenversicherung nicht, aber die gesetzliche Rentenversicherung braucht die Millionäre. Das
wäre auch für Deutschland ein Weg zur Finanzierung einer gerechten und für alle auf Dauer gesicherten Rente.
({5})
Ich bemerke bei anderen Zweifel, die fragen, welche
Hoffnung man noch haben könne, dass sich überhaupt etwas ändert. Ich sage Ihnen: Solange eine Sache in der parlamentarischen Behandlung ist - ich verweise darauf,
dass die Rentenreform im Bundestag noch nicht eingebracht ist -, sind wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier verpflichtet, die Hoffnung nicht aufzugeben, den
Entwurf im Parlament noch zu ändern. Also: nichts mit
„basta“ an dieser Stelle!
({6})
Ich sage Ihnen zum Schluss: Wer heute von der Rentenreform spricht, muss sich zwischen Ellenbogengesellschaft und Solidargemeinschaft entscheiden; er muss sich
entscheiden zwischen der Formel „Stärkere besiegen
Schwächere“ und der Formel „Einer trage des anderen
Last“. Es ist an der Zeit, dieser Bundesregierung und dieser Koalition zu sagen: Die sozialen Spannungen in diesem Land sind größer, als Sie es wahrhaben wollen. Es ist
unverantwortlich, diese sozialen Spannungen in die Zukunft zu transportieren. Die Zukunft braucht soziale Gerechtigkeit. Auf eine solche hinzuwirken wäre eine moderne Politik.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Katrin - - Ulrike Mascher für die SPDFraktion. Katrin kommt anschließend.
({0})
Nein, das ist kein Problem.
Ich habe eine Schwester, die Katharina heißt.
Liebe Grüße.
Herr Präsident! Ich finde es
sehr lobenswert, dass die PDS mit großer Geste im Bundestag klären will, was Sache ist. Wir werden in der
nächsten Woche bei der ersten Lesung unseres Gesetzentwurfes sehr ausführlich darüber diskutieren können, was
in der Rentenreform Sache ist.
({0})
Wir werden auch in den Ausschussberatungen klären können, was Sache ist. Warum soll es aber nicht eine vorgezogene Erklärung geben?
Wie wir - Arbeitsminister Walter Riester hat es mehrmals getan - bereits mehrfach, auch im Deutschen Bundestag, erklärt haben, wird es am 1. Juli 2001 eine Rentenerhöhung entsprechend den Grundsätzen der nettolohnbezogenen Anpassung geben. Herr Claus, ich erkläre Ihnen gerne die Grundsätze der nettolohnbezogenen Anpassung. Die mathematische Berechnungsformel wird
entsprechend den Grundsätzen des europäischen Systems
volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung erfolgen, das heißt,
der geplante Kapitalvorsorgebeitrag wird für die Feststellung des Nettoeinkommens berücksichtigt und das Nettoeinkommen selbstverständlich erst dann mindern, wenn
tatsächlich eine Kapitalvorsorge vorgesehen ist.
Darüber hinaus werden auch die Beiträge bzw. die Veränderungen der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen, aber nicht mehr die Veränderungen
im Steuerrecht, weil die Veränderungen in der Steuerpolitik, die zum Beispiel zur Entlastung der Familien geführt
haben, nicht die Rentenversicherung belasten sollten. Darüber sollten wir uns im Bundestag auch verständigen
können.
Wir wollen, dass die Rentner und Rentnerinnen weiterhin an der Entwicklung der tatsächlich verfügbaren
Löhne und Einkommen teilhaben. Dieser Grundsatz, der
die gesetzliche Rentenversicherung seit 1957 prägt, soll
auch in Zukunft gelten, und zwar auch für die neuen Bundesländer; denn wenn Sie sich die Entwicklung der letzten zehn Jahre ansehen, dann werden Sie erkennen, dass
sich die Renten dynamisch entwickelt haben, auch wenn
man berücksichtigt, dass die hohe Arbeitslosigkeit der
letzten zehn Jahre die Dynamik abgeschwächt hat. Man
kann wirklich nicht behaupten, dass künftigen Rentnerinnen und Rentnern massenhaft Armut und Sozialhilfebezug drohen.
Herr Claus, Sie haben gesagt, es gebe in der Schweiz
ein wunderbares Rentenmodell, demgemäß Millionäre
entsprechend der Höhe ihrer Einkommen herangezogen
werden. Aber Sie haben dabei unterschlagen, dass
Einzelpersonen in der Schweiz nur eine Rente in Höhe
von maximal 2 000 Franken erhalten. Das Prinzip der
deutschen Rentenversicherung, eine leistungsbezogene
Rente zu gewähren, also eine Rente entsprechend der
Höhe der Beiträge, die geleistet worden sind, gibt es in der
schweizerischen Rentenversicherung nicht.
Die Schweizer haben sich 1948 in einem Volksentscheid für ihr jetziges Rentensystem entschieden. Ein solches System hat sicher erhebliche Umverteilungseffekte,
die man für wünschenswert halten kann. Aber nach unserer verfassungsrechtlichen Ordnung sind die durch
Beiträge finanzierten Rentenleistungen wie Eigentum geschützt. Deswegen ist die Methode Schweiz - hohe
Beiträge bei gleichzeitiger Kappung der Leistungen nicht auf die Bundesrepublik übertragbar. Ich halte deswegen den immer wieder gemachten Hinweis auf die
Schweiz nicht für sinnvoll, weil er uns bei der Lösung der
Probleme der deutschen Rentenversicherung nicht voranbringt.
Auch die immer wiederholte Behauptung, die zusätzliche private Kapitalvorsorge sei ein Einstieg in den Ausstieg aus der Parität, ist wirklich nicht zielführend. Es
bleibt bei der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen
Rentenversicherung. Nach wie vor zahlen Arbeitnehmer
und Arbeitgeber einen hälftigen Beitrag. Der Bund - die
Steuerzahler - beteiligt sich erheblich. Der Anteil an Bundesmitteln wird im nächsten Jahr bei gut 136 Milliarden DM liegen.
In den Bereichen der betrieblichen Altersvorsorge und
der privaten Vorsorge wird es wie bisher unterschiedliche
Finanzierungssysteme geben. Die betriebliche Altersvorsorge wird von den Arbeitgebern teilweise voll finanziert.
Die Beiträge zu Pensionskassen werden hälftig von den
Arbeitgebern und den Arbeitnehmern finanziert. Die Arbeitnehmer werden ihre private Altersvorsorge vollständig allein finanzieren, wenn sie Geld in eine Direktversicherung einzahlen. Das Märchen, hier werde der Weg der
paritätischen Finanzierung verlassen, wird auch durch
Wiederholung nicht wahr.
Ich bitte Sie, über realistische Perspektiven - wenn Sie
einen konstruktiven Beitrag zur Rentendiskussion leisten
wollen - zu diskutieren, sich nicht mit dem Hinweis auf
die Schweiz an einer Fata Morgana zu orientieren und
nicht immer wieder zu behaupten, der Weg der paritätischen Finanzierung werde verlassen. Ich wünsche nicht,
dass das, was hier immer wieder beschworen wird, Realität wird; denn ich halte die paritätische Finanzierung für
ein wesentliches Element der gesetzlichen Rentenversicherung.
Vielen Dank.
({1})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Karl-Josef
Laumann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
gut, dass wir heute auch im Deutschen Bundestag - das
geschieht in der gesamten deutschen Öffentlichkeit schon
seit langem - erneut darüber diskutieren, wie die Renten
demnächst angepasst werden sollen. Diese Diskussion ist
notwendig geworden, weil Sie, Herr Riester, der erste
Arbeitsminister seit 1957 sind, der die Rentenerhöhungen
von der Lohnentwicklung abgekoppelt hat. 2 Millionen Menschen, die in Deutschland dazu Einsprüche eingelegt haben, sind der schlagende Beweis, dass Sie ganz
allein die Verantwortung dafür tragen, dass niemand mehr
Ihrer Rentenpolitik traut.
({0})
Auch heute haben wir es gesehen: Sie mussten Ihre Parlamentarische Staatssekretärin ins Gefecht schicken, weil
keiner aus der Fraktion diese Pläne noch verteidigt.
({1})
Mit großem Interesse habe ich im „Focus“ der letzten Woche von Ihrem Auftritt in Ennepetal und vom Verhalten
des damaligen sozialpolitischen Sprechers gelesen. Auch
das macht deutlich, dass Sie mit Ihrer Rentenpolitik isoliert sind.
({2})
Um es ganz deutlich zu sagen: Sie sind mit Ihrer Rentenpolitik bis jetzt auch deswegen gescheitert, weil Sie
unausgereifte Konzepte in die Diskussion eingebracht haben. Sie verlangen von uns, von der CDU/CSU, immer,
dass wir Ihrer Rentenpolitik zustimmen. Hätten wir das
getan, dann hätten wir schon viermal - so oft haben Sie
bis dato Ihr Rentenkonzept in wesentlichen Punkten geändert - etwas Falschem zugestimmt.
({3})
Sehr geehrter Herr Riester, so kann man den Rentenkonsens in Deutschland nicht organisieren.
Bedenken Sie doch einfach einmal Folgendes:
({4})
Wenn Sie die blümsche Rentenreform auch im Bereich
der demographischen Formel wieder in Kraft setzten,
dann kämen wir zu Beitragssätzen von 22,3 Prozent.
Überlegen Sie sich allen Ernstes einmal, ob sich Ihr
ganzer Zauber, den Sie nur veranstalten, weil Sie die demographische Formel nicht wollen - damit wollen Sie
auch keine verlässliche Größe für die Rentenanpassung
mehr -, für 0,3 Prozentpunkte Beitrag lohnt oder ob Sie
nicht durch Ihre Sturheit hier, die natürlich politisch motiviert ist, einen großen politischen und vor allen Dingen
rentenpolitischen Fehler machen.
({5})
Die demographische Formel ist die einzig nachvollziehbare Lösung, einen Abschlag von der Nettolohnentwicklung vorzunehmen, den wir zur Konsolidierung der
Rentenversicherung brauchen; ich erinnere an die längere
Lebenserwartung. Kehren Sie schlicht und ergreifend zu
dieser Formel zurück! Wenn Sie das tun, haben Sie in der
Rentenpolitik wahrscheinlich einen Konsens. Ich wundere mich, wer jetzt alles für die demographische Formel
ist: alle Rentenversicherungsträger, der VdK, der Reichsbund, große Teile der Gewerkschaften und die Union als
Erfinder dieser genialen Formel ohnehin.
({6})
Also: Übernehmen Sie die demographische Formel und
Sie stellen in einem wesentlichen Punkt den Rentenkonsens her.
({7})
Lassen Sie sich nicht von dem beeindrucken, was Sie und
andere im letzten Wahlkampf fälschlicherweise gesagt
haben.
Wenn ich an die Aufführungen des Arbeitsministeriums in den letzten zwei Wochen in Sachen Rente denke,
lieber Herr Riester, dann kommt mir das vor, als wäre dort
eine Multikultitruppe lustig dabei, in Rente zu machen.
({8})
Sie hat aber keine Leitfigur. Dies muss der Minister
sein.
({9})
Ich kann Sie nur bitten, dass Sie sich zu einer Leitfigur in
der Rentenpolitik entwickeln. Sollten Sie es nicht schaffen, wird die schwere Aufgabe einer Rentenreform sicherlich von einem anderen Minister organisiert werden
müssen.
Schönen Dank.
({10})
Nun spricht
die Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Lieber Herr Laumann, was Sie
zuletzt zu der „Multikultitruppe“ und zu der „Leitfigur“
gesagt haben, das finde ich in der Tat so unpassend, dass
ich Sie ganz ernsthaft bitte, darüber nachzudenken.
({0})
Was Ihr Fraktionsvorsitzender zum Thema Leitkultur
in Deutschland abgeliefert hat - es ist eine Ausgrenzungsdebatte sondergleichen - ({1})
- Ich lenke nicht ab. - Die Frage, wie wir in dieser Gesellschaft zusammenleben, ist mir zu ernst. Dass Sie dieses Thema auf diese Weise benutzen und hier lächerlich
machen - es handelt sich um eine Ausgrenzungsdebatte -,
ist des Überdenkens in der Tat wert.
({2})
Frau Kollegin Schwaetzer, zu dem Thema will ich
natürlich etwas sagen. Herr Kollege Claus, Herr Kollege
Laumann, Sie beide haben hier über einen Rentenkonsens
gesprochen. Bei diesem Anliegen ging es gerade um die
Frage, inwieweit man - auch langfristiges - Vertrauen in
eine Rentenreform, in die Altersvorsorge in Deutschland
schaffen kann. Genau aus diesem Grunde - nicht, weil es
bequemer oder so nett wäre, mit Ihnen zusammen am
Tisch zu sitzen - haben wir gesagt, wir streben einen Rentenkonsens an.
Dass Sie selber für Verunsicherung sorgen und sie
nicht abbauen wollen, haben wir in den letzten Wochen
und Monaten in der Tat gemerkt. Wir finden es bedauerlich, dass Ihre Art, die Leute in Deutschland zu verunsichern und ihnen Angst zu machen, dazu führt, dass das
Vertrauen in die Altersvorsorge künftig weiter sinken
wird. Genau aus diesem Grunde - das will ich an dieser
Stelle auch sagen - werden wir in dieser Legislaturperiode eine Rentenreform verabschieden - mit Ihnen oder
ohne Sie -, die deutlich machen wird, dass wir für tatsächliche und wahre Generationengerechtigkeit auf eine neue
Art und Weise sorgen.
Was bedeutet das?
({3})
Aus unserer Sicht bedeutet das: Jede Generation muss
einen Beitrag leisten.
({4})
Genau das haut nicht hin, wenn man auf einen demographischen Faktor zurückgreift. Jede Generation muss einen
Beitrag leisten und jede Generation muss auch wissen,
was auf sie zukommt. Das heißt erstens, dass sich gemäß
unserem Vorschlag die jetzige Rentnergeneration in Form
einer geringeren Rentenanpassung beteiligt. Deswegen
muss mit der Umsetzung dieser Reform in dieser Legislaturperiode begonnen werden. Zweitens heißt das, dass
sich die jüngere Generation auf der Basis eines Ausgleichsfaktors und im Übrigen auch dadurch, dass sie
zusätzlich privat vorsorgt, daran beteiligt. Durch das
Zusammenspiel dieser beiden Faktoren wird Generationengerechtigkeit auf intelligente Weise hergestellt; zugleich ist dieser Ausgleich solidarisch.
Hinzu kommen noch - das haben Sie während Ihrer
Regierungszeit nie erreicht - Veränderungen innerhalb
des Systems, die dafür sorgen, dass diejenigen, die am wenigsten von der gesetzlichen Rentenversicherung profitieren, nämlich Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien, so gestellt werden, dass deutlich wird, dass hier
Solidarität herrscht, also Solidarität zwischen Menschen,
die Kinder haben, und solchen, die keine Kinder haben.
Das ist ein wesentliches Ziel dieser Reform; deswegen
werden wir sie auch machen.
({5})
Herr Claus, Sie haben in diesem Zusammenhang gesagt, es stünden sich Stärkere und Schwächere gegenüber.
Genau darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, soziale Spannungen aufzulösen, die ja gerade in der Rentenfrage in den letzten Jahren zu Tage traten. Deswegen finde
ich es richtig, wenn Familien mit Kindern besser gestellt
werden, als es bisher der Fall war. Dieses Ziel verfolgt
diese Regierung in verschiedenen Bereichen und wird
sich auch in der Rentenfrage, bei der zusätzlichen Vorsorge und innerhalb dieses Rentenkonzeptes danach richten. Ich erinnere an die Anrechnung von Kindererziehungszeiten und an die Zuschüsse, die gerade für
Familien mit Kindern gezahlt werden.
({6})
Man kann soziale Spannungen natürlich auch herbeibeten. Es gibt einige in diesem Lande, die das tun, manche offensichtlich auch gern. Wir wollen Sicherheit für
alle, wir wollen, dass alle wissen, worauf sie sich einlassen, und wir wollen Solidarität innerhalb der Gesellschaft
auch in Bezug auf die Altersvorsorge. Generationengerechtigkeit ist nämlich nicht für die derzeit lebenden Generationen von Bedeutung, sondern auch über die nächste
und übernächste Generation hinaus, für die Generation
unserer Kindeskinder und für die, die danach kommt. Das
ist der Sinn dieser Reform. Wir werden sie durchsetzen,
da können Sie ganz sicher sein.
({7})
Sie haben nach wie vor die Chance, sich mit sachlichen
Beiträgen daran zu beteiligen.
({8})
Wir glauben, dass diese Reform dringend notwendig
ist, und ich hoffe, dass wir zu einer sachlichen politischen
Auseinandersetzung zurückkehren.
({9})
Ich appelliere noch einmal an Sie, mit dafür zu sorgen,
dass wieder Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung hergestellt werden kann.
Vielen Dank.
({10})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Verunsicherung der
Rentner ist die Opposition in diesem Lande überhaupt
nicht nötig. Das machen Sie schon selber.
({0})
Angesichts der Ausführungen von Frau Mascher und
Frau Göring-Eckardt frage ich mich, ob sie die Agenturmeldungen, die heute den ganzen Tag über kamen, und die
Tagesordnung für diese Woche nicht gelesen haben, ob sie
heute Morgen nicht im Ausschuss gewesen sind und
({1})
nicht mitbekommen haben, was sie alles zu verantworten
haben, da sie ihre Versprechungen in diesem Zusammenhang nicht gehalten haben.
({2})
Ich rekapituliere: Bei der Konsensrunde im Juni hat
Herr Riester zugesagt, am 15. September - das ist nun
acht Wochen her - liege ein Gesetzentwurf auf dem Tisch.
({3})
Wir haben jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass das
Bundeskabinett nach viermaligem Verschieben in der
nächsten Woche darüber beschließen will. Ich bin gespannt, ob das tatsächlich der Fall sein wird.
Danach haben Herr Riester und die Koalition den
mehrstufigen ungeordneten Rückzug angetreten.
({4})
Es kam - das war ja auch so verabredet - ein Extra-Gesetzentwurf zur Erwerbsminderungsrente auf den Tisch.
Verabredet war aber zusätzlich, dass er zusammen mit
dem Gesetzentwurf zur großen Rentenreform auf den
Tisch kommen soll. Das ist nicht gehalten worden, weil
Sie sich nicht einigen konnten.
({5})
- Du kannst mich ruhig weiterhin duzen, Ulla. Ich wäre ja
froh, wenn wir das in der nächsten Woche zusammen behandeln könnten.
({6})
Aber die Geschichte ist nun weiß Gott sehr viel ernster,
als Sie sie hier gerade zu nehmen versuchen. Die Erwerbsminderungsrente wird ja nur deswegen in dieser
Woche nicht verabschiedet, weil die Grünen und die
grüne Gesundheitsministerin plötzlich gemerkt haben,
dass ihre Beamten gepennt haben
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na, na,
mäßigen Sie sich!
und sie vom Arbeitsministerium über den Tisch gezogen
wurden.
({7})
Es geht nämlich um Mehrausgaben in der Größenordnung
von 1 bis 1,5 Milliarden DM zulasten der gesetzlichen
Krankenversicherung.
({8})
Der zweite Rückzug, auch in dieser Woche: Die Förderung der privaten Vorsorge sollte im nächsten Jahr beginnen, und zwar - das hätte Sinn gemacht - zusammen
mit einer veränderten Nettolohnanpassung. Aber Sie sind
sich nun nicht einig,
({9})
ob Sie diese Veränderung vornehmen wollen oder nicht.
Die veränderte Nettolohnanpassung wird von den Grünen
kritisiert und von der SPD gewollt. Frau Kollegin Scheel
sagte in der „Wirtschaftswoche“, das alles mache gar keinen Sinn, wenn die Nettolohnanpassung nicht gemeinsam
mit der privaten Vorsorge in Gang gesetzt werde.
({10})
Das ist also die zweite Stufe des Rückzugschaos in der
Koalition.
Aber warum gibt es denn diese Stufe des Rückzugs?
Auch das ist eigentlich sehr einsichtig: Die Zulage zur privaten Vorsorge ist natürlich ein Bonbon und soll im Jahre
2002 ausgezahlt werden. Dazu muss man wissen, dass im
Herbst 2002 Bundestagswahl ist.
({11})
Die konsequenterweise damit einhergehenden Abstriche
bei der Anpassung der Renten werden erst im Jahr 2003
sichtbar, also erst später. Dies war ja wohl der „Geniestreich“ - so wurde es aus der SPD-Bundestagsfraktion
apostrophiert - von Herrn Eichel. Aber es ist des Rückzugs zweiter Teil.
Deswegen sollten Sie, meine Damen und Herren, in
dieser Debatte Antwort auf folgende Frage geben, die
auch nicht von mir kommt, sondern vom 1. Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion,
Wilhelm Schmidt.
({12})
Er sagte nämlich laut „dpa“-Meldung von heute,
12.19 Uhr, auf die Frage, ob Arbeitsminister Walter
Riester bei der Rentendebatte noch Herr des Verfahrens
sei, wörtlich: „Wir wollen in der Sache Dinge lösen.“
Dann heißt es, Personen seien dabei „zweitrangig“.
({13})
Ich zitierte weiter: Der Ressortchef sei im Amt und werde
öffentlich gehalten.
({14})
Wer ein bisschen von politischer Sprache in der Auseinandersetzung hier in Berlin versteht, der weiß, was das
bedeutet.
({15})
Deswegen möchte ich in dieser Debatte nicht Auskunft
darüber haben, welche Hirngespinste Sie für das Jahr X
haben und was Sie hier schon 25-mal an Absichts- und
Willenserklärungen abgegeben haben, sondern ich
möchte wissen, worauf Sie sich in dieser Chaoskoalition
einigen können und ob Sie Herrn Riester halten oder ihn
für überfordert halten.
({16})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Erika Lotz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen!
({0})
Frau Schwaetzer, ich muss mich schon sehr wundern: Ihr
Gedächtnis wird immer kürzer. Das merken wir bei jeder
Debatte.
({1})
- 16 Jahre Regierung, genau das!
({2})
Sie scheinen überhaupt nicht mehr zu wissen, was Sie
in den letzten Jahren alles angestellt haben.
({3})
Wir kassieren jetzt sozusagen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Kindergeldes, der
Kriegsopferrente Ost oder der Einmalzahlung. Wir müssen einmal darüber reden, was Sie 1997 beschlossen haben: Die Regelungen in Bezug auf die Erwerbsminderungsrente, die Sie jetzt beklagen, stimmen doch mit Ihrer
Beschlussfassung überein. Das scheinen Sie überhaupt
nicht mehr zu wissen.
({4})
Sie tun jetzt so, als ob diese Regelungen vom Himmel gefallen wären, aber sie waren Teil Ihres Gesetzes. Wir wollen jetzt Nachbesserungen erreichen.
({5})
Frau Schwaetzer sagt, sie wolle jetzt Auskünfte haben.
Die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde hat die Rentenanpassung zum Thema. Herr Kollege Claus sagt in diesem Zusammenhang, er wolle wissen, was Sache ist. Mit
dieser Aktuellen Stunde wird einmal mehr der Versuch gemacht, die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern.
Das ist einfach nicht in Ordnung.
({6})
Die Rentenanpassung - das weiß doch jeder; das wissen auch Sie von der PDS - wird zum 1. Juli erfolgen. Anfang März liegen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor. Im März wird der Bundestag dann das Gesetz
verabschieden.
({7})
Im April wird im Bundesrat darüber abgestimmt. Die
Menschen wissen, dass im nächsten Jahr eine Rentenanpassung erfolgt.
({8})
Die Rentnerinnen und Rentner wissen auch, dass sie weiterhin am Wachstum der Wirtschaft beteiligt werden. Auf
diesen Punkt hat die Kollegin Mascher schon hingewiesen.
Die Menschen wissen aber auch, dass die gestiegene
Lebenserwartung dazu führt, dass Rentner und Beitragszahler ihr Scherflein zur Bewältigung der Aufgabe beitragen müssen.
({9})
Ein Beitrag der Rentner war, dass die Rente ab Juli 2000
um 0,6 Prozent in Höhe der Preissteigerung angehoben
wurde.
({10})
Ich will noch einmal darin erinnern, wie die Rentenerhöhungen bei der Vorgängerregierung ausfielen: 1995
hatten wir eine Preissteigerungsrate von 1,9 Prozent und
eine Rentenanpassung von 0,61 Prozent;
({11})
1996 gab es eine Preissteigerungsrate von 1,3 Prozent und
eine Rentenanpassung von 0,46 Prozent; 1997 betrug die
Preissteigerung 2,3 Prozent und die Rentenanpassung
1,65 Prozent; 1998 gab es eine Preissteigerung von
1,4 Prozent und eine Rentenanpassung von 0,33 Prozent.
In diesem Jahr betragen die Preissteigerungsrate und die
Rentenanpassung 0,6 Prozent. Die Kaufkraft bleibt also
unverändert.
({12})
- Sie wissen ganz genau, dass die Preissteigerung des vorherigen Jahres die Anpassung bestimmt.
Die Diskussion um die Rentenanpassung wird meiner
Meinung nach sehr widersprüchlich geführt. Herr
Laumann hat dazu einen Beitrag geleistet. Wenn Sie die
Einsprüche ansprechen, die bei den Rentenversicherungsträgern eingegangen sind, dann hätten Sie der Ehrlichkeit
halber auch sagen müssen, dass diesen Einsprüchen nicht
stattgegeben worden ist. Sie tun ja so, als ob wir etwas Unrechtes getan hätten.
({13})
Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen: Es ist
nicht seriös, auf der einen Seite zu beklagen, dass die Jüngeren durch den Aufbau einer zusätzlichen privaten Altersversorgung zu stark belastet werden, aber auf der anderen Seite die Rentnerinnen und Rentner nicht an der
Stabilisierung der Rentenbeiträge zu beteiligen. Das ist
ein Widerspruch, der nicht hingenommen werden kann.
Die Menschen wissen, dass angesichts der demographischen Entwicklung die Kosten letztendlich von allen getragen werden müssen.
({14})
Wir müssen auch darauf hinweisen, dass wir im Rahmen der Rentenreform eine ganze Reihe von positiven
Regelungen auf den Weg bringen werden. Wir werden im
Rahmen der eigenständigen Altersversorgung der Frauen
die Kindererziehungszeiten in der Art der Rente nach
Mindesteinkommen berücksichtigen. Das wird auch bei
denjenigen Gültigkeit haben, die nicht mehr arbeiten können, weil sie zwei oder drei Kinder haben.
({15})
Auch für sie werden die Rentenbezüge höher ausfallen,
als es unter Ihrer Regierung der Fall gewesen wäre.
({16})
Wir werden bei der Förderung der privaten Altersversorgung den Eltern jährlich zusätzlich Zulagen in Höhe
von 360 DM pro Kind geben. Ich denke, Herr Laumann,
es lässt sich ganz einfach feststellen, dass der Weg, der
von uns eingeschlagen wird, der richtige ist.
({17})
Ihr Demographiefaktor war willkürlich
({18})
und wird von uns nicht verfolgt werden. Unser Weg ist der
richtige.
Ich will Ihnen noch eines sagen, Herr Laumann: Die
CDU hat ein Problem mit der Leitkultur, aber wir haben
kein Problem mit der Leitfigur.
({19})
Das Wort
hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Lotz, wenn Sie sagen, die
Aktuelle Stunde sei nur provoziert, um Rentnerinnen und
Rentner zu verunsichern - dass das eine Parlamentarierin
sagt, ist völlig unverständlich -, gestatten Sie mir, Ihnen
hier einmal deutlich zu machen, wo die Verunsicherung
tatsächlich liegt. Das können Sie in der Zeitung nachlesen. Dieser Aktuellen Stunde sind zwei Tage lang Presseberichte mit folgenden Überschriften vorausgegangen:
„Vorsorgeförderung wird verschoben“; „Keine Einigung
über Invalidenrente“; „Grüne gegen Rentenplan“; „Koalition streitet über Basta-Rente“; „SPD und Grüne streiten
um Reform der Invalidenrente“. Ich könnte die Zitate
wahllos fortführen. Das ist die Verunsicherung, die von
dieser Bundesregierung und diesem Arbeitsminister ausgeht! Deshalb debattieren wir heute hier!
({0})
Es tut mir fast Leid, dass wir das hier wochenweise diskutieren müssen, Herr Minister.
({1})
- Es ist wirklich so. Nehmen Sie einem das doch einmal
ab! Meinen Sie, es macht Freude, jede Woche im Obleutegespräch nachzufragen, wann eigentlich die Reformschritte kommen, jede Woche nachzulesen, was diskutiert
wird, und hier immer Aktuelle Stunden zu haben und doch
keine Antworten zu bekommen?
({2})
Ich bin einmal gespannt, ob das alles wirklich nächste
Woche passiert. Eigentlich sollte alles diese Woche passieren. Doch es ist verschoben worden, weil Sie nicht
klarkommen, weil Sie kein Konzept haben, weil Sie einfach nichts auf den Tisch legen. Das ist der Grund der Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland.
({3})
Es ist doch schon fast peinlich, wenn man gebetsmühlenartig wiederholen muss, was eigentlich in den
zwei Jahren passiert ist. Es war ein mutiger Schritt, im
Wahlkampf zu sagen: Wir machen nicht alles anders, aber
vieles besser. Heute wissen wir: Sie machen alles anders,
aber nichts besser! Das ist doch das Ergebnis nach zwei
Jahren, gerade in der Rentenpolitik.
({4})
Im Wahlkampf haben Sie den Eindruck verbreitet, Sie
könnten bei einer immer größer werdenden Zahl von
Rentnern und einer immer kleiner werdenden Zahl von
beitragszahlenden jungen Leuten eine höhere Rente und
niedrigere Beiträge erreichen. Nach dem Wahlsieg Funkstille, Blüms Reform ausgesetzt mit der Begründung: Wir
wollen darüber nachdenken. Das war das erste Erstaunliche. Dann haben Sie wirklich Woche für Woche, Monat
für Monat die Rentner verunsichert.
({5})
- Von Ihnen kam doch das Kanzlerversprechen: Wir bleiben bei der nettolohnbezogenen Rente. Ein paar Wochen
später galt das alles nicht mehr. Stattdessen haben Sie von
einem Inflationsausgleich gesprochen, sind also aus dem
bisherigen Rentensystem, aus der Sicherheit ausgestiegen. Kaum war das ausgesprochen, merkte man: Sie
meinten gar nicht Inflationsausgleich bezogen auf dieses
Jahr, sondern nur bezogen auf das zurückliegende Jahr.
Die Rentner erhalten in diesem Jahr nämlich nur einen
Ausgleich von 0,6 Prozentpunkten für 1,8 oder 1,9 Prozent Preissteigerung.
({6})
Das ist Ihre Rentenpolitik. Das war Verunsicherung der
Rentner und darüber müsste hier geredet werden.
Sie haben die zwei Jahre jetzt fast ausgenutzt; das ist
das Problem. Warum legen Sie nicht das Konzept auf den
Tisch? Herr Minister, Sie haben uns eine Diskussionsgrundlage auf den Tisch gelegt. Man war der Meinung,
das könnte möglicherweise der Gesetzentwurf sein. Diese
Woche erfahren wir, Sie sind weit davon entfernt; es besteht bis in die letzten Stunden hinein nach wie vor Beratungsbedarf.
In dieser Woche, in zwei Tagen, sollte das Gesetz zur
Erwerbsminderungsrente verabschiedet werden; das war
Ihr Plan. Am selben Tag sollte das große Rentenreformpaket eingebracht werden. Ich weiß noch, was wir in den
Obleutegesprächen hinsichtlich der Anhörungen untereinander ausgemacht haben. Da gab es aufseiten der SPD
und der Grünen das große Bedürfnis - ({7})
- Das Bedürfnis, das Sie hatten, kenne ich wohl. Sie hatten die übernächste Woche ins Auge gefasst. Glauben Sie,
dass wir da mitgemacht hätten, wenn Sie diese Woche gesagt hätten, nächste Woche kommt erst die Einführung
und vier Tage später die Anhörung? Das ist eine Zumutung für die beteiligten Kolleginnen und Kollegen, für die
Experten, die zur Anhörung eingeladen werden, sowie für
alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Denn niemand weiß, was Sie wirklich wollen; das ist das Problem.
({8})
„Wir machen das, basta“, sagte der Bundeskanzler am
letzten Sonntag auf einem Gewerkschaftskongress. Das
ist erst ein paar Tage her. Was er machen wollte, ist in den
letzten zwei Tagen schon wieder infrage gestellt worden.
Es wäre schön gewesen, Herr Arbeitsminister, wenn der
Nimm einmal einen
Tag frei, setze dich hin und bilanziere einmal, was wir im
Bereich Rente in den letzten zwei Jahren wirklich getan
haben und wo wir stehen.
({0})
Das wäre für den Minister selber ein großer Erkenntnistag und für uns alle ein Tag gewesen, an dem wir keine
weiteren Nachrichten über neue Vorschläge bekommen
hätten. Dieser eine Tag hätte uns allen sicherlich geholfen.
({1})
Herr Minister, Sie haben auf die Kritik des Kollegen
Seehofer geantwortet - das ist nun mein wirklich letztes
Zitat; ich kann mir aber nicht verkneifen, es am Ende zu
erwähnen -, die Union habe sich nun selbst zuzuschreiben, dass der Zug abfährt und sie nicht dabei ist. Glauben
Sie wirklich, Herr Arbeitsminister, dass - zumindest auf
der Seite der Union - ein einziger Kollege bzw. eine einzige Kollegin sitzt, der bzw. die zurzeit in dem Rentenzug
sitzen möchte, den Sie aufgrund ständiger Rückwärtsfahrten und der Tatsache, dass er immer wieder auf Nebengleise gebracht und den Berg ein Stück hinauf- und
dann wieder hinuntergefahren wird, nicht voranbringen?
Das ist ein Zickzackkurs und kein klarer Kurs.
Ich fordere Sie dringlich auf: Bringen Sie nächste Woche in Bezug auf die anstehende Rentenreform einen Gesetzentwurf ein, auf dessen Grundlage man diskutieren
kann! Dann wären wir nach zweijähriger Verunsicherung
der Rentner ein großes Stück weiter.
({2})
Das Wort
hat für das Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Thea
Dückert.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Meckelburg hat sich wieder einmal über einen angeblichen Informationsmangel beklagt. Ich möchte an dieser
Stelle darauf hinweisen, dass es Ihre Fraktion, die
CDU/CSU, war, die die Konsensgespräche aufgekündigt
hat,
({0})
die das, was wir wollten, nämlich mit Ihnen gemeinsam in
einem sehr ruhigen und nach einem Konsens suchenden
Verfahren eine umfassende Rentenreform auf den Weg zu
bringen, nicht wollte.
({1})
Deswegen, so finde ich, sollten Sie etwas zurückhaltender
klagen.
({2})
Nun zum Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Vielen Menschen in diesem Land, dem überwiegenden Teil
der Bevölkerung ist eines ganz klar: Wir brauchen eine
umfassende Rentenreform. Wir müssen die gesetzliche
Säule der Rente durch betriebliche und private Altersvorsorge stärken und wir müssen sehr viel tun, um beispielsweise die eigenständige Absicherung der Frauen zu verbessern.
({3})
Mir scheint, wenn ich mir den Titel dieser Aktuellen
Stunde ansehe, dass zum Beispiel die PDS den wahren
und umfassenden Reformbedarf noch nicht erkannt hat.
Denn anders kann ich mir nicht erklären, warum hier allein die Nettoanpassung, das heißt allein die Entwicklung
des Rentenniveaus, zum Thema gemacht wurde.
Das Problem ist viel komplexer. Es geht nicht nur um
das Rentenniveau, sondern auch um die Beiträge und, wie
gesagt, darum, wie wir die gesetzliche Rentenversicherung stärken und ergänzen können. Handlungsbedarf ergibt sich - auch das liegt auf der Hand; die Bevölkerung
weiß das sehr genau - aus der demographischen Entwicklung, der wir zurzeit ausgesetzt sind, zum Beispiel
aus der Tatsache, dass heute gemäß dem derzeit geltenden
Umlageverfahren 2,3 Beitragszahlerinnen bzw. Beitragszahler für eine Rentnerin bzw. einen Rentner zahlen, im
Jahre 2030 aber nur noch 1,3 Personen für eine Rentnerin
bzw. einen Rentner zahlen werden. Gleichzeitig verlängert sich die Rentenlaufzeit. Das ist zwar gut; denn dies
bedeutet, dass die Menschen älter werden. In den letzten
30 Jahren haben die Männer ungefähr vier Jahre und die
Frauen ungefähr 7,9 Jahre länger Rente erhalten.
({4})
Das ist die Grundlage dafür, dass wir sehr viel mehr brauchen als nur eine Diskussion über das Rentenniveau bzw.
die Rentenanpassung, die Sie hier führen wollen.
({5})
Was wir tun müssen, ist, diese Lasten, die aufgrund der
demographischen Entwicklung auf uns zukommen, fair
auf die Generationen zu verteilen.
({6})
Was wir brauchen, ist nicht nur eine neue Anpassung der
Renten, sondern ein neuer Generationenvertrag. Ich
denke, dass die Jungen, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, sehr wohl dazu bereit sind, eine große Last zu
übernehmen, dass aber auch die ältere Generation bereit
ist, über die Entwicklung ihres Rentenniveaus ihren Beitrag zu leisten, weil eben diese Gesellschaft in eine andere
demographische Entwicklung gekommen ist.
Deswegen finde ich es unverantwortlich, wenn in einer
Debatte über diese Thematik suggeriert wird, dass wir in
dieser Gesellschaft weiterhin bis in die ferne Zukunft mit
diesem Rentenniveau leben könnten, ohne dass das Rentensystem insgesamt gefährdet würde.
({7})
- Die reine Nettolohnanpassung ist das Thema dieser Aktuellen Stunde, Frau Schwaetzer.
({8})
Das wird von der PDS gefordert. Genau diese Forderung
bedeutet - das wurde hier auch vorgetragen - die Fortschreibung der Renten auf dem heutigen Niveau.
({9})
Das ist der Bevölkerung Sand in die Augen streuen.
Wir wissen nämlich genau, dass das gesetzliche Rentensystem, die umlagefinanzierte Rente, dieses Rentenniveau nicht mehr sichern kann, ohne dass die Beiträge
explodieren. Genau das wollen wir nicht. Das heißt, wir
brauchen eine Rentenreform, die beides in Einklang miteinander bringt: die Entwicklung des Rentenniveaus und
die Beitragsentwicklung. Deswegen ist es falsch, hier eine
solche einseitige Diskussion zu führen.
({10})
Sicher haben die Rentnerinnen und Rentner ein Recht
auf einen wirklich fairen Anteil an der Wohlstandsentwicklung. Deswegen brauchen wir selbstverständlich die
Grundsätze der Nettolohnanpassung bei der Rentenformel. Das ist völlig klar. Aber wir brauchen sie mit Modifikationen, um die Beitragsentwicklung tatsächlich im
Griff zu halten, um eine stabile Beitragsentwicklung zu
garantieren.
Genau darauf hat die junge Generation einen Anspruch. Sie hat den Anspruch auf stabile Beiträge und auf
eine Garantie, auf eine Chance auf eine Altersversorgung
auf einem Niveau, die ihren Lebensstandard sichern kann,
und zwar durch die Ergänzung durch die private Altersvorsorge. Diesen Anspruch und dieses Recht hat die junge
Generation genauso wie die alte.
Die gesetzliche Rentenversicherung allein kann dies
nicht leisten. Deswegen brauchen wir die private Ergänzung, die umfassende Reform und eine modifizierte Rentenanpassung.
Wir werden den Entwurf in der nächsten Woche haben.
Wir werden über die Details reden müssen. Es gibt eine
Reihe von guten Gründen beispielsweise für den Vorschlag, den Aufbau der privaten Vorsorge statt in acht
Schritten in vier zu machen. Es gibt auch Gründe, den
Zeitpunkt dafür um ein Jahr zu verschieben. Aber aus meiner persönlichen und politischen Überzeugung gibt es genauso gute Gründe, mit der Senkung des Rentenniveaus
in dieser Legislaturperiode zu beginnen, wie wir das vorgeschlagen haben.
Wir wollen die Beitragsstabilität und gleichzeitig den
Aufbau der privaten Vorsorge voranbringen. Wir werden
die Diskussion in dieser Woche noch engagiert führen.
Insgesamt aber muss klar sein, dass wir an der Strategie
der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge festhalten
wollen.
({11})
Das ist der politische Kurs dieser Bundesregierung nicht
nur in der Rentenreform, sondern beispielsweise auch in
den anderen Sozialversicherungszweigen. Diesen Kurs
werden wir bis 2002 weiterhin verfolgen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Frau Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner spricht für die PDS-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Dückert, ich hätte Ihnen ja zugetraut, dass Sie wenigstens
den Titel der von uns beantragten Aktuellen Stunde richtig lesen können,
({0})
und ganz besonders hätte ich Ihnen zugetraut, dass Sie ihn
auch verstehen.
({1})
Natürlich ist es so, dass die Menschen außerhalb dieses Hauses wissen, dass wir eine große Rentenreform
nötig haben, aber sie trauen es Ihnen bei dem Hickhack
und dem Hin und Her, das Sie hier Woche für Woche vorführen, eben einfach nicht mehr zu.
({2})
Ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Das Rentenniveau
ist in der Tat für uns eine zentrale Frage, weil es erstens
darüber entscheidet, wen Sie entlasten und wen Sie belasten. Sie entlasten die Arbeitgeber und belasten einseitig
die abhängig Beschäftigten. Das Rentenniveau entscheidet zweitens darüber, ob Sie Generationengerechtigkeit
schaffen und ob Sie Altersarmut verhindern. Ich sage Ihnen: Beides tun Sie mit dieser Rentenreform, die Sie vorhaben, nicht. Wir aber wollen das.
({3})
Ein Wort zu Frau Mascher, die nun leider schon gehen
musste: Das Märchen von der zusätzlichen privaten Vorsorge wird durch Wiederholung auch nicht spannender.
({4})
Es geht hier nicht um eine private Vorsorge, die zusätzlich
geleistet wird, sondern die Menschen müssen sie leisten,
um die Kürzung der Rente auszugleichen.
({5})
Das ist nicht Zusatz, sondern Ersatz. Deshalb wollen Sie
das auch steuerlich fördern und sozial abfedern; dafür haben Sie ja einen Grund gehabt.
Was war nun heute unsere Frage? - Ich will es Ihnen
noch einmal erklären, Frau Dückert. Sie haben gesagt, Sie
wollen die steuerliche Förderung der privaten Vorsorge
auf das Jahr 2002 verschieben. Dafür geben Sie eine
Reihe haushälterischer Gründe an, und man kommt leider
wieder in die Situation anzunehmen, dass hier Rentenreform nach Kassenlage stattfindet. Das will ich auch in
aller Deutlichkeit sagen.
