Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Cajus Julius
Caesar.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir, die Union, werden diesen Gesetzentwurf auch unter Einbeziehung des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses ablehnen. Es handelt
sich um ein Vermittlungsausschussergebnis, das die
SPD-geführten Länder gegen den Willen der unionsgeführten Länder herbeigeführt haben. Wir sehen als Folge
des Gesetzentwurfs ein Mehr an Bürokratie. Wir wollen
ein Miteinander mit den vor Ort lebenden Menschen. Das
muss unser gemeinsames Ziel sein.
({0})
Wir erkennen an, dass es aufgrund unserer herben Kritik und aufgrund unserer konstruktiven Vorschläge zu einzelnen Verbesserungen gekommen ist. Ich erwähne in
diesem Zusammenhang, dass das grundsätzliche
Kahlschlagsverbot durch die Zielformulierung nunmehr
ein Stückchen aufgeweicht wird. Dennoch muss man zur
Kenntnis nehmen, dass die Waldbauern, gerade die
1,3 Millionen Waldbesitzer mit einem durchschnittlichen
Besitz von nur 3,6 Hektar, beeinträchtigt werden.
Wir erkennen an, dass die Dokumentationspflicht nunmehr an das Fachrecht gebunden ist. Das ist auch sinnvoll.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Dokumentationspflicht auch für kleine Einheiten gilt. Das bedeutet aber
eine übertriebene Regelung mit mehr Kontrolle, mehr
Bürokratie, mehr Verwaltungsaufwand.
({1})
Wir sehen es als sehr problematisch und nicht hinnehmbar an, dass in § 22 nach wie vor der Umgebungsschutz für an Schutzgebiete angrenzende bewirtschaftete
Flächen formuliert ist. Das bedeutet eine ungenaue Definition. Das bedeutet auch Beeinträchtigungen für die dort
Wirtschaftenden und auch Unklarheit für das Planungsrecht der Kommunen vor Ort. Das ist aus unserer Sicht
nicht hinnehmbar.
({2})
Nicht hinnehmbar ist für uns auch, dass nach dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses erneut die Formulierung in das Gesetz aufgenommen wird, nach der die vor
Ort Tätigen die Landschaftselemente nicht nur zu erhalten und zu pflegen, sondern auch zu vermehren haben.
Wenn dies zur guten fachlichen Praxis gehört, dann bedeutet das, dass man dafür keine Förderungsmittel der EU
beanspruchen kann.
({3})
Das kann man so nicht hinnehmen.
Wir kritisieren auch, dass Sie bei der Tierhaltung über
das Fachrecht hinausgehen. Sie wollen - das besagt die
Protokollnotiz der Bundesregierung im Vermittlungsausschuss -, dass ein Ausgleich nur noch in engem betrieblichen Zusammenhang erfolgt. Das bedeutet: Sie treffen
insbesondere die ganz kleinen Betriebe, die darauf angewiesen sind, neben den Einnahmen aus ihren kleinen
Flächen auch Einnahmen aus der Tierhaltung zu erzielen.
Das kann es doch nun wirklich nicht sein! Hier wird wieder etwas zulasten der ganz kleinen Betriebe formuliert.
({4})
Wir wollen grundsätzlich, dass die gute fachliche Praxis an das Fachrecht gebunden wird, damit es eindeutige
Zuständigkeiten und keine Doppelzuständigkeiten gibt.
Durch Ihre Formulierung kommt es dagegen zu einer Verschwendung von Ressourcen insbesondere finanzieller
Art. Das ist nicht unser Anliegen.
({5})
Sie bleiben bürokratisch. Schauen Sie sich das einmal
an! Bei der Umweltbeobachtung wollen Sie die Einwirkung und Wirkung von Umweltschutzmaßnahmen, den
Zustand und die Veränderung ermitteln sowie Auswertung und Bewertung betreiben - das natürlich nicht zulasten der Finanzen des Bundes; die Lasten sollen mal wieder die Kommunen und die Länder tragen.
({6})
Auch das können wir nicht hinnehmen.
({7})
Auch mit der flächendeckenden Landschaftsplanung
bleiben Sie bürokratisch. Jeder Quadratmeter soll von den
Ländern und Kreisen mit Verboten, Geboten und Festsetzungen überzogen werden.
({8})
Auch diesbezüglich waren die Länder, weite Teile des
Bundesrats und wir als Union völlig anderer Meinung.
Das ist Bürokratie hoch drei, die wir nicht akzeptieren.
({9})
Michael Müller ({10})
Sie verschärfen die Zulässigkeitsvoraussetzungen und
verändern die Abwägungsklausel. Auch das greift in das
Planungsrecht der Kommunen ein und wird - entgegen
Ihren Ausführungen an anderer Stelle - die Planung und
vor allem die Umsetzung von Vorhaben deutlich erschweren. Auch das können wir nicht hinnehmen.
({11})
Sie nehmen eine Ausweitung der Schutzgebietsdefinitionen vor. Damit wird der Dschungel von Schutzgebietsdefinitionen noch mehr vergrößert und unnötiger
Verwaltungsaufwand produziert.
({12})
Das ist nicht in unserem Sinne.
Wir wollen nicht, dass noch mehr Planungs- und
Zwangsinstrumente auf den Weg gebracht werden, wie
Sie das mit diesem Gesetz betreiben. Wir wollen vielmehr, dass der praktische Naturschutz in den Vordergrund
gestellt wird. Deshalb wäre es aus unserer Sicht ganz
wichtig gewesen, die verpflichtenden Ausgleichsregelungen, die neben uns auch der Bundesrat in einem neuen
§ 5 a gefordert hatte, zusätzlich aufzunehmen. Das haben
Sie nicht unterstützt. Dies ist sehr schade. Das ist gegen
die Menschen gerichtet und kommt enteignungsgleichen
Eingriffen gleich.
({13})
Wir wollen eine gesunde und lebenswerte Umwelt. Wir
wollen Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung der
ländlichen Räume. Wir wollen das Miteinander von Ökologie, Ökonomie und sozialer Komponente.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Sylvia Voß für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es die Opposition offensichtlich nicht begreifen kann:
({0})
Es ist heute wirklich ein großer Tag für unser Land; denn
Deutschland erhält endlich, nach 25 Jahren, und dank
Rot-Grün ein modernes, neues Naturschutzgesetz.
({1})
Das ist gut für die Fauna und Flora unseres Landes. Das
ist gut für unsere Landschaften und für all diejenigen, die
von, mit und in den Landschaften leben. Das ist also gut
für uns alle. Wir haben dabei sowohl an die Gegenwart als
auch an die Zukunft gedacht.
Ein entscheidendes Novum unseres Neuregelungsgesetzes ist die Ausgestaltung eines kooperativen
Naturschutzes.
({2})
Naturschutz und landwirtschaftliche Nutzung werden in
diesem Gesetz in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt.
Das haben Sie nie zustande gebracht.
({3})
- Warum schreien Sie denn so, wenn Sie meinen, dass Sie
es schon gemacht haben?
Die Einflüsse, die von der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft auf die Arten- und die Biotopvielfalt ausgehen,
sind teilweise wirklich dramatisch. Da können Sie so viel
schreien, wie Sie wollen.
({4})
Das ist Fakt und durch Studien belegt. Dieser Wahrheit
mussten wir uns stellen, und zwar nach vielen Jahren, in
denen Sie sie ignoriert hatten. Die Wahrheit ist eine harte
Birne, egal ob man sie wirft oder fängt: Chemischer Pflanzenschutz, Düngung, Bodenbearbeitung, Melioration und
Flurbereinigungen beeinträchtigen den Naturhaushalt. Es
wäre wirklich verantwortungslos, darüber hinwegzusehen.
({5})
Wir suchen keinen Sündenbock. Wir bieten Lösungen
- vielleicht haben Sie einmal den Begriff „Win-win-Strategie“ gehört - mit Vorteilen für alle Seiten, mit dem Ziel,
auch für künftige Generationen die biologische Vielfalt
und unser aller Lebensgrundlagen zu erhalten.
({6})
Das neue Naturschutzgesetz erweitert erstmals die von
der Landwirtschaft entwickelten Regeln und Grundsätze
der guten fachlichen Praxis um naturschutzfachliche
Anforderungen. Das ist ungeheuer wichtig.
({7})
Es haben uns im Übrigen viele Landwirte versichert, dass
sie diese Anforderungen schon erfüllen.
({8})
Deshalb möchte ich wissen, warum Sie andauernd dazwischenrufen.
({9})
Zudem sind die Anforderungen - auch durch die Überarbeitung des Vermittlungsausschusses - so gefasst, dass
sie den regionalen Besonderheiten entsprechen und durch
die Länder gut ausgestaltet werden können. Ich glaube,
auch Sie können nicht bestreiten, dass das eine föderal
sehr gut ausgewogene Lösung ist.
({10})
Die im Gesetz verankerten Kriterien berücksichtigen
die direkten und die indirekten Einflüsse der Landwirtschaft auf den Bestand und die Veränderungen der Tierund Pflanzenwelt. Das Gesetz verlangt von der Landwirtschaft eine Bewirtschaftungsweise, die dem Standort angepasst ist und die die Bodenfruchtbarkeit sowie die
Nutzbarkeit der Flächen langfristig sichert. Ich glaube,
das sollten auch Sie wollen; denn davon profitiert nicht
nur der Landwirt, weil er so generationsübergreifend die
biologische Vielfalt erhält. Vielmehr profitieren wir alle
von dieser Kulturlandschaft, die wir zum Leben brauchen.
Was fordert das neue Recht noch? Vermeidbare Beeinträchtigungen von Biotopen sind zu unterlassen. Hat in
diesem Haus wirklich jemand etwas dagegen, vermeidbare Eingriffe zu untersagen? Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber Sie wollen das offensichtlich nicht akzeptieren. Von der Einführung einer Dokumentation über den
Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln geht die
landwirtschaftliche Welt nicht unter. Malen Sie doch nicht
den Teufel an die Wand! Er sitzt schon auf vielen unserer
Äcker.
({11})
Der Anstieg des Nitratgehalts im Grundwasser ist zum
großen Teil durch eine nicht standortgerechte Produktion
sowie durch eine unsachgemäße Düngung und konzentrierte Tierhaltung verursacht worden.
({12})
- Das ist überhaupt kein Quatsch. Mit diesem Zuruf zeigen Sie nur, dass Sie sich damit überhaupt nicht auskennen.
