Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich
eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort
die Kollegin Dr. Angela Merkel von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Es ist zu begrüßen, dass am letzten Wochenende
eine Einigung über die Neuregelung des Finanzausgleichs
gelungen ist, genauso wie es außerordentlich erfreulich
ist, dass mit der Verabschiedung des Solidarpaktes II ein
wichtiger Schritt auf dem Wege zur Planungssicherheit in
den neuen Bundesländern gegangen werden konnte.
Die Bundesländer - das betone ich an dieser Stelle ausdrücklich -, ob Geber- oder Nehmerländer, haben es geschafft, im Sinne eines vernünftigen föderalistischen Verständnisses ihre Unterschiede beiseite zu stellen und die
Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland zu festigen, indem sie sich auf diesen Länderfinanzausgleich geeinigt haben.
({0})
Das war mit Sicherheit ein ganz wichtiges Signal für den
Föderalismus am Beginn des 21. Jahrhunderts: keine
Bundeskanzler Gerhard Schröder
neuen Klagen, sondern selbstbewusste politische Entscheidungen. Insbesondere die Einigung über den Solidarpakt II ist für die neuen Bundesländer die Grundlage dafür,
die Arbeiten für die nächsten Jahre planen zu können.
Herr Bundeskanzler, ich erinnere Sie daran, dass Sie
am liebsten in dieser Legislaturperiode überhaupt nicht
mehr über den Solidarpakt II gesprochen hätten
({1})
und dass es nur den neuen Bundesländern zu verdanken
ist, dass dies überhaupt auf die Tagesordnung gekommen
ist.
({2})
Ich möchte hier namentlich den sächsischen Ministerpräsidenten würdigen.
({3})
Man hat auf einer klugen Grundlage, nämlich dem
Gutachten von fünf Wirtschaftsinstituten, versucht, die
wirklichen Finanzbedürfnisse der neuen Bundesländer in
den nächsten 15 Jahren festzustellen.
({4})
Herr Eichel, es gereicht Ihnen wirklich nicht zur Ehre,
dass Sie in einem Schnellgutachten versucht haben, den
einheitlich von allen Instituten auf 300 Milliarden DM
festgelegten Bedarf noch einmal auf 157 Milliarden DM
herunterzurechnen. Das war kein gutes Zeichen für die
deutsche Einheit.
({5})
Eine große deutsche Sonntagszeitung titelte am letzten
Sonntag: „Deutsche müssen weitere 15 Jahre für Osten
zahlen“. Beim Solidarpakt II geht es aber nicht um die
Unterstützung irgendeines fernen Landstriches, sondern
darum, dass in ganz Deutschland auf unterschiedlicher
Basis gleichwertige Lebensbedingungen hergestellt werden.
({6})
Die Nachteile, die durch eine sozialistische und kommunistische Diktatur produziert wurden, werden noch über
viele Jahre nachwirken und dürfen deshalb niemals in
Vergessenheit geraten.
({7})
Nun sind wir uns aber, glaube ich, auch darüber einig,
dass die Umsetzung dieses Solidarpaktes II ein hohes
Maß an Seriosität erfordert. Denn 100 Milliarden DM
Bundesmittel sind in dem so genannten Korb 2 festgelegt.
Hier finden wir sehr viele Kannbestimmungen. Die
Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass diese Dinge wirklich umgesetzt werden. Völlig ungeklärt ist zum Beispiel,
was im Jahre 2006 passiert, wenn die EU-Strukturfonds
neu verhandelt werden. Dann wird die Bundesrepublik
Deutschland nicht mehr so viel Geld bekommen, damit
auch die neuen Bundesländer.
({8})
Ich weise darauf hin, dass es dem Bundeskanzler an
vielen Stellen nicht gelingt, die deutschen Interessen in
Europa so durchzusetzen, wie wir uns das wünschen.
({9})
Ich kann Ihnen ein ganz aktuelles Beispiel nennen:
Gucken Sie sich einmal die Kapazitätsgrenzen der Werften in Mecklenburg-Vorpommern an. Es ist der Bundesregierung bislang nicht gelungen, hier eine Veränderung durchzusetzen, obwohl die Produktivitätsfortschritte
dazu führen, dass die Werftarbeiter im September und Oktober schon nicht mehr arbeiten können und in Kurzarbeit
gehen müssen. Hier brauchen wir heute Taten, damit die
Dinge in den neuen Bundesländern vorangehen.
({10})
Meine Damen und Herren, die 300 Milliarden DM, die
zugesagt wurden, sind nominale und nicht reale 300 Milliarden DM. Das heißt, wenn die Inflationsrate so hoch
bleibt, wie sie es bei dieser Bundesregierung geworden
ist, dann ist sie ein Enteignungsprogramm für den zukünftigen Solidarpakt II. Deshalb braucht dieses Land eine Politik für eine geringere Inflationsrate.
({11})
Herr Bundeskanzler, ich hätte mir schon gewünscht,
dass Sie nicht nur zu dem, was für die Zeit ab 2005 ausgehandelt wurde, etwas gesagt hätten, sondern auch dazu,
was sich bis zum Jahre 2005 in den neuen Bundesländern
abspielt. Denn wie wir in das Jahr 2005 hineinkommen,
bestimmt natürlich entscheidend, in welchem Tempo die
zur Verfügung stehenden Mittel effektiv eingesetzt werden können. Dass die Schere zwischen Ost und West in
den letzten zwei Jahren immer weiter auseinander gegangen ist, ist das Produkt Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler.
Das ist die Wahrheit.
({12})
Deshalb kommen selbst aus Ihren eigenen Reihen hier können wir den Bundestagspräsidenten zitieren; das
ist nicht Mäkelei von mir, sondern von Ihrem Bundestagspräsidenten - die Kassandrarufe, dass der Osten auf
der Kippe steht.
({13})
Angesichts dieses Warnsignals hätten wir von Ihnen heute
gerne erfahren, welche Pläne Sie für die Zeit bis zum
Jahre 2005 haben.
({14})
Es gibt sicherlich Programme, die Sie zusätzlich machen. Das klingt ganz gut. Aber wenn man sich zum Beispiel einmal das ganze Kapitel der Städtebauförderung
anschaut, stellt man fest, dass die 900 Millionen DM, die
in diesem Bereich hinzugekommen sind, durch Reduzierung der Förderung in anderen wichtigen Bereichen in
den neuen Bundesländern finanziert worden sind. Wirtschaften von einer Tasche in die andere, das ist gerade
nicht das, was die neuen Bundesländer brauchen.
({15})
Wenn ich mir Ihre Kahlschlagpolitik im Bereich der
Bundeswehr anschaue,
({16})
wenn ich mir anschaue, wie mit einem Symbolstandort,
wie es Eggesin für die Vereinigung der Armeen war, umgegangen wird, dann kann ich nur sagen: Das motiviert
die Menschen in den neuen Bundesländern nicht, sondern
das demotiviert sie. Die Menschen in den neuen Bundesländern müssen aber motiviert werden.
({17})
Deshalb war es wichtig und richtig, dass der Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, schon vor geraumer Zeit gesagt hat: Wir brauchen jetzt zusätzliche
Programme, die die Investitionen in den neuen Bundesländern voranbringen, damit es dort ein Wirtschaftswachstum geben kann.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, durch Ihre Politik der
falschen Gesetze dem Osten mehr geschadet als dem Westen. Wer im Mittelstand über eine geringere Eigenkapitalausstattung verfügt, wer aufgrund seiner Geschichte
geringere Möglichkeiten hat, sich zu konsolidieren, der ist
von Ihrer falschen Gesetzgebung besonders betroffen.
({18})
Deshalb ist es doch ein wirklich armes Verständnis von
Politik, wenn Sie bereits bei der Festlegung des Finanzrahmens sagen, dieser schaffe die makroökonomischen
Daten. Ich weiß nicht, ob Sie nicht verstehen, dass Politik
nicht nur die Ausgabenseite, den Finanzrahmen betrachten darf, sondern dass Sie genauso die Pflicht hat, sich
über die Einnahmeseite und über die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung Gedanken zu machen.
({19})
Die Rücknahme des Betriebsverfassungsgesetzes zum
Beispiel
({20})
würde bedeuten, dass man mehr Entscheidungen auf betrieblicher Ebene treffen könnte. So, wie das bei VW
möglich sein müsste, müsste das auch in anderen Bereichen der Fall sein. Das wäre für die neuen Bundesländer
besonders wichtig.
({21})
Wir sind in der Tat der Meinung, dass der Mittelstand
bei der Steuerreform, die vor weniger als einem Jahr verabschiedet wurde, so schlecht behandelt wurde, dass es
ihm, insbesondere in den neuen Bundesländern, eher geschadet hat. Sie sehen es doch an den Daten.
({22})
Deshalb haben wir mit einem Sofortprogramm zum
Ausdruck gebracht, dass Sie handeln müssen, Herr Bundeskanzler; denn Tatsache ist doch, dass Ihre ruhige Hand
tief in den Taschen der Bürger steckt und immer wieder
Geld herausnimmt, statt welches hineinzulegen.
({23})
Da es bei der Politik für die neuen Bundesländer ganz
wesentlich um die Erfahrungen geht, die die Menschen
mit der sozialen Marktwirtschaft und mit der Demokratie
machen, ist es besonders schrecklich und schlimm, Herr
Bundeskanzler, dass die SPD glaubt, dass ein Weg mit der
PDS aus machtpolitischen Gründen ein erfolgreicher Weg
für die neuen Bundesländer sei.
({24})
Denn Sie müssen immer wissen: Die PDS lebt davon,
dass die deutsche Einheit nicht gelingt. Die PDS lebt davon, dass es keinen Wettbewerb und keine Unterschiede
zwischen den neuen Bundesländern gibt, sondern dass es
zentralistisches Denken gibt.
Herr Bundeskanzler, indem Sie diese PDS hoffähig
machen, indem Sie ganz strategisch zum Beispiel hier in
Berlin mithilfe der PDS einen Regierenden Bürgermeister abgewählt und Ihren eigenen gewählt haben, den wir
bald wieder abwählen werden, meine Damen und Herren,
({25})
haben Sie den Menschen ein falsches Bild davon vermittelt, wie man unter Bedingungen von Freiheit und sozialer Marktwirtschaft leben, arbeiten und wirtschaften
kann.
({26})
Sie haben damit, Herr Bundeskanzler, die politische Mitte
verlassen. Sie sind an den linken Rand gerückt
({27})
und versuchen mit falschen Mitteln und mit falschen Leuten - ({28})
- Ich sage noch einmal eindeutig: mit falschen Leuten!
Wenn stellvertretende Vorsitzende einer Partei erklären,
man könnte auch die Deutsche Bank und BMW verstaatlichen, dann wundere ich mich, dass Sie mit denen
zusammenarbeiten! Das hätte man doch selbst als Christdemokrat nicht gedacht.
({29})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, kommt es darauf an
- genau daran werden wir arbeiten -,
({30})
dass dieser Politik bald ein Ende gemacht wird und sich
eine bessere Politik für Deutschland und für die neuen
Bundesländer durchsetzen kann.
Herzlichen Dank.
({31})
Das Wort
hat jetzt der Ministerpräsident des Landes Brandenburg,
Dr. Manfred Stolpe.
Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident ({0})
({1}): Herr Präsident! Herr
Bundeskanzler! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Volksmund sagt bekanntlich, dass die Freundschaft
beim Geld aufhört.
({2})
Die 16 Länder und der Bund haben aber in den vergangenen Wochen gezeigt, dass Fragen des Finanzausgleichs nicht zur Feindschaft führen müssen. Das ist ein
beachtliches Zeugnis politischer Kultur und der Willensbeweis, die große deutsche Gemeinschaftsleistung zu
Ende zu bringen, den Entwicklungsrückstand des Ostens
von einem halben Jahrhundert zu beseitigen.
({3})
Dafür möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen, Dank an die Kollegin und die Kollegen Ministerpräsidenten, Dank an den Bundeskanzler und den Bundesfinanzminister.
({4})
Meine Damen und Herren, bei der nun verabredeten
Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen geht
es um viel Geld, für einige der beteiligten Länder um existenzielle Summen. Auf freundschaftliche Beziehungen allein konnten also die Länder weder untereinander noch in
ihrem Verhältnis zum Bund bauen. Auch konnte nicht rein
mathematisch zusammengefügt werden, was zuvor von
vielen Experten in zahlreiche Einzelteile seziert und bei
erheblichen Interessenunterschieden gefordert wurde.
Nein, hier wurde weit mehr zustande gebracht. Die Beteiligten in Bund und Ländern haben ihre Gesamtverantwortung erkannt. Mehr als einer ist über seinen Schatten
gesprungen, um gemeinschaftliches Handeln zu ermöglichen. Ich weiß, dass dies bis an die Schmerzgrenze der
Kompromissbereitschaft führte. Doch im Ergebnis - das
ist die entscheidende politische Botschaft - haben alle gewonnen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole gern, was
schon andere öffentlich äußerten und was auch hier heute
schon anklang: Der bundesdeutsche Föderalismus ist
lebendig, flexibel und sachbezogen handlungsfähig. Er ist
überdies durch den Erfolg unserer Verhandlungen gestärkt worden. Auf keinem anderen Gebiet hätte dies überzeugender bewiesen werden können als auf dem für die
Existenz aller Glieder des Bundesstaates grundlegenden
Feld der Finanzverfassung. Zwei Gedanken unserer Einigung möchte ich herausgreifen, um diese Einschätzung zu
belegen.
Bund und Länder haben eine neue Balance zwischen
den Interessen der einzelnen Länder und im Verhältnis der Ländergesamtheit zum Bund gefunden. Schon
bisher war es nicht Aufgabe der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, die Verhältnisse in allen Teilen der Republik
einzuebnen. Niemand von uns will die Finanzkraft der
Länder nivellieren. Es ging uns immer darum, alle Länder
in die Lage zu versetzen, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben im notwendigen Umfang wahrzunehmen. Alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sollen gleiche Chancen haben.
Herausragender Prüfstein dieser Verantwortung ist die
Fortsetzung des Aufbaus Ost. Obwohl auch bei den
Geberländern nie außer Zweifel stand, dass es sich hierbei um eine Generationenaufgabe handelt und dass die
gewaltigen Rückstände in der öffentlichen und wirtschaftlichen Infrastruktur nicht in wenigen Jahren aufgeholt sein können, ist das nun beschlossene Paket doch ein
klares Zeichen, dass wir keine zwei Wirtschaftszonen
in Deutschland wollen. In Deutschland wird es keinen
Mezzogiorno Ost geben.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen im Osten der Republik wissen es zu schätzen, dass
auch der künftige Länderfinanzausgleichstarif die Lebensfähigkeit ihrer Länder gewährleistet und dass hierzu
der Bund und alle Länder beitragen. Die Menschen sind
dankbar, dass sich der Bund noch lange Jahre mit Ergänzungszuweisungen und speziellen Programmen an den
notwendigen Zukunftsinvestitionen beteiligt und dass
diese Sonderhilfen nur stufenweise abgebaut werden. Das
gibt uns im Osten unseres Vaterlandes Mut und Vertrauen,
unsere Arbeit für die Menschen entschlossen fortzusetzen, unsere Länder voranzubringen und bis Silvester 2019
gleichwertige Länder in Deutschland zu sein. Ich versichere, dass wir großes Interesse haben, den Fortschritt unserer Entwicklung jährlich darzulegen und mit Ihnen den
tatsächlichen weiteren Bedarf zu prüfen; denn der Osten
ist kein Fass ohne Boden. Es wird kein Geld vergeudet.
Wir wissen sehr wohl, dass auch andere Regionen in
Deutschland große Probleme haben.
Alle Länder werden künftig noch stärker motiviert, die
eigenen finanzpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten
wahrzunehmen und sich zu ihrer Eigenverantwortung zu
bekennen. Bund und Länder haben sich verständigt, in den
kommenden Monaten weitere Schritte zur Entflechtung
ihrer derzeit vielfältigen Finanzbeziehungen einzuleiten.
Dies wird dazu beitragen, mehr Transparenz für den Bürger zu schaffen und die föderalen Entscheidungsebenen zu
stärken. Das tut dem Bundesstaat insgesamt gut.
Im neuen Länderfinanzausgleich gilt künftig für jedes
Land: Ein Teil der überdurchschnittlichen Steuermehreinnahmen bleibt jährlich ausgleichsfrei. Ich betone:
Diese Regelung gilt für jedes Land, ob steuerstark oder
steuerschwach. Mit diesem Prämienmodell wird allen
Ländern der Anreiz gegeben, eine Stärkung der eigenen
Kräfte anzustreben, ohne die verfassungsrechtliche Verpflichtung zu gegenseitigem Einstehen aufzuheben. Kein
Land wird auf Dauer privilegiert, kein Land auf Dauer
diskriminiert oder in eine Abwärtsspirale gedrückt. Jedes
Land hat jährlich neu die Chance auf einen Zugewinn.
Ansporn für eine weitere Entflechtung der Finanzverantwortung von Bund und Ländern könnte die Vereinbarung des Bundes mit den neuen Ländern sein, die
bislang gesetzlich regulierten Mittel des Investitionsfördergesetzes bereits ab dem kommenden Jahr in Ergänzungszuweisungen umzuwandeln. Der Erfolg öffentlicher
Investitionsförderung hängt eben nicht davon ab, dass die
Förderzwecke gesetzlich möglichst eng reguliert sind
oder gar von vielfältig besetzten Bund-Länder-Verwaltungsgremien gesteuert werden. Künftig werden wir die
Bund-Länder-Verhandlungen über mögliche Vereinfachungen und Entflechtungen bei den Gemeinschaftsaufgaben weniger verkrampft und zielsicherer führen können. Vielleicht werden wir sogar weitere gute Argumente
für die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebenen finden.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vereinbarungen zum Länderfinanzausgleich und
zum Solidarpakt II sollen Gesetz werden. Ich bitte alle
Mitglieder dieses Hohen Hauses, die zwischen Bund und
allen Ländern gefundene Lösung mitzutragen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist aus unserer Sicht zu begrüßen, dass es zwischen Bund und
Ländern zu einer Einigung gekommen ist. Es ist gut und
richtig, dass es eine weitere Unterstützung für Ostdeutschland gibt. Die Bürger Ostdeutschlands haben einen Anspruch auf öffentliche Dienstleistungen und Mittel
für den Aufbau der Infrastruktur, auch um die vorhandenen Leistungsschwächen, die historisch begründet
sind, zu überwinden und im Wettbewerb der Länder mithalten zu können.
({0})
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, dass auch den
wirtschaftsstarken Geberländern im Finanzausgleich
nicht mehr 80 Prozent, sondern nur noch 72,5 Prozent der
überdurchschnittlichen Steuereinnahmen durch Umverteilung genommen werden. So erfreulich es zwar ist, dass
es in dieser schwierigen Frage zu einer Einigung kam, ist
aber die Tatsache, dass hier von einer Sternstunde des Föderalismus gesprochen wird, aus unserer Sicht kaum
nachvollziehbar. Die Sternstunde des Föderalismus war in
weiten Teilen ein schwarzer Tag für den Steuerzahler in
Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({1})
Denn die Zeche, die sich aus dieser überparteilichen Einigung ergibt, zahlen die Bürgerinnen und Bürger, und zwar
zum Teil über mehrere Generationen hinweg. Statt dass
die Staatsaufgaben und die Ausgaben reduziert werden,
werden Belastungen auf lange Zeit festgeschrieben.
({2})
Mit dem, was nun vereinbart worden ist, sind Steuererhöhungen vorprogrammiert, und die Spielräume für
mögliche Steuersenkungen sind verschenkt worden.
({3})
Der ohnehin schon schwachen Konjunktur wird somit
weiter geschadet.
({4})
Aus unserer Sicht wurde auch die Chance vertan, durch
eine stärkere Differenzierung beim Länderfinanzausgleich den Wettbewerb zwischen den Ländern zu stärken.
({5})
Herr Bundeskanzler, Sie haben kein Wort dazu gesagt,
wie die Sonderlasten und die finanziellen Mittel aufgebracht werden sollen. Deswegen möchte ich das in diese
Debatte mit einführen. So wird zum Beispiel das, was nun
an weiteren Belastungen auf den Steuerzahler zukommt,
über mehrere Generationen hin gestreckt und die nächsten jungen Generationen werden belastet. Denn der
Fonds „Deutsche Einheit“ wird für die Jahre 2002 bis
2004 nicht mehr mit etwa 6,5 Milliarden DM bedient,
sondern die Tilgung wird jetzt auf 0,2 Milliarden DM gesenkt.
Ich erinnere mich noch an eine Diskussion aus dem
Jahre 1997 im Deutschen Bundestag, als die alte Regierung wegen einer überdurchschnittlichen Tilgung der vorausgegangenen Jahre diesen Weg gegangen ist,
({6})
Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({7})
was für ein Zeter und Mordio es seitens der damaligen
Opposition im Bundestag gegeben hat.
Jetzt gehen Sie an den Fonds „Deutsche Einheit“; und
Sie strecken die Schuldentilgung auf Jahre hinaus zulasten der jungen Generationen.
({8})
Damit kommen wir zu dem großen Problem. Natürlich
ist es richtig, dass es eine Solidarität des Bundes mit den
Ländern und auch der Länder untereinander gibt. Was wir
aber nicht brauchen, sind ein Gewirr von Gemeinschaftsaufgaben und eine Mischfinanzierung. Das ist das eigentliche Problem.
({9})
Wir bekennen uns zum Föderalismus. Aber was wir brauchen, ist ein wettbewerbsorientierter Föderalismus, der
auch Leistungsanreize im System schafft, und zwar bessere als die bisher vorhandenen.
({10})
Dazu zählt, dass die Verantwortlichkeiten klar sein müssen.
({11})
Die Länder müssen mehr Kompetenzen haben und mehr
Gestaltungsmöglichkeiten bekommen. Die Umverteilung
muss durch einen fruchtbaren Wettbewerb ersetzt werden.
Dazu zählt vor allen Dingen eine Klarheit bezüglich
der Aufgaben und der Ausgaben. Das Mischfinanzierungsproblem ist offensichtlich; denn wenn die Bürger
nicht mehr unterscheiden können, wer wofür die Verantwortung trägt, dann, glaube ich, wird der Föderalismus
immer schwächer werden, dann kommt er auf die schiefe
Bahn.
({12})
Wir wollen in unserem föderalistischen System das Prinzip Wettbewerb verwirklichen. Wir sind fest davon überzeugt, dass das richtig ist und dass das vor allen Dingen
auch und gerade den Wohlstand aller Bundesländer, im
Westen und im Osten, sichert.
({13})
Letzten Endes, meine sehr geehrten Damen und Herren, können wir die Diskussion über den Solidarpakt und
über die notwendigen Hilfen, insbesondere für Ostdeutschland, nicht von der allgemeinen Wirtschaftspolitik
und der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung trennen.
Sie können für Ostdeutschland noch so viele Maßnahmen
beschließen: Wenn die Konjunktur infolge einer falschen
Politik bundesweit abschmiert, dann wird alles das, was
Sie vorher für Ostdeutschland getan haben, aufgezehrt.
({14})
Das ist doch das eigentlich Besorgnis Erregende.
Wir haben festzustellen, dass wir nicht nur ein schlechtes Weltwirtschaftswachstum haben und dass Deutschland mittlerweile absolut in der Situation der Stagflation
ist, sondern dass Deutschland im Vergleich aller EuroLänder, wenn es um das Wirtschaftswachstum geht, mittlerweile auch auf dem letzten Platz angekommen ist. Die
Globalisierung und die Weltwirtschaft sind für alle Länder gleich. Wenn Deutschland aber am Schluss der Tabelle des Wirtschaftswachstums liegt, dann heißt das
doch, dass die deutsche nationale Politik für die weltwirtschaftliche Entwicklung schlechtere Rahmenbedingungen setzt als alle anderen Euro-Länder.
({15})
Natürlich gab es auch schon früher Zeiten, in denen
man in Deutschland ein schlechteres Wirtschaftswachstum hatte, weil die Weltwirtschaft auf einer schiefen
Ebene war. Aber wenn das Wirtschaftswachstum in anderen Ländern 3 Prozent, 4 Prozent und zum Teil über 6 Prozent beträgt, in Deutschland aber bei unter 2 Prozent angekommen ist, dann ist das ein Ergebnis von nationaler
Politik. Dann hilft es nicht, Herr Bundeskanzler, wenn Sie
Ihr Nichtstun mit dem Begriff der „ruhigen Hand“ versehen wollen. Was Sie heute „ruhige Hand“ nennen, das
nannte man früher Aussitzen, meine Damen und Herren.
Es ist ein Fehler, diesen Weg zu gehen.
({16})
Tatsache ist - schauen Sie sich das einmal an -, dass
die nationalen politischen Rahmenbedingungen auch von
uns, von der nationalen Politik, wesentlich mitbestimmt
werden. Ich kann zwar verstehen, dass Sie die Verantwortung jetzt sehr stark auf die Europäische Zentralbank und
auf die Tarifparteien abschieben möchten. Natürlich spielen diese eine große Rolle, auch in der weltwirtschaftlichen Entwicklung; aber es reicht nicht aus, wenn sich die
Politik mit Hinweis auf die Verantwortlichkeit anderer
jetzt ihrer eigenen Hausaufgaben entledigt. Sie müssen
handeln! Das, was Sie machen müssen, wäre das beste
Aufbauprogramm für den Osten. Senken Sie die Steuern
und Abgaben. Diskriminieren Sie den Mittelstand auch
steuerpolitisch nicht länger.
({17})
Setzen Sie die nächste Stufe der Ökosteuererhöhung aus.
Das wäre ein Aufbauprogramm für den Osten Deutschlands, meine Damen und Herren.
({18})
Solange Sie das nicht tun, laufen Sie Gefahr, mit Verlaub
gesagt, genau dieselben Fehler zu machen, die es früher
schon einmal gegeben hat - nämlich die Ausblendung der
Wirklichkeit -, und das mit verheerenden Folgen. Wir haben doch alle - wir in der Opposition übrigens schmerzhaft - lernen müssen: Wer mit den Reformen zu spät
kommt, den bestraft das Leben. Sie zögern die Reformen
weiter hinaus. Sie sind mehr daran interessiert, für den
Wahlkampf die Gewerkschaften ruhig zu stellen, anstatt
jetzt das Notwendige zu tun, um in Deutschland die Rahmenbedingungen für neue Investitionen zu schaffen.
({19})
Sie werden doch bei dem Beispiel von Volkswagen
selbst erlebt haben, wohin das führt. In der vorigen Woche dehnen Sie die funktionärische Fremdbestimmung in
den Betrieben aus.
({20})
Auch noch in den kleinen und kleinsten Betrieben soll die
funktionärische Fremdbestimmung ausgeweitet werden.
Und was machen die Gewerkschaften damit? 5 000 Arbeitsplätze für 5 000 DM bei Volkswagen - und die Gewerkschaft sagt Nein! Das, meine Damen und Herren, ist
das Handeln und Denken von Funktionären, die mit Arbeitslosen nichts gemein haben.
({21})
Wenn wir über den Solidarpakt sprechen, dann können
wir es Ihnen auch nicht ersparen, dass wir einen Blick auf
den Länderwettbewerb innerhalb Deutschlands werfen.
Das, was in Europa falsch läuft, kann man eindeutig an
den Wachstumszahlen ablesen. Dass wir in Deutschland
am Schluss liegen, spricht Bände, und zwar gegen die nationale Politik. Aber auch innerhalb der Bundesländer gibt
es Vergleichszahlen. Insoweit ist der Hinweis von Frau
Kollegin Merkel durchaus angebracht.
Es muss doch auch jedem hier im Hause zu denken geben, wenn Länder, die politisch so regiert werden wie
Sachsen-Anhalt, Rekordhalter sind, was die Arbeitslosenquote angeht. Dies ist das Ergebnis von Politik. Wenn
Länder wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und
Hessen niedrigste und Länder wie Sachsen-Anhalt und
Mecklenburg-Vorpommern höchste Arbeitslosenquoten
haben, dann ist es auch erlaubt, dies in eine Debatte einzuführen, weil es das Ergebnis von Politik ist und nicht
von irgendeiner hohen Hand der Weltwirtschaft.
({22})
Sie müssen Ihre Wirtschaftspolitik korrigieren, Herr
Bundeskanzler. Wir hatten gehofft, dass Sie, wenn Sie hier
und jetzt eine solche Debatte führen, dies entsprechend
einbrächten. Wenn Sie das nicht tun, wenn Sie die nationale Politik nicht korrigieren, dann kann sich die Politik
jetzt vielleicht zurücklehnen, weil zwischen Bund und
Ländern eine Einigung erzielt worden ist, aber dann werden wir die Probleme in Deutschland nicht lösen. Wenn
alle anderen Länder in Europa mit der Globalisierung besser fertig werden als wir in Deutschland, wenn das Wirtschaftswachstum in Deutschland mittlerweile das schlechteste aller Euro-Länder ist, dann ist es an der Zeit, dass die
notwendigen Kurskorrekturen ausgeführt werden.
Ich sage Ihnen persönlich und auch den Damen und
Herren hier im Hause: Es ist ein Fehler, wenn Sie glauben,
Sie könnten mit einer Politik des „Weiter so“ und der „ruhigen Hand“ die Probleme aussitzen. Die kommen dann
doppelt und dreifach schwierig auf die Politik zurück. Resignieren Sie nicht vor Ihren eigenen Leuten, sondern setzen Sie durch, was gemacht werden muss. Denn wenn Sie
das nicht tun, haben Sie persönlich ein Problem, was Ihre
Chancen angeht. Aber das wäre weiß Gott nicht meines.
Das größere Problem hat dann allerdings Deutschland.
Dies sollte wirklich korrigiert werden, meine Damen
und Herren. Herr Bundeskanzler, hören Sie weniger auf
Herrn Trittin, hören Sie mehr auf Leute, die etwas von
wirtschaftspolitischer Vernunft verstehen.
({23})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Oswald Metzger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass die Opposition nicht mit Erfolgen umgehen kann, haben die Reden von Frau Merkel und Herrn Westerwelle deutlich gezeigt.
({0})
Am Wochenende haben Ihnen der Bundeskanzler und die
Ministerpräsidenten einen Strich durch Ihre strategische
Rechnung gemacht, dass diese Koalition angesichts weltwirtschaftlicher Probleme vor der Sommerpause ins Trudeln kommt. Wir haben am Wochenende gezeigt, dass es
langfristige Planungssicherheit für unsere Republik geben wird und dass wir vor allem in innerstaatlicher Solidarität den Osten Deutschlands nicht hängen lassen.
({1})
Her Westerwelle, sich hier hinzustellen, die Backen
aufzublasen, vom Aussitzen der alten Koalition zu reden
und nicht daran zu denken, dass Sie 16 Jahre daneben gesessen haben, finde ich eine Ungeheuerlichkeit.
({2})
Sie prangern beispielsweise die Tilgungsstreckung an.
Damals, bei Theo Waigel, haben Sie dazu doch die Hände
gereicht. Sie haben damals die Tilgungsstreckung im
Bundeshaushalt gebraucht, um verfassungswidrige Haushalte zu verhindern.
({3})
Wir haben dagegen in diesem Jahr die Tilgungsstreckung
beim Fonds „Deutsche Einheit“ dafür verwendet, die
Neuverschuldung abzusenken. Wir haben dieses Geld gerade nicht verprasst, sondern haben durch die Tilgungsstreckung, die die Länder im letzten Jahr wollten, die Schulden
gegenüber dem Regierungsentwurf zurückgefahren.
Frau Merkel, bei Ihren Äußerungen zum Mittelstand
ist Ihnen wohl entgangen, dass durch die Verrechnung der
Gewerbeertragsteuer mit der Einkommensteuerschuld ein
Großteil der Entlastung bereits im laufenden Jahr bei der
mittelständischen Wirtschaft ankommt und dass 90 Prozent bis 95 Prozent der mittelständischen Betriebe von unserer Steuerreform profitieren.
({4})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihnen
ist wohl entgangen, dass Bundesbankpräsident Welteke
- ich meine, zu Recht - gestern darauf hingewiesen hat,
dass das derzeitige Wirtschaftswachstum in Deutschland über dem Durchschnittswert der 90er-Jahre liegt, in
denen Sie regiert haben. Damals betrug das Wirtschaftswachstum 1,4 Prozent real
({5})
und es boomte die Weltwirtschaft, und zwar vor allem die
Wirtschaft in den USA. Jetzt lahmen die US-Konjunktur
und die Weltwirtschaft. So sehen die Fakten aus. An diese
Fakten wollte ich zum Auftakt der Diskussion zum binnenstaatlichen Solidarpakt II erinnern.
({6})
Jetzt zum Solidarpakt und zum Finanzausgleich: Der
Weg hin zur Lösung war extrem schwierig - das haben Sie
gemerkt -, weil sich auch die Länder untereinander über
viele Monate hinweg wechselseitig blockiert haben und
das Verhältnis zwischen Bund und Ländern buchstäblich
bis zum letzten Moment von Misstrauen geprägt war.
Gott sei Dank kann in diesem Sommer nicht von einer
Krise des Föderalismus geredet werden, denn wir haben
auf der Zielgeraden noch eine Lösung gefunden. Die Lösung sieht so aus, dass wir über 300 Milliarden DM bis
Ende des Jahres 2019 zur Verfügung stellen. Damit wird
über einen langen Zeithorizont Planungssicherheit für den
Aufbau Ost und die Wiedererlangung der inneren Einheit
geschaffen. Dies ist eine Kraftleistung, die parallel zur
Konsolidierung der überschuldeten öffentlichen Haushalte - eines von der konservativ-liberalen Regierung hinterlassenen Erbes - erbracht wird.
({7})
- Das darf man nicht vergessen. Wir halten - wie der Bundeskanzler zu Recht gesagt hat - die Spur zwischen beiden Leitplanken ein.
({8})
Insofern kann man nicht von einer Überlastung der Steuerpflichtigen reden, wenn wir gleichzeitig die Verschuldung abbauen, innerstaatlich solidarisch sind, aber auch
Anreize für reiche wie arme Länder insofern schaffen, als
sie von ihrer zusätzlichen Wirtschaftskraft mehr Geld behalten können, wie Ministerpräsident Stolpe zu Recht gesagt hat. Dies halte ich für eine wichtige Errungenschaft der
am letzten Wochenende getroffenen Vereinbarungen.
({9})
Bemerkenswert ist übrigens auch, dass vor einer guten
Stunde im Sonderausschuss des Deutschen Bundestages
alle Fraktionen des Hauses mit Ausnahme der F.D.P. diesem Maßstäbegesetz zugestimmt und damit unter Beweis
gestellt haben, dass sie diese Lösung für richtig halten. An
Ihre Adresse, Frau Merkel, sei gesagt: Eine gewisse Inkonsistenz besteht zwischen dem, was Sie hier gesagt haben - natürlich haben Sie mit dem Erfolg des letzten Wochenendes Ihre Schwierigkeiten -, und der Zustimmung
Ihrer Fraktionsmitglieder im Sonderausschuss. Das zeigt
die Argumentationsnöte der Opposition hier im Haus.
({10})
Vor uns liegt mit Sicherheit ein schwieriger Weg, aber
wir haben inzwischen eine Vereinbarung über die planbaren finanziellen Daten getroffen. Das ist gut so. Dann,
wenn es an die detailgesetzlichen Regelungen im Finanzausgleichsgesetz geht, werden wir sicher noch so manche
Debatte zu führen haben - da mache ich mir nichts vor -,
aber das große Misstrauen zwischen dem Bund und den
Ländern und die Befürchtung, dass sich Bund und Länder
sowie die armen und die reichen Länder wechselseitig
über den Tisch ziehen, ist mit der Vereinbarung vom letzten Wochenende vom Tisch. Das ist gut für unser Land.
({11})
Denn schlussendlich tragen alle Fraktionen dieses Hauses
auf unterschiedlichen Ebenen, in armen und reichen Ländern, Regierungsverantwortung. Wenn wir das bündische
Prinzip des Füreinander-Einstehens in unserer Gesellschaft nicht aufrechterhalten, können wir das Sozialstaatsprinzip im persönlichen Verhältnis mit den Bürgern,
aber auch in der binnenstaatlichen Organisation vergessen.
Herr Kollege Metzger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schüßler?
Aber bitte.
Herr Kollege Schüßler, bitte schön.
Herr Kollege Metzger,
sind Sie noch der gleiche Kollege Metzger, der am Donnerstag vergangener Woche von dem Platz aus, an dem
Sie jetzt stehen, gesagt hat, dass es ihm angesichts des Gezerres um den Bund-Länder-Finanzausgleich unter den
einzelnen Bundesländern schon peinlich sei, über das zu
erwartende Ergebnis zu sprechen?
({0})
Ich
bin der gleiche Kollege.
({0})
Ich habe nicht gedacht, dass man am letzten Wochenende
tatsächlich zu einer Lösung kommen würde. Wie Sie wissen, ist diese Lösung deshalb zustande gekommen, weil
wir den Weg dazu mit Mitteln für den Aufbau Ost frei gemacht haben.
({1})
Eines dürfen Sie, Herr Kollege Schüßler, nicht vergessen: Wir gehen als Koalition davon aus, dass die Reform
der Finanzverfassung in Deutschland damit nicht zu
Ende ist. Auch die Regierung weiß, dass wir eine Finanzverfassungsreform größeren Umfangs brauchen, mehr
Verantwortung auf Länder und Gemeinden übertragen
müssen und die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben langfristig anders bündeln müssen.
({2})
Es gab letzte Woche eine Debatte zur Gemeindefinanzverfassungsreform. In dieser habe ich gesprochen
- darauf beziehen Sie sich - und die Positionen beider Regierungsfraktionen wiedergegeben. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns in der Steuerpolitik langfristig über neue
Modelle Gedanken machen müssen; ich nenne als Beispiel Hebesatzrechte für die Kommunen in Bezug auf die
Einkommensteuer. Darüber können Sie täglich in den Zeitungen lesen. Insofern habe ich mich konsistent verhalten.
Meines Erachtens verhält sich auch die Regierung in diesem Punkt konsistent.
({3})
Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er rede zwar über Makroökonomie, aber einseitig
über die Ausgabenseite. Wenn Sie dem Kanzler zugehört
hätten, hätten Sie bemerkt, dass er mit der unabhängigen
Europäischen Zentralbank auch die geldpolitische Seite
angesprochen hat und dass er ein Signal an die Tarifpartner gegeben hat, die ihre Verantwortung mit dem Abschluss zweijähriger Tarifverträge im letzten Jahr unter
Beweis gestellt haben. Dies hat angesichts einer importierten Inflation - ich nenne die Energiepreise und die Folgekosten von BSE sowie Maul- und Klauenseuche - zu
einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation in diesem Jahr beigetragen.
Ihnen, Frau Merkel und Herr Westerwelle, ist vielleicht
auch entgangen, - Sie haben von Inflationsdruck gesprochen -, dass sich die Inflation bereits im Juni um vier
zehntel Prozentpunkte zurückbildet und die Perspektiven
für die nächsten Monate so gut sind, dass der Bundesbankpräsident gestern von einem realen Wachstum von
1,7 bis 1,8 Prozent für dieses Jahr gesprochen hat. Das ist
mehr als der Durchschnitt der Jahre 1991 bis 1998, in denen Ihre Parteien die Regierung gestellt haben.