({6})
Sie sagen gleichzeitig, dass Sie, falls Sie das tun, die
Anwendung der neuen Rentenformel natürlich verschieben müssen. Ja, was heißt das denn? Da stellen doch nicht
nur wir uns Fragen, sondern auch die Öffentlichkeit stellt
sich Fragen. Was bedeutet das denn eigentlich?
({7})
Was machen Sie denn dann mit Ihrem Versprechen, wieder zur Nettolohnanbindung - meinetwegen nach den
Grundsätzen, die Sie neu formulieren - zurückzukehren?
Was wollen Sie denn tun? Wie wollen Sie das denn jetzt
bewerkstelligen? Wollen Sie das tun, was Ihr Koalitionspartner vorschlägt, nämlich die Leute belasten, ohne
gleichzeitig den sozialen Ausgleich zu schaffen?
({8})
Wollen Sie im nächsten Jahr wieder zum Inflationsausgleich zurückkehren, oder was machen Sie im Jahr 2001?
Wollen Sie zu der ursprünglichen Nettolohnformel
zurückkehren? - Die Rentnerinnen und Rentner wären
Ihnen natürlich dankbar, denn dann würde ihre Rente
höher ausfallen, als sie es jetzt erwarten.
Was heißt das Ganze eigentlich, wenn Sie zu der ursprünglichen Nettolohnanbindung zurückkehren, für die
Rentenkasse? Kann es auch sein, dass dann die Beiträge
zur Rentenversicherung doch nicht gesenkt werden, wie
Sie angekündigt haben? - Das sind doch Fragen, die die
Leute bewegen. Es tut mir Leid, ich habe auf diese Fragen
hier überhaupt noch keine Antworten gehört.
Ob Sie es wollen oder nicht: Die Verunsicherung entsteht daraus, dass bei dieser Rentenreform ein Finanzschacher im Vordergrund steht. Das schafft eben nicht das
Vertrauen darauf, dass die Probleme der Renten wirklich
im Interesse der Älteren und vor allen Dingen auch der
jungen Generation gelöst werden.
Ich sage Ihnen, was aus dem derzeit bestehenden Desaster deutlich wird. Ich habe den Eindruck, dass das Regierungsprojekt, die Rente wirklich zukunftsfähig zu reformieren, im Moment zu scheitern droht. Sie bekommen
den Kompromiss mit der rechten Opposition nicht hin;
mit der linken haben Sie es gar nicht versucht. Es gelingt
Ihnen nicht, die Widersprüche in der eigene Fraktion zu
klären, und Sie können die Kritik, den Protest und den Widerstand in den Gewerkschaften, in den Sozialverbänden
und in den Kirchen nicht einfangen - im Gegenteil, die
Enttäuschung und der Frust sind dort vorherrschend, und
ich finde, zu Recht.
({9})
- Nein, Sie sind im Moment diejenigen, die den Unmut
und die Unzufriedenheit massiv schüren und auch die
tiefe Verunsicherung herbeiführen. Das Beispiel Invalidenrente, das Sie uns jetzt vorführen, ist Ausdruck dafür,
wie wenig solide Sie bestimmte Dinge auch zwischen
Ihren Ressorts abstimmen.
({10})
Wie kann es passieren, dass eine Gesundheitsministerin
erst zwei Tage vor der endgültigen Verabschiedung entdeckt, dass damit ihr Haushalt belastet wird?
({11})
Das wäre übrigens auch schon nach der Regelung von
1997 so gewesen.
Ich finde, Sie müssen aufhören, Ihr Konzept in dieser
Form und unter Zeitdruck durchzuziehen. Denken Sie an
das, was Ihnen die Gewerkschaften empfehlen. Haben Sie
den Mut zum Umsteuern. Wir brauchen wirklich eine
Rentenreform, die solidarisch und armutsfest ist, die Jung
und Alt gerecht wird und die für die Zukunft tragfähig ist.
Wenn Sie sich dahin umlenken lassen, können Sie auch
auf die PDS zählen.
({12})
Nunmehr
gebe ich der Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund
meiner vielen Diskussionsrunden mit Bürgern in Brandenburg weiß ich sehr genau, dass die Menschen von der
Notwendigkeit einer umfassenden Rentenreform überzeugt sind und dass sie aufgrund ihrer Kenntnisse über die
demographische Entwicklung in den nächsten 30 Jahren
einen sehr ehrlichen und mutigen Schritt erwarten, der ihnen wieder eine langfristige, planbare Altersvorsorge ermöglicht und dauerhaft Verlässlichkeit bringt.
({0})
Sie wissen inzwischen auch, dass es mit kleinen Korrekturen nicht getan ist.
Unsere Rentenreform hat viele positive Kernelemente,
die Antworten auf die brennenden Fragen der Bürger geben. Die erste wichtige Aussage für mich ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung das wichtigste Instrument
und die Hauptsäule in der Alterssicherung bleibt.
({1})
Ich sage das so deutlich, weil ich manchmal den Eindruck
habe, dass einige daran zweifeln. Dieses Vorhaben entspricht auch dem Willen der Mehrheit der Bürger. Sie wissen auch, dass die gesetzliche Rentenversicherung für die
Herausforderungen der Zukunft leistungsfähiger gestaltet
werden muss, und zwar für beide Seiten, für die Beitragserbringer und die Leistungsempfänger. Beide müssen
ihren Teil dazu leisten.
({2})
Deshalb haben wir auch Maßnahmen zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen.
Dazu gehören die langfristige Stabilisierung der Beitragssätze,
({3})
die Festlegung der Entwicklung des Rentenniveaus für
die nächsten Jahre und auch die Einführung des Ausgleichsfaktors.
({4})
Mit all diesen Maßnahmen muss es uns gelingen, das
Generationengleichgewicht zwischen den heutigen Rentnern, denjenigen, die bald in Rente gehen, und den Jungen zu erhalten. Dabei müssen wir sehr ehrlich sein - mit
Geschwätz kommen wir hier nicht weiter - und sagen,
dass wir von allen einen Beitrag zur Stabilisierung dieses
gesetzlichen Rentensystems brauchen, damit es bezahlbar
bleibt.
({5})
Die zweite wichtige Aussage unseres Konzepts ist,
({6})
dass wir zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung
die kapitalgedeckte private Altersvorsorge einführen. Ich
sage „zusätzlich“ gerade auch für Frau Knake-Werner, die
es immer noch nicht verstanden hat. Wir lassen dabei keinen allein. Mit großer Unterstützung vonseiten des Staates kann sich jeder ein Vermögen aufbauen, das ihm im
Alter gemeinsam mit der gesetzlichen Rentenversicherung einen angemessenen Lebensstandard sichern wird.
Das ist ein notwendiger Schritt. Die Gespräche mit dem
Bürger zeigen, dass sie diesen Schritt mehrheitlich mittragen.
({7})
Damit verbindet sich für mich auch die Chance, die
Säule der betrieblichen Alterssicherung auszubauen. Das
wäre gerade für die Bürger in den neuen Bundesländern
eine ungeheure Chance, die wir ergreifen sollten.
({8})
Mit dieser Rentenreform werden wir auch zu den
Grundsätzen der Nettolohnanpassung zurückkehren. Dies
begrüße ich als ostdeutsche Abgeordnete außerordentlich.
Ich will Ihnen das auch begründen. Der Solidaritätsbeitrag, den wir unseren Seniorinnen und Senioren in diesem
Jahr abverlangt haben, war für mich kein leichter Schritt,
aber er war angesichts der finanziellen Lage der Rentenversicherung unabwendbar, wissen wir doch alle, dass in
diesem Jahr aufgrund der gleichen Anpassung in Ost und
West in Höhe der Inflationsrate der Angleichungsprozess
zwischen Ost und West stillstand.
({9})
Ab 1. Januar 2001 werden sich die Renten nun wieder
im Gleichklang mit den Arbeitnehmereinkommen entwickeln. Dabei werden wir die Anpassungsformel vereinfachen.
({10})
Das heißt, wir werden diese Formel besser auf das Alterssicherungssystem ausrichten. Auch das ist eine notwendige Veränderung, die die Beitragsstabilität langfristig sichern hilft.
Wir werden, so wie bisher, die Lohn- und Gehaltsentwicklung für die neuen und die alten Bundesländer jeweils getrennt ermitteln. Ich erinnere: Am 1. Juli 1999 betrug die Anpassung in den alten Bundesländern 1,34 Prozent und in den neuen Ländern 2,79 Prozent. Das heißt im
Klartext: Der Prozess der Rentenangleichung zwischen
Ost und West, gebunden an die zukünftige Veränderung
der Bruttolöhne und -gehälter, wird kontinuierlich fortgesetzt. Das ist eine wichtige Botschaft für die Bürger in den
neuen Bundesländern.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich weiß ich,
dass das Verhältnis der Standardrente Ost zur Standardrente West derzeit noch 86,7 Prozent beträgt. Es entspricht
dem Verhältnis bei den Erwerbseinkommen. Interessanterweise sehen aber die aktuellen Rentenniveaus wie folgt
aus: Das Rentenniveau West liegt bei 70,1 Prozent und
das Rentenniveau Ost bei 71,2 Prozent. Der Grund dafür
sind die erheblich längeren Arbeits- und Beitragszeiten
der Männer, vor allen Dingen aber auch der Frauen im
Osten
({12})
und die Tatsache, dass im Osten meist beide Ehepartner
Altersrente beziehen. Im Westen ist das bei 40 Prozent
und im Osten bei 77 Prozent der Fall.
({13})
Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle daran erinnern, dass dank einer gewaltigen gemeinsamen Anstrengung die Renteneinheit in Ost und West hergestellt wurde
({14})
und dass diese solidarische Leistung in einem relativ kurzen Zeitraum erreicht wurde und nur auf der Grundlage
eines umlagefinanzierten Rentensystems möglich war.
Dieses wollen wir auch für die zukünftigen Jahre stärken.
Seit der deutschen Vereinigung sind die Renten in
Westdeutschland um 20 Prozent und die in Ostdeutschland um 159 Prozent gestiegen. Das hat wirtschaftliche
Sicherheit gebracht
({15})
und die Lebensbedingungen der Rentner deutlich verbessert.
Bei unseren
Sozialpolitikern auf die Einhaltung der Redezeiten zu
drängen ist fast aussichtslos. Das gilt für alle Seiten. Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit lange überschritten. Kommen Sie bitte gleich zum Schluss.
Gut. - Unsere
Rentenreform bringt also für die Menschen in Ost und
West keine Unterschiede und keine einseitigen Nachteile.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass das
Thema Rente es wert sein sollte, dass wir alle Emotionen
hintanstellen und dass wir in den zukünftigen Debatten
vielleicht etwas mehr Sachverstand und solide Argumente
einbringen,
({0})
um gemeinsam vernünftige Entscheidungen treffen zu
können.
Es gab und gibt auch immer noch viele Möglichkeiten
der Opposition, unsere Rentenreform mitzugestalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verpassen Sie nicht Ihre
Chancen!
({1})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Renate Diemers.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2000 ist ein olympisches Jahr und der Beitrag der rot-grünen Bundesregierung dazu läuft unter dem Motto: Wir wollen unbedingt
auf den letzten Platz.
Die Verrenkungen, die Sie, Herr Minister, bei der Rentenreform vorführen, um einer Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen, sind nicht nachvollziehbar. Ich spreche
vom demographischen Wandel. In den nächsten Jahren
wird der Anteil der über 60-Jährigen auf ein Drittel unserer Bevölkerung steigen. Daraus sind Konsequenzen zu
ziehen. Das bedeutet, dass sich aufgrund der veränderten
Bevölkerungsstruktur die Grundlagen und auch die finanziellen Belastungen verändern. Das ist ein Fakt und zugleich eine Notwendigkeit und kann nicht ignoriert werden.
Auf die Rente bezogen heißt das, dass sich der demographische Wandel in einem demographischen Faktor bei
der Rentenberechnung niederschlagen muss. Je eher Sie
zu dieser Erkenntnis kommen und diese in Ihrer Arbeit
umsetzen, desto ehrlicher sind Sie gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern.
({0})
Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie schon seit Jahren verzweifelt nach einem Ersatz für den demographischen Faktor suchen. Aber Sie haben ihn bis zum heutigen Tage
nicht gefunden. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden auch
keinen finden. Das, was Sie den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Jahr zugemutet haben, nämlich unter anderem die Abkopplung von der Nettolohnentwicklung,
trifft insbesondere Frauen, die nur oder vorwiegend von
der abgeleiteten Rente ihrer Männer leben müssen. Wir,
die CDU/CSU-Fraktion, schweigen nicht dazu. Wir weisen die Menschen auf Ihre Verschaukelungen hin und
klären sie über die Konsequenzen auf.
({1})
Es ist doch auch Ihnen bewusst, dass wir eine Rentenreform brauchen, die bei steigender Lebenserwartung allen, Männern und Frauen - ich denke insbesondere an die
Frauen, die aufgrund von Kindererziehung nicht außerhäuslich erwerbstätig waren -, einen finanziell gesicherten Ruhestand garantiert und dabei vor allem die jüngere
Generation nicht durch zu hohe Beiträge belastet.
({2})
Wir hatten eine wirkungsvolle und faire Reform auf
den Weg gebracht, mit einem stabilen Beitragssatz und einer sehr langsamen, über Jahre verteilten Niveauabsenkung.
({3})
Sie haben diese notwendigen Schritte im letzten Bundestagswahlkampf als unsozial bezeichnet. Ich erinnere mich
noch an viele unappetitliche Podiumsdiskussionen zu diesem Thema.
({4})
Sie haben die letzte Bundestagswahl deswegen gewonnen, weil Sie den Menschen zum Beispiel bei der Alterssicherung Dinge versprochen haben, die nicht gehalten werden können. Ich zitiere den Bundeskanzler vom
Februar 1998, auch wenn Sie an das Zitat nicht gerne erinnert werden. Er sagte:
Ich stehe dafür, dass die Renten steigen wie die Nettoeinkommen.
Sie haben vorgegaukelt, ein demographischer Faktor in
der Rente sei nicht notwendig. Die Menschen in unserem
Land haben danach von Ihnen erwartet, dass Sie eine Alternative anbieten. Und was tun Sie? Sie kündigen nur
eine ungerechte, schnelle Niveauabsenkung an, die quasi
von heute auf morgen die Rentnerinnen und Rentner trifft,
und setzen andere, extrem falsche Schritte um, wie die
Abkopplung von der Nettolohnentwicklung.
({5})
Was die anderen Punkte in der Diskussion angeht, so
wird von Ihnen immer nur alles vertagt, verschoben und
ausgesetzt. Die Aussetzung der Aussetzung wird von Ihnen sogar noch als Erfolg verkauft.
({6})
Wir haben Sie von Anfang an unter anderem immer
wieder aufgefordert, zur Nettolohnentwicklung zurückzukehren. Allerdings fällt nicht nur uns auf, dass nun die
Rückkehr zur Nettolohnentwicklung gerade in dem Moment kommt, in dem davon ausgegangen wird, dass die
Inflationsrate höher als die Nettoanpassung sein wird.
({7})
Darüber hinaus ist es kaltschnäuzig und der niederschmetternde Beweis für Ihre verfehlte Politik, dass Sie
die Verschiebung der Förderung der privaten Altersversorgung als Erfolg für die jetzige Rentengeneration bezeichnen.
({8})
Sie verschweigen, dass Sie durch Ihre Verschleppungstaktik das Rentensystem und den Generationenvertrag
aufs Spiel setzen und somit eine der Säulen unseres Sozialsystems hochgradig gefährden. Die Pläne zur privaten
Vorsorge sind zwar bis jetzt unzureichend; aber die angekündigte Verschiebung ist schlichtweg ein Offenbarungseid.
({9})
Richten Sie nicht noch mehr Schaden an und gestehen
Sie wenigstens ein, dass Sie zu unserer Rentenreform
keine Alternative haben! Dass das so ist, wird durch den
von Ihnen gelieferten Anlass zu dieser heutigen Aktuellen
Stunde überdeutlich bewiesen.
Danke schön.
({10})
Nun spricht
der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Riester.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Da hier der Zwischenruf kommt: „Jetzt klärt es sich auf!“,
ist es wichtig, bei der Debatte einmal darauf hinzuweisen,
welches Thema diese Aktuelle Stunde eigentlich hat,
nämlich „Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zu
den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im Jahr 2001“.
Ich nehme das ernst.
Im Gesetzentwurf, der in der nächsten Woche eingebracht wird, wird stehen, dass zum 1. Juli 2001 eine lohnbezogene Anpassung der Renten erfolgen wird.
({0})
Wir werden den Unterschied in der Lohnentwicklung von
2000 zu 1999 berücksichtigen.
({1})
Ich kann Ihnen jetzt noch nicht auf das Zehntel genau sagen, wie die Pro-Kopf-Entwicklung sein wird; das wird
sich bis zum Februar herausstellen. Aber eines kann ich
Ihnen mit Sicherheit schon sagen: Die Anhebung wird
etwa um ein halbes Prozent höher sein, als nach der Nettoformel der alten Regierung vorgesehen.
({2})
Ich kann Ihnen für die Zeit, in der ich in der Regierung
für die Rentenanpassungen Verantwortung trage, noch
mehr sagen und werde es mit Zahlen belegen: Für das Jahr
1999 haben wir eine Rentenanpassung von 1,34 Prozent
vorgenommen;
({3})
nach der alten Formel wären es 0,84 Prozent gewesen. In
diesem Jahr waren es 0,6 Prozent; nach der alten Formel
wären es 0,82 Prozent gewesen.
({4})
Im nächsten Jahr werden es etwa 2 bis 2,1 Prozent sein;
nach der alten Formel wären es 1,59 Prozent gewesen.
({5})
Das heißt, im Zeitraum von drei Jahren werden wir insgesamt höhere Anpassungen haben als nach der alten
Formel. Das ist der erste Teil der Wahrheit.
({6})
Nun komme ich zum zweiten Teil der Wahrheit: Es gibt
nicht nur die Frage der Rentenanpassung, sondern es gilt
auch aufzuzeigen, welchen Beitrag die Beschäftigten für
die Rentenanpassung zu zahlen haben.
({7})
Der Rentenversicherungsbeitrag wird im nächsten Jahr
19,1 Prozent betragen; hätten wir nichts verändert, läge er
bei 20,4 Prozent. Das ist ein um 1,3 Prozent niedrigerer
Rentenversicherungsbeitrag.
({8})
Um Ihnen das Ganze einmal plastisch zu verdeutlichen - denn die Leute leben nicht von Prozentwerten -,
möchte ich sagen: Die Beschäftigten und die Betriebe
müssen 20 Milliarden DM weniger für eine Rentenanhebung zahlen, die bei uns höher ausfällt.
({9})
Nun hat der Kollege Laumann, der sich schon zu einem
ganz anderen Thema zu Wort gemeldet hat, angekündigt,
er möchte wissen, wo es Verschiebungen gibt. Kollege
Laumann, ich freue mich bereits auf die Debatte zur EURente in der nächsten Woche. Dann werde ich Ihnen einmal die Streitschriften zwischen Seehofer und Blüm
vorlegen und Ihnen aufzeigen, von welch einem Verschiebebahnhof die Rede war.
({10})
- Auf wessen Kosten haben Sie sich geeinigt? Kollegin
Fischer und die Krankenkassen merken jetzt, dass Sie sich
auf Kosten der Krankenkassen geeinigt haben.
({11})
Nicht Kollegin Fischer hat gepennt und nicht ich habe
verschoben, sondern die Krankenkassen haben die absehbaren Kosten, die Sie durch Ihre Entscheidung verursacht
haben, offensichtlich nicht in ihre Haushaltspläne eingestellt; sonst kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jetzt mit
der Anmeldung dieser Kosten kommen.
({12})
Sie brauchen gar nicht zu versuchen, einen Keil zwischen
die Kollegin Fischer und mich zu treiben.
({13})
- Da liegen Sie völlig falsch. Ich werde Ihnen anhand des
Briefwechsels von Blüm und Seehofer aufzeigen, wie
Ihre zwei Kollegen dieses Problem gelöst haben, und
zwar zulasten der Krankenversicherungen.
({14})
Nun hatten Sie ja noch ein anderes Anliegen, mein
Herr. Sie haben gesagt: Die Regierung bittet uns immer,
der Rentenreform zuzustimmen. Ja, wir werden den Entwurf einbringen und bitten um Ihre Zustimmung. Aber
zunächst einmal möchte ich Sie darum bitten, dass Sie
endlich mal einen produktiven Vorschlag zur Lösung des
Problems machen. Darauf warte ich immer noch. Das haben wir uns eigentlich unter konstruktiver Mitarbeit an
der Rentenreform vorgestellt.
({15})
Das war ganz offensichtlich eine Fehlannahme.
Ich lade Sie weiterhin ein, konstruktiv mitzuarbeiten.
({16})
Aber ich habe im Moment das Gefühl, Sie merken, der
Zug fährt ab, die Entscheidung rollt. Wir werden sie
durchsetzen. Wir möchten sie durchaus mit Ihnen durchsetzen; aber wenn Sie nicht bereit sind mitzumachen,
dann müssen wir leider auf Sie verzichten.
Herzlichen Dank.
({17})
Jetzt spricht
der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Zunächst einmal, Herr Minister, wollen wir bei der
Wahrheit bleiben
({0})
und zugeben, dass wir jetzt eine Rentenreform brauchen,
weil Ihre Koalition unsere Rentenreform - eine tragfähige
und gute Reform - zurückgenommen hat. Das ist die
Wahrheit.
({1})
Herr Minister, es ist gut, dass Sie einsehen, dass es ein
großer Fehler war, von der bisherigen Anpassungsformel
wegzugehen und sich auf dieses Spiel des Inflationsausgleichs einzulassen. Es ist nett, dass Sie jetzt wieder auf
den rechten Weg zurückkehren. Es ist aber nicht redlich,
wenn Sie auf verschiedenen Bemessungsgrundlagen und
Ausgangspunkten basierende Prozentzahlen vergleichen.
Das ist nicht in Ordnung.
({2})
Die Verunsicherung der Menschen, liebe Frau Kollegin
Lotz, kommt nicht daher, dass wir im Bundestag über die
Rentenreform debattieren, sondern sie kommt daher, dass
Rot-Grün jede Woche oder jeden Monat neue Vorschläge
auf den Tisch legt. Ich finde es ein bisschen witzig, dass
Frau Krüger-Leißner eine gerechte Rente fordert und anschließend Herrn Riester applaudiert, obwohl doch für jeden sichtbar ist, dass die von Ihnen vorgelegte Rentenreform mit Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun hat.
({3})
Herr Minister, wer sein Leben lang arbeitet, leistet einen Beitrag für die Gesellschaft und hat einen Anspruch
darauf, am Wohlstand angemessen beteiligt zu werden.
({4})
Deswegen ist die Diskussion über die Höhe des Rentenniveaus keine unsinnige Diskussion, sondern eine Diskussion, die die Menschen bewegt, und darüber darf man
nicht mit einem „basta“ hinweggehen. Man muss vielmehr versuchen, mit Argumenten auf die Menschen einzugehen
({5})
und ihnen die Ängste zu nehmen.
Ich habe bisher noch keine Entschuldigung, insbesondere nicht von der SPD, für die Rentenlüge von 1998
gehört.
({6})
Sie haben den Menschen vor der Wahl die Unwahrheit gesagt: Sie haben ihnen steigende Renten bei gleich bleibenden Beiträgen versprochen und Herr Schröder selbst
hat die Kopplung der Renten an die Nettoeinkommen
versprochen.
({7})
Kurz nach der Wahl haben Sie mit seinem Einverständnis
dieses Versprechen gebrochen. Das vergessen die Menschen nicht.
Das Außerkrafttreten der Anpassungsmechanismen
und die offene Willkür von Rot-Grün bei der Rentenerhöhung haben verheerende Auswirkungen und diese
Auswirkungen beruhen nicht nur auf Mark- oder Pfennigbeträgen, sondern sind ein tiefer Vertrauensverlust,
den die Menschen erlitten haben.
({8})
Bei der Rente, Herr Minister, brauchen Sie das Vertrauen
der Menschen über Jahrzehnte, weil die heute Jungen wissen müssen, was in zehn, 20 oder 30 Jahren aus ihren
Beiträgen wird.
({9})
Die Unwahrhaftigkeit, mit der Sie diese Rentenreform
angehen, findet ihre Fortsetzung in dem, was Sie zum
Thema Bundeszuschuss gesagt haben. Sie wollen nun
plötzlich die Finanzierung der Renten von der Höhe der
Mineralölsteuer abhängig machen. In Wahrheit ist dies ein
ganz schäbiges Abkassieren, das insbesondere die heutigen Rentner schwer trifft.
({10})
Die heutigen Rentner sollen jetzt einen Teil ihrer Renten,
die sie sich hart erarbeitet haben, über die Mineralölsteuer
ein zweites Mal finanzieren.
Ich sage Ihnen noch eines: Diese Finanzierungstricks
und diese Verschiebebahnhöfe werden Sie auf Dauer nicht
durchhalten. Die Realitäten werden Sie wieder einholen;
denn allmählich begreifen die Menschen, dass Rot-Grün
das Vertrauen der Bürger kaltschnäuzig missbraucht. Herr
Minister, Sie haben die Höhe der Rente zum Lotteriespiel
gemacht. Eine objektiv vorhersehbare und nachrechenbare Rentenhöhe ist ein Stück Verlässlichkeit, das die
Menschen brauchen, Sie aber bieten anstelle dieser Verlässlichkeit eine Rente nach Kassenlage.
({11})
Aber nicht nur die heutigen Rentner fühlen sich von
Rot-Grün hinters Licht geführt und zum Spielball Ihrer
Willkür gemacht; auch die zukünftigen Rentner, die heute
noch im aktiven Arbeitsleben stehen, erkennen, dass sie
sich auf Rot-Grün nicht verlassen können. Ihnen droht
eine radikale Kürzung des Rentenniveaus, und zwar unabhängig davon, ob sie tatsächlich privat vorsorgen oder
nicht.
An die Stelle von Vertrauen und Verlässlichkeit tritt politische Willkür. An die Stelle von Argumenten und Überzeugungskraft treten - das wurde bei der Rede von Herrn
Schröder auf der Tagung der ÖTV deutlich - Arroganz
und Kaltschnäuzigkeit.
({12})
Der Gipfel ist das, was Sie sich in dieser Woche geleistet haben, nämlich eine offenkundige Manipulation
der Rentenreform im Hinblick auf einen bestimmten
Wahltermin. Durch die vorgestern beschlossene Änderung des so genannten Riester-Konzepts wird das Durcheinander ein weiteres Mal vergrößert. Wer die Durchführung einer Rentenreform so manipuliert, Herr
Minister, dass die positiven Effekte dieser Reform vor der
Wahl und die negativen Effekte erst nach der Wahl auftreten, täuscht und belügt die Menschen.
({13})
Ich fordere Sie deswegen auf: Beenden Sie das Rentenchaos! Geben Sie den Menschen das, was sie durch ihre
lebenslange Arbeitsleistung tatsächlich verdient haben!
Vielen Dank.
({14})
Als letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun der Kollege
Peter Dreßen für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich habe es nicht schwer. Ich möchte Ihnen,
Herr Friedrich, nur eines sagen, weil Sie gerade von Gerechtigkeit gesprochen haben: Ihre Gerechtigkeit sah so
aus, dass den Menschen in den ihnen zugeschickten Rentenauszügen zum Beispiel 623 DM als Rente zugesichert
wurden, dass sie aber, wenn sie zwei Jahre später in Rente
gegangen sind, nur 400 DM bekommen haben. So sah
Ihre Gerechtigkeit aus! Auf diese Gerechtigkeit pfeifen
wir gern.
({0})
Kollege Laumann, man kann zwar über die Rentenreform unterschiedlicher Meinung sein. Aber man sollte bei
der Wahrheit bleiben.
({1})
Verunsicherung und Halbwahrheiten helfen Ihnen von der
Opposition zwar kurzfristig. Aber sie helfen nicht den
Beitragszahlern und den Rentnerinnen und Rentnern.
({2})
- Kollege Laumann, es ist bekannt, dass ich auf die eine
oder andere Verbesserung insbesondere bei der Ausgestaltung der Betriebsrenten im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens setze.
Ich möchte auf zwei Gesetze, die im Vorfeld der Rentenreform verabschiedet wurden, hinweisen, bei deren
Umsetzung Sie die rot-grüne Koalition hätten voll unterstützen sollen, erst recht Sie als Sozialpolitiker. Die jetzige Koalition hat im Gegensatz zur alten Regierung - das
war Ihr Manko; Sie haben uns doch ein Chaos auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen - erst die Voraussetzungen für
eine Rentenreform geschaffen, und zwar durch das 630Mark-Gesetz und das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit. Das haben Sie alles bis heute bekämpft.
({3})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({4})
Durch diese Gesetze sind Milliarden DM zusätzlich in die
Kassen der Sozialversicherungen geflossen. Herr
Laumann, wir haben Ihr Chaos beseitigt.
({5})
- Jetzt rede ich! Sie können später reden, wenn Sie Lust
haben.
Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir haben dafür gesorgt - das haben wir den Menschen im Wahlkampf auch
versprochen -, dass die versicherungsfremden Leistungen
jetzt endlich aus Steuermitteln bezahlt werden.
({6})
Sie haben den Leuten ungerechterweise in die Tasche gegriffen. Sie haben die Beitragszahler und die Rentner für
Leistungen bluten lassen, die sie eigentlich nichts angingen.
({7})
Wir haben das geändert. Trotzdem bekämpfen Sie unsere
Politik mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln. Das ist zwar Ihr gutes Recht. Aber ich
halte Ihnen entgegen: Wir haben durch die eben erwähnten beiden Gesetze erst die Voraussetzungen für die jetzige Rentenreform geschaffen.
({8})
- Durch unsere Gesetze haben wir für Gerechtigkeit gesorgt, Kollege Laumann. Das muss man ehrlicherweise
sagen, bei aller Kritik, die Sie an der jetzigen Rentenreform üben.
({9})
Durch diese beiden Gesetze haben wir dafür gesorgt, dass
das Rentenniveau für diejenigen, die bis 2010 - hören Sie
gut zu! - in Rente gehen, auf dem heutigen Stand gehalten werden kann.
({10})
Der Demographiefaktor, den Sie einführen wollten, hätte
dazu geführt, dass die in Rente gehenden Menschen schon
ab 1999 Abschläge hätten in Kauf nehmen müssen. Wir
garantieren den Menschen, die bis 2010 in Rente gehen,
dagegen das heutige Rentenniveau.
({11})
Kollege Laumann, der zweite große Unterschied zu Ihrer Rentenreform ist: Sie wollten das Rentenniveau auf
64 Prozent - bei Bedarf wahrscheinlich noch weiter - senken; denn Sie wussten genauso gut wie wir, dass der Demographiefaktor, den Sie zu 50 Prozent angesetzt haben,
nie und nimmer ausgereicht hätte. Also hätten Sie an den
Stellschrauben weiterdrehen müssen.
({12})
Ich rufe es Ihnen, Kollege Laumann, noch einmal ins
Gedächtnis: Sie wollten das Rentenniveau bei 64 Prozent
belassen. Unsere rot-grüne Koalition macht sich Gedanken über das Ziel - darin sind wir uns alle einig -, das
Rentenniveau von 70 Prozent aufrechtzuerhalten. Wir
streiten zwar über den Weg dahin; aber das Ziel von
70 Prozent - Ihr Ziel war das nie - steht außer Frage.
({13})
Sie hätten das Rentenniveau auf 64 Prozent gesenkt und
viele Menschen in die Sozialhilfe getrieben. Das war doch
Ihre Politik.
({14})
- Die Verkäuferin, die 4 Prozent ihres Einkommens für
die zusätzliche Altersvorsorge ausgibt, kann vom Staat bis
zu 90 Prozent steuerliche Zuschüsse bekommen.
({15})
- Kollege Laumann, wir haben gerade für die Bezieher
kleiner Einkommen ganz hohe Zuschüsse vorgesehen.
Das wissen Sie.
({16})
Wir wissen genau, wie schwer zusätzliche Abgaben im
unteren Einkommensbereich fallen. Sie sollten sich all
das, was Sie hier vorgetragen haben, reiflich überlegen.
Diese Rentenreform enthält einiges, was man wirklich offensiv vertreten kann. Wenn uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren einige Verbesserungen gelingen, dann
soll es mir recht sein.
Ich will noch etwas zur blümschen Glorifizierung der
Rentenreform - Herr Kollege Laumann, Sie haben davon
gesprochen - sagen.
({17})
- Nein, ich habe Ihnen bewiesen, dass es nichts war. Sie
hätten die Menschen in die Sozialhilfe getrieben. Diese
Koalition macht sich Gedanken, wie wir um diesen Weg
herumkommen.
({18})
Was Blüm uns vorgelegt hat, war also eine schlechte Lösung.
Hinzu kommt, Kollege Laumann: Bei uns sind die
Beiträge auf 19,3 Prozent gesunken und demnächst sinken sie auf 19,1 Prozent. Bei Ihnen wären die Beiträge zur
gesetzlichen Rentenversicherung im Endeffekt bis auf
24 Prozent gestiegen.
({19})
Selbst Ihnen nahe stehende Arbeitgeberverbände geben
uns darin Recht, dass man so, wie Sie es wollten, nicht
verfahren kann.
Unsere Rentenreform - wir bringen den entsprechenden Gesetzentwurf demnächst in den Bundestag ein enthält einige Punkte mit Pfiff - wenn Sie ehrlich sind,
müssen Sie das zugeben - und sie trägt dazu bei, dass weniger Menschen Sozialhilfe beziehen müssen. Ihr Politik
hätte zu mehr Sozialhilfeempfängern geführt.
({20})
Die Aktuelle
Stunde ist beendet.
Wir kommen zu einer etwas ruhigeren Diskussion mit
sieben Rednerinnen und einem Redner.
({0})
Herr Kollege Parr, ich darf Ihnen schon jetzt meine Aner-
kennung aussprechen.
Ich rufe also die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga
Kühn-Mengel, Anni Brandt-Elsweier, Dr. Carola
Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche,
Irmingard Schewe-Gerigk, Christa Nickels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Frauenspezifische Gesundheitsversorgung
- Drucksache 14/3858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Eva-Maria Kors, Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen
- Drucksache 14/4381 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob es bei diesem Thema ruhiger sein wird, wissen wir noch nicht so
genau.
Das Thema „Frauen, Gesundheit, medizinische Forschung und Versorgung“ wird noch immer von vielen Akteuren im Gesundheitswesen unterschätzt. Einige
belächeln es. Viele halten es allenfalls für ein Randthema
des gesundheitspolitischen Handelns. Dabei wird schon
seit einigen Jahren - ich zitiere Erika Zoike vom
BKK-Bundesverband - „verstärkt auf die Geschlechtsblindheit unseres Gesundheitssystems hingewiesen“.
({0})
Hierzu einige Beispiele: Vera John-Mikolajwski vom
Universitätsklinikum Essen betont, dass jahrelang das
Geschlecht von Teilnehmern an Arzneimittelstudien
nicht einmal erwähnt worden sei. Dies habe zu großen Datendefiziten, etwa beim Bluthochdruck oder bei der
Primärprävention des Herzinfarkts, geführt. Kaum erforscht ist, ob Medikamente bei Frauen wegen des unterschiedlichen Hormonhaushaltes in gleicher Dosis wirken.
Eine groß angelegte Untersuchung über 1 081 internationale Publikationen im Arzneimittelbereich ergab, dass in
zwei Drittel der Fälle die an Männern gewonnenen Ergebnisse einfach auf Frauen übertragen worden sind.
Es muss uns doch zu denken geben, wenn deutlich
mehr Männer suchtkrank sind, aber rund 70 Prozent aller
Medikamentenabhängigen Frauen sind. Warum erhalten
doppelt so viele Frauen wie Männer regelmäßig Beruhigungsmittel? Warum werden Frauen überhaupt überdurchschnittlich häufig zu Arzneimittelpatienten? Sollten
nicht vielmehr die Ärzte gelegentlich vom Rezeptblock
hoch auf die Frau schauen und ihre Lebenssituation zur
Kenntnis nehmen,
({1})
die häufig von Doppel- und Dreifachbelastungen - Beruf, Familie und Pflege von Angehörigen - geprägt ist?
Nicht abschließend geklärt ist, warum Frauen deutlich
häufiger vom Schlaganfall als vom Herzinfarkt betroffen
sind, häufiger aber am ersten Herzinfarkt sterben. Ebenso
ungeklärt ist, warum in den neuen Bundesländern 18 Prozent mehr Männer, aber 53 Prozent mehr Frauen als in
Westdeutschland einen Herzinfarkt erleiden. Es bedarf
dringend der Forschung, wenn für Frauen die Wahrscheinlichkeit um 87 Prozent höher ist, während der Bypassoperation zu sterben. Das ist eine Frage, mit der sich
der letzte große Kardiologenkongress beschäftigt hat.
Die immer wieder angeführte Tatsache, dass Frauen zu
diesem Zeitpunkt älter seien, ist richtig, erklärt das Geschehen aber nur unzureichend; denn Männer - das bestätigen Kardiologinnen und Kardiologen immer wieder haben andere Vorschädigungen. Überhaupt wird die Häufigkeit koronarer Herzkrankheiten bei Frauen unterschätzt, und zwar nicht nur von den Patientinnen, die die
ersten Anzeichen in ihrer Lebenssituation vielleicht nicht
gut genug wahrnehmen, sondern auch von Ärzten. Eine
Hypothese ist auch, dass Ärzte nicht daran gewöhnt sind,
solche Managerkrankheiten der Frauenrolle zuzuschreiben.
({2})
Frauen werden im Bereich ihrer Lebenszyklen und Reproduktionsfunktionen systematisch zu Patientinnen gemacht. 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften werden
inzwischen zu Risikoschwangerschaften erklärt. Damit
hängt eine Ausweitung der gesamten Pränatalmedizin zusammen, in einem Umfang, der uns veranlasst hat, uns damit in der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der
Medizin“ zu befassen. Hier geht es wirklich um die
Selbstbestimmung der Frau, um gute Beratung und Information.
Die SPD hat schon im Jahr 1998 einen Antrag zum
Thema gestellt und in den Bundestag eingebracht - schon
damals mit der Forderung, frauenspezifische Aspekte
stärker zu berücksichtigen, kontinuierliche Berichterstattung zu gewährleisten und die Forschung zu verstärken.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der F.D.P., haben damals unseren Antrag mit dem
Hinweis darauf abgelehnt,
({3})
dass Frauen und Männer gleichen Zugang zum Gesundheitswesen haben - das ist sicherlich richtig - und Frauen
ohnehin älter würden - auch das ist richtig. Aber es geht
ja auch um die Qualität des Älterwerdens. Ich sage es
noch einmal: Das Thema wird überall diskutiert.
Heute legen Sie ebenfalls einen Antrag zu diesem
Thema vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Sie auf
einen anfahrenden Zug aufspringen wollen.
({4})
Der Zug ist aber abgefahren, das Thema wird bereits überall diskutiert. Im Übrigen, meine ich, schauen Sie ein wenig einseitig auf diesen Bereich. Es geht nicht nur um die
Eigenwahrnehmung der Frau. Sie vermeiden jeden kritischen Blick auf ärztliches Verhalten und wiederholen
stattdessen die stereotype Forderung nach Aufhebung der
Budgetierung.
({5})
- Dann beantworten Sie mir bitte die Frage, ob 35 000 Eierstockentfernungen im Jahr etwas mit einem zu geringen
Budget zu tun haben. Ich würde sagen, sie haben etwas
mit Fehlversorgung zu tun. Die Studie des BMG ist keine
Erfindung der deutschen Sozialdemokratie.
({6})
Es gibt weitere Beispiele in diesem Bereich; das wissen
Sie auch. Warum gibt es bei Arztfrauen 50 Prozent weniger Totaloperationen? Das sind doch Fragen, die wir in
diesem Zusammenhang einmal klären müssen.
Wir nehmen uns heute, diesmal glücklicherweise als
Regierungskoalition - glücklicherweise auch für die
Frauen in diesem Lande -, noch einmal des Themas an,
({7})
weil wir die Diskussion intensivieren und Forschungsanreize schaffen wollen. Wir müssen das auch tun, weil Sie
während Ihrer Regierungszeit das Thema negiert und
nicht aufgearbeitet haben.
({8})
Unser Antrag „Frauenspezifische Gesundheitsversorgung“ nennt beim Namen, was wir ändern wollen und was
auch schon geändert worden ist. Schauen Sie bitte auf die
vielen Ansätze, die in den drei genannten Ministerien in
unserer Regierungszeit schon angelaufen sind. Ich finde
sie recht beeindruckend.
Wir wollen, dass auch in Zukunft alle Entscheidungen
über die Bewilligung von Projektanträgen generell nach
dem Kriterium „Berücksichtigung frauenspezifischer
Belange“ bewertet werden, dass eine kontinuierliche Berichterstattung über die gesundheitliche Situation von
Mädchen und Frauen stattfindet, dass die Gesundheitsversorgung von Frauen, deren Gesundheit besonderer Belastung ausgesetzt ist, auch in besonderer Weise berücksichtigt wird. Wir denken an höhere Fördermittel etwa im
Bereich der Forschung und an Studien zu behinderten
Frauen, Migrantinnen, älteren Frauen. Diese Liste ließe
sich problemlos verlängern. Sie kennen die Studie aus
dem Frauenministerium zur Lebenssituation erwerbstätiger Frauen. Sie gibt reichlich Hinweise auf Bereiche, um
die wir uns auch kümmern werden.
Wir wollen - das muss einmal deutlich gesagt werden die Benachteiligungen, die es beim Verlauf der Karrieren
von Frauen im Bereich der Medizin und der Gesundheitsforschung gibt, abbauen. Es ist ganz wichtig, dass wir
uns die Gremien und ihre Besetzung einmal anschauen.
Im Gesundheitswesen nehmen überwiegend Männer leitende Funktionen ein. Sie leiten Krankenkassen, Krankenhäuser, Fachkliniken, kassenärztliche Vereinigungen,
und - ich sage es bei jeder passenden Gelegenheit - unter
den 30 Mitgliedern im Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen gibt es keine einzige Frau.
({9})
Laut Statistik sind nur etwa 2,3 Prozent aller Lehrstühle in der klinischen, Betten führenden Medizin von
Frauen besetzt. Frauen stellen die Hälfte der Erstsemester
im Bereich der Medizin. Mit jeder Stufe der Karriereleiter nimmt der Frauenanteil ab: 45 Prozent der Absolventinnen im Fach Medizin, 30 Prozent bei den Promotionen,
8 Prozent nur noch bei den Habilitationen und 2 Prozent
bei den C-4-Professuren. Auch das gehört zum Thema.
Das ist ein nicht zu akzeptierender Zustand. Wie soll hier
prägender Einfluss von Frauen auf Frauen in den Studieninhalten, bei Behandlungskriterien und für patientinnenorientierte Verhaltensweisen ausgeübt werden?