({13})
Deshalb macht es nämlich Sinn, dass festgelegt wurde,
dass die Tierhaltung in einem ausgewogenen Verhältnis
zum Pflanzenbau stehen muss. Für die Reinigung unseres
Trinkwassers zahlen wir nämlich alle. Da Trinkwasser für
uns lebensnotwendig ist, haben Antibiotika, Pestizide und
andere gefährliche Stoffe nichts darin zu suchen.
({14})
Angesichts der großen Bedeutung von Landschaftselementen wie Hecken und Feldgehölzen - hören Sie
gut zu - für die Vernetzung vorhandener Biotope verlangt
der Gesetzgeber, dass diese erhalten bleiben und dass
Wiederanpflanzungen dort, wo sie unbedingt erforderlich sind, vorzunehmen sind. Die Flurbereinigung, die
Sie gefördert haben, hatte schreckliche Auswirkungen.
({15})
Wir brauchen eine stärkere Vernetzung und mehr Landschaftselemente wie Hecken. Die Länder können jetzt
Programme zur Förderung von Wiederanpflanzungen
auflegen. Dafür haben wir die gesetzlichen Grundlagen
geschaffen. Lesen Sie das Gesetz einmal richtig!
Ein ideologisch unbefangener, gerecht denkender Zeitgenosse wird diese Regelungen vernünftig finden. Sie
sind ganz gewiss nicht, wie Herr Ruck meinte mitteilen zu
müssen, Ausdruck eines rot-grünen Feldzugs gegen die
Bauern.
({16})
Welche Realitätsferne, wenn Herr Ruck behauptet, die
Verbandsklage verhindere Gewerbeansiedlungen und
Verkehrsinfrastrukturprojekte! Das kann ja wohl nur passieren, wenn gerichtsfest festgestellt wird, dass Vorhaben
gegen geltendes Recht verstoßen. Ich weiß nicht, was Sie
gegen den Rechtsstaat haben.
Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist wirklich der
große Tag für den Naturschutz, den wir uns gewünscht haben,
({17})
der mich mit Freude erfüllt, der auch Sie mit Freude erfüllen sollte und der uns noch einmal deutlich vor Augen
führt, dass wir dieser Opposition
({18})
weder das Feld noch die Natur, weder unsere Tiere noch
unsere Pflanzen überlassen dürfen; denn das wäre
schlecht für den Rothalstaucher, für den Roten Steinbrech, für die Gemeine Gelbeule, für den dunkelschwarzen Alpensalamander und für das allseits beliebte
Immergrün.
({19})
Für die
Fraktion der FDP spricht die Kollegin Marita Sehn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung und, wie wir gerade hören konnten, auch die sie tragenden Fraktionen
werden nicht müde, ihr Gesetz als einen Meilenstein für
den Naturschutz zu loben.
({0})
Doch die Anhörung, bei der auch Sie waren, hat etwas anderes ergeben: Defizite im Naturschutz sind Vollzugsdefizite und keine Gesetzesdefizite.
({1})
Aber wie viel einfacher ist es doch, ein Gesetz zu
stricken, als sich um eine entsprechende Umsetzung zu
kümmern!
({2})
Sie machen Gesetze und die Länder sollen sehen, wie sie
mit der Umsetzung fertig werden.
({3})
Selbst die SPD-regierten Länder teilen nicht - Sie hätten
da vielleicht einmal hinhören sollen, Frau Mehl - Ihre Euphorie über die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz.
Wenn man ehrlich gewesen wäre, hätte man sie lieber abgelehnt. Hier wurde ein Gesetz über die Köpfe der Länder
hinweg gemacht und dort soll es nun umgesetzt werden.
Die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz ist keine
Sternstunde des Föderalismus, sie ist eher ein Zeichen der
Selbstherrlichkeit dieser Bundesregierung,
({4})
die über alle Einwände der Betroffenen achselzuckend
hinweggeht.
Immer wenn Rot-Grün ein Problem angeht, stehen am
Ende mehr Bürokratie, weniger Entscheidungsfreiheit für
die Bürger und mehr Ordnungsrecht und Vorschriften.
({5})
Mit diesem Regulierungswahn betreiben Sie die schrittweise Entmündigung der Bürger. Ob Dosenpfand, ob
Legehennenverordnung, ob Bundesnaturschutzgesetz,
({6})
bei dieser Bundesregierung, Frau Voß, kommt immer Verordnen vor Überzeugen.
Das Bundesnaturschutzgesetz ist nichts als ein schlecht
kaschierter Misstrauensantrag gegenüber unseren Landund Forstwirten. Frau Voß hat das hier eben wieder
exemplarisch vorgeführt.
({7})
Für die FDP ist es unerträglich, wie Sie einen ganzen
Berufsstand unter den Generalverdacht des umweltschädigenden Verhaltens stellen.
({8})
Misstrauen und versteckte Vorwürfe ziehen sich wie ein
roter Faden durch die gesamte Naturschutznovelle. Sie
misstrauen den Menschen. Deshalb geben Sie Dirigismus
und Ordnungsrecht den Vorzug vor dem bewährten Vertragsnaturschutz.
({9})
Das ist ein zentraler Fehler in der Novelle, der leider auch
im Vermittlungsausschuss nicht beseitigt werden konnte,
Herr Müller.
({10})
- Dazu komme ich noch.
Die Politik der Bundesregierung durchzieht wie ein
Spaltpilz unsere Gesellschaft. Sie spalten, anstatt zusammenzuführen.
({11})
Sie versuchen, einen Keil in unsere Bauernschaft zu treiben, indem Sie diese in öko gleich gut und konventionell
gleich böse einteilen. Sie, Herr Müller, provozieren StadtLand-Konflikte, indem Sie bewährten Kooperationsmodellen eine Absage erteilen.
({12})
- Nein! - Mit dem Vertragsnaturschutz hat die alte Bundesregierung - das waren wir - das umgesetzt, wovon Sie,
die Grünen, heute immer nur reden.
({13})
Wir haben den Landwirten eine echte Einkommensperspektive durch den Naturschutz verschafft. So erreicht
man Akzeptanz im Naturschutz und nicht durch Ihren Verordnungswahn.
({14})
- Ich darf doch wohl noch lachen.
Ein weiterer gravierender Schwachpunkt bleibt die
Aushöhlung der Eigentumsrechte. Leider haben wir
nicht in allen Ländern - jetzt kommt Rheinland-Pfalz,
Herr Müller; gut zuhören! - einen FDP-Agrarminister, der
das Eigentum verteidigt und schützt.
({15})
In Rheinland-Pfalz ist das Gott sei Dank so.
({16})
Aber glaubt denn tatsächlich jemand hier im Parlament, dass rot-grün regierte Länder eine Ausgleichsregelung wie in Rheinland-Pfalz durchsetzen werden?
({17})
Nein, das wird leider nicht geschehen.
({18})
Das Gleiche gilt für die gute fachliche Praxis und das Biotopverbundsystem. Rheinland-Pfalz wird einen pragmatischen Weg finden, der Landwirte und Kommunen nicht
vor unlösbare Probleme stellt. Alle diejenigen, Frau
Müller, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen leben,
werden neidvoll über die südliche Grenze nach Rheinland-Pfalz blicken. Da bin ich mir sicher.
({19})
Die FDP-Beteiligung in der Landesregierung wird zu einem echten Standortvorteil für die Landwirte werden.
Während die Landwirte, der Gartenbau, die Wirtschaft
immer wieder gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa einfordern, schafft die Bundesregierung nun auch
noch mutwillig Wettbewerbsverzerrungen innerhalb
Deutschlands.
({20})
Das zeigt, dass die Grünen geistig immer noch nicht in
Europa angekommen sind. Herr Fischer träumt von den
Vereinigten Staaten von Europa und sein Kollege Trittin
und seine Kollegin Künast betreiben eine rückwärts gewandte Kleinstaaterei.
({21})
Die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz bleibt trotz
unserer Bemühungen im Bundesrat ein Anschlag auf die
Entwicklungsfähigkeit des ländlichen Raums; das
finde ich sehr traurig.
({22})
Wir bleiben deshalb auch weiterhin bei unserem kategorischen Nein zu dem trittinschen Gesetzentwurf. Wir wollen den Naturschutz; aber wir wollen, dass er zu einem
Anliegen der gesamten Gesellschaft wird und nicht zu etwas,
({23})
das man per Gesetzesbeschluss einer Minderheit aufs
Auge drückt.
({24})
Wir wollen einen modernen, einen kooperativen Naturschutz
({25})
und keinen veralteten, verordnenden Naturschutz, wie er
der Bundesregierung vorschwebt. Wir wollen einen Naturschutz für und mit den Menschen und keinen gegen sie.
({26})
Deshalb wird die FDP-Bundestagsfraktion die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses ablehnen.
Schönen Dank.
({27})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Eva BullingSchröter.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen - dies möchte
ich hier eingangs klar sagen -, dass das Gesetzgebungsverfahren zur Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes
endlich zum Abschluss gekommen ist.
({0})
Neben dem Artikelgesetz zur Umsetzung der IVU/UVPRichtlinie gehört sie sicherlich zu den umfangreichsten
Vorhaben der Bundesregierung auf dem Gebiet der Umweltpolitik. Sie gehört auch zu den umstrittensten. Vor allem der konservative Teil der Landwirtschaftslobby lief
unermüdlich Sturm gegen diese Novelle.
({1})
Kollege Cajus Caesar hat uns das ja wieder vorgeführt.
Dennoch sind einige Fortschritte erzielt worden. Zu
nennen wären die Einführung eines bundesweiten Biotopverbundes, für den erstmals Regelungen einschließlich solcher zur Mindestgröße der Gebiete aufgestellt
wurden, die bundeseinheitlichen Regelungen zur Verbandsklage sowie die Regelungen zum Meeresschutz, zur
flächendeckenden Landschaftsplanung und zur Umweltbeobachtung. Zudem gelten jetzt für die Land- und Forstwirtschaft mehr Naturschutzauflagen.
Während bei den Beratungen im Bundestag zahlreiche
Änderungen zum ursprünglichen Regierungsentwurf eingearbeitet wurden, die in der überwiegenden Mehrzahl
positiv zu bewerten sind, wurde die Novelle im Bundesrat in einigen Punkten aufgeweicht.
({2})
Schmerzlich ist vor allem, dass die Möglichkeit der Beteiligung von Verbänden bis hin zur Klage, sofern Planfeststellungen durch Bebauungspläne ersetzt werden, im
Vermittlungsergebnis herausgefallen ist. Hier ergibt sich
ein Spielraum, um gerade in Ostdeutschland die unliebsame Bürgerbeteiligung durch die Wahl eines bequemeren Verfahrens auszuhebeln.