({4})
Makroökonomisch gesehen wird ein Rückgang der Inflation, verbunden mit der Steuerreform unserer Regierung, die zu einer Stärkung der Kaufkraft führt, dafür sorgen, dass sich die Binnenkonjunktur in Deutschland in der
zweiten Jahreshälfte erholen kann. Wenn darüber hinaus
Signale an die Tarifpartner gegeben werden, dass die Regierung die Reformagenda im Bereich Arbeitsmarkt und
Gesundheit nicht aus dem Blick verliert, dann bin ich mir
sicher, dass Sie im Herbst eine andere Gefechtslage vorfinden werden und hier nicht ständig Hiobsbotschaften,
die vielleicht im Interesse Ihrer Partei, aber nicht im Interesse unserer Volkswirtschaft liegen, verkünden können;
denn Volkswirtschaften brauchen positive Nachrichten.
Gerade Ihr Urvorfahr Ludwig Erhard hat zu Recht immer darauf hingewiesen, dass Wirtschaftspolitik zu weit
über 50 Prozent aus Psychologie besteht. Auch das sei Ihnen ins Stammbuch geschrieben: Gerade den Konservativen steht das Unken nicht gut an.
({5})
Sie haben der Opposition immer Miesmacherei vorgeworfen, wenn es darum ging, den Finger in die Wunde zu
legen. Die anderen Finger Ihrer Hand zeigen nun auf Sie
zurück, wenn Sie jetzt die Stimmung dieses Landes wie in
einem Zerrspiegel zeichnen.
({6})
Am letzten Wochenende wurde nicht nur innerstaatliche Solidarität bewiesen und den neuen Bundesländern
Planungssicherheit gegeben, sondern auch ein Anreizmechanismus - zwar ein kleiner, aber immerhin einer, der
langfristig wirkt - in den Finanzausgleich eingebaut. Das
ist etwas, was Sie während Ihrer Regierungszeit nie geschafft, sondern nur gefordert haben. Gleichzeitig wurde
am letzten Wochenende die Strategie der beiden Oppositionsfraktionen, die Regierung in ein Sommertheater der
ungelösten Probleme treiben zu lassen, wirkungsvoll zerstört. Insofern war das letzte Wochenende ein gutes Wochenende für die Regierung und unser Land.
Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst den Bundeskanzler in Schutz nehmen.
({0})
- Warten Sie doch erst einmal ab! - Frau Merkel hat gesagt, er sei ganz an den linken Rand gedrückt. Als Sachverständiger in dieser Frage muss ich Ihnen sagen: Das ist
ein Vorwurf, der völlig unberechtigt ist. Davon kann keine
Rede sein.
({1})
Ich habe von den Ergebnissen des Wochenendes
gehört. Wir waren sehr zufrieden und haben deshalb heute
im Ausschuss zugestimmt. Wir werden auch dem Solidarpakt II zustimmen. Denn tatsächlich schafft er ab dem
Jahre 2005 Planungssicherheit und ermöglicht den
neuen Bundesländern, sich darauf einzustellen. Auch den
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in ganz Deutschland
bietet er mehr Planungssicherheit als vorher.
Herr Westerwelle, er sichert durchaus auch mehr Wettbewerb zwischen den Ländern. Nur, was Sie vorschlagen,
wäre grundgesetzwidrig. Denn noch haben wir im Grundgesetz einen Artikel, in dem steht, dass die Lebensverhältnisse in ganz Deutschland annähernd gleich zu sein haben.
({2})
Sie wollen das aufkündigen. Das kann man nicht hinnehmen.
Unser Problem, Herr Bundeskanzler, ist ein anderes:
Was geschieht bis 2005? Der so genannte Solidarpakt I allein reicht ganz offenkundig nicht aus. Die Entwicklungen von Ost- und Westdeutschland - da hat Frau Merkel
Recht - gehen weiter auseinander. Die Wirtschaftsdaten
gehen auseinander, die Arbeitslosigkeitsdaten gehen auseinander und auch in sozialer Hinsicht, Rente etc., gehen
die Daten eher auseinander. Deshalb muss neben der Planungssicherheit ab 2005 sofort etwas geschehen.
({3})
Wir haben einen Antrag eingebracht, wie man zu mehr
Gründungen und Investitionen kommt. Wir benötigen
dringend eine Investitionspauschale für die Kommunen
gerade auch in den neuen Bundesländern.
({4})
Denn wenn wir dort keine eigenen Wirtschaftskreisläufe
herstellen, wird die Unterstützung Ostdeutschlands irgendwann ein Fass ohne Boden. Dann werden die Bedenken in den alten Bundesländern immer größer werden.
Wer Einheit will, braucht den wirtschaftlichen Anschluss
des Ostens. Wenn wir dies nicht schaffen, ist sie nicht herzustellen.
({5})
Damit können wir nicht bis 2005 warten. Da muss sehr
viel früher etwas geschehen.
Herr Bundeskanzler, zu einer Ausgabenpolitik gehört
immer auch eine Einnahmepolitik. In diesem Zusammenhang muss die Steuerreform des letzten Jahres kritisiert
werden. Denn die steuerlichen Entlastungen, die Sie im
Rahmen dieser Reform für die Aktiengesellschaften beschlossen haben, haben Sie nicht annähernd für kleine und
mittelständische Unternehmen festgesetzt. Diese Unternehmen brauchen wir aber dringend, wenn wir die Probleme der Arbeitslosigkeit in Deutschland lösen wollen.
({6})
- Herr Eichel, Sie bestreiten das immer wieder. Wissen
Sie, was Sie bei den Aktiengesellschaften getan haben? Sie haben eine Steuer vorgezogen; das ist alles. Die Besteuerung von Veräußerungserlösen haben Sie ihnen
erlassen. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen
müssen diese Steuer weiterhin zahlen; das ist die Wahrheit. Deshalb werden diese Unternehmen stärker geschröpft als Aktiengesellschaften. Die großen Unternehmen bauen nur noch Arbeitsplätze ab, während die
kleinen neue Arbeitsplätze schaffen. Deshalb bedürfen sie
einer anderen Unterstützung, und zwar in Ost und in West.
({7})
Auch fehlt mir - denn es geht nicht nur um Wirtschaftsfragen - ein Fahrplan in sozialer und kultureller
Hinsicht. Herr Bundeskanzler, da Sie einen Hang zu
Bündnissen haben, schlage ich Ihnen Folgendes ganz
ernsthaft vor: Denken Sie doch einmal wirklich über ein
Bündnis für die Einheit nach, in dem es sowohl um ökonomische und Finanzfragen als auch um mentale und Kulturfragen geht. Denn wir können die Entwicklung, dass es
eine Zunahme von mentalen Unterschieden gibt, nicht
einfach schleifen lassen.
Ich nenne Ihnen dazu kurz ein Beispiel, das dies verdeutlicht - das war bei der letzten Regierung genauso -:
Im Jahre 2000 hat sich ein ehemaliger Oberstleutnant der
NVA an das Bundesverteidigungsministerium gewendet
und angefragt, ob er im Falle des Todes mit militärischen
Ehren beerdigt werden könne. - Nun äußere ich mich einmal nicht zu diesem Bedürfnis, das mir etwas fremd ist;
seines ist es auf jeden Fall. - Interessant ist die Antwort.
Dort heißt es, da er nicht in die Bundeswehr übernommen
worden sei, gehe das nicht. Er sei Angehöriger einer fremden Streitmacht gewesen. Dann heißt es, es sei denn, er
könne nachweisen, dass er bereits Angehöriger der Deutschen Wehrmacht gewesen sei und damals eine Tapferkeitsauszeichnung bekommen habe. Dann stehe ihm das
zu.
Ich äußere mich jetzt weder zur NVA noch zur Wehrmacht; das ist gar nicht mein Anliegen. Es geht um etwas
anderes: Im Klartext heißt das, die Wehrmacht gilt als
deutsche Geschichte, die NVA nicht. Wer in ihrer ganzen
Kompliziertheit die Geschichte der DDR nicht als deutsche Geschichte annimmt, wird die Einheit nicht vollenden können. Das ist ein wirkliches Problem.
({8})
Frau Merkel, da ich wusste, dass Sie es nicht lassen
können, lassen Sie mich einige wenige Bemerkungen zu
Ihnen machen - ich mische mich damit überhaupt nicht in
Ihre inneren Auseinandersetzungen ein -: Wenn Sie der
SPD vorwerfen, sie mache die PDS hoffähig, sage ich
ganz unter uns - ich sage das auch nie wieder -: Den
größeren Anteil daran hatte, wenn auch indirekt, die CDU.
({9})
Ein Zweites will ich Ihnen dazu sagen: Ihr Herr
Diepgen und Ihr Herr Landowsky haben doch dafür geDr. Gregor Gysi
sorgt, dass die CDU hofunfähig geworden ist. Das ist das
Einzige, mit dem wir es zu tun haben.
({10})
Sie werden weder mit Hinweisen auf die Vergangenheit
noch mit Ausweichmanövern erreichen, dass wir von dem
Thema der Krisensituation in Berlin inhaltlich hauptverantwortet durch die CDU, abgehen werden. Die CDU
war vielleicht als einzige politische Kraft in der Lage
- das muss ich heute einräumen; die SPD war dazu nicht
in der Lage -, die äußere Einheit Deutschlands herzustellen. Aber sie hat sich als unfähig erwiesen, die innere Einheit Deutschlands herzustellen,
({11})
und zwar unter anderem deshalb, weil sie es ablehnt, Ostdeutsche, die nicht ein ausschließlich negatives DDR-Bild
in sich bewahrt haben, überhaupt für vereinigungstauglich
zu halten. Genau so geht es nicht! Ihre Ausgrenzungsstrategie gegenüber Wählerinnen und Wählern einer Partei,
die Sie nicht mögen, verhindert die innere Einheit. Wenn
wir hier nicht zusammenkommen, werden wir die Probleme weder in dieser Stadt noch in diesem Land lösen.
({12})
Sie sagen immer, wir seien ein Investorenschreck.
Dazu möchte ich Ihnen gerne noch etwas sagen. Wissen
Sie eigentlich, auf welchem Platz Berlin als interessanter
Investitionsstandort in Deutschland für Existenzgründerinnen und Existenzgründern steht? - Auf Platz 65! Das
hat die große Koalition in Berlin geschafft. Sie müssen
sich erst einmal überlegen, wie viele und welche Städte
davor genannt werden;
({13})
die meisten davon kennen Sie gar nicht. Also, schlechter
kann es die PDS auch nicht machen. Wissen Sie, die Stadt
ist jetzt so ruiniert, dass auch wir sie mit übernehmen können. Vielleicht gibt es doch eine Chance nach vorn.
({14})
- Nein, schlimmer kann es nicht kommen, Herr Eichel.
Der Stand ist schon erreicht.
({15})
Ich will Ihnen etwas sagen: Sie werden sehen, wie wir
einsparen, wie wir konsolidieren können. Aber wir sind
auch dafür - das hat übrigens dieser Ausgleich noch nicht
geschafft -, endlich einmal den Zweck einer Hauptstadt in
Deutschland zu klären. Dieser Zweck steht nämlich nicht
im Widerspruch zum Föderalismus, sondern wäre eine
wichtige Ergänzung.
({16})
Der Senat hat diese Frage elf Jahre lang nicht einmal aufgeworfen, geschweige denn beantwortet - weder in kultureller noch in politischer noch in ökonomischer Hinsicht.
({17})
Aber das ist ein anderes Thema.
Ich sage Ihnen nur: Auch darüber wird es im Rahmen
von Verhandlungen mit Bund und Ländern noch Überlegungen geben müssen, aber nur unter der Bedingung, dass
Berlin sein eigenes Konsolidierungskonzept vorlegt.
Dazu wird diese Stadt in der Lage sein. Davon bin ich
überzeugt.
Frau Merkel, lassen Sie mich noch eines sagen: Wenn
die CDU so weitermacht - weil es um Investitionen geht -,
das Bild einer Stadt aufzuzeigen in der Bevölkerungsteile
scheinbar verhasst sind, wenn hier wieder der kalte Krieg
eröffnet wird - genau das machen Sie zurzeit -,
({18})
dann kommt wirklich kein Investor. Die Bevölkerung hier
will sich vereinigen. Nur Sie wollen sich nicht vereinigen.
({19})
Dieses Problem muss endlich nicht nur in Berlin, sondern
in ganz Deutschland gelöst werden - mithilfe von Ökonomie, aber auch mithilfe der Lösung von mentalen Problemen.
Als Letztes zu Ihnen, Herr Bundeskanzler. Ihr Problem
ist, dass wir jetzt einen Abschwung haben. Das hängt
durchaus mit der Politik der Bundesregierung zusammen,
aber - das gebe ich zu - hat auch etwas mit der Einzelentwicklung der Weltwirtschaft zu tun. Aber so ist es nun
einmal in der Politik: Der Aufschwung war ja allein Ihrer
und dann gehört Ihnen halt auch der Abschwung. Wer jede
blühende Blume für sich in Anspruch nimmt, haftet dann
auch für jede verwelkte. Manchmal ist es ganz gut, bei
Dingen, die sich positiv entwickeln, die eigenen Leistungen nicht ganz so hervorzuheben; denn dann haftet man
nachher nicht ganz so dafür, wenn es wieder ein bisschen
bergab geht. Das ist nur einmal ein Rat nebenbei, den man
in jeder Hinsicht beherzigen sollte, egal welche Verantwortung man in Deutschland übernimmt.
({20})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bleibe dabei: Die Beschlüsse
vom 24. Juni zum Länderfinanzausgleich und zum Solidarpakt II haben eine ungewöhnlich breite Zustimmung
gefunden ({0})
sowohl bei den politisch Handelnden als auch in der Öffentlichkeit. Von Biedenkopf bis zu Runde, von Stoiber
bis zu Ringstorff: Alle haben nur zufriedene Gesichter.
Ringsherum Lob: vom „Handelsblatt“ bis zum „Neuen
Deutschland“, von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bis zur „Bild“-Zeitung, abgesehen von der eben
gehörten Oppositionsmäkelei.
({1})
Alle sind sich darin einig, dass hier ein großer Wurf gelungen ist. Das muss Ihnen, Herr Bundeskanzler, erst einmal einer oder eine nachmachen, nicht wahr, Frau
Merkel?
({2})
Während Sie sich am vergangenen Wochenende mit der
bedeutenden Frage abgeben mussten, ob, und wenn ja,
wie oft und womöglich auch noch wie lange Ihr Vorvorgänger im Amt in den Berliner Wahlkampf eingreifen darf
oder soll, hat diese Bundesregierung zusammen mit den
16 Ministerpräsidenten der Länder Föderalismusgeschichte geschrieben.
Als ostdeutsche Abgeordnete freue ich mich über das
Ergebnis vom vergangenen Wochenende ganz besonders.
({3})
Als im November der Urteilsspruch aus Karlsruhe verkündet wurde, hätte ich nicht geglaubt, dass die Grundlinien einer Entscheidung zum Länderfinanzausgleich
und zum Solidarpakt II vor der Sommerpause des Jahres
2001 einvernehmlich beschlossen werden würden.
Noch eine kleine Korrektur an die Adresse von Frau
Merkel: Sie hatten in Ihrer Rede vorhin behauptet, der
Bundeskanzler habe über den Solidarpakt gar nicht reden
wollen. Mir ist ein Zettel zugeleitet worden, auf dem
steht: „In der Sitzung vom 29. Mai 2000 im Bundeskanzleramt in Berlin hat Bundeskanzler Schröder vorgeschlagen und dann mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten
vereinbart, dass bis spätestens Ende 2001 der Solidarpakt II ({4}) fertig gestellt wird.“ - Dafür, Herr Bundeskanzler, gebührt Ihnen, den Ministerpräsidenten und auch
Finanzminister Eichel Dank,
({5})
Dank, wie ich meine, des ganzen Hauses.
Eines ist deutlich geworden: Das föderale System auch
der wiedervereinten Bundesrepublik Deutschland ist in
entscheidenden Fragen unseres Landes handlungs- und
konsensfähig. Allen Unkenrufen zum Trotz: Diese Gesellschaft und ihre politischen Repräsentanten sind zur
Solidarität bereit und fähig.
({6})
Mit diesem Kompromiss - ich nenne es auch vertrauensbildende Maßnahme - wurde der Weg für das Maßstäbegesetz frei gemacht, das, wie bereits gesagt wurde,
die F.D.P. heute im Ausschuss ablehnt hat. Die Auslassungen von Herrn Westerwelle haben bei mir eigentlich
nur den Eindruck erweckt, dass er von den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern eher wenig Ahnung
hat.
({7})
Für mich heißt die zentrale Botschaft: Die Menschen in
den neuen Ländern können sich auch in den beiden kommenden Jahrzehnten auf die notwendige Solidarität der
alten Länder verlassen. Wir haben immer gesagt: Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe. Wer blühende
Landschaften und die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West in nur wenigen Jahren verspricht, belügt die Menschen. Ihre heutige Rede, Frau
Merkel, hat dem noch eins draufgesetzt.
Wir können uns jetzt an einem konkreten Datum, nämlich dem Jahr 2020, orientieren. Bis dahin kann der Aufbau
Ost abgeschlossen sein. Bis dahin wird es Sonderhilfen geben. Bis dahin brauchen wir die Solidarität der Bürgerinnen
und Bürger aus den alten wie den neuen Bundesländern.
({8})
Danach ist Schluss mit einer Sonderbehandlung Ost. Sie
wird - und davon bin ich überzeugt - dann auch nicht
mehr nötig sein; denn dann können die Länder und Gemeinden im Osten genauso behandelt werden wie die im
Westen. Ich halte die Perspektive 2020 für realistisch.
Dann werden 30 Jahre Aufbau Ost hinter uns liegen. Die
große Generationenaufgabe, die Umwandlung einer kommunistischen Staatswirtschaft mit all ihren Folgen in die
soziale Marktwirtschaft, kann dann bewältigt sein.
Meine Damen und Herren, an den Vereinbarungen des
vergangenen Wochenendes schätze ich ganz besonders,
dass wir jetzt ganz konkret den finanziellen Rahmen der
Hilfen für die neuen Länder kennen. Diese Festlegung des
Bundes und der Länder ist sehr viel wert, vielleicht mehr
wert als die konkreten Summen, die ausgehandelt wurden. Länder und Gemeinden haben jetzt Sicherheit. Sie
können nun planen und wissen, dass diese Planungen auf
festem Boden stehen.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass das Beratungsergebnis vom vergangenen Wochenende auch in seiner finanziellen Dimension ein Kompromiss ist. Etliche unrealistische Forderungen, die uns in den vergangenen
Wochen zum Beispiel aus Thüringen erreichten, haben
das letzte Wochenende nicht überlebt. Auch manche wissenschaftlich untermauerten Berechnungen über alle
möglichen Lücken wurden auf das Erreichbare und
Machbare zurechtgerückt.
Finanzpolitik ist ein hartes Geschäft. Finanzpolitik im
Europa des 21. Jahrhunderts spielt sich zudem nicht mehr
allein im nationalen Rahmen ab. Die finanziellen Forderungen und Erwartungen der neuen Länder mussten in
Einklang mit den Erfordernissen einer nachhaltigen
Finanzpolitik gebracht werden, wie es der MaastrichtVertrag und der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt verlangen. Innerhalb dieser finanzpolitischen
Leitplanken - das Markenzeichen des seriösen und soliden
Finanzministers Eichel - bewegt sich der Kompromiss
vom 24. Juni. Nach der Steuer- und der Rentenreform ist
jetzt mit den Beschlüssen zum Länderfinanzausgleich und
zum Solidarpakt II die Voraussetzung geschaffen worden,
ein weiteres Großprojekt der Reformagenda dieser Bundesregierung zu einem guten Abschluss zu bringen.
({9})
Der Kompromiss vom 24. Juni ist alles andere als ein
bloßes „Weiter so!“, wie es hier und da zu hören war. Mit
den Beschlüssen vom vergangenen Wochenende tritt der
Aufbau Ost vielmehr in eine neue Phase ein. Die neuen
Länder und die Gemeinden im Osten erhalten jetzt mehr
Selbstbestimmung, aber auch mehr Eigenverantwortung.
Dadurch wird es den Ländern selbst möglich, die oft geforderte größere Zielgenauigkeit und Effizienz der Förderung zu erreichen. Ich glaube, das ist ein sehr folgerichtiger Schritt für die zweite Hälfte des Aufbaus Ost.
Ich unterstütze dabei ausdrücklich die Forderung an
die neuen Länder, jährlich „Fortschrittsberichte Aufbau
Ost“ dem Finanzplanungsrat vorzulegen, in denen erstens
ihre Fortschritte bei der Schließung der Infrastrukturlücke, zweitens die Verwendung der Mittel aus dem Solidarpakt und drittens die finanzwirtschaftliche Entwicklung der Länder- und Kommunalhaushalte einschließlich
der Begrenzung der Neuverschuldung dargelegt werden.
Das ist eine legitime Forderung des Bundes und der westdeutschen Länder. Ich möchte anregen, dass der Deutsche
Bundestag diese Fortschrittsberichte und deren Bewertung durch die Bundesregierung zur Kenntnis erhält und
darüber jährlich debattiert.
Der Kompromiss vom 24. Juni sichert nicht nur die finanziellen Voraussetzungen für den weiteren Aufbau in
den neuen Ländern. Er ist gleichzeitig ein wichtiger Zwischenschritt bei der Modernisierung unserer föderalen
Ordnung. Die bundesstaatliche Ordnung steht vor einem
bedeutenden Umbau.
Das föderale Modell der Bundesrepublik Deutschland hat
eine gute Zukunft. Alle Parteien in diesem Hause, so hoffe
ich, stimmen mit ihm darin überein.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen,
Professor Dr. Kurt Biedenkopf.
Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident ({0})
({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Aufbau des Ostens bleibt eine gesamtdeutsche Aufgabe. Das ist nach meiner Auffassung - darin stimme ich
mit Herrn Stolpe überein - eine der wichtigsten Aussagen
des vergangenen Wochenendes. Alles das, was zur Leistungsfähigkeit des Föderalismus und zur Zusammenarbeit
gesagt worden ist, möchte ich nicht wiederholen. Ich
möchte in meiner Rede auf eine Reihe von Gesichtspunkten hinweisen, die die Zukunft betreffen.
Der Gesamtstaat stellt weiterhin Mittel bereit, um die
teilungsbedingten Rückstände des Ostens insbesondere
im Infrastrukturbereich zu überwinden. Das bedeutet
nicht - wenn ich hier einmal eine sprachliche Differenzierung empfehlen darf -, dass der Westen dem Osten
hilft, sondern dass der Aufbau Ost eine gesamtstaatliche
Aufgabe ist, an deren Gelingen alle ein Interesse haben,
der Westen genauso wie der Osten.
({2})
Wir haben jetzt auch Klarheit über die zeitliche Dimension, die realistisch ist. Aber nicht nur der Solidarpakt II - das ist ebenfalls wichtig - läuft im Jahre 2019
aus, sondern auch der Finanzausgleich. Das heißt, man hat
sich insgesamt darauf verständigt, nach dem Zeitraum
von weiteren gut 18 Jahren eine Gesamtrevision des Zustandes und der Entwicklung des Landes vorzunehmen.
Wir haben mehr Entscheidungsspielräume. Frau Kollegin Kaspereit, es war keine Forderung des Bundes, dass
die ostdeutschen Länder Berichte erstatten.
({3})
Vielmehr haben die ostdeutschen Länder den Vorschlag
gemacht, als Gegenleistung für höhere Flexibilität Berichte zu erstatten. Vielleicht können sich die westdeutschen Länder diesem Vorschlag eines Tages anschließen.
({4})
Wenn das geschähe, dann diskutierten wir im Bundestag
über die Leistungsfähigkeit aller deutschen Länder und
nicht nur über die der Länder im Osten.
Der entscheidende Grund für das Angebot und für den
Wunsch nach mehr Ermessensspielraum war in der Tat
die in der Vergangenheit gemachte Erfahrung, dass sowohl im Bereich der gemeinsamen Finanzierung wie im
Bereich definierter Programme Entscheidungen enthalten
sind, die nicht immer den konkreten Bedürfnissen und
Notwendigkeiten der jeweiligen Regionen entsprechen.
In diesem Sinne ist es verkehrt, immer von den ostdeutschen Ländern zu sprechen. Es gibt in den verschiedenen
Ländern verschiedene Bedingungen, die berücksichtigt
werden müssen und in Zukunft berücksichtigt werden
sollten.
Es war von „Leitplanken“ die Rede. Mit dem Solidarpakt II sind drei Leitplanken verbunden, die den Handlungsspielraum der ostdeutschen Länder in Zukunft beeinträchtigen, man kann auch sagen: leiten werden.
Bei der ersten Leitplanke geht es um den Umstand,
dass wir der Wirkung einer doppelten Degression ausgesetzt sind: die vereinbarte Degression, die etwa nach 2008
nachhaltig einsetzt, und die Degression durch die Geldentwertung. Beides ist vor dem Hintergrund zu sehen,
dass die Ausgabenseite nominal nicht unverändert bleibt.
Unsere Personalkosten - die Personalkosten der Länder
sind wesentlich höher als die des Bundes - werden sich
selbstverständlich dynamisch entwickeln. Wir werden darüber hinaus die durch die Inflation bewirkte Preissteigerung verkraften müssen. Das heißt: De facto werden unsere Haushalte selbst dann, wenn die Steuerentwicklung
im eigenen Land günstig verläuft, über einen langen Zeitraum nicht größer werden.
Die zweite Leitplanke sind die im Finanzausgleich
festgelegten Grundlagen, die allerdings, soweit sich die
Steuereinnahmen entsprechend entwickeln, dynamisch
sind.
Die dritte Leitplanke ist der Stabilitätspakt. Der Stabilitätspakt soll - das haben wir verabredet - in kurzer
Zeit unsere Verschuldungsgrenzen festlegen.
Wir müssen in den kommenden gut 18 Jahren also
mit - im günstigsten Fall - real stabilen Haushalten rechnen. Ich glaube nicht, dass die Stärkung der Steuerkraft im
Osten höher als die mit den Degressionen verbundenen
Rückläufe sein wird. Ich finde das im Übrigen nicht
schlecht. Nur, es ist eine ganz besondere Herausforderung, die die westlichen Bundesländer mit uns nicht teilen. Wenn man die gesamtpolitische Lage betrachtet, dann
muss man das sehen.
Wenn in den nächsten Jahren Gesetze beraten werden,
dann sollte dabei - das ist meine Bitte an dieses Hohe
Haus - immer die Frage berücksichtigt werden, ob die besondere Situation im Osten nicht auch eine höhere Flexibilität erforderlich macht. Es kann durchaus sein, dass
sich die wohlhabenden Länder in Westdeutschland - sie
werden die wohlhabenderen bleiben - mit gewissen Erstarrungserscheinungen der Bürokratie abfinden, weil sie
sie nicht als so nachteilig empfinden. In den ostdeutschen
Ländern wird sich jede unnötige, aus der gesamtstaatlichen Sicht nicht unbedingt erforderliche Restriktion des
Bewegungsspielraums in Nachteilen im Hinblick auf die
Anpassungsfähigkeit und die Steigerung der Effizienz der
Mittelverwendung niederschlagen. Das muss nach meiner
Auffassung berücksichtigt werden.
({5})
Die Gestaltungsspielräume können sich auch nicht nur
auf die Kommunalpolitik erstrecken. Der Zusammenhang
zwischen dem, was ich eben gesagt habe, und der mit den
Ländern einvernehmlich vereinbarten Neuordnung der
Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern ist offensichtlich. Wir brauchen mehr Bewegungsspielraum, insbesondere für die ostdeutschen Länder, damit sie die
schwierige Aufgabe, mit nicht real steigenden Haushalten
über eine längere Zeit ihre Aufgaben zu erfüllen, leisten
können.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Das
eine Beispiel ist die Hochschulrahmengesetzgebung.
Wir aus Ostdeutschland haben seit Jahren - schon gegenüber der vorherigen Regierung wie auch gegenüber der
jetzigen - immer wieder gesagt: Gebt uns mehr Spielraum
bei der Gestaltung der Hochschulen, als die westdeutschen Länder sie offenbar für sich in Anspruch nehmen.
Das ist nicht gelungen. Die Folge ist, dass wir eine ganze
Reihe von Strukturen zunächst als eine Art Oktroi übernehmen mussten, die sich als unbrauchbar oder wenig
brauchbar erweisen und die wir jetzt mühsam wieder abbauen müssen. Wir wollen diese Art von Einengung bei
der uns gestellten besonderen Aufgabe so weit wie möglich zu vermeiden suchen.
Das andere Beispiel ist die Modulation in der Agrarpolitik. Modulation in der Agrarpolitik heißt, dass sich bis
zu einer bestimmten Betriebsgröße nichts ändern soll,
dann aber mit steigender Betriebsgröße die Zahlungen
zurückgehen sollen, das heißt, eine Degression einsetzt.
Es kann sehr wohl sein, dass diese Degression genau die
fortschrittlichen Strukturen in der Agrarwirtschaft bestraft,
({6})
die wir eigentlich aufbauen wollen, um die Agrarwirtschaft leistungsfähig, insbesondere auch im Blick auf die
Osterweiterung zu machen.
({7})
Das ist der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte:
Bitte bedenken wir bei der Umsetzung der Entscheidungen der letzten Tage, die auch nach meiner Auffassung ein
erfreuliches, wichtiges und die gesamtstaatliche Verantwortung konkretisierendes Ereignis waren,
({8})
dass insbesondere die ostdeutschen Länder von der
Osterweiterung betroffen sein werden. Die ersten und
wichtigsten Auswirkungen im zwischenstaatlichen Verhältnis und im sich erweiternden Grenzbereich müssen
von den Menschen in den Ländern aufgefangen werden,
die an der deutsch-polnischen und an der deutschtschechischen Grenze liegen. Das sind Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und im unmittelbaren
Einzugsfeld auch Berlin.
Hier brauchen wir nicht Hilfe im finanziellen Sinne,
sondern Hilfe im Sinne des Verständnisses für die besondere Lage, in der wir uns befinden, und damit auch Rücksichtnahme auf diese besondere Lage, wenn gesamtstaatliche Entscheidungen getroffen werden. Wenn uns das
gelingt, wird die zukünftige Entwicklung nicht mehr so
sehr ein finanzpolitisches Problem sein, sondern ein Test
für unsere gesamtstaatliche Gestaltungsfähigkeit, überall
dort, wo Vielfalt besser ist als Einheitlichkeit.
Vielen Dank.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Carsten
Schneider von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das vergangene Wochenende
mit seinen Entscheidungen zum Finanzausgleich und zum
Solidarpakt war ein Erfolg des Föderalismus. Es war ein
Erfolg für die neuen Länder und ihre Bürgerinnen und
Bürger, für Investoren und für die junge Generation. Ich
möchte es mir daher nicht nehmen lassen, dem Bundeskanzler für seine Bemühungen und sein Engagement zu
danken.
({0})
Uns Menschen in den neuen Ländern wurde durch die
gefundene Lösung gezeigt, dass ihr Vertrauen in die Bundesregierung mehr als gerechtfertigt ist.
({1})
Die Entscheidung für den Solidarpakt gibt Sicherheit,
einerseits den Ländern und andererseits den Investoren,
und vermittelt, dass die neuen Länder eine gute Zukunft
Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({2})
haben, dass es sich mehr denn je lohnt, in den neuen Ländern zu wohnen und zu arbeiten, Kinder zu zeugen und
diese dort zu erziehen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, hat die Bundesregierung mit dieser Entscheidung gezeigt, wie wichtig ihr der Aufbau Ost ist und wie
wichtig ihr die Menschen in den neuen Ländern sind.
({3})
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Die
Menschen in den neuen Ländern trifft keine Schuld für die
40 Jahre dauernde Teilung unseres Vaterlandes.
Bei allem Lob, das heute gerechtfertigt ist, dürfen wir
jedoch nicht übersehen, dass erst ein Teil des Weges
zurückgelegt wurde. Ein weitaus größerer Teil des Weges
liegt noch vor uns. 300 Milliarden DM sind eine Menge
Geld. Es ist notwendig und richtig, dieses Geld im Osten
zu investieren. Doch Geld allein reicht nicht aus. Es liegt
jetzt an den Ländern, die Mittel auch sinnvoll, effektiv
und mit dem größtmöglichen Nutzen für die Menschen
einzusetzen. Wir haben allen Grund zum Optimismus,
wenn wir diese Entscheidung als Chance begreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer behauptet, die
neuen Bundesländer seien ein Fass ohne Boden, der spielt
verantwortungslos mit Ressentiments und dumpfen Vorurteilen.
({4})
Das kann jeder sehen, der mit offenen Augen Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen oder auch den Ostteil Berlins besucht. Mit
dem Solidarpakt II hat der Bundeskanzler die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Aufbau weitergeht. Die
Verantwortung für den sinnvollen Einsatz der Mittel liegt
jetzt bei den Ländern.
So richtig und wichtig ich die Stärkung des Föderalismus auch finde, sei mir an diesem Tag doch auch eine kritische Anmerkung erlaubt: Es gab in den letzten Jahren
auch Fehlentscheidungen. Es wurden Investitionen gefördert, die dem normalen Menschenverstand widersprechen.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimat: Obwohl in
Thüringen viele Schulgebäude eine dringende Modernisierung nötig hätten, wurden riesige und unzählige
Spaßbäder mit bis zu 80 Prozent subventioniert, wurden
Steuergelder in Unternehmen investiert, deren Niedergang
abzusehen war. Diese Liste ließe sich leider verlängern.
In der Zukunft - das ist mein Rat an die Länder, die nun
mehr Verantwortung tragen - sollten nicht mehr Unternehmen gefördert werden, deren Sterben damit nur verlängert wird, sondern sollte gezielt in zukunftsträchtige
Industrie- und Unternehmenszweige investiert werden, in
Unternehmen, die nachhaltig Arbeitsplätze schaffen und
den Aufschwung sichern. Ich halte daher die getroffene
Regelung, dass die Länder jährlich über die Verwendung
der Mittel und die erzielten Fortschritte Rechenschaft ablegen müssen, für eine gute Lösung. Ich begrüße den Vorschlag meiner Kollegin Sabine Kaspereit, diese Berichte
auch im Bundestag zu debattieren.
({5})
Durch diese Lösung wird Verantwortung nachvollziehbar,
können Erfolge dargestellt und kann möglichen Fehlentwicklungen rechtzeitig entgegengewirkt werden.
Wir müssen nur aufpassen, dass dieses Geld in den
Länderhaushalten nicht verkonsumiert wird, es also
nicht dazu führt, dass der Reformdruck von den Ländern
genommen wird. Jetzt sind die Länder selbst gefragt,
Konzepte zu erarbeiten und diese umzusetzen. Patentrezepte gibt es weder in der Wissenschaft noch, glaube
ich, in unseren Reihen. Eines aber muss meines Erachtens
klar sein: Die Länder müssen diese Mittel zum größten
Teil investiv einsetzen, obwohl es - wie gesagt - keine
explizite Zweckbindung mehr geben wird.
Die langfristige Planbarkeit der Mittel ermöglicht vorausschauende Strategien. Entwicklungschancen sehe ich
in der EU-Osterweiterung und dem Ausbau der vorhandenen Potenziale in den Regionen. Hierbei sind neben
dem Ausbau der Infrastruktur, den ich für absolut vorrangig halte, vor allem die Hochschullandschaft und der industrienahe Forschungsbereich zu stärken. Lassen Sie
mich dabei ein aus meiner Sicht sehr großes Problem ansprechen: Der gezielte Aufbau und der Erhalt der ostdeutschen Forschungslandschaft werden nur gelingen, wenn
wir es schaffen, die besten Köpfe im Osten zu halten.
({6})
Dies erfordert dann allerdings auch eine vergleichbare
Bezahlung. Die subjektive Wahrnehmung von vielen Ostdeutschen ist, dass die jungen Leute den Osten verlassen.
Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es einige, die vor
der Entscheidung stehen, entweder in Erfurt für, wenn es
gut geht, 86 Prozent und vier, fünf Stunden mehr zu arbeiten oder in Frankfurt eine Chance zu ergreifen, wo es
ein höheres Salär gibt und die Perspektiven besser sind.
Deswegen glaube ich, dass wir in diesem Punkt - ich
weiß, dass das besonders die Berufsschullehrer im Osten
trifft - eine stärkere Differenzierung brauchen.
Ich springe aber nicht auf den Zug auf, zu behaupten,
es sei schlecht, dass junge Leute Ostdeutschland verlassen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man seinen eigenen
Kirchturm verlässt und einen Teil der Welt sieht.
({7})
Unser Ziel muss es sein, junge Leute aus anderen Regionen - dabei denke ich gerade an die EU-Osterweiterung nach Ostdeutschland zu holen,
({8})
um sie bei uns auszubilden, auch an den Universitäten, damit sie dann vielleicht dableiben. Das wäre eine gesunde
Entwicklung. Ich hoffe, dass uns diese Internationalisierung, die nicht einmal viel Geld kosten muss, die
aber eine Offenheit in der Region gegenüber Fremden und
anderen Kulturen voraussetzt, gelingt.
({9})
Lassen Sie uns aber nicht vergessen, dass die deutsche
Einheit Teil einer größeren, einer europäischen Einheit ist.
Mit der Osterweiterung rückt Deutschland ein Stück
näher ins Zentrum der Europäischen Union.
Mit dem Solidarpakt II stellt die Bundesregierung daher nicht nur die Zukunftsfähigkeit der neuen Bundesländer sicher, sondern schafft gleichzeitig die Voraussetzung
für eine erfolgreiche EU-Osterweiterung. Dies kann eine
Riesenchance sein: für die neuen Bundesländer, für
Deutschland und für Europa. Lassen Sie uns diese Chance
gemeinsam nutzen!
({10})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Solidarpakt II beginnt quasi eine neue Entwicklungsphase in Deutschland. Aus meiner persönlichen,
subjektiven Sicht ist das die zweite Phase der Wiedervereinigung. Ich nehme mit meiner heutigen Rede Abschied
aus dem Parlament und aus der Bundespolitik. Meine Zeit
in diesem Parlament entsprach gewissermaßen der ersten
Phase der Wiedervereinigung, vom Einigungsvertrag bis
hin zum Solidarpakt I in seiner Ausführung. Rein materiell gesehen war dieser Einigungsprozess die größte
Solidarleistung der Weltgeschichte. Wir haben einen
Transfer von insgesamt weit über 1 Billion DM in dieser
Zeit bewältigt.
Es gab während meiner parlamentarischen Arbeit viele
Diskussionen, ob dieses Geld gut angelegt war oder nicht.
Ich darf an dieser Stelle sagen: 75 Prozent aller Gelder, die
in die neuen Bundesländer geflossen sind, waren für Sozialleistungen und Zuweisungen an Bund und Länder.
17 Prozent der Gelder gingen in den Infrastrukturausbau.
Ich glaube, das war gut angelegtes Geld. Nur 8 Prozent
dieser Gelder waren reine Subventionen. Wenn man das
hochrechnet, machen diese 8 Prozent etwa 11 Milliarden DM pro Jahr aus. Wenn man diese in Relation
zur Steinkohleförderung setzt, die noch bis Mitte der
90er-Jahre jährlich 10 Milliarden DM betrug, dann ist das
meiner Meinung nach ein guter Beleg dafür, dass diese
Gelder gut angelegt und nicht verschwendet waren.