({10})
Auf die Liste der vielen Projekte, die die drei Ministerien, die für Frauen, Gesundheit und Forschung zuständig
sind, in Angriff genommen haben, will ich wegen der kurzen Redezeit nicht weiter eingehen.
({11})
Unseren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, verstaubt zu nennen
({12})
- Sie tun das, wie ich glaube, auf Ihrer Homepage - ist
unklug, zeigt es doch, dass Sie offensichtlich die Diskussionen unter den Gesundheitswissenschaftlerinnen und
Ärztinnen nicht kennen. Unser Antrag hat bereits dazu geführt, dass einige Stiftungen, die ich vorher nicht kannte,
mir geschrieben oder gesagt haben, dass sie ihren Förderschwerpunkt verändern wollen. Ich halte es für ein gutes
Zeichen, wenn ein Antrag Bewegung in einen solchen Bereich bringt. Damit haben wir, wie ich denke, schon einen
Teil unserer Absichten erreicht.
({13})
Mit der Gesundheitsreform haben wir die Weichen
für Veränderungen im System gestellt, von denen gerade
auch Frauen profitieren werden. Wir haben die Qualitätssicherung als durchgreifendes und durchgehendes Prinzip
eingeführt und den Koordinationsausschuss etabliert, der
im Jahr mindestens für zehn Krankheiten Behandlungsleitlinien festlegen soll. Wir werden darauf drängen, dass
zum Beispiel auch Osteoporose, Gebärmutterhalskrebs
und andere geschlechtsspezifische Krankheiten dort thematisiert werden. Wir haben die Prävention, den vorbeugenden Gesundheitsschutz, wieder in das Gesetz aufgenommen - den haben Sie ja in Ihrer Regierungszeit
abgeschafft - und Selbsthilfe sowie Patientinnen- und Patientenrechte gestärkt. Auch dieses ist erwähnenswert.
Nun muss ich aber noch etwas zum Brustkrebs sagen.
Dieses Thema ist uns einige Anmerkungen und auch eine
Initiative wert. Auch Sie gehen ja in Ihrem Antrag darauf
ein. Vieles von dem, was Sie schreiben, könnten ich und
auch die SPD unterschreiben. Ihre Stellungnahme ist aber
dann, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet,
was sie weglässt, populistisch. Hier haben wir es nämlich
mit Unter- und Fehlversorgung zu tun. An der Mammographie wird in Deutschland viel verdient und - das muss
man einmal sagen - nicht immer zum Nutzen der Frauen.
({14})
Sie wird etwa 4 Millionen Mal im Jahr durchgeführt. Dabei fallen Kosten in Höhe von etwa 600 Millionen DM an.
Sie wird nicht immer systematisch, nicht immer mit optimalen Geräten und teilweise mit falschen Befunden
durchgeführt. 30 Prozent falsch positive Befunde sind der
Haken, an dem weitere Untersuchungen aufgehangen
werden; damit verbunden ist eine erneute Strahlenbelastung, andauernde psychische Belastung der Frauen und
ihrer Angehörigen. Während in Deutschland 30 Prozent
der Befunde falsch positiv ausfallen, sind es nur 1 Prozent
der Befunde in den Niederlanden. Hier müssen wir weniger über eine Anhebung des Budgets als über die der Qualität nachdenken und uns ernsthaft mit der Frage von Nutzen und Schaden der Mammographie beschäftigen. Von
Beliebigkeitsmedizin war bei Insidern des Systems die
Rede.
Heuchlerisch sind Ihre Forderungen, wenn Sie mit keinem Wort erwähnen, dass die Mortalitätsrate bei Brustkrebs seit Mitte der 80er-Jahre in Deutschland nicht nur
nicht gesunken, sondern über die gesamte Ära Kohl angestiegen ist.
({15})
Sie haben nichts für die Verbesserung der Qualität der
Früherkennung in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
getan, während in den Nachbarländern - in den Niederlanden, in England und in den skandinavischen Ländern ({16})
die Mortalitätsrate nach einer Krebserkrankung, die Zahl
der Amputationen und die Verweildauer der Kranken im
Krankenhaus deutlich gesunken sind.
({17})
Deshalb werden wir Screenings nicht einführen, bevor
nicht die Qualität gesichert ist, denn Frauen nehmen
Screenings nur an, wenn sie sich darauf verlassen können,
dass das System transparent ist und dass sie auf qualitativ
hohem Niveau versorgt werden.
({18})
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass wir hier für
konkrete Verbesserungen gesorgt haben. Frau SchaichWalch und ich haben mit Vertretern des Bundesausschusses Ärzte und Krankenkassen sowie mit Vertretern von
AOK und VdAK über die schnelle Verbesserung im
Mammographiebereich gesprochen. Wir haben uns auf einige Maßnahmen verständigen können.
({19})
Die beiden Organisationen der Selbstverwaltung werden
in dem Ausschuss nach § 136 a, dem Qualitätsausschuss
- den haben wir eingeführt; das nur einmal am Rande -,
darauf hinwirken, dass für die kurative Mammographie,
die jeden Tag zur Abklärung von Befunden angewandt
wird, nachhaltige Verbesserungen stattfinden werden.
Diese Verbesserungen werden unter anderem die Gerätesicherheit betreffen; denn sie spielt für die Qualität der
Bilder und damit für die Sicherheit der Befunde eine
große Rolle. Ich halte das für wichtig, weil es nicht nur um
Screenings geht. Vielmehr geht es um die umgehende
Verbesserung der Mammographie; denn es sind viele
Frauen betroffen. Sie sehen daran, dass wir die Verbündeten im System auch ansprechen und zu einem Dialog einladen.
Wir werden bei diesem Thema überhaupt mit allen Verbündeten und Netzwerken, die es gibt, weiter im Kontakt
bleiben. Das kann nur im Sinne der Frauen sein. Ich werde
mich ferner dafür einsetzen, dass es zu diesem Thema
auch eine Anhörung geben wird.
Ich danke Ihnen.
({20})
Nun erteile ich der
Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau KühnMengel, es ist ja schön, Ihre Ausführungen zu hören.
({0})
Ihre Analysen sind interessant, ebenso Ihre Hinweise und
Anregungen sowie die Aufzählung Ihrer Gesprächspartner. Einzig und allein frage ich mich, warum Sie, wenn
Sie dann einen Antrag stellen, um Gottes willen nicht konkret werden.
({1})
Das erwarten die Frauen in dieser Republik von Ihnen.
Hier aber wird von Ihnen nichts Konkretes geleistet.
({2})
Die Forderungen nach einer konkreten frauenspezifischen Gesundheitspolitik werden immer lauter. Nicht zuletzt der Protestmarsch brustkrebskranker Frauen jüngst
hier in Berlin hat den politischen Handlungsbedarf deutlich aufgezeigt.
({3})
Fakt ist, die Bundesregierung tut gesundheitspolitisch für
Frauen in Deutschland zu wenig.
Grundsätzlich - das will ich an dieser Stelle auch sagen - kommen Fortschritte der Medizin und der Medizintechnik Frauen und Männern gleichermaßen zugute, und
zwar in ganz Deutschland. Dennoch gibt es zahlreiche
frauenspezifische Gesundheitsprobleme, die Anlass zur
Besorgnis geben. Hierzu zählen vor allem Essstörungen,
Depressionen, Osteoporose, also Knochenschwund, rheumatoide Arthritis, Herz- und Kreislaufkrankheiten,
Demenz sowie Brust- und Gebärmutterhalskrebs. Die
rot-grüne Budgetierungswut erschwert zudem die Etablierung wichtiger neuer Versorgungsangebote sowie innovativer Behandlungsmethoden. Budgetierung heißt
Rationierung und Rationierung bedeutet Einschränkung
notwendiger Leistungen.
Das geht häufig zulasten der frauenspezifischen Gesundheitsversorgung. Im Ergebnis bekommen wir eine
Zweiklassenmedizin. Frauen, die sich teure medizinische
Untersuchungen und Behandlungen leisten können, stehen besser da. Wir kommen zusehends in eine soziale
Schieflage.
Der von der SPD und den Grünen vorgelegte Antrag
ist - das mögen Sie hier bestreiten - ein reines Alibipapier.
({4})
Auf der Basis überholter wissenschaftlicher Erkenntnisse
haben Sie einen drei bis vier Jahre alten und - ich
wiederhole dies - verstaubten Antrag aus der Schublade
geholt,
({5})
der nicht in einem einzigen Punkt konkret auf die wichtigsten gegenwärtigen Herausforderungen frauenspezifischer Gesundheitspolitik eingeht.
({6})
Am 2. Juli 1996, also vor über vier Jahren, haben Sie
aus der Opposition heraus eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Obwohl die medizinische Forschung in Bezug auf die frauenspezifische Gesundheitsvorsorge seitdem erhebliche Fortschritte gemacht hat,
obwohl die geschlechtsspezifischen Datenerhebungen,
Statistiken und Prognosen wesentlich präziser geworden
sind, obwohl es neue, Erfolg versprechende Behandlungsmethoden für frauenspezifische Krankheiten gibt,
obwohl so vieles in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist, legen Sie uns einen Antrag vor, der nichts von alledem aufnimmt.
({7})
Im Ergebnis muten Sie uns einen Antrag zu, der veraltet ist und der nicht in einem einzigen Punkt konkret wird.
Sollten Sie ihn mit Ihrer Mehrheit im Bundestag beschließen, wird er nachhaltig nichts für die Gesundheit der
Frauen in Deutschland bewirken. Unwichtiges wird in
diesem Antrag von Ihnen überhöht; Wichtiges wird überhaupt nicht berührt. Selbst bei den Punkten, die anzusprechen ich gut finde - zum Beispiel Public Health, der
AIDS-Virus und HIV-Infektionen oder die Entwicklung
von Maßnahmen für Migrantinnen -, fordern Sie keine
konkreten Konzepte ein. Das ist für eine Regierungsfraktion beim besten Willen zu wenig.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben deshalb einen eigenen Antrag „Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“
vorgelegt, der den drängendsten Problemen gerecht wird.
({8})
Was wir in Deutschland brauchen, sind konkrete Maßnahmen zumindest in den Kernbereichen frauenspezifischer Gesundheitspolitik. Zu den Kernbereichen gehören:
Essstörungen, Depressionen, Osteoporose, Rheuma,
Herz- und Kreislaufkrankheiten, Demenz sowie Brustund Gebärmutterhalskrebs. Ich will hier nicht auf alle Bereiche eingehen, sondern nur ein paar ansprechen.
Erstens. Beim Brustkrebs besteht ganz dringender
Handlungsbedarf. Die Brustkrebs-Demonstration vor
zwei Wochen, der einstimmige Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz vom Juni dieses Jahres, die klaren
Aufforderungen der Women’s Health Coalition, die
Brustkrebs-Initiative oder die Arbeit der zahlreichen engagierten Gruppen in unserem Land zeigen doch, dass die
Bundesregierung endlich aufwachen und handeln muss.
Es reicht nicht, wenn Sie weitere drei bis sechs Jahre warten wollen, bis die laufenden Modellversuche ausgewertet worden sind. Es ist wissenschaftlich unumstritten, dass
das Screening-Verfahren die derzeit beste Methode zur
Erkennung von Brustkrebs ist.
({9})
Bedenkt man, dass in Deutschland die Sterbequote nach
der Therapie deutlich höher ist als zum Beispiel in den
USA, dann liegt auf der Hand, dass sofortiger Handlungsbedarf gegeben ist.
Brustkrebs gehört bei uns mit etwa 45 000 Neuerkrankungen und rund 19 000 Todesfällen jährlich zu den häufigsten und gefährlichsten Erkrankungen der Frauen. Neben den direkten Folgen der Tumorerkrankung kommen
zusätzlich frauenspezifische Beeinträchtigungen der Lebensqualität hinzu, die mit zunehmendem Alter - besonders in der Phase nach der Menopause - immer größer
werden. Probleme der Brustkrebsfrüherkennung, der Diagnose, der Behandlung und Nachsorge begleiten viele
Frauen über mehrere Lebensjahrzehnte hinweg. Jede
achte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an
Brustkrebs. Mehr als bei jeder anderen Erkrankung bedarf
es einer allgemein verständlichen Information, um die
Frau in den Entscheidungsprozess über Diagnostik und
Therapie einzubinden.
Entstehung, Verlauf und Folgen einer Brustkrebserkrankung erfordern eine langfristige, qualitätsgesicherte
ärztliche Begleitung. Dafür wird unsere politische Unterstützung gebraucht.
({10})
Wir müssen ein flächendeckendes, qualitätsgesichertes
und fachübergreifendes Brustkrebsfrüherkennungskonzept fördern, und zwar auch ohne Vorliegen eines Verdachts oder eines besonderen Risikos. Das Problem, das
wir in Deutschland haben, ist die Finanzierung der
Früherkennung. Heute wird die Brustkrebsfrüherkennung durch Mammographie nur erstattet, wenn ein Verdacht oder ein besonderes Risiko vorliegt. Das ist widersinnig; denn die Früherkennung hilft, nutzt und sie ist
wissenschaftlich gesichert. Die Bundesregierung muss
sich einfach mehr einfallen lassen, als nur immer wieder
neue Modellversuche aufzulegen. Deshalb gilt: Die Bundesregierung muss endlich konkret handeln.
({11})
Erforderlich ist dabei in erster Linie die rasche Umsetzung der europäischen Leitlinie in eine bindende Richtlinie des Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen.
Ich weiß gar nicht, worauf Gesundheitsministerin Fischer
eigentlich noch wartet. Wir dürfen nicht länger warten,
gerade weil es heute wissenschaftlicher Standard ist, dass
unter Beachtung der Qualitätsstandards der Leitlinien
die Brustkrebssterblichkeit deutlich zurückgeführt werden kann.
Zu den Qualitätsstandards gehören insbesondere die
regelmäßige Doppelbefundung des Bildmaterials, eine
spezielle Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und auch
des nicht ärztlichen Personals im Bereich der radiologischen Diagnostik, ein hoher technischer Standard der
Geräte und eine laufende Kontrolle ihrer technischen
Qualität. Wir müssen die Qualitätssicherung der Brustkrebsfrüherkennung durch gezielte Projekte fachübergreifend fördern, und zwar einschließlich radiologischer
Screening-Verfahren. Das heißt, wir müssen die ScreeningMammographie einführen, und zwar eingebettet in ein interdisziplinäres medizinisches Früherkennungskonzept.
({12})
Standardisierte Maßnahmen zur Früherkennung dürfen
nicht auf die Mammographie beschränkt sein, sondern
müssen um Maßnahmen zum Erlernen von Selbstuntersuchungen der Brust und um Abklärung der familiären
Belastung ergänzt werden. Die Vorschläge zur medizinischen Therapie nach Befund und mögliche Nachsorgebehandlungen müssen grundsätzlich von den unterschiedlichen Fachdisziplinen gemeinsam erarbeitet werden. Das
heißt, wir müssen die sorgfältige Aufklärung fördern, damit Früherkennungsuntersuchungen und Nachsorgebehandlungen nicht zu übermäßigen psychischen Belastungen führen.
Ein zweiter Bereich. Rund 6 000 Frauen erkranken und
2 800 Frauen sterben jährlich in Deutschland an Gebärmutterhalskrebs. Damit nimmt Deutschland in Westeuropa den drittschlechtesten Rang ein. Weltweit ist diese
Krebsart mit etwa 500 000 Fällen im Jahr die zweithäufigste Krebsart bei Frauen.
Neueste Forschungen zeigen: In fast 100 Prozent der
Fälle ist das so genannte Humane Papillomavirus Verursacher von Gebärmutterhalskrebs. Wenn die Krebsursache rechtzeitig entdeckt wird, gibt es sehr gute Heilungschancen. Wie Studien der Universitäten Hannover
und Tübingen jetzt belegen, hat der herkömmliche PapAbstrichtest eine Genauigkeit von nur etwa 50 Prozent.
Der neu entwickelte HPV-Test hingegen hat eine Genauigkeit von nahezu 100 Prozent. Zudem erkennt er die Prädisposition für Gebärmutterhalskrebs, während der PapAbstrichtest erst die bestehende Krankheit bzw. deren
Vorstufe aufdeckt.
Wir müssen überlegen, ob der Test von den Krankenkassen im Rahmen der jährlichen Vorsorgeprogramme erstattet werden sollte. Wir müssen untersuchen, ob der
HPV-Test eine effiziente Vorsorge bieten kann. Ihre Budgetierungspolitik darf auch an dieser wichtigen Stelle
nicht zulasten der Frauen gehen.
({13})
Drittens. Bei der Osteoporose blamiert sich die Bundesregierung bis auf die Knochen. In Deutschland sind
über 6 Millionen Menschen an Osteoporose erkrankt. Das
Verhältnis Frauen zu Männern liegt bei drei zu eins. Wir
brauchen dringend ein konkretes Programm zur Früherkennung, Prophylaxe und Therapie, um Osteoporosefolgen frühzeitig zu vermeiden und nicht erst nach einer
Fraktur zu behandeln. Ich kann es überhaupt nicht verstehen, warum Sie, SPD und Grüne, in Ihrem Antrag mit
nicht einer Silbe auf dieses Problem eingehen. Wir jedenfalls sehen hier großen Handlungsbedarf.
Ein vierter Bereich: die Demenz. In Deutschland sind
gut 1 Million Menschen an Demenz erkrankt, Tendenz
steigend. Frauen haben ein höheres Risiko, diese Erkrankung zu erleiden - nicht weil Demenz eine frauenspezifische Krankheit ist, sondern weil Frauen eine höhere Lebenserwartung haben. Wir müssen deshalb endlich
Demenzkranke, die in einem bestimmten Umfang der allgemeinen Betreuung bedürfen, in die soziale Pflegeversicherung einbeziehen.
Was Frau Fischer jetzt vorgeschlagen hat, hilft weder
den Betroffenen noch den Angehörigen. Das wissen Sie
auch. Ich will das an dieser Stelle gar nicht vertiefen. Über
das Thema Demenz in der Pflegeversicherung werden wir
noch an anderer Stelle debattieren müssen.
Das sind im Groben die wichtigsten Punkte. Wir werden in der Gesundheitspolitik für Frauen nur vorankommen, wenn wir konkrete Maßnahmen beschließen. Ihr
Antrag verliert sich leider in Plattitüden. Sie verweigern
sich damit einer konstruktiven Gesundheitspolitik für
Frauen. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, an denen wir uns orientieren sollten, wenn wir wirklich etwas
für Frauen in unserem Land tun wollen.
({14})
Das Wort hat nun die
Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich bin heute mit einem ganz guten Gefühl hierher
gekommen und hätte nicht erwartet, dass die CDU/CSU
auch dieses sehr wichtige Thema verhunzt, indem sie es
für ihre Oppositionsattacken nutzt.
({0})
Frau Kollegin, es wäre gut gewesen, wenn Sie unseren
Antrag korrekt gewürdigt und darauf Ihre Rede aufgebaut
hätten oder wenn Sie auf Ihren Antrag verwiesen hätten,
den ich sehr wohlwollend gelesen habe.
({1})
Denn Sie erkennen an, dass ein über Jahrzehnte hinweg in
Deutschland aufgelaufenes Problem, das durch Defizite
entstanden ist, einer Behebung bedarf. Wenn Sie darauf
hingewiesen und in diesem Zusammenhang im Hinblick
auf die Bereiche der Demenz, der Osteoporose und der
neuesten Entwicklungen in der Mammographieforschung, also im Hinblick auf das Mammographiescreening und dessen Bewertung, einige wichtige Anregungen
gegeben hätten, dann hätte ich das nicht nur mit Großzügigkeit, sondern auch mit Sachlichkeit und Fairness zur
Kenntnis genommen.
({2})
Sie aber attackieren an diesen Stellen, sodass ich feststellen muss: Das passt nicht hierher.
Sie haben die Mammographie angesprochen. Wir haben uns zu Beginn dieser Legislatur und danach noch einmal in einer Anhörung intensiv mit den Fragen des Brustkrebses befasst. Ich kann allerdings angesichts Ihres
Redebeitrages nicht voraussetzen, dass Sie über den heutigen Stand der Kenntnisse Bescheid wissen. Sie sollten
aber wissen, in welcher Weise man heute über die Frage
des Mammographiescreenings diskutiert.
({3})
In Deutschland gibt es - die Frau Staatssekretärin wird
dies gerne näher erläutern, wenn Sie noch entsprechenden
Fragebedarf haben sollten - im Bereich des Mammographiescreenings Modellprojekte. Als Gesundheitspolitikerin wissen Sie aber so gut wie ich, dass im Aachener Raum
ein entsprechendes Forschungsprojekt daran gescheitert
ist, dass sich die niedergelassene Ärzteschaft nicht daran
beteiligen wollte. Es gibt hier ein Geflecht, das wir bei einer Umsetzung dieses Vorhabens nicht außer Acht lassen
können.
Dass wir als Grüne dieses Thema aufgegriffen haben,
können Sie schon allein daran erkennen, dass es Gegenstand unseres Antrages ist und dass die Gesundheitsministerin die Schirmherrin einer diesbezüglichen Veranstaltung war, die ich außerordentlich begrüßt habe.
({4})
Nichts ist wichtiger, als dass Frauen, die mit diesem Gesundheitsproblem leben, darauf hinweisen, dass es einen
frauenspezifischen Krankheitsbereich gibt, der von den
niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, was die Qualitätssicherung der Maßnahmen angeht, noch zu wenig
beachtet wird. Sie haben einen Anspruch darauf, einzufordern, dass eine gute Gesundheits- und Krankenversorgung sowie die wissenschaftliche Forschung nur dann
von allgemeiner Art sein können, wenn die Frauenspezifik berücksichtigt wird.
({5})
Das sollte die zentrale Aussage der gesamten Debatte
sein. Ich habe von Fachverbänden, Frauenorganisationen
und Frauengesundheitszentren sehr viele positive Rückmeldungen auf diese Initiative erhalten.
({6})
Wir als Parlamentarierinnen wollen das verstärken und
vertiefen, indem wir zu dieser Thematik eine öffentliche
Anhörung durchführen. Denn keine von uns erhebt den
Anspruch, hier über den letzten Stand des Wissens zu verfügen. Ich möchte, dass diese Anregungen in den weiteren parlamentarischen Prozess aufgenommen werden und
dass wir das Antragsbegehren vervollständigen.
Sie haben hier Ihren Antrag vorgestellt und lautstark
Handlungsdefizite reklamiert. Ich hätte erwartet, dass Sie
zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass wir in unserem
Antrag nicht nur schichten-, rollen- und geschlechtsspezifische Sozialisationsfragen zum Gegenstand machen
- das muss einfach Stand der Wissenschaft sein -, sondern
dass wir uns auch der besonderen Problematik von Migrantinnen in Bezug auf deren Gesundheitsversorgung in
Deutschland zuwenden.
({7})
Was bedeutet das? Nichts ist wichtiger - dies ist vor dem
Hintergrund der in Ihrer Fraktion entstandenen unsäglichen Leitkulturdebatte zu sehen -, als dass wir in der Gesundheitsversorgung anerkennen, dass die Nichtkenntnis
von kulturellen Zusammenhängen, die in der Sozialisation hier lebender Migrantinnen eine wesentliche Rolle
spielen, zu Unterversorgung im Gesundheitswesen führt.
Dass wir die Gesundheitsversorgung von Migrantinnen positiv benennen, ist ein sehr wichtiger Beitrag dafür,
frauengerecht und kulturell offen zu sein und dies im Gesundheitssystem zu verankern.
({8})
Wir haben in unserer Gesundheitspolitik beispielsweise die Drogenfrage, die Suchtprävention fest integriert. Die Tatsache, dass das Suchtverhalten und das
Suchtproblem von Männern, Alkoholprobleme in Verbindung mit Zivilisationskrankheiten im ärztlichen Bereich
weniger beachtet werden, ist Beweis für ein großes geschlechtsspezifisches Defizit in der deutschen Gesundheitsversorgung.
Die Tatsache, dass Frauen oft psychopathologisiert
werden, ist auch ein Ausdruck geschlechtsspezifischer
Wahrnehmung von biografischen Problemen. Tatsächlich gibt es aber auch die verstärkte Medikamentenabhängigkeit bei Frauen.
Wir haben also ein Zusammenspiel von verschiedenen
biologisch bedingten, sozial und kulturell bedingten Fragen und daraus sich ergebenden Defiziten in der Forschung allgemein und in der Forschung der medizinischen Versorgung.
Das in einer gesundheitspolitischen Debatte zum Gegenstand zu machen, halte ich für ein sehr wichtiges Signal und für eine sehr selbstbewusste Geste. Wir sagen: Wir
kennen die frauenspezifischen Versorgungsdefizite in
der Gesundheitsversorgung und -politik.
Da, wo wir mit aktuellen Maßnahmen eine Gleichstellung sofort herbeiführen konnten, haben wir es getan. Ich
nenne nur die Zuzahlung in der Psychotherapie, die die
Frauen nicht mehr leisten müssen. Ihnen einen versorgungsgerechten Zugang zu sichern und ihn für alle gleich
zu gestalten - das mussten wir tun, weil Sie gerade da,
ohne auf die Relevanz dieser Frage für Frauen zu achten,
Zuzahlungen eingeführt haben.
({9})
Das sind sehr wichtige Aussagen. Das sind sehr wichtige Punkte, die wir zu Anfang angegangen sind. Nirgendwo mehr als zum Beispiel in der Psychotherapie und
beim Zugang zur Versorgung in diesem Bereich spielt die
Geschlechtsspezifikation eine größere Rolle.
({10})
Wir wissen sehr wohl, dass das Gesundheitssystem als
solches von Frauen getragen wird, sie aber in der Forschung und bei der Bewertung von Leistungen nach wie
vor vollkommen unterrepräsentiert sind.
({11})
Wenn Sie sagen, es sei nicht zukunftstauglich, dass wir
hier „gender mainstreaming“ in die Überschrift und in
jedes Unterkapitel setzen,
({12})
dann haben Sie nicht begriffen, um was es geht.
({13})
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, erteile ich dem Herrn Kollegen Detlef
Parr, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn Präsidenten
Seiters für den Zuspruch danken, dass ich zu diesem
Thema rede. Ich denke, es täte uns Männern vielleicht
ganz gut, häufiger einmal aus der Rolle zu fallen.
({0})
Im April 1989 haben wir über eine Große Anfrage der
SPD zum Thema frauenspezifische Gesundheitsversorgung debattiert, damals noch unter stark ideologisch geprägten Aspekten. Daraus erklärt sich auch die Distanz zu
der damaligen Anfrage. In der Debatte haben wir dazu ja
sehr eindeutig Stellung genommen.
Heute liegen uns zwei Anträge vor, mit denen man sich
wesentlich sachlicher auseinander setzen kann. Ich bedauere, dass sich die Debatte in einer solchen Art und
Weise entwickelt hat. Ich meine, wir können sehr sachlich
darüber reden. Beide Anträge haben Gutes, dem man zustimmen kann, beide Anträge haben auch Positionen, die
man kritisch beleuchten kann.
Das damalige Postulat der SPD, dass es in Deutschland
eine ausschließlich an männlichen Patienten ausgerichtete
Medizin gebe, wird in Ihrem Antrag wiederholt.
({1})
Es gibt kostentreibende und im Ergebnis zweifelhafte
Vorschläge für Projekte und Programme, auf die man gut
und gern verzichten könnte. Darüber werden wir im Ausschuss zu diskutieren haben. Ich möchte nicht die Studien
wegdiskutieren, die belegen, dass die Geschlechter unterschiedliche Gesundheitsprobleme haben und auch unterschiedlich mit Erkrankungen umgehen.
Wir vergeben uns nichts, wenn wir diese Tatsachen in
der Gesundheitspolitik zukünftig stärker berücksichtigen.
Wir dürfen aber nicht der Gefahr erliegen, dass allein die
Kategorie „weiblich“ - Frau Kollegin Knoche hat das ja
an einem Beispiel deutlich gemacht - als ausschlaggebendes Kriterium für eine Differenzierung der Gesundheitsversorgung zugrunde gelegt wird. Damit würden wir
weitere Vorurteile gegen Frauenpolitik eher auf- als abbauen. Das wird der Sache nicht gerecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Für die F.D.P. wird die aktuelle Situation von drei Bereichen bestimmt, in denen dringend etwas verbessert
werden muss. Es sind das erstens die Forschung über geschlechtsspezifische Krankheitsbilder, zweitens die
Prävention - Stichwort: Früherkennung - und drittens die
Krebsdiagnostik und -therapie.
Ich fange einmal mit dem letzten Punkt an. Wir teilen
die Auffassung, dass Früherkennungskonzepte verstärkt ausgebaut werden müssen. Ich bin 1994 noch für
neun Monate im Bundestag gewesen. Ich habe mich bereits damals in diesen wenigen Monaten mit dem Problem
des Brustkrebses in Deutschland intensiv beschäftigt und
das vorbildliche Screening-Programm der Niederländer
kennen gelernt. Ich bin nach Nimwegen gefahren und
habe die Chancen, die Frauen in Nimwegen im Vergleich
zu den Frauen haben, die etwa in Kleve zu Hause sind, mit
großem Interesse wahrgenommen.
Ich war nach meiner Rückkehr in den Bundestag vor
knapp zwei Jahren über den Stand der Entwicklung erschüttert. Es hatte sich nämlich wirklich wenig getan.
({2})
Das gilt für die zwei Jahre der neuen Bundesregierung wie
auch für die Zeit der alten Bundesregierung. Wir haben
darauf viel zu wenig geachtet.
({3})
Noch heute erliegen deutsche Frauen Brustkrebsleiden in
erheblich höherem Ausmaß als Frauen in unserem Nachbarland.
Jetzt möchte ich aber ein besonderes Wort an Frau
Kühn-Mengel richten, die vorhin das Hohelied der neuen
Bundesregierung gesungen hat. Ich habe die NRW-Gesundheitsministerin Birgit Fischer, SPD, vor kurzem aufgefordert, im größten Bundesland beim Ausbau des
Krebsregisters den Anschluss an andere Bundesländer zu
suchen. Ich habe nur den lapidaren Hinweis erhalten, der
Krebsregisterbereich Münster reiche für notwendige Erkenntnisse aus. Eine Ausdehnung des Registerbezirks
solle unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten irgendwann
einmal geprüft werden. Von einer flächendeckenden Registrierung war erst gar nicht die Rede. Und das im größten Bundesland dieses Landes!
({4})
Wir müssen die Länder auffordern, mehr Einsatz bei
der Erfassung von Brustkrebsfällen durch die Krebsregister zu zeigen und eine vollständige Erfassung zu garantieren. Erst daraus können gezieltere Maßnahmen entwickelt werden, die wir alle fordern. Die Datenlage ist
und bleibt unbefriedigend und es bleibt unbefriedigend,
dass die Forschung zu weiteren geschlechtsspezifischen
Krankheitsbildern, wie sie vorhin schon genannt worden
sind - Essstörungen, Osteoporose, Karzinome, Depressionen -, deutliche Defizite aufweist.
Hierzu finden sich in beiden Anträgen Forderungen,
die auch wir unterstützen können. Es ist absehbar, dass bestimmte Erkrankungen in der Zukunft zunehmen werden.
Entsprechende Forschungsanstrengungen sind zwingend
erforderlich. Dazu ist es auch wichtig, nach Brüssel,
Straßburg und Luxemburg zu schauen. Annette
Widmann-Mauz hat darauf hingewiesen. Die Orientierung an bestimmten EU-Programmen und -Richtlinien
kann uns auch hier weiterbringen.
In Bremen soll jetzt innerhalb von drei Jahren ein
flächendeckendes Screening für Brustkrebs aufgebaut
werden. Ich denke, das ist ein gutes Signal. In den Niederlanden sank die Mortalitätsrate seit Einführung des
Screenings um 30 Prozent. Dort gibt es bereits seit vier
Jahren flächendeckende Reihenuntersuchungen.
Wodurch zeichnet sich das niederländische Modell
aus? - Es zeichnet sich durch sein striktes System der
Qualitätssicherung aus. Das ist der entscheidende Punkt.
Um die europäischen Richtlinien zu erfüllen, haben die
Niederländer 54 Mammographiezentren errichtet. Das
muss man sich einmal vorstellen. 80 Prozent der eingeladenen Frauen nehmen an der Reihenuntersuchung teil.
Die Rate der Fehlbefunde liegt bei etwa 1 Prozent. Wir sehen, wohin die Entwicklung gehen kann.
Zum Thema Gebärmutterhalskrebs hat Annette
Widmann-Mauz einiges gesagt. Auch wir wollen die
Bundesregierung dringend auffordern zu prüfen, ob zum
Beispiel Tests zur Feststellung einer Infektion mit humanen Papilloma-Viren in den Leistungskatalog der GKV
aufgenommen werden können.
Im Übrigen ist noch ein weiteres Beispiel zu nennen,
das die Schwierigkeiten der Bundesregierung mit einer
Gesundheitsförderung für die Frauen aufzeigt. Ich halte
das drohende Aus für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch für ein weiteres Beispiel mangelhafter
Frauenpolitik. Wir werden ja im Verlaufe des Abends darüber noch diskutieren.
({5})
Ich hoffe sehr, dass die Ausschussberatungen uns weiterführen. Beide Anträge sind eine gute Grundlage für die
Beratungen im Ausschuss. Ich hoffe, dass wir gemeinsam
Grundlagen schaffen können, die die Gesundheitsversorgung der Frauen da verbessern, wo es wirklich dringend
erforderlich ist.
Danke.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Christa Nickels das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich beziehe mich mit meiner Kurzintervention auf die Äußerungen von Herrn Kollegen Parr, aber auch auf Frau Kollegin Widmann-Mauz,
und zwar hinsichtlich der Forderung nach einem EU-leitliniengestützten, qualitätsgesicherten Screening für
Mammographieverfahren. Das ist absolut notwendig.
Ich brauche hier nicht noch einmal an die Argumente zu
erinnern, die Frau Kühn-Mengel genannt hat.
Es gibt in großem Maßstab kurative Mammographien,
die aber nicht qualitätsgesichert sind und auch nicht nach
den EU-Leitlinien funktionieren. Wenn man mit dem, was
zum Teil zulasten der Gesundheit der Frauen geht, aufhören würde, Frau Widmann-Mauz, dann würden die
Budgets in großem Maße entlastet. Das ist keine Frage zu
geringer Budgets, es ist eine Frage der Methode.
({0})
Wir sind hier schon erheblich weiter. Sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass wir in der Bundesrepublik kein
staatliches Gesundheitswesen haben, sondern ein gegliedertes, vielfältiges Gesundheitswesen, in dem eben auch
die Selbstverwaltungsorgane eine große und wichtige
Rolle spielen.
Kollege Parr, Sie haben gerade von der Modellregion
Bremen gesprochen. Das ist eine von drei Modellregionen, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Spitzenverbände der Krankenkassen seit langem planen.
Ich komme aus der Aachener Gegend, wo ich auch
wohne. Dort wurde viele Jahre lang in einem Verbund von
engagierten Frauen, der Krebshilfe und auch der Universitätsklinik Aachen solch ein Modellversuch vorbereitet.
Es gab auch eine Ausschreibung der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen dazu. Aachen hat dann zunächst neben Bremen
und einer weiteren Region den Zuschlag bekommen.
Frau Widmann-Mauz, allerdings haben die KBV und
die Spitzenverbände der Krankenkassen klar gesagt:
Wenn die niedergelassenen Radiologen nicht mitmachen,
können sie es nicht machen. - Aufgrund dieser Tatsache
hat unsere Region den Zuschlag dann doch nicht bekommen. Da sind 70 000 Frauen herausgefallen.
Diese Studie ist auch eine Implementierungsstudie.
Das, was Sie in Ihrem Antrag verlangen, ist auf dem Weg.
Es scheitert in bestimmten Regionen am Widerstand der
niedergelassenen Radiologen, die offensichtlich Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeiten in ihren eigenen
Praxen hegen. Wir brauchen aber bestimmte Vorgaben,
bestimmte Geräte, bestimmte Erfahrungen, bestimmte
Einladungsverfahren. Von daher ist hier überhaupt nicht
die Politik verantwortlich. Vielmehr ist es erforderlich,
auch mit den Ärzten - mit den Radiologen vor allem stärker ins Gespräch zu kommen, damit es auch wirklich
unverzüglich umgesetzt werden kann. In Bremen läuft es
Gott sei Dank. In einer anderen Region ist es auf dem
Weg. In Aachen ist es leider nicht möglich gewesen, sondern ist am Widerstand der niedergelassenen Ärzte - nicht
am Widerstand der Politik - gescheitert.
Unser Haus unterstützt das Vorhaben mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln. Wir sind diesbezüglich
schon so weit, dass es gemacht werden kann.
Was den anderen Punkt angeht, der hier auch von Ihnen, Herr Kollege Parr, angesprochen worden ist - über
das Thema Mifegyne werden wir gleich noch reden -,
werden wir - Sie haben ja selbst darauf hingewiesen -,
glaube ich, auch feststellen, dass das keine Frage der Politik ist, sondern eine Frage dessen, wie im unternehmerischen Alltag bestimmte Prozesse gestaltet werden müssen. Wir werden uns darüber zu unterhalten haben, wie
wir es vernünftig fördern können.
Danke schön.
({1})
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Frau Kollegin Nickels, zunächst möchte ich darauf hinweisen: Die
Budgetierung habe ich nicht - wenn Sie meinen Ausführungen zugehört haben - auf den Bereich des Screening-Verfahrens bezogen, sondern vor allen Dingen auf
medikamentöse Behandlungsformen, zum Beispiel auch
was den Gebärmutterhalskrebs und neue, innovative Methoden zur Früherkennung bzw. zur Behandlung anbelangt.
Zweitens: Ich habe in meinen Ausführungen - darauf
lege ich großen Wert - einen Schwerpunkt auf ein qualitätsgesichertes Screening-Verfahren gelegt. Mir ist sehr
wohl bekannt, worin die Schwierigkeiten an dieser Stelle
liegen. Sie haben einen Punkt angesprochen.
Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, dass wir ein
flächendeckendes und damit unter Einschluss der niedergelassenen Ärzte stattfindendes Screening-Verfahren bekommen. Deshalb muss ich schon fragen: Was tut denn
die Bundesregierung konkret, um die niedergelassenen
Radiologen dazu zu ermutigen, sie zu fördern und zu fordern,
({0})
die Qualität in den Screening-Verfahren zu verbessern?
Ich muss Sie, da Sie am Schluss Ihrer Ausführungen gerade gesagt haben: „Wir sind so weit, dass man es machen
kann“, fragen: Warum tun Sie es dann nicht? Es ist jetzt
die Zeit, Entscheidungen zu treffen, und sie dürfen nicht
auf die lange Bank geschoben werden.
({1})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, diese Debatte zeigt sehr
deutlich, dass wir es bei der frauenspezifischen Gesundheitspolitik mit einem wichtigen Thema zu tun haben, das sehr zu Unrecht jahrelang ein Schattendasein geführt hat. Dem kontinuierlichen und professionellen
Engagement von Frauen aus Politik, Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft ist es überhaupt zu verdanken,
dass wir hier und heute darüber sprechen.
Im Übrigen haben wir hier ein recht gutes, praktisches
Beispiel dafür, dass und wie ein geschlechtsspezifischer
Zugang eine wichtige und sehr notwendige Bereicherung
der fachpolitischen Debatte sein kann. Das ist für mich
„gender mainstreaming“ ganz konkret.
Die Frau hat das Recht, das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit zu genießen, heißt es in der 1995 in Peking verabschiedeten
Aktionsplattform zur Vierten Weltfrauenkonferenz. Von
der Verwirklichung dieses Rechts sind wir auch in der
Bundesrepublik noch recht weit entfernt. Offensichtlich
dient der medizintechnische und pharmazeutische Fortschritt nicht automatisch der Erfüllung spezifischer Bedürfnisse von Frauen in der Gesundheitsvorsorge. Auf der
Peking-plus-Fünf-Nachfolgekonferenz in New York in
diesem Jahr wurde denn auch festgestellt, dass besagter
Fortschritt einen ganzheitlichen Ansatz bei der Gesundheitsversorgung von Frauen und Mädchen, der den gesamten Lebenszyklus umfasst, sogar behindert.
Es fehlt - das ist auch in dieser Debatte schon deutlich
geworden - an geschlechtsspezifischer Forschung und
Technologie, an benutzerinnenfreundlichen Indikatoren
sowie an Daten, die nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt sind. Die bloße Apparate- und Schulmedizin
wird den meisten Frauen nicht gerecht. Frauen wollen
nicht länger Objekt von medizinischer Behandlung, sondern handelndes und entscheidendes Subjekt eines umfassenden Präventions-, Diagnose- und Heilungsprozesses sein.
In beiden heute vorliegenden Anträgen steht eine
Menge wichtiger und richtiger Details zur Frauengesundheitspolitik. Doch was wir brauchen, ist ein tatsächlicher
Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik und eine
neue medizinische Ethik. Frauen mit ihren Bedürfnissen
und ihren eigenen Entscheidungen müssen im Mittelpunkt stehen. Ärztinnen und Ärzte und das gesamte
medizinische Personal sollten sich als Partnerinnen und
Partner der Frauen begreifen. Wir brauchen einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Verschreibung von
Medikamenten und wir brauchen andere Abrechnungsmethoden. Die so genannte sprechende und hörende
Medizin muss Vorrang vor der eingreifenden Medizin haben.
Tausende Frauen könnten ihre Gebärmütter noch haben, wenn es in der Gynäkologieausbildung nicht so frauenfeindliche Regelungen gegeben hätte. Ich erinnere daran, dass angehende Frauenärztinnen und Frauenärzte erst
einmal 40 Gebärmütter entfernt haben mussten, bevor sie
überhaupt ihren Facharzttitel bekamen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „fordern statt dulden“ - mit diesem Slogan haben im September dieses Jahres mehrere Hundert Frauen für eine konzertierte Aktion
gegen Brustkrebs demonstriert. Ich war dabei und die
Entschlossenheit dieser Frauen hat mich sehr beeindruckt.
Sie haben eine ungeheure Kraft, Selbstbewusstsein und
Wut demonstriert, und das zu Recht: Wut zum Beispiel
über den Fall in Essen, bei dem 300 Frauen ihre Brüste
verloren haben, weil ein Arzt die Bilder der Mammographie nicht richtig deuten konnte. 300 Frauen wurden in
Todesangst versetzt und trugen schwere körperliche Verletzungen davon.
Zu Recht fordern die Aktivistinnen der Brustkrebsbewegung in der Bundesrepublik die Einführung qualitätsgesicherter Früherkennungsprogramme nach EURichtlinien, wie es sie in den Niederlanden, in England
und in Schweden gibt. Wir unterstützen diese Forderung
ausdrücklich. Dazu gehört auch, dass die mit Mammographien befassten Ärztinnen und Ärzte besser ausgebildet werden, um Interpretationsfehler zu verhindern. Dazu
gehört, dass Frauen wie in den Niederlanden das Recht
haben, ihre Mammographien von einer zweiten Ärztin
bzw. von einem zweiten Arzt begutachten zu lassen. Sicher ist das erst einmal teurer. Aber gerettete Menschenleben und ersparte Operationen wiegen das mehrfach auf.