({3})
Für mich unverständlich ist zudem, dass es nun für die Fischereiwirtschaft überhaupt keine Vorschriften zur guten
fachlichen Praxis geben soll.
({4})
- Ich erzähle dazu noch etwas.
Unklar ist auch, ob durch die im Vermittlungsverfahren
eingeführte Einschränkung der ursprünglich vorgesehenen
schlagspezifischen Dokumentation über den Einsatz von
Dünge- und Pflanzenschutzmitteln nicht lediglich der unbefriedigende Status quo festgeschrieben wird. Diese soll
nun nach Maßgabe des landwirtschaftlichen Fachrechtes
durchgeführt werden. Doch das gilt ja auch heute schon.
In der Summe ist mit der Naturschutznovelle nicht
wirklich der große Wurf gelungen. Das sehen - hinter den
Kulissen - auch die Umweltverbände so. Ich denke, ihnen
blieb nach 25 Jahren Stillstand und Blockade im
Naturschutzrecht nichts anderes übrig, als die Novelle,
die ja tatsächlich einiges verbessert, zu verteidigen.
({5})
Ähnlich geht es auch der PDS. Wir hatten, wie Sie sich
sicher erinnern, einen weiter gehenden Gesetzentwurf eingebracht. Dieser hatte keine Chance. Wir haben
aber weder auf Bundes- noch auf Landesebene den
Koalitionsentwurf abgelehnt.
Jetzt zu Ihrer Frage. Ich möchte einige Märchen entkräften.
({6})
Auch in Mecklenburg-Vorpommern haben sich die PDS
und ihr Umweltminister dem Koalitionsentwurf nicht verweigert. Es war nicht die PDS, sonder die SPD. Sie können sich die Reden von Herrn Methling angucken.
({7})
- Liebe Kollegen, wenn Sie im Glashaus sitzen, sollten
Sie nicht mit Steinen werfen.
({8})
Eine Partei, die den Atomkompromiss gut findet und sich
für Auslandseinsätze der Bundeswehr einsetzt, braucht
hier nicht den Mund aufzureißen. Wir sind im Wahlkampf. Das wissen wir auch.
({9})
Aber die, die im Glashaus sitzen, sollten nicht mit Steinen
werfen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammengefasst
meinen wir, dass die rot-grüne Naturschutznovelle einige
Aspekte moderner Naturschutzpolitik aufgreift. Andere
Forderungen aus Wissenschaft und Umweltpolitik, wie
sie in unserem Gesetzentwurf zu finden sind, harren noch
einer gesetzlichen Umsetzung. Bei der nächsten Novelle
des Naturschutzgesetzes müssen neue Regelungen gefunden werden, um den Flächenverbrauch zu begrenzen.
Ich denke, das ist eine ganz wichtige Sache. Im Zeichen
der Nachhaltigkeit muss hier wesentlich weiter diskutiert
werden und es müssen Tatsachen geschaffen werden.
Auch der weiterhin unbefriedigende Baurechtskompromiss, welcher nach wie vor Naturschutzbelange hintanstellt - Sie kennen die Problematik: „Benehmen“ in „Einvernehmen“? -, sollte geändert werden. Ich wünsche mir,
dass unsere Vorschläge zum Individualklagerecht bei
Umweltbelangen nach amerikanischem Vorbild und auch
die von den Verbänden lange geforderte Positivliste für
den Wildtierhandel diskutiert werden und einfließen.
Ich komme zum Schluss. Vonseiten der CDU/CSU und
der FDP wurde hier die Frage der Tierhaltung diskutiert.
Ich meine, wir müssen für eine vernünftige Tierhaltung
sorgen. Ich habe kein Verständnis zum Beispiel für die
FDP, die zwar fordert, den Tierschutz ins Grundgesetz
aufzunehmen, sich aber aufregt, wenn endlich eine vernünftige Legehennenverordnung eingeführt wird. Viele
Tierschutzverbände fordern das seit langem. Auch in den
Ställen hat sich etwas verändert.
Danke.
({11})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Neuregelung
des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege
und zur Anpassung anderer Rechtsvorschriften. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/8095? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Fraktionen von CDU/CSU - ({0})
- Sie sollten abwarten. - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei hälftiger Zustimmung und hälftiger Enthaltung der PDS angenommen. ({1})
Sie sind so ungeduldig heute Morgen.
({2})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gisela
Schröter, Eckhardt Barthel ({4}), HansEva Bulling-Schröter
Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Rita
Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reform der deutschen Filmförderung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd
Neumann ({5}), Dr. Norbert Lammert,
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbesserung der Rahmenbedingungen für
den deutschen Film
- Drucksachen 14/7178, 14/3375, 14/7705 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Bernd Neumann ({6})
Hans-Joachim Otto ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Kollegin Gisela Schröter für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir diese Debatte zur Filmförderung heute führen können. Ich finde es
gut, dass sie nicht in den Wahlkampf gezogen wird. So
können wir unsere gute Zusammenarbeit zwischen allen
Fraktionen fortsetzen, um schließlich ans Ziel zu kommen, der Novellierung des Filmförderungsgesetzes.
({0})
Das Filmförderungsgesetz ist, wie Sie wissen, bis zum
31. Dezember 2003 befristet und steht für uns daher im
nächsten Jahr auf der Agenda. Unsere heutige Debatte begreife ich als einen wichtigen Schritt zur Reform des
Filmförderungsgesetzes.
({1})
Nicht nur das auslaufende Gesetz zur Filmförderung
gibt Anlass zum Handeln; es ist - ich denke, da verrate ich
kein Geheimnis - die Lage des deutschen Films selber, die
Handeln erfordert. Dazu zählt auch gesetzgeberisches
Handeln. Es ist nicht damit getan, das geltende Gesetz
fortzuschreiben, es muss in wichtigen Punkten grundlegend umgestaltet werden.
({2})
- Das stimmt, darüber sind wir uns einig. Darüber
herrscht, wie wir wissen, weitgehend Konsens, Herr Kollege Otto.
({3})
Wir dürfen uns nicht durch die guten Zahlen täuschen
lassen, die der deutsche Film derzeit vorzuweisen hat.
({4})
Der derzeit relativ hohe Marktanteil konnte - ich denke,
auch darüber sind wir uns einig, Herr Kollege Otto - im
Wesentlichen durch zwei sehr erfolgreiche Filme erreicht
werden, und zwar zum einen durch den Film „Der Schuh
des Manitu“ und zum anderen durch die deutsch-französische Koproduktion „Die fabelhafte Welt der Amélie“.
Ich freue mich, dass es im vergangenen Jahr neun Produktionen gab, die über 1 Million Besucher aufweisen
konnten, und freue mich ganz besonders darüber, dass
darunter vier Kinderfilme waren. Ich denke, das ist sehr
gut.
({5})
Die langjährige Erfahrung hat uns aber gezeigt, wie
schnell das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen und der Marktanteil zusammenschrumpfen
kann. Warum sollen wir uns eigentlich mit einem Marktanteil von ungefähr 20 Prozent zufrieden geben, während
fast der gesamte Rest von US-amerikanischen Produktionen bestritten wird?
({6})
- Im Moment liegen wir mit 19,7 Prozent bei einem Anteil von ungefähr 20 Prozent. Ich habe schon darauf hingewiesen, welchen Filmen das in erster Linie zu verdanken war. Ich möchte mich damit nicht zufrieden geben.
Mit rund 175 Millionen Kinobesuchen im Jahr 2001
haben wir bei der Zahl der Kinobesuche eine Steigerung
von 15 Prozent zu verzeichnen. Ich nenne diese Zahl, um
auf die Massenwirksamkeit und die herausragende Bedeutung, die das Medium Film hat, hinzuweisen. Man
sollte sich diese hohe Zahl von Besuchern in deutschen
Kinos einmal vor Augen führen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Ausland sieht es
für den deutschen Film dagegen nicht rosig aus. Ganz anders verhält sich das übrigens mit den deutschen Fernsehproduktionen; diese stehen hier heute aber nicht zur Debatte. Es gibt kaum ein Filmfestival im Ausland, auf dem
deutsche Beiträge gezeigt werden. Da muss etwas passieren. Ich glaube, wir alle denken etwas wehmütig an die
70er-Jahre zurück. Das waren damals die goldenen Jahre
des deutschen Films nach 1945.
Als Mitglied der Vergabekommission der Filmförderungsanstalt sind in den letzten Jahren eine ganze Menge
Drehbücher durch meine Hände gegangen. Es war, so
muss ich Ihnen sagen, nicht immer ein Vergnügen; durch
so manches musste ich mich bis zum Schluss durchkämpfen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Bereits in
dieser ersten kreativen Phase des Filmemachens beginnt
schon das Problem. Natürlich lässt sich Kreativität nicht
verordnen, aber wir müssen die Rahmenbedingungen für
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
künstlerische Kreativität verbessern. Ich denke, darin sind
wir uns einig.
({8})
Wir können zum Beispiel konkrete Maßnahmen für die
Förderung des Autorennachwuchses ergreifen.
Ein Fazit: Die Lage des deutschen Films, ob im Inoder Ausland, gibt allen Anlass, das gesamte Fördersystem und die Rahmenbedingungen für das Filmschaffen
auf den Prüfstand zu stellen.
({9})
Die Debatte ist nicht neu. Sie hat einen sehr langen Vorlauf. Ich möchte darauf noch einmal kurz hinweisen: Angefangen hat es mit den Initiativen des damaligen Staatsministers Michael Naumann und es ging über die beiden
Anträge der Union und der Koalitionsfraktionen, über intensive Beratungen im Ausschuss bis hin zu der einstimmig
im Ausschuss angenommenen gemeinsamen Entschließung, die heute auch als Beschlussempfehlung Grundlage
unserer Debatte ist. Dieser Vorlauf war wichtig und notwendig, auch wenn er einigen zu lange gedauert hat.
Wir dürfen nicht den Blick dafür verlieren, wie gegensätzlich die Interessen der Filmbranche gelagert
sind. Wir wissen auch, dass die Regelungsmöglichkeiten
des Bundes auf diesem Feld relativ eingeschränkt sind.
Wirkliche Bewegung in die festgefahrenen Positionen
kam - ich denke, das steht außer Frage, auch wenn es am
Anfang ein wenig gehakt hat - mit dem Bündnis für den
Film, wo alle Beteiligten erstmalig an einen Tisch zusammen gekommen sind.