({0})
Nun stehen wir vor der zweiten Phase der Wiedervereinigung. Der Solidarpakt II bedeutet vor allem eine Anerkennung weiterer Solidarleistungen für die neuen Bundesländer auf lange Zeit. Er wurde - das ist hier gesagt
worden - mit großer Einmütigkeit beschlossen. Wir haben, wenn wir hier diskutiert und gestritten haben und am
Ende große Interessenkonflikte bewältigt wurden, oft gesagt: Wenn alle gleich laut schreien, dann haben wir es
richtig gemacht.
Diesmal haben offensichtlich alle gewonnen. Es muss
also ein guter Kompromiss gefunden worden sein. Ich
glaube, dass Wichtigste an diesem Kompromiss ist, dass
wir langfristige Planungssicherheit haben. Negativ ist,
dass die Hauptlast der Bund trägt und dass die Schulden
aus dem Fonds Deutsche Einheit langfristig weiter auf
kommende Generationen überwälzt werden. Negativ ist
auch, dass wir befürchten müssen, dass der Soli-Zuschlag,
der ja ein reines Refinanzierungsinstrument des Bundes
ist, auf lange Zeit festgeschrieben und damit zu weiteren
Belastungen der Wirtschaft führen wird.
Gut ist sicherlich die stärkere Beachtung der kommunalen Finanzkraft. An dieser Stelle darf ich daran erinnern, dass die Kommunen in den neuen Bundesländern
derzeit ein Finanzaufkommen haben, das im Verhältnis zu
dem der westdeutschen Kommunen unter 40 Prozent, bei
etwa 36 Prozent, liegt. Auch 2005, wenn der Solidarpakt II zu wirken beginnt, wird die Steuerkraft dieser
Kommunen weniger als 50 Prozent der der westdeutschen
Kommunen betragen.
Gut ist auch, dass die Länder mehr Eigenständigkeit
bei der Verwendung der Gelder bekommen - eine echte
Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Dieses Mehr an
Freiheit für die Länder bedeutet aber auch mehr Verantwortung, insbesondere für das Hauptproblem der gegenwärtigen Entwicklung in den neuen Bundesländern, die
Abwanderung der Menschen. Diese Abwanderung vor
allem der jungen und leistungsfähigen Menschen ist weniger ein quantitatives Problem als ein qualitatives Problem. Mit den jungen und den leistungsfähigen Menschen
gehen auch die Investitionen, die wir in die Köpfe getätigt
haben, quasi die mobilen Investitionen in die neuen Länder, und damit die Zukunftschancen verloren. Dem entgegenzuwirken ist sicherlich auch ein Anliegen dieses Solidarpakts II. Gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und
West wären für diesen Prozess sicherlich sehr förderlich.
Letztlich aber, meine Damen und Herren, ist mit dem
Solidarpakt II nur der Geldtransfer geregelt. Nicht geregelt ist, wie dieses Geld angelegt wird. Es kommt jetzt darauf an, was wir mit diesem Geld machen.
Gerade die letzten Jahre geben wenig Anlass zu Hoffnung: nicht nur, dass die Bundesregierung insgesamt wirtschaftpolitisch falsche Weichenstellungen vorgenommen
hat - wir stehen, das wurde heute zutreffend erwähnt, hinsichtlich der Dynamik der Wirtschaft auf dem letzten
Platz in Europa und haben zudem eine exorbitant hohe Inflationsrate -, sondern auch die Belastungen für den Osten
sind enorm gewachsen. Darüber haben wir hier vielfältig
diskutiert. Angela Merkel hat einige Beispiele dafür genannt. Ich denke nur an die hohe Belastung des Mittelstandes, und ich denke an die Belastung durch die Ökosteuer, die in den neuen Bundesländern besonders stark
wirkt.
Besonders besorgt aber bin ich, weil unter Gerhard
Schröder, unter diesem Bundeskanzler, der Aufbau Ost
von der Herzenssache zu einer Nebensache geworden ist.
({1})
Wir brauchen deshalb vor allem mehr Aufmerksamkeit
für die neuen Bundesländer. Neben der finanziellen Ausstattung sind vor allem die richtigen Schwerpunktsetzungen wichtig. Wir hatten in der letzten Woche eine Anhörung zur wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen
Ländern. Dort haben uns die Experten noch einmal sehr
deutlich gesagt, worauf es ankommt. Vor allem kommt es
auf den Infrastrukturausbau an, insbesondere auf den
Ausbau der Verkehrswege.
Aber neben diesen materiellen Investitionen geht es vor
allem auch um immaterielle Investitionen in den neuen
Ländern. Wir brauchen effektivere Ausbildungsstrukturen.
Wir müssen das Defizit zwischen Angebot und Nachfrage
an Arbeitskräften beheben helfen. Derzeit besteht in den
neuen Ländern folgender Widerspruch: Auf der einen Seite
suchen die Unternehmen Fachkräfte und finden keine und
auf der anderen Seite suchen die jungen Leute Jobs und finden keine. Hier ist ein zentraler Ansatz zum Handeln geboten. Ich meine, wir müssen uns sehr viel mehr Gedanken
über die Effektivität der Ausbildung machen.
({2})
Darüber hinaus brauchen wir in den neuen Bundesländern vor allem mehr Innovationen. Wer mich kennt, weiß,
dass mich das Feld der Innovationen in der gesamten Zeit
meiner parlamentarischen Tätigkeit besonders bewegt hat
und dass ich mich da besonders engagiert habe. Dazu
gehören vielfältige Maßnahmen, von der Förderung von
Forschung und Entwicklung über die Bildung regionaler
Cluster bis hin zu neuen Finanzierungsspektren und Finanzierungsstrukturen. Ich habe mich in den zehn Jahren
meiner Zugehörigkeit zum Bundestag nicht nur mit vielen
Fragen der deutschen Einheit beschäftigt, sondern besonders lagen mir die Innovationen am Herzen. Ich habe in
den letzten sieben Jahren sehr nachhaltig für ein Instrument gekämpft, welches die Investitionen in die Köpfe
fördert, nämlich die Innovationszulage. Die derzeitigen
Förderinstrumente richten sich fast ausschließlich auf materielle Investitionen, auf Investitionen in Beton und Eisen.
Die interessanten Firmen, die wir brauchen - gerade auch
in den neuen Bundesländern -, sind aber weniger auf materielle Investitionen angewiesen. Sie erfordern Investitionen in Personal, in Forschung und Entwicklung, in die
Köpfe. Deshalb möchte ich Sie alle bitten, sich diesem Instrument doch noch einmal zuzuwenden. Die Innovationszulage könnte uns in den nächsten Jahren wirklich erhebliche Fortschritte in der Entwicklung gestatten. Deshalb
möchte ich, nachdem ich dafür sieben Jahre erfolglos
gekämpft habe und vor allen Dingen an den Voten der Ländern gescheitert bin, hier noch einmal dafür werben.
({3})
Im Übrigen haben bei der bereits erwähnten Anhörung
letzte Woche alle Experten dieses Instrument noch einmal
befürwortet.
Die Ergebnislosigkeit dieses Kampfes zeigt, wie
schwer es manchmal ist, in diesem Parlament erfolgreich
zu sein. Glücklicherweise konnte ich in den zehn Jahren
meiner Arbeit hier an vielen bedeutenden Entscheidungen
teilhaben. Ich gehe deshalb insgesamt mit sehr guten Gefühlen aus diesem Parlament und schaue mit guten Gefühlen auf meine Arbeit zurück. Ich habe viele interessante Menschen kennen gelernt. Ich habe viele Freunde
gefunden. Wir haben gemeinsam um und für die deutsche
Einheit gerungen.
Der Soli II bietet Voraussetzungen für eine gute Entwicklung in den neuen Ländern. Es kommt nun darauf an,
dies in den vielen weiteren politischen Entscheidungen
richtig umzusetzen. Dazu wünsche ich euch und Ihnen
weiterhin viel Glück und Erfolg.
({4})
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die
größte innenpolitische Herausforderung unserer Nation,
um die Gestaltung der deutschen Einheit. Ich bin dankbar,
dass ich dabei sein durfte.
Vielen Dank.
({5})
Herr Kollege Paul Krüger, Sie haben Ihre letzte Rede vor dem
Deutschen Bundestag gehalten. Sie sind zum Oberbürgermeister von Neubrandenburg gewählt worden und
werden deshalb in der Sommerpause aus diesem Hause
ausscheiden. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses
für Ihre erfolgreiche Arbeit im Deutschen Bundestag, in
der Bundesregierung und auch in der ersten frei gewählten Volkskammer vielmals danken. Ich wünsche Ihnen für
Ihre wichtige Aufgabe im Sinne und im Interesse der Bürger von Neubrandenburg viel Erfolg und eine gute Hand.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({1})
- Drucksache 14/6144 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/6140 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 14/6470 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Frank Schmidt ({5})
Jochen-Konrad Fromme
Carl-Ludwig Thiele
Ich weise darauf hin, dass wir über den Gesetzentwurf
zur Änderung des Grundgesetzes gleich namentlich abstimmen werden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass eine
Aussprache nicht erfolgen soll. - Ich sehe, dass Sie damit
einverstanden sind.
Das Wort zur Berichterstattung hat der Kollege
Dr. Frank Schmidt.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Änderung des
Art. 108 des Grundgesetzes sowie dem Gesetz zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes wird das Ziel verfolgt, die bestehende Finanzverwaltung aufgabenbezogen
und vor allem flexibel zu organisieren. Es sollen - davon
können alle ausgehen und davon sind wohl auch alle überzeugt - effiziente und kostengünstige Verwaltungsstrukturen geschaffen werden. Dies ist ein Beitrag zur Modernisierung der Finanzverwaltung und damit auch ein
Beitrag auf dem Weg zum oftmals geforderten schlanken
Staat.
({0})
Bund und Länder gehen in diesem Anliegen Hand in
Hand; denn auch von den Ländern wurden viele Initiativen an uns herangetragen, diese Grundgesetzänderung,
die wohl notwendig ist, durchzuführen. Sie sind einmütig
für den Ihnen vorliegenden, leicht geänderten Gesetzentwurf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, worum geht es? Es
geht vor allen Dingen darum, den Ländern anzudienen,
die Dreigliedrigkeit der Finanzverwaltung - Finanzämter,
Oberfinanzdirektionen und Finanzministerium - ändern
zu können. Das wollen einige Bundesländer auch machen. Die Länder sollen also die Möglichkeit erhalten, die
Struktur ihrer Finanzverwaltung, insbesondere die Mittelbehörden betreffend, zu ändern und gegebenenfalls die
Oberfinanzdirektionen wegfallen zu lassen.
Mit der Verfassungsänderung wird die rechtliche Voraussetzung für die Flexibilisierung des Behördenaufbaus
geschaffen. Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes wird diese rechtliche Möglichkeit gesetzlich festgeschrieben. Bund und Länder erhalten
nunmehr die Möglichkeit - wie ich eben schon erwähnt
habe -, statt einer dreistufigen eine zweistufige Finanzverwaltung zu gestalten und die Aufgabengebiete neu zu
gliedern.
Dieses Anliegen wurde von allen Fraktionen im zuständigen Finanzausschuss mitgetragen. Die Regelung
wurde um eine vonseiten der F.D.P. - insbesondere durch
Herrn Kollegen Thiele; deswegen noch ein herzliches
Dankeschön an Sie - angeregte Formulierung ergänzt,
sodass nun ein einmütiger Gesetzentwurf zur Änderung
des Grundgesetzes vorliegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesen Gesetzentwürfen wird der Grundstein zu einer zukunftsorientierten und modernen Finanzverwaltung gelegt. Ich darf Sie
daher um Zustimmung zu diesen Gesetzentwürfen bitten.
Danke.
({1})
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Art. 108 Grundgesetz, Drucksachen 14/6144, 14/6470.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 Grundgesetz ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags, das heißt mindestens 445 Stimmen,
erfordert.
Wir kommen zur namentlichen Abstimmung. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das
ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Sind alle Stimmen abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist
wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Änderung des Art. 108 des Grundgesetzes auf den Drucksachen 14/6144 und 14/6470 in der Ausschussfassung bekannt: Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt
572, mit Nein haben gestimmt 1, Enthaltungen 1.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 572
nein: 1
enthalten: 1
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({2})
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann
({12})
Iris Hoffmann ({13})
Frank Hofmann ({14})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({15})
Johannes Kahrs
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({16})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({17})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({18})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Dr. Jürgen Meyer ({19})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({20})
Jutta Müller ({21})
Christian Müller ({22})
Andrea Nahles
Volker Neumann ({23})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({24})
Birgit Roth ({25})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({26})
Ulla Schmidt ({27})
Silvia Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Wilhelm Schmidt ({30})
({31})
Heinz Schmitt ({32})
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({33})
Reinhard Schultz
({34})
Volkmar Schultz ({35})
Ewald Schurer
Dietmar Schütz ({36})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({37})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({38})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({39})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({40})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({41})
Helmut Wieczorek
({42})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({43})
Brigitte Wimmer ({44})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({45})
Waltraud Wolff
({46})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Renate Blank
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({47})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({48})
Manfred Carstens ({49})
Peter H. Carstensen
({50})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({51})
Ilse Falk
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({52})
Axel E. Fischer ({53})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({54})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({55})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({56})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({57})
Norbert Hauser ({58})
Hansgeorg Hauser
({59})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({60})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({61})
Dr. Manfred Lischewski
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({62})
Wolfgang Meckelburg
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({63})
Elmar Müller ({64})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({65})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Christa Reichard ({66})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({67})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({68})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({69})
Andreas Schmidt ({70})
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({71})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({72})
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({73})
Gerald Weiß ({74})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({75})
Bernd Wilz
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gila Altmann ({76})
Marieluise Beck ({77})
Volker Beck ({78})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({79})
Joseph Fischer ({80})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller ({81})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({82})
Werner Schulz ({83})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({84})
F.D.P.
Ina Albowitz
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({85})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur
Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei
Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt min-
destens 445 Ja-Stimmen. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Ge-
schäftsordnung stelle ich fest, dass die erforderliche
Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist
angenommen.
Es liegt eine persönliche Erklärung zum Abstim-
mungsverhalten bezüglich der Änderung des Art. 108 des
Grundgesetzes von der Kollegin Heidemarie Ehlert vor.
Diese Erklärung wird zu Protokoll genommen.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze auf den Drucksachen 14/6140 und 14/6470. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Ich darf fragen, wie die PDS-Fraktion abzustimmen gedenkt.
({86})
- Zustimmung. - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 e so-
wie Zusatzpunkt 10 auf:
20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Rauen, Dr. Angela Merkel, Friedrich Merz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 2
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Pia Maier
Angela Marquardt
Manfred Müller ({87})
Petra Pau
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Nein
PDS
Heidemarie Ehlert
Enthalten
PDS
Kersten Naumann
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({88})
Behrendt, Wolfgang Bierling, Hans-Dirk Bindig, Rudolf
SPD CDU/CSU SPD
Dr. Blank, Joseph-Theodor Bühler ({89}), Klaus Dr. Hornhues, Karl-Heinz
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU
Jäger, Renate Lintner, Eduard Lörcher, Christa
SPD CDU/CSU SPD
Maaß ({90}), Erich Michels, Meinolf Neumann ({91}), Gerhard
CDU/CSU CDU/CSU SPD
Schmitz ({92}), Hans Peter von Schmude, Michael Zierer, Benno
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU
Zehn-Punkte-Programm zur Wiederbelebung
der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarktes
- Drucksache 14/6436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({93})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hansjürgen
Doss, Friedhelm Ost, Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Offensive für die Bauwirtschaft
- Drucksache 14/6315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({94})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Peter Rauen, Hansjürgen Doss, Andrea Voßhoff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Forderung nach Schaffung eines Bauvertragsge-
setzes zur Bekämpfung mangelnder Zahlungs-
willigkeit
- Drucksachen 14/4182, 14/5070 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({95}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Hans-Joachim Fuchtel, Gunnar Uldall,
Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Arbeitslosenversicherungsbeitrag senken
- Drucksachen 14/4377, 14/6199 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({96}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Kleinunternehmer-Hilfefonds effektiv organisieren und gesetzliche Voraussetzungen für eine
Nachfolgeregelung schaffen
- Drucksachen 14/5559, 14/6198 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Hermann
Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Neue Wachstumschancen mit durchgreifenden
wirtschaftspolitischen Reformen schaffen - Blitzprogramm für die deutsche Wirtschaft - Drucksache 14/6446 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({97})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben sich auf eine Aussprachedauer
von anderthalb Stunden verständigt. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich
Merz, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war gut, dass der Herr Bundeskanzler heute Morgen eine Regierungserklärung zum Solidarpakt II und zum weiteren Aufbau der neuen Bundesländer
abgegeben hat.
({0})
Es wäre besser gewesen, wenn er unserer Aufforderung
gefolgt wäre, auch eine Regierungserklärung zur Lage der
Wirtschaft in Deutschland abzugeben.
({1})
Es wäre noch besser, wenn er bei dieser Debatte im Plenum
des Deutschen Bundestages wenigstens anwesend wäre.
({2})
Wenn ich auf die Regierungsbank blicke, muss ich Ihnen sagen: In der Besetzung der Regierungsbank kommt
zum Ausdruck, welchen Stellenwert die Regierung unseres Landes gegenwärtig der wirtschaftspolitischen Lage
in Deutschland wirklich beimisst.
({3})
Ich will Ihnen sagen, meine Damen und Herren von
den Sozialdemokraten, man kann sich ja damit schmücken, dass man einer bestimmten Partei nicht angehört
und trotzdem in der Regierung sitzt. Dies kann man auch
als Instrument der politischen Auseinandersetzung nutzen. Aber wenn man das ständig tut, wäre es gut, wenn
man als Bundeswirtschaftsminister im Laufe eines Tages
irgendwann einmal im Plenum des Deutschen Bundestages erscheint.
({4})
Herr Eichel, in der Bundesregierung gibt es einen erkennbaren Kompetenzstreit um die Wirtschaftspolitik:
Der eine gibt die Prognose ab, der andere gibt jene ProVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
gnose ab, der Nächste widerspricht dem anderen. Es wäre
gut, wenn irgendwann einmal die Kompetenzen zwischen
dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschaftsminister geklärt würden, damit man weiß, wer eigentlich
von den Bundesministern für die Wirtschaftspolitik in
diesem Lande verbindlich spricht.
({5})
Der Bundeskanzler hat heute Morgen erklärt, die Bundesregierung habe für die wirtschaftliche Entwicklung
dieses Landes in den letzten zweieinhalb Jahren genug getan. Jetzt seien die Tarifvertragsparteien und im Übrigen
die Zentralbank mit ihrer Geldpolitik zuständig. Ich sage
Ihnen: Wir werden Sie, die Sozialdemokraten und Ihre
Regierung, aus der Verantwortung für die wirtschaftliche Lage in Deutschland und für die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland in den nächsten 15 Monaten
bis zur Bundestagswahl nicht entlassen.
({6})
Sie sind dafür verantwortlich, dass die Bundesrepublik
Deutschland nach zweieinhalb Jahren rot-grüner Wirtschaftspolitik Schlusslicht in Europa ist. Die Ursachen
dafür und die Symptome können Sie deutlich erkennen:
Die Inflationsrate in Deutschland ist höher als in der Europäischen Union. Die Wachstumsraten sind niedriger als
in der Europäischen Union und die Arbeitslosigkeit in der
Bundesrepublik Deutschland geht langsamer zurück als
in den meisten anderen Ländern Europas.
({7})
Dieses Problem hat einen Namen: Gerhard Schröder.
({8})
Diese Politik hat unmittelbare Konsequenzen für die
beschäftigungspolitische und die wirtschaftliche Lage in
Deutschland:
({9})
Der Verband der Vereine Creditreform hat in diesen Tagen
eine Statistik über Unternehmensinsolvenzen im ersten
Halbjahr 2001 vorgelegt. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland wird zum Abschluss des ersten Halbjahres vermutlich einen neuen Höchststand erreichen. Besonders bedrohlich ist die Lage in den neuen
Ländern. Dort ist die Zahl der Unternehmenszusammenbrüche im ersten Halbjahr 2001 gegenüber dem ersten
Halbjahr 2000 um 26 Prozent gestiegen.
Wer nur über den Solidarpakt II und die Frage der innerstaatlichen Finanzaufteilung - mit allem was in Bezug
auf die Finanzaufteilung zwischen Bund und Ländern
wichtig ist, was auch daran zu kritisieren ist und heute aus
guten Gründen keine Erwähnung gefunden hat - und
nicht über die tatsächlichen Probleme der Wirtschaft und
die Lage auf dem Arbeitsmarkt redet, geht an den Problemen dieses Landes vorbei.
({10})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine
Zahl nennen, um deutlich zu machen, was es bedeutet,
wenn so viele Unternehmen zusammenbrechen: Es waren
allein im ersten Halbjahr 2001 22 300 Unternehmen. Dieser Umstand fügt unserem Land einen volkswirtschaftlichen Schaden von 30 bis 35 Milliarden DM zu. Es sind
rund eine viertel Million Arbeitsplätze in Deutschland allein durch den Zusammenbruch von Unternehmen verloren gegangen. Es handelt sich dabei um einen neuen
Höchststand. Das ist der Beweis dafür, dass die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung nach zweieinhalb
Jahren Rot-Grün gescheitert ist.
({11})
Sie haben uns, als wir zu Beginn dieser Woche ein
Zehn-Punkte-Programm für Wirtschaftswachstum und
Beschäftigung vorgelegt haben, entgegengehalten - mit
Kommentaren sind Sie immer sehr schnell zur Hand -,
dieses Programm sei nicht finanzierbar, es wären sozusagen wohlfeile Angebote, die man nur aus der Opposition
heraus machen könne. Wenn Sie sich wenigstens einmal
die Mühe gemacht hätten, zu lesen, was wir Ihnen auf wenigen Seiten vorgelegt haben, hätten Sie feststellen können, dass acht von zehn Maßnahmen, die wir in diesem
Programm vorschlagen, mit den Steuerhaushalten von
Bund, Ländern und Gemeinden überhaupt nichts zu tun
haben, sondern nur mit Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik für mehr Wachstum und Beschäftigung.
({12})
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf drei Themenkomplexe eingehen. Sie befinden sich in einer Phase
einer massiven Reregulierung der Arbeitsmärkte in
Deutschland. Wir fordern Sie noch einmal auf: Schaffen
Sie das Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung ab, schaffen Sie das Gesetz gegen die so genannte Scheinselbstständigkeit ab, beseitigen Sie das Gesetz, das befristete Arbeitsverhältnisse einschränkt, und
beseitigen Sie vor allen Dingen das Gesetz, das einen unbegründeten und unbefristeten Rechtsanspruch auf Teilzeit gibt. Dann hätten Sie Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland.
({13})
Damit Sie sehen, dass wir nicht nur etwas gegen Ihre
Politik formulieren, sondern auch konkrete Vorschläge
unterbreiten, wie man es besser machen könnte, sagen wir
Ihnen noch einmal: Sorgen Sie dafür, dass durch das Kündigungsschutzgesetz ein neues Instrument geschaffen
wird, damit in der so genannten Problemgruppe der älteren Arbeitslosen neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen können! Wir machen Ihnen den Vorschlag, dass gegen den Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage in
Arbeitsverträgen von Anfang an Abfindungsregelungen
getroffen werden dürfen. Um das - wenigstens für ältere
Arbeitnehmer - zu ermöglichen, müsste ein Gesetz geändert werden. Dazu bräuchte man Mut und müsste dann bereit sein, flexible Antworten auf komplexe Sachverhalte zu
geben. Sie sind dazu aber offenkundig nicht in der Lage.
({14})
In diesem Zusammenhang komme ich auf einen zweiten Sachverhalt, über den wir an dieser Stelle schon mehrfach miteinander diskutiert und gestritten haben: Warum
kommen Sie nicht endlich mit Vorschlägen ins Parlament,
wie man die Systeme von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenlegen kann? Warum machen Sie keine
entsprechenden Vorschläge?
({15})
Sie sind seit zweieinhalb Jahren an der Regierung und reden und reden, aber in diesem Bereich passiert nichts
außer einer ständigen weiteren Regulierung.
({16})
Ich sage Ihnen ganz klar: Wenn Sie entsprechende Vorschläge machen, sind wir bereit, den Weg mit Ihnen zu gehen. Die Umsetzung würde erhebliche Anpassungen, gerade in der Kommunalpolitik, erfordern. Wenn Sie diese
Vorschläge machen, werden Sie unsere Zustimmung aber
nur bekommen, wenn in diesem Land endlich wieder der
Grundsatz gilt, dass derjenige, der arbeitet, grundsätzlich
mehr Geld verdient als der jenige, der Leistungen aus den
sozialen Transfersystemen bekommt. Sie müssen in diesem Bereich tätig werden, sonst schaffen Sie es nicht.
({17})
Zur Wahrheit gehört auch: Wer eine zumutbare Beschäftigung angeboten bekommt und sie ohne Gründe
ablehnt, muss den Anspruch auf soziale Leistungen verlieren, sonst bestehen keine Anreize für eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.
({18})
Lassen Sie mich ein Wort zur Betriebsverfassung sagen - ich weiß, dass bei Ihnen gleich wieder ein Gejohle
losgehen wird -: Die Diskussion darüber haben wir in der
letzten Woche geführt. Sie wird weiter geführt werden
müssen. Wenn wir in Deutschland die Vorschläge umgesetzt hätten, die wir in der letzten Woche zur Modernisierung der Betriebsverfassung gemacht haben, dann hätten
in diesen Tagen bei VW 5 000 Arbeitsplätze entstehen
können, weil sich Vorstand, Aufsichtsrat, Betriebsrat und
Belegschaft einig waren.
({19})
Aber weil das Instrument der externen Funktionäre
nicht aus der Hand gelegt worden ist, konnte Herr Zwickel
verhindern, dass jetzt bei VW Arbeitsplätze entstehen.
Das ist die Wahrheit!
({20})
Meine Damen und Herren, bei allem Respekt vor Gewerkschaftsführern - wir haben in Deutschland insbesondere auf betrieblicher Ebene im Wesentlichen verantwortungsvolle Gewerkschaften - brauchen wir uns nicht
darüber zu wundern, dass Sie mittlerweile Angst davor
haben, eine andere Politik zu machen. Wenn ein Gewerkschaftsführer namens Zwickel nur einmal mit vier Fingern zu pfeifen braucht und anschließend Sondersitzungen der Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen
zur Änderung des Rentengesetzes stattfinden, dann wundert es mich überhaupt nicht mehr, dass Sie nicht den Mut
haben, eine moderne Betriebsverfassung einzuführen, die
die Betriebe und nicht die Funktionäre stärkt.
({21})
Zum Schluss möchte ich feststellen: Wir haben hier
gestern eine ausführliche Debatte über die Gesundheitspolitik geführt. Das ist eine Debatte, die nicht nur etwas mit
Gesundheitspolitik und Krankenkassen zu tun hat, sondern
die Teil einer Diskussion über die langfristige Ausrichtung
der sozialen Sicherungssysteme und der Zukunftsfähigkeit
unseres Landes ist. Horst Seehofer hat gestern von dieser
Stelle aus sehr ausführlich darauf hingewiesen.
Dies alles hat aber auch mit der Fähigkeit zu tun, ob in
der Bundesrepublik Deutschland oder ob im Ausland
neue Arbeitsplätze entstehen. Wenn wir in Deutschland
nicht in der Lage sind, die sozialen Sicherungssysteme so
auszugestalten, dass dadurch die ständig weitere Steigerung der Lohnzusatzkosten gebremst wird, dann darf sich
niemand darüber wundern, dass die Arbeitslosigkeit in
Deutschland auf hohem Niveau festgeschrieben wird.
Wir sind bereit, diese Diskussion zu führen. Sie wird
schwierig, weil in einer Wohlstandsgesellschaft gegen
Besitzstände zu argumentieren viel schwieriger ist als in
einer Gesellschaft, die sich in einem Aufschwung befindet und in der Veränderungen immer mit Verbesserungen
verbunden sind. Aber wir sind nicht bereit, hinzunehmen,
dass Sie 15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl von
dieser Stelle aus erklären: Verantwortlich sind nur noch
die anderen. - Von dieser Position aus wird nur noch eine
Politik dergestalt gemacht, darum zu konkurrieren, wer
der beste Serienstar in einer Seifenoper ist. Diese Politik
machen wir nicht mit.
({22})
Ich erteile
für die F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Jürgen Koppelin das
Wort zu einer Geschäftsordnungsangelegenheit.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein dieser Redebeitrag hat
gezeigt, dass wir uns in einer sehr wichtigen Debatte
befinden. Wir diskutieren über wichtige wirtschaftspolitische Themen. Das sind Themen, die die Bevölkerung
draußen wirklich interessieren. Kollege Merz hat zu
Recht gefragt: Wer ist in dieser Regierung eigentlich für
Wirtschaftspolitik zuständig?
Auch wir Freien Demokraten stellen uns diese Frage.
Wir würden diese Frage dem betroffenen Minister, der bei
der Diskussion über dieses wichtige Thema leider nicht
hier ist, gerne direkt stellen.
Die Freien Demokraten verlangen die Herbeirufung
des Wirtschaftsministers.
({0})
Ich gebe für
die SPD-Fraktion dem Kollegen Küster das Wort.
Herr Präsident! Wir haben
diesen Antrag sehr wohl gehört. Ich halte ihn für völlig
überflüssig.
({0})
Die Richtlinien unserer Politik hat heute früh der Bundeskanzler ganz klar dargestellt. Er hat geäußert, wo es
langgeht. Wir haben heute sowohl für die Wirtschafts-, als
auch für die Finanzpolitik ganz klare Hinweise seitens des
Bundeskanzlers bekommen. Wir lehnen diesen Antrag daher ab.
({1})
Ich gebe für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen von Klaeden das
Wort.
Herr Präsident! Da
Kollege Küster soeben der Ressortverantwortung des
Wirtschaftsministers mit beeindruckenden Worten widersprochen hat, beantrage ich im Namen meiner Fraktion
das Herbeizitieren des Herrn Bundeskanzlers.
({0})
Ich gebe der
Kollegin Fischer das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kann ich
erklären, dass sich heute Morgen der Bundeskanzler in
der Debatte ausführlich zur wirtschaftlichen Lage
geäußert hat. Entsprechend der Geschäftsverteilung in der
Bundesregierung ist der zuständige Minister auf der
Regierungsbank anwesend. Das Bundesministerium für
Wirtschaft ist durch den Parlamentarischen Staatssekretär
vertreten. Es gibt aus unserer Sicht überhaupt keinen
Grund für diese Art parlamentarischer Spielerei, die hier
gerade gemacht wird.
({0})
Ich gebe der
Kollegin Knake-Werner das Wort für die Fraktion der
PDS.
Für die PDS-Fraktion
will ich erklären, dass jeder hier im Hause angesichts der
aktuellen Lage damit rechnen musste, welchen Stellenwert
diese Debatte hier heute bekommen würde. Insofern finde
ich es aus Sicht der Opposition durchaus berechtigt, das
Herbeizitieren des Wirtschaftsministers zu verlangen.
({0})
Ich lasse
zunächst über den Antrag auf Herbeirufung des Bundeswirtschaftsministers abstimmen. Ich frage, wer diesem
Antrag zustimmen möchte. - Gegenprobe! - Es wird Sie
nicht überraschen, dass im Sitzungsvorstand keine Einigung über die Mehrheitsverhältnisse besteht.
({0})
Deswegen ordne ich nach § 51 der Geschäftsordnung die
Zählung der Stimmen an. Ich bitte die Kolleginnen und
Kollegen, den Plenarsaal zu verlassen, in die Lobby zu gehen und dem Aufruf des Präsidenten zu folgen.
Ich gehe davon aus, dass die für einen Hammelsprung
eingeteilten Schriftführerinnen und Schriftführer alle präsent sind und sich an den Türen zur Lobby versammeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie sich noch im
Plenarsaal aufhalten: Ich bitte Sie, ebenfalls den Saal zu
verlassen. Auch wenn wir uns bis zur Abstimmung genügend Zeit nehmen, müssen wir doch einmal mit dem Abstimmungsverfahren beginnen. - Ich bitte die letzten im
Saal verbliebenen Kolleginnen und Kollegen, in die
Lobby zu gehen, damit wir die Türen schließen können.
Ich bitte, die Türen zu schließen. - Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer an allen Türen postiert? Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, zu mir
zu kommen. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer an
den Türen bitten, mir ein Signal zu geben, ob alle ihre
Stimme abgegeben haben. - Darf ich fragen, ob ich die
Türen schließen lassen kann?
({1})
Die Abstimmung ist geschlossen.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, Platz zu
nehmen. Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt.
Für die Herbeirufung des Bundeswirtschaftsministers
haben 192 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Gegen
die Herbeirufung des Bundeswirtschaftsministers haben
215 Kolleginnen und Kollegen gestimmt.
({2})
Der Antrag ist damit abgelehnt.
Interfraktionell ist soeben geklärt worden, dass nach
diesem Abstimmungsergebnis der zweite gestellte Geschäftsordnungsantrag auf Herbeirufung des Bundeskanzlers zurückgezogen wird.
({3})
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort
dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
({4})
Meine Damen und Herren, ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der weiteren Aussprache nicht
folgen möchten,
({5})
den Plenarsaal zu verlassen, und bitte um Gehör für den
Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen
so kurzen und traurigen Abgesang auf ein Zehn-PunkteSofortprogramm zur Rettung der Konjunktur von Frau
Kollegin Merkel wie den eben durch Herrn Kollegen
Merz vorgetragenen habe ich noch nie gehört.
({0})
Ich muss, verehrter Herr Kollege Merz, sogar unterstellen, dass Sie das Programm von Frau Merkel nicht einmal
gelesen haben.
({1})
Die Behauptung, dass sich ganze zwei Punkte mit Geld
beschäftigten und alle anderen nicht,
({2})
beweist die totale Unkenntnis. In vier Punkten ging es um
Geld, und zwar zum Teil sehr massiv; nicht nur bei den
Steuerpunkten. Übrigens wissen Sie so gut wie ich - deswegen haben Sie das Thema ja auch gar nicht mehr angesprochen -, dass nichts so unsinnig ist wie das, was Sie da
zu Papier gebracht haben.
({3})
Sie haben dafür außer aus Ihren eigenen Reihen auch
nirgendwo Zustimmung gefunden. Die ganze Riege des
ökonomischen Sachverstandes hat sich strikt gegen Ihr
Programm gestellt:
({4})
seien es Herr Peffekoven, Herr Siebert, Herr Wiegard,
Herr Pohl, der Präsident der Bundesbank oder der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages.
All dies zeigt nur eines: Wenn Sie je wieder finanz- und
wirtschaftspolitische Kompetenz haben wollen, müssen
Sie lange an sich arbeiten.
({5})
In der Zeit offener Märkte - es ist erstaunlich, dass ein Sozialdemokrat Ihnen das sagen muss - ist nämlich die Zeit
der Konjunktursteuerung durch den Staat schlicht vorbei.
Das konnte man zu Zeiten nationaler, geschlossener
Volkswirtschaften machen, das kann man aber nicht mehr
zu Zeiten offener Märkte machen.
({6})
Wohin das führt, was Sie hier vorschlagen, meine Damen und Herren, können Sie in Japan besichtigen. Japan
hat seit ein paar Jahren
({7})
- darauf komme ich - nichts anderes gemacht, als versucht, über die Haushaltspolitik aus einer schwierigen
Konjunkturlage herauszukommen. Die Folge davon ist:
Japan hat heute die schwierigste Wirtschaftslage aller
großen Industrienationen, Japan geht in die Rezession und
hat mit all den Programmen eine Staatsverschuldung aufgebaut, die zweieinhalb mal höher liegt als die in Deutschland. Das ist das Ergebnis einer solchen Politik.
({8})
Die Antwort ist deswegen sehr einfach, aber in ihren
Konsequenzen nicht leicht durchzuhalten; das weiß ich
wohl. Jeder, der will, dass die Wirtschaft bei uns gedeiht,
muss dafür sorgen, dass der Staat zunächst verlässliche
Rahmenbedingungen setzt und sie dann, wenn er sie gesetzt hat, auch einhält.
({9})
Zuallererst muss deshalb - nebenbei bemerkt, haben Sie
mit Ihrem Vorhaben ja auch noch einen Anschlag auf den
Euro gestartet - eine solide Finanzpolitik eingeleitet werden und die Haushaltskonsolidierung darf nicht schon
im dritten Jahr abgebrochen werden, sondern muss langfristig durchgehalten werden.
({10})
Das ist die erste Voraussetzung.
({11})
Die zweite Voraussetzung ist eine beschäftigungs- und
wachstumsfreundliche Steuer- und Abgabenpolitik. Mit
der Steuerreform haben wir dieses Jahr - übrigens nicht
der Konjunkturförderung wegen, sondern wegen des Aufbaus langfristig besserer Strukturen - 45 Milliarden DM
in dieses Vorhaben hereingesteckt. Noch vor einem Dreivierteljahr wurde uns in Brüssel entgegengehalten, dies
stelle eine prozyklische Finanzpolitik dar, obwohl es sich
dabei um nichts anderes als um Strukturreformen handelte, die langfristig bessere Verhältnisse schaffen sollten.
Nachdem wir nun 45 Milliarden DM in dieses Vorhaben
gesteckt haben und sich das Wachstum trotzdem - ich
komme gleich auf die Gründe zu sprechen - abkühlt, ist
es aberwitzig, zu glauben, man könne das Problem lösen,
indem man 13 oder 45 Milliarden DM nachlegt. Das zeigt
nur, dass Sie nichts von einer Volkswirtschaft in offenen
Märkten begriffen haben.
({12})
Wie wenig das alles durchdacht war, zeigt sich ja übrigens daran - Herr Westerwelle hatte nicht ganz Unrecht -,
dass die, die eine Streckung der Tilgung des Fonds „Deutsche Einheit“ forderten - das war ja keine Erfindung des
Bundes -, insbesondere die Ministerpräsidenten aus den
drei Südländern waren. Im gleichen Zusammenhang beschließen Sie zusätzliche Steuerausfälle in Höhe von
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
45 Milliarden DM. Da passt nichts, aber auch überhaupt
nichts mehr zusammen.
({13})
Wie undurchdacht das alles war, zeigt sich ja auch an Ihrer Haltung zur Ökosteuer. Da müssen Sie sich auch einmal entscheiden.
Ich verstehe übrigens nicht, warum Frau Kollegin
Merkel nicht hier ist, das war doch ihr Programm.
({14})
- Vielleicht wollte Frau Kollegin Merkel die Begründung
von Herrn Merz nicht hören; dafür habe ich Verständnis
nach dem, was er hier abgeliefert hat.
({15})
- Ach, Frau Kollegin Merkel war da? Dann ist sie nach der
Begründung von Herrn Merz gegangen. Das hätte ich
auch gemacht.
({16})
Zum Thema Ökosteuer. Herr Rühe hat Recht, wenigstens nach der Finanzierbarkeit der Programme gefragt zu
haben. Bei der Ökosteuer sagen Sie zunächst: Sie muss
ganz weg. Offenbar haben Sie erst anschließend, nachdem
das schon auf dem Papier stand, angefangen, zu rechnen,
dass das nämlich bedeutet, dass der Rente dann nachhaltig 33 Milliarden DM fehlen und dass Sie den Rentenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte heraufsetzen müssen. Dann haben Sie gesagt: Na gut, nicht die ganze
Ökosteuer muss weg, sondern nur die nächsten zwei Stufen sollen nicht umgesetzt werden. - Das sind dann auch
nur 0,6 Prozentpunkte, um die der Rentenversicherungsbeitrag steigen wird.