Wir sollten darüber diskutieren, ob wir wie in Holland
Reihenuntersuchungen einführen. Die bereits erwähnten
Modellversuche an drei Standorten sollten so schnell wie
möglich flächendeckend ausgeweitet werden.
Fest steht: Je besser die Ausbildung des ärztlichen Personals, je besser die Betreuung der Frauen und je besser
die technische Ausstattung sind, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass Krebserkrankungen früh entdeckt werden. Natürlich muss die Teilnahme an solchen
Reihenuntersuchungen immer freiwillig bleiben.
Ich schlage vor, dass wir uns möglichst bald zu einer
interfraktionellen Initiative zusammenfinden, um umfassende Früherkennungsprogramme zur Brustkrebsbekämpfung nach EU-Richtlinie einzurichten. Das wäre
meines Erachtens - um den Titel Ihres Antrags aufzunehmen - „konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“ und wir
könnten jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen ein zukunftsweisendes Signal setzen. Denn zu Recht schreibt
die Women’s Health Coalition, ein Zusammenschluss von
Frauen aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheit und Journalismus zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen:
„Um eine frauenspezifische Forschung, Aus- und Weiterbildung und Versorgung in Deutschland im Parlament
durchzusetzen, halten wir eine überparteiliche Initiative
für notwendig.“
Bei aller Schärfe der Auseinandersetzung ist heute in
der Debatte deutlich geworden, dass es viele fachliche
Übereinstimmungen gibt. Deshalb denke ich, ist es an der
Zeit, die Bekenntnisebene zu verlassen und im ganzen
Haus gemeinsam an einem Strang zu ziehen.
Ich danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weibliche und männliche Lebenszusammenhänge
unterscheiden sich deutlich voneinander. Das spiegelt
sich nicht zuletzt auch im Erleben und Umgehen mit Gesundheit und Krankheit wider. Bis heute finden jedoch geschlechtsspezifische Aspekte hinsichtlich der Ursache,
Ausprägung und Empfindung von Gesundheit und
Krankheit in den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Wissenschaftszweigen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit.
Das ist eine Tatsache, die die SPD bereits in der letzten
Legislaturperiode erkannt hat. Frau Kollegin KühnMengel hat bereits auf den Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion von 1998 hingewiesen, der seinerzeit mit
den Stimmen der damaligen Regierungskoalition abgelehnt wurde. Deswegen wundert es mich, dass jetzt ein
Antrag der CDU/CSU-Fraktion vorliegt. Sie hätten bereits 1998 die Gelegenheit gehabt, in diesem Bereich tätig
zu werden.
({0})
Der jetzt vorliegende Antrag hat zwar den Titel „Konkrete
Gesundheitspolitik für Frauen“. Ihre Ausführungen sind
aber zum Beispiel im Bereich der Demenzkranken wenig
konkret.
({1})
Die rot-grüne Regierung ist bereits tätig geworden und
hat in dieser kurzen Zeit - es sind immerhin nur zwei
Jahre - schon eine Vielzahl von Vorhaben im Gesundheitsbereich mit frauenspezifischer Ausrichtung auf den
Weg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle als Beispiel einige Studien und Projekte nennen, die unter der Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend laufen.
Wichtig ist die „Wissenschaftliche Untersuchung zur
gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland
unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungen in West- und Ostdeutschland“, von der wir uns
aufschlussreiche Daten erhoffen. Auch erwähnen möchte
ich, dass wir eine Förderung von 8 Millionen DM für die
Modernisierung und Sanierung des Deutschen Müttergenesungswerkes sowie für die wissenschaftliche Begleitung des Berliner Modellprojektes „Signal“ durchgesetzt
haben. Dieses Projekt soll durch Sensibilisierung des
medizinischen Sektors für das Gewaltproblem eine verbesserte gesundheitliche Versorgung misshandelter
Frauen erreichen.
({2})
Leider ist es immer noch so, dass sich Studien, Therapien und Diagnosen in der Medizin vornehmlich an der
männlichen Lebenssituation orientieren. So wurden
zum Beispiel Frauen lange Zeit von klinischen Tests ausgenommen, da sie aufgrund der Schwankungen ihres Zyklus als „unsichere Versuchskandidatinnen“ galten, obwohl es gerade diesbezüglich sinnvoll gewesen wäre,
wissenschaftlich zu klären, ob Medikamente bei Frauen
wegen des unterschiedlichen Hormonhaushaltes bei gleicher Dosis ebenso wie bei Männern wirken.
({3})
Bei der Diagnose und Therapie von kranken Frauen
werden die Lebensumstände häufig zu wenig beachtet.
Ungünstige soziale Lebensbedingungen - das ist bereits
erwähnt worden -, Mehrfachbelastungen durch Familie,
Beruf, Haushalt und Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen werden als Einflussfaktoren in Bezug auf die
Gesundheit der Frau vernachlässigt. Durch diese Versäumnisse ist es zu erklären, dass es bei Frauen in
Deutschland trotz hoch spezialisierter Medizin zu vergleichsweise schlechten Behandlungsergebnissen kommt.
Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit koronarer Herzkrankheiten, die bei Frauen oft unterschätzt werden.
Es gibt zurzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber, weshalb Frauen deutlich geringer vom Herzinfarkt,
hingegen aber deutlich höher vom Schlaganfall betroffen
sind. Andererseits sterben doppelt so viele Frauen wie
Männer schon am ersten Herzinfarkt. Ein möglicher
Grund ist, dass Frauen, bedingt durch mangelndes Problembewusstsein und Fehldiagnosen, eine sachgerechte
medizinische Betreuung zu spät erfahren. Herzuntersuchungen erfolgen in der Regel bei Frauen später als bei
Männern: eine der Ursachen für die höhere weibliche
Sterblichkeitsrate bei koronaren Herzerkrankungen.
Aus diesem Grunde unterstützen wir die zurzeit
laufenden frauenspezifischen Studien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Herzinfarktrehabilitation und auch die Förderung des Herzinfarktregisters
Augsburg, aus dessen Daten interessante frauenspezifische
Ergebnisse abgeleitet werden können.
Ein weiteres Themenfeld ist bereits mehrfach erwähnt
worden, nämlich die Verbesserung der Früherkennung im
Bereich der Krebsvorsorge. Mit jährlich rund 45 000
Neuerkrankungen ist Brustkrebs die häufigste Krebserkrankung bei Frauen; die Tendenz ist steigend. Laut
offizieller Schätzung würden bei besserer Früherkennung
die Heilungschancen um 30 bis 40 Prozent höher liegen.
Die weltweit anerkannte Methode zur Früherkennung
ist die Mammographie, die allerdings - das ist auch gesagt
worden - qualitätsgesichert sein muss.
({4})
In Schweden gibt es seit über 20 Jahren ein systematisches Früherkennungsprogramm, das so genannte Mammographie-Screening - das ist bereits erwähnt worden,
am Beispiel der Niederlande -; dort ist es ebenfalls gelungen, die Todesrate um circa 30 Prozent zu reduzieren.
Zu erwähnen sind noch drei Modellprojekte im Bereich Mammographie-Screening, die zurzeit in Wiesbaden, im Rheingau-Taunus-Kreis sowie in Bremen und
Niedersachsen laufen. Im Juli dieses Jahres hat die Aufbauphase dieses gemeinsamen Projektes der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen begonnen.
Ab Januar 2001 werden alle Frauen zwischen 50 und
69 Jahren mit Wohnsitz in der Modellregion die Möglichkeit einer kostenlosen Mammographie-Untersuchung erhalten. Ich hoffe, diese Studie hat den gewünschten Erfolg
und wir können darauf aufbauen; die notwendigen Voraussetzungen bei den Radiologen müssen aber vorliegen.
Genauso wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die
Länder zu unterstützen, die Fälle von Brustkrebs in den
eingerichteten Krebsregistern vollständig zu erfassen. Ich
hoffe und wünsche mir, dass damit alle Länder beginnen
- auch Bayern.
({5})
Wir befinden uns also auf dem richtigen Weg. Der vorliegende Antrag soll den weiteren Handlungsbedarf
aufzeigen. Lehre und Forschung müssen die nötigen wissenschaftlichen Grundlagen schaffen, um die Berücksichtigung frauenrelevanter Belange im Gesundheitssystem
durchsetzen zu können. Dieses Bewertungskriterium
muss zukünftig bei allen Fördervorhaben im Gesundheitsbereich eingeführt werden.
Genauso wichtig ist es, eine kontinuierliche Berichterstattung über die gesundheitliche Situation von Frauen
vorzunehmen sowie die Prävention und den Gesundheitsschutz zu stärken.
Ich hoffe, wir werden das entsprechende Anliegen im
Interesse der Frauen gemeinsam unterstützen können.
({6})
Nun spricht zu uns die
Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Parlamentarische Staatssekretärin, im Zusammenhang mit dem,
was Sie und Frau Brandt-Elsweier vorhin zum Mammographie-Screening ausgeführt haben, würde mich einmal
interessieren, ob vielleicht auch schon einige Dinge im
Bereich der Osteoporose auf dem Weg sind; denn dieser
Bereich ist mindestens genauso wichtig und ebenfalls
frauenspezifisch. Vielleicht könnten Sie das gleich etwas
näher ausführen.
Zum Herrn Parr muss ich sagen: Männer, die aus der
Rolle fallen, hatten wir in der letzten Woche eine ganze
Menge.
({0})
Ich nenne nur einmal das Wort „basta“. Deswegen meine
ich: Es gibt keinen Nachholbedarf.
({1})
Frau Kühn-Mengel, ich möchte auch an Sie eine Bitte
richten und hoffe, dass ich es nicht umsonst tue. Ich
glaube, es ist ein grundsätzliches Problem, dass wir viel
zu viel in die Diagnose investieren und viel zu wenig in
die Therapie. Von den Forschungsausgaben werden immer wieder große Summen für den Bereich der Diagnose
verschiedenster Art aufgewandt, aber viel zu wenig für
den Bereich der Therapie. Das wird eine große Rolle spielen, wenn wir gleich über frauenspezifische Ansätze sprechen.
Ich gebe die Hoffnung ja nicht auf - das wissen einige,
die mich schon länger kennen -, dass es einzelne Bereiche gibt, in denen es einfach notwendig ist, dass alle am
selben Strick ziehen und in dieselbe Richtung gehen.
Ganz sicher ist dieses ein solcher Bereich.
Ich habe gestern im Internet nachgeschaut und festgestellt: Wenn man dort die Stichworte „Frauen und Gesundheit“ abfragt, erhält man Informationen zu Sporteinrichtungen, Fitnessstudios, Details zu Schlankheitskuren
und Wellness-Angebote; alles Angebote, die Frauen attraktiv oder fit machen oder fit halten sollen.
({2})
- Doch, Herr Parr, das ist so. Es entspricht dem alten von
Männern öfters geäußerten Spruch: Gott erhalte mir
meine Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau.
({3})
Aber nun ganz ernsthaft: Die gesundheitliche Sorge
um Frauen kann nicht auf diesen Aspekt reduziert werden.
Es ist unbestritten, dass Frauen ein anderes Verhältnis zu
ihrem Körper haben, ihn anders wahrnehmen als Männer.
Allein daraus ergibt sich die Notwendigkeit, geschlechterspezifische Ansätze in der Gesundheitspolitik zu entwickeln. Darauf haben mehrere der Vorrednerinnen bereits hingewiesen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein
wesentliches Ergebnis der Diskussion - und zwar der Diskussion beider Anträge - eine Bewusstseinsschärfung
sein muss. Es muss das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es einen enormen Nachholbedarf an gesundheitspolitischen Maßnahmen konkret für Frauen gibt.
Deshalb sollte man sich mit beiden Anträgen auseinander
setzen, denn - ich muss das ausdrücklich sagen - Ihr Antrag allein hilft nicht weiter.
({4})
Ich begrüße ihn zwar, muss aber ganz ehrlich sagen
- um Sie nicht zu sehr zu loben -, dass er sich liest, als sei
er zusammengestückelt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, wo
ich Verständnisschwierigkeiten habe und an der Umsetzbarkeit des Antrages zweifle:
Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ...
die Karriereverläufe und Situationen von Frauen in
Medizin- und Gesundheitsforschung sowie die Berücksichtigung der Ansätze und Ergebnisse der
Frauen- und Genderforschung in Lehre, Ausbildung,
Forschung und Pflegewissenschaft umfassend zu untersuchen und Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet
sind, Benachteiligungen abzubauen und frauenspezifische Krankheitsursachen und -verläufe stärker in
die Ausbildung einzubeziehen ...
Frau Nickels, herzlichen Glückwunsch, ich frage mich
nur, wann Sie das alles machen wollen, denn so viel Zeit
haben Sie in der Regierung nicht mehr.
({5})
Ich möchte nur einmal darauf aufmerksam machen. Aber
Spaß beiseite: Von der Wiege bis zur Bahre alles auf den
Prüfstand stellen zu wollen ist kaum leistbar und kaum
umsetzbar. Insofern ist Ihr Antrag an manchen Stellen
nicht nur positiv zu sehen.
Eine Grundvoraussetzung - auch das, Frau KühnMengel, muss ich hier loswerden - für ein qualifiziertes,
hochwertiges Gesundheitssystem, das Frauen und Männern nutzt, ist zweifellos, dass gute Ansätze und Ideen
auch wirklich umgesetzt werden können.
({6})
Das setzt voraus - da können Sie reden, wie Sie wollen -,
dass die Budgetierung fällt.
({7})
Lassen Sie uns nicht wie die Blinden von der Farbe reden:
Wenn die Budgetierung fiele, würden Sie es den Ärzten
wieder erlauben.
({8})
- Frau Schmidt-Zadel, Sie können krakeelen, wie Sie
wollen, an den Fakten kommen Sie nicht vorbei! -, den
Patienten das zukommen zu lassen, was sie für dringend
notwendig halten.
({9})
Das ist im Augenblick nicht der Fall. Frau Schmidt-Zadel,
das steht doch nicht nur in CDU-freundlichen Zeitungen;
das steht überall. Wir haben schon öfter darüber gesprochen: Auch wir haben den Fehler schon einmal gemacht nur haben wir daraus gelernt. Sie wollten die Erfahrung
selbst machen - aber lernen nicht daraus und ziehen daraus auch keine Konsequenzen.
({10})
Darüber hinaus gibt es in Ihrem Antrag auch Widersprüche zwischen Forderungen und Ihrem tatsächlichen
Handeln. In Ihrem Antrag steht, dass Knochenerkrankungen stärker als bisher erforscht und behandelt werden
sollen. Dazu gehört natürlich auch die Osteoporose. Die
Entkalkung von Knochen ist ein normaler Vorgang und
sicher - so alt wie Sie und ich sind, Frau Schmidt-Zadel,
auch bei uns schon fortgeschritten. Bei der Osteoporose
aber handelt es sich um eine Beschleunigung dieses Prozesses. Deswegen wäre es richtig und wichtig, recht frühzeitig, das heißt zwischen dem 45. und dem 50. Lebensjahr, diese Knochendichtemessung zu machen, um dann
sagen zu können, ob ein Eingreifen erforderlich ist.
({11})
- Doch, es ist einfach so.
Wenn man dann eingreift, verhindert man, dass die
Knochen brechen. Auf diese Weise macht sich letztlich
eine Knochendichtemessung bezahlbar. Es kann doch
nicht stimmen: Jetzt muss ich mir erst die Knochen brechen, damit die Kasse dann eine Knochendichtemessung
bezahlt.
({12})
Das hat der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen
so beschlossen. Ich muss in Richtung des Bundesgesundheitsministeriums sagen: Meiner Meinung nach wäre das
einer der wenigen Punkte gewesen, bei dem die Bundesgesundheitsministerin von ihrem Vetorecht hätte Gebrauch machen müssen. Denn diese Regelung ist einfach
nicht in Ordnung und verstößt ganz massiv gegen die Interessen der Betroffenen, hauptsächlich von Frauen.
({13})
Wir alle wissen: Über 6 Millionen Menschen sind an
Osteoporose erkrankt; das sind mehr, als es in Deutschland Diabetiker gibt. Experten sprechen bereits von einer
stummen Epidemie. 4,8 Millionen Frauen und 1,6 Millionen Männer sind betroffen. Von dieser Krankheit sind
also besonders Frauen, aber nicht nur Frauen betroffen.
Zudem wird nur bei der Hälfte aller Betroffenen das
Krankheitsbild der Osteoporose überhaupt erkannt, obwohl es, wie ich eben gesagt habe, durch eine Knochendichtemessung möglich wäre, die Krankheit frühzeitig zu
erkennen. Nur 20 Prozent der Betroffenen werden entsprechend dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt, und das, obwohl die Krankheit, wenn sie nicht adäquat behandelt wird, fortschreitet.
Ich möchte auch darauf hinweisen: Es geht hier um
Menschen und nicht um ein statistisches Abhaken. Wenn
ich mir Frauen, die unter Osteoporose im fortgeschrittenen Stadium leiden, anschaue und weiß, dass denen mit
den heutigen wissenschaftlichen und medikamentösen
Möglichkeiten hätte geholfen werden können, wenn die
Krankheit rechtzeitig erkannt worden wäre, und dass dies
nicht geschieht, weil die Krankenkasse sich weigert, die
entsprechende Untersuchung zu bezahlen, dann halte ich
das für einen Skandal,
({14})
der nach meiner Meinung dazu führen müsste, dass wir
uns alle gemeinsam auf die Forderung, die Knochendichtemessung als verbindliche Untersuchung für den Bereich, den ich expressis verbis erwähnt habe, einzuführen,
verständigen sollten.
({15})
Die WHO hat die Osteoporose als eine der zehn bedeutendsten Erkrankungen weltweit eingestuft. Das Jahr
2001 - man darf es eigentlich gar nicht laut sagen - ist von
der WHO zum „Jahr der Osteoporose“ erklärt worden. Ich
weiß nicht, was noch alles passieren muss, damit endlich
erkannt wird, dass es sich hier um eine Krankheit handelt,
die eine der zukünftigen bzw. schon existierenden
Geißeln der Menschheit, insbesondere der Frauen, sein
wird bzw. ist. Deswegen nutzt es gar nichts, sich hinter irgendwelchen parteiprogrammatischen Forderungen wie
der nach mehr Selbstverwaltung zu verstecken. Hier ist
dringender Handlungsbedarf geboten. Deshalb fordern
wir, endlich zu handeln.
({16})
Ich möchte noch zwei Probleme ansprechen, die mir
am Herzen liegen und die in den beiden vorliegenden Anträgen nicht ausdrücklich erwähnt werden. Ich bin der
Meinung, dass die Gesundheitserziehung in der Schule
- damit meine ich nicht nur die gesundheitliche Aufklärung - viel früher beginnen sollte, als das heute der Fall
ist. Wir wissen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Man
sieht am Beispiel der Kariesprophylaxe, dass gesundheitliche Aufklärung durchaus Erfolg haben kann.
Wir alle wissen, dass sich ein Großteil der Frauen lieber von Frauen und dass sich Männer lieber von Männern
untersuchen und beraten lassen. Das ist eine bekannte Tatsache. Wir haben schon öfter in anderen Zusammenhängen darüber gesprochen - das liegt mir schon lange am
Herzen -, ob es nicht überlegenswert wäre, eine Art
Mädchengynäkologie einzuführen. Ich halte zwar, wie
alle wissen, sehr viel von der Stärkung der Stellung der
Hausärztin und des Hausarztes. Aber ich bin der Meinung,
dass diesbezüglich Mädchen einer bestimmten Altersgruppe bei der Hausärztin bzw. beim Hausarzt nicht so gut
aufgehoben sind - das sollten wir inhaltlich einmal vertiefen - wie bei einer speziellen Fachärztin für Mädchengynäkologie.
Letzte Bemerkung: Wir sollten bei allen Auseinandersetzungen, die sicherlich auch richtig und notwendig sind
- dafür gab es eben einige Beispiele; weitere werden noch
folgen -, unsere Gemeinsamkeiten, die es in einzelnen
Bereichen gibt, auch nach außen deutlich machen. Deswegen hoffe ich, dass im Ausschuss über beide Anträge
erfolgreich beraten wird.
Vielen Dank.
({17})
Als Letzte in dieser
Debatte spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um die Situation der Frauen im Gesundheitswesen zu beschreiben, möchte ich gerne einen Chefarzt
zitieren, der in einem Bewerbungsgespräch gegenüber
einer Ärztin Folgendes äußerte:
Sie haben nur eine Chance, diese Stelle zu bekommen, wenn Sie Ihren Uterus im Einmachglas auf den
Tisch stellen.
Diese Einstellung ist leider kein Einzelfall. So wundert es
auch nicht, dass in leitenden Funktionen des Gesundheitswesens gerade einmal 1,2 Prozent Frauen vertreten sind.
Eine Frau zu sein zählt noch immer zu den Hindernissen
im Gesundheitswesen. Das gilt sowohl für die Karriereverläufe der Beschäftigten als auch für die Patientinnen.
({0})
- Ich finde das überhaupt nicht lustig, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU.
({1})
Männer entscheiden über frauenspezifische Belange im
Gesundheitswesen. Darunter verstehen viele nur die Bereiche „gynäkologische Krankheiten“ oder „Schwangerschaft und Geburt“. Dies ist viel zu begrenzt.
Die medizinische Forschung berücksichtigt geschlechtsspezifische Unterschiede nicht ausreichend. Sie
ist auf einem Auge blind. Dabei ist wissenschaftlich unbestritten, dass Krankheiten von Frauen und Männern unterschiedliche Krankheitsbilder und -ursachen haben. Heute
gibt es zwar gewisse Erkenntnisse über geschlechtsspezifische Unterschiede bei einzelnen Krankheiten, wie bei
Krebserkrankungen, Herz- und Kreislauferkrankungen
oder auch Depressionen. Der medizinische Fortschritt
kommt Frauen allerdings weniger zugute als Männern, weil
sich die Forschung an Männern, ihren Lebenssituationen
und ihrem Gesundheitsempfinden orientiert.
Deutlich wird das bei Herzerkrankungen. In weiten
Teilen der Gesellschaft, aber auch der Ärzteschaft, gilt
diese Erkrankung als typische Männerkrankheit; meist
wird sie sogar als Managerkrankheit benannt. Dabei ist es
für Frauen die zweithäufigste Todesursache. Statistiken
belegen, dass mehr Frauen als Männer unter 50 den ersten Herzinfarkt nicht überleben. Es besteht der Verdacht,
dass sie an dieser Krankheit leichter sterben, weil die entsprechenden Symptome eher in die Kategorie „Hysterie“
gepackt werden. Der Grund für die höhere Mortalitätsrate
für Frauen liegt oftmals in einer ärztlichen Fehlwahrnehmung und in der darauf folgenden Fehldiagnose. Für die
Frau, die den Herzinfarkt erlitten hat, kommt die Hilfe
dann womöglich zu spät; denn - Sie wissen das - manche
Behandlungsmethoden, wie die Erstbehandlung, machen
dann keinen Sinn mehr.
Außerdem wählen Ärzte für Frauen andere Therapien
als für Männer. Bei dem gleichen Krankheitsbild werden
Frauen beispielsweise doppelt so häufig Beruhigungsmittel verordnet. Sie erhalten dementsprechend auch sehr
viel häufiger eine psychiatrische Diagnose. Psychopharmaka werden verabreicht; Medikamentenabhängigkeit ist
nicht selten die Folge.
Ich komme nun zu einem Thema, das in Fachkreisen
seit Jahren diskutiert wird, ohne dass, zumindest in
Deutschland, Erfolge für die Betroffenen zu verzeichnen
wären. Ich rede vom Brustkrebs, der häufigsten Todesursache bei Frauen zwischen dem 35. und dem 64. LeBeatrix Philipp
bensjahr. Jährlich sterben inzwischen 18 000 Frauen in
Deutschland an dieser Krankheit. Circa 46 000 Frauen erkranken pro Jahr daran. Das ist jede zehnte Frau. Vor
zwanzig Jahren war es „nur“ jede 18. Frau. Diese Tendenz
ist in Deutschland leider steigend. Das müssen wir, liebe
Kolleginnen und Kollegen, stoppen.
({2})
Bei uns werden 80 Prozent der Erkrankungen durch
Selbstuntersuchung festgestellt. Dabei ist der Tumor
meist schon in einem fortgeschrittenen Stadium, das
heißt, der Knoten ist meist 1 oder 2 Zentimeter groß und
häufig nicht mehr heilbar.
In den meisten Fällen wird erst danach eine Mammographie vorgenommen. Die Qualität dieser Untersuchung
hängt, wie wir schon vorhin häufiger gehört haben, ganz
von der Arztpraxis ab: Mal ist sie besser, meistens ist sie
schlechter. Die so genannten grauen Mammographien haben eine Fehlerquote von bis zu 80 Prozent. Für die
Frauen ist das eine Katastrophe. Sie werden unnötig in
Angst und Schrecken versetzt und vielfach unnötig operiert. Das Gleiche gilt für Gebärmuttererkrankungen.
Neuere Studien zeigen eine alarmierende Entwicklung.
Demnach werden neun von zehn Gebärmutterentfernungen wegen gutartiger Erkrankung vorgenommen. Frau
Kollegin, da mangelt es nicht am Budget. Da werden Operationen einfach vorgenommen.
({3})
Bei dem Umgang mit Brustkrebs werden immer wieder die Niederlande als positives Vorbild genannt. Frau
Kollegin Brandt-Elsweier ist schon darauf eingegangen:
Die Sterberate wurde dort durch ein qualitätsgesichertes
Screening um ein Drittel gesenkt. Würde man das auf
Deutschland übertragen, könnte in Deutschland jährlich
das Leben von 5 400 Frauen gerettet werden. Das muss
unser aller Ziel sein.
({4})
Das hat auch die Anti-Brustkrebs-Initiative gefordert,
deren Vorsitzende ich hier heute begrüßen kann. Ich freue
mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
dass auch Sie die Frauengesundheit entdeckt haben; zumal
Ihr damaliger Gesundheitsminister Seehofer viele Leistungen zurückgeschraubt hat, die besonders Frauen betroffen haben. Ich stimme mit Ihnen überein: Wir brauchen
eine flächendeckende, eine qualitätsgesicherte Früherkennung, Diagnostik und Therapie. Leider können wir
das nicht sofort umsetzen, da wir die Ergebnisse der drei
Modellversuche abwarten müssen. So ist das halt mit der
Selbstverwaltung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, frauenspezifische
Gesundheitsversorgung war bis vor kurzem ein vernachlässigtes Thema. Die rot-grüne Koalition wird dafür sorgen, dass sie nicht länger ein Schattendasein fristen wird.
Ich habe von der Staatssekretärin im Gesundheitsministerium gerade gehört, dass sie dem Informationsbedürfnis
der CDU-Kolleginnen sehr gerne nachkommen will und
Material zur Verfügung stellen möchte über Mammographie-Screening und auch über Osteoporose.
({5})
Unsere Gesellschaft darf es sich nicht länger leisten,
dass Frauen medizinisch schlechter versorgt werden als
Männer. 1997 haben 16 Prozent der deutschen Frauen auf
eine entsprechende Frage geantwortet, dass ihre Gesundheitsprobleme ungenügende Aufmerksamkeit fänden. Ich finde, das sollte für uns ein Ansporn sein, mehr
für die Frauengesundheit zu tun. Lassen Sie uns diese beiden Anträge in diesem Sinne im Ausschuss behandeln!
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3858 und 14/4381 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram,
Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Reform des Behindertenrechts
- Drucksachen 14/2290, 14/3681 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Claudia Nolte für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorbereitung zur
heutigen Debatte ist mir ehrlich gesagt nicht ganz leicht
gefallen. Das hat vor allen Dingen mit der Art und Weise
der Beantwortung der Großen Anfrage meiner Fraktion zu
tun; denn alles in allem ist diese Antwort ziemlich unpräzise und zum Teil nichts sagend. Es macht eine Debatte
immer wahnsinnig schwierig, wenn man über „nichts“ reden muss.
({0})
Für mich ist die Antwort enttäuschend, wobei schwer
auszumachen ist, ob das an den Ländern liegt, weil sie zu
wenige Zahlen geliefert haben, oder aber am Bundesarbeitsministerium, das zurzeit so mit anderen Themen
beschäftigt ist, dass man dort keine Zeit und vielleicht
auch nicht so viel Ehrgeiz zur Beantwortung dieser Frage
hatte.
({1})
- Der Vertreter des Bundesministeriums kommt bereits.
Das ist schon in Ordnung.
({2})
Es ist festzuhalten, dass - mangels Masse - entweder
keine Angaben gemacht wurden oder eben die Antworten
wenig informativ sind. Man kann der Bundesregierung in
den Fällen, in denen einfach zu viel Zeit über die Dinge
vergangen ist, keinen Vorwurf machen. Das ist besonders
im Bereich des Arbeitsmarkts der Fall. Da hat die Novelle
des Schwerbehindertengesetzes die Antworten auf viele
unserer Fragen ersetzt bzw. die Fragen erübrigt; dadurch
ist das nicht mehr sonderlich aktuell. Das gilt aber nicht
für alle Fragen.
Um meine Kritik einmal an einem Beispiel festzumachen, gebe ich eine Kostprobe aus der Antwort auf die
Frage 4, in der wir ganz präzise nach den Qualifikationsmerkmalen fragen, die für integrative Kinderbetreuung
in Regelkindergärten und integrativen Unterricht in allgemein bildenden Schulen gelten sollen, und in der wir danach fragen, wie dies in den einzelnen Ländern durchgeführt werden soll; da geht es um die Größe der Gruppen
und Klassen und um die Zahlenverhältnisse zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern. In der Antwort
wird zuerst die Gesamtzahl der Plätze nach Ländern aufgeschlüsselt. Dann heißt es:
Die Größe der Gruppen schwankt zwischen der regulären Gruppengröße in manchen Fällen der Einzelintegration, also bis zu etwa 25 Kindern, und etwa
15 Kindern in Integrationsgruppen mit mehreren behinderten Kindern. Das Zahlenverhältnis zwischen
behinderten und nicht behinderten Kindern in gemeinsam besuchten Gruppen ist ebenfalls von der
Art der Integration abhängig. Bei Einzelintegration
beträgt es bis zu 1 zu 24, in Integrationsgruppen dagegen häufig 1 zu 2.
Das heißt, dazwischen sind alle Zahlenverhältnisse denkbar. Man weiß nicht, was „häufig“ heißt. Was ist eigentlich der Regelfall in den Ländern? Wie ist die Situation
vor Ort zu charakterisieren? Ich kann anhand dieser Antwort nicht bewerten, wie und mit welcher Qualität die Integration in den Ländern durchgeführt wird und in welchem Betreuungsverhältnis die Kinder betreut bzw.
geschult werden. Man kann aus der Antwort vielleicht einen Trend ablesen: In den neuen Bundesländern besuchen
anscheinend mehr behinderte Kinder integrative Regelkindergärten als in den alten Bundesländern. So wird
der Anteil der integrativ betreuten behinderten Kinder in
den neuen Bundesländern auf 62 Prozent und für das
frühere Bundesgebiet auf 36 Prozent beziffert. Ich muss
schon sagen, dass dies - wenn die Zahlen stimmen - allerdings ein positives Zeichen wäre; denn es wäre ein Zeichen dafür, dass die Umstrukturierung des Betreuungssystems in den neuen Bundesländern im Hinblick auf die
Frühförderung und vor allen Dingen im Hinblick auf die
Integration von behinderten Kindern erfolgreich war.
Man hat also die Umstrukturierung genutzt, bewusst Integrationsmöglichkeiten in den neuen Bundesländern zu
etablieren. Das heißt, wir in den neuen Ländern sind einen
Schritt weiter. Das hat, wie ich denke, in großem Maße
mit dem Engagement der dortigen Erzieherinnen zu tun,
die hier einen neuen Schwerpunkt setzen. Ich finde, dafür
verdienen diese Erzieherinnen Anerkennung und Dank.
({3})
Bei dem Besuch von Regelschulen scheint das anders
zu sein. In diesem Punkt wird überhaupt nicht auf die
neuen Bundesländer eingegangen, wobei die Antwort offen lässt, ob es daran liegt, dass die neuen Bundesländer
kein Zahlenmaterial geliefert haben, dort aber sehr wohl
integrative Beschulung in Regelschulen existiert, oder
daran, dass es in diesem Bereich überhaupt keine Entwicklung gibt. Ich finde es arg bedenklich, dass hier kaum
Aufklärung stattfindet und der Informationsgehalt äußerst
gering ist, weil gerade dieser Aspekt für mich in der
Behindertenpolitik unendlich wichtig ist. Wenn wir wirklich Integration wollen, müssen wir nämlich dafür Sorge
tragen, dass so früh wie möglich ein normaler Kontakt
zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern und
jungen Erwachsenen gepflegt und eingeübt wird, damit
das spätere Zusammensein, Zusammenleben und Zusammenarbeiten eine Selbstverständlichkeit wird. Wer Integration will, muss früh damit anfangen.
Kinder haben ja auch einen viel unkomplizierteren Zugang zu allem, was mit Behinderungen zusammenhängt.
Sie müssen nur auch eine Chance bekommen, diesen Umgang zu pflegen. Deshalb lege ich auf diesen Aspekt sehr
viel Wert. Es wäre schön gewesen, wenn die Datenbasis
hier valider ausgefallen wäre, sodass es möglich gewesen
wäre, die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu beobachten.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte einen anderen
Punkt nennen, bei dem die Antworten ebenfalls sehr unbefriedigend ausfallen. Das betrifft den gesamten Bereich
der Sozial- und Eingliederungshilfe und die Frage des
Regresses. Aus Ihrer Darstellung, dass dazu keine Angaben gemacht werden können, ergeben sich für mich zwei
Fragen: Zum einen frage ich mich, warum es Länder gibt,
die relativ detaillierte Angaben machen können - beispielsweise kennen wir Zahlen aus Bayern und Hochrechnungen für die Bundesrepublik Deutschland -, zum
anderen frage ich mich, auf welcher Datenbasis man eigentlich Gesetze erarbeiten will.
Viele Praktiker vor Ort sagen ganz klar, dass der Regress bei der Eingliederungshilfe eigentlich kaum eine
Rolle spielt, weil alle wissen, wie man ihn umgehen kann.
Das heißt also, dass sich mögliche Mehraufwendungen
bei einem Verzicht auf den Regress in überschaubaren
Grenzen halten und keine große Rolle spielen dürften.
Das kann man aber scheinbar nicht untermauern.
Ich frage mich wirklich, wie man in den Verhandlungen mit den kommunalen Spitzenverbänden, mit den
Sozial- und Finanzministern der Länder und mit dem
eigenen Finanzminister in der Bundesregierung argumentieren will, um zum Beispiel bessere Leistungen bei der
Eingliederungshilfe und der Rehabilitation oder andere
Strukturen für Behinderte zu erreichen, wenn man keine
valide Zahlenbasis hat. Ich will nun nicht einer Zunahme
der Bürokratie das Wort reden und glaube der Bundesregierung, wenn sie sagt, dass die Sozialhilfestatistik diese
Dinge nicht erfasst und dass sie nicht aufgenommen werden. Trotzdem, denke ich, ist es an der Zeit, hier die Datenbasis zu verbessern, sodass man auf dieser Grundlage
auch Entscheidungen fällen und ordentliche Aussagen
machen kann.
({5})
- Die Richtigkeit dieser Aussage, Herr Kollege, hängt ja
wohl nicht von der Stärke des Beifalls ab.
Wir haben in der nächsten Zeit ein wichtiges Gesetzesvorhaben zu beraten. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.
Es wurde angekündigt, dass hier demnächst die erste Lesung zum Sozialgesetzbuch IX stattfinden wird. Aber
auch dafür - viele Antworten auf unsere Große Anfrage
verweisen auf das zu schaffende SGB IX - braucht man
Daten. Deshalb besteht auch der Wunsch bzw. die Forderung, hier entsprechend nachzuarbeiten und valide Zahlen
zu besorgen.
({6})
Meine Kollegen werden noch vertieft auf die Themen
„Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt“
und „Eingliederungshilfe“ zu sprechen kommen. Für
mich bleibt eigentlich nur festzuhalten, dass ich größere
Erwartungen an die Beantwortung unserer Fragen geknüpft hatte und dass das, was wir hier vorliegen haben,
eine sehr schwache Datenbasis darstellt. Davon ausgehend können kaum politische Entscheidungen gefällt
werden.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile nun das
Wort dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, dem Kollegen Karl-Hermann
Haack.
({0})
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich
zunächst recht herzlich beim Bundesarbeitsministerium
für die ausführliche Beantwortung der Großen Anfrage
bedanken. Zugleich nehme ich die Kritik von Frau Nolte
auf und bestätige, dass es tatsächlich sehr schwierig ist,
valide Zahlen zu bekommen. Wir haben uns aber dafür
entschieden, im Rahmen der Neuordnung des gesamten
Behindertenrechts eine Berichtspflicht einzuführen. Darüber, wie das organisiert werden kann, wird mit dem Statistischen Bundesamt und verschiedenen anderen Einrichtungen zu reden sein.
Wir haben heute Gelegenheit, meine sehr geehrten Damen und Herren, auf der Grundlage der Beantwortung der
Großen Anfrage auch darüber zu debattieren, wie sich die
Bundesregierung die Lebensentwürfe für Menschen
mit Behinderungen vorstellt. Wir begrüßen also die parlamentarische Anfrage der CDU/CSU-Fraktion sowie die
Antwort der Bundesregierung und wollen die Gelegenheit
nutzen, etwas tiefer in die Materie einzusteigen. In diesem
Zusammenhang möchte ich deutlich machen, wie ich die
notwendigen nächsten Reformschritte im Einzelnen sehe.
Für diese Reformschritte haben wir eine gemeinsame
Grundlage, nämlich die Entschließung vom 19. Mai dieses Jahres, in der wir uns einmütig auf eine bestimmte
Struktur der Reform des gesamten Behindertenrechts festgelegt und festgeschrieben haben, wie wir den Menschen
mit Behinderungen Lebensperspektiven eröffnen wollen.
Die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion besteht aus vier
Blöcken: erstens „Entwicklungsangebote für Kinder und
Jugendliche mit Behinderungen“, zweitens „Chancen für
Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“, drittens „Eingliederungshilfe und Nachrang
der Sozialhilfe“ und viertens „Menschen mit Behinderungen und ihre Stellung in der Gesellschaft“. Im letzten
Block ist auch die Frage eines Gleichstellungsgesetzes
tangiert. Die Bundesregierung hat ausführlich geantwortet, ich beschränke mich an dieser Stelle auf drei Perspektiven der Behindertenpolitik.
Erstens erkennen wir den hohen Standard an, den die
Mittel und Einrichtungen der Behindertenhilfe in
Deutschland insgesamt erreicht haben. Dies ist nicht ein
Verdienst der Bundesregierung, die seit dem 28. September 1998 im Amt ist; das betone ich ausdrücklich. Es ist
eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und
Gemeinden, von den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen,
die in den letzten 50 Jahren Enormes an Aufbauarbeit geleistet haben.
({1})
- Das war 16 Jahre lang die alte Regierung, die allerdings
auch einiges abgebaut hat. Das zu sagen wollte ich Ihnen
heute eigentlich ersparen.
({2})
Zweitens wird deutlich, dass dennoch die Notwendigkeit besteht, neue Ansätze einzuflechten und Verbesserungen mit den und für die betroffenen Menschen zu gestalten, da sich in den letzten Jahren in der Betrachtung
der Lebensperspektiven von Menschen mit Behinderungen ein Paradigmenwechsel angekündigt hat, der dem
Grundsatz gerecht zu werden versucht, vom Fürsorgeprinzip weg und hin zu einer Form selbstbestimmten Lebens zu kommen, soweit dies in Rahmen eines Wunschund Wahlrechtes sinnvoll und möglich ist.
Drittens können wir heute erläutern, in welcher Form
die Bundesregierung die notwendigen Reformen des Behindertenrechtes vorantreibt.
Ich möchte mich vor allem dem zweiten und dem dritten Punkt widmen.
Was ist mit neuen Ansätzen in der Behindertenpolitik
gemeint? Menschen mit Behinderungen definieren sich
selbst nicht mehr als Empfänger von sozialen Leistungen.
Das heißt, auch sozialpolitische Gesetzgebung findet vor
dem Hintergrund der Forderung statt, die Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. Alle
Maßnahmen fokussieren sich in Zukunft also auf dieses
gesellschaftspolitische Ziel. So heißt es dann auch in § 1
des Referentenentwurfs zum Sozialgesetzbuch IX, Ziel
dieses Gesetzes sei es, „ihre Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zu fördern“.
Die Forderung nach Teilhabe und Selbstbestimmung
heißt für uns aber auch, dass wir uns von der Vorstellung
verabschieden müssen, wir machten Gesetze für behinderte Menschen. Nein, wir brauchen den fortwährenden
Dialog mit den Betroffenen, den Austausch über ihre Erfahrungen und die Einbeziehung ihrer Kenntnisse in das
Gesetzgebungsverfahren. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Reform des Behindertenrechtes.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
damit in vielfältiger Weise begonnen: Mit In-KraftTreten des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter hat die Bundesregierung einen
Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik für behinderte Menschen eingeleitet, der uns von einer Verwaltung des Mangels in eine Politik der aktiven Eingliederung und Integration geführt hat. Eine grundlegende
Voraussetzung für dieses Gesetz war, dass die Vertreter
der Betroffenen, so der Deutsche Behindertenrat, aber
auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, gemeinsam die Kompromisslösungen entwickelt und getragen
haben, die als Teil des Gesetzes am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft getreten sind. Auf der Ebene des Bündnisses
für Arbeit ist hier der Erfolg gesucht und auch erreicht
worden.
In diesen Tagen wird der Referentenentwurf für ein
Neuntes Buch des Sozialgesetzbuches diskutiert. Auch
hier haben wir aus zahlreichen Gesprächen Gewinn gezogen, die wir mit Behindertenorganisationen, aber auch mit
behinderten Menschen geführt haben. Wir haben nicht
ausschließlich mit Vertretern der Verbandsebene geredet,
sondern insbesondere mit den Praktikern des selbstbestimmten Lebens mit Behinderung, die beispielsweise an
Werkstattgesprächen der Koalitionsarbeitsgruppe „Behindertenpolitik“ zum Sozialgesetzbuch IX teilgenommen
haben. Der Referentenentwurf füllt das aus, was Strukturvorgabe des gemeinsamen Antrages vom 19. Mai dieses
Jahres gewesen ist.