({10})
Ich denke, das war die Voraussetzung dafür, dass wir
heute hier über konkrete Reformvorschläge diskutieren
können. Diese Vorschläge für eine Reform der Filmförderung hat Staatsminister Nida-Rümelin in seinem filmpolitischen Konzept im November des vergangenen Jahres
vorgelegt. Es sind also ganz konkrete Vorlagen, über die
wir hier diskutieren sollen und wollen.
({11})
Für mich ist es ganz besonders wichtig - das möchte
ich auch noch einmal sagen -, dass diese Reformvorschläge über die im neuen FFG zu regelnde Materie hinausgehen. Es wird nicht nur anhand des FFG diskutiert,
sondern wir gehen weiter. Wir lassen uns davon nicht einschränken. Das ist die besondere Stärke des Konzepts. Es
nimmt das deutsche Filmförderungsgesetz in seiner
Gänze, also auch unter Einschluss der Länderförderung
- das ist ganz besonders wichtig - und der europäischen
und internationalen Rahmenbedingungen, in den Blick.
Ich halte dieses Konzept für mutig und so auch für gelungen.
({12})
Es werden durchaus strittige Ideen in die Diskussion
eingebracht. Hierbei denke ich beispielsweise an den Vorschlag - diesen möchte ich schon einmal nennen - eines
Investitionsbeitrages des Fernsehens.
Ich halte dieses Konzept auch mit Blick auf die Umorientierung des Förderverständnisses für gelungen. Mit
diesem Konzept wird der Film zum ersten Mal wirklich
als Kulturgut betrachtet. Darauf liegt der Schwerpunkt
dieser Debatte.
({13})
Das umfasst - lassen Sie mich das auch noch nennen erstens den massenwirksamen, kommerziell erfolgreichen, aber zugleich auch qualitativ guten Film und zweitens den primär künstlerisch anspruchsvollen Film, der
nicht auf das Massenpublikum zielt, aber für Vielfalt in
den Kinos sorgt.
({14})
Ich denke, es ist wichtig, das Nebeneinander dieser beiden Filmarten zu fördern.
So verstanden, ist die Förderung über jeden Verdacht
einer Subventionspolitik erhaben und hat damit - das ist
auch ganz wichtig - nicht zuletzt von einer Beihilfekontrolle durch die EU nichts zu befürchten. Auch darauf
muss ich hinweisen.
Wichtig finde ich auch die Grundforderung des Konzepts, die Produktionsbudgets deutlich zu erhöhen. Wir
können angesichts des Abschneidens im internationalen
Vergleich nicht die Augen davor verschließen, dass hier
etwas getan werden muss.
({15})
- Es gibt vieles - dies, Kollege Lammert, zu Ihrer
Frage -, worüber wir noch diskutieren müssen und wollen.
({16})
Ich denke, dass all diejenigen, die heute dazu reden werden, auch dazu bereit sind.
Wir haben keine Schere im Kopf, die uns hindert, alle
Eventualitäten hier zu diskutieren. Wir wissen, dass es
viele Knackpunkte gibt. All diese müssen wir offen diskutieren. Ich denke zum Beispiel an ein deutlich stärkeres
Engagement des deutschen Fernsehens; das ist angesprochen worden. Ich denke auch an den noch geltenden Medienerlass. Es geht darüber hinaus darum, die Referenzfilmförderung gegenüber der Projektfilmförderung zu
stärken, und es geht - auch das ist genannt worden - um
eine stärkere Außenvertretung des deutschen Films.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, das ist
eine breite Palette; wir haben viel zu tun. Gestatten Sie
mir, das zum Schluss zu sagen: In der nächsten Woche
findet hier die Berlinale statt und demnächst werden wieder die Oscars verliehen. Es wäre doch toll, wenn dort
endlich wieder einmal deutsche Filme prämiert würden.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Erfolg bei der
Arbeit.
Herzlichen Dank.
({17})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Bernd
Neumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier
heute zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode über
die Rahmenbedingungen des deutschen Films und über
seine Perspektiven.
({0})
Ich meine, das ist angemessen; denn der deutsche Film ist
ein wichtiges Wirtschafts- und Kulturgut. Wenn wir heute
über den Film diskutieren, meinen wir den Kinofilm
- nicht den Fernsehfilm - als besonderes Kulturgut mit
seinen Anforderungen an Ästhetik, Kameraführung und
Darstellung und mit seinen Chancen.
Vom Zeitpunkt her ist die heutige Debatte höchst aktuell; denn sie findet unmittelbar vor der Eröffnung der
Berlinale statt, bei der sich auch deutsche Filme dem internationalen Wettbewerb stellen. Der deutsche Film wird
nach den Worten des neuen Berlinale-Chefs, Dieter
Kosslick, einen starken Auftritt bei den internationalen
Festspielen in Berlin haben. Im diesjährigen Wettbewerb
konkurrieren insgesamt vier deutsche Filme mit weiteren
44 aus aller Welt um den Goldenen Bären. Darüber hinaus
werden in der Reihe „Perspektive deutsches Kino“ zehn
Filme von Nachwuchstalenten gezeigt.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklung ist zu
begrüßen; denn wie soll der deutsche Film international
erfolgreicher werden, wenn wir das bedeutendste Festival
im eigenen Land nicht dazu nutzen, herausragende deutsche Filme anzubieten, und stattdessen, wie in der Vergangenheit, möglichst viele US-Produktionen in den
Wettbewerb holen?
({1})
Dem neuen Berlinale-Chef, Dieter Kosslick, sei dafür
herzlich gedankt.
({2})
Der deutsche Film hat einen bescheidenen Marktanteil
in den deutschen Kinos; Frau Schröter hat darauf hingewiesen. Dieser lag in den letzten Jahren zwischen 10 und
18 Prozent.
({3})
Das Jahr 2001 war für den deutschen Film - man muss es
immer relativ sehen - allerdings das erfolgreichste seit
langer Zeit. Der Marktanteil lag bei fast 20 Prozent. Der
Film „Der Schuh des Manitu“ ist mit über 11 Millionen
Besuchern der erfolgreichste deutsche Film überhaupt.
({4})
2001 gab es acht deutsche Filme, die in unseren Kinos
mehr als 1 Million Besucher erreichten. Auch das ist bemerkenswert. Natürlich ist dies kein Grund zur Euphorie;
denn die Zahlen sind nicht stabil. Sie hängen von wenigen
besonders erfolgreichen Filmen ab. Dies kann sich schnell
wieder ändern. Dennoch sollte man sich darüber freuen.
Meine Damen und Herren, natürlich sind die Rahmenbedingungen für den deutschen Film, einschließlich der
Fördermechanismen, dringend verbesserungsbedürftig.
Dabei muss trotz allem die Zielsetzung realistisch bleiben. Die Zielsetzung heißt - Frau Kollegin Schröter, Sie
haben hier euphorisch eine Zahl genannt -: Es gilt, den im
letzten Jahr erreichten Anteil deutscher Filme in unseren
Kinos, also etwa 20 Prozent, möglichst zu halten, zu stabilisieren und vielleicht sogar ein wenig auszubauen. Alle
anderen Zielsetzungen sind aus heutiger Sicht unrealistisch. Auf den internationalen Märkten und auch in
Deutschland werden wir in der Quantität mit Hollywood
sobald nicht konkurrieren können. Die Dominanz des
amerikanischen Films hat primär filmunspezifische Ursachen, die mit dem riesigen Markt für englischsprachige
Filme und entsprechend höherem Kapital zusammenhängen. Wenn in Deutschland durchschnittlich nur 4 Millionen Euro für einen Film zur Verfügung stehen, in Amerika dagegen 50 Millionen Dollar, wird der ungleiche
Wettbewerb deutlich.
Auch der Verweis auf den Erfolg des französischen
Films in Frankreich - der Marktanteil liegt dort gegenwärtig bei 41 Prozent - ist wenig tauglich. Ursache dieses
Erfolges sind neben einer in der Tat traditionell besseren
kulturellen Akzeptanz des Films im Vergleich zu Deutschland ein ausgeprägter staatlicher Dirigismus und Zentralismus, verbunden mit Quoten und einer Kinoabgabe von
11 Prozent; bei uns liegt diese bei 2 Prozent. Das wollen
wir in Deutschland so nicht.
({5})
Wir haben gute deutsche Filme, hoch begabte Regisseure, Drehbuchautoren, Schauspieler und Kameraleute,
die von der Qualität, also von kulturellen und filmischen
Ansprüchen her, im Vergleich mit Frankreich und Italien,
aber auch den USA voll mithalten können.
({6})
Deshalb halte ich es für ungerecht und falsch, den deutschen Film als solchen schlecht zu reden.
({7})
Die primäre Verantwortung für den Film liegt bei der
Filmwirtschaft und den Filmschaffenden selbst. Die Politik kann nur möglichst vernünftige Rahmenbedingungen für den Film schaffen. Hier allerdings ist einiges zu
tun. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte deshalb bereits am 16. Mai 2000 einen Antrag in den Deutschen
Bundestag eingebracht, der für die erste filmpolitische
Debatte in diesem Hause im September 2000 und für die
heutige ursächlich ist.
Dass dieser Antrag, in dem es um die Vorlage eines
Konzeptes der Bundesregierung zur Verbesserung der
Rahmenbedingungen für den deutschen Film geht, erst
heute, also nach fast zwei Jahren, abschließend behandelt
werden kann, liegt ausschließlich an der Verzögerungshaltung der rot-grünen Regierungskoalition, die damit
den Ministerwechsel im Bereich Kultur und Medien
einschließlich seiner Einarbeitungsphase überbrücken
wollte. Besonders kurios wurde es, als SPD und Grüne im
Oktober 2001, also anderthalb Jahre nach der Einbringung unseres Antrages, einen fast inhaltsgleichen Antrag
in den Bundestag einbrachten und dafür im Ausschuss für
Kultur und Medien unseren Antrag ablehnen wollten.
({8})
Letztlich setzte sich auch bei Ihnen die Vernunft durch,
({9})
sodass wir heute einen gemeinsamen Beschlussvorschlag
unterbreiten. Ich darf dennoch feststellen, dass Sie mit
dieser Verzögerung dem Anliegen des deutschen Films einen schlechten Dienst erwiesen haben.
({10})
Mit der Vorlage des filmpolitischen Konzeptes des
BKM im November letzten Jahres wurde die Intention unseres Antrages, wenn auch leider sehr spät, erfüllt. Das
Konzept ist, Herr Nida-Rümelin, eine solide Diskussionsgrundlage. Es enthält interessante Anregungen,
({11})
aber in den meisten Punkten keine endgültigen Festlegungen, sodass, wenn wir der Filmwirtschaft endlich helfen
wollen, alsbald konkrete Beschlüsse dazu folgen müssen.