Das passt herrlich, Herr Kollege Merz, zu Ihrer Aussage, die Lohnzusatzkosten müssten gesenkt werden. Da
haben Sie Recht!
({17})
Deswegen sage ich Ihnen: Das Thema Arbeitsmarkt ist
ein interessantes und wichtiges Thema. Aber was Sie hier
abgeliefert haben, hat in aller Regel entweder überhaupt
keinen Lösungsansatz oder betrifft gelöste Probleme, wenn
auch vielleicht anders gelöst, als Sie es manchmal wollen.
Die 630-Mark-Thematik hat sich so, wie sie gelöst
ist, ausgesprochen bewährt.
({18})
Wir haben in diesem Bereich eine große Zahl von Beschäftigungsverhältnissen in diesem Jahr. Das werden Sie
noch lernen müssen: Wer den Arbeitsmarkt vernünftig regeln will - Sie haben Recht; wir machen das ja auch -,
muss mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt mit mehr Stabilität der Sozialsysteme verbinden. Dass das bei der alten
630-Mark-Regelung nicht geschehen ist, war der Fehler.
({19})
Zu dem, was ich eben im Zusammenhang mit den
älteren Arbeitslosen gehört habe: Ältere Arbeitslose
können bis zu zwei Jahren befristet beschäftigt werden,
ohne dass ein Grund angegeben werden muss. Dieses
Thema ist bereits erledigt.
({20})
An den Themen Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und
Kombilohn wird gearbeitet. Dazu gibt es inzwischen Modellversuche, die ausgewertet werden müssen. Auf dieser
Basis wird Herr Kollege Riester dann Vorschläge machen.
Sie haben - ich sage es noch einmal - in einem Punkte
völlig Recht, nämlich dass die Lohnzusatzkosten gesenkt werden müssen. Nur, so lange sind Sie doch noch
nicht aus der Regierung heraus, dass wir uns nicht erinnern könnten, wie das damals alles war. Bis zum Ende
Ihrer Regierungszeit, in den ganzen 16 Jahren, sind die
Lohnzusatzkosten nur gestiegen, gestiegen, gestiegen.
({21})
Sie wären Ihnen sogar noch direkt vor der Bundestagswahl
über die 21 Prozent bei der Rentenversicherung gestiegen,
wenn wir Ihnen nicht mit unserer Zustimmung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt aus der
Patsche geholfen hätten, damit die Rentenversicherungsbeiträge wenigstens bei 20,3 Prozent bleiben konnten.
({22})
Nun sind die Lohnnebenkosten das erste Mal seit Jahrzehnten in Deutschland gesunken, und zwar allein bei der
Rente um1,2 Prozentpunkte.
Sie haben Recht - das will ich gar nicht bestreiten; die
Diskussion ist gestern geführt worden - in Bezug auf die
Krankenversicherungsbeiträge.
({23})
Da ist auch noch was zu machen. Ich sage Ihnen aber ausdrücklich: Schauen Sie sich doch einmal an, wo die ersten
Ansätze dieser Bundesregierung hängen geblieben sind sie sind im Bundesrat an Ihrer Mehrheit gescheitert!
({24})
Noch etwas anderes, Herr Kollege Merz, und zwar zu
den Themen Betriebsverfassungsgesetz und 5 000 Arbeitsplätze bei VW. Das eine hat mit dem anderen nichts
zu tun. So gut sind Sie informiert! Denn es geht um
Tarifvertragsfragen; diese werden aber im Betriebsverfassungsgesetz überhaupt nicht angesprochen. Infolgedessen
war Ihr Beispiel fundamental falsch und deswegen war es
auch kein Beispiel gegen das Betriebsverfassungsgesetz.
Informieren Sie sich doch in der Sache, ehe Sie hier angreifen!
({25})
Nur langfristig angelegte Reformen machen Sinn. Es
ist ein Fehler, zu glauben, dass der Staat Konjunktursteuerung betreiben könne. Aufgabe der Politik kann es
nur sein, Ruhe und Klarheit in das System zu bringen angesichts der Verrücktheit, die manchmal auch die Aktienmärkte haben, und der Verrücktheit, jeden Tag eine neue
Konjunkturprognose machen zu wollen.
({26})
Wenn auch der Staat so - und so hektisch wie Sie - reagierte, dann hätten wir Chaos. Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik müssen die langen Linien ziehen. Dann
können sich die Wirtschaftssubjekte bewegen. Nur das ist
vernünftig.
({27})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle für die F.D.P.Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon eine merkwürdige wirtschaftspolitische Debatte, an der der Wirtschaftsminister
nicht nur nicht teilnimmt - und schon gar keine Rolle
spielt -, sondern in der der Finanzminister für die Wirtschaftspolitik spricht. Dann können Sie doch das Wirtschaftsministerium abschaffen. Schicken Sie Herrn Müller
nach Hause, dann sparen Sie wenigstens Gehalt!
({0})
Herr Finanzminister Eichel, ich bin ja als Mainzer humororientiert. Aber Sie haben es sich ein bisschen leicht
gemacht, sind ein bisschen zu lustig über die Probleme
hinweggehuscht.
({1})
Es ist nicht zu leugnen, dass Deutschland bei allen konjunkturellen Daten unter dem europäischen Durchschnitt
liegt.
({2})
Sie können jedes Datum nehmen: Inlandsprodukt, Arbeitslosenquote, Verbraucherpreise - bei allen liegen wir
unter dem Durchschnitt. Das ist hausgemacht! Deshalb
muss sich etwas ändern.
({3})
Die Floskel mit der ruhigen Hand ist ja das Alibi für
Nichtstun, gleichgültig, ob man es jetzt aussitzen nennt
oder eher Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Einfallslosigkeit.
Das Gebot der Stunde ist aber zu handeln, damit die Wirtschaft nicht weiter abgleitet und wir keine Stagflation
kriegen, Stagnation und Inflation, und damit eine schwierige Wirtschaftssituation.
Alle Prognosen werden ständig nach unten korrigiert.
Das Ifo-Institut spricht von 1,2 Prozent. Ich habe gehört,
Herr Müller hat heute Morgen in Mannheim als Märchentante wieder von plus 2 Prozent gefaselt.
({4})
Das glaubt kein Mensch mehr. Es geht weiter nach unten.
So sind die Fakten. Das können Sie nicht schönreden. Da
können Sie auch schreien.
Bei den Insolvenzen haben wir neue Rekordhöhen in
Deutschland. Das sind doch die Arbeitsplätze, die wegfallen. Das sind doch gerade die mittelständischen Betriebe, die wir für die Anpassungsprozesse brauchen.
({5})
Wenn wir als F.D.P. eine Blitzaktion fordern und sagen,
schnell handeln, dann kann man das nicht wegreden, als
ob das teure Ausgabenprogramme wären. Es geht um
richtige ordnungspolitische Weichenstellungen. Die Mitbestimmung wird verschärft und dadurch werden die Betriebskosten nach oben getrieben. Das Briefmonopol wird
verlängert, statt es auslaufen zu lassen. Monopolminister
Müller und Zwangspfandminister Trittin einigen sich
auf neue Kraft-Wärme-Kopplungs-Quoten. Durch Ökoumlagen werden die Vorteile der Liberalisierung des
Strommarktes wieder zurück genommen. 40 Prozent des
liberalisierten Strommarktes haben Sie schon wieder rereguliert. Sie nehmen das alles wieder zurück und schaffen dadurch schlechte Voraussetzungen dafür, dass wir
vorankommen.
({6})
Es war doch Ihre angebliche Wunderwaffe Bündnis für
Arbeit, mit der Sie ein tolles Klima schaffen wollten. Tatsache ist, dass ein Klima entstanden ist, in dem es möglich ist, 5 000 neue Arbeitsplätze - für die es schon
10 000 Bewerber gibt, bevor sie ausgeschrieben wurden in Deutschland zu vernichten. Das liegt an der Haltung der
IG-Metall. Das ist Gewerkschaftsbonzentum, aber keine
Verantwortung und Solidarität mit denen, die draußen
stehen, die auch ein Stück Hoffnung und Chance haben
wollen.
({7})
Das ist das Waterloo Ihres Kaffeekränzchens Bündnis für
Arbeit.
Ich habe genau hingehört. Der Kanzler hat heute in seiner Rede indirekt die Europäische Zentralbank aufgefordert, die Zinsen zu senken. Die Regierung hat es gemacht,
trallala. Jetzt sind die Tarifpartner dran, von Holzmann bis
sonst was, und jetzt ist die Europäische Zentralbank dran.
Die muss aber erst Vertrauensarbeit leisten. Sie muss Vertrauen erarbeiten, damit die Menschen auch Vertrauen in
den Euro haben. Lesen Sie mal die Umfragen, wie die Einschätzung ist. Das Rating, die Bewertung des Wirtschaftsstandorts Deutschland durch andere Staaten spiegelt sich
im Kurs des Euro wider. Er ist von 118 auf 85 Cent gesunken. Das ist eine Abwertung des Außenwertes von 30 Prozent. So denkt man draußen über die Politik in Deutschland. Das Gesundbeten durch Sie selbst reicht nicht.
({8})
Es kostet kein Geld, es ist kein Staatsinterventionismus, wenn Sie den Unsinn der Mitbestimmung zurücknehmen und wenn Sie das Briefmonopol nicht weiterlaufen lassen. Damit würden Sie Bedingungen schaffen, die
mehr Chancen für Arbeit bieten.
Deshalb appelliere ich an Sie: Ziehen Sie die nächsten
Schritte der Steuerreform vor. Ansonsten schaffen Sie die
Asymmetrie, dass die Großkonzerne ihre Beteiligungen
sofort steuerfrei verkaufen können, die Mittelständler jedoch nicht. Das ist keine Fairness gegenüber dem Mittelstand.
({9})
Hören Sie auf mit der Ökosteuer oder setzen Sie zumindest die nächste Stufe der Ökosteuer aus, damit sich
die Bedingungen verbessern. Verschlechtern Sie nicht die
Abschreibungsbedingungen! Es müssen Investitionen
entstehen; Investitionen sind Arbeitsplätze. Senken Sie
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung! Wenn Sie uns
nicht glauben, dann glauben Sie vielleicht Herrn Metzger.
Als Schönredner der Grünen darf er ja immer beim Mittelstand auftreten, aber im Bundestag hebt er die Hand für
all den Unsinn gegen den deutschen Mittelstand.
({10})
Noch ein paar Anmerkungen zum Zehn-Punkte-Programm von Frau Merkel. Auch Sie haben jetzt gemerkt,
dass man etwas tun muss - willkommen im Klub. In der
CDU/CSU-Fraktion wurden die Vorschläge gleich wieder
verändert. Ich frage mich auch, ob Frau Merkel, die auf
dem CDA-Kongress viel Beifall bekam, dort für diese
Konzepte mit gleich viel Beifall begrüßt würde. Diese
Randbemerkung kann ich mir nicht ganz verkneifen.
Entscheidend ist: Noch haben Sie die Chance, etwas zu
tun; die Prognosen zeigen es eindeutig. Ordnungspolitische Veränderungen kann man nicht als Ausgabenprogramm oder Staatsinterventionismus abtun. Es geht um
Rahmenbedingungen, die schnell verändert werden müssen, damit wir nicht abgleiten. Das Reparieren wird teurer als das rechtzeitige Handeln. Ich sage Ihnen vorher:
Sie werden handeln müssen. Der Bundeskanzler wird
nicht zögern, das Ruder herumzuwerfen, wenn er merkt,
dass er die Bundestagswahl verliert. Lassen Sie aber nicht
noch mehr Leute auf der Straße stehen und enttäuschen
Sie nicht weiter deren Hoffnungen. Handeln Sie jetzt, damit wir nicht weiter abgleiten!
({11})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Rezzo Schlauch für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist
es ja so, dass die konjunkturellen Daten Auskunft über die
wirtschaftliche Lage eines Landes geben. Wer eine Diagnose stellt, Herr Merz, der tut gut daran, sich an die Fakten zu halten. Wer bei der Bewertung der Situation negativ
überzieht - wie wir das gerade unisono von der Opposition
gehört haben -, der trägt dazu bei, dass die Stimmung
schlechter ist, als die tatsächliche Situation. Wenn ich mir
die Bilanz Ihrer Opposition anschaue, dann bin ich mir
nicht sicher, ob Sie sich mit dem Malen von oppositionellen Zerrbildern einen Gefallen tun. Ich bin mir aber ganz
sicher, dass Sie der Wirtschaft und insbesondere denjenigen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben oder die einen
Arbeitsplatz suchen, damit einen Bärendienst erweisen.
({0})
Wir haben uns als Koalition selbstverständlich ernsthaft damit auseinander zu setzen, dass die Wachstumsprognosen für 2001 von den Instituten nach unten korrigiert werden. Im Schnitt erreichen wir aber in den drei
Jahren rot-grüner Koalition immer noch einen Durchschnitt von 2,0 Prozent beim Wirtschaftswachstum. In
den 90er-Jahren, während Ihrer Regierungszeit, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU und Herr Brüderle,
hatten wir über acht Jahre hinweg eine durchschnittliche
Wachstumsrate von 1,4 Prozent.
({1})
Das ist die Relation, die den Hintergrund unserer Diskussion bildet.
({2})
Diese 1,4 Prozent - das wollen wir doch noch einmal
in den Kontext stellen - haben Sie erreicht, obwohl Sie
den Staat jedes Jahr mit circa 60 Milliarden DM netto neu
verschuldet haben. Immer wieder haben Sie Geld ausgegeben, um die Konjunktur anzuheizen. Immer wieder haben Sie Geld ausgegeben, das Sie gar nicht gehabt haben.
Wir haben diese Neuverschuldung von 60 Milliarden DM
jährlich auf 40 Milliarden DM jährlich reduziert. Das sind
mehr als 30 Prozent. Wir werden diesen Weg bis zur Nettoneuverschuldung auf Null - das heißt: keine Verschuldung mehr - fortsetzen. Der Haushalt der Bundesregierung wird nicht mehr davon abhängig sein, das Geld
zukünftiger Generationen auszugeben.
({3})
Davon werden Sie uns auch nicht mit Konjunkturprogrammen abbringen. Konjunkturprogramm - das
habe ich noch aus meiner Zeit auf der Oppositionsbank im
Ohr - war bei Ihnen ein Unwort,
({4})
und zwar zu Recht, weil die Konjunkturprogramme - das
hat der Finanzminister richtig gesagt - in Zeiten globalisierter Märkte nichts mehr bringen. Offensichtlich haben
Sie das, was Sie immer wieder erzählt haben, als Sie noch
in der Regierung waren, völlig vergessen. Wenn es um
Konjunkturprogramme ging, haben Sie damals nur müde
abgewunken, und jetzt fordern Sie sie. Das zeigt, dass Sie
auch in der Opposition müde sind.
({5})
Übrigens hat sich die Wachstumsrate von durchschnittlich 1,4 Prozent, die Sie über acht Jahre erzielt haben, nicht nur durch eine hohe Neuverschuldung ergeben,
sondern auch vor dem Hintergrund einer Hochkonjunktur
in den USA. Das hat sich aber geändert, was sicherlich
nicht der unwichtigste Grund dafür ist, dass die Bedingungen für mehr Wachstum in Deutschland schwieriger
geworden sind.
Festzustellen ist jedenfalls, dass die Zeiten in der Weltwirtschaft gegenwärtig magerer sind. Und trotzdem haben wir mehr Wachstum als Sie in den fetten Jahren.
({6})
Unsere Reformen sind dabei gerade in dem Bereich wirksam, in dem die Kaufkraft direkt gestärkt wird.
Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schauerte?
Ja.
Herr Kollege
Schlauch, danke schön, dass Sie mir die Möglichkeit zu
einer Zwischenfrage geben.
Sie haben gerade gesagt, Sie hätten mehr Wachstum erzielt. Wie können Sie sich dann erklären, dass die Wachstumsraten in den SPD-regierten Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen halb so
hoch sind wie die in den CDU/CSU-regierten Ländern
Bayern, Baden-Württemberg und Hessen und dass wir
in den CDU/CSU-regierten Ländern eine halb so hohe
Arbeitslosigkeit haben wie in den von Ihren Kollegen mitregierten Ländern?
Herr Kollege Schauerte, ich gehe davon aus, dass wir hier
im Bundestag sind und Bundestagsdebatten führen. Wir
führen die Debatte über die Situation und die Lage in der
Bundesrepublik.
({0})
Ich war zehn Jahre im Landtag; ich kenne diese Spielchen.
({1})
Wenn wir die bundesweite Situation betrachten, führt
diese Frage bei unserem Thema nicht sehr viel weiter.
Im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es
sich bei allen Reformen, die wir durchgeführt haben und
die gerade im Hinblick auf die Kaufkraft wirksam geworden sind, um Reformen handelt, die Sie nicht gewollt haben: die Erhöhung des Kindergelds, zusätzliche Mittel für
das BAföG, die Wohngelderhöhung oder die relevante
Senkung der Eingangssteuersätze im Rahmen der Steuerreform. Das alles dient der Nachfrage und ist mit ein
Grund dafür, dass wir die soziale Schieflage, die Sie in der
Bundesrepublik verursacht haben, wieder Schritt für
Schritt zurückgeführt haben.
Es ist klar, dass unsere Arbeiten nicht abgeschlossen sind.
({2})
Es gibt auch keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Aber ernsthafte Strukturreformen - das kennen Sie
doch von der Steuerreform, Herr Merz - brauchen einen
langen Atem und keine Schnellschüsse.
Wenn ich sehe, was auf den zwei Waschzetteln, die
Sie - Fraktion und Partei, und noch dazu unterschiedlich vorgelegt haben, holterdiepolter zusammengeschrieben
worden ist, dann frage ich Sie: Wie soll das eigentlich bezahlt werden? Mit Neuverschuldungen und Steuererhöhungen wie früher? Wollen Sie sehenden Auges zurück in
den Zustand - das ist doch Ihre Hinterlassenschaft - den
wir mühsam genug überwunden haben?
({3})
Frau Merkel wollte mit großer Geste die Ökosteuer
ganz abschaffen, aber Herr Merz ist offensichtlich von
Herrn Rühe eines Besseren belehrt worden, obwohl die
Rechnung so auch noch nicht stimmt. Wir haben mit
22 Milliarden DM die Lohnnebenkosten um 1,2 Prozent
gesenkt, weil es richtig ist, die Arbeit billiger zu machen.
Eine Politik des niedrigen Preises bei Öl und bei fossilen Energien nach dem amerikanischen Muster ist doch
wie Doping. Das kann man schon machen. Es steigert
kurzfristig die Leistungsfähigkeit, zerstört aber langfristig unsere ökologischen und wirtschaftlichen Grundlagen.
({4})
Es wäre unverantwortlich, die Energiewende nicht fortzuführen; denn sie fördert die Innovationen und stellt
Deutschland bei den Technologien der Zukunft an die
Spitze. Das kann man, wenn man seine fünf Sinne einigermaßen beisammen hat, nicht einfach rückgängig machen wollen.
({5})
Ich erinnere mich gut daran, wie Sie aus den außerordentlichen Einnahmen der UMTS-Versteigerungen glatter Hand gleich 40 Milliarden DM unter das Volk bringen
wollten. Ich bin froh und stolz darauf, dass diese Koalition es geschafft hat, 100 Milliarden DM trotz vieler Begehrlichkeiten sofort zur Schuldentilgung zu verwenden.
Damit haben wir 5 Milliarden DM an Zinsersparnissen
gewonnen für sinnvolle ökologische Infrastrukturmaßnahmen und Investitionen in die Bildung.
({6})
Ich verstehe Ihre Systematik auch nicht ganz, Herr
Merz. Sie haben gegen diese Steuerreform - zwar erfolglos, aber doch - gekämpft wie ein Löwe.
({7})
Und jetzt wollen Sie plötzlich einen Teil dieser Steuerreform beschleunigen und übernehmen. Sie müssen einmal
erklären, wie das zusammenpasst.
({8})
Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Rössel?
Nein, der Herr Schauerte hat genügt.
Ich möchte noch einen Satz dazu sagen, warum - es ist
doch allen klar - die Lebenshaltungskosten gestiegen
sind, warum wir eine Inflation haben.
({0})
- Ja, natürlich durch die Grünen. - Sie ist nach Meinung
aller Experten - und jetzt komme ich zu Ihnen - zurückzuführen auf Versäumnisse in der Vergangenheit.
({1})
Wer hat denn die BSE-Krise verursacht? In welcher Zeit
ist die BSE-Krise denn entstanden? Doch nicht in unserer
Zeit. Und was die Energiepreise angeht, ist der Löwenanteil bei der Politik der OPEC, bei der Politik, die zu einem
starken Dollar geführt hat, zu suchen.
Wenn wir auf die Ökosteuer verzichteten, würden wir
konjunkturell mit Sicherheit nichts gewinnen, und zwar
deshalb, weil der notwendige Strukturwandel in der
Agrarpolitik und bei der Energiewende dazu führt, dass
wir erstens den Klimaschutz fördern. Zweitens sind mit
den regenerativen Energien über 70 000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Wollen Sie diese in Zukunft wegfallen
lassen oder wie soll ich mir das vorstellen?
({2})
Es ist klar, dass noch vieles vor uns liegt. Wir müssen
- offen und mit allen Beteiligten - ernsthaft darüber reden, wie wir den Arbeitsmarkt reformieren. Das Ziel muss
sein, Hindernisse abzubauen und Brücken in den ersten
Arbeitsmarkt zu schlagen.
In diesem Kontext erlauben Sie auch mir ein Wort zu
den Verhandlungen bei VW. Auch ich habe schon Probleme damit, wenn jemand den Flächentarif ohne Rücksicht auf Verluste - wie dies geschehen ist - gegen die örtlichen Betriebsräte durchzieht. Ich habe ja ein paar Erfahrungen in solchen Angelegenheiten. Aber wer so mit dem
Flächentarif umgeht, der macht ihn gründlicher und nachhaltiger kaputt, als es durch die abgefeimteste Strategie
der Grünen oder der Kapitalisten geschehen könnte. Das
muss ich Ihnen schon sagen. Wer den Flächentarif so
durchzieht, schadet sich selbst.
({3})
Ich möchte sehen, wie Sie vor 5 000 Arbeit suchenden
Menschen stehen und es diesen erklären. Ich kann es nicht
erklären. Ich hoffe nur - auch zum Wohle der Gewerkschaften -, dass das nicht das letzte Wort ist. Und falls es
nicht das letzte Wort ist, lassen Sie mich einen Vorschlag
machen: Lassen Sie uns das noch einmal im Bündnis für
Arbeit bereden!
({4})
Ich komme zum Schluss. Wir müssen selbstverständlich besser werden und weitere Reformen anpacken.
({5})
Ruhe bewahren bedeutet nicht, sich ausruhen, es heißt,
den eingeschlagenen Kurs in ruhiger Bahn fortzusetzen.
Eine Modernisierungspause wird es mit uns nicht geben.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute ein
für unsere Volkswirtschaft wichtiges Thema. Mich wundert aber, dass heute noch niemand auf ein anderes Thema
zu sprechen gekommen ist. Ich möchte eine Bemerkung
zu einem Vorgang machen, der uns weit über diese Diskussion hinaus betrifft.
Ich habe großen Respekt vor der Regierung in Jugoslawien, die es geschafft hat, Herrn Milosevic dem
Haager Tribunal zuzuführen. Nach den langen Diskussionen, die wir darüber geführt haben, empfinde ich auch
etwas Genugtuung. Ich glaube, das ist ein guter Tag für
die Demokratien und auch für die friedliche Fortentwicklung auf dem Balkan.
({6})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Frau Professor
Dr. Christa Luft.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die von den beiden Oppositionsrednern vor mir vorgetragenen Fakten zur aktuellen wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland
sind, wenn man ehrlich ist, überhaupt nicht zu bestreiten.
Aber erstens eignen sie sich meiner Meinung nach nicht
zur parteipolitischen Häme von Union und F.D.P. gegenüber der neuen Koalition. Kollege Merz und Kollege
Brüderle, selbst wenn Sie beide an der vorangegangenen
Bundesregierung nicht beteiligt waren, sollten Sie sich
doch an die Regierungszeit Ihrer Parteien erinnern. Dann
würde Ihre Kritik heute manchmal anders ausfallen.
({0})
Zweitens sind die Fakten derart eindeutig, dass ihnen
mit Wortakrobatik und nur mit dem Verweis auf Psychologie überhaupt nicht beizukommen ist. Das versuchen
aber Koalitionsabgeordnete und auch Regierungsvertreter
bis heute.
Den betroffenen Menschen - seien es Arbeitslose,
seien es solche, die um ihre Beschäftigung bangen, seien
es Handelsleute, die auf Käuferinnen und Käufer warten,
seien es Unternehmer, die um die Existenz ihrer Firma
bangen - hilft semantischer Aberglaube nicht. Ob es sich
nun um eine konjunkturelle Delle oder schon um eine Rezession handelt - das hilft betroffenen Menschen nicht.
Sie warten auf ein Signal, dass die Bundesregierung die
Zuschauertribüne verlässt und aufs Spielfeld geht.
({1})
Genau das aber geschieht nicht. Der Kanzler schwört auf
eine Politik der ruhigen Hand. Ich meine, mehr und mehr
Menschen gewinnen den Eindruck, dies ist keine ruhige,
sondern eine gelähmte Hand. Das kann schwierig werden
für unser Land.
Die Stimmung im Land ist eindeutig. Immerhin 62 Prozent der jüngst von Emnid Befragten halten die wirtschaftliche Lage für besorgniserregend. Die Anhänger
verschiedener Parteien liegen hier im Übrigen ganz nahe
beieinander, wie die Statistik ausweist. Kein Wunder, rollt
doch über die Bundesrepublik Deutschland die größte
Pleitewelle der Nachkriegszeit. Allein im ersten Halbjahr 2001 haben die Unternehmensinsolvenzen um
11 Prozent zugenommen und über eine viertel Million
Menschen hat allein dadurch die Arbeit verloren. Wo hat
denn das Bündnis für Arbeit seinen Effekt gezeigt? Ich
kann den leider nicht erkennen.
Im Osten bahnt sich eine neue Runde - das muss man
durchaus so sagen - der Unternehmensschließungen
oder -verlagerungen mit dramatischen Beschäftigungseffekten an. Ich erinnere an die Diskussion, die wir in diesem Hause zu dem Bombardier-Konzern in Brandenburg
geführt haben. Ich erinnere an die bevorstehende reihenweise Schließung von Bahnwerken. Ich erinnere an die
Gefahr von Kapazitätsbeschränkungen in den hochproduktiven ostdeutschen Schiffswerften mit dramatischen
Folgen für die Beschäftigung.
Ich vermisse bislang eine deutliche Initiative der Bundesregierung gegen das, was mit Basel II auf den Weg gebracht werden soll. Wenn das geschieht, kann man eine
Wette darüber abschließen, welche Auswirkungen das für
die kapitalschwachen kleinen und mittleren Unternehmen
in Ostdeutschland - aber nicht nur dort - haben wird.
({2})
In dieser Lage kann man doch nicht auf das verweisen,
was für die Zeit zwischen 2005 und 2019 nun glücklicherweise erfolgreich mit dem Länderfinanzausgleich
und dem Solidarpakt II unter Dach und Fach gebracht
worden ist und zweifelsohne zur Positivbilanz dieser
Bundesregierung gehört. Die Bundesregierung kann aber
nicht bis zum Jahre 2005 eine Politik des „Weiter so“ machen, weder bezogen auf den Osten noch auf manche
strukturschwache Region in den alten Bundesländern.
Wie kann man in dieser sich zuspitzenden wirtschaftlichen Lage die öffentlichen Investitionen weiter
schrumpfen lassen, wie dies mit dem Haushaltsentwurf 2002 geschehen soll? Damit wird ein fortdauernder
Absturz nicht nur in der Bauwirtschaft in Kauf genommen.
Wir fordern hier eine alsbaldige Änderung, Herr
Minister. Ringen Sie sich endlich zu einer Infrastrukturpauschale für ostdeutsche und westdeutsche strukturschwache Kommunen durch!
({3})
Ringen Sie sich zu einem Stadtumbauprogramm zur Beseitigung des strukturellen Wohnungsleerstandes im
Osten durch! Dies würde die Produktion ankurbeln. Dies
würde Menschen in Lohn und Brot bringen und schließlich positive Wirkungen auf die Steuereinnahmen haben.
Sie haben im Übrigen durchaus einen Finanzierungsspielraum für solche Maßnahmen. Sie haben beispielsweise höhere Zinsersparnisse aus den für Schuldentilgung
eingesetzten UMTS-Lizenzerlösen. Dazu kann man Sie
nur beglückwünschen. Diese Ersparnisse sind weitaus
größer, als bislang angenommen. Insofern gibt es einen
Spielraum. Auch das neue Schuldenmanagement der
Bundesregierung führt zu Zinsersparnissen und somit zu
einem weiteren Spielraum.
Übrigens - das darf ich an dieser Stelle anmerken - ist
von den 2 Milliarden DM, die die Deutsche Bahn AG von
den UMTS-Milliarden für Investitionsprojekte zur Verfügung gestellt bekommen sollte, nach Aussage von Herrn
Mehdorn bislang nicht ein einziger Pfennig dort angekommen, weil es beim Abschluss entsprechender Finanzvereinbarungen eine offenbar sehr bürokratische Handhabung gibt. Das ist in dieser fragilen konjunkturellen Lage
natürlich weiteres Gift für die wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigung.
({4})
Stimmen Sie unserem Antrag zu, die wöchentliche
Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu begrenzen und damit
den Überstunden zu Leibe zu rücken. Verabschieden Sie
sich von verlorenen Zuschüssen an große Unternehmen
und fordern Sie eine gesellschaftliche Gegenleistung
großer Unternehmen, die Steuergelder zur Verfügung gestellt bekommen, wie das beispielsweise erfolgreich in
Frankreich geschieht.
Der überparteilich entstandene Vorschlag, den die PDS
an die Bundesregierung weitergegeben hat und alsbald im
Parlament einbringen will, nämlich eine Absatzoffensive
für Unternehmen der Investitionsgüterbranche aus
den neuen Bundesländern zu starten, wäre auch eine
Möglichkeit, die Konjunktur zu beleben. Dieses Projekt
würde im Übrigen kein frisches Geld kosten. Vielmehr
geht es um die Bereitstellung einer Bürgschaft für die Vorfinanzierung eines größeren Kredits, den private Banken
den betreffenden Unternehmen zur Verfügung stellen
wollen. Dies würde zur sofortigen Schaffung einer fünfstelligen Zahl von Arbeitsplätzen führen können.
Lassen Sie mich ein letztes Wort zu den Vorschlägen
der Union zur Therapierung der Lage sagen. Herr Minister Eichel, wir können Ihnen in vielem, was Sie dazu gesagt haben, zustimmen. Das Zehn-Punkte-Programm der
Union ist keine Vorschlagsliste zur Wiederbelebung der
Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Es ist im Grunde genommen ein Maßnahmenkatalog, der den abhängig Beschäftigten und weniger Wohlhabenden unserer Gesellschaft die Lasten der nicht von ihnen verursachten
Schwäche des wirtschaftlichen Wachstums aufbürden
soll.
({5})
Das wird die Bevölkerung sehr wohl wahrnehmen.
Sie von der Union setzen zum sozialpolitischen Rollback an. Sie schlagen vor, die in den letzten drei Jahren
gesetzten sozialpolitischen Akzente - beim sozialen
Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei
der Ausgestaltung der Betriebsverfassung und auf anderen Gebieten - zu liquidieren. Wenn Herr Kollege Merz
das Sagen bekäme, würden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gefahr laufen, zum Freiwild der Wirtschaft zu
werden. Das darf nicht geschehen.
({6})
Sie von der Union können nicht so tun, als würde eine
vorgezogene Steuerreform die vorhandenen Probleme lösen. Sie haben aus Ihrer Regierungszeit keine praktische
Erfahrung vorzuweisen, die einen Zusammenhang zwischen sinkenden Steuern und sinkenden Arbeitslosenzahlen bestätigen würde.
({7})
Zwischen 1982 und 1998 ist die Zahl der Arbeitslosen in
den alten Bundesländern von 1,8 Millionen auf 2,9 Millionen gestiegen, obwohl es eine Fülle von Steuersenkungen gegeben hat. Sie erinnern sich, wie ich, an die
Senkung des Spitzensteuersatzes und die Senkung
des Körperschaftsteuersatzes. Die Gewerbekapitalsteuer
wurde abgeschafft, der Solidarbeitrag gesenkt und die
Vermögensteuer ausgesetzt. Dies alles hat nicht zum Erfolg geführt.
Das bedeutet allerdings nicht, dass wir keine Vorschläge in Bezug auf das Steuerrecht hätten. Wir werden
in der nächsten Woche einen Antrag einbringen, der sich
mit der Wiedererhebung der Vermögensteuer auf reformierter Grundlage befasst. Wir haben, wie Sie wissen,
längst einen Antrag in den Bundestag eingebracht, um die
Mehrwertsteuer für arbeitsintensive Dienstleistungen zu
senken.
Frau Kollegin Luft, Sie müssen leider zum Schluss kommen.
Auch das wäre, Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P., eine Maßnahme, um den
Handwerksbetrieben, die ums Überleben kämpfen, die
Existenz zu sichern.
Der Hilfsfonds für unschuldig in Not geratene Handwerksfirmen, der auf unsere Initiative hin in den Haushalt 2001 eingestellt worden ist, darf nicht zu einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für Wirtschaftsprüfer und
Unternehmensberater werden, sondern muss den Betroffenen zugute kommen.
Danke schön.
({0})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Joachim Poß.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Diese Debatte hat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Öffentlichkeit Aufschluss darüber
gegeben, dass weder das Konzept von Herrn Merz noch
das von Frau Merkel realitätstüchtig und geeignet ist, den
politischen Wettbewerb mit dieser Koalition und dieser
Regierung aufzunehmen. Beide Konzepte sind auch nicht
miteinander kompatibel:
({0})
Dazu hat der heutige Vormittag beigetragen.
Am heutigen Vormittag konnten Sie auch die Erkenntnis gewinnen, dass Sie an sich selbst arbeiten müssen, um
überhaupt wieder konkurrenzfähig zu werden. Wenn Sie
aus der heutigen Debatte eine solche Vorstellung mitnehmen, hat sich diese Diskussion zumindest für Ihre Fraktion gelohnt; für viele andere hat sie sich nicht gelohnt.
({1})
Um nicht falsch verstanden zu werden: Angesichts der
vielen Prognosen und Experteneinschätzungen, die zum
Teil sehr unterschiedlich sind, ist es richtig und wichtig,
im Deutschen Bundestag über die wirtschaftliche Situation und die Entwicklung in Deutschland zu reden und
auszuloten, wie wirtschafts- und finanzpolitisch mit dieser Situation umzugehen ist.
Die konjunkturelle Lage ist sicherlich nicht so, wie
wir sie uns wünschen; das schließt ausdrücklich auch die
Lage auf dem Arbeitsmarkt mit ein. Ich halte allerdings
die beiden von der Union vorgelegten Zehn-Punkte-Programme für nicht geeignet, um auf ihrer Grundlage eine
angemessene und realitätsbezogene wirtschaftspolitische
Auseinandersetzung zu führen.
({2})
- Wir legen nicht nur etwas vor, sondern haben auf diesem Gebiet unsere Koalitionsvereinbarung umgesetzt.
({3})
Es liegt nicht nur ein Programm der CDU/CSU vor,
sondern es existieren tatsächlich zwei Programme. Diese
Tatsache ist schon erwähnt worden; aber man muss es der
Öffentlichkeit ganz deutlich sagen: Es gibt zwei Programme, und zwar ein Programm Merkel sowie ein Programm Merz und Glos. Eine der wenigen Identitäten zwischen den Programmen besteht darin, dass sie jeweils
zehn Punkte umfassen. Das heißt, es gibt nur wenige
Punkte, die in beiden Programmen identisch sind. Hiermit
wird schwarz auf weiß dokumentiert, dass es der Union
immer noch nicht gelingt, eine einheitliche und geschlossene Politikkonzeption anzubieten. Das ist ein Hinweis
auf den Zustand Ihrer Fraktion und Ihrer beiden Parteien.
({4})
Die Bürgerinnen und Bürger, die sich von der heutigen
Debatte eine gewisse Aufklärung und Orientierung versprechen, erwarten von Ihnen, dass Sie Ihren innenparteilichen Wettbewerb um Personen und Konzepte erst einmal abschließen, bevor Sie hier im Bundestag mit uns
über den besten Politikentwurf streiten. Darauf haben die
Bürgerinnen und Bürger ein Recht.
({5})
Aber möglicherweise lässt sich in Ihrem so genannten Erneuerungsprozess ein solches innerparteiliches Durcheinander nicht vermeiden.
({6})
Einer der beiden Punkte, der bei Merz und Merkel
identisch ist, ist die Forderung nach dem Vorziehen der
Einkommensteuerentlastungsschritte 2003 und 2005
auf den 1. Januar 2002.
({7})
Es ist ein Jahr her, dass sich die Regierungskoalition im
Rahmen der Steuerreform gegen Ihren Versuch einer
Fundamentalopposition durchgesetzt hat. Weitreichende
Steuerentlastungen zu fordern - auch ohne Beachtung der
konjunkturellen Situation - macht sich immer gut!
({8})
Sie sollten aber endlich einmal zur Kenntnis nehmen auch Ihre Ministerpräsidenten sagen Ihnen das -: Steuerentlastungen sind nur in dem Maße vernünftig und gegenüber den Ländern und Gemeinden vor allen Dingen
nur dann durchsetzbar, wenn die damit für die öffentlichen Haushalte verbundenen Einnahmeausfälle verkraftbar sind. So ist die Realität, und zwar in jeder konjunkturellen Phase.
({9})
Mit den von Ihnen vorgelegten Vorschlägen haben Sie
sich aus einer ernsthaften wirtschafts- und finanzpolitischen Debatte verabschiedet. Allein bei einer Betrachtung
der finanziellen Konsequenzen Ihres Vorschlages für die
öffentlichen Haushalte erledigt sich Ihre Forderung von
selbst. Die Umsetzung ihres Vorschlags hätte nämlich die
Verfassungswidrigkeit des Bundeshaushaltes 2002 zur
Folge; denn die Nettokreditaufnahme würde die Investitionsausgaben erheblich übersteigen. Ähnlich wäre es in
einer Reihe von Bundesländern, übrigens auch in Bundesländern, die CDU-geführt sind. Deshalb ist es nicht überraschend, dass sich, soweit mir bekannt ist, weder Herr
Vogel aus Thüringen noch Herr Müller aus dem Saarland
Ihren Forderungen nach weiteren massiven Steuerausfällen öffentlich angeschlossen haben.
Die öffentlichen Haushalte insgesamt könnten bei Realisierung Ihrer Programme den Konsolidierungspfad nicht
mehr einhalten, der im Rahmen des Europäischen Wirtschafts- und Stabilitätspaktes nach Brüssel gemeldet worden ist. Der Vertrauensverlust im Ausland und auf den Finanzmärkten wäre enorm.