Das Sozialgesetzbuch IX wird auch durch die Verankerung von Beteiligungsrechten dafür sorgen, dass an entscheidenden Stellen, an denen es um die inhaltliche Gestaltung der Leistungen zur Teilhabe geht - etwa in der
Beratung und in der Sicherung der Qualität -, die Kompetenz der Behindertenorganisationen und der Selbsthilfegruppen eingebunden wird.
Auch durch den Kongress „Gleichstellungsgesetze
jetzt“, an dem auf Einladung des Deutschen Behindertenrates und meiner Person etwa 700 Personen teilgenommen haben, konnte es gelingen, sich auf Wege zur Erarbeitung eines Entwurfes eines Gleichstellungsgesetzes
zu verständigen. Auch in diesem Punkt sind wir wieder
auf die Kenntnisse und die Kompetenz der selbst betroffenen Menschen angewiesen. Die wesentliche inhaltliche
Grundlage des Kongresses war der Gesetzentwurf des Forums behinderter Juristinnen und Juristen. Als Experten in
eigener Sache haben sie ein Dokument zu einem Gleichstellungsgesetz erarbeitet, das auf diesem Kongress von
vielen Seiten große fachliche Anerkennung gefunden hat.
({4})
Die durchweg positive Resonanz der Teilnehmer des
Kongresses und die offensichtliche Bereitschaft von Vertretern der Behindertenorganisationen und der Wirtschaftsverbände, die dort vertreten waren, miteinander
zielorientiert zu diskutieren, Gemeinsamkeiten zu finden
und nicht Trennendes zu betonen stellen wesentliche inhaltliche Grundlagen für die weiteren Schritte zur Umsetzung des Benachteiligungsverbotes des Grundgesetzes
dar.
({5})
An dieser Stelle will ich bemerken, dass Vertreter aller
Bundestagsfraktionen teilgenommen haben und sich an
diesem Prozess beteiligt haben: Frau Nolte von der Fraktion der CDU/CSU, Herr Beck von der Fraktion der Grünen, Frau Schwaetzer von der Fraktion der F.D.P., Herr
Seifert von der Fraktion der PDS und Frau Silvia Schmidt
von der Fraktion der SPD. Ihnen gebührt der Dank, dass
sie sich als Sprecher ihrer Fraktionen bereit erklärt haben,
an dieser Diskussion teilzunehmen. Darüber hinaus waren
Vertreter der Wirtschaft, der Verbände und anderer Organisationen anwesend. Es wird erwartet, dass Follow-upKonferenzen mit der Maßgabe stattfinden, Eckdaten für
ein Gleichstellungsgesetz zu entwickeln.
Wir werden unter meiner Führung in den nächsten
Wochen und Monaten die Ergebnisse des Kongresses auswerten. Mir liegt persönlich sehr viel daran, dabei wiederum die Kompetenz behinderter Menschen als Betroffene von Barrieren und Diskriminierungen und auch als
juristische Experten einzubeziehen. Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen hat sich angesichts der
Ergebnisse des Gleichstellungskongresses daran gemacht, seinen eigenen Entwurf zu überarbeiten, kritische
Einwände der Länder, des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und der Wirtschaft zu berücksichtigen, um
eine weitere Plattform zu konstruieren, damit nächste
Schritte in Angriff genommen werden können. Das heißt,
Karl-Hermann Haack
mit diesem Kongress sind die Gesprächsfäden weiter gesponnen worden. Die Gespräche sind nicht abgeschlossen
worden.
({6})
Ich nenne drei strategisch wichtige Punkte, die wir in
den nächsten Monaten abarbeiten müssen.
Erstens geht es um den Begriff „Barrierefreiheit“.
Die 16 Landesbauordnungen in der Bundesrepublik
Deutschland zum Beispiel definieren die Begriffe
„Barrierefreiheit“ und „Zugänglichkeit“ unterschiedlich.
Der Punkt ist: Wir müssen uns auf Bundesebene mit den
Ländern, den Verbänden und den Organisationen auf einen inhaltlich juristisch tragenden Begriff von Barrierefreiheit verständigen. Dieser Begriff muss politisch tragen
und in der konkreten Alltagsgestaltung umsetzbar sein
und er muss offen sein für Kompromisse.
Zweitens müssen wir im Zusammenhang mit dem
Gleichstellungsgesetz über eine plausible Stichtagsregelung reden, wenn sich die Alltagssituation von Menschen
mit Behinderungen tatsächlich verändern soll. Die Debatte mit der Wirtschaft wird sehr schwierig werden, aber
die Wirtschaft hat zugesagt, sich an dieser Debatte zu beteiligen und sich ihr nicht zu verschließen.
Drittens gehört zu einer mündigen Gesellschaft, dass
ein Gleichstellungsgesetz bei der Durchsetzung seiner
Ziele weniger auf Sanktionen setzt, sondern mehr darauf,
dass sowohl Betroffene als auch diejenigen, die über die
abstrakte und konkrete Infrastruktur im Alltag verfügen,
in unterschiedlichen Gebieten aufeinander zugehen und
Zielvereinbarungen treffen mit der Maßgabe, die Situation in konkreten Bereichen zu verändern.
({7})
- Bei Nichteinhaltung, Herr Seifert, gibt es dann die
Stichtagsregelung. Aber ich bin der Meinung: In einer
Bürgergesellschaft, die sich im Prinzip der Aufklärung
verpflichtet, gehört es sich, zunächst einmal in einen gemeinsamen Dialog einzutreten. Sie sagen zu Recht, es
werde seit Jahren geredet; aber jetzt packen wir es wirklich an. Wenn deutlich wird, dass ein solcher Dialog in bestimmten Bereichen unfruchtbar ist, soll die Stichtagsregelung greifen mit der Maßgabe - wie das im elterlichen
Erziehungsrecht heißt -: Wer nicht hören will, muss
fühlen.
({8})
- Nein, ich bin da anderer Meinung und wer mich kennt,
weiß, dass ich das ernst meine. - Sie können sich darauf
verlassen, dass das entsprechend in der Regelung stehen
wird.
Das am 1. Oktober in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
habe ich bereits erwähnt. Wir werden vor dem Hintergrund der allgemeinen Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt, die die Bundesregierung erreicht hat, auch das
ehrgeizige Ziel schaffen, 50 000 schwerbehinderte Menschen in Arbeit und Beruf einzugliedern.
Dies wird oft bezweifelt. Aber ich darf darauf hinweisen, dass wir alle, egal in welchem politischen Lager wir
stehen, uns in unseren Wahlkreisen durch Dialog, Aufklärung und Gespräche an Kampagnen beteiligt haben,
die dazu dienen, dass Ausbildungsplätze bereitgestellt
werden. Diese Kampagnen waren jedes Jahr erfolgreich.
So glauben wir, dass eine solche Kampagne auch auf dem
Gebiet der Arbeitsbeschaffung für Menschen mit Behinderungen Erfolg haben wird, wenn wir als Abgeordnete
bereit sind, uns in unseren Wahlkreisen vor Ort entsprechend zu engagieren.
({9})
Zu dem zweiten großen Reformvorhaben der Bundesregierung, dem SGB IX, ist in diesen Tagen der Referentenentwurf vorgelegt worden. Wir werden also bald Gelegenheit haben, uns in diesem Haus darüber auseinander zu
setzen. Dieser Entwurf steht im Zusammenhang mit der
Entschließung des Deutschen Bundestages vom 19. Mai
dieses Jahres. In dem entsprechenden Protokoll können
Sie das nachlesen, was Sie damals gemeinsam gewünscht
haben.
Im Sozialgesetzbuch IX geht es um den sozialpolitischen Pfeiler unseres behindertenpolitischen Gesamtkonzeptes. Aus dem eingangs von mir dargestellten Zusammenhang von selbstbestimmter Integration und Teilhabe
wird klar, dass das Sozialgesetzbuch IX der sozialpolitische Instrumentenkasten sein muss, um Teilhabe tatsächlich zu ermöglichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Nein, ich
habe nur noch 52 Sekunden.
Das wird doch nicht
angerechnet!
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ach ja, dann
darf er.
Herr Kollege, bitte
schön, Ihre Zwischenfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin,
dass Sie Herrn Haack aufgeklärt haben.
Herr Haack, Sie sprachen davon, dass das SGB IX der
„sozialpolitische Instrumentenkasten“ für die Teilhabesicherung sein soll, und beriefen sich auf unsere gemeinsame Entschließung. Sagen Sie bitte: Warum ordnen Sie
das Bürgerrecht auf Anerkennung der deutschen GebärKarl-Hermann Haack
densprache in das Sozialgesetzbuch ein? Dafür gibt es
meines Erachtens keinen Grund. Das ist ein Bürgerrecht.
Sie können es in einem eigenen Gesetz regeln, das aus
zwei Sätzen besteht: Hiermit erkennt der Deutsche Bundestag die Gebärdensprache an. Die Kosten für das Dolmetschen müssen übernommen werden.
Das hat nichts mit dem Sozialgesetzbuch zu tun.
Warum regeln Sie das auf die von Ihnen vorgesehene
Weise und nicht wie ein Bürgerrecht? Denn Sie sagten gerade, Menschen mit Behinderungen empfänden sich nicht
mehr als Leistungsempfänger, sondern als mündige Bürger, die entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen
können.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ich möchte
Sie gerne aufklären: In einem Gleichstellungsgesetz wird
der Satz stehen: Die Gebärdensprache wird der Lautsprache gleichgestellt. - Der Satz, den Sie zitiert haben,
wird deswegen im SGB IX stehen, weil wir die rechtliche
Grundlage schaffen müssen, Leistungen, wie die Bereitstellung von Gebärdendolmetschern, zum Beispiel in bestimmten Alltagssituationen oder am Arbeitsplatz, sozialpolitisch zu ermöglichen. Wir wollen diese Stringenz
herstellen. Das ist der Grund, warum das dort stehen soll.
Dieses Problem wird also in beiden Gesetzen, im SGB IX
und in einem entsprechenden Gleichstellungsgesetz,
geregelt. Insofern ist das dann in Ordnung.
({0})
Das Sozialgesetzbuch IX wird also, wie schon festgestellt, der sozialpolitische Instrumentenkasten sein, um in
unserer Gesellschaft eine Gleichstellung zu ermöglichen.
Das ist eine erneuerte und bürgernahe Sozialpolitik. Wir
lösen uns dadurch von dem reinen Fürsorgegedanken und
schaffen in Bezug auf entsprechende Leistungen statt einer Versorgungsstruktur eine Angebotsstruktur, mit der
Zielsetzung, sich in den Prozess der Emanzipation und der
gesellschaftlichen Teilhabe in unserer Gesellschaft einzubringen. Das ist das Ziel des Sozialgesetzbuches IX.
Drei wichtige Komplexe will ich herausgreifen: Der
erste Punkt ist, dass die Träger der Sozial- und Jugendhilfe integriert werden sollen. Sie wissen, dass wir acht
Systeme kompatibel machen müssen und den Verschiebebahnhof, der angesichts dieser acht verschiedenen
Systeme existiert, beenden müssen. Dies soll durch Koordination und Kooperation der Leistungsträger im Bereich
der medizinischen, beruflichen und sozialen Integration
geschehen.
Der zweite Punkt ist, dass wir auf Landkreisebene Servicestellen, also Auskunfts- und Beratungsstellen, einrichten werden. Das ist etwas Neues. Wir wollen den
Grundsatz einführen: Die Dienstleistung folgt dem Menschen und nicht der Mensch der Dienstleistung.
({1})
Bisher ist es so, dass alle diejenigen, die Leistungen in
Form von Teilhabe in der Gesellschaft in Anspruch nehmen wollen, acht Versicherungssysteme abklappern müssen, um zu erfahren, woher sie die entsprechende Leistung bekommen. Das wird vereinfacht, indem wir auf
Landkreisebene die acht bestehenden sozialen Sicherungssysteme in Auskunfts- und Beratungsstellen zusammenfassen. Heute Morgen habe ich den Vertretern des
Hauptpersonalrates der BfA gesagt: Damit werden keine
neuen Bürokratien aufgebaut. Vielmehr können solche
Auskunfts- und Beratungsstellen von der Selbstverwaltung im Wege der Zusammenführung bestehender personeller Kapazitäten eingerichtet werden.
Der dritte Punkt ist: Die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Betroffenen werden sichergestellt. Das
heißt, auch da lösen wir ein, was den Organisationen versprochen worden ist.
Ich lade Sie ein, auf der Grundlage des gemeinsam am
19. Mai dieses Jahres verabschiedeten Antrages den in
diesem Zusammenhang vorliegenden Gesetzentwurf einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Beratungsprozess wird weiterhin offen gestaltet werden. Wir freuen uns
schon darauf, mit Ihnen über das SGB IX zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({2})
Es ist in der Tat so,
dass gemäß der Geschäftsordnung die Antwort auf eine
Zwischenfrage nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Ich will damit aber niemanden ermuntern, pausenlos
Zwischenfragen zu stellen. Ich selbst habe, als ich noch
aktiver war, dieses Instrument sehr häufig genutzt. Denn
man kann in einer solchen Zwischenfrage sehr viel unterbringen; aber bitte nicht heute Abend.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
F.D.P.-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es hat mich verwundert, dass
Kollege Haack, der doch eine gewisse Erfahrung hat, an
dieser Stelle ermuntert werden musste, eine Zwischenfrage zuzulassen. Aber ich finde es gut, dass er dem
gefolgt ist. Auch ich bin bereit, Zwischenfragen zuzulassen - das sage ich schon einmal vorab -, und dies nicht
nur deswegen, weil ich eine Redezeit von nur sieben
Minuten habe.
({0})
Kollegin Nolte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
die heutige Debatte nicht einfach ist, wenn man die Tagesordnung wörtlich nimmt. Denn es geht um die Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Reform des Behindertenrechts.
Die Antwort der Bundesregierung umfasst zwar 41 Seiten
bedrucktes Papier; aber deren Inhalt gibt für diese Debatte
nicht sehr viel her.
Eine Sache ist mir dann aber doch aufgefallen.
({1})
Dazu gibt es, Herr Haack, konkrete Zahlen. Denn in Vorbereitung des Entwurfes eines Gesetzes zur Verbesserung
der Beschäftigung Schwerbehinderter wurde ein wenig
Recherche betrieben. Es geht um die Beschäftigung von
Schwerbehinderten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie berichten uns, dass die Zahl der behinderten Beschäftigen
bei den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern, also
denen, die mehr als 16 Beschäftigte haben, seit 1980
sinkt. Das waren 1980 noch 879 000, 1989 nur noch
739 000 und 1998 schließlich nur noch 666 000, wovon
586 000 im Westen arbeiten. Allerdings - das ist auch interessant - ist ebenfalls die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten im gleichen Zeitraum zurückgegangen, nämlich von 7,6 im Jahr 1980 auf nunmehr 5,7.
Im gleichen Zeitraum ist die Ausgleichsabgabe gestiegen. Bei der Debatte im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigung Schwerbehinderter haben
wir darüber ja diskutiert. Das heißt, dass sich die Unternehmen offensichtlich eher freikaufen, als einen Schwerbehinderten einstellen. Herr Haack, das ist die eine Seite,
die vielleicht nicht ganz überraschend ist.
Was ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe, ist
die andere Seite, dass in den Ausführungen der Bundesregierung nämlich steht, dass der Beschäftigungsanteil
Schwerbehinderter bei den nicht beschäftigungspflichtigen Unternehmen im gleichen Zeitraum von 63 000 auf
109 000 angestiegen ist, sich also nahezu verdoppelt hat.
({2})
Das muss man sich doch einmal - ich habe das getan auf der Zunge zergehen lassen und man muss sich fragen,
weshalb die Entwicklung, also auf der einen Seite Rückgang, wo Beschäftigung Pflicht ist, auf der anderen Seite
Beschäftigungsausbau, wo es keine Beschäftigungspflicht gibt, so ist, also praktisch die Freiwilligkeit zum
Tragen kommt. Bedauerlicherweise sind die Zuwächse
bei den beschäftigungspflichtigen Unternehmen nicht
nach Größenklassen aufgeschlüsselt worden. Ich könnte
mir vorstellen, dass die Zuwächse gerade in den Bereichen stattfinden, in denen es den besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte nicht gibt.
Hier sollten wir - dazu lade ich wirklich ein - noch einmal offen miteinander nachdenken. In dem Gesetz zur Beschäftigung Schwerbehinderter haben Sie die Regelung
für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten bewusst locker
gelassen. Es gibt auch ganz kleine Unternehmen, in denen
der besondere Kündigungsschutz nicht gilt. Wir sollten
überlegen, was wir in dem Zwischenbereich, also den
kleinen bis mittleren Unternehmen, tun können, um auch
sie mehr als bisher, möglichst auf der Basis der Freiwilligkeit, in die Beschäftigung von Schwerbehinderten einzubeziehen.
({3})
Herr Haack, Sie haben ja selbst den Vorwurf der Inhaltslosigkeit, den auch ich mir zu Eigen mache, dadurch
unterstrichen, dass Sie in die Zukunft geschaut und gefragt haben: Was wollen wir da jetzt machen?
Ich muss dazu eine Bemerkung machen. Sie haben gesagt, das müsse man alles an dem gemeinsamen Beschluss
messen, den am 19. Mai dieses Jahres alle Fraktionen dieses Hauses gefasst haben. Dieser Beschluss ist wichtig.
Wir stehen dazu. Ich freue mich, dass er so zustande gekommen ist. Er stellt so etwas wie einen gemeinsamen
Nenner der behindertenpolitischen Auffassungen in diesem Haus dar. Aber Sie müssen schon zulassen, dass wir
Sie nicht nur daran messen, Herr Haack, sondern natürlich
auch an dem, was Sie vor der letzten Bundestagswahl und
auch kurz danach gesagt haben.
({4})
Da fällt mir auf, dass es an der einen oder anderen
Stelle Wunden gibt, in die wir natürlich nicht zögern werden den Finger zu legen und an ihnen vielleicht auch noch
ein bisschen zu rühren.
Ich will einige Aspekte nennen. Mir fällt dazu die
Frage der Nachrangigkeit der Sozialhilfe ein. Von Ihrer
Seite gab es dazu immer wieder sehr vollmundige Aussagen,
({5})
dass das eigentlich ein Urübel der Versorgung behinderter
Menschen in unserem Land sei. Dazu ist - zumindest gemessen an dem, was wir bisher kennen - in Ihrem Gesetzentwurf nichts enthalten. Nun kann man sagen: Na
gut, er ist jetzt in der Evolution vom Diskussionsentwurf
über mehrere Vorreferentenentwürfe immerhin zum nicht
abgestimmten Referentenwurf mutiert;
({6})
da passiert vielleicht noch etwas, bis das Ganze im Gesetzgebungsverfahren in erster Lesung hier landet. - Ich
muss dazu sagen: Die Nachrangigkeit der Sozialhilfe ist
eine zentrale Forderung, an der wir Sie messen werden.
({7})
Es ist sicherlich wichtig und richtig, dass jetzt Beratungsstellen geschaffen werden und ein Behinderter nicht
mehr von Pontius zu Pilatus laufen muss, um am Schluss
zu wissen, in welcher Höhe und vor allen Dingen gegen
wen er einen Anspruch hat. Wir müssen - weil das meines
Erachtens mit Art. 3 Abs. 3 auf Dauer nicht vereinbar
ist - den unwürdigen Zustand der Nachrangigkeit der Sozialhilfe beenden, weil er insbesondere in den Bereichen,
in denen behinderte Menschen den Schutz und die Betreuung einer Werkstatt für Behinderte suchen, zu unwürdigen Zuständen führt.
({8})
Jetzt wäre übrigens der richtige Zeitpunkt, mir eine
Zwischenfrage zu stellen. Meine Redezeit läuft nämlich
ab.
({9})
Die würde ich jetzt
nicht mehr zulassen, Herr Kollege.
Wir sind in der Situation, dass erstmals nach dem Kriege in Deutschland eine
Generation behinderter Menschen in die Lage kommt,
Vermögen zu erben. Ich werde nicht müde, zu sagen - das
muss infolge Zeitablaufs mein letzter Punkt sein -: Eine
Neuregelung muss es auch leisten, dass behinderte Kinder
nicht mehr gegenüber ihren nicht behinderten Geschwistern benachteiligt werden
({0})
und dass auf irgendwelche Stiftungskonstruktionen
zurückgegriffen wird. Es muss vielmehr möglich sein
- auch das verstehe ich unter gleichberechtigter Teilhabe -, dass diese Menschen einen neuen Status bekommen und eben nicht mehr mit der Sozialhilfe abgefunden
werden und vor allen Dingen nicht mehr ihr Vermögen
einbringen müssen.
Ich hätte gern noch mehr zu anderen Fragen gesagt, die
in Ihrem Entwurf offen sind, aber Sie haben uns ja Hoffnungen gemacht, dass der abgestimmte Referentenentwurf jetzt bald vorliegen und die erste Lesung stattfinden
wird. Dann werde ich gern Gelegenheit nehmen, die weiteren Punkte vorzutragen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte
Frau Nolte, dass Ihnen die Vorbereitung auf diese Debatte
schwer gefallen ist, mag ja auch daran liegen, dass Sie die
Bewegung, die in die Behindertenpolitik gekommen ist,
anerkennen,
({0})
dass wir eine ganze Reihe von sehr, sehr positiven Maßnahmen schon ergriffen haben und auch noch ergreifen
werden.
Auf einen Punkt, den Sie hier angesprochen haben,
würde ich gern eingehen, weil er mich mindestens genauso aufregt wie Sie: Das ist die Integration von behinderten Kindern gerade in Regelschulen. Ich bitte Sie einfach, einen Blick in das von uns beiden geliebte Thüringen
zu werfen, weil gerade dort die Integration von behinderten Kindern an Regelschulen das wohl Hinterwäldlerischste ist, was wir in Deutschland haben. Dazu kann
ich nur sagen: Hier regiert die Union allein, hier könnte
man Integration verwirklichen. Schon bei Einzelfällen,
deren ich mich angenommen habe, war es katastrophal
schwierig, nur an der einen oder anderen Stelle dafür zu
sorgen, dass es solche Integration tatsächlich gibt. Hier ist
nicht der Ruf nach mehr Zahlen, sondern eindeutig das
Engagement im eigenen Bundesland der richtige Ansatzpunkt.
({1})
Trotzdem freut es mich, dass wir aufgrund dieser Anfrage hier diskutieren können.
Ich möchte keine weitere Rückschau auf das, was
während der Zeit der alten Bundesregierung passierte
oder auch nicht passierte, halten, sondern mich auf das,
was wir in der ersten Halbzeit dieser Legislaturperiode
geschafft haben, und auf das, was wir uns noch vorgenommen haben, konzentrieren. Über einiges davon ist
hier schon diskutiert und berichtet worden.
Neben den Verbesserungen, die wir bereits in der Gesundheitsreform für Menschen mit Handicap durchsetzen konnten - ich erinnere besonders an die Stärkung
der Selbsthilfe, die ja eine ganz zentrale Frage für Menschen mit Behinderung ist -, haben wir im Sommer das
Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter verabschiedet. Wir können dazu heute natürlich noch keine Bilanz ziehen, denn es ist erst vor ein paar
Tagen in Kraft getreten. Dennoch sind wir der Meinung,
dass die spezifische Arbeitslosigkeit von Menschen mit
Behinderung in unserem Land immer noch viel zu hoch
ist. Sie zu senken, darauf zielen die entsprechenden Maßnahmen in unserem Gesetz, das zusammen mit Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und Behindertenverbänden verabredet worden ist.
Wir wollen in den nächsten zwei Jahren
50 000 Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap zusätzlich schaffen. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Mittel aus der Ausgleichsabgabe zukünftig vorrangig für die
Integration von Behinderten am allgemeinen, also am ersten Arbeitsmarkt einzusetzen. Dazu gehört die Förderung
und der Auf- und Ausbau von Integrationsfachdiensten,
dazu zählen Arbeitsmarktprogramme für besondere Gruppen von Schwerbehinderten, die Ausbildung von Jugendlichen und die berufliche Förderung und Integration von
schwerbehinderten Frauen.
Ich glaube, die Tatsache, dass wir am ersten Arbeitsmarkt den deutlichen Schwerpunkt setzen, zeigt in der
Tat, dass wir es hier mit einem Paradigmenwechsel zu tun
haben. Gerade wir Grüne haben immer eingefordert, dass
Menschen mit Handicap - im Übrigen für jeden von uns
selbstverständlich - das Recht auf Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zugestanden wird. Auch dafür stehen die bisherigen gesetzlichen Initiativen.
({2})
Deswegen freut es mich besonders, dass wir im novellierten Schwerbehindertengesetz endlich den Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschreiben konnten. Die
entsprechenden Verordnungen werden erstellt und damit
erhoffen wir uns ganz wesentliche Verbesserungen für die
Betroffenen. Statt wie vormals viel zu schnell in Sondereinrichtungen gefördert und „aufbewahrt“ zu werden, bekommt nun jede und jeder, die das möchten, individuelle
persönliche Hilfe. Das bedeutet: Keine Aussonderung
mehr von Menschen mit Behinderungen.
Dazu zählen auch die Integrationsfachdienste, die seit
Jahren eine gute Arbeit vor Ort leisten und eine wichtige
Lücke in der Vermittlung von schwerbehinderten Menschen gefüllt haben.
({3})
Und dazu zählen die Integrations- und Teilzeitfirmen, die
längst ihren Platz insbesondere im Dienstleistungsbereich
gefunden haben.
Die neue Politikausrichtung findet sich auch im geplanten Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Nach zahlreichen Beratungen mit den Behindertenorganisationen, den
Vertretern der Länder und der Sozialleistungsträger hat
das federführende Ministerium einen Referentenentwurf
vorgelegt. Wir werden darüber in den nächsten Wochen zu
diskutieren haben. Lassen Sie mich jedoch bereits auf einige Punkte eingehen, die uns in diesem Zusammenhang
besonders wichtig sind.
Grundsätzlich geht es darum: Rehabilitation soll früh
und umfassend geleistet werden. Dazu bedarf es einer
raschen Abklärung des Rehabilitationsbedarfs; Herr
Dr. Kolb hat es angesprochen. Hierzu werden Servicestellen eingerichtet, die nicht nur beraten sollen, sondern
die den Rehabilitationsbedarf feststellen und den Rehabilitationsträger ausfindig machen sollen, die den Menschen während des gesamten Zeitraums der Antragstellung zur Seite stehen und die Hilfe zwischen Trägern und
Beteiligten koordinieren, die von der Antragstellung bis
zum endgültigen Bescheid Unterstützung leisten und darauf drängen, dass eine rasche Bearbeitung der jeweiligen
Anträge erfolgt. Wir können uns natürlich vorstellen, dass
solche Servicestellen einen noch viel weiter gefassten
Auftrag erhalten, denken aber, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist.
({4})
Außerdem geht es natürlich darum, den Fokus auf ambulante Maßnahmen zu richten. Dazu gehört die Ermöglichung - und auch das ist ein wirklich großer Schritt nach
vielen Jahren Behindertenbewegung - eines persönlichen Budgets, mit dem sich die Betroffenen ihre Hilfe
selbst organisieren können, mit dem sie endlich mehr
Wahlmöglichkeiten bekommen.
({5})
- Nicht à la Rheinland-Pfalz; da sind wir uns einig, Herr
Seifert. Trotzdem ist, glaube ich, das persönliche Budget
ein riesiger Schritt, den wir auch gemeinsam gehen sollten.
Eine seit vielen Jahren erhobene Forderung setzen wir
nun um: Die Sozialhilfe und die Jugendhilfe werden in
den Kreis der Rehabilitationsträger aufgenommen. Was
uns wichtig ist: Die Verbände und die Selbsthilfegruppen,
einschließlich der Interessenvertretungen behinderter
Frauen, bekommen explizit festgeschriebene Beteiligungsrechte, und zwar nicht nur beim Erstellen und bei
der Diskussion der Gesetzentwürfe, wie wir das in der
Vergangenheit gehandhabt haben, sondern sie werden an
der Erarbeitung der Vereinbarungen mit dem Rehaträger,
an der Bereitstellung der erforderlichen Rehabilitationseinrichtung und -dienste, an der Vorbereitung der Vereinbarungen eines gemeinsamen Qualitätssicherungssystems der Rehaträger, an den gemeinsamen Servicestellen
und an der Beratung sowie der Erörterung des Berichts
der Rehaträger über die mit den gemeinsamen Servicestellen gemachten Erfahrungen beteiligt
({6})
- ein sehr umfassendes Beteiligungsrecht. Ich glaube,
dass das auch eine neue Qualität in die Bearbeitung bringt,
eine neue Qualität vor allem auch im Sinne von Selbstbestimmung.
Dienstleistungen und Einrichtungen sollen Menschen
mit Handicap einen möglichst weiten Raum für eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Gestaltung des
Lebens belassen bzw. ermöglichen. Wir stärken das
Wunsch- und Wahlrecht.
Lassen Sie mich auch noch ein Wort zur Gebärdensprache sagen, Herr Dr. Kolb, dazu, weshalb die Gebärdensprache - Herr Haack hat es schon erwähnt - bereits
im SGB IX eine Rolle spielt.
({7})
Das eine ist natürlich, dass wir die Maßnahmen des
SGB IX, die vermutlich vor den Bestimmungen des Antidiskriminierungsgesetzes in Kraft treten werden, darauf
abstimmen wollten, dass hörbehinderte Menschen diese
Maßnahmen auch tatsächlich in Anspruch nehmen können und die entsprechenden Hilfen bekommen, und dafür
Sorge tragen wollten, dass die entsprechenden Kriterien
entwickelt werden. Zugleich ist es - da stimmen wir vollkommen überein - notwendig, das im Antidiskriminierungsgesetz zu machen. Ich gebe zu, dass die Reihenfolge
ungewöhnlich ist. Aber ich glaube, es geht im Wesentlichen darum, dass diejenigen, die davon betroffen sind, das
tatsächlich in Anspruch nehmen können.
({8})
Das Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz - ich habe es gerade erwähnt - wird das dritte große
Vorhaben sein.
Der Gleichstellungskongress ist hier bereits erwähnt
worden.
Wir können feststellen, dass Gleichstellung für Menschen mit Handicap inzwischen auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens bis hinein in die Wirtschaft stößt.
Deshalb werden wir konsequent dafür eintreten, dass das
Versprechen der Koalition, ein Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderungen in dieser Legislaturperiode auf den Tisch zu legen, eingehalten wird.
({9})
Wir haben als Fraktion ein Eckpunktepapier auf
Grundlage des Gesetzentwurfes der behinderten Juristinnen und Juristen verabschiedet und werden es schon in der
nächsten Woche in die Arbeitsgruppe der Koalition zu
diesem Thema einbringen. Wir setzen uns dabei für die
barrierefreie Gestaltung neuer öffentlicher Verkehrsmittel
und Gebäude ein. Wir setzen uns dabei für eine bürgerrechtsorientierte Definition von Behinderung ein. Wir setzen uns für wirksame Durchsetzungsinstrumente wie ein
Verbandsklagerecht ein - auch hier ein Wechsel im Paradigma. Wir setzen uns für die Verbesserung der Gleichstellung behinderter Frauen und für den Abbau von Barrieren im Bereich der Kommunikation - wir haben gerade
darüber gesprochen - für hör- und sehgeschädigte Menschen ein.
Auch dabei geht es um die Einbeziehung der Betroffenen. Der Kongress war dafür, wie ich denke, ein wirklich guter Beginn. Ich hoffe, dass der Wechsel in der Herangehensweise an solche Methoden nicht daran scheitert,
dass wir uns parteipolitisch auseinander dividieren. Vielmehr sollten wir das in der Tat gemeinsam diskutieren.
„Behindert ist man nicht, behindert wird man“, wie der
Slogan der Aktion Grundgesetz richtig sagt. Dem gilt es
weiter entgegenzutreten. Ich glaube, dass wir mit dem,
was wir getan haben, und mit dem, was wir in dieser Legislaturperiode noch vorhaben, an dieser Stelle wirklich
auf dem richtigen Weg sind, und zwar nicht mit kleinen
Trippelschritten, sondern mit großen Schritten. Es gilt,
weiter Barrieren und Behinderungen durch die Gesellschaft abzubauen. Ich wünsche uns, dass wir das gemeinsam in aller Konsequenz tun können.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort für die PDSFraktion hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
den Tribünen! Die erste Hälfte der Legislaturperiode kann
man als Zeit der Ankündigungen verbuchen. Die zweite
Hälfte der ersten Hälfte war die Zeit der Vorentwürfe,
Rohentwürfe, Vorrohentwürfe und Rohvorentwürfe. Ich
will darauf hinweisen: Inflation entwertet. Wenn man irgendetwas zu oft ankündigt, zu oft vorlegt, immer wieder
verändert und meistens eher verschlimmbessert, wird es
immer wertloser.
({0})
Jetzt sollen wir in die Phase der Taten eintreten, wenn
ich Herrn Haack richtig verstanden habe. Ich bin gerne bereit, diese Debatte dazu zu nutzen, darüber zu reden. Denn
die Antwort auf die Große Anfrage ist wirklich der Rede
nicht wert.
({1})
Die Große Anfrage - das will ich gern konzedieren, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - ist
schon okay. Aber die Antwort ist nicht der Rede wert.
({2})
Nun aber zur Sache. Jetzt geht es also in die Phase des
Umsetzens. Wir haben das Schwerbehindertengesetz novelliert. Wir wollen einmal abwarten, welche Wirkungen
es entfaltet. Fakt ist, dass dort zwar ein Rechtsanspruch
auf Arbeitsassistenz formuliert wurde, aber nicht drin
steht, was Arbeitsassistenz ist. Wenn ich jetzt von den
Hauptfürsorgestellen, den Integrationsfachdiensten und
sonstigen Leuten, die damit beschäftigt sind, erfahre, dass
es darauf hinausläuft, dass sich Assistenten einen Behinderten „halten“ und damit eine Beschäftigung für sich haben, dann kann das nicht der Zweck des Schwerbehindertengesetzes sein.
Wir sollten in dieser Woche Ihr neu vorgelegtes Erwerbsminderungsrentengesetz verabschieden. Es ist doch
symptomatisch, dass es nicht daran gescheitert ist, dass
die dort festgelegten Leistungen schlecht sind und Menschen mit Behinderungen daran hindert zu arbeiten,
sondern daran, dass der Verschiebebahnhof zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung aufgeflogen ist. Wenn es weiterhin immer nur auf das Monetäre hinausläuft und nicht die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben der
Gemeinschaft im Mittelpunkt steht - das Projekt scheitert,
wenn dieser Teilhabeaspekt zu gering oder gar nicht vorhanden ist -, dann sehe ich nicht den Paradigmenwechsel,
von dem Sie hier immer reden. Es nützt nichts, davon zu reden. Sie müssen handeln. Hier bin ich wieder bei meinem
einleitenden Satz, dass Inflation entwertet. Reden Sie nicht
so häufig von einer Sache, sondern tun Sie lieber etwas!
Erlauben Sie mir noch einmal darauf hinzuweisen:
Wenn wir Gleichstellung erreichen wollen, dann reicht es,
liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, nicht aus, ein Antidiskriminierungsgesetz zu machen, sondern dann brauchen wir neben dem Verbot der Diskriminierung auch
noch das Gebot der Gleichstellung. Das wiederum geht
nicht ohne einen realen Nachteilsausgleich. Es gibt nun
einmal bestimmte Benachteilungen, die in den Behinderungen begründet sind. Dafür können die Menschen
nichts, die diese Handicaps haben, sondern die meisten
dieser Behinderungen werden von anderen verursacht:
durch Stufen, durch unbenutzbare Straßenbahnen und
Busse, durch unbedachtsames Verhalten und so weiter.
Diese Nachteile müssen konkret ausgeglichen werden.
Dann bringen ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichstellungsgebot wirklich reale Verbesserungen im Leben.
Dazu brauchen wir das Leistungsgesetz. Sie haben
aber klipp und klar gesagt, dass Sie dies nicht machen
wollen. All das, was Sie sagen und tun, darf am Ende
nichts kosten. Wer in der Behindertenpolitik ehrlich ist,
der weiß, dass die echte Verbesserung der Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft Geld kostet. Dass es am Ende in einer gesellschaftlichen Gesamtrechnung etwas bringt, will ich nicht groß
ausführen. Aber erst einmal muss vonseiten des Staates
und auf allen Ebenen - von der Kommune über den Landkreis, das Land und den Bund bis zur EU - etwas getan
werden. Das kostet Geld, Initiativen und Ideen. Es gilt,
nicht nur zu reden; denn das führt dazu, dass am Ende gute
Gedanken eher inflationär entwertet werden.
Ich danke Ihnen trotz des Dazwischenmurmelns für die
Aufmerksamkeit. Ich gehe davon aus, dass zumindest
draußen im Lande das gehört wird, was hier gesagt wird.
Vor allen Dingen wird darauf geachtet, was Sie wirklich
tun.
Ich danke Ihnen.
({3})
Der nächste Redner ist
der Kollege Matthäus Strebl für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn
ich die gestrigen Arbeitsmarktzahlen aus Nürnberg betrachte, dann stelle ich fest, dass sie eine leichte Entspannung zeigen. Dieser Arbeitsmarkttrend ist im Übrigen
nicht das Produkt dieser Bundesregierung. Die stärkste
Entspannung auf dem Arbeitsmarkt hatten wir bereits
- ich darf daran erinnern - 1998 mit über 400 000 Arbeitslosen weniger.
Die demographische Entwicklung - mehr Arbeitnehmer gehen in Rente, als junge Arbeitnehmer nachkommen -, aber auch die Neugestaltung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse haben die Wirkungen in diesem
Jahr zumindest statistisch verstärkt. Bei aller Bescheidenheit: Diese Bundesregierung erntet die Früchte, die ihre
Vorgängerregierung gesät hat.
({0})
Die Arbeitslosigkeit von Behinderten verläuft parallel
zur allgemeinen Arbeitslosigkeit. Deshalb sind Wachstum
und die Bekämpfung der allgemeinen Arbeitslosigkeit
auch Schritte zur Integration von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt. Erst wenn dieses Ziel umfassend erreicht ist,
haben wir das Diskriminierungsverbot, das die unionsgeführte Bundesregierung am 27. Oktober 1994 im Grundgesetz verankerte, mit Leben erfüllt.
Heute geht es in der Behindertenpolitik weniger um
Fürsorge als vielmehr um Hilfe zur Selbsthilfe;
({1})
es geht um die Selbstbestimmung von behinderten Menschen. Deshalb unterstützen wir das Vorhaben, in einem
Sozialgesetzbuch IX das Behindertenrecht zu straffen,
Überschaubarkeit zu schaffen und eine höhere Effizienz
zu erreichen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Wir werden
auch zusätzliche Gelder - so möchte ich feststellen - mobilisieren müssen. Darüber sollten wir ehrlich diskutieren.
Mittelpunkt all unserer Bemühungen muss jedoch die
Vermittelbarkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt sein. Von
daher sind die Bemühungen der Arbeitsämter zu verstärken, um eine wirksame Hilfe zur Integration zu sein. Wie
dringend diese Aufgabe ist, zeigt die Zahl von über
800 000 Bewerbern für Ausbildungsstellen - davon
39 000 Behinderte -, die im letzten Jahr bei der Bundesanstalt für Arbeit gemeldet waren. Von diesen 39 000 haben 6 729 eine betriebliche Ausbildung begonnen.
Dass diese Integration nicht nur menschlich geboten,
sondern auch finanziell sinnvoller ist, versteht sich von
selbst. Ein wichtiges Instrument kann die persönliche Arbeitsassistenz sein. Sie entlastet das Unternehmen oder
auch die Dienststelle und schafft eine Vertrauensgrundlage für die Betroffenen. Grundsätzlich halte ich sehr viel
von der Idee, vorrangig den Menschen selbst zu fördern,
beispielsweise über ein persönliches Budget.
({2})
Die skandinavischen Länder zeigen uns, wie aus Leistungsempfängern auf dem Dienstleistungsmarkt Kunden
werden.
({3})
Dies stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die Selbstbestimmung des behinderten Menschen. Eine Verlagerung
von der Objektförderung zur Subjektförderung sollten wir
parteiübergreifend nicht nur bei diesem Thema, sondern
auch bei der Familienförderung prüfen und ebenfalls diskutieren. Die 7 Millionen Behinderten fordern unsere Solidarität. Diese müssen wir auf allen Ebenen leisten.
Wie sieht es mit barrierefreiem Bauen aus - auch
wenn sich ein Unternehmen neu gründet?
({4})
Durch Neugründungen entstehen die meisten Arbeitsplätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmen. Deswegen sollten die Förderrichtlinien hier ebenfalls vereinfacht werden.
Wir könnten uns auch ein Kombilohnmodell vorstellen, das über die Sozialhilfe und über die Arbeitslosenhilfe behinderten Menschen, wenn sie eine Arbeit aufnehmen, einen höheren Hinzuverdienst ermöglicht.
Warum sollte es bei dieser Zielgruppe nicht möglich
sein - meinetwegen befristet auf fünf Jahre -, ein Erwerbseinkommen mit einem 25-prozentigen Zuschuss
aus der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe zu kombinieren?
({5})
Lohnkostenzuschüsse auf dem ersten Arbeitsmarkt helfen
den Unternehmen und den Arbeitnehmern, die dann eine
neue Perspektive finden. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe könnten so als Brücke auf den Arbeitsmarkt genutzt
werden. Hierüber bieten wir eine vorurteilsfreie und ergebnisoffene Diskussion an.
({6})
Die neuen Technologien - ein weiterer Schritt - und
die Stärkung des Dienstleistungssektors helfen auch den
Behinderten. Elektronische Heimarbeitsplätze, Nachbarschaftsbüros und mobile Kommunikation können die Integrationskräfte ebenfalls stärken.
Es ist gut, dass der frühere Widerstand einiger Gewerkschafter und Sozialdemokraten gegen diese neuen
Formen der Arbeit einer realistischen Sichtweise gewichen ist, sodass wir heute weniger eine Risikodebatte
führen müssen, sondern vielmehr eine Chancendebatte
führen können. Wir wollen bei diesem wichtigen Thema
einen parteiübergreifenden Konsens. Wir wollen eine Vernetzung von kommunaler, tariflicher, Landes- und Bundesebene mit den freien Trägern.
Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben hier
gute Zeichen gesetzt. Die Zusammenarbeit zwischen Opposition, wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen
und Regierung funktioniert aber nur, wenn auf gleicher
Augenhöhe diskutiert wird. Auch ein Bundeskanzler
sollte zusammenführen und nicht als Sonnenkönig andere, zum Beispiel den ÖTV-Vorsitzenden Herbert Mai,
brüskieren, wie dies am vergangenen Sonntag - ich kann
das sagen, weil ich dabei war - auf dem 14. Gewerkschaftstag der ÖTV in Leipzig geschehen ist.
({7})
Äußerungen, wie sie auf dem ÖTV-Kongress gefallen
sind, vergiften das Klima; das war kein Machtwort, das
war eine verbale Rüpelei, ich möchte fast sagen: eine eiskalte Arroganz gegenüber den Kolleginnen und Kollegen
der ÖTV.