Ich möchte zu vier Schwerpunkten dieses Papiers Stellung nehmen.
Erstens. Die öffentliche Förderung deutscher Filme
ist unverzichtbar. Ohne diese wäre die Mehrzahl nicht
darstellbar.
({12})
Dies ist politisch vertretbar; denn der Kinofilm ist ein wichtiges öffentliches Kulturgut. Bernd Eichinger hat Recht,
wenn er fordert, dass der Film im Verhältnis zu Theater und
Oper als gleichrangige Kunstform anzusehen ist.
({13})
Die Vielfalt in diesem Bereich lässt sich über den Markt,
Herr Otto, allein nicht erreichen.
({14})
Von den etwa 185 Millionen Euro, die für die Filmförderung in Deutschland jährlich zur Verfügung stehen,
werden über die FFA circa 60 Millionen Euro von der
Filmwirtschaft selbst aufgebracht. Nur circa 15 Millionen
Euro kommen aus dem Bundeshaushalt, die größere
Summe also von den Ländern. Forderungen nach Zentralismus und der Kompetenz des Bundes sind daher deplatziert, es sei denn, der Bund wolle sein finanzielles Engagement deutlich erhöhen. Das sieht aber nicht so aus.
Deshalb kann nur Kooperation zwischen Bund und
Ländern infrage kommen. Sie aber ist nötig und muss
weiter verbessert werden, um der nationalen Bedeutung
des Films verstärkt Rechnung zu tragen und auch große
deutsche Filme zu ermöglichen.
Das Ziel des Filmkonzepts, die Referenzförderung zu
stärken, um erfolgreiche Filme und damit deren Wirtschaftlichkeit zu honorieren sowie Kapital für neue Filme
bereitzustellen, ist zu begrüßen. Es ist auch richtig, das
dies nicht zulasten der Projektförderung gehen darf.
({15})
- Doch.
Zweitens. Unverzichtbar für Kreativität und Innovation sind unabhängige Produzenten. Dazu gehört deren
Verfügungsmöglichkeit über eigene Filmrechte. Deshalb
unterstützen wir die vorgesehene Reduzierung der Rechterückfallfristen von sieben auf fünf Jahre und gegebenenfalls darüber hinaus. Die Einführung eines Investitionsbeitrages zugunsten von Kinofilmen unabhängiger
Produzenten, den Fernsehveranstalter und gegebenenfalls
auch andere Filmanbieter zu zahlen haben, halte ich für
problematisch. Diese müssten dann einen bestimmten Anteil ihres Programmbudgets in Werke unabhängiger Produzenten investieren. Vergleichbare Bestimmungen im
EU-Bereich - ich denke hierbei an die Fernsehrichtlinie haben nichts bewirkt, weil durch die Möglichkeit vielfältiger Interpretation Umgehungen nicht zu verhindern
sind. Solche Regelungen führen eher zum bürokratischen
Streit, nicht aber zur Stärkung von Produzenten.
({16})
Drittens. Die Absicht, im Rahmen der anstehenden Novellierung des FFG eine deutliche Erhöhung der bisher
freiwilligen Abgabe der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender für die Filmförderung zu erreichen,
wird von der CDU/CSU-Fraktion voll unterstützt. Die
bisher geleistete Summe von nur 22 Millionen DM jährlich steht in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, den die
Fernsehanstalten durch die jährliche Ausstrahlung von
vielen tausend Kinofilmen haben.
({17})
Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat aufgrund seiner Gebühreneinnahmen in Höhe von mehr als
6 Milliarden Euro eine besondere Verpflichtung für den
deutschen Film.
({18})
Bernd Neumann ({19})
Viertens. Die im Konzept der Bundesregierung
geäußerte Absicht, die Kino- und Videoabgabe um einige
Prozentpunkte zu erhöhen, halten wir für falsch. Angesichts des Kinosterbens sollten zurzeit keine weiteren Belastungen auf die Kinos zukommen.
({20})
Zurzeit zahlen die Filmtheaterbesitzer jährlich circa
18 Millionen Euro Abgaben. Eine Erhöhung um nur
1 Prozent des Jahresumsatzes ergäbe eine Summe von circa
9 Millionen Euro. Dies ist insbesondere den mittelständischen Unternehmern im Augenblick nicht zuzumuten.
({21})
Meine Damen und Herren, bei den Tagungen des
„Bündnisses für den Film“ wie auch in dem filmpolitischen Konzept der Bundesregierung wurden bzw. werden
überwiegend Themen behandelt, für die der Bund keine
direkte Zuständigkeitskompetenz hat. Umso wichtiger
wäre es und umso glaubwürdiger wäre die Bundesregierung in ihren allgemeinen Bekenntnissen für den deutschen Film, wenn sie wenigstens dort zur Verbesserung
der Rahmenbedingungen beitrüge, wo sie die direkte Verantwortung hat. Hier allerdings sind die Ergebnisse bescheiden, um das vorsichtig auszudrücken. Lassen Sie
mich vier Punkte nennen.
Erstens. Die von der Bundesregierung initiierten Gesetzesänderungen zum Urhebervertragsrecht haben entgegen den Wünschen und Zusagen in allen Treffen des
„Bündnisses für den Film“ die Rechtsposition der Produzenten und damit ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht gestärkt, Herr Nida-Rümelin, sondern durch
eine Reihe unklarer Formulierungen sogar noch geschwächt - eine Ohrfeige für die Filmwirtschaft.
({22})
Zweitens. Der Medienerlass des Finanzministers zur
steuerlichen Behandlung von Filmfonds hat fatale Folgen
für die internationale Zusammenarbeit.
({23})
Grenzüberschreitende Koproduktionen werden erschwert
bzw. unmöglich und konterkarieren damit die Bemühungen, deutsche Filme im Ausland wettbewerbsfähig zu machen.
({24})
Staatsminister Nida-Rümelin kennt das Problem. Seit fast
einem Jahr warten die Betroffenen auf eine Lösung.
({25})
Drittens. In Ihrem gestrigen Interview mit der „FAZ“
beklagen Sie, Herr Staatsminister, dass Medienfonds, die
mit deutschem Geld gespeist werden, ein Fünftel bis ein
Viertel des Hollywoodfilms finanzieren und damit Milliardenbeträge ins Ausland fließen. Tatsächlich haben allein
im Jahr 2001 vorwiegend private deutsche Investoren
rund 3,5 Milliarden Euro in solche Medienfonds investiert. Dieses Geld fließt ganz überwiegend in Auftragsproduktionen US-amerikanischer Studios und steht somit
deutschen und europäischen Produzenten nicht mehr zur
Verfügung.
Herr Staatsminister, Sie beklagen in dem Interview mit
Recht, dass wir in Deutschland die Einzigen sind, die dadurch entstehende Steuerausfälle - man schätzt sie auf
circa 1,2 Milliarden Euro - großzügig zulassen.
Meine Damen und Herren, dieses Problem ist doch seit
1999 bekannt, nachdem die rot-grüne Bundesregierung
den unseligen § 2 b in das Einkommensteuergesetz eingeführt hat. Warum ändern Sie denn nichts, wenn Ihnen die
deutsche Filmwirtschaft am Herzen liegt? Wir würden
dies uneingeschränkt unterstützen.
({26})
Viertens. Die Außenvertretung des deutschen Films
ist natürlich verbesserungsfähig. Der Deutsche Bundestag
hatte die Bundesregierung bereits 1998 - Kollege
Börnsen, Sie waren dafür federführend ({27})
aufgefordert, Vorschläge zu machen. Seit 1999 wird dieses Thema immer wieder in allen Bündnisveranstaltungen
für den Film diskutiert. Ankündigungen, diverse Gutachten und häufige Kritik aus Ihrem Hause, Herr NidaRümelin, haben zwar für Verunsicherung der Mitarbeiter
der Export-Union gesorgt; aber bis heute gibt es kein konzeptionelles Ergebnis. Das ist unverantwortlich. Eines
steht fest: Wenn Sie die Verstärkung der Arbeit der Export-Union im Ausland fordern, müssen Sie selbst deutlich mehr Mittel zur Verfügung stellen, anstatt sie einzufrieren. Alles andere wäre unglaubwürdig.
({28})
Meine Damen und Herren, obwohl es viele Gemeinsamkeiten in diesem Hause beim Thema Film gibt, stelle
ich doch fest, dass Ansprüche und Wirklichkeit bei dieser
Bundesregierung auch im Bereich der Filmpolitik weit
auseinander klaffen. Allerdings ist nicht zu bestreiten,
dass sich der neue Staatsminister für Kultur und Medien
um den Filmbereich redlich bemüht. Wie heißt es so schön
in Goethes „Faust“? „Wer immer strebend sich bemüht,
den können wir erlösen!“ Das tun wir gern, meine Damen
und Herren,
({29})
und zwar durch einen Wahlsieg der CDU/CSU am
22. September.
({30})
Das Wort
hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Bernd Neumann ({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt
Formen der Erlösung, auf die man leicht verzichten kann.
({0})
Wir alle freuen uns auf die Berlinale. Wir freuen uns
darauf, dass es vier deutsche Filme gibt. Besonders wichtig ist, dass es einen deutschen Eröffnungsfilm von Tom
Tykwer gibt. Wir gratulieren dem neuen Chef der Berlinale, Herrn Kosslick, zu diesem Programm und wünschen
ihm auch für die Zukunft eine glückliche Hand.
({1})
Wir wollen dabei nicht vergessen, dass es eine echte Neuerung gibt, die das gute Verhältnis des Parlaments zur Berlinale zeigt: Die Feier wird in der Halle des Paul-LöbeHauses stattfinden. Das ist sicherlich auch ästhetisch ein
Fortschritt gegenüber den Feiern der letzten Jahre.
Film ist ein außergewöhnliches und auch sehr suggestives Medium, das nahezu alles kann: an Imagination,
gelegentlich aber auch - darum ist Film auch kein harmloses Medium - an Wirklichkeitsgestaltung und -veränderung. Film ist Kunst, Film ist aber auch Kommerz.
Deswegen birgt er in sich die denkbar breiteste Spannung,
was auch für Politiker, die dieses Medium fördern wollen,
nicht ohne Folgen ist.
Wir brauchen keine Vorbildung, um Filmgeschichten
zu verstehen,
({2})
und doch wäre eine gründliche Ausbildung erforderlich,
um die subtile Sprache dieses Mediums auch in seiner
ganzen Tiefe zu erfassen oder sie gar selbst zu sprechen.