Aber nicht nur der Bund, sondern auch die Länder und
Gemeinden wären als Reaktion auf weitere Steuerausfälle
zu zusätzlichen und stärkeren Einsparbemühungen gezwungen. So wie die Dinge nun einmal liegen, müssten
die Gemeinden zum Beispiel ihre Investitionshaushalte
weiter zurückfahren. Das würde für den Mittelstand und
für die Bauwirtschaft einen Nachfrageausfall und insgesamt weniger Beschäftigung und eine möglicherweise
höhere Arbeitslosigkeit bedeuten; denn zwei Drittel aller
öffentlichen Aufträge werden von Gemeinden vergeben.
Dies wäre die Konsequenz Ihrer Vorschläge. Vielleicht
sollten Sie - denn Sie wollen ja immer besonders mittelstandsfreundlich sein - diesen Aspekt noch einmal überdenken.
Auch wenn Sie sich auf die eine oder andere Meinung
von Expertenseite berufen sollten: Es ist nicht richtig, generell davon auszugehen, dass sich Steuersenkungen
durch eine entsprechende konjunkturelle Belebung selbst
finanzieren. Eine verantwortungsbewusste Haushaltsund Finanzpolitik, die Jahr für Jahr dafür Sorge tragen
muss, dass der Staat fiskalisch handlungsfähig bleibt, darf
und kann sich darauf nicht verlassen. Denn nach all den
von uns gemachten Erfahrungen gibt es keine Selbstfinanzierungseffekte in diesem Umfang. Natürlich gibt
es auf einer Zeitschiene von drei bis fünf Jahren
Selbstfinanzierungseffekte. Aber die mit den Steuersenkungen verbundenen Steuerausfälle und deren Konsequenzen für die öffentlichen Haushalte, die ich geschildert habe, treten sofort ein.
Einerseits beklagen Sie die hohe Preissteigerung auch Herr Merz hat das heute Morgen wieder gemacht
und hat so getan, als sei das nur ein Problem bei uns und
nicht auch in allen anderen europäischen Staaten; sie geht
übrigens wieder zurück, wie Sie feststellen konnten; das
ist ja auch gut so -, andererseits zielen Sie durch Ihr Plädoyer für die Aufgabe des Konsolidierungskurses darauf,
Inflationstendenzen zu schüren. Das, was Sie machen, ist
doch in hohem Maße widersprüchlich. Auf der einen Seite
beklagen Sie die hohe Inflation und auf der anderen Seite
tun Sie mit Ihren Vorschlägen alles, um den Inflationsauftrieb zu fördern.
({10})
Auch mit diesem Widerspruch müssen Sie sich auseinander setzen.
Wie soll denn da die Europäische Zentralbank dem
Beispiel der amerikanischen Notenbank folgen und bei
solchen Signalen die Zinsen weiter senken? Das ist doch
das völlig falsche Signal für die Europäische Zentralbank.
Es ist ja auch bemerkenswert, dass die CDU/CSUFraktion mit ihrem Beschluss vom Dienstag, bereits einen
Tag nach Frau Merkels Forderung im Präsidium der CDU,
von dieser Forderung nach der sofortigen Abschaffung
der gesamten Ökosteuer abgerückt ist. Es ist ja bekannt,
dass bei Ihnen in der Einstellung zur Ökosteuer ein fundamentaler Gegensatz besteht; den können Sie auch gar
nicht verschleiern.
Wer aber die Ökosteuer insgesamt abschaffen will, der
muss umgehend die Beiträge zur Rentenversicherung auf
etwa 21 Prozentpunkte anheben - das ist hier schon erwähnt worden -, oder Sie müssen einfach weitermachen
mit der Schuldenpolitik von Kohl und Waigel. Diese Alternativen gibt es noch. Wenn Sie, Frau Hasselfeldt, diese
Widersprüche gleich aufklären könnten, wären wir Ihnen
sicherlich alle dankbar. Wir sind schon gespannt, zu
hören, welchen Finanzierungsvorschlag Sie dem staunenden Publikum hier offerieren.
Die Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge würde
zu erheblichen Mehrbelastungen der Arbeitnehmer und
der Arbeitgeber mit allen negativen Effekten für Konjunktur und Beschäftigung führen. Aber weil es uns um
den Mittelstand geht, gerade um den Mittelstand,
({11})
werden wir solche Vorschläge zu verhindern wissen. Das
trifft nämlich in erster Linie den Mittelstand negativ. Herr
Michelbach, das sollten Sie einmal überlegen.
({12})
Das gilt grundsätzlich auch für das Aussetzen einzelner
Ökosteuerstufen.
Wir verfolgen aus Überzeugung eine andere Philosophie als Sie.
Auch wenn die Einschätzung der konjunkturellen Entwicklung nicht mehr so positiv ist wie vor Monaten - das
gilt ja nicht nur für Deutschland -, gibt es nach wie vor
keinen Grund zu Rezessionsängsten und schon gar nicht
zur Panikmache. Wir werden den von uns verfolgten Kurs
der haushalts- und finanzpolitischen Solidität und Verlässlichkeit weitergehen. Die Investoren und die Konsumenten brauchen Sicherheit und Beständigkeit für ihre
Planungen und Erwartungen.
Man muss sich noch einmal verdeutlichen und klarmachen, was die von der CDU vorgelegten Zehn-PunkteProgramme bedeuten. Sie fordern jetzt genau das, was Sie
den Sozialdemokraten vor Jahrzehnten und auch noch in
den letzten Jahren vorgeworfen haben: kurzfristigen Aktionismus anstelle mittel- und langfristiger Orientierung;
({13})
Beschäftigungsprogramme anstelle dauerhaft tragfähiger
und finanzierbarer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen.
({14})
Mit Ihren teuren Konjunkturprogrammen zwingen Sie
Bund, Länder und Gemeinden zur Steigerung der Kreditaufnahme, treiben Sie die Staatsverschuldung in die Höhe
und belasten damit zukünftige Generationen.
Sie haben sich hier heute Morgen vermeintlich im Interesse der jüngeren und der nachwachsenden Generation
geäußert. Mit dieser Linie belasten Sie die zukünftigen Generationen. Auch das machen wir nicht mit, weil wir für
eine nachhaltige Finanzpolitik stehen, die die zukünftigen Generationen eben nicht stärker belasten will.
({15})
Lesen Sie sich doch einmal, soweit Sie dem Parlament
schon etwas länger angehören, Ihre früheren eigenen Reden, die Sie hier im Parlament gehalten haben, durch.
Obwohl wir als Bundesregierung und als Koalition bisher ein hohes Reformtempo vorgelegt haben, sind natürlich noch nicht alle Aufgaben erledigt. Für uns gilt auch
weiterhin - Herr Eichel hat es für die Regierung gesagt;
ich sage es für die SPD-Bundestagsfraktion -: Verlässlichkeit und Solidität gehen über puren Aktionismus, der
bei Ihnen letztlich aus breitem parteipolitischen Frust geboren ist. Aber Frust, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, ist immer ein schlechter Ratgeber gewesen.
Verabschieden Sie sich von diesen zwei Schmierpapieren
- wie sagte Herr Schlauch? ({16})
von diesen zwei Waschzetteln, die Sie vorgelegt haben!
Das, was Sie da vorgeschlagen haben, ist wirklich nicht
einmal das Papier wert, auf dem es geschrieben ist. Das
war ein Fehlschuss und zu dieser Einschätzung sollten Sie
sich nun wirklich bekennen.
Ich hoffe, dass Sie sich so weit erholen, dass Sie demnächst hier im Plenum mit uns seriöse wirtschafts- und finanzpolitische Diskussionen führen können.
({17})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Gerda
Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Es ist schon erschreckend, mit welcher Arroganz
und vor allem mit welcher Ignoranz die Bundesregierung
mit den aktuellen Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung
umgeht.
({0})
Dies wird nicht nur daran deutlich, dass weder der Wirtschaftsminister noch der Bundeskanzler an dieser Debatte
teilnimmt,
({1})
sondern auch daran, wie der Finanzminister in seinen
Ausführungen mit diesen Fakten umgegangen ist.
Er hat zum Beispiel davon gesprochen - ich bedaure,
dass er nicht mehr persönlich hier sein kann -, dass die
Verrücktheit, jeden Tag neue Prognosen zu machen, ein
Ende haben müsse. Wenn die Arbeit der seriösen Wirtschaftsforschungsinstitute als „Verrücktheit“ bezeichnet wird, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Das ist
mehr als Hohn, wie hier mit der Arbeit seriöser Wirtschaftsforschungsinstitute umgegangen wird.
({2})
Sie haben die Aufgabe und die Pflicht, uns Prognosen
über die weitere wirtschaftliche Entwicklung an die Hand
zu geben, und es ist unsere Pflicht, daraus die entsprechenden politischen Konsequenzen zu ziehen und Entscheidungen zu treffen.
Herr Poß hat hier zwar eingestanden, dass es konjunkturelle Schwierigkeiten und erhebliche Probleme am Arbeitsmarkt gibt;
({3})
ich habe aber seine Antworten auf diese Probleme vermisst. Herr Poß, Sie haben in Ihrer gesamten Rede kein
Wort dazu gesagt.
({4})
Tatsachen sind, dass erstens die Konjunktur wegbricht
- die Wachstumsprognosen sinken Monat um Monat -,
zweitens der Euro sich seinem historischen Tiefstand
nähert, drittens die Preise permanent steigen - die Inflation hat eine Besorgnis erregende Höhe erreicht -, viertens auch die saisonbereinigte Zahl der Arbeitslosen steigt
und fünftens entgegen Ihren Versprechungen die Beiträge
zur Sozialversicherung ebenfalls steigen. Das ist die Realität unserer wirtschaftlichen Entwicklung!
({5})
Darauf müssen Antworten gegeben werden, die Sie
schuldig geblieben sind. Wir geben die Antworten mit unserem Antrag. Da hilft kein Schönreden, kein Ignorieren;
da hilft nur eine ehrliche Bestandsaufnahme.
Warum ist das so wichtig? Das ist keine theoretische
Diskussion. Die Fakten, die ich eben anführte, betreffen
die Menschen in unserem Land ganz massiv: alle Arbeitnehmer mit ihren Familien, die um die weitere Sicherung
ihrer eigenen Arbeitsplätze bangen, viele Arbeitslose, die
einen Arbeitsplatz suchen, aber genauso viele Unternehmer, deren Existenz auf dem Spiel steht, und letztlich alle
Bürgerinnen und Bürger, denen Sie mit Ihrer Politik der
hohen Inflationsraten das Geld aus der Tasche nehmen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns darüber unterhalten und nach Lösungen suchen.
({6})
Hier machen Sie, meine Damen und Herren von der
Regierungsseite, es sich bei der Suche nach der Ursache
dieser Entwicklung ein bisschen zu einfach. Es wird nur
gesagt, das hänge mit der Entwicklung in den USA zusammen, wogegen wir nichts machen könnten. Wie erklären Sie sich dann, dass Deutschland im Vergleich zu
den anderen europäischen Ländern am Ende der Wachstumsskala steht? Auch andere europäische Länder haben
einen vergleichbaren Handel mit den USA. Unsere Probleme in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung sind
überwiegend hausgemacht; da beißt die Maus keinen Faden ab.
({7})
Sie sind das Ergebnis von falschen Weichenstellungen
in der Steuerpolitik, in der Arbeitsmarktspolitik und in der
Sozialpolitik. Hier ist ein Gegensteuern notwendig.
Hier ist es auch nicht mit irgendeinem Konjunkturprogramm getan. Weder Herr Poß noch Herr Eichel noch
Herr Schlauch haben unser Programm gelesen. Sollten sie
es gelesen haben, haben sie es entweder nicht verstanden
oder es nicht verstehen wollen.
({8})
Eine andere Erklärung dafür, dass Sie ständig von einem
kurzfristigen Konjunkturprogramm reden, sehe ich nicht.
Das ist kein kurzfristiges Konjunkturprogramm, sondern
der Versuch, dem, was Sie falsch gemacht haben, entgegenzusteuern.
Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Die Ökosteuer ist ja
schon angesprochen worden. Es ist interessant, wenn Herr
Schlauch davon spricht, dass die Ursachen für die Inflationsentwicklung bei der BSE-Krise zu finden seien. Das
zeugt von einem hohen ökonomischen Sachverstand,
Herr Schlauch.
({9})
- Es stimmt, Sie haben auch die Energiepreise als Ursache genannt. Aber genau das ist das Problem, lieber Herr
Schlauch: Sie haben nämlich durch Ihre Ökosteuer die
Stromsteuer - eine solche Steuer hat es bisher noch nie in
Deutschland gegeben - und die Mineralölsteuer erhöht
und damit massiv zum Anstieg der Preise in diesen Bereichen beigetragen. Das ist der Kernpunkt, warum die Inflationsrate so hoch ist. Das haben Sie und niemand anderer zu verantworten.
({10})
Deshalb ist eine Korrektur Ihrer verfehlten Politik notwendig. Auf ein solches Signal warten die Verbraucher
und auch die Investoren zu Recht dringend.
Was ist nun von Ihrer viel gepriesenen Steuerreform
übrig geblieben? Für den Mittelstand, also für die Personenunternehmen, die immerhin 85 Prozent der deutschen
Wirtschaft ausmachen, und für die Arbeitnehmer war und
ist Ihre Steuerreform bis heute nichts anderes als eine
Nullnummer. Außer den großen Kapitalgesellschaften
spürt niemand, aber auch wirklich niemand etwas von den
angekündigten Steuerentlastungen. Aber die Verschlechterungen zum Beispiel durch die Änderungen der Abschreibungsbedingungen, der gesetzlichen Regelungen
für Betriebsumstrukturierungen und der Verlustverrechnungen schlagen voll auch bei den Personenunternehmen
durch, da sie nicht entsprechend entlastet wurden.
({11})
Sie haben den Körperschaftsteuersatz für die großen
Kapitalgesellschaften nicht stufenweise, sondern auf
einen Schlag von 40 auf 25 Prozent gesenkt. Sie ermöglichen den Kapitalgesellschaften, ihre Veräußerungsgewinne steuerfrei zu stellen. Für die Personenunternehmen, also den überwiegenden Teil der deutschen
Unternehmen, haben Sie auf einmal kein Geld mehr. Die
Steuerentlastung für diese Unternehmen haben Sie auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag, auf das Jahr 2005, verschoben. Die steuerliche Freistellung von Veräußerungsgewinnen haben Sie den Personenunternehmen versagt.
Diese Ungleichbehandlung von mittelständischen Personenunternehmen im Vergleich zu den großen Kapitalgesellschaften muss schleunigst beseitigt werden.
({12})
Deshalb ist das Vorziehen der für 2005 und 2003 beschlossenen Steuerentlastungsstufen auf 2002 dringend
notwendig. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens Frau Scheel, die den gleichen
Vorschlag gemacht hat. Aber es ist ja nicht das erste Mal,
dass wir von ihr, wenn sie in Mikrofone außerhalb des
Parlaments spricht, etwas ganz anderes hören als in den
parlamentarischen Gremien.
({13})
- Herr Merz ist bei meiner Rede anwesend. Bei der heutigen Rede von Herrn Poß war er es nicht. Wenn ich es
richtig sehe, hat er das schon öfter gemacht. Das ist seine
persönliche Entscheidung.
({14})
Frau Scheel, wenn es einen Preis für Doppelzüngigkeit
und Unglaubwürdigkeit in der Politik geben würde, dann
müssten Sie den ersten Preis bekommen.
({15})
Sie führen, wenn man auf die Ungleichbehandlung von
Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen hinweist, immer das Kostenargument an. Das hat auch Herr
Poß vorhin getan. Ich sage Ihnen: Wenn Sie für die
Kapitalgesellschaften Geld haben, dann ist nicht einzusehen, dass Sie für 85 Prozent der deutschen Unternehmen,
für die persönlich haftenden Unternehmer, für die Personenunternehmen, auf einmal kein Geld mehr übrig haben.
Dies ist wirklich nicht einzusehen!
({16})
Ich wünschte mir, dass in den Reihen der Regierungsfraktionen in diesen Fragen mehr volkswirtschaftlich als
fiskalpolitisch und buchhalterisch gedacht würde; denn
dann würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass Ihre Weigerung, den mittelständischen Unternehmen und Arbeitnehmern Steuerentlastungen zu gewähren, zu Steuermindereinnahmen führt. Sie würden auch zur Kenntnis nehmen,
dass ein Vorziehen der Reform - dies wäre mit einer
früheren Entlastung der mittelständischen Unternehmen
und mit einer Gleichstellung der mittelständischen Unternehmen mit den großen Kapitalgesellschaften verbunden
- zu Wachstumsimpulsen und weiteren Steuereinnahmen
führen würde. Die ewige rein fiskalpolitische und buchhalterische Betrachtungsweise, die nichts mit volkswirtschaftlichen Erwägungen zu tun hat, ist hier völlig unangebracht.
({17})
Die steuerpolitischen Vorschläge in unserem Papier
stehen in Kombination und engem Zusammenhang mit
den Vorschlägen zum Betriebsverfassungsgesetz, mit den
Vorschlägen in der Gesundheitspolitik und mit den Vorschlägen zur Arbeitsmarktderegulierung. Der Finanzminister hat in seiner heutigen Rede davon gesprochen, dass
es notwendig sei, die Sozialsysteme zu stabilisieren.
Dazu kann ich nur sagen: Ja natürlich, das ist notwendig.
Warum machen Sie es denn nicht? Ich nenne nur die Beispiele Gesundheitspolitik und Rentenversicherung. Die
Ökosteuer, die Sie eingeführt haben, ist nichts anderes als
ein zusätzlicher Beitrag zur Rentenversicherung an der
Tankstelle.
({18})
Sie haben die falschen Weichen gestellt. Wenn Sie das
nicht getan hätten, müssten wir heute nicht über den
Scherbenhaufen, den Sie angerichtet haben, reden.
Der Finanzminister hat angesprochen, dass in unserem
Land nur wenige Menschen mit einem ökonomischen
Sachverstand unsere Vorschläge unterstützen würden. Ich
möchte Ihnen nur einen nennen, der im ganzen Land als
Wirtschaftsfachmann unangefochten ist, nämlich Norbert
Walter, den Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Er hat gesagt: Die Bundesregierung muss ernsthaft überlegen, die
zweite und dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen.
({19})
Er schließt auch persönlich einen länger anhaltenden Abschwung nicht mehr aus. Es erscheint uns angebracht,
wenn Sie uns schon nicht glauben, den Menschen zu
glauben, die in der Wirtschaft in unserem Land Verantwortung tragen.
({20})
Ich habe es vorhin schon gesagt und möchte es zum
Schluss wiederholen: Es geht hier nicht - Sie können es
ruhig hundertmal wiederholen - um ein kurzfristiges
Konjunkturprogramm, sondern um die Korrektur der bisher von Ihnen falsch gestellten Weichen. Es geht darum,
die Strukturen so zu verändern, dass die Zeichen auf
Wachstum stehen. Sie haben mit der Zustimmung zu diesen Vorschlägen die Möglichkeit, ein entsprechendes Signal zu setzen. Die Leute im Land warten darauf.
({21})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich will hier nicht auf die Prognosen der Bundesregierung, der Wirtschaftsinstitute oder der OECD
eingehen. Dabei handelt es sich ja im Wesentlichen um
Momentaufnahmen. Als Praktiker aus der Wirtschaft sehe
ich mir die Kursentwicklung an der Börse und an den Devisenmärkten an. Ich kann unschwer erkennen, dass die
Marktteilnehmer in ihrer Gesamtheit der wirtschaftlichen
Entwicklung in Europa und vor allem in der Bundesrepublik Deutschland nicht das notwendige Vertrauen entgegenbringen. Das Vertrauen ist aber für die Investoren entscheidend. Sie müssen Vertrauen darin haben, dass sich
ein Investment am Kapitalmarkt lohnt und dass die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihr
Investment tätigten, verlässlich sind. Das hat ja auch der
Finanzminister gesagt. Die Bundesregierung hat aber
nicht danach gehandelt.
({0})
Die Bundesregierung erschwert durch ihre Arbeitsmarktpolitik und ihr Eingehen auf Forderungen von
Funktionären die Bedingungen für die Unternehmer. Sie
belastet den Mittelstand steuerlich und greift mit zusätzlichen Regulierungen in wichtige Märkte ein.
Ich nenne einige Beispiele. Im Postwesen - das war gerade gestern Thema - wird die Liberalisierung, also die
Aufhebung des Postmonopols, bis ins Jahr 2007 verschoben. Im Telekommunikationsmarkt wird auf die Regulierungsbehörde - im Interesse der Gewerkschaften - eingewirkt, die Telekom einseitig zu unterstützen.
Die Liberalisierung im Strommarkt wird zurückgesetzt. Die ausdrückliche Förderung der Kraft-WärmeKopplung durch kommunale Energieversorgungsunternehmen kostet die Verbraucher bis zu 8 Milliarden DM.
Diese Mittel fehlen dann natürlich bei der Inlandsnachfrage.
Der Bau der Transrapidstrecke von Hamburg nach
Berlin wird trotz entgegenstehender Beschlüsse der Bundesregierung, des Bundestages und des Bundesrates aufgekündigt, obwohl mit dem Transrapid zwei wesentliche
Wirtschaftszentren miteinander verbunden worden wären.
Hier hätte man aktive Strukturpolitik betreiben können,
aber man lässt es sein, weil aus den Reihen der Grünen
Forderungen kommen, diese Transrapidstrecke nicht zu
bauen.
({1})
Zulasten der deutschen Bauwirtschaft wird kurzfristig
§ 2 b des Einkommensteuergesetzes zu einem Fallenstellerparagraphen umgewandelt. Über viele Sorgen der deutschen Bauwirtschaft bräuchten wir uns heute nicht zu unterhalten, wenn § 2 b in seiner alten Fassung beibehalten
worden wäre.
({2})
Meine Damen und Herren, wie soll man heute einem
Investor, der vor allem langfristig denken muss, erklären,
warum er gerade in Deutschland investieren soll, und dies
trotz der zahlreichen Regulierungen des Arbeitsmarktes
und der überbordenden Bürokratie? Vom „schlanken Staat“
sind wir noch weit entfernt. Deswegen geht internationales Kapital nicht in die Bundesrepublik Deutschland, sondern eher in den Dollarraum, was wiederum zur Dollarstärke und damit auch zur Euro-Schwäche führt.
({3})
Das mag kurzfristig unsere Exportwirtschaft künstlich
beleben, führt aber langfristig über höhere Importpreise
zu mehr Inflation. Aus diesem Circulus vitiosus wird man
nur ausbrechen können, wenn man stärker dereguliert und
dafür sorgt, dass der Markt sich frei entwickeln kann.
({4})
Andere europäische Länder haben es uns vorgemacht.
Es ist kein Wunder, dass diese Länder für die jetzigen wirtschaftlichen Herausforderungen besser gewappnet sind.
({5})
Dass Deutschland EU-weit das Schlusslicht bildet,
kann nicht irgendeiner internationalen Wachstumsschwäche angehängt werden. Im Vergleich zeigt sich:
Deutschland hat, vor allem in den letzten zwei Jahren,
seine Hausaufgaben nicht gemacht.
({6})
Wir Freien Demokraten wollen keinen kurzfristigen
Aktionismus; der führt auch nicht weiter. Aber wir haben
den Mut, durchgreifende Reformen endlich anzugehen,
die freiheitliche Ordnung zu stärken. Hier müssen Steuerpolitik und Arbeitsmarkt ganz vorne stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Klaus Wiesehügel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier schon sehr viel zur
Finanz- und Konjunkturpolitik gesagt worden, aber wie
Sie und ich der Tagesordnung entnehmen können, liegt
ein Antrag vor, der sich „Offensive für die Bauwirtschaft“
nennt. Den Antrag hat die CDU/CSU eingebracht. Ich
möchte einige Sachverhalte verdeutlichen, damit das, was
der Antrag enthält, hier nicht unwidersprochen stehen
bleibt.
Sie beginnen Ihren Antrag mit der lobreichen Feststellung, dass der Bauwirtschaft seit jeher eine Schlüsselrolle zufällt. Das haben Sie völlig richtig erkannt. Aber
umso mehr muss ich mich fragen: Warum haben Sie dann
in den 90er-Jahren den Schlüssel zerbrochen oder gar
weggeworfen?
({0})
- Ich muss das wirklich fragen. Es ist einer Opposition
wohl zugestanden, den Versuch zu machen, die eigenen
Versäumnisse nun der Regierung in die Schuhe zu schieben, aber Sie gestalten diesen Versuch wirklich sehr, sehr
dürftig.
Gleich zu Beginn Ihres Antrags „Offensive für die
Bauwirtschaft“ schreiben Sie, dass die Beschäftigtenzahlen im Bauhauptgewerbe von 1,4 Millionen im Jahr
1995 auf 930 000 im März 2001 zurückgegangen sind.
({1})
- Ja, ja, Herr Merz. - Fast 500 000 Menschen sind seit
1995 arbeitslos geworden oder wurden nicht mehr ersetzt.
Diese Tendenz zeigte sich ganz besonders in den neuen
Bundesländern. Aber glauben Sie wirklich, Herr Merz,
wenn Sie das Jahr 1995 als Vergleich heranziehen, dass
die Menschen vergessen haben, dass Sie 1995, 1996, 1997
und fast das komplette Jahr 1998 unter einem Bundeskanzler Helmut Kohl die Regierungsverantwortung
getragen haben?
({2})
Das heißt, dass die Ursachen für den Rückgang der Beschäftigung zu einem ganz wesentlichen Teil in einem Zeitraum liegen, den Sie zu verantworten hatten. Das geht auf
Ihr Konto und nicht auf das von irgendjemand anderem.
({3})
Ich habe ja darauf gewartet, dass Sie wieder schreien:
„Wir sind auf keiner Gewerkschaftskundgebung!“. Sie
müssen sich einmal entscheiden: Am 4. April haben wir
hier über die Bauwirtschaft geredet. Dabei hat Ihr Kollege
Ernst Hinsken gesagt - ich kann das durchaus noch einmal zitieren -:
Herr Wiesehügel, das ist an Sie gerichtet. Ich bedauere sehr, dass Sie heute nicht sprechen. Denn ich
hätte erwartet, dass sich jemand, der im Gewerkschaftsbereich stark ist, für die Arbeitnehmer, für
seine Freunde, einsetzt …
Sie können nicht, wenn ich rede, auf die Gewerkschaft
verweisen, und wenn ich nicht rede, fragen, warum der
Gewerkschaftsvertreter nicht spreche. So geht es nicht.
Sie müssen sich da schon einmal entscheiden, was Sie nun
wollen, ob ich nun reden soll oder nicht.
({4})
Mir ist es egal, was Sie sagen; ich werde zu Anträgen von
Ihrer Seite, die ich für falsch halte, weiterhin Stellung
nehmen.
({5})
Es ist nun unser Problem, die von Ihnen gemachte fehlerhafte Politik ganz langsam und mühevoll wieder in die
richtigen Bahnen zu lenken. Wie sehr Ihr ganzes Vorgehen rein populistischer Natur ist, kann man, wenn man
den Text Ihres Antrages liest, sehr schnell feststellen. Sie
beklagen auf Seite 2 den Rückgang der Zahl der Baugenehmigungen und fragen, wo denn hierfür die Gründe
zu suchen sind. Dafür nennen Sie vier Gründe, nämlich
erstens - natürlich wie immer - die Ökosteuer, zweitens
die Beschränkung befristeter Arbeitsverträge, drittens den
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und viertens die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung.
({6})
Meine Damen und Herren, um die schlechten Rahmenbedingungen der Bauwirtschaft durch die Einführung
der Ökosteuer erklären zu wollen, bedarf es schon fast
des Hilfsmittels einer nicht mehr besonders seriösen Argumentation. Sie arbeiten hier einfach nach dem Motto:
Wenn wir Opposition betreiben müssen - das tun Sie offensichtlich sehr ungern -, dann sind wir nicht verpflichtet, neue Vorschläge zu machen, sondern können wirklich
alles auf die Ökosteuer schieben. In dieser Diskussion ist
das aber der völlig falsche Ansatz. Wenn Sie sich ein kleines bisschen ernsthaft mit der Bauwirtschaft beschäftigen, dann werden Sie schnell lernen, dass es sich um eine
der arbeitsintensivsten Branchen in unserem Land handelt. Das heißt, es gibt kaum eine andere Branche, in der
die Entlastungswirkung bei den Lohnnebenkosten
stärker gezogen hat als in der Bauwirtschaft. Das heißt,
die Verteuerung von Energie wurde in der Bauwirtschaft
mehr als kompensiert. Von daher ist dieser von Ihnen angeführte Punkt ein Eigentor.
({7})
Auch der zweite Punkt, die Einschränkung befristeter
Arbeitsverträge, zeugt von mangelnder Recherche oder
von geringer Kenntnis. Wie kaum eine andere Branche
nutzt die ostdeutsche Bauwirtschaft die Möglichkeit,
befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Das Baugewerbe war hier auf dem Weg zu einem Saisongewerbe.
Erst durch die richtigen Korrekturmaßnahmen der
Bundesregierung wird die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, wieder ihrem eigentlichen
Sinn zugeführt.
Es ist schon abenteuerlich, nun den Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit für die Schwierigkeiten des produzierenden Baugewerbes verantwortlich machen zu wollen.
Wer sich nur ein kleines bisschen in der Bauwirtschaft
auskennt, muss dieses Argument einfach als lachhaft
empfinden. Die meisten Menschen legen doch weite
Strecken zu den Baustellen zurück. Deshalb kann ja nun
gerade in diesem Bereich dieses Argument nun wirklich
nicht verfangen.
Noch lustiger wird es dann, wenn Sie in Ihrem Antrag
behaupten, dass die Bundesregierung die Rahmenbedingung für den Bau durch eine Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung drastisch verschlechtert habe.
Dass Sie sich vehement gegen die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes gewehrt haben, konnte man in diesem Hause ja sehr lautstark zur Kenntnis nehmen. Dass
Sie nun allen Ernstes alle Probleme dieser Welt genau wie
bei der Ökosteuer auf diesen Umstand zurückführen wollen - schon zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht eine
einzige Betriebsratswahl nach dem neuen Gesetz eingeläutet wurde -, das zeigt nun wirklich, dass Sie sich nicht
um ernsthafte Lösungen bemühen, sondern populistisch
von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken wollen.
({8})
Die Bauwirtschaft kann ihre Umsätze erst dann erzielen, wenn aus weit zurückliegender Planung Investitionsentscheidungen und aus umfangreicher Berechnung
endlich Stein und Beton werden. Deshalb müssen die Ursachen für ihre Probleme immer für einen mindestens
zwei bis drei Jahre - meistens noch viel länger - zurückliegenden Zeitraum beziffert werden.
Wenn nicht gerade auf offenem Podium, so werden
Sie doch wohl insgeheim zugeben, dass die von Ihnen
vielleicht wohl gemeinte, aber schlecht gemachte
Fehlsteuerung der Bauwirtschaft in den neuen Ländern eines der Hauptübel ist. Die 50-prozentige Sonderabschreibung in den neuen Bundesländern hat zum Aufbau viel zu vieler Kapazitäten geführt, die sich nur sehr
mühselig wieder vom Markt verabschieden wollen.
Darüber hinaus weiß jeder, der das Baugewerbe kennt,
dass nicht nur das plötzliche Aufkommen von zahlreichen
Anbietern den Markt belastet; durch den künstlichen
Boom entstand vielmehr auch sehr schnell ein idealer
Nährboden für Schwarzarbeit und Illegalität. Es sind gerade diese Illegalität und Schwarzarbeit, die der Branche
erheblich zu schaffen machen, mittlerweile nicht nur durch
die Verdrängung von soliden Anbietern, sondern auch
durch die unrentierliche Durchführung von Aufträgen.
Wir sind uns einig - das entnehme ich auch Ihrem Antrag -, dass Schwarzarbeit und Illegalität für die Bauwirtschaft ein Grundübel darstellen. Nur, wenn man liest,
was Sie hier als Lösungsvorschläge einbringen, wird einem noch einmal sehr deutlich, warum Sie dieses Problem nie ernsthaft bekämpfen konnten. Die Wettbewerbsverzerrungen am Baumarkt entstehen durch die
Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen sowie durch Verstöße gegen das ArbeitnehmerEntsendegesetz.
Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben deshalb ein Eckpunktepapier zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit verabschiedet, allerdings ohne Ihre Unterstützung. Wie sollten sie das auch mit Ihrer Unterstützung tun können; Ihre
Konzepte sind ideologisch falsch wie immer: Senkung
von Steuern und Sozialabgaben, ohne dass Sie den Menschen sagen wollen, wie denn die Gegenfinanzierung
funktionieren soll.
Nein, die Probleme der Bauwirtschaft liegen woanders. Auch Illegalität und Schwarzarbeit haben ihre Ursachen in weiter zurückliegender Zeit. Es war die Bundesregierung in den 90er-Jahren, die es versäumt hat, bei der
Gestaltung Europas die Angleichung der Sozialsysteme
gleich mitzufordern. Es war Ihr ehemaliger Bundeskanzler, der auf dem europäischen Gipfel in Luxemburg eine
gemeinsame europäische Arbeitsmarktpolitik geradezu
verhindert hat. Immer wieder haben Sie Ihre ideologischen Konzepte gegen die berechtigten Interessen auch
der anderen Länder massiv und hart durchgesetzt und damit Europa Steine in den Weg gelegt, die nicht so leicht
wieder wegzuräumen sind.
({9})
Ich bin froh, dass wir jetzt eine neue Bundesregierung
haben und eine neue Politik erleben. Es ist Gerhard
Schröder zu verdanken, dass in Göteborg eine siebenjährige Übergangsfrist für Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbart wurde. Das gibt den Beteiligten in der Bauwirtschaft zu Recht die Hoffnung zurück,
dass Ihre ungezügelte Deregulierungswut, wenn auch
mühsam, repariert wird und nun positive Kapitel auch für
diesen Wirtschaftsbereich aufgeschlagen werden.
Es sind viele Dinge auf einem guten Weg. Vieles geht
nicht so schnell, wie es sich die Beteiligten vielleicht
wünschen. Es ist nun mal ungeheuer schwierig, einen
überschuldeten Haushalt in Ordnung zu bringen und
gleichzeitig alle Wünsche zu erfüllen. Aber wir sehen
heute, dass in den Ländern, in denen die Haushalte in
guten Zeiten in Ordnung gebracht wurden, viel mehr konjunkturstützende Maßnahmen möglich sind als bei uns.
Hätten Sie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung mit
dem Schuldenabbau schon mal angefangen, hätten wir
heute ausreichende Mittel, um all die Maßnahmen zu
verwirklichen, die Sie jetzt ohne glaubhafte Finanzierungsalternative in der Sorglosigkeit einer Opposition vortragen.
({10})
Die deutsche Bauwirtschaft braucht Hilfe, gar keine
Frage; aber was sie überhaupt nicht braucht, sind Krokodilstränen.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Rauen für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute
hier über Möglichkeiten zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Es ist - damit komme ich zum Anfang zurück - schon beschämend,
dass bei einer so wichtigen Debatte weder der Wirtschaftsminister noch der Arbeitsminister anwesend ist.
Ich habe vorhin mit ein bisschen Erschrecken den Jubel
vernommen, als Sie den Hammelsprung gewonnen hatten
und die beiden nicht herbeizitiert werden konnten. Meine
Damen und Herren, Sie können sich heute noch darüber
hinwegmogeln, aber wir können die Konjunktur in
Deutschland nicht mehr gesundbeten. Sie werden brutal
von der Wirklichkeit eingeholt werden; das prophezeie
ich Ihnen. Dann werden auch der Wirtschaftsminister und
der Arbeitsminister hier sitzen.
Ich hätte von Herrn Müller schon gern gehört, was er
zu seiner Äußerung sagt, dass wir jetzt ein Nullwachstum
haben werden. Ich hätte schon gern gehört, wie er die
Dinge sieht. Wir haben ja im Jahr 2000 beginnend von
Quartal zu Quartal einen dramatischen Rückgang des
Wachstums in Deutschland. Was dabei erschreckt, ist die
Kürze der Zeit, in der selbst die führenden Institute ihre
Prognosen revidieren müssen.
Als wir über die Steuer diskutierten, habe ich von dieser Stelle aus gesagt: Wer eine solche Politik gegen Mittelstand und Arbeitnehmer in Deutschland macht, der
wird auf dem Arbeitsmarkt scheitern.
({0})
Sie haben damals lautstark protestiert. Heute sagen Sie
nichts mehr; Sie gucken nur noch betreten. Sie haben
schon gespürt, wohin die Reise geht.
Ich möchte zu Herrn Wiesehügel kommen, der ja ein in
Tarifpolitik erfahrener Mann ist. Herr Wiesehügel, die
Steuerreform Ihrer Regierung ist vor die Wand gefahren.
Die Wirkungen sind völlig nutzlos verpufft.
({1})
- Ja, doch; Sie kennen doch die Zahlen. Ich beweise es
Ihnen am Beispiel meiner Mitarbeiter. Ich finde es besonders erschreckend, wie despektierlich hier mit dem
Thema Wachstum und Arbeitsmarkt umgegangen wird,
während man selbst im Moment darum kämpft, seine
rund 100 Mitarbeiter durch diese Zeit zu bekommen.
Herr Wiesehügel, das sind Männer, die seit zehn, 15, 20,
30 Jahren bei mir arbeiten, von denen ich den größten
Teil selbst ausgebildet habe, die ich privat gut kenne.
Wenn man dann eine Zeit erlebt, in der man unter Gestehungskosten anbietet und selbst dann noch keine Arbeit
bekommen kann, dann wissen Sie - zumindest können
Sie eine Ahnung davon haben -, wie sehr man kämpft,
um seine Mitarbeiter durch diese Zeit hindurchzubekommen.
Wenn auch einer wie ich noch Substanz einsetzen
kann, um die Leute zu halten, so bitte ich Sie doch, sich
einmal zu überlegen, wie das bei den jungen Firmen in
den neuen Bundesländern ist, die keine Chance hatten,
Substanz anzusammeln,
({2})
und die dann in Insolvenz gehen, wie Friedrich Merz Ihnen heute Morgen gesagt hat. 14 500 Insolvenzen in den
ersten fünf Monaten dieses Jahres!
Jetzt komme ich zu Ihnen zurück, Herr Wiesehügel.
Die Steuerreform hat meinen Mitarbeitern im Durchschnitt 80 DM Erleichterung im Monat gebracht. Am
1. April hatten wir im Baugewerbe eine Lohnerhöhung
von 1,7 Prozent. Davon hat der Junggeselle 31 DM netto
mehr, der Verheiratete 50 DM netto mehr. Bleiben wir bei
dem Mittel von 40 DM. Wenn Sie die 80 DM und die
40 DM addieren, sind wir bei 120 DM. Bei zwölf Monaten sind das 1 440 DM im Jahr. Jetzt kommt noch das
Weihnachtsgeld von 55 Prozent hinzu; dann sind wir bei
rund 1 500 DM.
Herr Wiesehügel, wenn meine Mitarbeiter, die seit Jahrzehnten ihr eigenes Heim haben, im letzten Oktober ihren
Heizöltank mit 3 000 Litern gefüllt haben, haben sie
1 500 DM mehr bezahlt als ein Jahr vorher. Das heißt, die
Steuerreform und die Lohnerhöhung sind durch die enorme
Verteuerung der Energie völlig konterkariert worden.