Ich möchte zum Schluss appellieren: Etwas mehr Verlässlichkeit würde unserer Politik besser nützen. Seien Sie
zur Zusammenarbeit bereit! Das Ziel ist die vollständige
gesellschaftliche Integration der behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Über die Wege zu diesem Ziel wünsche ich mir eine tabufreie Diskussion.
({8})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss im
Vorfeld auf einige Punkte eingehen: Es ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn die CDU von den Früchten der Vorgängerregierung spricht. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Drucksache 13/9514 vom 28. Juli 1998, in
der es heißt: Gleichstellungs- oder Antidiskriminierungsgesetze zugunsten behinderter Menschen, nach amerikanischem oder anderen Vorbildern gefordert, würden
nach Auffassung der Bundesregierung jedoch in der Sache kaum weiterführen.
({0})
- Schauen Sie sich vor Ort um.
({1})
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb?
Vielleicht nachher,
sehr geehrter Herr Kolb.
({0})
Es ging auch um Barrierefreiheit, es ging darum, wie
Arbeitsplätze geschaffen werden können. Wenn der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Herr Hundt, sagt, es genüge oftmals, einen
Arbeitsplatz zu modernisieren, um behinderungsbedingte
Leistungsdefizite auszugleichen und darüber hinaus eine
höhere Produktivität zu erreichen, sehe ich das als einen
Fortschritt. Daran sollte sich die CDU einmal orientieren.
Herr Kolb, das muss man einmal auf sich wirken lassen.
Frau Nolte, Sie sagen, die Antworten seien mangelhaft.
({1})
Der Behindertenbeauftragte hat ganz deutlich gesagt,
wir wollen eine Berichtspflicht einführen und man hätte
dies bereits tun können. In dem Bericht wurden relativ
gute Aussagen nicht nur von Bayern und Hessen, sondern
auch von anderen - SPD-geführten - Ländern gemacht.
Wir werden diese Sache nunmehr vorantreiben.
Zunächst möchte ich mich bei der Opposition für die
heutige Debatte bedanken: Ihre Große Anfrage an die
Bundesregierung zeigt, dass Sie die Anliegen der behinderten Menschen durchaus ernst nehmen.
({2})
Behindertenpolitik bedeutet für die Regierungskoalition
eine konsequente Reformpolitik zum Wohle unserer behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung hat hier sehr deutlich
zum Ausdruck gebracht, was wir in dieser Legislaturperiode noch umsetzen wollen und weiter umsetzen werden,
um dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes gerecht zu werden. Aber wir wollen heute nicht nur über unsere Vorhaben und den Stand der Gesetzgebung beim
SGB IX sprechen. Vielmehr können wir auch beachtliche
Erfolge vorweisen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat im Rahmen ihrer heutigen
Großen Anfrage an die Bundesregierung auch danach gefragt, welche Chancen Menschen mit Behinderungen auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Darauf antworte
ich: Am 1. Oktober ist das Schwerbehindertengesetz in
Kraft getreten. Knapp einen Monat nach In-Kraft-Treten
dieses Gesetzes ist der erste Arbeitsmarkt für Schwerbehinderte bereits nachhaltig in Bewegung gekommen.
Ich habe gestern und heute ausführliche Gespräche mit
den zuständigen Vertretern der örtlichen Arbeitsämter und
der Landesarbeitsämter geführt. Die Informationen, die
ich erhielt, machen mich wirklich stolz. Alle unsere Erwartungen wurden übertroffen. So sind zum Beispiel in
Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin und Brandenburg die
Verträge zwischen den einzelnen Arbeitsämtern, den
Hauptfürsorgestellen und den eingerichteten Integrationsfachdiensten bereits ausgehandelt worden. Unterschiedliche Träger haben Verbundlösungen gefunden und sich in
Integrationsfachdiensten zusammengeschlossen. Diese
Kooperationsbereitschaft zeugt von einer Aufbruchstimmung und von einem festen Willen, die Chancen des
neuen Schwerbehindertengesetzes zu nutzen.
Auch die Arbeitgeberverbände haben sich dieser Initiative uneingeschränkt angeschlossen. Arbeitgeberpräsident Hundt unterstützt - nachzulesen in der Zeitschrift der
Arbeitgeberverbände - die Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes mit Nachdruck. Wenn man das nachliest,
muss man feststellen: Unsere Arbeitgeber werden immer
flexibler. Hut ab! Hundt erwartet von der verbesserten Beratung und Vermittlung durch professionelle Integrationsfachdienste eine besondere Unterstützung für die Unternehmen. Herr Hundt, ich kann Ihnen nur sagen: Ihre
Erwartungen werden schon jetzt erfüllt.
Beispiel: Nicht nur in Sachsen-Anhalt gibt es bereits
Schulungen und wöchentliche Lehrgänge für Mitarbeiter
von Integrationsfachdiensten. Nur hoch qualifizierte
Mitarbeiter dieser Fachdienste, vor allem die behinderten
Mitarbeiter, können optimale Ergebnisse bei der Vermittlung erreichen.
Noch ein Beispiel: In Berlin und Brandenburg haben
Mitte Oktober 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Arbeitsämter in 2 800 Betrieben für die Einstellung von
qualifizierten Schwerbehinderten geworben. Das Ergebnis macht Mut: In Berlin wurden so 157 und in Brandenburg 220 Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte gefunden. Angesichts dieses Erfolges in so
kurzer Zeit kann ich nur sagen: Machen wir so weiter!
Die groß angelegte Kampagne, die wir mit In-KraftTreten des Schwerbehindertengesetzes in Gang gesetzt
haben, hat zu dieser erfreulichen Entwicklung beigetragen. Damit meine ich nicht nur die Pressekampagne des
BMA, die öffentlichen Veranstaltungen, die Plakate und
die Broschüren, sondern auch die engagierte Öffentlichkeitsarbeit der Schwerbehindertenverbände und nicht zuletzt auch die Unterstützung der Arbeitgeberverbände bis
hin zum Präsidenten des Arbeitgeberverbandes selbst.
Es hat sich etwas bei der Einstellung der Arbeitgeber
getan. Eine Veränderung fängt in den Köpfen an. Schwerbehinderte Menschen haben oftmals eine bessere Ausbildung, sind flexibler in unterschiedlichsten Lebenssituationen und zeigen mehr Engagement im Job. Grund: Sie
wollen gesellschaftliche Akzeptanz und keine Almosen.
Sie sind genau die richtigen Partner für jede Firma.
Wie Sie wissen, lässt sich bereits jetzt - das belegen die
neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit - ein erfreulicher Rückgang auch der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter verzeichnen. Natürlich, Herr Strebl, ist das noch
nicht die Folge des neuen Schwerbehindertengesetzes.
Aber die Tatsache, dass wir die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zum öffentlichen Thema gemacht haben,
({3})
hat diese positive Entwicklung hervorgerufen.
({4})
- Das tue ich nicht.
Als besonders erfolgreich innerhalb unserer Kampagne hat sich das Beratungstelefon „50 000 Jobs für
schwerbehinderte Menschen“ erwiesen. So haben beispielsweise die Mitarbeiter des Beratungstelefons in Rostock allein im Oktober 1 133 Beratungsgespräche geführt.
Erfreulich war dabei die große Resonanz der Arbeitgeber
auf diese Initiative: Ein Drittel der Beratungsgespräche
wurde mit Arbeitgebern geführt. Viele Arbeitgeber nutzten das Beratungstelefon, um freie Stellen, die sie mit
schwerbehinderten Arbeitslosen besetzen möchten, anzuzeigen. Allein im Monat Oktober haben 41 Arbeitgeber
208 Arbeitsstellen beim Beratungstelefon in Rostock angeboten. In den Gesprächen brachten die Arbeitgeber ihre
Hoffnung zum Ausdruck, dass die Zusammenarbeit mit
den Arbeitsämtern flexibler gestaltet werde.
Aber auch die Resonanz der anrufenden schwerbehinderten Arbeitnehmer war nach Erläuterung der Ziele und
der Inhalte sehr positiv. Die schwerbehinderten Mitbürger
erwarten zukunftsorientierte Qualifizierung entsprechend
ihren Fähigkeiten, um den Anforderungen auf dem ersten
Arbeitsmarkt gerecht zu werden; denn nur so besteht eine
Chance, dass sie dort bleiben können.
({5})
Dabei setzen sie große Hoffnungen auf die Integrationsfachdienste. Ich glaube, das ist berechtigt. Sie sehen, dass
durch die Arbeit mit den Beratungstelefonen Erfahrungen
gesammelt wurden, die unserer Beschäftigungsinitiative
Recht geben.
Die schon eingangs angesprochene zügige flächendeckende Einrichtung von Integrationsfachdiensten findet tatsächlich statt. Zum Beispiel Herr Stadler von FAF,
ein Vertreter der Integrationsprojekte „Firmen, Unternehmen, Abteilungen“, hat mir noch gestern gesagt, dass das
Schwerbehindertengesetz bei den Integrationsprojekten
große Resonanz gefunden hat. Viele Projekte stehen in
den Startlöchern. Bei den Hauptfürsorgestellen liegen
zahlreiche Konzepte und auch Anträge vor. Diese Unternehmen können die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt - ich sage das besonders deutlich - nur flankierend
unterstützen.
Ein Anliegen möchte ich besonders hervorheben:
Schwerbehinderte Frauen werden besonders diskriminiert. Sie sind doppelt benachteiligt. Deshalb haben wir
bei den Beratungen zum Schwerbehindertengesetz ausdrücklich gefordert, dass schwerbehinderte Frauen im besonderen Maße die Unterstützung unserer Zivilgesellschaft erfahren müssen. Das Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung hat daraufhin den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit festgeschrieben. Danach hat
Silvia Schmidt ({6})
dieser Anspruch für behinderte Frauen eine sehr hohe Bedeutung. Hierbei ist ihre persönliche Lebenssituation zu
berücksichtigen und dazu zählen jetzt auch Erziehungspflichten. Darauf können wir stolz sein.
({7})
Frau Kollegin, der
Kollege Seifert möchte eine weitere Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die noch?
Ja, mache ich.
Liebe Frau Kollegin Schmidt,
Sie sprachen im Zusammenhang mit der doppelten Benachteiligung von behinderten Frauen von dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, der in Zukunft garantiert werden soll. Ist Ihnen und der Koalition eigentlich bewusst,
dass damit die konkrete Betrachtungsweise in der von
Ihnen geplanten Erwerbsminderungsrente zum Nachteil von Menschen mit Behinderungen ausfällt, sodass alle
diejenigen, die eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - also weil sie nur zwischen drei und sechs Stunden arbeiten können - bekommen sollen, nicht mehr unter die konkrete Betrachtungsweise fallen, weil es dann
auf dem Arbeitsmarkt theoretisch unbegrenzt viele Teilzeitarbeitsplätze geben könnte?
Herr Seifert, schönen Dank, dass Sie darauf hingewiesen haben. Ich sehe
das aber nicht so. Sie wissen ganz genau, dass sich sehr
viele Selbsthilfegruppen von Frauen mit Behinderungen
mit der Bitte an uns gewandt haben, dieses Problem zu
berücksichtigen. Sogar in der letzten Ausschusssitzung
haben wir noch mit festgeschrieben, dass auch die Erziehungspflicht hineinkommt. Ich sehe hier eine sehr große
Chance. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Aufsatzes
„Arbeitsplätze für Schwerbehinderte“ von Dieter Hundt.
Dort wird dieses Anliegen im Grunde genommen begrüßt
und nicht abgelehnt.
({0})
- Darüber gibt es noch Diskussionsbedarf.
Herr Kolb, möchten Sie noch eine Zwischenfrage
stellen?
Herr Kollege Kolb hat
bereits eine Kurzintervention angemeldet.
Noch ein Wort zu
Ihrer Kritik in der Debatte über das Schwerbehindertengesetz. Sie monierten, dass die Einrichtung der Integrationsfachdienste im Sinne des Gesetzes nicht funktionieren
könne. Sie sehen: Sie funktionieren bereits sehr gut.
Sie kritisierten, dass wir dieses Gesetz übers Knie brechen wollten. Ich sage Ihnen: Die Behinderten brauchen
die Unterstützung der Zivilgesellschaft jetzt.
({0})
Sie bekommen jetzt die Chance, die Sie ihnen über Jahre
hinweg nicht ermöglicht haben. Wie sagte eine Vertreterin des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt und Thüringen auf meine Frage, wann die Umsetzung des neuen
Gesetzes denn losgehe: „Es geht schon los. Wir sind mittendrin.“
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb
das Wort.
Liebe Kollegin
Schmidt, Sie hatten eine Zwischenfrage von mir nicht zugelassen, vermutlich weil ich sie direkt nach Beginn Ihrer
Rede stellen wollte. Es ist normalerweise auch ungewöhnlich, dass man erst einen Satz gesagt hat und gleich
etwas gefragt wird.
({0})
Ich hatte mich aber gemeldet - das möchte ich hier
doch noch klarstellen dürfen -, weil Sie die alte Bundesregierung zitiert haben. Sie haben gesagt, die alte Bundesregierung habe in einer Drucksache, deren Nummer
ich nicht mehr in Erinnerung habe, zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Gleichstellungsgesetz nach amerikanischem Vorbild wolle.
({1})
Nur soll man - deswegen melde ich mich - nicht mit Steinen werfen, wenn man im Glashaus sitzt. Nach meinen Informationen lehnt es die derzeitige rot-grüne Bundesregierung trotz Koalitionsvereinbarung ab, ein solches
Gleichstellungsgesetz selbst in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen.
({2})
Vielmehr - zumindest wurde das unlängst bei einer Diskussionsveranstaltung hier in Berlin so bekannt gegeben wird die Fraktion ein entsprechendes Gesetz einbringen.
Wenn man also schon kritisiert, dann muss man bitte Gleiches auch gleich abhandeln. Das, was die Bundesregierung damals getan hat, ist mindestens mit dem vergleichbar, was jetzt Ihre Bundesregierung tut.
({3})
Das war der Grund meiner Kurzintervention.
Frau Kollegin
Schmidt zur Erwiderung.
({0})
Silvia Schmidt ({1})
Herr Kollege Kolb,
da gebe ich Ihnen nicht Recht. Ich denke, es ist schon ein
Unterschied, ob man etwas ganz ablehnt, oder ob man
sich wirklich intensiv daransetzt, mitarbeitet und mit allen Verbänden und Vereinen zusammen noch einen Kongress macht. Wir befinden uns in unserer eigenen Regierung jetzt in der Abstimmungsphase darüber, wer was
macht.
Danke.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn schon
die Beantwortung der Großen Anfrage der CDU/CSUBundestagsfraktion durch die Bundesregierung nicht sehr
viel Ertrag gebracht hat und wenn es sich schon nicht
lohnt, nur über Ankündigungen zu diskutieren, dann
möchte ich den Abschluss dieser Debatte doch wenigstens
dazu nutzen, auf eine in diesen Tagen neu aufgeworfene
Frage grundsätzlicher Art zu sprechen zu kommen: Stimmen eigentlich noch die ethischen Grundüberzeugungen, auf denen unsere Hilfen und Angebote für Mitmenschen mit Behinderungen aufbauen?
Neu aufgeflammt ist diese Debatte durch den Beitrag
des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers James
Watson in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom
26. September 2000 über die Ethik des Genoms. In der
Tat hat er darin Recht, „dass der Erfolg der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts unsere Gesellschaft mit
völlig neuen ethischen Fragestellungen konfrontieren
wird.“ Wenn nämlich alles machbar und auch erklärbar
ist, haben wir dann nicht auch alle Mittel in der Hand, um
zum Beispiel die Geburt eines behinderten Menschen zu
verhindern? Watson schreibt, dass im Falle der Tötung eines genetisch behinderten Fötus „die Erleichterung darüber im Vordergrund stehen“ müsse, „dass niemand gezwungen wurde, ein Kind zu lieben und zu unterstützen,
dessen Leben niemals Anlass zur Hoffnung auf Erfolge
gegeben hätte.“ Und weiter: „Dass erbkranke Föten die
gleichen existenziellen Rechte haben wie jene, denen ein
gesundes und produktives Leben gegeben ist,“ sei seiner
Überzeugung nach „von hohlklingender moralischer Verkündigung geprägt, die man angesichts des modernen
Fortschritts demnächst ignorieren werde.“
Die Konsequenzen eines solchen Denkens, das weit
verbreitet ist und auch in verschiedenen Publikationen
seinen Widerhall gefunden hat, liegen meines Erachtens
auf der Hand. Wer künftig angesichts der modernen
medizinischen Möglichkeiten noch ein behindertes Kind
zur Welt bringt, wird - aus der Sicht derjenigen, die so
denken - nicht selbstverständlich mit der Solidarität und
der Unterstützung der Gesellschaft zu rechnen haben,
sondern sich für sein Tun womöglich noch entschuldigen
müssen - eine schreckliche Vision.
({0})
Es ist gut, dass der Bundespräsident in seiner kürzlich
gehaltenen Rede über „Glaube in der Wissensgesellschaft“ Watson klar und deutlich widersprochen hat.
({1})
Je mehr nämlich technisch und medizinisch machbar ist,
umso größer ist die Verantwortung der Wissenschaft wie
der Politik, das Bewusstsein wach zu halten, dass jegliches Leben lebens- und liebenswert ist. Gerade der Umgang mit Menschen mit Behinderungen ist der Prüfstein
dafür, wie es um Solidarität und Humanität in unserer
Gesellschaft generell bestellt ist. Oder anders gesagt: Die
Würde des Menschen zu achten und zu schützen - nach
unserer Verfassung die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt - findet in der Achtung und dem Schutz der Würde
des behinderten Menschen ihren besonderen und nachdrücklichsten Ausdruck.
({2})
Deshalb glaube ich, dass in allen Debatten um die vielen
praktischen Aspekte der Behindertenpolitik immer auch
die Aufgabe im Vordergrund stehen muss, die ethischen
Grundüberzeugungen, die uns leiten, noch stärker zum
Ausdruck zu bringen.
({3})
Ich sehe vor allen Dingen zwei generelle Herausforderungen, durch die unsere Gesellschaft auf den Prüfstand
gestellt wird und zwar in der Frage, ob uns diese ethischen
Grundüberzeugungen tatsächlich noch leiten und tragen.
Herausforderung Nummer eins ist: Die Zahl der
schwerst mehrfach behinderten Mitmenschen nimmt
deutlich zu. Dringend werden zusätzliche Förder- und Betreuungsgruppen benötigt. Für sie muss das Instrument
der Eingliederungshilfe gestärkt werden. Der Zielsetzung
der Eingliederungshilfe würde man meines Erachtens in
Zukunft am besten gerecht, wenn sie in eigenständiges
Leistungsgesetz überführt würde. Dieses Leistungsgesetz
müsste ganzheitliche Hilfe anbieten, statt die Hilfe in
pädagogische, rehabilitative und pflegerische Einzelleistungen zu zerlegen und unterschiedlichen Leistungsträgern zuzuordnen.
({4})
Herausforderung Nummer zwei ist: Es wird immer
mehr behinderte Menschen geben, die erfreulicherweise
ein hohes Lebensalter erreichen. Das ist nicht nur ein Erfolg des medizinischen Fortschritts, sondern hat - in diesem Sinne: leider - auch mit traurigen Ereignissen der
Vergangenheit zu tun. Die Euthanasiepolitik des Dritten
Reiches hat es mit sich gebracht, dass Deutschland in den
kommenden Jahren erstmals Verantwortung für eine Generation geistig behinderter Menschen tragen muss, die
im Alter umfassend auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen sind. Menschen mit geistiger oder mehrfacher
Behinderung werden jedoch im Alter nicht automatisch
zu Pflegefällen. Ihre Behinderung macht es allerdings erforderlich, sie gezielt auf ein Leben im Alter vorzubereiten und ihren Tagesablauf neu zu strukturieren. Notwendig
sind neue Tagesbetreuungsangebote und neue Pflegestrukturen für ältere Menschen.
({5})
Mit einem eigenen Leistungsgesetz für Menschen
mit Behinderungen könnten diese wichtigen Aufgaben
der Zukunft erfolgreich gemeistert werden. Deshalb finde
ich es schade, dass in allen Ankündigungen zu einem SGB
IX die Regierungskoalition nicht den Mut aufbringt, das
früher auch von ihr geforderte Leistungsgesetz für Behinderte zu schaffen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen,
wenn der Diskussionsprozess der nächsten Wochen und
Monate Sie dazu bringen würde, Anstrengungen zu unternehmen, um die Eingliederungshilfe aus dem BSHG
herauszulösen und in einem eigenen Leistungsgesetz mit
entsprechenden Rechtsansprüchen zu verankern.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef
Parr, Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Möglichkeiten des medikamentösen
Schwangerschaftsabbruchs
- Drucksache 14/4289 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zur
Einbringung des Antrages dem Kollegen Detlef Parr von
der F.D.P.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren!
Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauen
die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.
Das sagte Kollegin Schmidt-Zadel am 24. Juni 1999 bei
der Verabschiedung des Gesetzes. Weiter sagte sie:
Deshalb stelle ich zunächst fest: Prinzipiell ist ein
Sondervertriebsweg sicher nicht notwendig.
Das große Aber kam danach. Von drohendem
Schwarzhandel und Missbrauch des Medikaments war
die Rede. Die Notwendigkeit strengster Kontrollen wurde
herausgestellt, als gäbe es kein Betäubungsmittelgesetz,
kein Transfusionsgesetz und keine strengen Dokumentationspflichten für die Apotheken. Wochenlang wurde die
Firma Femagen mit Auflagen malträtiert, bis das Mittel
über einen personal- und kostenintensiven Weg doch endlich im November 1999 auf den Markt kam. Inzwischen
war die Marge für das ärztliche Honorar zwar nicht allein,
aber auch durch die Verteuerung des Medikaments aufgrund des Sondervertriebswegs gesunken. Dadurch ergaben sich für die Ärzte bei den zu erbringenden Beratungs- und Betreuungsleistungen nur noch Nachteile.
Anfang des Jahres, nach nur drei Monaten, waren diese
Probleme der SPD bereits bekannt. Mitte des Jahres, am
5. Juli, räumte die Parlamentarische Staatssekretärin
Nickels auf eine F.D.P.-Frage in der Fragestunde Klärungsbedarf bei der Kostenregelung für medikamentöse Abbrüche ein. Im Frühherbst, am 27. September, verstieg
sich auf eine erneute Anfrage der F.D.P.-Fraktion die Parlamentarische Staatssekretärin Niehuis zu der Aussage:
Ich denke, dass wir so weitermachen sollten, wie wir
es im Moment tun.
Welch eine Fehleinschätzung, meine Damen und Herren!
({0})
Bis dahin hätten bei Ihnen doch längst ebenso wie bei der
F.D.P. alle Alarmglocken schrillen müssen.
Aber Sie haben sich wohl auf die Beschwichtigungen
von Frau Schmidt-Zadel verlassen. Sie hat nämlich am
24. Juni 1999 auch gesagt:
Wir kommen Ihnen ja entgegen, indem wir zu diesem Gesetzentwurf eine Entschließung eingebracht
haben, die nach zwei Jahren - zwei Jahre sind eine
kurze Zeit - einen Bericht über die Erfahrungen mit
dem Sondervertriebsweg fordert.
Bereits nach einem Jahr waren die Konsequenzen klar, die
ich in der damaligen Debatte mit einem Satz des Schriftstellers Robert Musil kommentierte: „Sie irren vorwärts.“
({1})
Kommen Sie jetzt aus der Sackgasse heraus, bauen Sie
die formalen Hürden ab. Ändern Sie erstens den Vertriebsweg und vertrauen Sie den Apotheken, wie Sie es
auch bei der Abgabe anderer hoch sensibler Medikamente
tun. Machen Sie zweitens einen Weg für eine Kostenregelung frei, die den Ländern nach dem Vorbild von
Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg eine kostendeckende Honorierung der ärztlichen Leistung möglich macht.
({2})
Peter Weiß ({3})
Die Vergütung für den Schwangerschaftsabbruch darf
nicht der Budgetierung unterliegen. Die Vertragspartner,
also die Krankenkassen und die Ärzteschaft, sollten verpflichtet werden, eine angemessene Vergütung zu vereinbaren. Das Honorar muss die für die Abtreibung entstehenden Kosten und insbesondere die durch medikamentösen
Abbruch höheren Aufwendungen abdecken.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nehmen
Sie den Satz Ihrer neuen gesundheitspolitischen Sprecherin vom 24. Juni 1999 ernst, den ich noch einmal zitiere:
Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauen
die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.
Der bisherige Weg hat in die Irre geführt. Sie sind dabei,
viele Frauen im Stich zu lassen. Haben Sie jetzt den Mut
zur Korrektur!
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon mehr als bedrückend, dass
wir heute hier im Plenum des Deutschen Bundestages darüber debattieren müssen, ob Frauen in Deutschland die
Möglichkeit behalten können, mit einem zugelassenen
Arzneimittel behandelt zu werden.
Nach jahrelangem Ringen um den straffreien Schwangerschaftsabbruch haben wir seinerzeit alle gemeinsam
einen frauenpolitischen Kompromiss gefunden. Wir haben die Pflichtberatung im Schwangerschaftskonfliktgesetz verankert und die Frage der finanziellen Hilfen geklärt.
Mit der Aussicht auf einen Schwangerschaftsabbruch mit
einem Mittel, das schon rund ein Jahrzehnt früher in anderen europäischen Ländern auf dem Markt war, begann
bei uns aber erneut eine Debatte mit dem Versuch unterschiedlicher Interessensbereiche, das Erreichte infrage zu
stellen.
Die ohne Zweifel schonendere Methode des Abbruchs
mit diesem Medikament wurde den Frauen in Deutschland vorenthalten. Wir haben über zumindest einige Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam dafür gekämpft, den
Frauen den medikamentösen Abbruch mit Mifegyne zu
ermöglichen. Seit nunmehr fast einem Jahr ist Mifegyne
auf dem Markt und nun soll alles wieder infrage gestellt
werden, wofür die Frauen gekämpft haben. Der Vertrieb
des Arzneimittels Mifegyne soll voraussichtlich zum
Ende dieses Jahres eingestellt werden. Die Begründung
dafür lautet, das Geschäft sei unrentabel.
Unser Ziel muss es aber sein - in diesem Punkt sind wir
Frauen uns einig -, dass wir den Frauen die Möglichkeit
erhalten müssen, den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Frauen, die sich für
einen Abbruch entschieden haben, müssen diese Wahlfreiheit behalten und somit auch weiterhin diese Methode
wählen können.
({0})
Es muss schon erlaubt sein, sich mit den Argumenten
dieser Firma, die eben schon vorgetragen wurden, kritisch
auseinander zu setzen. Ich kann nicht nachvollziehen,
dass dieser Sondervertriebsweg, den wir damals aus
guten Gründen vorgeschrieben haben, die Hauptursache
für die Unwirtschaftlichkeit der Geschäfte dieser Vertriebsfirma sein soll.
({1})
Ich habe erhebliche Zweifel an dieser Darstellung und
- das folgt daraus - an der Wirksamkeit der Lösung, die
von der F.D.P. vorgeschlagen wird.
Aus guten Gründen haben wir also damals diesen Sondervertriebsweg vorgeschrieben. Wir sollten gründlich
überprüfen, ob wir an diesem Weg etwas ändern können
und wollen. Wir müssen nämlich beachten, dass die Zeit
noch nicht reif dafür ist, zu einem endgültigen Urteil zu
kommen.
({2})
Es scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein, diesen Vertriebsweg als Hauptursache für die Unwirtschaftlichkeit
anzuführen. Wir sollten vielmehr einen anderen Punkt bedenken: Die Zeitspanne seit Einführung des Präparates
ist, wie ich eben schon sagte, noch sehr kurz. Wir wissen
doch alle, dass es immer auch eine Frage der Zeit ist, bis
Neuerungen bei den Betroffenen akzeptiert werden. Das
ist bei Neuerungen auf dem Medikamentenmarkt genauso
wie bei Neuerungen in anderen Bereichen.
Als Indiz dafür möchte ich darauf hinweisen, dass nach
Auskunft des Statistischen Bundesamtes die Zahl der
medikamentösen Abbrüche im ersten Quartal 2000 bei
2 Prozent lag und im zweiten Quartal auf 3 Prozent gestiegen ist. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass die
Zahl dieser Abbrüche von 764 im ersten Quartal auf 985
im zweiten Quartal angestiegen ist.
Frau Kollegin Wester, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Parr?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Parr.
Frau Kollegin, die Zahlen, die Sie
gerade genannt haben, unterscheiden sich von den Zahlen, die mir vorliegen: Der Anteil der medikamentösen
Schwangerschaftsabbrüche ist von 6 über 4 auf 2 Prozent
gesunken. Worauf basieren Ihre Zahlen? Uns hat der Abwärtstrend bei der Nutzung dieser Methode alarmiert. Wir
sind deswegen aktiv geworden.
Ich habe schon gesagt, dass
es sich um Zahlen des Statistischen Bundesamts handelt.
Ich habe sie gesehen, kann sie an dieser Stelle aber nicht
verifizieren. Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen.
Die mir bekannten Zahlen führen mich zu der Frage, ob
es nicht eine sehr voreilige Entscheidung der Firma war,
schon jetzt von einer nicht gegebenen Rentabilität zu
sprechen. Es muss auch die Frage gestellt werden, ob
nicht mehr an Aufklärung hätte geleistet werden können
und müssen, wodurch dem Einsatz des neuen Präparates
eine bessere Grundlage verschafft worden wäre, anstatt
voreilig den Vertriebsweg zu kritisieren.
Die Abschaffung dieses Vertriebsweges dürfte dazu
führen, dass die zusätzlichen Kosten, die durch Apotheken- und Großhandelszuschlag entstehen, das Medikament teurer machen. Das würde letzten Endes weder den
Frauen noch den Ländern, die an den Kosten in erheblichem Ausmaß beteiligt sind, zugute kommen.
Von größerer Bedeutung für den geringen Einsatz von
Mifegyne scheint mir ein weiterer Grund zu sein: Die Kostenerstattung für den medikamentösen Abbruch liegt
unter der des instrumentellen Abbruchs. Die Bewertung
der einzelnen ärztlichen Leistungen hat aber der Bewertungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen vorzunehmen. Der Ausschuss hat zwar grundsätzlich für beide Methoden identische Sätze für die ärztlichen Leistungen
vorgesehen, doch nur beim instrumentellen Eingriff kann
darüber hinaus ein Zuschlag für das ambulante Operieren
sowie eine Vergütung für die Betreuungsleistungen abgerechnet werden. Damit bleibt der Aufwand der Betreuung
der Frauen während und nach der Medikamentenabgabe
unberücksichtigt.
Es bleibt ferner außer Acht, dass bei einem medikamentösen Abbruch ebenfalls eine bestimmte räumliche
und apparative Ausstattung vorhanden sein muss, die eine
qualitativ angemessene Versorgung der Frauen gewährleistet. Aber diese Bewertung hat, wie gesagt, ein Selbstverwaltungsorgan vorgenommen, und hier haben wir
keine gesetzlichen Einflussmöglichkeiten. Es bleibt nur
der wiederholte Appell an den Bewertungsausschuss,
diese getroffene Entscheidung zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren.
({0})
Aber das führt uns auch zu einem Grundproblem, mit
dem wir uns heute hier eigentlich auseinander zu setzen
haben, nämlich der Vermutung, dass die Bezahlung einer
ärztlichen Leistung Einfluss darauf hat, ob diese Leistung
eingesetzt wird oder nicht. Bereits im Mai dieses Jahres
hat uns Pro Familia mitgeteilt, dass ihre Einrichtungen,
die nicht gewinnorientiert arbeiten, den medikamentösen
Abbruch mit den geltenden Sätzen nicht kostendeckend
bestreiten können. Von den 91 Prozent der ambulanten
Abbrüche werden 75 Prozent, also die Mehrzahl, in gynäkologischen Praxen vorgenommen. Das macht doch deutlich, dass Kostengesichtspunkte für die Ärzte eine entscheidende Rolle spielen, ja vielleicht sogar spielen müssen, wenn sie eine Methode empfehlen. Umso deutlicher
wird die Notwendigkeit, die Ärzteschaft aufzufordern, darauf hinzuwirken, dass der Bewertungsausschuss eine
sachgerechte Bewertung des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs vornimmt.
({1})
Ein weiterer Appell geht an die Länder, nämlich bei
den Kostenerstattungen höhere Kostenpauschalen zu zahlen. Dafür bedarf es keiner Gesetzesänderung. Es gibt
nämlich schon heute Länder, die dies praktizieren. Ärztinnen und Ärzte müssen unter rein medizinischen Gesichtspunkten die individuell beste Methode des Abbruchs für die Patientin auswählen, diese entsprechend
empfehlen und die Frau auch beraten. Es darf nicht sein,
dass Frauen aus materiellen Gründen eine für sie geeignete schonendere Maßnahme vorenthalten wird.
({2})
Eine Aufklärung nicht nur der Frauen, sondern auch
der Ärzteschaft über diese Möglichkeit scheint mir dringend vonnöten zu sein. Unbefriedigende finanzielle Leistungen dürfen nicht dazu führen, dass das schwächste
Glied in der Kette, die schwangere Frau, mit ihrem Problem allein gelassen wird.
Vorschnelle Gesetzesänderungen, die die Situation
nicht grundsätzlich ändern, sind hier aber genauso wenig
angebracht wie einseitige Schuldzuweisungen. Deswegen
wiederhole ich meine Appelle an die Vertreiberfirma, an
die Länder und an den Bewertungsausschuss, hier für Lösungen zu sorgen.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir vernehmen in
dieser Woche, die Gesundheitsministerin will erneut einen Vorstoß unternehmen, um das drohende Aus für das
Abtreibungspräparat Mifegyne in Deutschland zu verhindern. Ihr Ministerium werde, so die Meldung in dieser
Woche, dem Bewertungsausschuss von Ärzten und Krankenkassen einen neuen Vorschlag für eine bessere Vergütung des medikamentösen Abbruchs unterbreiten. Ich zitiere Ministerin Fischer: „Ich werde dafür kämpfen, dass
Mifegyne bleibt.“
({0})
Das sind starke Worte mit problematischem Gehalt.
Wenn ein Hersteller sein Produkt vom Markt nehmen
will, dann ist das eine rein wirtschaftliche Entscheidung.
Eine solche Entscheidung gehört auch zum legitimen
Geschäftsinteresse eines jeden Unternehmens. Auf jeden
Fall ist es keine Frage der Politik, zumal es sich bei dem
Präparat Mifegyne nicht um einen unwidersprochenen
Segen für die Menschheit handelt, den wir politisch unbedingt, wie Sie das immer nennen, fördern müssten.
Nein, hier geht es um ein Abtreibungspräparat eines florierenden Pharmakonzerns. Schon bei der Einführung
dieses Präparats hat sich die Bundesregierung, allen voran
Kanzler Schröder und seine Ministerin Bergmann, in einer bedenklichen Grauzone bewegt. Ich will hier nicht
von Lobbyismus sprechen und auch keinen solchen Vorwurf erheben.
Aber zur Sache. Fakt ist, dass sich dieses Präparat
schlecht verkauft. Der Pharmakonzern will den Vertrieb
in Deutschland einstellen. Punkt. Was sind die Gründe
dafür? Die F.D.P. meint, der Sondervertriebsweg für das
Präparat sei schuld, und will diese Sonderregelung ändern.
({1})
Das ist der Kern des F.D.P.-Antrages, über den wir hier
debattieren.
({2})
Im vergangenen Jahr, als es um die Einführung von Mifegyne ging, standen zwei Vorschläge, zwei klare Alternativen für den Vertriebsweg zur Diskussion. Die Regierung hat vorgeschlagen, die Apotheken außen vor zu
lassen, wollte also einen Vertriebsweg ohne Apotheken.
Wir plädierten indes zusammen mit der F.D.P. für die direkte Belieferung der Ärzte durch die Apotheken, also für
einen Vertriebsweg mit den Apotheken.
Dann hatten wir im Gesundheitsausschuss eine Anhörung. Das Ergebnis der Anhörung war im Übrigen eindeutig: Alle Sachverständigen - ich betone: alle - haben
sich für einen Vertriebsweg über die Apotheken ausgesprochen. Selbst die auf Wunsch der SPD extra aus Frankreich angereiste Sachverständige Dr. Aubeny aus Paris hat
den deutschen Vertriebsweg über die Apotheken für vorbildlich erklärt.
Nur die Bundesregierung bzw. die Gesundheitsministerin und die sie tragenden Fraktionen waren gegen die
Apothekenlösung. Sie wollten unbedingt eine Sonderregelung und haben sie gegen jeglichen Sachverstand
durchgeboxt.
({3})
Jetzt haben wir ein Fiasko auf der ganzen Linie. Hätten
Sie nur damals wenn schon nicht auf uns, so zumindest
auf Ihre eigenen Experten gehört! Das Lamentieren über
diese permanenten Fehlentscheidungen aber hilft uns
heute leider nicht weiter. Gestehen Sie diesen Fehler ein
und nehmen Sie diese vermurkste Sonderregelung zurück! Wir hätten zumindest ein Problem weniger.
({4})
Wenn ich aber Frau Fischer in ihren Meldungen richtig
verstehe, denkt sie nicht daran, die in Bezug auf den Vertriebsweg bestehende Sonderregelung zurückzunehmen.
Vielmehr erwägt sie, eine weitere Sonderregelung, nämlich bei der Vergütung der Ärzte, hinzuzufügen. Richtig
ist, dass die Ärzte derzeit für den chirurgischen Abbruch
rund doppelt so viel Geld bekommen wie für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch. Grund ist die zusätzliche Vergütung der Nutzung der Geräte. Der Vorschlag, jetzt den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch einfach höher zu vergüten, damit die Ärzte mehr
Pillen verschreiben, ist ein weiterer Systembruch. Sie
wollen eine Sonderregelung, die einen Präzedenzfall
schaffen würde, der den Druck auf die Vergütung anderer
Leistungen erhöht.
Zudem - das muss ich hier ganz deutlich sagen - beleidigen Sie mit diesem Vorstoß jeden Arzt und jede Ärztin. Die Ärzte in unserem Land sind doch keine „Schlächter“, die nur um des Geldes willen einen chirurgischen
Eingriff bevorzugen und vermeintlich sanftere Methoden
ausschließen. Nein, Ärzte und Frauen wollen Mifegyne
oftmals nicht einsetzen, weil Mifegyne in der Praxis eben
nicht so sanft ist, wie Sie das immer bezeichnen.
({5})
Sie machen hier den Menschen etwas vor. Der Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eine enorme psychische und auch körperliche Belastung der Frauen.
({6})
Eine vermurkste Sonderregelung kann man nicht durch
weitere Sonderregelungen ausbessern - so geht es nicht -,
({7})
zumal Sie den Bewertungsausschuss gar nicht zwingen
können, den Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne aufzuwerten.
Bevor Sie an das System der Vergütung herangehen,
sollten Sie einmal zum Beispiel nach Baden-Württemberg
schauen. In Baden-Württemberg - Frau Wester hat es angedeutet - sind die Kassenärztlichen Vereinigungen, die
die Vergütung beim rechtmäßigen Abbruch festlegen, um
Mitteilung gebeten worden, welche Positionen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes bei einem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch in Ansatz gebracht
werden können. In Baden-Württemberg wird im Rahmen
des § 3 Abs. 3 HIG aufgrund einer Liste der abrechnungsfähigen Positionen verfahren. Auf dieser Liste finden sich Positionen, die der Bewertungsausschuss bei der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung noch nicht als abrechnungsfähig ansieht, vor allem was die Nachsorge anbelangt. Diese Divergenz führt dazu, dass es in Ländern,
die sich nur auf die Beurteilung des Bundesausschusses
stützen, zu einer anderen Handhabung und damit auch zu
einer anderen Vergütung kommen kann als zum Beispiel
in Baden-Württemberg. Das heißt, in Baden-Württemberg ist über das Schwangerenhilfegesetz eine adäquate
Handhabung der Vergütung möglich.
({8})
Es ist also kein weiterer Systembruch notwendig. Permanente Sonderregelungen helfen hier nicht weiter. Deshalb müssen wir zunächst im Gesundheitsausschuss diesen heute vorgelegten Gesetzentwurf intensiv beraten.
({9})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Monika
Knoche vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Dieses Thema war noch nie dazu geeignet, ideologische Debatten zu führen. Dies sollten wir
auch heute Abend nicht tun. Allen war klar: Wenn ein
Hersteller plant, in Deutschland ein Produkt auf den
Markt zu bringen, das Frauen in den engen Grenzen der
Arzneimittelzulassung und des § 218 des Strafgesetzbuches einen hormonell eingeleiteten Schwangerschaftsabbruch ermöglicht, dann entscheidet darüber nicht die Politik. Das war sehr wichtig zu vermitteln. Dies ist eine
Entscheidung, die an sich beim BfArM liegt.
Nicht die hier angesprochene Frage, ob eine Veränderung des Vertriebsweges zu einer höheren Indikationsstellung in Bezug auf den hormonellen Schwangerschaftsabbruch führen wird, ist von Bedeutung. Vielmehr sollte
zusammen mit der betroffenen Frau in der ärztlichen Praxis die Entscheidung getroffen werden, welcher Weg der
richtige ist.
Niemand von denen, die die Debatte kennen, hat angenommen oder prognostiziert, dass die Einführung eines
solchen Präparats zum vollständigen Ersatz anderer Verfahren führen würde. Dies liegt schon in der Natur der Sache, denn Mifegyne stellt zwar in einem sehr frühen
Schwangerschaftsstadium das wirksamste Mittel dar, aber
viele Schwangerschaftsabbrüche finden auch aufgrund
der Zwangsberatung etwas später statt. Aber das soll hier
jetzt nicht weiter vertieft werden.
Die Schwierigkeiten, die die Ärztinnen und Ärzte, die
diesen Schwangerschaftsabbruch durchführen, haben, liegen, objektiv betrachtet, wirklich in den Grundlagen der
Honorierung dieser Leistung. Zu dem Zeitpunkt, zu dem
das Schwangerenhilfegesetz gemacht wurde, war Mifegyne noch nicht am Markt. Die besonderen Leistungen,
die zu einer korrekten Behandlung mit diesem Präparat
gehören, sind in dem Leistungsgeschehen nicht abgebildet. Deshalb kann das auch nicht honoriert werden.
({0})
Das bedeutet also: Wir als Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber haben hier überhaupt nicht über Defizite oder
falsche Vertriebswege zu reden, sondern es gibt schlicht
und einfach durch die Tatsache, dass dieses Präparat jetzt
eingesetzt werden kann, seitens des Bewertungsausschusses einen Nachholbedarf, dies im Leistungsgeschehen
adäquat abzubilden.
({1})
Es sind viele Diskussionen geführt worden, ob denn
nun die Gesetzgebung hier unterstützend begleiten kann.