Film ist die Kunst, die die anderen Künste in sich vereint.
Film ist Kultur und gleichzeitig ein ganzer Wirtschaftszweig, bei dem wir uns, Herr Otto, nicht mit 18 Prozent
zufrieden geben wollen.
({3})
Sieht man sich diese vielen Facetten an, so ist der Film
doch geradezu prädestiniert, populär und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Warum stagnierte aber der deutsche Film
in den letzten Jahren, sieht man von diesem Jahr ab?
Warum sind seine Marktanteile selbst im eigenen Land
über Jahre so gering gewesen, dass wir uns schon mit den
20 Prozent zufrieden geben, von denen Sie, Herr Neumann,
gesprochen haben? Warum wandern immer noch die deutschen Filmemacher und Stars ins Ausland ab? Was ist mit
dem deutschen Kino los und wie sieht seine Zukunft aus?
In den vorliegenden Anträgen - und zwar auch in dem
der Opposition, das will ich ausdrücklich anerkennen werden genau diese Fragen aufgeworfen. Der Staatsminister für Kultur und Medien hat eine sehr gründliche
Antwort darauf formuliert. Ich kann nichts Unanständiges
darin sehen, Herr Neumann, dass ein Ministerwechsel
dazu genutzt wird, ihn mit der gründlichen Ausarbeitung
eines Konzepts zu überbrücken. Ich meine, dafür müssten
Sie uns loben und nicht etwa kritisieren.
({4})
Julian Nida-Rümelin ist der Aufforderung dieses Hauses und vieler anderer Stellen nachgekommen und hat ein
Konzept erstellt. Wenn ich es richtig sehe, wird es den
nächsten großen Schwerpunkt der Arbeit des Kulturausschusses bilden, und zwar nicht nur in diesem Jahr, sondern auch darüber hinaus. Wir haben keine andere Alternative, als uns intensiv darum zu kümmern.
Das vorliegende Konzept ist kenntnisreich, umfassend
und detailliert. Es ist ein Programm zur Förderung des
deutschen Films und zu seiner Neuverortung.
({5})
Wir halten die wesentlichen Aussagen für richtig und
unterstützen sie. Ich möchte zwei Punkte herausgreifen.
Zunächst geht es um die Akzeptanz des Films in der Bundesrepublik.
({6})
Welche Stellung der Film bei uns einnimmt, möchte ich
anhand von vier Gesichtspunkten deutlich machen.
Erstens: staatliche Zuwendungen. Natürlich sind es die
materiellen Zuwendungen, die am leichtesten zu messen
sind. Ein Blick auf unseren Nachbarn, das viel gepriesene
Filmparadies Frankreich, zeigt, dass das Kino dort einen anderen gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Stellenwert hat als hierzulande. Es ist angesehen, beliebt und wird
von staatlicher Seite auf vielen Ebenen gefördert. Frankreich schützt seine Filmemacher durch Quotierung und
durch Kinoabgaben. Beides ist bei uns nicht sehr populär.
({7})
Das ist mir bekannt. Aber ich meine insbesondere in Bezug auf die Kinoabgabe, dass zwischen unserer Filmabgabe und der in Frankreich noch sehr viel Platz ist. Da
könnten wir noch zulegen.
({8})
Ganz abgesehen davon meine ich, dass wir nicht nur vom
deutschen Film sprechen dürfen,
({9})
sondern wenn wir vor der übergroßen Konkurrenz aus
Hollywood bestehen wollen, müssen wir gedanklich vom
europäischen Film ausgehen; also müssen sich die Fördersysteme in Europa aufeinander zubewegen.
({10})
Zweitens will ich nie vergessen, dass der deutsche Film
einmal sehr bedeutend gewesen ist. Er war sogar der weltweit bedeutendste und innovativste ({11})
in einer völlig anderen Zeit. Wir dürfen nie vergessen, was
der Nationalsozialismus auch im Bereich von Kunst und
Kultur an Zerstörung von Strukturen, Mythen und Existenzen von Künstlern und Regisseuren bedeutet hat, und
dass man 100 Jahre braucht, um wieder daran heranreichen zu können.
({12})
Drittens sollten wir einmal einen genaueren Blick auf unsere Filmpreise werfen. In den Auswahlkriterien wurde jedenfalls in der Vergangenheit - zu stark an der Trennung
zwischen Kunst und Unterhaltung festgehalten. Wenn aber
das Publikum ausbleibt, wandern die Filmemacher ab. Deshalb - das Konzept gibt eine Antwort darauf - versuchen wir
beides, nämlich den künstlerischen Wert und den Erfolg, als
Kriterien einzuführen und wichtig zu nehmen.
Viertens gibt es meines Erachtens ein Gewirr von unterschiedlichen Quellen der Unterstützung,
({13})
sodass man manchmal den Eindruck gewinnt, dass die
Qualität eines Geschäftsführers wichtiger ist als die eines
Regisseurs.
({14})
Aber an guten Regisseuren, Schauspielern und Produzenten mangelt es uns nicht. Wir können sie nur nicht halten.
Das ist unser Problem. Dabei muss man sich manchmal
auch fragen, welche Einstellung die Öffentlichkeit zu diesen besonderen Kreativen, unseren Künstlern in vielen
Bereichen, aber auch zu Schauspielern und Produzenten
hat. Warum klagen so viele Schauspieler, Produzenten
und Stars, dass sie in Deutschland permanent einer besonderen Häme und Härte der Kritik ausgesetzt sind
({15})
und eine ganz andere Stellung einnehmen als Künstler,
Stars und Schauspieler in anderen Ländern? Ich glaube,
die Öffentlichkeit - übrigens auch die Kulturkritik - sollte
sich einmal überlegen, woran es liegt, dass sich so viele
kreative Menschen verletzt fühlen.
(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig
({16})
Um wieder etwas Materielles anzusprechen: Natürlich
ist es auch wichtig, wie für den deutschen Film im Ausland geworben wird. Die Probleme der Export-Union waren schon oft ein Thema; Herr Neumann, Sie haben darauf
hingewiesen. Schon der Name, der nicht aus unserer Zeit
stammt, erinnert eher an einen Bierverlag als an eine Institution zur Förderung eines künstlerischen Mediums im
Ausland. Da könnten wir einiges tun, auch im Sinne ihrer
Mitarbeiter. Ich denke, dass wir mit unseren neuen Plänen, auch mit der Bundeskulturstiftung, dafür sorgen können, dass es auch im Ausland eine Plattform für unsere
Künstler gibt.
({17})
Wir hatten vor einiger Zeit eine Theateranhörung; dort
waren viele Regisseure und Schauspieler, sehr interessante Leute aus dem Theaterbereich anwesend. Ich habe
die Diskussion mit einer regelrechten Provokation begonnen, indem ich gesagt habe: Über Geld wird nicht geredet.
Das verursachte zunächst große Empörung. Dann aber haben wir den ganzen Tag über Kreativität und die Bedingungen dafür geredet, zum Beispiel darüber, wie das
Theater heutzutage auf Ereignisse wie den 11. September
reagiert, ob es noch ein politisches Theater gibt und ob es
nicht Zusammenschlüsse von Kreativen, von Regisseuren
geben muss, um sich gegenseitig zu unterstützen, um gemeinsam wieder eine eigene Handschrift zu finden, die
auch in einer globalisierten Welt Bestand haben kann.
Ich wünschte mir, dass die Diskussion über die Bedingungen von Kreativität, über die eigene Handschrift des
deutschen oder auch europäischen Films auch in der Filmwirtschaft begonnen wird. Denn genau dies war Bestandteil der großen Zeit des deutschen Nachkriegsfilms. Diese
Zeit war geprägt durch Solidarität unter den Künstlern
und gegenseitiges kreatives Befruchten, nicht durch große
finanzielle Förderung.
({18})
Dies heißt nicht, dass wir den Film nicht fördern sollten.
Ich glaube aber, dass Politik und Kultur hier zusammenarbeiten sollten. Kulturpolitik ist nämlich - in diesem
Sinne verstanden - zunächst einmal Kultur. Vielleicht ist
die Berlinale die erste Möglichkeit, miteinander über
diese Ziele zu reden.
Danke.
({19})
Für die FDP
spricht nun der Kollege Hans-Joachim Otto.
Liebe Kollegin Vollmer, ich lausche immer wieder sehr gerne Ihren
interessanten, schöngeistigen Höhenflügen. Ich sehe es
hier allerdings als meine Aufgabe an, auf die noch immer
sehr deprimierende Bilanz hinzuweisen.
Der Anteil des deutschen Films im Jahr 2000 - das ist
das letzte Jahr, zu dem offizielle und gesicherte Daten der
FFA vorliegen - sank von 14 Prozent auf 12,5 Prozent.
Dieser Anteil wäre im Jahr 2001 vermutlich weiter gesunken, Kollege Neumann, hätte es nicht kulturelle Highlights wie „Der Schuh des Manitu“ gegeben. So sehr wir
uns aber auch über den Erfolg dieses Films freuen: Dies
entspricht nicht ganz den hehren Zielen und Anforderungen, die Sie, Frau Kollegin Vollmer, eben dargestellt haben. Wir freuen uns auch über den Erfolg des Films „Die
fabelhafte Welt der Amélie“. Aber, Hand aufs Herz: Wer
außer uns Filmpolitikern und einigen Filmförderern weiß
denn schon, dass es sich bei dieser sehr französischen Liebesgeschichte um eine deutsche Koproduktion handelt? Also: Wir haben im Jahr 2001 Glück gehabt; das ist schön.
Wir müssen uns aber wirklich Gedanken machen, wie es
weitergehen soll.
Sie, Herr Staatsminister Nida-Rümelin, verfolgen mit
Ihrem groß angekündigten filmpolitischen Konzept nach
eigenen Worten zwei Ziele: erstens, pragmatische Reformschritte vorzuschlagen und, zweitens, grundlegende
Veränderungen anzustoßen. Wenden wir uns also
zunächst einmal Ihren, wie Sie sagen, pragmatischen Reformvorschlägen zu.
Es gibt durchaus einige Vorschläge - darüber brauchen
wir gar keinen Streit zu entfachen -, die allseitige Zustimmung verdienen. Hierzu gehören beispielsweise die
verstärkte Förderung von Drehbüchern, des Verleihs und
der Außenvertretung des deutschen Films.
({0})
Wir widersprechen Ihnen auch nicht, wenn Sie die Projektmittel zugunsten der Referenzmittel drastisch umschichten wollen. Innerhalb des bestehenden Systems ist
das nur konsequent.