({3})
- Es wäre gut, wenn Sie zuhörten;
({4})
denn ich merke schon, dass auch Sie beginnen, über diese
Dinge nachzudenken.
({5})
Da sind die Spritmehrkosten überhaupt noch nicht
drin, da sind auch die Strommehrkosten überhaupt noch
nicht drin. Das heißt, unsere Arbeitnehmer haben einen
realen Kaufkraftverlust in einem hohen Maße. Das gilt
nicht nur für die Bauarbeiter, das gilt nicht nur für die Eigenheimbesitzer. Auch diejenigen, die zur Miete wohnen,
haben Nebenkostenrechnungen, wonach sie aufgrund der
Energiepreiserhöhungen pro Quadratmeter und Monat
zwischen 50 und 90 Pfennig mehr bezahlen müssen.
Jetzt hören Sie auf, uns hier weismachen zu wollen, das
wäre ein Problem der Konzerne, meine Damen und Herren.
({6})
Natürlich haben wir eine Erhöhung der Ölpreise; das ist
wahr. Aber die Ölpreise werden in Dollar fakturiert, und
wir haben einen schwachen Euro. Deshalb müssen wir
30 Prozent mehr für den Liter Öl bezahlen als noch vor
dieser Schwäche des Euro.
Natürlich kommen in diesem Bereich noch die Belastungen durch die Ökosteuer hinzu.
({7})
- Herr Diller, ich bin dankbar für den Einwurf; Sie sollten
aber den Zusammenhang kennen: Wenn ich für den Rohstoff Öl 30 Prozent mehr zahlen muss, weil er in Dollar
fakturiert wird und der Euro schwach geworden ist, dann
gilt das natürlich auch für das Heizöl. Ich habe da also
sehr wohl differenziert.
({8})
Herr Staatssekretär,
das ist ja ganz interessant, aber wir wollen die Spielregeln
einhalten.
Beim Benzin kommt
natürlich die Ökosteuer hinzu.
Um bei dem Beispiel zu bleiben: Was folgt denn letztendlich daraus? Im Frühjahr 2000, Herr Wiesehügel, haben fast alle Gewerkschaften, alle Tarifpartner für zwei
Jahre Lohnabschlüsse getätigt, wobei sie von einer Inflationsrate von um 1 Prozent ausgingen.
({0})
Im nächsten Frühjahr haben wir wieder Lohnverhandlungen. Ich frage mich: Wie weit soll sich denn diese
Lohn-Preis-Spirale noch drehen, wenn keine wirksamen
Entlastungen über die Steuer bei den Leuten ankommen?
Sie erwähnen nun immer, dass die Entlastung eingetreten wäre, und meinen damit natürlich, dass die Rentenversicherungsbeiträge um 1,2 Prozentpunkte gesenkt wurden. In diesen Tagen hat die AOK Baden-Württemberg
ihre Beiträge um 0,7 Prozentpunkte erhöht.
({1})
Für die Menschen ist es völlig egal, in welche Tasche das
Geld geht. Sie stellen nur fest, dass immer weniger von
ihrem Bruttolohn übrig bleibt. Das ist Faktum. Wenn jetzt
diese Erhöhung bei der Krankenkasse kommt, dann werden wir am Ende feststellen, dass die ganze Operation der
Einführung der Ökosteuer zur Senkung der Lohnzusatzkosten eine Chimäre gewesen ist, weil nämlich am Ende
dieser Operation genauso hohe Lohnzusatzkosten stehen
wie vor dieser Operation.
({2})
Allerdings werden Sie den Menschen dann insgesamt
rund 37 Milliarden DM, einschließlich Mehrwertsteuern,
durch die Ökosteuer aus der Tasche gezogen haben. Deshalb ist diese Steuer das, was wir von Anfang an gesagt
haben: Sie ist ökologisch unbrauchbar und dient nur dazu,
die Menschen abzukassieren.
({3})
Ich sage es noch einmal: Sie werden viel schneller von
der Wirklichkeit eingeholt werden, als Sie es sich zurzeit
noch erträumen. Was wir im Moment sehen, ist der Gipfel eines Eisberges. Sie haben zu wenig das beachtet, was
die Bundesbank bereits im Februar dieses Jahres festgestellt hat. Sie hat festgestellt, dass im Jahr 2000 das reale
Wachstum mit 3,1 Prozent um 0,4 Prozentpunkte höher
war als das nominale Wachstum. Dieses Phänomen hat es
im letzten Jahrhundert nur zweimal gegeben: einmal bei
der Weltwirtschaftskrise 1930 und dann noch nach der
Koreakrise 1953.
Wegen dieser Besonderheit habe ich die Regierung angeschrieben und habe eine relativ klare Antwort bekommen. Man hat konstatiert, dass die Kostenbelastung aus
höheren Energiekosten von vielen Firmen in Deutschland
nicht in Preise weitergegeben werden konnte. Was heißt
das? Wenn ich die Kosten nicht weitergeben kann, dann
heißt das: verminderte Gewinne, weniger Innovationsund Investitionsfähigkeit und damit weniger Arbeitsplätze. Diese Wirkung stellen wir zurzeit fest. In der Antwort der Regierung wurde ferner konstatiert, dass man
hoffe, dass die höheren Kosten in der zweiten Hälfte des
Jahres doch in Preise umgesetzt werden können. Was
heißt das? Das heißt: höhere Inflation.
Genau vor dem Punkt stehen wir heute. Wenn es
uns nicht gelingt, durch ordnungspolitische Maßnahmen
- wie in unserem Papier vorgeschlagen - die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Wirtschaft stattfinden
kann und dass sich Arbeitsplätze entwickeln können, dann
geraten wir in eine Lohn-Preis-Spirale, mit der wir im
nächsten Frühjahr nicht fertig werden können. Für mich
stellt sich nicht die Frage, ob wir das Vorziehen der Steuerreform finanzieren können. Für mich stellt sich die
Frage, ob wir es uns mit Blick auf die Lohn-Preis-Spirale,
die jetzt einsetzt, leisten können, die Steuerreform nicht
vorzuziehen.
({4})
Wir haben schon einmal einen Kanzler aus Ihrer Partei
gehabt, der gesagt hat: Lieber 5 Prozent Inflation als
5 Prozent Arbeitslosigkeit.
({5})
Das war genauso dumm wie die Aussage des jetzigen
Kanzlers, der schwache Euro sei nicht so schlimm; er fördere den Export. - Das ist wahr: Man kann im Dollarraum
deutsche Produkte um 30 Prozent billiger kaufen als noch
vor zwei Jahren. Aber wir bekommen natürlich für die
Waren, die wir ausführen, weniger Computer und weniger
Öl. Das heißt, die Terms of Trade sind dramatisch in den
Keller gegangen. Das hat mit dieser Entwicklung zu tun.
Deshalb ist es volkswirtschaftlich von überragender Bedeutung, jetzt ordnungspolitische Maßnahmen zu ergreifen, um dieser weiteren Flaute zu entgehen.
Dabei ist doch das, was heute Morgen von vielen Rednern der Regierungskoalition gemacht wurde, äußerst
dümmlich - das muss ich schon sagen -,
({6})
nämlich einen Widerspruch zwischen Friedrich Merz und
Frau Merkel in unserem Antrag zu konstatieren.
({7})
- Sie haben unseren Antrag nicht gelesen. Der Antrag ist
von Angela Merkel und von Friedrich Merz und von der
gesamten Fraktion gestellt worden. Darin gibt es keinen
Widerspruch.
({8})
- Ich weiß, Sie bauen darauf, mit diesen Dümmlichkeiten
Differenzen bei uns hineinzutragen,
({9})
um Ihre Schwächen und Ihre schwache Politik zu übertünchen. - Sie werden sich wundern. Sie werden von der
Realität der Wirtschaft eingeholt.
Meine Damen und Herren, Sie werden es erleben - das
sage ich jetzt, und ich werde in einem halben Jahr darauf
zurückkommen -: Dieser Kanzler, der momentan nicht
hier ist, hat gesagt, er möchte an den Erfolgen auf dem
Arbeitsmarkt gemessen werden; der Arbeitsmarkt sei das
Spiegelbild einer guten oder schlechten Wirtschafts-,
Finanz- und Sozialpolitik. - Auf diesem Arbeitsmarkt
sind Sie bereits gescheitert, Sie nehmen das nur noch
nicht wahr, meine Damen und Herren.
({10})
Sie konnten zwei Jahre im Trüben fischen, weil die
Zählweisen umgestellt wurden. Schauen Sie sich die Daten
jetzt genau an. Seit 1997 war in Deutschland eine Zunahme
der Erwerbsstunden - und nur darauf kommt es
an - zu verzeichnen. Das hat sich 1998 fortgesetzt; 1999 ist
die Zunahme abgeflacht und im Jahr 2000 zum Stillstand
gekommen. Es kommt nicht auf die Kopfzahlen an, meine
Damen und Herren, sondern auf die Stunden, die in Erwerbstätigkeit geleistet werden. Darauf beziehen sich die
Steuern und Abgaben, die gezahlt werden, und danach richtet sich unser Wirtschaftswachstum. In diesem Bereich ist
der Arbeitsmarkt aber bereits zum Erliegen gekommen.
({11})
Schreiben Sie sich bitte noch ein Letztes ins Stammbuch. Schauen Sie sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes und der Bundesanstalt für Arbeit an. In den Jahren 1999 und 2000 ist die Zahl der Arbeitslosen um
390 000 zurückgegangen. In demselben Zeitraum sind aus
demographischen Gründen 436 000 Menschen mehr in
Rente gegangen als in das Erwerbsleben eingetreten.
Da wir im Januar, Februar, März, April und Mai dieses
Jahres eine saisonbedingte Zunahme der Arbeitslosigkeit
zu verzeichnen hatten
Herr Kollege, bitte
kommen Sie zum Schluss.
- ich komme zum
Schluss -, können Sie, wenn Sie die Mai-Zahlen 1999
mit den Mai-Zahlen des Jahres 2001 vergleichen, feststellen, dass es nur noch 276 000 Arbeitslose weniger gibt;
aber aus demographischen Gründen sind 450 000 Menschen mehr in den Ruhestand gegangen als in das
Erwerbsleben eingetreten.
Ihre Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik ist
gescheitert. Sie werden es sich bald nicht mehr leisten
können, dass die wichtigen Minister bei einer solchen Debatte nicht anwesend sein können.
Schönen Dank.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/6436 und 14/6315 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung auf Drucksache 14/6199 zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU mit dem Titel „Arbeitslosenversicherungs-
beitrag senken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4377 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 14/6198 zu dem Antrag der Fraktion
der PDS mit dem Titel „Kleinunternehmer-Hilfefonds ef-
fektiv organisieren und gesetzliche Voraussetzungen für
eine Nachfolgeregelung schaffen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/5559 abzulehnen. Wer ist für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen
die Stimmen der Fraktion der PDS ist die Beschluss-
empfehlung angenommen.
Zusatzpunkt 10: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/6446 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da-
mit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Rabattgesetzes und zur Anpassung anderer Rechtsvorschriften
- Drucksache 14/5441 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 14/6459 Berichterstattung:
Abgeordnete Birgit Roth ({2})
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Aufhebung der Zugabeverordnung und zur Anpassung weiterer Rechtsvorschriften
- Drucksache 14/5594 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Rainer Brüderle,
Hildebrecht Braun ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Zugaberechts an die
EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({5})
- Drucksache 14/4424 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 14/6469 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck ({8})
Dr. Evelyn Kenzler
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hartmut Schauerte, Gunnar Uldall, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Innovation und fairer Wettbewerb im Handel
nach Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung
- Drucksachen 14/5751, 14/6463 Berichterstattung:
Abgeordnete Birgit Roth ({10})
Zu den beiden Gesetzentwürfen der Bundesregierung
liegt jeweils ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Staatssekretär Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Vor genau einem Jahr hatten wir in diesem Hause
vonseiten des Bundeswirtschaftsministeriums und des
Bundesjustizministeriums eine große Anhörung, an der
rund 70 Organisationen und Institutionen des Handels und
des Handwerks teilgenommen haben. Ebenfalls beteiligt
waren die Industrie und die Verbraucherseite. Wir wollten
wissen, wie die Betroffenen die Zukunft des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vor dem Hintergrund der
neueren europäischen Rechtsentwicklungen, insbesondere der Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr,
einschätzen. Eine deutliche Mehrheit hat sich dafür ausgesprochen, sowohl das Rabattgesetz als auch die Zugabeverordnung abzuschaffen.
Seitdem wird dieses Thema öffentlich diskutiert. Wir
haben zahlreiche Anfragen und Stellungnahmen von Unternehmen bekommen, die belegen, dass dort ein großes
Interesse an der Nutzung neuer Angebotsformen vorhanden ist.
Wir sind uns - ich denke, parteiübergreifend - darin
einig, dass das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung in
der geltenden Form nicht mehr haltbar sind. Die Gesetze
entsprechen übrigens nicht mehr der Rechtswirklichkeit
({0})
und werden, wie wir alle wissen, Herr Feibel, in vielen
Fällen ohne Unrechtsbewusstsein umgangen.
Der mündige Verbraucher ist in aller Regel in der Lage,
Rabatt- und Zugabeangebote richtig einzuschätzen und
sich in seinem Kaufentschluss nicht durch falsche Anpreisungen verleiten zu lassen. Er erwartet heute bei höherwertigen Konsumgütern entsprechende Preisnachlässe und
fordert sie auch ein. Erfahrungen aus dem europäischen
Ausland - ich denke insbesondere an die Niederlande oder
Österreich - zeigen, dass die Verbraucher vernünftig mit
Rabatten und Zugaben umgehen können.
Der Handel und die Anbieter von Dienstleistungen
können durch die Liberalisierung zusätzliche Spielräume
gewinnen. Neuartige Absatz- und Marketingstrategien,
wie zum Beispiel eine Verbreiterung des Serviceangebotes mittelständischer Unternehmen, werden den Wettbewerb zweifellos intensivieren.
Sicherlich wird die Zunahme der Wertreklame neue
Ebenen des Wettbewerbes eröffnen. Ich denke, dass die
Befürchtungen des Einzelhandels, kleinere Unternehmen
könnten sozusagen durch die Sogwirkung von Kundenbindungssystemen großer Anbieter behindert oder sogar
vom Markt verdrängt werden, durchaus ernst zu nehmen
sind.
({1})
Gleiches, Herr Feibel, gilt für das Argument, der Zugabewettbewerb könne in bestimmten Fallkonstellationen eine
Preisverschleierung zum Nachteil der Verbraucher nach
sich ziehen.
Wir haben deshalb beim Bundesministerium der Justiz eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Auswirkungen der Aufhebung der beiden Gesetze beobachtet, analysiert und gegebenenfalls zeitnah Lösungsvorschläge entwickeln soll.
({2})
Ihr gehören Vertreter der betroffenen Spitzenverbände,
also auch des Einzelhandels, der Rechtspraxis und der
Rechtswissenschaft an. Diese Arbeitsgruppe hat bereits
einmal getagt, ihre zweite Sitzung ist in diesen Tagen
vorgesehen. Die Befürchtungen des Einzelhandels hinVizepräsidentin Anke Fuchs
sichtlich der Kundenbindungssysteme werden in dieser
Arbeitsgruppe mit Sicherheit eine große Rolle spielen.
Im Gegensatz zu den Kollegen der CDU/CSU und der
PDS glauben wir nicht, dass die allseits geforderte Liberalisierung des Rabatt- und Zugaberechts durch neue Auffangnormen abgefedert werden müsste. Ich denke, dass
auch die Anhörung in dieser Woche diese Einschätzung
bestätigt hat. Das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden werden in Zukunft die Entwicklung des Rabatt- und Zugabewettbewerbs sehr intensiv verfolgen, ich
betone: auch verfolgen müssen. Sie sehen sich aufgrund
des bestehenden Instrumentariums im Kartellgesetz in der
Lage, Behinderungen mittelständischer Unternehmen
durch die marktstarke Konkurrenz zu begegnen. Für den
mittelständischen Handel bietet sich außerdem die Möglichkeit, auf regionaler Ebene Zusammenschlüsse zu bilden und entsprechende Kundenbindungssysteme zu entwickeln.
Ich darf nochmals an die Anhörung in dieser Woche erinnern. Der Vertreter eines City-Card-Modells von Gewerbetreibenden - aus einer bayerischen Kleinstadt übrigens - hat uns in dieser Anhörung sehr plastisch demonstriert, dass solche Systeme ausgesprochen erfolgreich operieren können.
Im Übrigen bieten die wettbewerbsrechtlichen Generalklauseln - ich denke an §§ 1 und 3 UWG - und die Bestimmungen der Preisangabeverordnung, die ja nach wie
vor Bestand haben, den Gerichten ausreichende Möglichkeiten, um wettbewerbswidrigen anreißerischen oder irreführenden Werbemaßnahmen entgegenzusteuern. Wenn
ich die gegenwärtige Rechtsprechung auswerte, dann
besteht für mich kein Zweifel, dass die Gerichte diesen
Spielraum auch ausnutzen werden.
Ich darf daran erinnern, dass der Bundesgerichtshof
schon im Vorfeld der Gesetzesinitiative in seinen Entscheidungen etwa zur Zulässigkeit der Bonusmeilen-Programme oder zur Abgabe kostenloser Handys bei Abschluss von Telefonkartenverträgen Kriterien festgelegt
hat, die die notwendige Transparenz von Zugabeangeboten
sicherstellen. Neue Formen der Rabattgewährung, wie etwa
das Powershopping, werden von den Gerichten im Hinblick
auf die geplante Änderung der Rechtslage schon jetzt ganz
bewusst unter dem Gesichtspunkt des § 1 UWG geprüft.
Wir werden sicherlich nicht verhindern können, dass
einige Anbieter die gewonnenen Spielräume für missbräuchliche Werbung ausnutzen. Das ist wohl festzuhalten. Aber wir sind auch keine Propheten. Deswegen können wir noch nicht sagen, in welchen konkreten Bereichen
etwaige Probleme auftreten werden. Aus diesem Grunde
denken wir, dass Auffangregelungen zurzeit kontraproduktiv sind. Sie würden nämlich neue Auslegungsprobleme hervorrufen und den gewünschten Liberalisierungseffekt konterkarieren.
Auch in dieser Frage wird die bereits angesprochene
Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz für
eine strikte und fachgerechte Begleitung und Kontrolle
der Rechts- und Wirtschaftspraxis stehen. Aufgabe dieser
Arbeitsgruppe ist es außerdem, das deutsche Wettbewerbsrecht zu modernisieren und ein tragfähiges Konzept für die wünschenswerte und notwendige Harmonisierung des Wettbewerbsrechts auf der europäischen
Ebene zu erarbeiten.
In diesem Zusammenhang sind zwei weithin anerkannten Fachleute, Professor Schricker vom Max-PlanckInstitut in München und Professor Fezer von der Universität Konstanz, mit Gutachten beauftragt worden. Diese
Gutachten werden die Grundlage zur Beantwortung der
Frage sein, inwieweit aus deutscher Sicht Reformbedarf
auf europäischer Ebene besteht. Die Expertengruppe wird
ihre Arbeit mit Hochdruck fortsetzen und damit schon
bald verwertbare Ergebnisse erzielen können.
Meine Damen und Herren, in der Tat sind gleiche
„Spielregeln“ auf europäischer Ebene erforderlich, damit
in allen Bereichen der Werbung und der Verkaufsförderungsmaßnahmen Chancengleichheit gewährleistet werden kann. Die Bundesregierung wird sich mit Nachdruck
für dieses Ziel einsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich dem Kollegen Hartmut Schauerte das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie
mir eine Vorbemerkung: An dem heutigen Tag haben
wichtige wirtschaftspolitische Debatten wie die über die
wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern und
über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund gestanden. Jetzt folgt diese Debatte. Wir müssen
nun feststellen, dass der Wirtschaftsminister bedauerlicherweise bei all diesen Debatten fehlt, überhaupt keine
Zuständigkeit mehr zu haben scheint.
Gerade hat Staatssekretär Pick angekündigt, dass die
Justizministerin zur Weiterentwicklung des europäischen
Wettbewerbsrechts eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat.
Hiermit ist wieder ein Kernbereich der Wirtschaftspolitik
vom Justizministerium übernommen worden.
({0})
Ich habe fast den Eindruck, dass wir über kurz oder
lang gar nicht merken würden, wenn es keinen Wirtschaftsminister mehr gäbe, weil es ihn eh schon seit geraumer Zeit nicht mehr gibt, jedenfalls nicht hier im
Hause.
({1})
Er war einmal richtig gut, nämlich als er eine sehr polemische Rede - erstaunlicherweise - zugunsten von
Joschka Fischer gehalten hat. Das war sein bester Tag
überhaupt.
({2})
Aber bei sämtlichen Debatten zu Themen, die sein
Amt betreffen, ist er nicht da. Ich finde das ausgesprochen
alarmierend und bedauerlich. Das zeigt, welchen Rang
die Wirtschaftspolitik in dieser Regierung - Herr Staffelt,
darüber sollten Sie einmal nachdenken - überhaupt noch
einnimmt.
({3})
Nun zum Thema! Rabattgesetz und Zugabeverordnung
sind durch Wirklichkeit, Praxis, Verhalten der Marktteilnehmer, Europäisierung und technologische Entwicklung
- Stichwort E-Commerce - nicht mehr aufrechtzuerhalten; das wissen wir seit geraumer Zeit. Der Eindruck hat
sich aufgrund der Entwicklungen, die wir alle kennen und
hellwach begleiten, verstärkt. Es hätte also ein Gebot der
Klugheit sein müssen zu sagen: Jetzt ist der Zeitpunkt erreicht, an dem der Nutzen, den diese Gesetze haben sollen, abnimmt und die Behinderungen, die diese beiden
Gesetze mit sich bringen, zunehmen, wir sie also abschaffen sollten. Was aber muss darüber hinaus bedacht
werden?
Diese Gesetze sind ja nicht grundlos in die Welt gesetzt
worden; die Ziele existieren weiter.
({4})
Die Ziele waren erstens die Preistransparenz, zweitens die
Konzentrationsverlangsamung und ein gewisser Schutz
für kleine Unternehmen und drittens Marktwirtschaft statt
Machtwirtschaft zu ermöglichen und zu optimieren; so
kann man es vielleicht umschreiben. Das waren die eigentlichen Ziele dieser Gesetze. Diese bleiben wichtige
Ziele der Wirtschaftspolitik.
Deswegen muss sich ein verantwortlicher Gesetzgeber
dann, wenn er erkennt, dass die eigentlichen Ziele durch
die Gesetze nicht mehr so geschützt werden, wie es ursprünglich gedacht war, und er beschließt, die Gesetze abzuschaffen, fragen: Was brauche ich stattdessen? Brauche
ich stattdessen überhaupt etwas oder schaffen wir sie ab
und schauen erst einmal, was dann passiert? Wenn dann
etwas passiert, schauen wir, ob wir die Gesetzgebungsmaschine wieder in Gang setzen. - Das ist der eigentliche
Konflikt, über den wir heute reden. Es geht um nicht viel
anderes; damit hier gar keine falschen Illusionen aufkommen.
Ich bleibe dabei: Diese Ziele bleiben wertvoll. Und wir
fragen, ob diese Ziele durch die Vorgehensweise der Bundesregierung noch ausreichend geschützt sind oder nicht.
Es geht also darum, ob diese Gesetze ersatzlos abgeschafft werden können oder ob nicht das eine oder andere
Element in Form einer anderen Regelung erhalten bleiben
muss. Eine Frage ist auch, ob es neue Anforderungen gibt,
die man beachten muss, beispielsweise durch die europäische Entwicklung. Wenn man in diese Systematik eingreift, sollte man an alle neuen Entwicklungen denken.
Wenn man schon aufräumt, sollte man auch richtig aufräumen und nicht nur punktuell und den Rest liegen lassen.
({5})
Im Falle einer ersatzlosen Abschaffung der Gesetze
gibt es eindeutige Gewinner: Das sind die großen Unternehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich schon sagen - ich will aber keine falschen Popanze aufbauen -,
dass ich als jemand, der zu kleinen Unternehmenseinheiten und auch zu großer Nähe nach unten sowie zum Subsidiaritätsprinzip Ja sagt, bei folgendem Umstand hellwach werde: Je größer einer im Markt ist, umso heftiger
ist sein Begehren danach, dass dieses Gesetz fällt. Je kleiner er im Markt ist, umso seltener ist das zu hören. Dies
muss alle, die die gleiche Denkweise haben, zumindest
neugierig machen. Was steckt dahinter, dass bei den
großen Unternehmen die Abschaffung dieser Gesetze absolute Priorität hat?
Das beste Beispiel dafür ist die Lufthansa AG. Dies ist
mittlerweile der Monopolbetrieb in Deutschland. Wir alle
merken das, wenn wir die Flugpreise zu zahlen haben.
Dieses Unternehmen war die Speerspitze dieser Aktion.
Das ist also schon interessant.
Herzlichen Glückwunsch auch an die cleveren Kunden, die die Vorteile, die sich nun ergeben, besser nutzen
können! Es gibt sehr vieles - neue Formen des Vertriebs
oder neue Marketingansätze -, das lebendig ist, schön ist
und Mut macht, weil es passt.
Es kann aber auch Verlierer geben. Ich sage das nicht
als Bedenkenträger, sondern aufgrund einer nüchternen
Analyse. Ich frage mich, ob die Verbraucher insgesamt
kurzfristig bzw. langfristig gewinnen oder verlieren. Es
muss die Frage gestellt werden: Was macht der Handel,
wenn diese Geschäfte abgeschafft sind? Es wird weniger
die Händler mit einem Massensortiment treffen - dort
fährt der Kunde mit dem Einkaufswagen zur Kasse und an
der Kasse kann nicht mehr gehandelt werden -, aber den
Facheinzelhandel, der mit qualifizierten Gütern handelt.
Wenn konsequent gehandelt wird und Schnäppchenjäger
20 bis 40 Prozent der Kundschaft ausmachen, so muss der
Einzelhandel darauf reagieren.
Ich will das Bemühen des Kunden nicht verteufeln,
aber man muss berücksichtigen, dass der Einzelhandel
entsprechend reagieren wird. Ich sage Ihnen: Der vorsichtige Kaufmann wird seine Preise rechtzeitig erhöhen,
um im Einzelfall größere Nachlässe geben zu können;
denn die Margen im Handel - wir haben in Deutschland
im Einzelhandel die geringsten Margen aller europäischer
Länder - sind nicht so groß und der Kaufmann kann bei
der Gewährung von Nachlässen nicht an seine Substanz
gehen.
({6})
Es gibt also nicht sehr viel Spielraum. Ich denke, das sehen diejenigen, die die Situation kennen, gleichermaßen.
Mittelständische Unternehmen haben etwas größere Probleme. Ich hoffe, sie sind kreativ genug, um die Veränderung aufzufangen.
In vielen Fällen gibt es eine Rechtsunsicherheit; dies
ist auch in den Anhörungen intensiv beklagt worden. Man
hätte sich in diesem Punkt eine größere Klarheit gewünscht. Über diese Frage haben aber weder der Wirtschaftsminister noch der Justizminister, der das Problem
hätte sehen müssen, nachgedacht. Es wird sicherlich viel
Arbeit auf die Gerichte zukommen. Das Kartellamt und
andere Stellen sagen ganz offen, dass die rechtlichen Unklarheiten durch die Rechtsprechung beseitigt werden
müssen. Man nimmt also einen erheblichen zeitlichen
Prozess in Kauf, in dem durch Gerichtsentscheidungen
die Klarheit herbeigeführt werden muss, die ein kluger
Gesetzgeber in Ansätzen schon hätte liefern können.
({7})
Der größte Verlust ist, dass wir so auf eine Harmonisierung des Lauterkeits- und Wettbewerbsrechts auf europäischer Ebene verzichten. Die geplante Aufhebung der
Gesetze wäre ein geeigneter Anlass gewesen, zeitgleich
eine Harmonisierung zu verfolgen. Wenn wir mit Vertretern der Regierung und Kollegen der Mehrheitsfraktionen
über dieses Thema reden, dann tun die so, als gäbe es
überhaupt kein Problem. Es gibt aber Probleme. Wir haben durch die geplanten Maßnahmen leider nicht mehr,
sondern tendenziell eher weniger an europäischer Einheitlichkeit erreicht,
({8})
denn wir werden erleben, dass die anderen Länder in Europa, die zum Teil vergleichbare Strukturen haben, unseren törichten Weg nicht gehen werden.
Nach Meinung der CDU/CSU hätten diese Probleme
vermieden werden können, wenn man sich rechtzeitig und
vernünftig mit diesen Fragen beschäftigt hätte. Es wären
bestimmt nicht alle Probleme lösbar gewesen, aber wenn
man 80 Prozent der Schwierigkeiten bewältigt hätte, wäre
das gut gewesen. Man hätte dann zugeben müssen, dass
die nicht gelösten Probleme zum Lebensrisiko bzw. zur
gesellschaftlichen Entwicklung gehören.
Es ist aber nicht einmal der Ansatz gemacht worden,
die Zahl der denkbaren Verlierer zu minimieren. Sie haben so getan, als gebe es keine Verlierer.
({9})
- Wenn ich sehe, wie sorgfältig der Wirtschaftsminister
bei der Verlängerung des Postmonopols, in großer Sorge
um diesen großen Monopolisten, handelt, und wie sorglos
er bei der Beseitigung der Vorschriften, über die wir diskutieren, vorgeht, wird mir klar, aus welchem Stall er
kommt. Er kommt aus einem riesengroßen Stall, der
VEBA.
({10})
Sein Denken ist nur in diesen Strukturen geschult. Gegenüber den Problemen der Kleinen hat er eine Hornhaut;
er hat keine Empfindlichkeit, kein Fingerspitzengefühl.
Man lässt die Dinge laufen und gibt sie an die Juristen.
Ich bin selber einer, verehrter Herr Pick, muss aber sagen:
Es handelt sich um ein wirtschaftspolitisches und kein
rechtspolitisches Thema. Deswegen gehören Sie eigentlich gar nicht hierher. Aber Frau Wolf durfte die Sache
nicht übernehmen.
Ich frage noch einmal: Wo sind wir bei der Wirtschaftspolitik hingekommen?
({11})
Wir sollten unsere Arbeitszeit in Bereiche investieren, in
denen die zuständigen Ministerien mitarbeiten, damit sich
unser Engagement lohnt. Bei diesem Thema argumentieren wir doch gegen Gummiwände. Wenn man hier diskutiert, hört man nicht einmal ein Echo. Das ist fürchterlich
demotivierend. Für eine Opposition mag das normal sein,
aber ich frage mich, wie Sie das als Mitglieder der Mehrheitsfraktionen aushalten. In diesem Punkt bewundere ich
Sie. Haben Sie gar keine Selbstachtung? Ist Ihnen Ihre Arbeit nichts wert? Packen Sie die Sache doch einmal an!
Das dürfen Sie doch nicht zulassen.
Die Zahl der Verlierer hätte also verringert werden
können. Seit zwei Jahren ist das Problem bekannt und ist
in dieser Zeit nicht angepackt worden. Völlige Fehlanzeige! Wir sind dafür, dass diese Spezialgesetze abgeschafft werden. Aber gleichzeitig wollen wir eine optimale Nützlichkeit erreichen. Wir wollen eine Präzisierung
von UWG und GWB. Wir beklagen, dass noch nicht einmal begonnen worden ist, darüber nachzudenken.
Was wollte der Handel? Damit keine Legendenbildung
entsteht, möchte ich nur in Erinnerung rufen - ich kann
hier nicht alle Zitate, die mir in diesem Zusammenhang
vorliegen, anführen; daher nur einige wenige -, was HDE
und ZDH in der diesbezüglichen Anhörung gesagt haben:
Auf der Anbieterseite steht zu befürchten, dass die
ersatzlose Streichung ... einem Verdrängungswettbewerb zulasten des Mittelstands Vorschub leistet.
Ein solches Argument muss man doch ernst nehmen.
Ein weiteres Zitat:
Folglich drohen im Bereich der Kundenbindungssysteme für den Mittelstand strukturell bedingte Benachteiligungen, die Verdrängungs- und Konzentrationsprozesse auslösen werden.
Das sind wörtliche Zitate. Da kann man doch nicht sagen: Das sind alles Spinner. - Die vertreten vielmehr berechtigte Interessen. Ein weiteres Zitat:
Das vorhandene Instrumentarium insbesondere im
UWG wird nicht ausreichen, um das erreichte Niveau an Verbraucherschutz zu halten.
Es war sehr interessant, dass in der letzten Anhörung
ausgerechnet Vertreter der Verbraucherschutzverbände,
die zunächst regierungsfromm waren, plötzlich beigedreht sind und gesagt haben: Ich glaube, wir haben uns
vertan. - Das war hochinteressant. Es gibt also vieles Interessantes in diesem Bereich.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit!
Ich muss also leider zum Schluss kommen. Dies ist ein solch schönes
Thema; das können Sie mir glauben. - Ich verzichte auf
die Wiedergabe der anderen mir vorliegenden Zitate und
weise nur noch auf Folgendes hin: Eine europäische
Chance ist verpasst worden. Die Schadenseingrenzung
bei einer solchen Operation ist nicht intelligent angepackt
worden. Deswegen sagen wir - auch wenn mein erster
Satz lautete: „Diese Gesetze müssen weg“ -: Wir werden
Ihrem Entwurf eines Gesetzes zur ersatzlosen Streichung
des Rabattgesetzes nicht zustimmen, sondern werden
uns enthalten. Wir bitten Sie, unserem Antrag, der seit
geraumer Zeit vorliegt, und der all das, was ich vorgetragen habe, viel präziser und viel schöner beinhaltet und
schriftlich beweist, zuzustimmen. Tun Sie etwas Gutes!
Lassen Sie uns auf keinen Fall weiterschlafen,
({0})
sondern ab sofort die Regierung beauftragen, die von uns
aufgezeigten Probleme beherzt anzugehen! Bewegen Sie
sich! Dies wäre gut für die Verbraucher und den Mittelstand in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort für das
Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt
schaffen wir einmal zwei Gesetze ab, die 65 Jahre alt sind,
und ausgerechnet die CDU/CSU sagt in Tateinheit mit der
PDS: Das sollten wir lieber nicht tun. Das ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. Denn ich habe die heutigen wirtschaftspolitischen Debatten sehr genau verfolgt. Dabei
habe ich gehört, dass Sie uns vorwerfen, wir würden nicht
genug deregulieren, sondern würden zu viele Gesetze machen. Jetzt schaffen wir zwei ab, von denen alle vernunftbegabten Menschen sagen, dass sie so überflüssig seien
wie ein Kropf. Aber was machen Sie? - Sie sagen: Wasch
mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Schafft die Gesetze ab, aber schafft in anderen Gesetzen Regelungen,
die diese Wirkung zunichte machen!
({0})
- Doch, das ist der Kern Ihres Arguments.
Ich finde es richtig, dass wir diese Gesetze abschaffen.
Von den vielen Stellungnahmen, die im Rahmen der diesbezüglichen Anhörung vorgelegt worden sind, sind die
Einzigen, die sich dagegen ausgesprochen haben, diejenigen, die ganz offenkundig fürchten, im rauen Wind des
Wettbewerbs eine kalte Nase zu bekommen. Der raue
Wind ist aber das Wesen des Wettbewerbes.
Nun noch zu der Frage, ob man die Verbraucher vor
sich selber schützen muss, was für mich ein besonders
bizarres Argument ist. Es gibt längst eine Änderung des
Verbraucherselbstbewusstseins. Die Verbraucher sind anspruchsvoller geworden. Sie haben gerade so abfällig von
Schnäppchenjägern gesprochen. Aber was sind das denn
für Menschen? Das sind offenkundig solche, die keine
Gesetze mehr brauchen, um Preistransparenz zu haben,
({1})
sondern die diese selber herstellen. Was erzählen Sie uns
also hier, man müsse irgendwelche armen, bedauernswerten Verbraucher davor schützen, dass man ihnen günstige
Preise und Zugaben anbietet! Das finde ich wirklich
abenteuerlich.
({2})
Die Verbraucher haben die Geschicke längst selber in
die Hand genommen. Das Bild von der armen, alten Oma,
die man in Verbindung mit einem kostengünstigen Angebot eines VW Golf dazu verführt, einen Internetanschluss
zu kaufen,
({3})
und all das, was Sie in diesem Zusammenhang erzählt haben, ist wirklich Unsinn. Ich glaube, für diese Art der Bevormundung des Verbrauchers durch Sie hat niemand
Verständnis. In Wirklichkeit geht es Ihnen nicht um die
Verbraucher, sondern darum, sie als Tarnkappe zu benutzen, um damit zu verdecken, dass es Ihnen eigentlich um
mittelständische Interessen und um die Interessen derjenigen geht - das haben Sie heute in ihrer Rede in dankenswerter Offenheit, wie ich finde, gesagt -, die sich davor fürchten, dass die Lage im Rahmen dieses
Wettbewerbes für sie schwieriger wird. Man muss sich
einmal ansehen, ob sich der Wettbewerb wirklich so
ruinös auswirkt, wie es von einigen behauptet wird, die
sich offensichtlich vor jeder Veränderung fürchten. Die
Unternehmen stehen doch längst in einem europäischen
Wettbewerb und deswegen sind diese Gesetze so bizarr;
denn dadurch werden sie daran gehindert, mit ihren europäischen Konkurrenten mitzuhalten. Diese Möglichkeiten wollen wir ihnen durch die Abschaffung der Gesetze
bieten.
Natürlich werden wir noch Regelungen vorsehen müssen
- das hat der Staatssekretär schon ganz deutlich gesagt -,
damit die europäische Harmonisierung vorankommt.
Aber es ist nun wirklich der allererste Schritt, den Unternehmen die Fesseln, die wir ihnen bislang mit den beiden
Gesetzen angelegt haben, abzunehmen.
Das Internet fördert eine Internationalisierung des
Wettbewerbs; das ist eine gute und in jeder Hinsicht
unterstützenswerte Entwicklung. Die Grenzen verschwinden, die Produkte und die Dienstleistungen werden weltweit gehandelt. Hier muss man auf allen Ebenen - Stichwort E-Commerce-Richtlinie - dafür Sorge tragen, dass
die positiven Wirkungen, die das Internet hat, von den Unternehmen auch genutzt werden können. Auch deswegen
ist es so unglaublich wichtig, dass diese beiden vorsintflutlichen Gesetze endlich fallen. Dann nämlich können
deutsche Anbieter all das machen, was die anderen schon
längst machen.
({4})
Dann noch zu der Frage, ob man hier die armen kleinen und mittleren Unternehmen vor den gefräßigen
großen Unternehmen schützen muss. Das Verrückte ist
doch, dass die großen Unternehmen, weil sie groß und
stark sind, über die Fähigkeit verfügen - dieses System
haben Sie selbst mit dem Hinweis, was die Lufthansa anHartmut Schauerte
belangt, angesprochen -, die bestehende Gesetzeslage so
weit zu dehnen, dass sie sie weitestgehend in ihrem Interesse nutzen können. Ist es denn richtig, dass die kleinen
und mittleren Unternehmen, die sogar viel flexibler sind,
daran gehindert werden, auf ähnliche Art und Weise mitzuhalten und sich dazu andere Zugänge zu verschaffen?