Wir wissen, das SGB V ist der falsche Ort dafür. In den
§ 218 StGB zugehörigen Gesetzesregelungen sind in Anerkennung der Besonderheit der nicht medizinisch begründeten Abtreibung Regelungen vorgegeben worden,
welche sachgerechte Ausstattung eine solche Praxis haben soll.
Es bleibt hier also noch einmal der deutliche Appell:
Der Bewertungsausschuss muss nachvollziehen, was der
Gesetzgeber gewollt und was sich durch eine Verbreiterung der Maßnahmen, der medizinischen Möglichkeiten
ergeben hat. Wir als Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber
werden genau beobachten, ob die Leistungserbringer hier
die notwendigen Nachregulierungen vornehmen. Anderenfalls müssen wir bei einer sehr zeitnahen Beobachtung
auf andere Weise darauf hinwirken, dass Frauen in der
ärztlichen Praxis tatsächlich eine Entscheidungsalternative haben und dass Frauen - wir haben vor eineinhalb
Stunden über eine frauengerechte Gesundheitsversorgung
gesprochen - nicht durch Hindernisse, die in ärztlicher
Honorierung oder falscher Bewertung begründet sind, daran gehindert werden, den Schwangerschaftsabbruch in
der für sie richtigen Form durchführen zu lassen.
({2})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich nun der Kollegin LeutheusserSchnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident! - Ihr Wortbeitrag,
Frau Knoche, veranlasst mich zu einer Kurzintervention.
Ich habe den Eindruck, dass die Relationen und Gewichte
in dieser Debatte bisher nicht richtig gesehen oder verschoben werden.
Natürlich ist es gut, wenn wir an die Firma appellieren,
das Präparat auf dem Markt zu lassen. Aber wenn die Bedingungen nicht stimmen, dann - das wissen wir alle doch
ganz genau - wird dieser Appell nicht einmal diesen
Raum verlassen
({0})
und wir werden draußen nicht ernst genommen werden,
wenn wir es allein dabei bewenden lassen.
Wenn Analysen und Untersuchungen ergeben, dass es
Hindernisse gibt, die mit dazu beitragen, dass dieses Medikament, das nach Entscheidung des Arztes eben eine
schonendere Methode des Abbruchs sein kann, keine Anwendung findet, müssen wir uns hier als Vertreterinnen
und Vertreter der Politik überlegen, womit wir - neben
den Appellen - unseren Beitrag leisten können.
({1})
Ich muss ganz ehrlich sagen, mir fehlt aufseiten der Regierungskoalition ein bisschen die Aufgeschlossenheit gegenüber Überlegungen, wo wir gemeinsam ansetzen können.
Wir wissen: Allein der Vertriebsweg wird es nicht richten. Aber dass das bis zu 30 oder 40 DM zusätzliche Kosten bedeutet, weiß jeder, der sich mit der Firma in Verbindung setzt, sich nach Fakten erkundigt und sich einmal
wirklich über diesen Sachverhalt informiert.
Nur an diesem Punkt versuchen wir als F.D.P.-Fraktion
anzusetzen und zu sagen: Da, wo wir es in der Hand haben, durch Gesetzesänderungen die vorhandenen Hürden
zu beseitigen, sollten wir das auf alle Fälle tun.
Ich weiß, dass der Bewertungsausschuss selbstständig
ist und man ihm keine Weisungen geben kann, sondern
Appelle an ihn richten und Gespräche mit ihm führen
muss. Aber ich fände es unverantwortlich, wenn wir jetzt,
nachdem wir uns seit 25 Jahren mit dem Abtreibungsrecht
beschäftigen, nachdem wir uns viele Jahre lang - auch gegen damalige Mehrheiten in der Regierungskoalition - als
Frauen über die Fraktionsgrenzen hinweg für diese Pille
eingesetzt haben, nicht einen gemeinsamen Weg fänden,
wenigstens das zu tun, was in unserer Macht steht.
({2})
Frau Kollegin Knoche, möchten Sie erwidern? - Bitte schön.
Man muss dies jetzt auch nicht übermäßig inszenieren.
Aber, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, weil
Sie mich darauf angesprochen haben: In Ihrem Antrag reduzieren Sie die Problematik in der Tat auf eine Veränderung des Vertriebsweges.
({0})
Sie erkennen an, dass der Politik ein Hineinregulieren
in den Bewertungsausschuss nicht möglich ist.
({1})
Ich habe doch in sehr deutlichen Worten gesagt, dass
wir damit nicht am Ende der Möglichkeiten sind. Wichtig
ist mir, deutlich zu machen, dass wir hier im Parlament
insgesamt ein sehr starkes Interesse daran haben, diese
Möglichkeiten in der Praxis auch zur Anwendung kommen zu lassen. Ich denke nicht, dass es nur in diesem
Raum bleibt oder verpufft, wenn wir von hier aus noch
einmal diese deutlichen Worte an die ärztliche Selbstverwaltung richten, im Bewertungsausschuss die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.
Ich bin nicht der Überzeugung - davon war auch in der
Anhörung zur Einführung die Rede; wir haben gesagt, wir
beobachten das -, dass dieser Sondervertriebsweg ein
Hindernis zur Verordnung darstellt. Sie werden sich erinnern, dass wir damals auch gehört haben, das Präparat
werde sich, wenn wir den Weg über die Apotheken wählten, nicht verbilligen und dies werde auch die Zugänglichkeit zu dem Präparat nicht verändern.
Es handelt sich also um eine Debatte, die zu dem Ziel
Ihres Antrags, das zugrunde liegende Problem im gemeinsamen Interesse zu lösen, keinen wirklichen Beitrag
zu leisten vermag, denn dieses jetzt aufgekommene Problem resultiert maßgeblich aus der nicht sachgerechten
Honorierung der Leistungen.
({2})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Bläss von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein dass wir heute darüber diskutieren müssen, ob und wie Frauen mithilfe des Medikaments Mifegyne abtreiben können, ist schlimm genug.
Durch die offizielle Zulassung im vergangenen Jahr
haben Frauen in einer ohnehin schwierigen persönlichen
Situation nun die Möglichkeit, die sie am wenigsten belastende Methode zum Schwangerschaftsabbruch zu
wählen - leider muss man sagen: vorausgesetzt, sie zahlen selbst. Sind die Frauen auf finanzielle Unterstützung
angewiesen, haben sie diese Wahl nämlich derzeit nicht,
denn der Abbruch mit Mifegyne wird von den Ländern so
gering honoriert, dass die Ärztinnen und Ärzte de facto
das Medikament nicht bzw. kaum einsetzen. Dies führt
dazu, dass Mifegyne ganz vom Markt verschwinden wird,
wenn wir nicht eingreifen.
Ich will an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Hier
geht es nicht darum, dieses Medikament ohne irgendwelche Einschränkungen hochzuloben. Bei den Debatten, die
wir anlässlich der Zulassung geführt haben, ging es wirklich nur um eine gleichberechtigte Möglichkeit für den
Abbruch. Ich finde auch, dass es uns Parlamentarierinnen
und Parlamentariern überhaupt nicht zusteht, Debatten
über die medizinische Seite zu führen. Wir haben es hier
tatsächlich mit einem komplexen Problem zu tun und alle
vorgeschlagenen Lösungen, über die diskutiert wird, sind
in der Tat widersprüchlich.
Ich halte es für einen Skandal, dass die Durchführung
des medikamentösen Abbruchs an privatwirtschaftlichen
Kalkulationen scheitern könnte. Skandalös ist auch, dass
sich niemand wirklich für zuständig hält. Es kann doch
nicht sein, dass sich alle Beteiligten auf dem Rücken der
Frauen gegenseitig die Verantwortung zuschieben.
({0})
Deshalb ist jetzt das Parlament gefordert. Wir müssen eine
Lösung finden.
Wie bereits in der Debatte betont worden ist: Unser
Einfluss als Politikerinnen und Politiker auf den Bewertungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen ist in der
Tat begrenzt. Dieser ist autonom und hat schon mehrfach
bekundet, dass er die Leistungskennziffern nicht ändern
wird. Also müssen wir den Weg über die Gesetzgebung
beschreiten.
Uns liegt jetzt der Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion
vor, der sich vor allem gegen den Sondervertriebsweg von
Mifegyne wendet. Ich muss mich der Position der Kollegin Wester und der anderen Kolleginnen anschließen; ich
sehe hierin tatsächlich nicht das Kernproblem. Es ist ein
Problem, aber nicht das Hauptproblem.
({1})
Die Verluste der Firma Femagen werden sich auch
dann nicht wesentlich verringern, wenn sie die 30 Mark
pro Lieferung sparen kann. Der Verkauf in Deutschland
beträgt tatsächlich nur etwa ein Zehntel des französischen
Umsatzes. Das liegt eindeutig an der schlechteren Honorierung der ärztlichen Leistungen.
({2})
Deshalb müssen wir hier ansetzen.
Über Ergänzungen im Schwangerschaftskonfliktgesetz und im Schwangerenhilfegesetz können wir festlegen, dass bei medikamentösem Abbruch ein höherer Zeitaufwand für Beratung und Betreuung honoriert wird.
Und wir sollten eindeutig festlegen, dass die Länder
bei der Übernahme der Kosten für Schwangerschaftsabbrüche nicht an den Bewertungsausschuss gebunden sind.
Dann - und nur dann - könnte eine bundeseinheitliche
Pauschalvergütung für alle ambulanten Abbrüche festgelegt werden. Der medikamentöse Abbruch stünde gleichberechtigt neben dem operativen und die Frauen hätten
tatsächlich Wahlfreiheit.
Wenn wir uns darauf nicht verständigen können,
schlage ich vor, auf Bundesebene ein Budget einzurichten, das die höheren Kosten von medikamentösen
Schwangerschaftsabbrüchen übernimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht vergessen, dass es sich bei Mifegyne nicht um ein normales
Medikament handelt. Eine ungewollte Schwangerschaft
ist keine Krankheit, die wie ein Gebrechen behandelt werden kann. Es geht um nicht weniger als um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und das ist bekanntlich
durch den § 218 StGB ohnehin unzumutbar eingeschränkt. Solange er nicht ersatzlos gestrichen ist - ich
kann es nicht oft genug sagen -, werden wir hier immer
wieder solche Probleme wie das heute zur Debatte stehende diskutieren müssen.
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es in diesem Hause schon keine Mehrheit für die Festschreibung
des Selbstbestimmungsrechts von Frauen gibt, dann lassen Sie uns jetzt wenigstens eine Lösung finden, die den
betroffenen Frauen nicht noch weitere Steine in den Weg
legt, sondern die Möglichkeit des medikamentösen Abbruchs rettet.
Ich danke Ihnen.
({3})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident! Ich möchte kurz auf das eingehen, was die Kollegin Bläss gesagt hat. Frau Kollegin Bläss,
es ist ja so, dass der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten
hat, Regelungen zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs zu treffen. Dies hat er im SGB V, im
Schwangerenhilfegesetz und im Schwangerschaftskonfliktgesetz - § 13 - gemacht.
Wir haben - Herr Kollege Parr, das haben wir in einer
anderen Debatte heute schon einmal gesagt -, angesichts
des gegliederten Krankenkassenwesens, in dem auch die
Selbstverwaltungsorgane weit reichende Rechte haben
- Stichwort Bewertungsausschuss -, und angesichts der
Tatsache, dass wir eben keine Staatsmedizin haben, sondern natürlich auch Unternehmer in gewisser Weise agieren,
({0})
nicht die Möglichkeit, hier wie Rumpelstilzchen aufzustampfen und zu sagen: So geht’s! Man kann das so nicht
einfach machen; man muss auch dann, wenn es Schwierigkeiten gibt, wenn man bestimmte Sachen will, den
dafür vorgesehenen Weg gehen. Dieser Weg ist von den
beiden zuständigen Häusern in enger Absprache konsequent beschritten worden. Es ist so gewesen, Frau Bläss,
dass wir von Anfang an intensiv mit dem Bewertungsausschuss gesprochen haben, und zwar in Ausschöpfung der
Möglichkeiten, die bestehen. Man darf nämlich keine
Präzedenzfälle schaffen, die unter Umständen in das gesamte Krankenkassenwesen eingreifen, die zum Beispiel
für den Bereich „Ambulantes Operieren“ unwirtschaftliche Strukturen vorantreiben. Das ist eine komplexe Materie. Ich kann mich gern noch einmal mit Ihnen hinsetzen
und das erläutern.
Wir haben das Problem ausgelotet. Eine Frage dabei
war: Schreibt § 13 Schwangerschaftskonfliktgesetz vor,
dass in allen entsprechenden Einrichtungen auch tatsächlich die Möglichkeiten für operative Eingriffe vorzuhalten
sind? Wir haben das federführende Ministerium dazu befragt. Es hat dies bestätigt. Das ist ein Punkt, der im Bewertungsausschuss immer noch strittig ist. Wenn es hier
einen Ansatzpunkt gibt, dann nur aufgrund der spezialgesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, der
nicht medizinisch indiziert ist. Hierzu und auch bezogen
auf die Frage des Beratungsbedarfs, der noch nicht abgegolten zu sein scheint, werden Gespräche geführt. Das ist
der eine Punkt.
Der andere Punkt betrifft das, was auch Sie, Frau Kollegin Bläss, hinsichtlich des Sondervertriebsweges angesprochen haben: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie gesagt
haben: Das ist nicht das eigentliche Problem. Ich möchte
das noch einmal erläutern. Hier wird nicht gesagt, dass
dieser Sondervertriebsweg sehr viele Vorteile hat: Die
Anonymität der Frauen ist sowohl in den Apotheken als
auch gegenüber dem Unternehmer absolut gewahrt.
Im Vorfeld ist von bestimmten Kreisen ganz massiv die
Gefahr des Missbrauchs und der Abzweigung gemutmaßt
worden. Diese ist mit dem Sondervertriebsweg absolut
ausgeschlossen. Die Verfügbarkeit in 20 000 Apotheken
wurde von vielen als zu breit angesehen. Das war ein
Punkt.
Der Sondervertriebsweg ist auch nicht teurer. Beim
Vertrieb über Apotheken fielen 16 Prozent Mehrwertsteuer und 40 bis 50 Prozent Großhandels- und Apothekenvertriebskosten an.
Es stimmt nicht, dass das der Hauptpunkt ist. Das
möchte ich auch in Richtung F.D.P. noch einmal sagen.
Ich bin froh, Frau Bläss, dass Sie das noch einmal angesprochen haben.
Frau Kollegin Nickels, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Es ist natürlich ein Problem,
wenn sich ein Unternehmen am Anfang der Markteinführung eines Medikaments mit der Tatsache konfrontiert
sieht, dass es erst langsam anläuft. Dazu muss man Lösungen finden. Dazu gibt es auch marktwirtschaftliche
Möglichkeiten. Hier muss gesprochen werden. Aber das,
was hier vorgeschlagen wird, ist nicht hilfreich.
({0})
Frau Kollegin Bläss, Sie haben Gelegenheit zu erwidern.
Frau Kollegin Nickels, so dankbar ich Ihnen für die fachlichen Erläuterungen bin, verstehe ich doch Ihre Aufregung nicht. Wir sind in der guten
Situation, dass wir jetzt endlich eine parlamentarische
Vorlage haben, um in den Fachausschüssen diskutieren zu
können. Ich bin dafür, dass dort ganz präzise und transparent deutlich gemacht wird, wo es Möglichkeiten für Anordnungen welcher Stellen gibt.
Es ist einfach so, dass die Öffentlichkeit nicht adäquat
informiert worden ist. Das laste ich Ihnen nicht an. Das ist
einfach eine hochkomplizierte Materie.
Wir sollten gemeinsam gucken: Wo haben wir tatsächlich gesetzgeberischen Handlungsbedarf? Das sehe ich
nicht als schon abgegolten. Ich sehe durchaus die Möglichkeit und die Chance, dass wir hier wirksam handeln.
Denn die Praxis im letzten Jahr hat gezeigt, dass es allein
über Appelle nicht weitergeht.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Schäfer von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nachdem jahrelang Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ausnahmslos chirurgisch
durchgeführt wurden, bietet sich seit mittlerweile einem
Jahr die Möglichkeit zum medikamentösen Abbruch. Die
Erfahrungen mit dieser Methode sind in der Bundesrepublik genau wie in anderen Ländern, in denen diese Methode angewandt wird, hervorragend. Der Abbruch mit
Mifegyne ist eine schonende, von den betroffenen Frauen
höchst akzeptierte Methode. Die Erfahrungen zeigen,
dass die physische, vor allem aber auch die psychische
Belastung deutlich geringer ist. Es kann festgestellt werden: Der Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eine
schonende, sichere und das Leid der betroffenen Frauen
begrenzende Methode.
({0})
Trotzdem stößt diese schonende Art des Schwangerschaftsabbruchs bei den durchführenden Ärzten vor allen
Dingen wegen der ungerechten Honorierung auf wenig
Gegenliebe. Die Folge ist, dass die Mehrzahl der Schwangerschaftsabbrüche immer noch operativ geschieht. Das
dürfte nach wie vor in mehr als 95 Prozent der Fälle so
sein, wenn die statistischen Zahlen stimmen; Herr Parr,
das kann ich hier nicht untersuchen.
Mifegyne verstaubt in den Regalen der Vertreiberfirma. Die Firma hat angekündigt, sich bis zum Ende des
Jahres aus dem Vertrieb zurückzuziehen, zum einen, weil
sich die Umsatzerwartungen nicht erfüllt haben, zum anderen, weil sich der Vertrieb nach ihren Angaben defizitär
gestaltet. Das ist eine innerbetriebliche Entscheidung der
Firma, die ich hier nicht kommentieren möchte.
Einen Gewinn zu erwirtschaften scheint für mich bei
einem adäquaten Umsatz durchaus realistisch. Denn es ist
festzuhalten: Der Verkaufspreis von Mifegyne schwankt
in Europa zwischen 130 und 170 DM. Man könnte deswegen von einem Firmenabgabepreis von etwa 100 DM
ausgehen. In Deutschland wird das Präparat zurzeit mit
154 DM vergütet. Ich persönlich gehe deswegen davon
aus, dass die französische Herstellerfirma Exelgyne wohl
keine Schwierigkeiten haben wird, einen neuen Vertreiber
für den deutschen Markt zu finden. Die Firma Exelgyne
hat bereits angekündigt, dass sie innerhalb der nächsten
Wochen einen neuen Vertreiber vorstellen wird. Wo liegt
also das Problem? Theoretisch könnte der Vertrieb auch
aus anderen Mitgliedstaaten erfolgen, wenn die entsprechenden deutschen Regelungen eingehalten würden. Das
würde zwar die Überwachung verkomplizieren, aber es
wäre durchaus legal und möglich.
Die im Entwurf der F.D.P. vorgesehene Alternative bietet keine Vereinfachung und birgt die Gefahr einer neuerlichen Verteuerung des Medikaments. Vorgeschlagen
wird ein anderer Vertriebsweg. Ähnlich wie bei der Angabe von Medikamenten nach dem Betäubungsmittelgesetz würde ein besonderes Rezept die Abgabe in Apotheken erfordern. Wäre das eine Vereinfachung? - Ich glaube
nicht. Zumindest die Dokumentation des Vertriebs würde
sich nicht vereinfachen. Auch für die Wahrung der Anonymität der Frau sehe ich zusätzliche Probleme. Sie haben
darauf hingewiesen.
Sicher ist: Es würden höhere Kosten entstehen. So
muss man auf jeden Fall mit Aufschlägen für die Mehrwertsteuer und für die Kosten des Großhandels und der
Apotheken rechnen. Dies würde den Abgabepreis, jedoch
nicht den Gewinn der Firma erhöhen. Hinzu kommt, dass
der jetzige Vertriebsweg durch die Direktabgabe sicherer
erscheint. Die Entstehung eines Schwarzmarktes ist bei
dem bisherigen Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.
Was können wir stattdessen tun, um die existierenden
Probleme zu lösen? - Wir können dafür sorgen, dass die
Hindernisse für den Einsatz von Mifegyne aus dem Weg
geräumt werden. Hindernisse sind zum einen Details des
Vertriebsweges und zum anderen die nicht angemessene
Bezahlung der ärztlichen Leistung.
({1})
Es ist angebracht, über eine Verfeinerung des Vertriebsweges nachzudenken. Bisher darf nur eine sehr begrenzte Packungszahl geliefert werden. Das können wir
ändern. Denkbar wäre, dass die prospektive Jahresmenge
an die zugelassenen Ärzte ausgeliefert und dann im einzelnen Fall nachrezeptiert wird. Diese mögliche Praxis
setzt den logistischen Aufwand herab und senkt damit entscheidend die Vertriebskosten, ohne zulasten der Sicherheit des Vertriebsweges zu gehen. Damit bliebe auch der
Preis des Präparates in vernünftigen Grenzen. Sie sehen,
dieses Problem ist recht einfach zu lösen und rechtfertigt
auf keinen Fall einen Gesetzentwurf, der nur komplizierter macht, was einfach funktioniert.
({2})
- Genau zu diesem Gesetzentwurf spreche ich.
Das zweite und weitaus gravierendere Problem ist die
Honorierung der ärztlichen Leistung. Das darf man
nicht herabwürdigen; denn ich muss sagen: Die Leistung
der Ärzte, die bisher Abbrüche durchgeführt haben, ist
sehr positiv zu sehen. Die Vorleistungen, die gemacht
werden, um einen OP vorzuhalten, müssen ebenfalls gesehen werden.
({3})
Die ausführenden Mediziner führen an, dass Leistung
und Entgelt nicht in einem korrekten Verhältnis zueinander stünden. Der zeitliche, räumliche und personelle Aufwand werde nicht entsprechend honoriert. Der zeitliche
Aufwand ist in der Tat recht hoch, was in der notwendigen und lang andauernden intensiven Überwachung der
Patientinnen sowohl nach Einnahme von Mifegyne selbst
als auch zwei Tage später nach der Einnahme von Prostaglandinen begründet ist. Die Ausstattung der Praxen
muss der besonderen Situation gerecht werden. Weiterhin
ergeben sich besondere Anforderungen an das notwendige Fachpersonal. Sieht man von der Bereitstellung eines
Operationssaals und der Anästhesie ab, ist der Aufwand
für medikamentöse und chirurgische Abbrüche durchaus
vergleichbar. Gleichwohl werden sie unterschiedlich honoriert.
Eine Lösung könnte in der verbesserten Vergütung der
Überwachungszeit liegen. Die empfohlene Dauer dieser
Überwachung von vier Stunden nach der Einnahme der
Prostaglandine wird derzeit überhaupt nicht vergütet.
Dies könnte ein Ansatz für die weitere Diskussion sein.
Der Ansatz der F.D.P. eignet sich nicht dazu, die angesprochenen Probleme zu lösen. Er bietet keinen korrekten
Ansatz zur Verbesserung der Honorarsituation. Es ist
keine Lösung, dass - so wie es Ihr Antrag vorsieht - die
rechtlich geduldeten Abbrüche im Rahmen der Fristenlösung durch die Bundesländer besser vergütet werden sollen als die medizinisch indizierten Abbrüche. Dies kann
nicht gewünscht sein und tritt als Lösung deutlich zu kurz.
Die bei der Verwendung von Mifegyne aufgetretenen
Probleme sind für meine Begriffe nicht dazu geeignet,
längst geschlagene Schlachten erneut zu schlagen; dazu
sind die Gemeinsamkeit in diesem Haus zu groß und die
Differenzen zu gering.
({4})
- Herr Kollege, die Diskussion haben wir vor Monaten
und Jahren geführt. Sie hier bei jedem Moment wieder anzuführen macht Ihre Meinung nicht bedeutend besser.
Es geht hier um den praxisnahen Einsatz einer guten
Methode und um deren Bezahlung im Interesse der betroffenen Frauen - um sonst nichts.
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Anke Eymer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen
und Kolleginnen! Es kann heute nicht Sinn dieser Debatte
sein - das war es bisher auch nicht -, die Auseinandersetzungen über den Schwangerschaftsabbruch erneut hier im
Bundestag zu führen.
({0})
Denn die Grundsatzentscheidung ist gefallen. Gemeinsam haben wir festgestellt, dass es Aufgabe der Politik ist,
ungeborenes Leben zu schützen. Nicht eine scheinbare
Erleichterung des Schwangerschaftsabbruchs ist Inhalt
der politischen Auseinandersetzung. Vielmehr müssen die
Konzepte zum Schutz des entstehenden Lebens und zur
Förderung von Eltern und Kindern weiter ausgebaut werden.
Wir dürfen uns durch diese Diskussion um ein Mittel
zum Schwangerschaftsabbruch nicht von unserem gemeinsamen Anliegen ablenken lassen, schwangeren
Frauen in Konfliktsituationen Hilfe anzubieten, um sie für
das ungeborene Leben zu gewinnen.
({1})
Hat die Frau jedoch nach gesetzlich vorgeschriebener
Beratung die Entscheidung getroffen, die Schwangerschaft abzubrechen, dann ist die Anwendung von Mifegyne nicht die angeblich schonendere Methode. Denn
es muss darauf hingewiesen werden, dass seine Anwendung nach bisherigen Erkenntnissen zu zahlreichen
erheblichen gesundheitlichen Risiken und schweren psychischen Folgen für die Frau führen kann.
({2})
Ich halte den Versuch, zu suggerieren, dass diese Methode
ein sanfter Schwangerschaftsabbruch sei, für verantwortungslos.
({3})
- Herr Kollege, warten Sie doch erst einmal ab, was ich
weiter zu sagen habe.
Das Hormonpräparat Mifegyne ist - soweit wir wissen - keinesfalls unproblematisch. In Frankreich ist die
Anwendung von Mifegyne auf Frauen unter 35 Jahren
eingeschränkt. Sie müssen zusätzlich eine stabile Gesamtverfassung aufweisen und dürfen keine Raucherinnen sein. Nicht umsonst wird eine umfassende ärztliche
Betreuung bei einem Abbruch mittels Mifegyne für notwendig gehalten. Neben Mifegyne müssen Wehen auslösende Mittel verabreicht werden; in manchen Fällen ist
zusätzlich ein chirurgischer Schwangerschaftsabbruch
notwendig.
Es können - ich habe nicht gesagt: müssen - auch Nebenwirkungen wie starke Blutverluste, Schmerzen und
Übelkeit auftreten. Keinesfalls darf unterschätzt werden,
dass ein Abbruch durch Mifegyne erhebliche psychische
Belastungen für die Frauen mit sich bringen kann, da die
Frauen nicht nur die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch treffen, sondern den Abbruch selber vornehmen.
Problematisch ist der Einsatz von Mifegyne insbesondere vor dem Hintergrund der Pflichtberatung. Da das
Präparat nur bis zur siebten Woche eingesetzt werden
darf, entsteht hinsichtlich der Entscheidung in einem
Schwangerschaftskonfliktfall ein hoher zeitlicher Druck.
Die Zielsetzung der Pflichtberatung, nämlich zum Leben
zu beraten, gerät in ernsthafte Gefahr, da der Zeitdruck einen sorgfältigen und zeitintensiven Beratungsprozess verhindern kann. Das bedeutet, dass die Anwendung von Mifegyne besonders intensiver ärztlicher Beratung und
Unterstützung bedarf.
Es gibt auch Hinweise für die Vermutung, dass die
psychische Belastung bei einem Abbruch mit Mifegyne
für manche Frauen größer ist als bei einem chirurgischen
Eingriff, weil die Frau durch die Einnahme der Pillen den
Schwangerschaftsabbruch selbst auslöst und den Vorgang
über mehrere Tage hinweg bewusst an sich erlebt. Dabei
übernimmt die Frau eine aktive Rolle; stärkere Schuldgefühle könnten die Folge sein. Auch von daher ist eine helfende Begleitung durch den Arzt notwendig und geboten.
Aus all diesen Gründen ist es nicht verständlich, dass
diese Methode des Schwangerschaftsabbruchs finanziell
anders abgegolten wird als der chirurgische Schwangerschaftsabbruch,
({4})
zumal für eine Reihe von Frauen der Abbruch mittels Mifegyne der schonendere sein kann. Von daher kann es
nicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers sein, die Vergütung der Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung an sich zu ziehen.
({5})
Aber die gesetzliche Krankenversicherung bleibt aufgefordert, die Anpassung vorzunehmen.
({6})
Auch die Länder haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit
die Aufgabe, diesen Frauen die Möglichkeit zu geben, den
für sie schonendsten Weg eines von ihnen gewünschten
Schwangerschaftsabbruchs zu wählen und diesen dann
auch finanziell zu tragen.
Über den Vertriebsweg muss in den Ausschussberatungen weiter diskutiert werden. Dabei muss es oberstes
Ziel sein, dass eine missbräuchliche Nutzung von Mifegyne ausgeschlossen ist.
({7})
Wir wollen den Frauen helfen, die sich nach ausführlicher Beratung für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
({8})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne wieder auf den Gesetzentwurf
zurückkommen, den wir hier beraten. Zunächst begrüße
ich es, dass sich die F.D.P. Gedanken darüber gemacht hat,
wie ein mögliches Aus für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verhindert werden kann. Immerhin
kämpfen Frauen in allen Parteien seit Jahren dafür, dass
die gesundheitsschonendere - das ist sie in vielen Fällen medikamentöse Abbruchmethode auch Frauen in
Deutschland zur Verfügung steht.
Frau Widmann-Mauz, Sie müssen sich in Ihrer Argumentation schon entscheiden: Sie sagen, Sie seien gegen
Mifegyne, aber für einen anderen Vertriebsweg.
({0})
Man ist entweder für das eine oder das andere.
In nahezu allen europäischen Ländern ist die Pille erhältlich. In Schweden wird jeder zweite Abbruch und in
Frankreich jeder dritte Abbruch medikamentös vorgenommen.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Widmann-Mauz?
Natürlich.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, bitte schön.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, wollen Sie zur Kenntnis nehmen,
dass ich mich nie gegen dieses Präparat ausgesprochen
habe, dass ich im Übrigen bei der Frage der Einführung
bzw. des Vertriebsweges im Parlament bereits zweimal
gesprochen habe und jedes Mal gesagt habe: „Wenn
dieses Präparat den gesetzlichen Bestimmungen des
BfArM für die Einführung eines Schwangerschaftspräparates entspricht, habe ich diese Entscheidung nicht zu
kritisieren“, dass ich aber sehr wohl eine andere Auffassung bezüglich des besten Vertriebsweges für dieses Präparat habe, wie ich dies bereits in der Vergangenheit im
Parlament zum Ausdruck gebracht habe? Durch die
Diskussion über den Vertriebsweg sehe ich meine Haltung
und die Haltung meiner Fraktion auch bestätigt.
Frau Kollegin, ich kann nur die Rede bewerten, die Sie gerade gehalten haben. Darin ist für mich
zum Ausdruck gekommen, dass Sie gegen Mifegyne, aber
für einen anderen Vertriebsweg sind. Insofern habe ich
Ihre jetzigen Ausführungen zu bewerten und nicht das,
was Sie vorher einmal gesagt haben.
({0})
Nach einem Jahr muss festgestellt werden, dass lediglich 2 bis 3 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche in
Deutschland mit Mifegyne vorgenommen werden. Herr
Parr, die Zahl, die Sie genannt haben - 6 Prozent -, kann
nicht stimmen. Ich kann Ihnen gleich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes geben.
({1})
- Nein, es waren noch nie 6 Prozent. Wir müssen das jetzt
nicht diskutieren. Wie gesagt, ich gebe Ihnen die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes.
Diese niedrigen Prozentzahlen haben den Hersteller
dazu veranlasst, das Mittel Ende dieses Jahres aus ökonomischen Gründen vom Markt zu nehmen. Damit hätten
Frauen in Deutschland keine Möglichkeit mehr, die für sie
am besten geeignete Abbruchmethode zu wählen. Dies
möchte die rot-grüne Koalition verhindern. Insoweit stimmen wir mit dem Ziel, das die F.D.P. mit ihrem Gesetzentwurf verfolgt, überein. Dieser Entwurf ist allerdings
nicht geeignet, eine Lösung für das heutige Problem anzubieten. Er bietet nur eine Teillösung an.
({2})
Es ist mitnichten der Vertriebsweg, der den Einsatz von
Mifegyne erschwert. Der Sondervertriebsweg, der extra
wegen der gesetzlichen Regelungen des straffreien
Schwangerschaftsabbruchs gewählt wurde, erhöht zwar
die Kosten für das Medikament um 30 DM. Aber Handelsaufschläge für Großhändler und Apotheken in Höhe
von 40 Prozent fallen weg. Diese spart das Unternehmen
also ein. Insofern zählt auch das Preisargument nicht.
Die erheblichen Zusatzkosten, Frau LeutheusserSchnarrenberger, bestehen also nicht.
Dass die Ursache für die niedrige Verschreibungsrate
nicht der Vertriebsweg ist, kann sogar statistisch bewiesen
werden. Länder wie Baden-Württemberg und SchleswigHolstein verzeichnen im Vergleich zu anderen Bundesländern einen höheren Einsatz von Mifegyne. Der Grund
liegt auf der Hand: Diese Länder zahlen den Ärzten angemessene Honorare. Genau da liegt auch das Problem.
Während für einen medikamentösen Abbruch 279 DM
inklusive 160 DM für die Pille gezahlt werden, ist die Erstattung für einen chirurgischen Eingriff mehr als doppelt
so hoch. Diese Sätze sind vom Bewertungsausschuss,
dem Selbstverwaltungsorgan der Ärzte und Krankenkassen, festgelegt worden. Es hat sich jedoch herausgestellt,
dass der Satz für den medikamentösen Abbruch nicht ausreichend und angemessen ist; denn es wird ja nicht nur die
Pille verabreicht. Vielmehr sind umfangreiche Beratungsund Beobachtungszeiten notwendig. Herr Schäfer hat das
gerade sehr eindrucksvoll dargestellt.
Die Gesundheitsministerin hat nun angekündigt, dass
sie in den Ausschuss eine neue Vorlage einbringen
möchte, die eine bessere Vergütung vorsieht. Was daraus
wird, müssen wir abwarten. Es ist sicherlich richtig, wenn
erneut versucht wird, den medikamentösen Abbruch sachgerecht zu bewerten.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?
Gern.
Bitte
schön, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Schewe-Gerigk, ich frage Sie, ob Sie sich noch erinnern, dass der Vorschlag vom 23. Oktober, die tatsächlich
anfallenden Kosten bei der Behandlung mit Mifegyne im
Gesetz festzuschreiben, damit gewährleistet wird, dass
Leistungen wie der Einsatz von medizinischen Apparaten
auch bezahlt werden können, von Ihrer Fraktion gemacht
worden ist. Wenn Sie dies jetzt im Rahmen eines eigenen
Gesetzentwurfes oder Änderungsantrages zu unserem
Gesetzentwurf einbringen würden, dann hätten wir eine
Grundlage, auf der wir über viele Ansätze beraten und uns
eine eigene Meinung bilden könnten.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wir setzen auf ein Stufenverfahren. Zunächst einmal versuchen
wir beim Bewertungsausschuss - hier liegt das eigentliche Problem - Verständnis dafür zu wecken,
({0})
dass der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch nicht
nur aus dem Verabreichen der Pille besteht,
({1})
sondern dass er auch Beobachtungszeiten von vier Stunden und das Vorhalten von Apparaten für einen möglichen
chirurgischen Eingriff notwendig macht. Genau darüber
wird die Gesundheitsministerin mit den Mitgliedern des
Bewertungsausschusses sprechen. Das Ergebnis dieses
Gesprächs wollen wir abwarten.
In der nächsten Stufe werden wir mit den Ländern verhandeln. Auch Sie haben solche Verhandlungen mit den
Ländern in Ihrem Antrag gefordert, damit die Länder
aufgrund entsprechender gesetzlicher Änderungen mehr
für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zahlen können. Das können die Länder schon jetzt. BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein zahlen schon heute
mehr als die anderen Bundesländer. Das, was Sie fordern,
ist schon aufgrund der jetzigen gesetzlichen Grundlagen
möglich.
({2})
- Warten Sie ab!
Ich appelliere an dieser Stelle an den Bewertungsausschuss, eine sachgerechte Bewertung des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs vorzunehmen. Aufgrund
der jetzigen Diskussion sieht man, wie dringend notwendig eine Neubewertung ist. Es wäre auch hilfreich, wenn
die Ärzte selbst ihre Kollegen im Bewertungsausschuss
davon überzeugen würden, dass die bisherige Honorierung des medikamentösen Abbruchs nicht adäquat ist.
Den Weg, den Sie vorgeschlagen haben - die Länder entsprechend aufzufordern -, habe ich gerade schon angesprochen.
Allerdings muss ich Folgendes sagen: Ich möchte
nicht, dass es von einem einzelnen Bundesland abhängt,
ob eine Frau frei wählen kann, welche Abbruchmethode
für sie die richtige ist.
({3})
Wenn sich die Länder hinsichtlich der angebotenen
Schwangerschaftsabbruchmethoden unterschiedlich entscheiden, dann sollte man die Frauen nicht dafür bestrafen, in welchem Bundesland sie leben. Daher bliebe für
meine Fraktion als letztes Mittel, wenn dies alles nicht
fruchtet - jetzt kommt das, worauf sie so lange gewartet
haben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger -, eine gesetzliche Änderung und eine Klarstellung, welche Leistungen
honoriert werden müssen.
({4})
Eine mangelnde Finanzierung darf nicht verhindern, dass
Frauen eine gesundheitsschonendere Methode vorenthalten wird. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich hoffe, dass
Sie auf unserer Seite stehen werden.
Vielen Dank.
({5})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin,
ich platze fast vor Wut. Sie haben den Gesetzentwurf
überhaupt nicht richtig gelesen. Er besteht nämlich nicht
nur aus einem Teil, sondern aus drei Teilen.
({0})
Es geht darum, dass die Kosten für ärztliche Leistungen nicht adäquat bezahlt werden.
({1})
Es geht aber auch um den Vertriebsweg. Sie haben Ihre
Argumentation sehr detailliert auf den Vertriebsweg abgestellt. Ich zitiere gleich zu Anfang Frau Bergmann:
Wir sind in Deutschland offensichtlich die Oberideologen.
({2})
In anderen Ländern scheint es diese Probleme nicht
zu geben.
Diese ganze Diskussion zeigt: Appelle, Appelle, Appelle
und nichts Konkretes von Ihnen.
({3})
Wir haben immer nur die Ablehnung unseres Entwurfes
vor die Nase gesetzt bekommen, während Sie nichts Konkretes gemacht haben, nach dem Motto: Warten wir einmal ab! Schauen wir einmal! Wir wollen appellieren; vielleicht kommt etwas. - Schon am vorletzten Freitag wollte
die Ministerin Fischer Ihnen etwas vorschlagen. Bis
heute, Viertel vor neun, liegt nichts auf dem Tisch, obwohl
Sie die Möglichkeit gehabt hätten, zu dieser Diskussion
etwas vorzulegen.
({4})
Frau Fischer hat uns zu Anfang, bei der Einführung von
Mifegyne, im Stich gelassen. Da hat sie überhaupt nichts
gesagt. Schröder musste kommen und ein Machtwort
sprechen.
({5})
Was hier letztendlich abläuft, ist doch skurril.
({6})
Ich muss sagen, liebe Kollegen von der Regierung: Sie
haben bisher nichts Konkretes vorgelegt. Wir haben einen
Gesetzentwurf eingebracht.
({7})
Das, was ich in der Fragestunde von Frau Niehuis gehört
habe, war genau das Gleiche, was Sie hier heute gemacht
haben, Appelle nach dem Motto: Schauen wir einmal! Wir
müssen einwirken; aber eigentlich können wir nicht, weil
der Bewertungsausschuss unabhängig ist. - Was soll denn
das alles?
Wir haben bald den 31. Dezember. Ich fange an, Weihnachtsgeschenke einzukaufen.
({8})
Sie wissen, dass in der ersten Dezemberwoche die letzte
Möglichkeit besteht, im Parlament noch in diesem Jahr etwas auf den Weg zu bringen. Was wollen Sie denn eigentlich?
Unser Gesetzentwurf besteht aus drei Teilen; vieles ist
von Ihnen vergessen worden. Der erste Teil betrifft die
Änderung des Arzneimittelgesetzes. Der zweite Teil betrifft die Änderung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei
Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen. Darauf sind Sie gar nicht eingegangen. Der dritte Teil betrifft
das Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von
Schwangerschaftskonflikten. Wenn Sie sich ernsthaft mit
diesen drei Teilen unseres Gesetzentwurfs beschäftigt hätten, dann wären wir heute zu einem besseren Ergebnis gekommen.
({9})
Ich stelle hier fest: Die Bundesregierung macht nichts.
Mifegyne wird am 31. Dezember vom Markt genommen
werden. Die F.D.P. wird die einzige Kraft gewesen sein,
die, zum Beispiel mit ihrem Antrag, dagegen gekämpft
hat. Die Leidtragenden werden die Frauen sein, die Mifegyne in Deutschland nicht mehr bekommen.
({10})
Frau Kollegin Lenke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. Frau Schewe-Gerigk würde nichts anderes als
Appelle oder sonst etwas von sich geben und das ist mir
politisch zu leichtgewichtig.
Wir von der F.D.P.-Fraktion, Herr Parr - da haben wir
einmal einen Mann, der für Fraueninteressen eintritt -,
({0})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, andere Frauen und ich
werden jedenfalls bis zum 31. Dezember weiterkämpfen,
damit etwas geändert wird. Mit Ihren Appellen erreichen
Sie nichts, überhaupt nichts.
({1})
Heute Abend haben wir gesehen, dass nichts Substanzielles in Ihren Reden vorhanden ist.
Wenn Sie noch etwas ändern wollen, dann bewegen Sie
sich in den Ausschusssitzungen inhaltlich auf unseren Antrag zu. Wenn Sie Ihre politische Aussage wirklich in die
Realität umsetzen wollen,
({2})
wenn Sie die Wahlmöglichkeiten für Frauen erhalten wollen, dann können Sie nicht so herumreden. Mit Appellen
geht im Bundestag schon gar nichts.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4289 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde
- Drucksache 14/4451 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Hans-Joachim
Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck
({1}), Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Obligatorische Haftpflichtversicherung für
Hunde
- Drucksache 14/3825 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Ulrich Heinrich, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“
schützen
- Drucksache 14/3785 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokoll
gegeben werden; sie liegen mir hier vor1). Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4451, 14/3825 und 14/3785 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4451 soll zusätzlich
an den Rechtssausschuss überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Brähmig, Otto Bernhardt, Friedrich Bohl, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine
einmalige Entschädigung an die Heimkehrer
aus dem Beitrittsgebiet
- Drucksache 14/4144 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Heute, am Vorabend
des 9. Novembers, debattiert der Deutsche Bundestag
einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer
aus dem Beitrittsgebiet.
Sehr herzlich begrüße ich die Landesvorsitzenden des
Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen in Berlin und Brandenburg, Herrn
Engert und Herrn Altmeyer, die auf der Tribüne des Plenarsaals Platz genommen haben.