Wirsindzwarauchbei Ihnen, lieberHerrNida-Rümelin,
wenn Sie eine filmfreundliche Gestaltung des Urhebervertragsrechts fordern. Wir haben Sie aber vermisst, als
letzte Woche im Deutschen Bundestag die Urhebervertragsnovelle in dritter Lesung verabschiedet wurde.
({1})
Wo haben Sie da Ihre Stimme erhoben? Wo haben Sie für
eine filmfreundliche Gestaltung gekämpft? - Geschwiegen haben Sie!
({2})
- Das reicht nicht ganz.
Wir konnten auch nicht Ihre angekündigte Initiative bei
Finanzminister Eichel erkennen, um dessen Medienerlass
und § 2 b Einkommensteuergesetz zu ändern. Hat Sie da
der Mut vor fremden Thronen verlassen? Oder können Sie
auf zusätzliche Investorengelder verzichten?
({3})
So viel zu den pragmatischen Reformankündigungen.
Jetzt wende ich mich den von Ihnen vorgeschlagenen
„grundlegenden Veränderungen“ zu.
Ich habe mir Ihr Konzept durchgelesen - zweimal,
dreimal - und habe mich immer verzweifelter gefragt, ob
noch ein Kapitel beispielsweise mit der Überschrift „Systemwechsel“ oder „Zukunftsperspektive“ kommt. In meinem Druckexemplar muss dieses Kapitel wohl irgendwo
verloren gegangen sein. Die zentrale Botschaft, die Ihr
Papier durchzieht, heißt stattdessen - höchst altbacken sozialdemokratisch -: höhere Abgaben, noch mehr Umverteilung. An dieser Stelle verweigern wir Liberalen Ihnen
die Gefolgschaft.
({4})
Die Rettung des deutschen Films kommt nicht von
noch mehr Fördergeldern. Bereits heute beträgt die Filmförderung von Bund und Ländern insgesamt schlappe
400 Millionen DM jährlich oder - um es harmloser
auszudrücken - 200 Millionen Euro. Hinzu kommen
kommunale Mittel und vor allem Mittel aus europäischen
Förderprogrammen von weiteren 400 Millionen Euro.
Schon heute werden zwei Drittel aller Kosten des deutschen Films aus diesen Fördertöpfen gedeckt. Wohin wollen wir denn noch gehen?
Wie krass sich die Schere zwischen steigenden Fördermitteln und sinkenden Zuschauerzahlen öffnet, macht folgende Rechnung deutlich: In die deutschen Kinos kamen
im Jahr 2000 - aus diesem Jahr stammt die letzte gesicherte Zahl - 150 Millionen Besucher. Der Anteil des
deutschen Films betrug 12,5 Prozent. Das heißt,
18,75 Millionen Besucher haben sich deutsche Filme oder
Koproduktionen angeschaut. Bei 400 Millionen DM Fördervolumen - europäische Gelder außen vor - bedeutet
dies eine Subventionierung von 21,33 DM pro Besucher,
also fast doppelt so viel wie jede Kinokarte. Irgendwo ist
das Ende der Fahnenstange erreicht.
({5})
- Diese Diskussion führe ich mit Ihnen auch noch.
({6})
Die Umverteilungsarie hat zahlreiche deutsche Produzenten und Regisseure - das hat übrigens auch Frau
Vollmer eben bestätigt - offenbar bei der Erschließung öffentlicher Fördertöpfe kreativer werden lassen als bei der
Produktion guter Filme. Es ist das süße Gift der Subvention, das den Blick auf die Qualität und die Marktfähigkeit von Filmen trübt.
({7})
Wahrscheinlich schadet diese Förderpraxis dem deutschen Film mehr, als sie ihm nützt. Hier sollte der von Ihnen, Herr Nida-Rümelin, angekündigte Systemwechsel
liegen.
Zumindest mittel- bis langfristig brauchen wir eine
konsequente und deutliche Zweiteilung: Auf der einen
Seite sollte es die reine Kulturförderung geben, die sich
auf anspruchsvolle Dokumentarfilme und andere Formate
fokussiert, welche die Studio- und Programmkinos bespielen. Deren Produktion kann zielgerichteter und
erfolgreicher als bisher gefördert werden.
({8})
Hans-Joachim Otto ({9})
Auf der anderen Seite sollte es den weiten Bereich der
kommerziellen Kinofilme - Filme wie beispielsweise
„Schuh des Manitu“ - geben, die sich wie sonstige Wirtschaftsgüter mit privatem Kapital zu finanzieren haben.
Wenn Sie mich jetzt, Frau Kollegin Schröter und Frau
Kollegin Dr. Vollmer, für einen Turbokapitalisten halten
- das tun Sie ja sowieso -,
({10})
dann muss ich mich, Herr Kollege Barthel, für die Entgegnung der Autorität eines angesehenen Dritten bedienen. Frage des „Spiegel“: „Wird der deutsche Film sich je
ohne Fördergelder rechnen?“ Antwort: „Warum nicht? Es
gibt in Europa ein deutschsprachiges Einzugsgebiet von
mehr als 90 Millionen Menschen ...“ Es gibt auch noch
Übersetzungsmöglichkeiten.
({11})
Das sagte Michael Naumann. Inzwischen beschleicht
mich die bange Erkenntnis, dass mein „Freund“ Naumann
in der Filmpolitik mehr Mut und Perspektive als sein
Nachfolger hatte.
Im Interesse des gemeinsamen Ziels, den deutschen Film
national und international zu stärken - darin sind wir uns einig -, werden wir Liberalen mit Ihnen und allen Beteiligten
um ein Reformkonzept ringen. Wir appellieren aber an Sie,
endlich mehr Mut, mehr Konsequenz und mehr Fantasie zu
entwickeln. Der neue Berlinale-Chef, Dieter Kosslick, ist
mehrfach angesprochen worden. Auch ich möchte das tun.
Er hat vor kurzem so schön gesagt - ich zitiere -:
Die deutsche Filmförderung ist eine komplett konservative Schnarchabteilung, weil jeder Angst hat,
etwas zu verlieren, wenn er etwas verändert.
({12})
Ich kann nur sagen: Wenn nichts verändert wird, verlieren wir alles.
Soweit Herr Kosslick.
Also: Wecken wir die Schnarchabteilung! Bringen wir
frischen Wind in die deutsche Filmpolitik! Machen wir
den Film national und international wettbewerbsfähig! Es
ist höchste Zeit.
Vielen Dank.
({13})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Heinrich Fink.
({0})
Sie werden sehen! - Sehr
verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Einigkeit besteht darin, dass ein Reformprozess notwendig ist. Das haben wir alle zum Ausdruck gebracht. Die Akzente, die die Richtung, die diese
Reform einschlagen soll, vorgeben, werden von den verschiedenen Fraktionen aber durchaus unterschiedlich gesehen. Wir sollten die Vorstellungen bündeln, um der Reform zu einem Erfolg zu verhelfen.
Ich möchte kurz erläutern, in welche Richtung die
Überlegungen der PDS zur Filmpolitik gehen. Dabei muss
ich einräumen, dass wir bei der Diskussion um notwendige
Veränderungen in diesem kulturellen Bereich noch am Anfang stehen. Damit bekunde ich meine Bescheidenheit und
kündige nicht die von Ihnen erwartete Lösung an.
Wir halten die Verbesserung der Rahmenbedingungen
der Produktion und der Verbreitung von deutschen Filmen
für dringend notwendig. Dabei ist mehr als nur die Reform
der Filmförderung in den Blick zu nehmen. Es geht um die
Gesamtheit der Rahmenbedingungen: von den Förderinstrumenten, der Stellung der unabhängigen Filmproduzenten über steuerrechtliche und urheberrechtliche Fragen bis
hin zum gesellschaftlichen Klima und zum Stellenwert,
der dem Film beigemessen wird. Der deutsche Film muss
wieder das Kulturgut werden, das er einmal war.
Die kulturelle und die wirtschaftliche Bedeutung des
Kinofilms sind unbestritten. Aus Sicht der PDS ist auch
seine wirtschaftliche Bedeutung nicht zu unterschätzen.
Die Kulturwirtschaft ist eine der Schlüsselindustrien der
Gegenwart. Das mögliche Wachstumspotenzial, das ihr
Forscher bescheinigen, sollte - nicht zuletzt mit Blick auf
die Möglichkeit des Entstehens neuer Arbeitsplätze - ausgeschöpft werden. Dazu bedarf es einer ressortübergreifenden Politik, des Zusammenwirkens von Kultur-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitikern.
Dennoch hat für uns die kulturelle Zielsetzung Priorität. Insofern steht uns der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hinsichtlich seiner Intentionen näher.
In dem Antrag heißt es:
Die Reformvorschläge sollten darauf gerichtet sein,
...
- den deutschen Film primär als Kulturgut zu fördern, ohne die wirtschaftliche Förderung zu vernachlässigen;
...
- mit gezielten Maßnahmen den Erhalt der kulturellen Vielfalt im Filmschaffen zu gewährleisten; ...
Darum muss es nach meiner Meinung zweifellos für uns
alle gehen.
In diese Richtung gehen die vorgelegten Vorschläge
der Bundesregierung, deren Ansatz ist - ich wiederhole -:
Filmförderung ist Kulturförderung. Dieser Grundrichtung stimmen wir ohne Wenn und Aber zu.
Die Notwendigkeit der Filmförderung und des Einsatzes öffentlicher Mittel steht für uns außer Frage.
({0})
Hans-Joachim Otto ({1})
Kreativität und Vielfalt im Filmschaffen müssen gesichert
werden. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, woher die
Mittel dafür kommen können. Zum Beispiel müsste von
den Fernsehanstalten eine deutlich höhere Abgabe geleistet werden. Das wäre schon ein Schritt. Allerdings bin ich
auf jeden Fall gegen Kinopreiserhöhungen. Das bewirkte
nach meiner Meinung das Gegenteil.
({2})
Es sollte über ein verstärktes Engagement des Bundes
und der Länder in der so genannten kulturellen Filmförderung nachgedacht werden. Gemessen an dem tatsächlichen Finanzbedarf reicht das, was an öffentlichen Mitteln
zur Verfügung gestellt wird, keineswegs aus. Deshalb sind
sozusagen nur kleine Filme und nur bestimmte Genres
möglich. Wir sind uns einig: In den Film zu investieren
heißt, in Kultur zu investieren. Das ist für mich nach wie
vor die nachhaltigste Investition zur Erhaltung von Geschichte und Kunst.