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung beibehalten würden,
({5})
wäre dies zum Nachteil gerade der kleinen und mittleren
Unternehmen. Ich finde, gerade Sie als Interessenvertreter des Mittelstandes sollten doch viel mehr Vertrauen in
die Fähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen haben, durch ihre besondere Stärke, nämlich ihre Flexibilität, auf den Märkten zu bestehen. Die Unternehmen wollen und sollen von einer Fessel befreit werden.
Ich meine, das Ergebnis der Anhörung war sehr eindeutig. Natürlich gab es noch einige wenige, die gesagt
haben, wir sollten dies nicht tun, allenfalls in Verbindung
mit Regelungen im UWG und auch im Kartellrecht, die
die eigentlich beabsichtigte Wirkung wieder verhindern.
Aber insbesondere das Kartellamt hat sich ausdrücklich
dagegen ausgesprochen.
({6})
Bei einigen wurde auch deutlich, dass ihre Argumente
sehr stark interessengeleitet sind.
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung hier die
Position derjenigen Unternehmen eingenommen hat, die
sich zutrauen, auf dem Markt zu bestehen, und die diesen
Kampf gern aufnehmen wollen. Damit hat sie sich auch
auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher gestellt.
Ich bin stolz darauf, dass die Bundesregierung über einen Wirtschaftsminister verfügt, der hierfür engagiert
gekämpft hat. Er war wesentlich engagierter als Sie, die
Sie heute mehr Zeit und Mühe dafür verwandt haben, darüber zu reden, warum er heute - er hat andere wichtige
Termine - nicht auf der Regierungsbank sitzt. In diesem
Sinne ist es ein guter Tag für die deutsche Wirtschaft und
die deutschen Verbraucher, wenn wir diese Gesetze endlich abschaffen.
({7})
Das Wort hat nun die
Kollegin Gudrun Kopp für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wenn es je einen Bundeswirtschaftsminister gegeben hat, der vehement für die Abschaffung dieser beiden Vorschriften gekämpft hat, dann
war es Günter Rexrodt,
({0})
und zwar schon vor vielen Jahren. Das muss man auch
einmal sehen. Aber sei es drum.
Sie wissen, dass wir über dieses Thema - ich stehe
heute zum vierten Mal dazu am Rednerpult - Ende des
letzten Jahres heiß debattiert haben. Im November des
Jahres 2000 lagen hier nämlich die beiden Anträge - inhaltsgleich mit den Anträgen, die heute von der Regierung
vorliegen - auf dem Tisch. Rot-Grün aber hat hier noch
vor wenigen Wochen unseren Antrag auf Abschaffung des
Rabattgesetzes abgelehnt.
({1})
Ich finde es trotzdem sehr gut, dass wir heute wieder
über dieses Thema reden, und sage Ihnen, dass wir der
Abschaffung, der ersatzlosen Streichung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung zustimmen werden.
({2})
Darüber hinaus liegt heute ein Gesetzentwurf der F.D.P.Fraktion auf Anpassung des deutschen Zugaberechts an
die entsprechende EU-Richtlinie vor, über den wir uns, so
glaube ich, in der Sache ebenfalls einig sind.
Die Realitäten haben sich verändert. Noch nicht durchgesetzt hat sich im Deutschen Bundestag nach meiner
Auffassung aber die Erkenntnis - daran müssen sich viele
erst noch gewöhnen -, dass im Zentrum der Deregulierung und der Wettbewerbspolitik der Verbraucher stehen
muss. Wirtschaft und Handel sind also in erster Linie für
die Verbraucher da. Wir sind davon überzeugt, dass die
Verbraucher genauso wie die kleinen, mittelständischen
und die großen Unternehmen davon profitieren werden.
Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es ein neues, modernes Marktgeschehen gibt, das nicht mehr nach alten
Regeln funktioniert. Darauf haben wir uns einzustellen,
ob es uns passt oder nicht.
Wir wollen natürlich nicht, Herr Schauerte, dass es
viele Verlierer gibt, sondern wir möchten, dass alle profitieren. Auch wir beobachten das Geschehen, aber glauben, dass - dies zeigte, wie Frau Fischer schon gesagt hat,
auch die Aussage des Vertreters des Bundeskartellamtes
in der letzten Anhörung - der bestehende rechtliche Rahmen ausreichen müsste, um Wucher, Irreführungen usw.
zu verhindern. Wir sollten jetzt durch die Abschaffung
von Gesetzen - endlich haben wir Deregulierung - nicht
wieder neue Bürokratien aufbauen und zusätzliche ergänzende Regelungen schaffen.
({3})
Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Sollte sich herausstellen, dass der rechtliche Rahmen nicht ausreicht,
werden wir selbstverständlich bereit sein, über andere
Regelungen nachzudenken. Aber lassen Sie uns jetzt einen mutigen Schritt in Richtung Deregulierung und
mehr Wettbewerb, hin zu modernen Verkaufsformen,
gehen. Das brauchen auch unsere Anbieter, nicht zuletzt
unsere Internet-Anbieter, die im Augenblick diskriminiert
werden, weil sie bei dem nicht mithalten können, was europaweit und weltweit derzeit möglich ist.
Andrea Fischer ({4})
Ich habe Sie so verstanden, Herr Schauerte, dass die
CDU/CSU-Fraktion nicht mehr darüber nachdenkt, einen
Zwischenschritt einzulegen. Ursprünglich hatten Sie eine
Übergangsfrist von einem Jahr vorgeschlagen.
({5})
Das scheint jetzt vom Tisch zu sein. Das finde ich sehr gut.
Für die F.D.P. kann ich auch nur sagen, dass ein solcher
Zwischenschritt niemandem nützte.
({6})
Wir sollten jetzt also beherzt diesen Schritt wagen, wobei
ich glaube, dass wir dazu gar nicht sehr viel Mut brauchen.
Im Übrigen erinnert mich die Diskussion darüber, ob
wir einen Schritt nach vorn gehen sollten oder nicht, an
das Dauerthema Ladenschluss, bei dem wir leider noch
nicht viel weiter sind. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion
möchte auch hier niemandem am Markt Vorschriften machen. Niemand muss die Öffnungszeiten ausweiten; aber
wir wollen doch den Bedürfnissen der Anbieter und der
Verbraucher gerecht werden. Ich hoffe, dass wir auch bei
diesem Thema noch weiterkommen. Die Diskussion um
das Ladenschlussgesetz entspricht spiegelbildlich der,
die wir heute führen. Ich hoffe, dass das Lernen von der
Realität uns alle einen Schritt weiter bringen wird.
Für die F.D.P.-Fraktion ist es heute ein Tag der Deregulierung. Ich freue mich ganz besonders darüber, dass
wir die Sache mit weniger Bürokratie und mit weniger
Regeln angehen. Wir sollten dem Verbraucher, den wir
sonst immer als mündig bezeichnen, auch künftig zutrauen, dass er selbst beurteilen kann, ob er über den Ladentisch gezogen werden soll, ob also ein Angebot seriös
ist oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass auch Verbraucher wissen, dass niemand etwas zu verschenken hat.
Jede Ware hat ihren Preis. Der Verbraucher weiß selbst,
was für ihn gut ist. Dies ist, wie gesagt, ein guter Tag für
Wettbewerb und Deregulierung; die F.D.P.-Fraktion wird
der Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung selbstverständlich zustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Nun hat Herr Kollege
Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere klare Position lautet: Rabatte
und Zugaben gehören zum Handel. So weit, so gut. Aber
ich denke, die Koalition macht es sich zu einfach, wenn
sie nach dem Motto „Augen zu und durch; keiner weiß,
was passiert, aber die Gerichte werden es schon richten“
verfährt. Die Anhörung am Montag hat zumindest uns
verdeutlicht, dass der heutige Beschluss möglicherweise
fatale Entwicklungen auslöst, und zwar für viele kleinere
Einzelhändler und auch für viele Kunden. Darüber sind
wir unterschiedlicher Auffassung, obwohl wir in der gleichen Anhörung waren. Ich habe schon oft festgestellt:
Man kann das Gleiche hören und trotzdem etwas anderes
verstehen.
Die Großkonzerne - das ist mir klar - werden ausgefeilte Rabattkartensysteme einführen, die sich am Gesamtumsatz orientieren; denn sie können ihrem Personal
ja nicht erlauben, sich mit den Kunden auf das Feilschen
um einzelne Preise einzulassen. Aber natürlich wollen
Metro & Co. auch Kunden binden, wozu sie auch die Finanzkraft haben. Vor allen Dingen lassen sie sich die
große Chance auf den gläsernen Kunden nicht entgehen.
So viele und vor allem so exakte Daten über das Einkaufsverhalten wie mit Kundenkarten lassen sich mit keiner Kundenbefragung beschaffen. Rabattkarten kosten
nur etwas Geld. Aber für den Ausgebenden sind sie bares
Geld wert.
Nur, mit den Rabattkarten bleibt - Preisangabenverordnung hin oder her - die Preiswahrheit und auch
die Preisklarheit auf der Strecke. Der Preis an der Ware
selbst sagt schließlich gar nichts mehr aus, wenn man
bei 5 000 DM Umsatz in der Ladenkette 5 Prozent, bei
10 000 DM aber vielleicht 10 Prozent Rabatt am Jahresende bekommt. Niemand wird mehr durchblicken, erst
recht nicht, wenn die Ware auch noch mit allerlei Zugaben zu Paketpreisen angeboten wird. Das auszusprechen
heißt übrigens nicht, den Bürger oder Kunden zu entmündigen. Ich möchte nur auf eine Sache aufmerksam machen: Am Ende ist vielleicht der zuerst lachende Kunde
dann doch der Abgezockte. Was ist mit den kleinen Händlern? Auch die müssen sich auf Kundenfang begeben;
denn auch bei ihnen wird auf Teufel komm raus gefeilscht
werden. Sie müssen das - bei Strafe ihres Untergangs mitmachen; denn für Rabattkarten fehlt ihnen die wirtschaftliche Puste.
Ich möchte - Herr Pick hat es schon vorhin angesprochen - hier auch noch an die Aussagen des Betreibers von
Kartensystemen für mittelständische Werbegemeinschaften erinnern. In der Anhörung wurde gesagt, man brauche
mindestens einen Teilnehmer, der zunächst einen fünfstelligen Betrag auf den Tisch legt, damit so ein System
überhaupt anlaufen kann. Es rechnet sich nur, wenn es
jedem Händler mindestens 5 Prozent Umsatzzuwachs
beschert. Jetzt frage ich Sie, die Sie auch immer Statistiken lesen: Wann hat es in den letzten Jahren eine Statistik gegeben, die einen Umsatzzuwachs von 5 Prozent im
Einzelhandel ausgewiesen hat? Ich kann mich an keine
solche Statistik erinnern. Wir sollten uns also nichts vormachen und die Realitäten zur Kenntnis nehmen.
({0})
Damit wäre klar, dass die heile Welt von Danova in Eichstätt nur funktioniert, solange sie ein Einzelfall bleibt.
Denn woher soll bei 16 000 Einwohnern ein Umsatzzuwachs von 5 Prozent kommen, wenn weitere Rabattsysteme eingeführt werden?
Eines gestehe ich SPD, Bündnisgrünen und F.D.P.
schon zu: Es bleibt eine Glaubensfrage, ob die Gerichte
bei den absehbaren Exzessen im Rabatt- und ZugabenGudrun Kopp
kampf das bestehende GWB und UWG so interpretieren,
wie wir uns alle das erhoffen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, ob das Bundeskartellamt tatsächlich, wie am
Montag angekündigt, „payback“ verbietet, sobald das Rabattgesetz gefallen ist, und vor allem, wie dann die
Richter entscheiden werden, deren Urteilstenor bisher ein
ganz anderer war. Ungewisse Zeiten stehen Händlern wie
Konsumenten bevor. Diese zu verkürzen und nichts anderes ist das Anliegen der von meiner Fraktion eingebrachten zwei Änderungsanträge, die wir als Ergänzungsanträge verstehen.
Frau Fischer, Sie haben gesagt, das Wesen des Wettbewerbs sei es, dass ein rauer Wind weht. Ich habe bisher gedacht, in zehn Jahren gelernt zu haben, dass das Wesen des
Wettbewerbs in der Chancengleichheit besteht und dass
dafür entsprechende Regelungen geschaffen werden müssen. Ich würde nie auf die Idee kommen, im Boxen einen
Leichtgewichtler gegen einen Schwergewichtler antreten
zu lassen. Wir sollten das bei kleinen und großen Unternehmen vielleicht ähnlich halten.
({1})
Das Vorgehen der Koalition erstaunt insofern, als Sie
sich gerade auf einem anderen Gebiet gesetzgeberisch mit
den Folgen einer unausgegorenen Liberalisierung herumplagen müssen. 1997, als das Energierecht novelliert wurde,
bewiesen Sie nahezu hellseherische Fähigkeiten. Sie sagten
- damals waren Sie noch in der Opposition - das Drama um
die heutige Kraft-Wärme-Kopplung voraus. Eigentlich hätten Sie dadurch doch klüger werden müssen. Die Einsicht
ist bei Einzelnen durchaus vorhanden. Aber Ihnen fehlt der
Mut, entsprechenden Anträgen zuzustimmen.
Kurzum: Wir halten es für notwendig, dass die zu beschließende Liberalisierung im Handel noch ein paar stabile Leitplanken erhält.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun die
Kollegin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, ich stelle fest, dass Sie sich heute bei
der Abstimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur ersatzlosen Streichung von Rabattgesetz und
Zugabeverordnung enthalten. Angesichts dessen, Herr
Schauerte, ist es schon eine kleine Unverschämtheit, dass
Sie die Anwesenheit des Ministers fordern. Ganz nebenbei möchte ich erwähnen, dass entweder Staatssekretär
Bei der
Qualität Ihrer Kritik muss der Minister wahrlich nicht anwesend sein.
({0})
Herr Schauerte, ich muss Ihnen auch noch Folgendes
mit auf den Weg geben: Sie fragen, was das BMJ hier
überhaupt mache, die Streichung liege doch eigentlich
in der Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums. Sie als
Jurist sollten wissen, dass diese Aufteilung schon rein administrativ gegeben ist. Das Rabattgesetz fällt in die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums und die Zugabeverordnung in die des Justizministeriums. Sollten Sie
nachher noch Fragen haben, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
({1})
Wofür ich also kein Verständnis habe, ist, wie Sie hier
manövrieren: Sie kommen hierher, kritisieren, was vorgeschlagen wurde, nämlich die ersatzlose Streichung von
Rabattgesetz und Zugabeverordnung, und haben dann
auch noch die Stirn, sich zu enthalten. Entscheiden Sie
sich doch bitte einmal! Wenn Sie unser Vorhaben kritisieren, dann müssen Sie es auch ablehnen. Scheinbar
trauen Sie sich aber nicht. Ich muss Sie fragen: Steht bei
Ihnen eigentlich die Sachdebatte im Vordergrund oder
manövrieren Sie aus reinem Oppositionskalkül? Sie können sich nicht entscheiden und sich offenbar auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion nicht durchsetzen; deshalb
enthalten Sie sich. Das finde ich eigentlich sehr schade.
({2})
Auch aus anderen Gründen haben wir für Ihr Verhalten
kein Verständnis. Es gibt nämlich die E-CommerceRichtlinie der EU, die bereits jetzt den elektronischen Geschäftsverkehr auf europäischer Ebene regelt. Sie wissen
ganz genau, dass wir überdies das Herkunftslandprinzip
haben, welches besagt, dass der deutsche Anbieter an das
nationale Rabattgesetz gebunden ist. Wir wissen alle, dass
das deutsche Rabattgesetz wahrscheinlich eines der striktesten - um nicht zu sagen: das strikteste - in ganz Europa
ist.
({3})
Mit anderen Worten: Deutsche Anbieter werden bei
Untätigkeit Nachteile gegenüber der ausländischen Konkurrenz haben. Dieses würden Sie einfach weiterhin so
hinnehmen. Das können wir aus wirtschaftspolitischer
Sicht nicht akzeptieren.
({4})
Unserer Meinung nach werden deutsche Unternehmen
durch die unzeitgemäße Vorschrift schlicht und ergreifend
diskriminiert. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben,
dass Sie ganz genau wissen, dass die Regelungen des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung in der Praxis
schon seit Jahrzehnten unterlaufen werden. Wer von uns
kauft denn ein Auto und fragt nicht nach, ob man noch
einmal über den Preis reden könnte?
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
CDU/CSU, jetzt hätten Sie die Gelegenheit und die
Chance, dazu beizutragen, dass die Gesetzgebung mit der
Praxis gleichzieht. Was aber machen Sie? - Sie verweigern sich! In unseren Augen tun Sie dies zulasten der
Wirtschaft.
({6})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der in der
gestrigen Debatte laufend genannt wurde, nämlich, dass
Sie als CDU/CSU so vehement für den Bürokratieabbau
einstünden.
({7})
- Herr Schauerte, ich möchte Sie kurz daran erinnern:
Das, was wir gerade vorhaben, ist die Abschaffung eines
Gesetzes und somit ein Beitrag zum Bürokratieabbau und
zur Deregulierung. Warum stimmen Sie denn nicht zu?
({8})
- Apropos Schularbeiten: Sie haben ja sogar noch eine
einjährige Übergangsfrist - sozusagen zur Vorbereitung
der Unternehmen auf die Situation - gefordert. Wir haben
es bereits erwähnt: Es gibt zum Beispiel beim Verkauf
über das Internet momentan eine Benachteiligung der
deutschen Unternehmen. Sie aber haben die Stirn und fordern eine einjährige Übergangsfrist. Das würde doch bedeuten, dass sich die Benachteiligung unserer Unternehmen noch über einen längeren Zeitraum hinzöge.
({9})
Glücklicherweise haben Sie jetzt auf diese Forderung verzichtet.
({10})
- Herr Schauerte, Sie haben ihn nach der Anhörung
zurückgenommen. Als Sie vorhin über die Anhörung
sprachen, das muss ich Ihnen gestehen, habe ich mich gefragt, ob wir wirklich in der gleichen Anhörung waren.
Ich möchte noch einmal auf die Anhörung im
Herbst 2000 zurückkommen: Es waren 70 Verbandsvertreter anwesend, die sich mit überwältigender Mehrheit
für die ersatzlose Streichung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ausgesprochen haben. Bei der Anhörung
am letzten Montag kam - offen gestanden - kein einziges
neues Argument. Wir haben uns die ganze Zeit gefragt,
warum Sie den Prozess der Abschaffung verzögern.
Sie haben noch zwei weitere Punkte angesprochen.
Erstens fordern Sie die Harmonisierung des Lauterkeitsrechts auf europäischer Ebene. Da waren wir von
Anfang an Ihrer Meinung; das ist überhaupt keine Frage,
wir haben da keine Differenzen. Aber eines kann nicht
sein: Wir können nicht darauf warten, bis wir uns auf
europäischer Ebene einigen - wir alle wissen, wie lange
es dauert, Kompromisse auf europäischer Ebene zu erzielen - und so lange die Nachteile für deutsche Anbieter einfach hinnehmen. Das heißt für uns: Wir werden die Benachteiligung deutscher Anbieter abschaffen und mit
Nachdruck eine Harmonisierung des Lauterkeitsrechts
auf europäischer Ebene anstreben.
({11})
Zweitens möchte ich noch einmal auf einen Punkt zu
sprechen kommen, der die Kundenbindungssysteme tangiert - auch da hatten wir doch ähnliche Vorstellungen -:
Es ist für uns sehr wichtig, dass gerade Mittelstand und
Einzelhandel - in den Verbandsgemeinden, in den Mittelzentren - keine Benachteiligung durch die ersatzlose
Streichung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung erfahren. Sowohl Rabattgesetz als auch Zugabeverordnung
stehen doch aber unter der Rahmengesetzgebung des
UWG, des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb.
Das heißt, hier wird wirklich nur ein Teilgesetz ersatzlos
gestrichen. Für den Fall, dass Preistransparenz nicht gegeben sein sollte oder dass sich aufgrund der ersatzlosen
Streichung wirklich strukturelle Veränderungen ergeben
sollten, haben wir - schon vor Monaten - im BMJ eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die genau diesen Punkt noch einmal erforschen wird. Sollte es wirklich zu Nachteilen für
den Mittelstand kommen, werden wir selbstverständlich
im UWG die Konsequenzen ziehen und die Gesetzgebung
entsprechend anpassen.
In diesem Sinne kann ich Sie nur bitten: Seien Sie doch
ehrlich! Ringen Sie sich durch, manövrieren Sie nicht hin
und her und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, der
ersatzlosen Streichung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung! Wir tun damit wirtschaftspolitisch das Richtige, auf der einen Seite für den Mittelstand, auf der anderen Seite aber auch für den Kunden, den Verbraucher.
Beide werden Vorteile daraus ziehen. Wir werden ganz
konsequent unsere Reformpolitik in diesem Bereich fortsetzen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun für
die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dagmar Wöhrl.
Liebe Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich habe wirklich das Gefühl,
die politische Gestaltung dieser Bundesregierung besteht
nur aus Nachbessern. Das hat man die ganze Zeit gesehen.
Gänzlich undurchdachten, verkorksten Regelungen wird
durch Nachbesserung ein wenig die Schädlichkeit genommen, aber dadurch werden sie noch lange nicht gut.
Das war früher schon so beim 630-Mark-Gesetz, bei der
Rentenreform, bei der Steuerreform und bei vielen anderen Dingen.
Auch dieses Mal machen Sie es wieder. Wir sind erneut
in der gleichen Situation: Erst einmal abschaffen - und
Birgit Roth ({0})
dann „Schau’n mer mal!“. Aber dass es durch diese Abschaffung zu weit reichenden Strukturveränderungen im
deutschen Einzelhandel kommen kann, wird nicht beachtet.
({1})
Wenn Sie merken, dass es der falsche Weg sein könnte,
dann ist es wahrscheinlich schon zu spät; denn ein mittelständisches Fachgeschäft, das einmal pleite ist, kommt
nicht mehr auf den Markt zurück.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zu verantwortungsvoller Gesetzgebung gehört auch das Abschätzen von Folgen. Das heißt, bei der Abschaffung von geltendem Recht muss man sich fragen: Erstens. Welche
Funktion hat eine Vorschrift? Zweitens. Kann man auf sie
tatsächlich ersatzlos verzichten?
Welche Funktionen hatten das Rabattgesetz und die
Zugabeverordnung? Vor allem ging es um den Schutz des
Verbrauchers vor irreführender Preisgestaltung. Ja, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren heute über den
Verbraucherschutz. Ich glaube, das ist bei Ihnen noch
nicht angekommen. Eines ist interessant: Wir haben jetzt
eine Verbraucherschutzministerin, aber von ihr habe ich
noch kein einziges Wort zu diesem Gesetz gehört, geschweige denn, dass sie hier anwesend wäre.
Sie wissen ganz genau, dass der Handel zu den gebeutelten Branchen zählt. Die Gewinnspannen in diesem Bereich werden immer geringer. Für die meisten Unternehmen gibt es keinen Spielraum für Rabatte. Was wird die
Folge sein? Die Preise müssen angehoben werden. Es
wird Mondpreise geben, die man durch diese Gesetze eigentlich verhindern wollte.
Ich hoffe, dass Sie dann im Januar nicht kommen und
beklagen, dass der Handel im Zuge der Euro-Einführung
die Preise erhöht hat. Aus einem anderen Grund werden
die Preise schon im Herbst erhöht werden, nämlich aufgrund der Abschaffung des Rabattgesetzes.
({2})
Wie wollen Sie denn einzelne Verbraucher schützen? Laut
Umfragen haben ältere Menschen Angst vor der Abschaffung des Rabattgesetzes.
({3})
Sie sagen: Wir wollen nicht handeln und feilschen. Diese
werden es sein, die zukünftig die Mondpreise bezahlen
werden.
Rabattgesetz und Zugabeverordnung hatten aber noch
eine zweite Funktion, nämlich die, den mittelständischen
Fachhandel vor Verdrängungswettbewerb zu schützen.
Wir wissen, dass in den Schubladen der großen Handelskonzerne Pläne für neue Kundenbindungssysteme, also
andere, als es bisher schon gibt, lagern. Zukünftig wird
der einzelne Verbraucher durch die vielen Rabatte und die
neuen Bonusse, die es auf dem Markt geben wird, das
Angebot des Fachhandels nicht mehr klar erkennen können. Kostenintensive Kundenbindungssysteme beinhalten Verdrängungspotenziale; gestaffelte Jahresumsatzrabatte haben eine gewaltige Sogwirkung. Das sehen Sie
überall; das hat auch die Anhörung ergeben.
Verstehen Sie uns nicht falsch: Wir haben nie behauptet, es müsse alles so bleiben, wie es ist. Ihr Fehler liegt
auch nicht darin, dass Sie das Rabattgesetz abschaffen
wollen, Ihr Fehler liegt vielmehr darin, dass Sie es ersatzlos abschaffen wollen. Es gibt durchaus konkrete Vorschläge vom ZDH, vom Einzelhandelsverband und von
anderen Verbänden, wie man gegen missbräuchliche und
schädliche Rabatt- und Zugabepraktiken vorgehen kann,
zum Beispiel durch Aufnahme zusätzlicher Regelungen
ins UWG. Sie aber haben sich mit diesen Vorschlägen
überhaupt nicht auseinander gesetzt. Sie haben sich überhaupt nicht dafür interessiert.
({4})
Wenn Sie, liebe Kollegin Roth, richtig zugehört hätten
- Sie sind ja vorzeitig aus der Anhörung gegangen -, dann
hätten Sie auch mitbekommen, dass das GWB nur Absprachen zwischen den Mitbewerbern verbietet und dass
der § 1 des UWG nicht ausreicht, um schädliche Praktiken
zu verhindern. Auch das Bundeskartellamt hat darauf
ausdrücklich hingewiesen, indem es gesagt hat, dass sich
die Rechtsprechung hier erst noch entwickeln muss. Das
dauert zwei bis drei Jahre. Das heißt, wir werden uns zwei
bis drei Jahre in einem rechtsfreien Raum bewegen, innerhalb deren keiner weiß, was eigentlich Sache ist.
({5})
Wir als Gesetzgeber tragen Verantwortung. Sie, die die
Regierung stellen, müssen dieser Verantwortung gerecht
werden. Sie können nicht sagen, dass für irgendwelche
schädlichen Nebenwirkungen zukünftig die Gerichte zuständig seien. Wir als Gesetzgeber sind zuständig, von
vornherein mögliche negative Folgen bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Auch hier zeigt sich wieder etwas, das sich wie ein roter Faden durch Ihre ganze Politik
zieht: Der Mittelstand ist für Sie nicht existent. Es werden
Gesetze gemacht, bei denen die Auswirkungen auf den
Mittelstand nicht beachtet werden - sei es jetzt letzte Woche das Gesetz zur betrieblichen Mitbestimmung oder
heute die ersatzlose Abschaffung des Rabattgesetzes.
Wenn Sie den Wachstumsmotor Mittelstand weiterhin so
abwürgen, wie Sie es in letzter Zeit gemacht haben, dann
brauchen Sie sich nicht wundern, wenn die Konjunktur
weiter den Bach heruntergeht.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhebung des Rabattgesetzes und zur Anpassung anderer
Rechtsvorschriften auf Drucksache 14/5441.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/6459, den Gesetzentwurf anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/6849 vor, über den wir zuerst
abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
PDS? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist
der Änderungsantrag abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen
und Enthaltungen aus der CDU/CSU und bei Enthaltung
der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 b. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Aufhebung der Zugabeverordnung und zur Anpassung
weiterer Rechtsvorschriften auf Drucksache 14/5594. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6469 die Annahme des
Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Dazu liegt wiederum ein Änderungsantrag der PDS auf Drucksache
14/6490 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung
der PDS sowie einer Enthaltung aus den Reihen der
CDU/CSU ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei drei Gegenstimmen aus
den Reihen der CDU/CSU sowie bei Stimmenthaltung der
PDS ist der Gesetzentwurf angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
F.D.P. zur Anpassung des deutschen Zugaberechts an die
EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr
auf Drucksache 14/4424. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/6469, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 21 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/6463 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Innovation und fairer Wettbewerb im Handel nach Abschaffung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5751 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Sperrzeiten für Gaststätten und Biergärten
kundenfreundlicher gestalten
- Drucksache 14/6188 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! „Deutschland - nix wie
hin“ heißt das Motto des Jahres des Tourismus, das von
der Bundesregierung ausgerufen wurde. Aber wenn die
Gäste kommen und abends, gerade bei einem so herrlichen Wetter wie heute, deutsche Gemütlichkeit genießen
wollen, dann heißt es um 22 Uhr: „Nix wie weg!“ Das
kann nicht sein. Deshalb haben wir heute diese Initiative
eingebracht. Wir haben sie auch eingebracht, weil wir sie
als Teil eines umfassenderen Konzeptes mit dem Ziel,
den Tourismusstandort Deutschland dienstleistungsfreundlicher und attraktiver zu machen, begreifen.
({0})
Dazu gehört ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wir
haben dazu schon viele Vorschläge gemacht. Ich erinnere
an die Initiative zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung, an die Forderung, für die Hotellerie einen reduzierten Mehrwertsteuersatz einzuführen, aber auch
- übergreifender - daran, die Steuerreform mittelstandsfreundlich zu gestalten und die weiteren Stufen vorzuziehen, Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
zu ergreifen bis hin zu einem Thema, das auch heute
schon angesprochen wurde, nämlich die Abschaffung des
Ladenschlussgesetzes. All das sind Dinge, die unser Tourismusstandort Deutschland dringend braucht.
In diesem Zusammenhang machen wir heute zwei weitere Vorschläge, die, so denke ich, in der Diskussion ganz
wichtig sind.
Erstens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen
nicht ein, warum eigentlich Berlin regeln soll, wann Gaststätten schließen müssen. Deshalb wollen wir das Gaststättengesetz so ändern, dass die bisherige Regelung, dass
die Länder Sperrzeitenverordnungen machen müssen, gestrichen wird. Das sollten wir den Ländern und Kommunen überlassen. Die können das sehr gut alleine. Dazu
brauchen sie Berlin überhaupt nicht.
({1})
Ich verweise auf gute Beispiele in Baden-Württemberg
und in Rheinland-Pfalz, wo das wesentlich liberalisiert
wurde, wo Sperrzeiten wesentlich verkürzt wurden.
Der zweite Punkt, natürlich in dieser Zeit besonders
aktuell, betrifft die Außengastronomie, Straßencafés, BierVizepräsidentin Anke Fuchs
gärten. Meine Damen und Herren, zu einem florierenden
Stadtwesen gehört eine florierende Gaststättenkultur.
Attraktive Innenstädte bekommen wir erst dann, wenn wir
auch Außengastronomie haben, wenn wir diese Straßencafés und Biergärten haben. Diese Lokale tragen zur
Kommunikation bei. Sie sind Orte des Begegnens, oft
übrigens auch eine Oase im Grünen.
Die Menschen wollen aber heute nicht um 22 Uhr nach
Hause gehen, sondern sie möchten, wenn wir schon einmal ein paar schöne Tage haben, an denen das möglich ist,
auch länger bleiben. Die Menschen haben ein anderes
Ausgehverhalten, als das früher der Fall war. Das hat sich
geändert, und dann müssen wir als Gesetzgeber doch endlich darauf reagieren.
({2})
Wir müssen auch an die Wirte denken. Außengastronomie bedeutet einen hohen finanziellen Aufwand. Da
muss man auch Geld einnehmen können. Das kann ich
aber nicht, wenn ich so früh schließen muss. Deshalb lautet unsere Forderung: Wir müssen die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass auch die Außengastronomie, dass die
Biergärten wenigstens bis Mitternacht öffnen können.
Nun ist natürlich die Frage: Wie machen wir das? Es ist
völlig klar - ich weiß das -, das ist nicht ganz einfach. Der
Ansatz, um eine Stunde zu verlängern, stößt tatsächlich
auf Schwierigkeiten. Deshalb haben wir nach sehr genauer Prüfung einen anderen Ansatz gewählt. Dabei gehen wir eigentlich von einer ganz einfachen Überlegung
aus.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein,
dass wir reden, lachen, singen genauso bewerten wie das
Hämmern, das Bohren und das Sägen. Menschlicher
Lärm ist doch etwas Angenehmeres als Maschinenlärm;
das darf nicht gleich beurteilt werden.
({3})
Deshalb schlagen wir vor, eine Bundes-Immissionsschutzverordnung „Außengastronomie“ zu machen, so
wie wir übrigens bisher schon die 18. Bundes-Immissionsschutzverordnung „Sportstätten“ haben. Das geht
also sehr wohl. Wenn wir das machen, haben wir die Möglichkeit, dass auch diese Dinge vor Ort entschieden werden können und nicht an starren Regelungen aus Berlin
scheitern. Wenn wir dies machen, dann bekommen wir
übrigens auch mehr Rechtsfrieden. Ich sage Ihnen: Bei
den Konflikten, die es natürlich immer gibt, kommt es mir
darauf an, dass sie vor Ort entschieden werden, dort, wo
sie auftreten. Dort muss das auch zunehmend zu einem
Toleranzthema werden. Es kann doch nicht sein, dass wir
alles nur noch vor Gericht austragen.
({4})
Nein, Menschen müssen miteinander reden und miteinander Lösungen suchen.
Meine Damen und Herren, ich habe von den Regierungsfraktionen und von der Bundesregierung - von
Staatssekretär Mosdorf - den Hinweis bekommen, dass
die Regierung das gut findet; übrigens auch der Wirtschaftsminister. Es freut mich natürlich, wenn eine Initiative von uns von der Regierung begrüßt wird. Ich appelliere jetzt an die Regierung und die Regierungsfraktionen:
Lehnen Sie es nicht wieder nur deshalb ab, weil es von der
Opposition kommt, sondern sagen Sie: Jawohl, die F.D.P.
hat hier einen guten Vorschlag gemacht, wir machen das
mit.
Wenn Sie das tun, dann leisten Sie endlich einmal einen
Beitrag zur Stärkung des Tourismusstandortes Deutschland und dann sorgen Sie dafür, dass bei uns die Gäste und
wir alle bei schönem Wetter - heute Abend dürfen wir es
noch nicht, aber möglichst bald - auch nach 22 Uhr bis
Mitternacht befreit lachen können. Ich bitte Sie um Ihre
Mitarbeit und Zustimmung.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eben von einem Kollegen
gefragt worden, auf welchem Kanal jetzt die Übersetzung
läuft, weil nicht allen Kolleginnen und Kollegen hier das
Bayerische so geläufig ist. Ich würde sagen, sie läuft auf
dem Kanal Weiß-blau. Ich hoffe, dass Sie nicht nur meinen Dialekt verstehen können, sondern auch das, was ich
zur Sache sage.
({0})
Sommerzeit, Biergartenzeit: Wer wollte da nicht die
langen Abende genießen und im Biergarten, im Straßencafé oder bei einem Fest im Freien verweilen, solange
man Lust dazu hat - wäre da nicht die Sperrzeit für die
Außengastronomie, die wir, soweit wir Gäste sind, gerne
aufgehoben oder hinausgeschoben sähen. Die F.D.P. hat
hierzu einen Antrag eingebracht, dem wir sehr wohlwollend gegenüberstehen.
({1})
Ich trinke auch gern mit dem Kollegen Burgbacher abends
noch ein Weißbier.
({2})
Ich hoffe, dass Sie es in Zukunft ein bisschen länger genießen können.
Wir bekennen uns aber als SPD-Fraktion auch zur Urheberschaft dieses Anliegens, weil wir bereits am 13. Februar hier im Deutschen Bundestag ein Tourismusförderprogramm eingebracht haben, in dem zu lesen ist:
Die Gastronomie stellt die Kernleistung für den
Tourismus. Das Gaststättenrecht ist seit Jahrzehnten
starr, das Kundenverhalten hingegen folgt den
Trends. Betriebsarten, Gestattungen und Sperrzeiten
sollen daher dereguliert werden.
Dazu haben wir alle ein Schreiben vom Dehoga bekommen, das nun teilweise wörtlich im Antrag der F.D.P.
wiederzufinden ist. Ich kann nur sagen: Respekt, das ist
konsequente Lobbyarbeit.
Der Dehoga hat aber Recht: In den letzten Jahren haben sich die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung verändert, so wie Kollege Burgbacher das schon ausgeführt
hat. Die Leute gehen später weg, möchten gerne länger
sitzen bleiben. Diesem Trend müssen wir folgen, indem
wir die bestehenden Gesetze anpassen.
Frau Kollegin, der
Kollege Burgbacher möchte gerne eine Frage stellen.
Aber selbstverständlich.
Bitte sehr.
Liebe Kollegin Irber,
würden Sie zur Kenntnis nehmen - das habe ich Ihnen
auch schon gesagt -, dass das nichts mit konsequenter
Lobbyarbeit zu tun hat, sondern dass wir seit langer Zeit
an diesem Antrag arbeiten? Abgestimmt haben wir ihn,
wie wir alle das tun, mit verschiedenen Verbänden. Das
hat aber nichts mit Abschreiben oder Lobbyarbeit zu tun.
Das war aber keine Frage,
Herr Kollege Burgbacher,
({0})
sondern eine Feststellung. Ich nehme es trotzdem zur
Kenntnis.
({1})
Wenn wir aber am Freitag einen Brief bekommen und der
Text am Montag wortgleich in einem Antrag steht, kann
man den Verdacht nicht ganz von der Hand weisen, dass
man das einfach abgeschrieben hat.
({2})
Die Einführung der Sommerzeit, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hat den Tagesablauf verschoben, ohne dass
eine Anpassung der Bestimmungen, die an die Tageszeit
gebunden sind, erfolgt ist. Es ist eine Stunde länger hell.
Die Temperaturen bleiben bis weit in den Abend hinein
sehr angenehm und stärken den Wunsch, sich auch spät
noch im Freien aufzuhalten. Man kann sogar sagen: Mit
Einführung der Sommerzeit hat der Staat für die Gastronomen günstigere Rahmenbedingungen geschaffen. Trotzdem sind diese Regelungen, insbesondere für die Nachtruhe, unverändert geblieben.
Wir haben in unseren Städten in den letzten Jahren
Fußgängerzonen geschaffen, um unsere Innenstädte attraktiv zu erhalten und nicht durch weiteren Wegzug noch
mehr ausbluten zu lassen. Zum modernen urbanen Leben
gehört auch die Gastronomie. Ich finde, es ist eine gute
Entwicklung, dass Straßencafés, Biergärten und andere
Formen der Außengastronomie praktisch ein fester Bestandteil unserer Innenstädte geworden sind. Wir in Berlin genießen das ja manchmal auch zu später Stunde.
Vor dieser Entwicklung sollten wir nicht die Augen
verschließen. Wir sollten uns tatsächlich die Frage stellen,
ob die bislang in vielen Gesetzen anzutreffende Grenze
von pauschal 22 Uhr heutzutage noch zeitgemäß ist. Der
Kollege Burgbacher hat nun vorgeschlagen, diese Grenze
generell auf 24 Uhr auszudehnen, und dies bundesweit.