({0})
Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
Ihrem Verband und seinen Verantwortungsträgern im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihr jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement im Dienste unserer
Kriegsgeneration Dank zu sagen.
({1})
Mit dem 9. November verbinde ich die schrecklichsten
Abgründe und die positivsten Erscheinungen der deut-
schen Geschichte im 20. Jahrhundert. Beide Termine sind
in historischer Hinsicht eng mit dem Thema der heutigen
Debatte verbunden.
Als in der so genannten Reichskristallnacht am
9. November 1938 organisierte Nazihorden durch deut-
sche Städte und Gemeinde zogen, um dabei jüdische Ge-
schäfte und Kultureinrichtungen zu zerstören bzw. in
Brand zu setzen, als am 9. November 1938 deutsche Mit-
bürger jüdischen Glaubens um ihres Glaubens willen
misshandelt, ermordet oder in Konzentrationslager einge-
liefert wurden, als am 9. November 1938 der offene Ter-
ror gegen Andersgläubige und Andersdenkende zur ober-
sten Maxime des Nationalsozialismus erhoben wurde,
hatte sich Deutschland dem eigenen Untergang geweiht.
Die Reichskristallnacht ist der Kristallisationspunkt der
nationalsozialistischen Ideologie, einer Ideologie, die nur
auf Hass, Terror, Größenwahn, Kampf und Mord basierte
und die sich letztendlich gegen das eigene Volk richtete.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges brach dann ein Sturm
über Deutschland hinweg, der bereits am 9. November
1938 in Deutschland gesät worden war und an dessen
Ende die totale Zerstörung Deutschlands, Millionen von
toten Soldaten und Zivilpersonen, Millionen von Kriegs-
gefangenen und Verschleppten, Millionen von Heimat-
vertriebenen und die deutsche Teilung standen.
Der 9. November 1989 dagegen zeigt uns, dass ein
Volk aus seiner Geschichte lernen kann. Die monatelan-
gen friedlichen Demonstrationen in der ehemaligen
DDR und die Fluchtwellen von verzweifelten DDR-Bür-
gern, die nicht länger auf Freiheit und Menschenrechte
verzichten wollten, veranlassten das totalitäre Regime der
SED zur Reformierung der Reisegesetze. Als am 9. No-
vember das Politbüromitglied Günter Schabowski um
18.57 Uhr in einer internationalen Pressekonferenz die
neuen Reisegesetze bekannt gab, brach sich der Ruf nach
Freiheit einen Weg durch die Berliner Mauer. Jenes Sym-
bol der Trennung und der Unfreiheit wurde durch die
Deutschen aus Ost und West förmlich überrannt. Am
Ende dieser Entwicklung stand die friedliche und glückli-
che Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes.
Ohne die zwölfjährige Schreckensherrschaft der Na-
tionalsozialisten, ohne den 9. November 1938, ohne den
Zweiten Weltkrieg hätte die deutsche Geschichte im
20. Jahrhundert einen anderen Verlauf genommen. Doch
Geschichte ist nun einmal unumkehrbar und unauslösch-
bar. Dieser Tatsache haben sich im westlichen Teil
Deutschlands die Nachkriegspolitiker aller Parteien ver-
pflichtet gefühlt und sich durch die umfangreichen
Kriegsfolgenbereinigungsgesetze zur politischen, morali-
schen und finanziellen Verantwortung gegenüber den aus-
ländischen und deutschen Opfern bekannt.
Als Beispiel ist hier das Kriegsgefangenenentschädi-
gungsgesetz zu nennen, das damals einstimmig von den
Mitgliedern des Deutschen Bundestages eingefordert und
am 2. Juli 1953 mit den Stimmen aller Fraktionen bei we-
nigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ange-
nommen wurde. Nach diesem Gesetz hat jeder in die
Bundesrepublik Deutschland Heimgekehrte für jeden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 3
Kalendermonat in fremdem Gewahrsam ab 1. Januar
1947 30 DM, ab 1. Januar 1949 60 DM Entschädigung
und für längere Gefangenschaft weitere Nachzahlungen
erhalten. Die Heimkehrer, die in die Westzonen bzw. die
Bundesrepublik Deutschland entlassen wurden, hatten
damit einen verbürgten Rechtsanspruch auf eine einmalige Entschädigung. Während der Geltungszeit des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes wurden 1,4 Milliarden DM an die Heimkehrer in Westdeutschland ausgezahlt. Später konnten weitere 500 Millionen DM, die über
die Heimkehrerstiftung an bedürftige Heimkehrer gezahlt
wurden, dazu beitragen, das Leid dieser Gruppen zu lindern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegensatz
dazu haben die Machthaber der SED-Diktatur eine Verantwortung für die Folgen des Zweiten Weltkriegs stets
geleugnet. Dies betraf nicht nur die Entschädigungsleistungen an die jüdischen Opfer im In- und Ausland, sondern auch Entschädigungsleistungen gegenüber Heimatvertriebenen, Kriegsgefangenen und verschleppten
Mitbürgern. Die Heimkehrer, die aus der Gefangenschaft
in die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR kamen, haben dort nach ihrer Rückkehr gerade einmal 50 Ostmark
als Reisegeld erhalten. Seit 1993 konnten Heimkehrer aus
dem Beitrittsgebiet auch Leistungen aus der Heimkehrerstiftung in Anspruch nehmen. Bei diesen Zahlungen handelt es sich allerdings um Zahlungen auf der Basis einer
Kann-Bestimmung, die individuell von der Bedürftigkeit
der Einzelperson abhängig ist.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
will 55 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges
sicherstellen, dass die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet
ihren westdeutschen Leidensgenossen gleichgestellt werden und es keine Zweiklassengesellschaft bei den Opfern
des Krieges gibt. Die Forderung in unserem Antrag lautet
daher: Jeder Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet erhält
eine einmalige Entschädigung für die Reparationsleistungen, die er durch die Zwangsarbeit während seiner
Kriegsgefangenschaft bzw. Geltungskriegsgefangenschaft für das deutsche Volk erbracht hat.
({2})
Die Höhe der einmaligen Entschädigung für jeden Berechtigten beträgt, gestaffelt nach der Dauer des Gewahrsams, für die Entlassungsjahrgänge 1947 und 1948
1 000 DM, für die Entlassungsjahrgänge 1949 und 1950
2 000 DM und für die Entlassungsjahrgänge ab 1951
3 000 DM. Ich bin mir mit meinen Kollegen Erwin
Marschewski und Hartmut Büttner bewusst, dass diese
Pauschalbeträge lediglich als symbolische Geste für das
vor Jahrzehnten erlittene Unrecht verstanden werden können.
({3})
Bei einer Zahl von rund 30 000 Heimkehrern und
20 000 zur Zwangsarbeit verschleppten Deutschen ergeben sich für den Bund Kosten in Höhe von 90 Millionen
DM, die im Haushalt 2001 eingestellt werden müssen.
({4})
Die genannten Zahlen beruhen auf Angaben des Statistischen Bundesamtes. Bei den Berechnungen der Gesamtsumme von 90 Millionen DM wurden die Erfahrungswerte der Heimkehrerstiftung zu Hilfe genommen. Von
den circa 50 000 Anspruchsberechtigten entfallen danach
jeweils 40 Prozent auf die Fallgruppen der Entlassungsjahrgänge 1947/48 und 1949/50, weitere 20 Prozent entstammen den Entlassungsjahrgängen ab 1951.
Die Ausführung dieses Gesetzes obliegt der bundesunmittelbaren Stiftung des öffentlichen Rechts „Heimkehrerstiftung - Stiftung für ehemalige Kriegsgefangene“,
die bereits seit 1993 Zahlungen an heute noch bedürftige
Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet leistet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie bereits
erwähnt, war in den 50er-Jahren die Entschädigung der
deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter allen
politischen Fraktionen des Deutschen Bundestages ein
besonderes Anliegen; dieses mündete damals in ein Gesetzeswerk, das von Vertretern aller Fraktionen getragen
wurde. Daher haben sich Kollege Friedrich Bohl als Vorsitzender des parlamentarischen Beirates des VdH und ich
mich darum bemüht, mit anderen Fraktionen einen gemeinsamen Antrag vor der Sommerpause vorzulegen.
({5})
Leider erhielt Herr Kollege Hacker von der Führung der
SPD-Fraktion keine Rückendeckung für einen gemeinsamen Antrag zu dieser Problematik. Als Begründung für
die Ablehnung eines gemeinsamen Antrags wurde mir die
angespannte Finanzlage des Bundes genannt.
Sie können sich sicher vorstellen, dass eine solche Argumentation angesichts von sprudelnden Steuereinnahmen und zusätzlichen Milliardeneinnahmen aus den
UMTS-Erlösen auf die Betroffenen und ihre Angehörigen
wie Hohn wirkt. Weiterhin hat die anhaltende Debatte um
die Entschädigung für Zwangsarbeiter in Deutschland
eine zusätzliche Dynamik in diese Angelegenheit
gebracht. Dies wurde mir in einigen persönlichen Gesprächen im Wahlkreis verdeutlicht. Deutsche Kriegsgefangene und deutsche Zwangsarbeiter machten mir unmissverständlich klar, unter welchen Bedingungen sie
Reparationsleistungen für Deutschland unter anderem in
der ehemaligen Sowjetunion erbringen mussten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei diesen
Gesprächen wurde kein Unmut über die Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ laut,
die der Bundestag in seiner Sitzung vom 6. Juli 2000 auf
den Weg gebracht hat. Vielmehr hörte ich in den Gesprächen Verbitterung darüber, dass das Leid, das diese
Menschen in den Gefangenenlagern erlebt hatten, sowohl
in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland
fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Einen Beweis für
diese Behauptung sehe ich in der Tatsache, dass nur die
Kollegen Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Bosbach und
Dr. Hans-Peter Uhl in der Debatte vom 6. Juli auf die Leiden unserer Landsleute hingewiesen haben.
Erfreulicherweise berichtet das Nachrichtenmagazin
„Focus“ in dieser Woche ausführlich über die Situation
der deutschen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen
nach der Kapitulation Deutschlands. Ich kann die Lektüre
allen Kollegen nur empfehlen. Weiterhin sendet die ARD
am 16., 21. und 22. November 2000 jeweils um 20.15 Uhr,
also zur besten Fernsehzeit, ihren Dreiteiler „Soldaten
hinter Stacheldraht“. Spätestens dann wird eine breite Öffentlichkeit noch einmal eindringlich über das wirkliche
Schicksal der circa 11 Millionen deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter informiert.
Ausgehend vom Grundsatz, dass es nicht zweierlei
Recht gibt, bitte ich daher die Mitglieder der anderen
Fraktionen, noch einmal genau darüber nachzudenken, ob
es gerecht ist, wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts
50 000 Landsleuten diese symbolische Geste verweigern
und uns zugleich an anderer Stelle zu der Verantwortung
für die Kriegsfolgen bekennen.
({6})
Ich glaube, zehn Jahre nach der staatlichen Einheit
Deutschlands gehört zur Vollendung der inneren Einheit
Deutschlands eine Entschädigung der rund 50 000 heute
noch lebenden Heimkehrer und Geltungskriegsgefangenen aus der ehemaligen DDR.
({7})
- Da können Sie ruhig klatschen, ja.
Ich bitte um zügige Beratung des Gesetzes in den Ausschüssen und den Beitritt der anderen Fraktionen zu dem
Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({8})
Meine Damen und Herren, die Zeit der Worte ist
55 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei.
({9})
Nun sind Taten gefragt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gisela Schröter von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Brähmig, gestatten Sie
mir zu Beginn den Hinweis, dass Sie von 1990 bis 1998
acht Jahre lang Zeit hatten, dafür zu sorgen, dass das
geschieht, was Sie jetzt einfordern.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus nächster Nähe,
dem eigenen Verwandtenkreis, bin ich mit dem schweren
Schicksal der Menschen vertraut, die in der Nachkriegszeit, oft belastet mit ganz schlimmen Erlebnissen, in die
DDR zurückgekehrt sind. Es handelt sich dabei um Menschen im hohen Lebensalter, die nach der Wende zum ersten Mal überhaupt frei über diese schlimmen Erlebnisse
sprechen konnten. Bis dahin war dieses Thema ziemlich
tabu, mitunter sogar in den eigenen Familien. Für die Betroffenen war das eine zusätzliche Belastung. Ich empfinde tiefen Respekt vor dem Schicksal dieser Menschen
und ihrer Lebensleistung.
Für die Spätheimkehrer, die damals in den Westen, also
in die alte Bundesrepublik, kamen, wurde 1953 das
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz beschlossen.
Ich möchte betonen: Sinn und Zweck dieses Leistungsgesetzes - damit komme ich einmal zum Thema, Herr Kollege Brähmig - war es, den oft für viele Jahre aus ihrer
Heimat und ihren Familien gerissenen Menschen zu helfen, ihnen eine Chance in der Gesellschaft zu geben und
sie möglichst schnell wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Bis zu drei Jahre nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft konnten sie entsprechende Anträge stellen.
Die wichtige Aufgabe der Eingliederung dieser Menschen
ist seit Ende 1967 erfüllt.
Die Heimkehrer, die heute in den neuen Ländern leben, müssen nicht mehr integriert werden. Rund fünf
Jahrzehnte sind seit ihrer Rückkehr vergangen. Sicherlich
gibt es unter ihnen und ihren Angehören sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern Menschen, die auf eine
besondere Unterstützung angewiesen sind. Für diese
Menschen gibt es seit 1970 - für die neuen Länder seit
1993 - die Heimkehrerstiftung. Das hat zuletzt das
Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 - der Name ist
ein Wortungetüm - geregelt. Die SPD hat diesem Gesetz
damals ausdrücklich zugestimmt. Damit wurde das erste
Mal etwas für diese Menschen getan. In diesem Jahr gibt
der Bund 22 Millionen DM an diese Stiftung.
Ich wiederhole: Die Leistungen nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz sollten keinesfalls einen
Ausgleich oder eine Wiedergutmachung für das erfahrene
Leid darstellen. Das kann man überhaupt nicht erreichen.
({1})
Im Häftlingshilfegesetz ist ausgeführt, dass es sich - ich
betone dies nachdrücklich - um Eingliederungshilfen
handelt. Mit Geld ist also kein Ausgleich möglich.
Was die Menschen heute vor allem erwarten - das weiß
ich aus meinen persönlichen Gesprächen -, ist der Respekt der Gesellschaft für ihr erlittenes Schicksal und die
Anerkennung ihrer Lebensleistung.
Mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Union, lassen Sie diesen Respekt vermissen. Ich will Ihnen sagen, weshalb. Sie
wecken damit bei den Betroffenen Hoffnungen. Lassen
Sie uns doch bitte aufrichtig diskutieren! Sie wollen ein
Gesetz schaffen, das einen Systembruch mit den bisherigen Regelungen bedeutet.
({2})
Das heißt, wenn wir hier über Entschädigungen für
Spätheimkehrer in die DDR diskutieren
({3})
- hören Sie mir bitte zu! -, dann müssen wir zugleich zum
Beispiel über die Menschen sprechen, die Opfer des
DDR-Regimes geworden sind. Wir müssen über die AnKlaus Brähmig
sprüche der Menschen reden, die jenseits von Oder und
Neiße verschleppt wurden.
({4})
Im Einigungsvertrag ist die von Ihnen vorgeschlagene Lösung nicht vorgesehen.
Das bereits angesprochene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 hat Klarheit darüber gebracht, wie es mit
dem Kriegsfolgenrecht im vereinigten Deutschland gehalten werden sollte. Die damalige Bundesregierung - sie
wurde von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Union, gestellt - hat in der Begründung des entsprechenden Gesetzentwurfes festgehalten - ich zitiere -:
Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergangen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.
Wenn wir jetzt erneut über dieses Thema sprechen, müssen wir es mit großer Sensibilität und Aufrichtigkeit tun.
Wir dürfen auch keine falschen Erwartungen wecken.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Türk von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Kollegin
Schröter, es kann kein Argument sein, dass wir die Dinge
weiterhin offen lassen, nur weil wir sie bisher noch nicht
gemeinsam in Ordnung bringen konnten. Das ist ein offenes Problem und darüber muss man reden.
({0})
Ich halte es auch für notwendig, dass gerade im Zuge
der Diskussion um die Entschädigung ausländischer
Zwangsarbeiter - es ist richtig, dass wir da etwas tun - die
deutschen Zwangsarbeiter nicht vergessen werden dürfen. Das ist ganz legitim und muss einmal gesagt werden.
Aus diesem Grunde begrüße ich ausdrücklich den vorliegenden Gesetzentwurf, der vorsieht, den in die ehemalige DDR entlassenen deutschen Kriegsgefangenen, zu
denen übrigens auch Zigtausende in den Osten entlassene
verschleppte Frauen zählen, eine Entschädigung zu zahlen. Diese ist ihnen in der DDR, wie wir wissen, aus politischen Gründen verwehrt worden. Ich sage Ihnen ganz
klar: Wir sollten das in der Bundesrepublik nicht weiterhin genauso handhaben.
({1})
Das heißt, wir sollten keine Aufrechnung des an Deutschen begangenen Unrechts mit dem durch Nazideutschland begangenen Unrecht an ausländischen Zwangsarbeitern zulassen.
Gertrud Böttcher, die laut „Welt am Sonntag“ im März
1945 im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern in das Arbeitslager Swerdlowsk verschleppt wurde, sagt über die
Diskussion und die Entschädigung der ausländischen
Zwangsarbeiter:
Es kränkt mich ganz furchtbar.
Das ist doch zu verstehen.
Wir waren auch Zwangsarbeiter und teilen das
schwere Schicksal mit diesen Menschen,
- also den ausländischen Zwangsarbeitern aber von uns redet niemand. Es geht nach so vielen
Jahrzehnten vor allem um die Anerkennung.
({2})
Über die Art und Weise der Anerkennung können wir uns
ja vielleicht noch verständigen.
In der Tat kann man diesen damals jungen und missbrauchten Frauen und Männern nicht pauschal die Schuld
Nazideutschlands aufladen.
({3})
Das haben wir bisher unbewusst gemacht, und wenn es
nur durch Verdrängung war. Auch sie waren Opfer und
keine Täter.
({4})
Auch wenn die Entschädigung nicht hoch ist und viele
sie nicht mehr erleben, schließt sie doch eine Gerechtigkeitslücke,
({5})
die es heute mit Sicherheit gibt. Denn die Kriegsgefangenen, die das Glück hatten, in den Westen entlassen zu werden, haben längst eine Abfindung erhalten, nicht nur als
Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung für
den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schweres
Schicksal.
({6})
Es gab mehr als 11 Millionen deutsche Kriegsgefangene, die über die ganze Welt verstreut waren. Ich erinnere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie waren aber
ebenso in anderen Ländern interniert. Auch in Westdeutschland hat man sich in den letzten Jahren mit diesem
Thema schwer getan. Aber es bringt uns nicht weiter, die
Geschichte zu verdrängen; wir müssen uns ihr stellen,
nach Möglichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer
Geschichte gehört, dass wir nach 50 Jahren nicht nur den
ausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfahren lassen, sondern auch den deutschen,
({7})
die bislang nur deshalb leer ausgingen, weil sie in den
Osten, die DDR, entlassen worden sind.
Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, könnte ein
Stück weit dazu beitragen, die innere Einheit zu vollenden, die wir wollen und, so hoffe ich, gemeinsam anstreben.
Vielen Dank.
({8})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Cem Özdemir
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht hier um ein
besonders beschämendes Kapitel der Nachkriegsgeschichte der DDR. Gerade die jüngeren Abgeordneten des
Hauses können sich nur sehr schwer vorstellen, was die
vielen Kriegsgefangenen zu erleiden hatten. Ich erinnere
ausdrücklich an das Schicksal der Kriegsgefangenen in
Deutschland, die zu Millionen zur Zwangsarbeit verpflichtet und umgebracht wurden. Ich weiß aber auch,
was deutsche Kriegsgefangene an Misshandlungen, Hunger und anderen schlimmsten Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. Ihr Schicksal kann und darf uns nicht
egal sein. Ich glaube, das kann man im Namen aller Fraktionen hier sagen.
({0})
Für die Zurückkehrenden war die Wiedereingliederung
in das normale Leben oftmals von großen Problemen begleitet: psychische und physische Bewältigung des Erlebten, Orientierung in der Freiheit, die private und nicht zuletzt auch die finanzielle Situation. Gerade die Menschen,
die in die DDR entlassen worden sind, bekamen statt
Hilfe vom Staat die Weisung, über ihr Schicksal zu
schweigen. Das ist besonders schwer zu verstehen. Alles,
was sie an schlimmen Dingen erlebt hatten, war tabu. Der
große Bruder und Freund Sowjetunion durfte nicht in
dunklen Farben gezeichnet werden. Für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft wurde materielle Unterstützung benötigt. All dies ist den heimkehrenden Menschen in der DDR verweigert worden.
Aber - auch darauf wurde bereits hingewiesen - es war
die Vorgängerregierung, die Regierung Kohl, die das
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz aufgehoben hat,
dessen Regelungen Sie wieder einsetzen wollen. Mich irritiert auch, dass die Union das Thema Entschädigung der
NS-Zwangsarbeiter mit dem Schicksal der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion verknüpft.
({1})
Ich möchte Sie dringend bitten, diesen gefährlichen Vergleich schnell in den Akten verschwinden zu lassen.
({2})
Ich will Ihnen den Grund dafür nennen, dass das gefährlich ist.
({3})
- Lassen Sie mich das erklären. - Sie selber wissen, dass
hier große internationale Probleme auf uns zukommen
können. Wir in Deutschland können nicht damit beginnen, den Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und Zivilisten zu verwischen. Tun wir dies, so eröffnen wir auf
internationaler Ebene ohne Not eine neue Runde von Reparationszahlungen. Ich glaube, Graf Lambsdorff, der in
diesem Zusammenhang wichtige Verhandlungen geführt
hat, kann uns allen erklären, welche Begehrlichkeiten wir
in diesem Falle zu erwarten hätten.
Lassen Sie uns auch damit aufhören, die Betroffenen
zu verunsichern. Gerade im Interesse der hochbetagten
Betroffenen sollten wir im Gespräch bleiben. Ich kann Ihnen seitens meiner Fraktion bzw. - da bin ich sicher - seitens beider Fraktionen und der Regierung anbieten, das
Gespräch mit Ihnen zu suchen. Solange noch Betroffene
leben, kann das Kapitel Entschädigung nicht abgeschlossen werden. Wir sollten dabei aber falsche Vergleiche vermeiden. Wenn Sie Ihre Aussage hier richtig stellen
oder sagen, dass Sie falsch verstanden worden sind, dann
wäre das umso besser. Dies alles nützt niemanden, am wenigsten den Menschen, um die es hier geht.
Doch zurück zum vorliegenden Gesetzentwurf. Sie
wollen mit diesem Gesetzentwurf den Zustand wieder
herstellen, den die unionsgeführte Regierung 1992 beseitigt hat. Damals wurde im Einvernehmen mit den Verbänden davon Abstand genommen, weiter Zahlungen in
Form von Kriegsgefangenenentschädigung zu leisten.
Stattdessen wurde der Weg gefunden, bedürftigen ehemaligen Kriegsgefangenen über die Heimkehrerstiftung
Mittel zukommen zu lassen. Heute müsste erklärt werden,
was daran falsch gewesen sein soll. Gerade von den Bedürftigen aus den neuen Ländern ist diese über die Stiftung gewährte Hilfsmöglichkeit rege in Anspruch genommen worden.
Zum Schluss nochmals der Appell: Lassen Sie uns aufpassen, dass wir die Betroffenen nicht verunsichern. Aber
lassen Sie uns auch ehrlich sein. Die derzeitige Haushaltslage ist allen bekannt. Sie wäre nicht anders, wenn
Sie regieren würden.
({4})
Auch Sie hätten keine anderen Mittel zur Verfügung als
die, die wir haben. Wir sollten mit Blick auf das Schicksal der Menschen das Gespräch suchen. Die derzeitigen
Haushaltsberatungen bieten dazu Gelegenheit. Ich
wiederhole das Angebot: Lassen Sie uns zu einer vernünftigen Lösung kommen.
({5})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Petra Pau von
der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Damit kein Missverständnis entsteht: Das
Anliegen, das ich nicht nur aus dem vorliegenden Gesetzentwurf herausgelesen, sondern das ich auch heute Vormittag im Innenausschuss, als wir dort die Haushaltsanträge behandelt haben, herausgehört habe, unterstützt
meine Fraktion. Über eine Einmalzahlung - wenn ich es
einmal so übersetzen darf - das Schicksal dieser betroffenen Menschen anzuerkennen und ihnen damit so etwas
wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - darüber sollten
wir in den Ausschussberatungen sprechen, auch darüber,
wie so etwas zu realisieren ist, wie man damit umgeht.
Als heute während der Haushaltsberatungen im Innenausschuss sozusagen durch die Hintertür schon einmal ein
entsprechender Haushaltstitel eingeführt werden sollte,
habe ich mich deshalb enthalten, um meine Unterstützung
des Anliegens, die Tatsache, dass man darüber nachdenken muss, deutlich zu machen.
Wir sollten aber auch das aufnehmen, was die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen völlig
zu Recht festgestellt haben: Das Anliegen des damals bestehenden Gesetzes war tatsächlich, die dringend notwendige Hilfe zur Eingliederung, zum Fußfassen und auch
zum Zusammenführen der versprengten Familien, zum
Wieder-Zusammenführen von Menschen, zu gewähren.
Im Jahr 2000 und darüber hinaus geht es um die Anerkennung des Schicksals und um das Klarmachen, dass
auch hier Unrecht geschehen ist, aber nicht um eine Wiedereingliederung.
Es stellen sich aber auch ein paar Fragen. Sie sind hier
schon genannt worden. Es ist nun das Schicksal der letzten Rednerin im Reigen der Fraktionen, diese zu wiederholen. Es handelt sich zum Beispiel um die Frage, was seitens der damaligen Regierungskoalition in den Debatten
der Jahre 1989/90 und im Einigungsvertrag zur Lösung
dieses Problems eigentlich unternommen worden ist.
({0})
Warum ist nicht wenigstens der Vorbehalt angebracht
worden, dass entsprechende Regelungen zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen werden, wenn man anerkennt, dass das 1990 nicht möglich war?
Ein zweite Frage - diese bewegt mich sehr viel mehr
und deshalb habe ich über Intentionen, die ich aus dem
Gesetzentwurf herausgelesen und aus der Debatte herausgehört habe, gesprochen - besteht bezüglich des Textes
des Gesetzentwurfes. Denn problematisch ist nicht nur
das, was Sie, Herr Brähmig und Herr Türk, hier soeben in
der Debatte gesagt haben. Der erste Satz unter der Überschrift „Problem“ hat mich angesichts der Debatten, die
wir hier im Zusammenhang mit der Entschädigung von
Zwangsarbeitern und der damit verbundenen Verantwortung der Bundesrepublik und auch der jungen Generation geführt haben, sehr betroffen gemacht.
Tun Sie uns, aber auch den Betroffenen, deren Vertreter hier sitzen, folgenden Gefallen: Werfen Sie Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene nicht in einen Topf.
({1})
Lassen Sie uns vielmehr auf der einen Seite endlich unserer Verantwortung in Bezug auf die Entschädigung der
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Nazizeit
nachkommen und Druck auf diejenigen ausüben, die sich
immer noch verweigern,
({2})
und lassen Sie uns auf der anderen Seite die Verantwortung dafür wahrnehmen, dass diese Menschen in unserem
Land Anerkennung für ihr Leid, für ihr Schicksal erfahren, dass sie wissen: Sie sind nicht vergessen. - Aber werfen Sie es nicht zusammen.
Wir tun uns keinen Gefallen, wir tun ihnen keinen Gefallen und außerdem leisten wir dann einen Beitrag dazu,
dass Geschichte verharmlost wird. Deshalb fand ich es ein
bisschen unpassend, dieses Thema hier am Vorabend des
9. November in dieser Weise aufzurufen. Ich glaube, hier
werden Ursache und Wirkung zusammengeworfen oder
verwechselt.
({3})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nur das
spontane Empfinden und die menschliche Teilnahme
sprechen ließe, wäre die Sache leichter. Denn wer gönnt
es diesen Menschen nicht, um deren Schicksal wir sie nun
wirklich nicht beneiden können?
Tatsache ist, dass über die Frage nach einer anders gearteten Zuwendung an Kriegsheimkehrer in den vergangenen Jahren wieder stärker und öfter diskutiert wird. Das
war so im Vorfeld von Landtagswahlen, vor allen Dingen
in den ostdeutschen Ländern. Das ist so im Zuge der öffentlichen und intensiven Debatte um die Entschädigung
für Zwangsarbeiter.
Doch gilt es, die Unterschiede deutlich zu machen. Ich
muss es auch noch einmal betonen. Damit meine ich insbesondere, dass die Gruppe der Zwangsarbeiter nicht
mit der Gruppe gleichgesetzt werden kann, über die wir
uns heute Abend Gedanken machen. Man muss sich auch
die Geschichte der Gesetzgebung, Sinn und Konzept der
damaligen und der jetzigen Regelungen in dieser Frage
vor Augen führen.
Ihr Gesetzesvorschlag, Herr Brähmig, läuft darauf hinaus, das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz in veränderter Form quasi wieder aufleben zu lassen.
({0})
Dieses Gesetz aber ist durch Art. 5 des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes mit Wirkung vom Januar 1993 aufgehoben worden. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der CDU/CSU, ein Zitat der damaligen von
Ihnen geführten Bundesregierung in Erinnerung rufen.
Sie hat seinerzeit festgestellt:
Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zählt
zu den Gesetzen, die ihren Zweck heute weitgehend
erfüllt haben. Die ehemaligen Kriegsgefangenen in
der bisherigen Bundesrepublik Deutschland sind
entschädigt und eingegliedert.
Dann wird darauf hingewiesen, dass als so genannte
Geltungskriegsgefangene - das ist auch so ein Wortungetüm; das sind Menschen, die aus militärischen Gründen
interniert oder deportiert waren - hauptsächlich Aussiedler entschädigungsberechtigt waren - das waren 96 Prozent - und dass deshalb Entschädigung und Eingliederung
für die betroffenen Russlanddeutschen fortgeführt werden
sollten.
Weiter heißt es, diese Überlegungen ließen sich allerdings nicht uneingeschränkt auf die ehemaligen Kriegsgefangenen in der einstigen DDR übertragen. Zwar hätten diese noch keine Leistungen erhalten, die denen des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes vergleichbar
seien. Aber nun seien mehr als 45 Jahre vergangen, die
Betroffenen seien eingegliedert. Von Entschädigungszahlungen sollte abgesehen werden; jedoch sollten die Leistungen der Heimkehrerstiftung, soweit noch zeitgerecht,
auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen werden.
Mit anderen Worten: Die Heimkehrerstiftung führt das
weiter, was sinnvoll und nach dem Gang der Entwicklung
über all die Jahre hin notwendig ist: Bedürftige ehemalige
Kriegsgefangene werden unterstützt, allerdings ohne einen Rechtsanspruch.
Die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes stieß damals auf allgemeines Einvernehmen. Ich habe die Begründung der damaligen Regierung
so ausführlich wiedergegeben, weil sie seinerzeit bereits
zu dem Schluss kam, dass der Grundgedanke dieser Entschädigung, nämlich Hilfe bei der Wiedereingliederung,
nicht mehr zeitgemäß ist, also durch die Wirklichkeit
überholt ist. Sie ist auch heute, über acht Jahre später,
nicht mehr zeitgemäß. Jedenfalls sind keine neuen, zwingenden Argumente aufgetaucht, die die Angelegenheit in
einem anderen Licht erscheinen ließen.
({1})
Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
Union, haben in Ihrer Regierungszeit eine entsprechende
Initiative eben nicht ergriffen.
Deshalb ist es nicht vorstellbar, nicht ratsam und vielleicht auch nicht redlich, ein für abgeschlossen erachtetes
und im Konsens aufgehobenes Gesetz - wenn auch in abgewandelter Form - wieder zum Leben zu erwecken.
Eines will ich aber auch betonen: Mit einer umfangreichen, sozialstaatlich geprägten Gesetzgebung ist zumindest der Versuch gemacht worden, erlittene Lebensschicksale auszugleichen, aber einen vollen Ausgleich für
durchlebte Not und Entbehrung dieser Art wird es nicht
geben können.
Vielen Betroffenen geht es eigentlich auch nicht um
Mark und Pfennig, wie ich sehr wohl aus manchen Gesprächen weiß, sondern wirklich in erster Linie um eine
Würdigung ihres Lebensschicksals. Deswegen begrüße
ich auch die vielfältigen Gespräche, die wir im Bundesinnenministerium, die ich selbst und die auch der Parlamentarische Beirat der Heimkehrerstiftung in dieser und
anderen Fragen führen. Es geht einfach auch um das Bewusstmachen einer Problematik, die - zumindest in Zeiten der ehemaligen DDR - verdrängt worden ist.
({2})
Ich will eines zum Schluss noch sagen: Die bestehende
Regelung hat sich durchaus bewährt. Das darf man ruhig
auch einmal erwähnen. Bedürftige können ja weiterhin
- bis zum Jahr 2005 - durch die Heimkehrerstiftung unterstützt werden und davon haben die Betroffenen in den
neuen Ländern durchaus profitiert.
Von den Unterstützungs- und den Rentenzusatzleistungen, die in den vergangenen 30 Jahren von der Stiftung
gewährt wurden, sind immerhin 20 bzw. 12 Prozent an
Antragsteller in den neuen Ländern geflossen, obwohl
diese ja erst seit Januar 1993 ihre Anträge einreichen können. Ich meine, für diese Bilanz brauchen wir uns auch
nicht zu schämen.
Danke schön.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/4144 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Peter Letzgus, Norbert Barthle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten entlasten
- Drucksache 14/4386 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Zu diesem Tagesordnungspunkt ist verabredet, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen. Ich habe sie hier vorliegen.1)
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
1) Anlage 4
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4386 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
9.a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Uwe-Jens
Rössel, Roland Claus und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur
Änderung des Einkommensteuergesetzes
({1})
- Drucksache 14/4437 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. UweJens Rössel, Roland Claus und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
({3})
- Drucksache 14/4438 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
Zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart, dass
eine Reihe von Reden zu Protokoll genommen werden.1)
Sprechen werden nur die Kollegin Barbara Höll von der
PDS und Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Ich erteile Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierung von CDU/CSU und
F.D.P. hat in ihrer Regierungszeit eine Reihe arbeitnehmerfeindlicher Maßnahmen auf steuerpolitischem Gebiet
verwirklicht. Ein Beispiel dafür sind die Petersberger
Beschlüsse.
({0})
Dort wurde insbesondere die Senkung der Werbungskostenpauschale und der Kilometerpauschale geprobt;
Nacht- und Überstundenzuschläge wollten Sie sogar ganz
besteuern. Zum Glück ist dies auf Druck der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition zum
großen Teil abgewendet worden.
Allerdings waren Sie in Ihrer Regierungszeit mit der
zweijährigen Befristung der Absetzbarkeit der Kosten
der doppelten Haushaltsführung erfolgreich. Jeder, der
sich mit diesem Thema schon einmal beschäftigt hat,
weiß, dass die Begrenzung auf zwei Jahre natürlich willkürlich ist und absolut nicht der realen Situation zahlreicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch
Selbstständiger entspricht.
({1})
Im Ergebnis dieser jahrelangen arbeitnehmerfeindlichen Steuerpolitik heißt die Lohnsteuer im Volksmund inzwischen „Dummensteuer“. Rot-Grün hat diesen Marsch
in den Lohnsteuerstaat leider nicht aufgehalten. Sie haben
zum Beispiel im Steuerentlastungsgesetz zu Beginn Ihrer
Regierungszeit die Besteuerung von Abfindungen drastisch verschärft.
Ich meine, es ist endlich an der Zeit, die Fehlentscheidungen der Vorgängerregierung und eigene Fehlentscheidungen zu korrigieren, zumal man sich tatsächlich in Widersprüche verwickelt. Einerseits fordern Sie zum
Beispiel eine erhöhte Mobilität von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, wenn es um einen Arbeitsplatz und
die Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes geht.
Dafür sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz außerhalb ihres Wohnortes annehmen.
Rund 380 000 Menschen tun dies in der Bundesrepublik. Ihnen entstehen damit natürlich zusätzliche Kosten
durch das Mieten einer Nebenwohnung. Diese Kosten
dürfen sie aber nach Ablauf der Frist von zwei Jahren
nicht mehr steuerlich absetzen. Nun könnte man natürlich
sagen: Sie können ja umziehen; dann haben sie die doppelte Haushaltsführung aus beruflichen Gründen nicht
mehr. Aber wir alle wissen, dass sich viele Menschen gerade angesichts der Unsicherheit des Arbeitsplatzes, den
man vielleicht schon nach zweieinhalb Jahren nicht mehr
hat, und im Interesse des Erhalts und der weiteren Pflege
von sozialen Beziehungen, im Interesse besserer Bedingungen für die Kinder, die eingebunden sind in Schule,
Freizeitbereich und Freundschaften, eben dafür entscheiden, neben ihrer Hauptwohnung am Arbeitsort noch eine
Nebenwohnung zu unterhalten.
Hier stellt sich dann die Frage, ob es richtig ist, nur die
Aufnahme der Arbeit am Hauptwohnsitz zu fördern bzw.
die Aufnahme von Arbeit woanders steuerlich zu sanktionieren; denn letztendlich bestrafen Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Selbstständigen, die
sich dafür entscheiden müssen, auch nach Ablauf von
zwei Jahren eine Nebenwohnung zu unterhalten.
Da die Regierung - auch die Regierungskoalition - bisher nicht initiativ geworden ist, haben wir Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der kurz und knapp gehalten ist,
mit dem Sie diesen Missstand sofort beseitigen können.
({2})
Gleichzeitig beraten wir heute einen zweiten Gesetz-
entwurf, mit dem wir Ihnen ebenfalls ein kleines bisschen
auf die Sprünge helfen wollen. Wir haben heute im Fi-
nanzausschuss das Steuersenkungsergänzungsgesetz ver-
abschiedet. Es wird also am Freitag in der zweiten und
dritten Lesung hier im Hohen Hause vereinbart werden,
dass, nachdem schon im Sommer die Freibeträge bei der
Veräußerung von Personenunternehmen auf 100 000 DM
angehoben wurden, jetzt für Unternehmerinnen und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 5
Unternehmer, die aus dem Berufsleben ausscheiden, mit
dem Argument der Altersvorsorge - ihm können wir auch
folgen, auch wenn wir die Auffassung über das Instrument
nicht voll teilen - der halbe Steuersatz für Veräußerungsgewinne eingeführt werden soll.
Man mag zu dieser Maßnahme stehen, wie man will;
auf alle Fälle ist es dann notwendig, gleichermaßen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Abfindung erhalten, zumindest einmal in ihrem Leben - ab dem 55. Lebensjahr - mit den Personenunternehmen gleichzustellen. Darum geht es in unserem zweiten Antrag. Denn Sie wissen,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gerade wenn
sie älter sind, kaum noch Chancen haben, eine neue Arbeit zu finden, und Abfindungen, die sie erhalten, dann
natürlich auch ihrer Altersvorsorge dienen.
Wir meinen, dies ist ein substanzieller Beitrag zur gezielten Entlastung einer breiteren Schicht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und dient dazu, Löhne und
Gehälter einerseits und Vermögens- und Unternehmenseinkünfte andererseits steuerlich tatsächlich gleichzustellen. Dies würde eine große Gerechtigkeitslücke schließen. Gerade mit dieser Forderung sind Sie ja vor zwei
Jahren im Wahlkampf angetreten. Sie haben es ganz einfach: Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen in den Ausschussberatungen und dann hier in der zweiten und dritten Lesung zu und Sie sind ein Stück weiter in der
Verwirklichung Ihres Wahlprogramms.
Ich danke.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg Spiller von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Höll, in
der Begründung des Gesetzentwurfs, zu dem Sie am
Schluss Ihrer Rede gesprochen haben, heißt es, dass die
Besteuerung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren verschärft worden sei. Ich weiß ja
nicht, was Sie mit den „letzten Jahren“ meinen.
({0})
Es kann auch sein, dass Sie einfach gern mit Stehsatz
arbeiten, weil Sie doch auch eine Partei der Traditionspflege sind.
({1})
Aber eines möchte ich doch in aller Deutlichkeit sagen:
In den letzten beiden Jahren hat diese Koalition es erfolgreich geschafft,
({2})
für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen und eine deutliche
Entlastung der breiten Arbeitnehmerschaft durchzusetzen.
({3})
Ich nenne nur ein Beispiel: Ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen hat heute, im Jahr 2000, durch steuerliche Entlastung
und Kindergelderhöhung etwa 2 000 DM mehr in der Tasche als 1998. Im nächsten Jahr werden es rund 3 000 DM
sein.
Frau Kollegin Höll, Sie haben sich nachher offenbar
von Ihrem Gesetzentwurf distanziert. In Ihrer Rede sagten Sie, Sie wollten etwas für Altersvorsorge tun. In Ihrem
Gesetzentwurf steht etwas ganz anderes. Da steht undifferenziert: Jeder Arbeitnehmer, der bei einer durch den
Arbeitgeber oder ein Gericht veranlassten Auflösung seines Arbeitsverhältnisses eine Abfindung bekommt, hat einen Freibetrag von 48 000 DM. Das ist etwas für das mittlere Management. Denn da kommt es relativ häufig vor,
dass man mit einer Abfindung aufhört und nach einem
Monat in einem neuen Betrieb anfängt.
({4})
Dann haben Sie gesagt, die Altersgrenze solle bei
55 Jahren liegen. In Ihrem Gesetzentwurf haben Sie
50 Jahre geschrieben. Lesen Sie doch wenigstens Ihre eigenen Entwürfe!
({5})
Mein Vorschlag ist: Wir sollten uns mit diesem Thema
sehr genau befassen, wenn es um Altersvorsorge geht. Da
werden Sie in uns immer einen Partner für eine sachliche
Diskussion finden.
({6})
Wir werden im Hinblick darauf auch bei Arbeitnehmerabfindungen etwas tun, sofern ein bestimmtes Alter, beispielsweise 55 oder 60 Jahre, erreicht worden ist.
({7})
- Dass es Ihnen Leid tut, freut mich. - Ich hoffe, dass wir
eine fruchtbare Debatte haben, wenn wir unsere Vorschläge unterbreiten.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/4437 und 14/4438 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Eberhard Brecht, Gert Weisskirchen, Brigitte
Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Rita Grießhaber,
Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum
neuen Jahrtausend
- Drucksache 14/4439 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Deutsche Beiträge zur Umsetzung der Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen
- Drucksache 14/4525 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart,
dass die Reden zu Protokoll genommen werden.1) Ich
habe sie hier. Sind Sie mit dem Vorgehen einverstanden?
- Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4439 und 14/4525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 9. November 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.