({3})
Zusätzlich sollen in einer Technischen Anleitung „Außengastronomie“ die zulässigen Lärmpegel im, sage ich einmal, einseitigen Interesse der Gäste und der Wirte ausgestaltet werden. In der Regierung kann man sich die Sache
aber nicht so einfach machen und ein Dehoga-Schreiben
eins zu eins in einen Bundestagsbeschluss umsetzen. Bei
allem Verständnis im Grundsatz müssen wir auch die Interessen der anderen Seite im Auge behalten; das sind die
Interessen der Nachbarn und der Anwohner. Wie die
Nachbarn reagieren würden, wenn die gesamte Außengastronomie - also nicht nur die Biergärten und Volksfeste - entsprechend Ihrem Vorschlag bis 24.00 Uhr plus
Austrinken und Zahlen offen bliebe - auwei, auwei, das
möchte ich mir nicht ausmalen.
Man kann die gesamte Problematik nicht einfach über
einen Kamm scheren. Was in innerstädtischen Lagen ohne
Klagen der Anwohner hingenommen wird, weil es zum
Charakter des Viertels passt oder weil es immer schon so
war, würde in einem ruhigen Vorortwohnviertel sofort zu
Streit und verwaltungsgerichtlichen Klagen führen.
Bestimmte gastronomische Betriebsformen werden zum
Beispiel im Norden anders bewertet als im Süden. Lieber
Herr Kollege, der mich vorhin so nett angesprochen hat: In
Bayern ist der Biergarten - ich zitiere aus der Begründung
der bayerischen Biergartenverordnung - „ein Stück angestammten bayerischen Kulturgutes“. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird man eher an die Besenwirtschaften oder die Häckerwirtschaften und die Weinlauben
als traditionelle Formen einer Außengastronomie denken.
Ich will damit nur sagen, dass wir für diesen in der Praxis sehr unterschiedlichen Problembereich keine bundesweit einheitliche Vorgabe machen sollten. Dieser Bereich
entzieht sich einer nationalen Regelung. Bitte versetzen
Sie sich einmal in die Situation und stellen Sie sich die
Aufregung vor, wenn uns Brüssel hierzu Vorgaben machen würde!
({4})
Dies sollte auf die regionalen Bedürfnisse bezogen bleiben; es sollte durch die Länder oder durch kommunale
Satzungen geregelt werden. Ich möchte das Geschrei
nicht hören, wenn wir einen solchen Vorschlag aus Brüssel bekommen hätten. Da hätte ich Sie gern gesehen. Wir
können das nicht alles über einen Kamm scheren.
Ich halte daher die derzeitige Regelung in § 18 des
Gaststättengesetzes, die ausdrücklich besagt, dass die
Sperrzeiten durch die Länder festzulegen sind, für in jeder Hinsicht angemessen.
({5})
Schon Art. 72 des Grundgesetzes erlaubt dem Bund im
Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung - wie hier
beim Gaststättengesetz - die Gesetzeskompetenz nur,
„wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der
Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich
macht.“
Es hat sich auch hier in letzter Zeit schon einiges getan.
Seit zwei bis drei Jahren ist eine Liberalisierungswelle
bei den Sperrzeitverordnungen in den Ländern festzustellen, die sich nicht nur auf die Stadtstaaten bezieht. Sogar
Flächenstaaten wie das Saarland haben die allgemeine
Sperrzeit auf die so genannte Besenstunde - das heißt, auf
eine Stunde am frühen Morgen, meistens zwischen 5 und
6 Uhr, was zuvor nur in Berlin zu finden war - begrenzt.
Dies bezieht sich natürlich nicht auf die Außengastronomie. Aber auch in der Außengastronomie kommt Bewegung auf. So hat das Land Brandenburg die generelle
Sperrzeit in der Außengastronomie auf 23 Uhr festgelegt.
Das ist ein Zeitpunkt, den ich für einen ersten Schritt in
die richtige Richtung halte. Auch einige Städte in Nordrhein-Westfalen haben für die Sommermonate diese Zeit
in kommunalen Satzungen vorgegeben. Sie sehen also,
dass die SPD-geführten Länder durchaus mit der Zeit gehen.
({6})
Ähnlich verhält es sich auch mit Ihrem Vorschlag einer
immissionsschutzrechtlichen Regelung zur Erfassung
und Bewertung des Gaststättenlärms, Herr Burgbacher.
Hier sei die Frage erlaubt, verehrter Herr Kollege, warum
Sie für den Antrag eigentlich keine Überweisung an den
Umweltausschuss vorgesehen haben. Eine Änderung des
Immissionsschutzgesetzes ist doch ohne die Beteiligung
des Umweltausschusses nicht möglich; der wäre dabei federführend.
({7})
Es kommt der Verdacht auf, dass Sie Ihrem umweltpolitischen Sprecher eine Öffnung der Lärmgrenzen nicht zumuten wollten
({8})
und vielleicht nur ein bisschen Populismus für die Sommerpause betreiben wollten.
Wenn wir uns ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen sollen, dann müssen wir alle Betroffenen in die Debatte mit einbeziehen.
({9})
- Das muss man schon mir überlassen, in welchem Stil. Eine pauschale Regelung in einer TA Gaststättenlärm
oder in einer TA Außengastronomie, wie wir sie in der
bereits existierenden TA Lärm vor allem für den Industrie- und Verkehrslärm haben, erscheint mir nicht sinnvoll. Denn die Industrie findet normalerweise im Gewerbegebiet statt und nicht in so stark bewohnten Gebieten
wie bei der Außengastronomie.
Ich glaube, wir können hier nicht mit einer pauschalen
Lösung ankommen, denn wir kennen verschiedene Arten
von Lärm. So gibt es den menschlichen Lärm, den Sie
vorhin beschrieben haben. - Es geht nicht gegen das Lachen. Sie wissen, ich lache sehr gern und oft, auch hier im
Deutschen Bundestag. Ich glaube, ich bin eine Lachtaube. - Im Gegensatz dazu haben wir lärmende Autos,
Türen, die auf- und zugeschlagen werden. Zu einer weiteren Art des Lärms gehören grölende und singende Menschen, die mit zunehmendem Alkoholgenuss nicht mehr
so schön singen, vielmehr wird deren Singen eine Belästigung für die Anwohner. Sie kennen gewiss die alte
Weisheit: „Je später der Abend, desto lauter die Gäste.“
({10})
Deshalb glaube ich, dass wir gut beraten sein werden, es
bei einer Einzelbeurteilung zu belassen, bei der die
TA Lärm nur als Orientierung herangezogen wird. Es
überrascht mich schon, dass die Liberalen, die sonst doch
immer vor der Überregulierung warnen, den Ländern ausgerechnet in dieser Hinsicht eine nationale Regelung
überstülpen wollen. Wo bleibt denn da die Subsidiarität?
In der Rechtsprechung werden immer auch alle den Gästen zuzurechnenden Geräusche wie das Türenschlagen
oder das Anlassen des Motors beim Abfahren in die Bewertung mit einbezogen. Das können wir nicht ignorieren.
Eine bundesweite Regelung über die Erfassung und
Bewertung von Gaststättenlärm könnte auch zu durchaus erheblich restriktiveren Ergebnissen führen. Ich bitte
Sie, zu bedenken, ob das nicht ein Schuss in den Ofen sein
könnte. Es gibt gegenwärtig eben auch einen Trend zu einer Neubewertung der Folgen von Lärm. Langzeitstudien
belegen den Verdacht, dass Lärm krank macht. Die Folgen sind erhebliche Einsprüche von Bürgern, zum Beispiel beim Ausbau der Flughäfen. Wir wissen hier in
Schönefeld und in Frankfurt, was das bedeutet.
Ich vermag im Augenblick noch nicht abzuschätzen,
ob die beiden Trends - hin zu längeren Öffnungszeiten bei
den Biergärten in der Außengastronomie und größere
Sorge vor den Folgen des Lärms - in einer Interessenabwägung unter einen Hut zu bekommen sind. Die Tatsache,
dass Sie den Umweltausschuss nicht in die Debatte einbeziehen, zeigt mir, dass Sie dies ebenso einschätzen.
Aber wie kommen wir nun weiter? Es ist die Frage, wie
wir das Problem lösen, das den Tourismuspolitikern
natürlich ein großes Anliegen ist. Wir von der Koalition
wollen einen guten Kompromiss auf einer neuen Grundlage. Aus diesem Grunde glaube ich, dass es günstig wäre,
wenn wir uns darauf verständigten, die mitteleuropäische
Zeit - so wie sie vorhanden ist - im Gesetz stehen zu lassen. In der Praxis würde das zur mitteleuropäischen
Sommerzeit führen. Das heißt, wir hätten eine Stunde
länger Zeit, in der Gäste das schöne Biergartenleben
genießen und die Gastwirte mehr Umsatz machen könnten, aber die Bewohner, die in der Umgebung solcher
Gaststätten ihr Heim haben, nicht durch den Lärm belästigt würden. Wir kommen in der Ausschussberatung
noch dazu.
Wir können die Bundesregierung jetzt auffordern, uns
einmal alle jene Gesetze - außer dem Gaststättengesetz zu benennen, die von der Regelung der Nachtruhe tangiert
wären. Der Beginn der Nachtruhe müsste entweder zeitlich verschoben werden oder es müsste eine andere Lösung gefunden werden. Wenn wir dann eine Antwort der
Bundesregierung vorliegen haben, können wir im Ausschuss mit den Beratungen über Ihren und unseren Antrag
beginnen und eine Lösung zu finden versuchen, die beiden Anliegen gerecht wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
- Der Antrag ist bereits am 13. Februar eingebracht worden, Herr Brähmig. Es tut mir Leid, wenn Sie die Anträge
nicht lesen.
Nun hat das Wort die
Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! In den vergangenen Tagen haben wir
ganz aktuell einen der besonderen Gründe für den vorliegenden Antrag erleben können, sonniges und warmes
Sommerwetter, das die Menschen dazu veranlasst, auszugehen und die Abendstunden für Entspannung und Kommunikation zu nutzen. Die Gelegenheit dazu ist bei uns
nicht so häufig gegeben. Rechnen wir es einmal hoch, so
sind die Witterungsverhältnisse in unserem Lande an maximal 30 bis 40 Abenden im Jahr günstig genug hierfür.
An diesen Abenden wird es den Betreibern der Außengastronomie jedoch untersagt, den Gästen auch um viertel
nach zehn noch ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee zu
servieren.
Seien Sie einmal ehrlich: Wer von Ihnen im Plenum hat
sich denn bisher noch niemals über diesen Umstand geärgert? Sie alle kennen die Arbeitszeiten, die es einem unmöglich machen, nachmittags um halb sechs in einem
Biergarten oder in einem Straßencafé zu sitzen. So geht es
dem Großteil unserer Bevölkerung. Die Lebensverhältnisse und die Gewohnheiten der Menschen in unserem
Land haben sich massiv geändert. Millionen von Menschen arbeiten bis 20 Uhr oder noch länger. Die gegenwärtigen Sperrzeiten im Freisitz gehen weder hierauf
noch auf veränderte Freizeitbedürfnisse der Menschen an
Schönwettertagen ein. Man nimmt diesen Leuten im
Grunde die Gelegenheit, nach der Arbeit noch in einen
Biergarten oder zu einer anderen Außengastronomie zu
gehen.
Dabei erfüllen doch gerade die Biergärten einen wichtigen gesellschaftspolitischen Zweck. Sie stellen für die
Bewohner in den Städten, die nicht über einen eigenen
Garten verfügen, einen Zufluchtsort, eine Stätte der Begegnung und der Kommunikation dar, und das in der Regel fernab von Wohngebieten, häufig im Grünen.
Ein anderes Argument ist die Belebung unserer Innenstädte. Ich will gar nicht wissen, wie viele Millionen
die Kommunen in den letzten Jahren in Attraktivitätsprogramme zugunsten der Innenstädte investiert
haben - ohne Erfolg. Die Geschäftszeiten in der Woche
ziehen die Menschen bis 20 Uhr in die Einkaufszonen. Ein
Großteil von ihnen würde anschließend gerne noch
gemütlich etwas essen oder in ein Café gehen. Die Aussicht, den Stadtbummel um 22 Uhr behördlich beendet zu
bekommen, lässt diese Leute aber in der Regel nach
Hause fahren. So beginnt abends Punkt acht schlagartig
die Verödung unserer Innenstädte. Auch das Abdriften
der Kundenströme durch Gewerbe- und Einzelhandelsansiedlungen auf der grünen Wiese unterstreicht die Bedeutung der Gastronomie für die Belebung unserer Innenstädte.
Das Sitzen unter freiem Himmel schafft gerade erst das
Flair einer Innenstadtzone, das Bummler und Passanten
an den wenigen Sommerabenden bindet. Eine Vitalisierung bzw. Revitalisierung der Innenstädte ist nur dann
möglich, wenn es uns gelingt, die Menschen zum Bleiben
zu bewegen. Die Umgestaltung der Sperrzeiten ist zwar
kein Allheilmittel, aber sie ist auf jeden Fall saisonal eine
Erfolg versprechende, kostenneutrale Maßnahme.
Werfen wir einen Blick auf unsere Nachbarn. Ihnen allen ist sicherlich die eine oder andere nette Urlaubserinnerung an einen gemütlichen Abend in einem Café in
Florenz oder in Paris präsent. Die deutschen Außengastronomen ernten bei ihren ausländischen Gästen aber nur
ein ungläubiges Kopfschütteln, wenn sie zu einer Uhrzeit,
zu der es in unserem Land häufig noch hell ist, die Bewirtung einstellen müssen.
({0})
Dies ist ein eindeutiger Standortnachteil des deutschen
Tourismus. Gerade auch vor dem Hintergrund des Jahres
des Tourismus konterkariert dies alle Bemühungen, unser
Land im internationalen Vergleich konkurrenzfähiger zu
machen. Welcher Gast soll denn bitte schön im Ausland
durch seine Mundpropaganda für einen Urlaub an Rhein
oder Mosel werben, wenn man als Urlaubserinnerung die
Bekanntschaft mit deutscher Bürokratie und Regelungswut mit nach Hause bringt?
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre Regelungen zu den 630-DM-Jobs
({2})
haben die Betreiber von Freizeitgastronomien schon arg
gebeutelt. Offensichtlich sind Sie nicht willens, dieses
Konjunkturhemmnis wieder zu beseitigen.
Hier bietet sich Ihnen aber wenigstens die Gelegenheit,
die wirtschaftliche Situation des strapazierten Gastgewerbes zu entlasten. Gerade durch die Verlängerung der Ausschankzeiten um eine oder zwei Stunden kann vielen Gastronomen ein wirtschaftlicher Betrieb von Freisitzflächen ermöglicht werden. Dass dies zusätzlich positive
Auswirkungen auf die Beschäftigungsstruktur hat, muss
an dieser Stelle eigentlich nicht besonders betont werden.
({3})
Die gegenwärtige Regelung bestraft viele für die Nöte
einzelner. Das erinnert stark an das Prinzip der Sippenhaft. Sinnvoller ist es, Beschränkungen dort vorzunehmen, wo sie notwendig und angebracht sind. Wenn die
Ordnungsämter mittlerweile in der Regel nur noch auf
Beschwerden hin die Einhaltung der 22-Uhr-Frist kontrollieren, so spricht diese Tatsache für sich.
({4})
Besser wäre es, die Anwohnersituation und die jeweilige
Zumutbarkeit im Einzelfall zu beurteilen.
Flexibel, bürgernah und mit Beteiligung der Betroffenen - so soll eine aktive Bürgergesellschaft sein.
({5})
Hierzu ist es aber notwendig, bürokratische und kostenintensive Anträge auf Sondergenehmigungen zu vermeiden.
Das nun provoziert eine
Zwischenfrage der Kollegin Irber. Lassen Sie diese zu?
Nein, ich möchte fortfahren. - Deshalb müssen wir die Gesetzesflut eindämmen und die Regelungsdichte in Deutschland wieder
überschaubar machen. Nur dann kann sich die aktive Bürgergesellschaft wieder besser entfalten.
Deshalb brauchen wir auch keine Bundesgesetze zur
Regelung der Öffnungszeiten von Biergärten und
Straßencafés. Die Gemeinden sollen selbst darüber entscheiden.
({0})
Sie können zwischen den Interessen vermitteln, denn sie
kennen die örtlichen Besonderheiten. Sie haben ein Interesse an lebendigen Ortskernen und Innenstädten. Sie erzielen auch indirekt Einnahmen aus der Gastronomie. Vor
allem vertreten sie die Interessen aller Bürger der Gemeinde, sowohl derjenigen, die am späten Abend in einem
Biergarten oder in einem Café sitzen wollen, als auch derjenigen, die ihre Ruhe wollen. Zudem wird so auch das
Verständnis für wirklich gerechtfertigte Einwände gegen
eine längere Außenbewirtung gefördert.
({1})
Es ist wirklich nicht jedermanns Sache, unter seinem
Schlafzimmer eine gut besuchte Schankterrasse zu haben.
Für den Betroffenen ist es auch nur ein schwacher Trost,
dass der Betrieb dieser Außengastronomie nur an 30 bis
40 Tagen im Jahr wirtschaftlich ist.
Wesentliches Problem ist der Lärmschutz. Dieses gilt
es in erster Linie zu klären, denn schließlich ist Lärm
nachweislich eine Belastung, die zu Gesundheitsschäden
führen kann. Aber dies gilt es auch zu hinterfragen: Verursacht der Betrieb einer Außengastronomie tatsächlich
einen Lärm, der mit dem von Industrieanlagen vergleichbar ist? Das derzeitige Gleichsetzen von Kommunikationsgeräuschen in Straßencafés mit Industrielärm wie dem
Presslufthämmern und Motorengeräuschen ist offensichtlich genauso wenig sachgerecht, wie dies bei Sportveranstaltungen der Fall ist.
Das Verfahren wird dem Problem vor allem in akustisch-technischer Hinsicht nicht gerecht. Sie können sich
das gern so wie ich von einem Akustikingenieur Ihres
Wahlkreises bestätigen lassen. Es ist ein gesondertes Messverfahren notwendig, um im Interesse aller Beteiligten,
der Gastwirte, der Gäste und im Besonderen der Anwohner, zu einer sozialverträglichen Lösung zu kommen.
Dies ist umso dringender, als es derzeit keine verbindliche Vorschrift für die Beurteilung von Geräuschimmissionen der Freizeitgastronomie gibt. Die Technische Anleitung Lärm findet schon seit zwei Jahren keine
Anwendung mehr auf die Außengastronomie. Dennoch
wird häufig nach ihr verfahren. Das allein schon begründet einen Handlungsbedarf. Für Sportstätten hingegen
gibt es seit rund zehn Jahren eine besondere Immissionsschutzverordnung. Eine Überarbeitung der Lärmschutzverordnung hinsichtlich der Außengastronomie ist daher
nicht nur sinnvoll, sondern längst überfällig.
Meine Fraktion hat schon im Zusammenhang mit der
Lärmschutzrichtlinie des Europäischen Parlaments unterstrichen, dass die Regelung des Lärmschutzes auf lokaler
und regionaler Ebene am besten aufgehoben ist. Dies gilt
insbesondere für die Belastungen, die sich aus dem Betrieb der Freizeitgastronomie ergeben.
Der Antrag bietet einen sinnvollen Ansatz, um an
tatsächlichen Lärmbelästigungen orientiert handeln zu
können. Auch hier ist die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zweckmäßig. Mit der Zuständigkeit der Städte
und Gemeinden kann den lokalen und kulturellen Besonderheiten am besten Rechnung getragen werden.
Es gilt, die Gesetze den Lebensumständen der Menschen anzupassen, und nicht anders herum. Hierzu ist es
aber nötig, die Scheuklappen und nicht die Bürgersteige
hochzuklappen. Nur so können wir unsere Gastronomie
den heutigen Bedürfnissen anpassen.
({2})
Der Antrag der F.D.P. bietet hierzu eine gute Gelegenheit, dessen Anliegen auch von der CDU/CSU-Fraktion
unterstützt wird.
({3})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Sylvia Voß das
Wort.
Liebe
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin
richtig erschüttert, denn die Opposition tut so, als könne
man nirgendwo in Deutschland abends beim Bier oder einer Tasse Kaffee nett mit Freunden zusammensitzen und
feiern. Irgendwie fühle ich mich hier im falschen Land.
Sie tun so, als ob man bei uns um 20 Uhr die Sonne ausknipsen würde. Das ist ja nicht so.
({0})
- Doch, die Kollegin Schäfer hat sich ziemlich darüber
geärgert, dass man hier abends keine schönen Biergärten
mehr aufsuchen könne.
({1})
Erstaunlich ist, dass die Opposition diese Tatsache offensichtlich erst jetzt entdeckt und nicht schon 16 Jahre
vorher, als sie es hätte ändern können.
({2})
Wahrscheinlich hat sie erst jetzt gemerkt, was Leben ist.
Ich komme aus der Ecke mit dem schönsten Biergarten
in der Region. Wenn ich abends am S-Bahnhof Griebnitzsee aussteige, sehe ich schöne alte Bäume, schöne Blumen und habe einen direkten Blick auf den See. Gehen Sie
einmal hin, da können Sie auch abends noch sitzen.
Wir haben es uns im Tourismusausschuss zu Eigen
gemacht, nicht immer nur die Belange der Reisenden,
sondern auch die der Bereisten zu berücksichtigen.
({3})
Ich denke, auch bei diesem Thema sollten wir nicht nur
die Belange der Trinkenden, sondern auch die der Anwohner von Biergärten berücksichtigen. Die F.D.P.
scheint immer nur nach Süden zu schauen. Sie übersieht
dabei, dass es im Norden länger hell ist. Dadurch ergeben
sich dort vielleicht etwas andere Probleme.
Wir Deutschen sind natürlich anders als die Spanier,
Franzosen oder Italiener; das bestreitet auch keiner. Wir
sind aber nicht lust- und touristenfeindlich. Es wird von
uns nicht bestritten, dass es bei touristisch stark nachgefragten Zielen attraktiv ist, bei lauen Temperaturen und
schönem Wetter abends noch etwas länger draußen zu sitzen. Auch ist es für die Besitzer solcher Lokale wunderschön, wenn sie abends noch Einnahmen erzielen können.
Es ist gut, wenn sich die Anwohner und die Besitzer
von Biergärten und Gartenlokalen in Konfliktfällen absprechen und auf einen Kompromiss einigen. Das ist viel
häufiger der Fall, als dies die F.D.P. offensichtlich annimmt; denn sonst würde sie nicht nach einer solchen
Regelung schreien.
({4})
Die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist
im Übrigen gar nicht so kundenunfreundlich, wie es die
F.D.P. darstellt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Ich mache es ganz
kurz. - Frau Kollegin Voß, sind Sie mit mir einer Meinung, dass der Antrag der F.D.P., der von unserer Fraktion
unterstützt wird - Frau Kollegin Schäfer hat das schon erklärt -, dringend notwendig ist, weil die mittelständische
Gastronomie- und Hotelleriebranche in der derzeitigen
wirtschaftlichen Situation jede erdenkliche zusätzliche
Einnahmemöglichkeit braucht, da die Belastung des Mittelstands und der Gastwirtschaft durch Ökosteuer und andere Maßnahmen massiv zugenommen hat?
({0})
Ich bin
davon überzeugt, dass Sie das Thema Ökosteuer bei der
Behandlung jedes Themas unterbringen können. Ich
denke aber, Sie sollten mir weiter zuhören, dann wissen
Sie, was ich dazu zu sagen habe.
Es ist so, dass deutschlandweit Sperrfristen gelten, die
durch Ausnahmen individuell an die jeweilige Einrichtung und Umgebung angepasst werden können. Das regeln die Länder. Deswegen habe ich mich schon vorhin
gefragt: Warum haben Sie denn den Ländern nicht ein
bisschen Dampf gemacht? Warum kann man das in Sachsen, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz nicht regeln?
({0})
- Deshalb frage ich ja. - Die Länder regeln das Problem
und geben ihre Kompetenz teilweise an die Kommunen
ab, sodass es individueller, als es jetzt geregelt ist, kaum
mehr geht.
Wenn es von Fall zu Fall, trotz der schon jetzt bestehenden Regelungsmöglichkeiten, in der Umgebung der
Biergärten und Gaststätten immer noch zu laut wird, bestehen teilweise, beispielsweise in Berlin, wo wir zwischen fünf und sechs Uhr morgens eine Sperrfrist, in der
Ruhe herrschen muss, haben, so genannte Clearingstellen. Bei diesen Stellen können sich die Gestörten, die Störer sowie die Vertreter der zuständigen Behörden an einen
Tisch setzen. Nach Aussage des Geschäftsführers der Hotel- und Gaststätten-Innung Berlin und Umgebung, Karl
Weißenborn, schafft man es auf diese Weise, bis zu
90 Prozent der Konflikte aus der Welt zu schaffen. Ich
denke, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie in einem föderalen Staat mit Konflikten umgegangen werden kann.
Gerade Sie beschwören immer wieder dieses Thema.
Im Übrigen - ich komme zum Kern meiner Ausführungen - finden wir die Sichtweise Ihres Antrags einseitig; denn sie ist nur auf die Trinkenden und die Betreiber der Lokale ausgerichtet. Wir möchten, dass auch die
Belange der Bewohner vor Ort, die ein Ruhebedürfnis
haben, berücksichtigt werden. Man muss diese Belange
wirklich gleichrangig betrachten und sie vernünftig gegeneinander abwägen. Für manche ist es einfach zu wenig, nur ein oder zwei Stunden Schlaf zu haben. Sie können nicht sagen, dass es keine Belästigung ist, wenn sie
bei einem Biergarten wohnen, in dem abends das Gegröle
losgeht. Diese Menschen können nicht ausweichen. Sie
können nicht einfach wegziehen oder das Gläserklirren,
Stühlescharren und das laute Gerede, das von unten
kommt, einfach abschalten.
Insofern denke ich, dass manches an Ihrem Antrag bedenkenswert und auch prüfenswert ist. Aber wie man den
„menschlichen Kommunikationslärm“, wie Sie es nennen,
({1})
standardisieren kann, das ist mir wirklich ein Rätsel.
({2})
Vielleicht haben Sie ja eine Lösung parat. Auch wenn man
manches prüfen sollte, tun sich also noch einige Fragen
auf.
Wir werden in den entsprechenden Beratungen sicherlich über die Vor- und Nachteile Ihres Vorschlags diskutieren und feststellen, welchen Handlungsbedarf es gibt.
Im Moment brauchen wir darüber erst einmal nicht
weiterzudiskutieren, da eine Regelung existiert, die man
sehr liberal - das müsste Ihnen eigentlich entgegenkommen - auslegen kann und auf deren Basis jede Kommune,
wenn es das jeweilige Land zulässt, ihre eigenen Regelungen treffen kann.
Danke schön.
({3})
Jetzt hat für die PDSFraktion die Kollegin Rosel Neuhäuser das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Reißt die Wolkendecke auf, streckt so
mancher das Gesicht in Richtung Sonne. Sobald Eis, Bier
oder Gegrilltes auf dem Tisch stehen, ist der Winter vorbei. Feierabende und Wochenenden beginnen von nun an
in Gärten, auf Terrassen und auch unter Bäumen. Der
Wunsch nach einem Abend unter freiem Himmel und
nach einem gemütlichen Beisammensein mit Freunden
prägt das Verlangen, Biergärten oder andere Freiluftrestaurants aufzusuchen.
Wenn man sich mit dem Thema der Sperrzeiten für
Gaststätten und Biergärten beschäftigt, sollte ein kurzer
Blick auf die Geschichte der Biergärten nicht fehlen:
Wie so einige Dinge, die in der Welt passiert sind, so verdanken wir auch die Biergärten der Kirche. In der bayerischen Brauordnung aus dem Jahre 1539 wurde festgelegt,
dass nur zwischen dem Festtag des Heiligen Michael, dem
29. September, und dem Ehrentag des Heiligen Georg,
dem 23. April, gebraut werden durfte. In den sechs Monaten dazwischen war das Bierbrauen verboten, weil beim
Biersieden eine zu hohe Brandgefahr bestand. Also
musste auf Vorrat gebraut werden.
Die Frage war nur: Wie brachte man das Bier in dieser
Zeit ohne Kühlschrank und ohne Kühleis über den Sommer? Man sorgte für oberirdische Kühlung durch Schatten spendende Gewächse, die über den Bierkellern gepflanzt wurden. Ich denke, das war sehr ökonomisch und
ökologisch. Da aber die Brauer ihr Bier möglichst direkt
an den Konsumenten verkaufen wollten, stellten sie unter
die Bäume Tische und Bänke und boten ihr Bier frisch
vom Fass an. Um Streitigkeiten zwischen Brauern und
Gastwirten zu vermeiden, genehmigte König Ludwig I.
den Bierausschank unter den Bäumen, verfügte aber, dass
kein Essen gereicht werden durfte. Wer auf die Bierkeller
zu einem zünftigen Maß ging, musste seine Brotzeit selbst
mitbringen. Stellt euch vor, wir hätten diese Situation
heute! So weit, so gut.
Zurück in die Gegenwart: Es zeigt sich, dass das Regulierungsbedürfnis in diesem Land dafür sorgt, dass die
Gemütlichkeit schnell ein Ende hat, weil die Außengastronomie pünktlich um 22 Uhr schließen muss. Wie
schlecht für die Bürgerinnen und Bürger, die keinen eigenen Garten oder keine eigene Terrasse haben und jederzeit
unbegrenzt den Vorteil eines gemütlichen Feierabends im
Freien genießen möchten!
Nun hat bekanntlich jede Medaille zwei Seiten. So gibt
es auch bei der Diskussion über die Verlängerung der
Sperrzeiten für die Außengastronomie zwei Seiten. Ich
verstehe diejenigen sehr, von denen ich eingangs meiner
Rede sprach, also diejenigen, die eine laue Sommernacht
mit Freunden bei einem kühlen Bier verbringen wollen,
und diejenigen, die sich von dem dadurch entstehenden
Lärm belästigt fühlen, aber auch diejenigen, die die Arbeit
haben. „Jedem recht getan, ist bekanntlich eine Kunst, die
niemand kann“, so möchte man an dieser Stelle sagen.
Was also tun und wie entscheiden? Man könnte rigoros
bei der derzeitigen Regelung bleiben. Aber in einer Gesellschaft, in der die sozialen Beziehungen immer mehr
abkühlen, sollte gemeinsam, vor allem auch mit den Kritikern, nach verträglichen Lösungen gesucht werden.
Nicht allein Gesetze und Regelungen bringen uns hier
weiter, sondern das Gespräch mit den Bürgern darüber,
dass Freiluftgaststätten ein beliebter Treffpunkt breiter
Bevölkerungsschichten sind und ein ungezwungenes Miteinander ermöglichen, dass Freiluftgaststätten aber auch
zur Belebung und höheren Attraktivität unserer Innenstädte beitragen und dass Freiluftgaststätten je nach Wetterlage maximal nur 30 bis 50 Tage im Jahr - darauf ist
schon hingewiesen worden - betrieben werden können.
Ich denke, wenn wir uns über Regelungen verständigen, müssten wir, an unserer Arbeitszeit gemessen, vielleicht einmal sagen, dass Biergärten erst ab 20 Uhr öffnen
sollten, damit auch wir einmal in den Genuss kommen,
die Angebote in den Biergärten hier in Berlin in Anspruch
nehmen zu können.
Vielen Dank.
({0})
Und insgesamt sollte
die Regelung so zügig verabschiedet werden, dass wir
schon zum nächsten Sommer von den Veränderungen profitieren.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes gefährdeter Zeugen
- Drucksachen 14/638, 14/6279 ({1}) ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 14/6467 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Wolfgang Zeitlmann
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind alle zu Pro-
tokoll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung des
Schutzes gefährdeter Zeugen, Drucksachen 14/638,
14/6279 ({4}) und 14/6467. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Gegenstimmen der PDS ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist der Ge-
setzentwurf angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens
Rössel, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für die Einführung einer
kommunalen Investitionspauschale des Bundes
- Drucksachen 14/4557, 14/6208 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Georg Wagner
Hans Jochen Henke
Jürgen Koppelin
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens
Rössel, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Änderung des Zerlegungsmaßstabs des Gewer-
besteuermessbetrags
- Drucksachen 14/5584, 14/6461 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Jochen-Konrad Fromme
Heidemarie Ehlert
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens
Rössel, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Erhöhung der Gewerbesteuerumlage rückgän-
gig machen
- Drucksachen 14/5586, 14/6462 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Jochen-Konrad Fromme
Heidemarie Ehlert
Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben2), mit
Ausnahme der des Kollegen Dr. Rössel, der jetzt das Wort
hat.
({8})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Ohne Moos nix los!“, so ein
Sprichwort.
({0})
- Sehr wohl. - In vielen Städten, Gemeinden und Land-
kreisen ist in der Tat Schmalhans Küchenmeister: rück-
läufige Investitionen, geschlossene Jugendfreizeiteinrich-
tungen, Theaterschließungen, steigende Gebühren für
Wasser und Abwasser. Die Ursachen für die Krise der Fi-
nanzen der Kommunen sind vielfältig. Aber maßgeblich
steckt Bundespolitik mit dahinter.
Deshalb war es zu begrüßen, dass die Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD beschlossen hatten, in
dieser Wahlperiode eine Kommunalfinanzreform auf
den Weg zu bringen.
1) Anlage 3 2) Anlage 4
Schauen wir uns das jetzt an, dann sehen wir, dass nichts
passiert ist. Daher hat die PDS-Fraktion in dieser Wahlperiode die Koalition sozusagen vor sich hergetrieben, hat Initiativen zum Einstieg in eine umfassende Kommunalfinanzreform ergriffen und eine Vielzahl von Anträgen
vorgelegt. Heute stehen drei von ihnen zur Abstimmung.
Ein erster Antrag beschäftigt sich mit der Wiederauflage einer kommunalen Investitionspauschale des Bundes für Ostdeutschland, aber auch für strukturschwache
Regionen in Westdeutschland. Wir wollen die Finanzkraft
der Kommunen stärken, wollen vor allem die Rückläufigkeit bei kommunalen Investitionen aufhalten und hier
eine Investitionsoffensive für soziale Zwecke, für Infrastruktur, für kommunale Einrichtungen starten.
({1})
- Das wird Zeit, Kollege Seifert! - Das Geld soll direkt an
die Kommunen fließen und die Kommunen sollen selbst,
wirklich im Sinne von kommunaler Selbstverwaltung, darüber entscheiden können.
3 Milliarden DM, beginnend ab dem Haushaltsjahr 2002, sind unser Vorschlag. Wir haben auch eine
Finanzierungsgrundlage. Größer als erwartet ist die Zinsersparnis des Bundes aus der Veräußerung von Mobilfunklizenzen. Das wäre eine wirkliche Grundlage, das Projekt
finanzieren zu können. Das Geld wäre hier gut angelegt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre gut angelegt
- nicht so bei dem aus Zinsersparnissen in den Bundeshaushalt 2002 eingestellten Projekt der Deutschen
Bahn AG. Der Bundeshaushalt hat 2 Milliarden DM für
die Hilfe zur Bahnsanierung, zur Investitionsoffensive bei
der Bahn eingestellt.
({3})
Ich hatte gestern Abend - Kollege Schmidt, Sie sitzen im
Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG - ein Gespräch mit
Hartmut Mehdorn, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG. Er sagte mir, dass von diesen 2 Milliarden DM noch nicht ein Pfennig ausgegeben worden ist, ja,
dass sogar noch nicht einmal ein Pfennig durch Verträge
gebunden worden ist.
({4})
Die Ursache für diesen ungeheuerlichen Vorgang, liebe
Kolleginnen und Kollegen, liegt darin begründet
({5})
- nicht im Planungsvorlauf -, dass die zuständigen Ministerien bürokratische Hürden aufgebaut haben. Die Vereinbarung wurde viel zu spät getroffen. Deshalb konnte das
Geld nicht ausgegeben werden.
({6})
Für Rücksprachen steht Ihnen der Vorstandsvorsitzende
gern zur Verfügung.
Ein weiterer Vorschlag betrifft die Gewerbesteuer.
({7})
Das ist nicht nur unser Vorschlag, sondern auch der der
kommunalen Spitzenverbände. Die Kommunen brauchen
verlässliche eigene Einnahmen. Die Gewerbesteuer ist
eine solche Einnahmequelle und muss den Kommunen
auch wirklich zugute kommen. Deswegen sind wir der
Meinung, dass die Gewerbesteuer nicht abgeschafft werden soll. Vielmehr müssen ihre Tücken beseitigt werden
und in einem Reformpaket aufgehen.
({8})
Wir wollen die Reform der Gewerbesteuer und beabsichtigen, in einem ersten Schritt durchzusetzen, dass die Einnahmen überwiegend den Kommunen zugute kommen.
Jetzt kassieren Bund und Länder 20 Prozent der Einnahmen. Die rot-grüne Regierung hat im Rahmen ihrer Steuerreform beschlossen, dass dieser Anteil bis zum Jahre
2005 von 20 auf 28 Prozent ansteigen soll. Dadurch gehen den Kommunen in den nächsten Jahren jährlich zwischen 2 und 3 Milliarden DM an eigenen Einnahmen verloren, was Auswirkungen im Jugendfreizeitbereich, bei
Investitionen usw. hat und einen Schritt in die verkehrte
Richtung darstellt. Wir schlagen vor, dies rückgängig zu
machen, zumindest aber einen Ausgleich für die Kommunen zu schaffen.
Die ganze Debatte um die Gewerbesteuer gefällt uns
nicht. Dass die F.D.P. - Kollege Schüßler, das haben Sie
seit Jahren offen gesagt - die Gewerbesteuer abschaffen
will, ist bekannt. Dass jetzt aber Teile der Bundesregierung
entgegen eigenen Beteuerungen über die Medien eine Debatte über die Abschaffung der Gewerbesteuer initiieren,
führt sowohl bei den Kommunen als auch bei den Bürgerinnen und Bürgern zu Sorgenfalten.
({9})
Mit der Abschaffung der Gewerbesteuer wird das gute
Band zwischen Wirtschaft und Kommune zerrissen. Es
kann nicht sein, dass die Wirtschaft die infrastrukturellen
Leistungen der Kommunen nutzt, ohne dafür einen angemessenen Beitrag leisten zu müssen. Über die Reform der
Gewerbesteuer kann man sprechen. Aber ihre Abschaffung führte dazu, die Kommunen allein zu lassen
({10})
und die Wirtschaft aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
Das machen wir nicht mit; dem können wir nicht zustimmen.
({11})
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt dringend zum Schluss kommen.
Jawohl, liebe Frau Präsidentin. - Zum Schluss bitte ich Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, nach gründlicher Prüfung den vorliegenden Anträgen der PDS, die auf die Stärkung der kommunalen Finanzkraft gerichtet sind, zuzustimmen und die
drei Beschlussempfehlungen nicht anzunehmen.
Herzlichen Dank und schönes Wochenende!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 a: Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 14/6208 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „UMTS-Milliarden für die Einführung einer kommunalen Investitionspauschale des Bundes“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4557 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 b: Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6461 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Änderung des Zerlegungsmaßstabs des Gewerbesteuermessbetrags“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/5584 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 c: Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6462 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „Erhöhung der Gewerbesteuerumlage rückgängig machen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5586 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. Juli 2001, 13 Uhr, ein. Ich
wünsche Ihnen allen ein sonniges Wochenende mit vielen
Biergärtenaufenthalten.
({0})
Die Sitzung ist geschlossen.