Als Folge des bisherigen Fördersystems sehen wir inzwischen ganze Genres vernachlässigt, zum Beispiel den
Aktionsfilm, den Abenteuerfilm, vor allem aber den Dokumentarfilm. Gerade der Dokumentarfilm ist auf öffentliche Förderung angewiesen, soll er nicht gänzlich aus unseren Kinos verschwinden. Im Filmkonzept vermissen
wir Vorschläge dazu, wie dem zu begegnen ist. Den Dokumentarfilm als Kinofilm zu erhalten ist eine wichtige
kulturpolitische Aufgabe des Bundes.
({3})
Wir sehen mit Sorge, wie schwierig es gegenwärtig ist,
Stoffe zu verfilmen, die formal provokant sind oder sich
gar kritisch mit gesellschaftlichen Themen auseinander
setzen. Das aber sollte kulturelle Filmförderung ermöglichen.
Deshalb halten wir es für richtig, insbesondere bei der
Drehbuchförderung anzusetzen, um das kreative Potenzial von Autoren besser zu nutzen und einen Freiraum zur
Entwicklung jenseits der Marktzwänge zu schaffen. Zugleich sollten die Anreize für Produzenten verstärkt werden, Projekte von Autoren weiterzuentwickeln und auf
den Markt zu bringen.
Der Ausbau der kriterienbasierten Referenzfilmförderung ist zu begrüßen. Wichtig ist uns, dass dieser Ausbau
mit zusätzlichen Mitteln und nicht zulasten der Projektfilmförderung geschieht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch einer Hoffnung Ausdruck geben, nämlich dass
es zur Zusammenarbeit aller kommt, die mit Film beschäftigt sind. Ich begrüße es sehr, dass es nicht nur einen
Drehbuchpreis, sondern auch einen Cutterpreis gibt; denn
auch der Cutter ist letztlich an diesem Prozess mit beteiligt. Der Sachverstand aller und auch die Bereitschaft aller
zu gemeinsamer, von kooperativer Grundhaltung bestimmter Aktion sind notwendig. Deswegen sollten wir
uns diesem Filmförderungsunternehmen nicht verschließen, sondern sollten ihm unsere Stimme geben.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile
nunmehr dem Kollegen Wolfgang Börnsen für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
Herr
Präsident Dr. Seiters! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es dient dem Kulturgut Film, wenn wir in der Mehrheit grundsätzlich einer Auffassung sind. Damit wird auch
eine Tradition fortgesetzt, die es hier bereits in der letzten
Legislaturperiode gegeben hat. Ich bin meinem Kollegen
Bernd Neumann dankbar dafür, dass er trotz seiner deutlichen und gezielten Kritik diese Übereinstimmung im
Grundsatz noch einmal unterstrichen hat.
„Was tun, wenn’s brennt?“
({0})
ist der Titel eines neuen deutschen Films, der jetzt angelaufen ist. Noch brennt es beim Kulturgut Film nicht, doch
es schwelt seit langem.
Die Situation wird deutlich, wenn man sich die Position des deutschen Films auf der Jahresrangliste der zuschauerstärksten Streifen ansieht. 1998 war „Titanic“ das
Filmflaggschiff mit 18 Millionen Besuchern in Deutschland. Auf Platz 15 folgte eine bundesdeutsche Produktion,
„Comedian Harmonists“. Auf Platz 15! 14-mal Hollywood in Front! Auf Platz 19 dann „Lola rennt“. 1999
schaffte es der US-Film „Star Wars“ an die Spitze. Die
deutsch-französisch-italienische Koproduktion „Asterix
und Obelix“ kam auf Rang 9. Danach kam lange Zeit gar
nichts. Wieder beherrschte Hollywood den Markt.
({1})
Im Jahr 2000 war unter den zehn erfolgreichsten Kinoattraktionen keine einzige deutsche oder europäische Produktion. An der 15. Stelle stand mit „Anatomie“ der erste
bundesdeutsche Film. „American Pie“, „American Beauty“ und der US-Film „Gladiator“ dominierten das Kinoerlebnis der Jahrtausendwende und damit dominierten
amerikanische Ideale, amerikanische Werte.
Die US-Kulturoffensive per Film ist weltweit und ganz
besonders bei uns erfolgreich. Mit einem durchschnittlichen Marktanteil von gut 85 Prozent ist das amerikanische Kino in der Bundesrepublik marktbeherrschend.
Deutschlands junge Generation huldigt Hollywood, auch
weil attraktive nationale Alternativen fehlen. Das ist kulturpolitisch problematisch; denn der Spielfilm, egal ob er
im Kino, im Fernsehen oder auf Video läuft, hat kulturprägende Kraft. Er beeinflusst - weil er Denken und
Fühlen gleichermaßen anspricht - die soziale und kulturelle Identität seiner Zuschauer.
152 Millionen Kinokarten wurden im Jahr 2000 in
Deutschland verkauft. Die junge Generation ist der
Hauptkunde. Die Zahl der Kinoleinwände hat sich seit
1990 verdoppelt. Das Kino vermeldet Wachstumsrekorde. Damit wächst auch die Wirkung auf die nachwachsende Generation. Der für die Medien zuständige
EU-Kommissar hat in einem Grundsatzpapier gesagt: Bewegte Bilder haben einen fundamentalen Einfluss auf die
Vermittlung gesellschaftlicher Werte. Bildhafte Fakten
und Filme tragen dazu bei, die Welt begreifbar und verstehbar zu machen. Gleichzeitig vermitteln sie uns auch
den Maßstab, wie wir die Welt sehen sollen. Filme haben
eine suggestive Wirkung. Für den Fernsehzuschauer bilden Spielfilme den höchsten Anteil. 205 Minuten täglich,
das heißt fast dreieinhalb Stunden, bringt jeder Europäer
vor dem Fernsehen, dem Heimkino, zu.
({2})
Wir müssen weg von der Sichtweise, dass die audiovisuelle Industrie allein ein Warenproduzent sei. Sie ist wie
die Buchindustrie, die Museen und die Theater eine Kulturindustrie.
({3})
Das, was unsere Mitbürger und wir glauben, wissen, denken, fühlen und fordern, wird nicht zuletzt auch durch
Filme geprägt. Beim Aufbau einer kulturellen Identität
spielen sie eine zentrale Rolle.
Obwohl wir gemeinsam durch die Neufassung des
Filmförderungsgesetzes 1998 eine gute Grundlage für
den Film in Deutschland geschaffen haben, bleiben die
Defizite offenkundig. Das gilt für das auf Bund und Länder zersplitterte Förderkonzept. Das gilt für die zu geringe
Beachtung des Kinder- und Jugendfilms. Das gilt besonders auch für die Auslandspräsentation. Das Bündnis für
den Film hat offenkundig zu mehr Dialog der Verantwortlichen geführt. Die Atomisierung der deutschen
Filmlandschaft ist aber noch nicht beendet worden. Der
Auftritt des Bundeskanzlers bei Filmfestspielen ist zwar
förderlich für das Image des deutschen Films, hat aber
noch keine Auswirkungen auf eine verbesserte Mittelvergabe.
({4})
Hollywood gibt durchschnittlich pro Film 40 Millionen Dollar plus 20 Millionen Dollar für die Werbung
aus. Das sind also insgesamt 60 Millionen Dollar. In
Deutschland werden pro Film durchschnittlich 4 Millionen Euro ausgegeben. Da kämpft David gegen Goliath.
Das kann nichts werden. Wir benötigen, wenn der deutsche Film in internationalen Wettbewerb bestehen will,
eine Kombination aller Mittel. Wir benötigen steuerliche
Erleichterungen für diejenigen, die mit privatem Kapital
das Risiko der Filmfinanzierung eingehen. Wir benötigen
eine höhere Beteiligung der Sender an der Filmproduktion. In Frankreich macht dieser Anteil 3 Prozent des Umsatzes aus. Bei uns werden gerade einmal 11 Millionen
pro Sendesystem ausgegeben. Das entspricht einem Anteil von noch nicht einmal 0,3 Prozent. Hier herrscht
Handlungsbedarf.
({5})
Handlungsbedarf gibt es nach meiner Auffassung auch
bei unserer Filmphilosophie, von der wir uns leiten lassen. Viele deutsche Filme sind erstklassig, intellektuell
anspruchsvoll sowie mit exzellenten Schauspielerinnen
und Schauspielern besetzt. Doch besucht werden sie nur
von wenigen. Allzu oft werden sie als zu trist, zu traurig
und zu temperamentlos empfunden. Außerdem wird
bemängelt, dass sie nur auf eine Zielgruppe zugeschnitten
seien. Der Großteil der Kinokunden wird jedenfalls nicht
erreicht. Warum wurde „Der Schuh des Manitu“ eigentlich ein Erfolg? Dieser Film wurde ein Erfolg, weil er
durch Witz, Humor, Ironie und komödiantische Wirkung
Alltagsentlastung versprach. Er ist eine Art modernes
Märchen. Jetzt sind wir schon wieder dabei, einen guten
Erfolg klein zu reden. Was sind wir doch für Kleingeister!
({6})
Doch zumeist produzieren wir in Deutschland Filmkunstwerke für Minderheiten. Ich würde mir wünschen,
dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland in Zukunft
in den Fokus der Filmemacher gerät. Außerdem
- hier darf ich meinen Kollegen Norbert Lammert zitieren müssen wir zuerst einmal die Attraktivität des Angebots verbessern,
({7})
bevor wir uns über eine Erhöhung der Abgaben unterhalten.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Herr Staatsminister für Kultur und Medien,
Julian Nida-Rümelin.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An Sie gerichtet, Herr Börnsen: Sie haben hier eine Kurzfassung der aristotelischen Theorie der
Katharsis geliefert.
({0})
Kathartische Wirkung kann aber nicht nur der Unterhaltungsfilm haben, sondern auch der künstlerisch anspruchsvolle Film. Ich denke, wir haben viele Beispiele in
Erinnerung.
Wenn man sich die beiden Anträge der SPD-Fraktion
und der Unionsfraktion ansieht, erkennt man, dass es zwischen den beiden großen Parteien in den Grundlinien
doch eine erstaunlich große Übereinstimmung gibt, in
welche Richtung sich die Filmpolitik, die Filmförderung
in Deutschland entwickeln sollte. Es gibt aber auch Extreme in dieser Position.
({1})
Der eine Pol sitzt hier im Bundestag - Herr Otto hat dafür
gesprochen - und lässt sich im Kern auf folgende Position
reduzieren: Wir sollten den anspruchsvollen, an ein kleines Publikum gerichteten schwierigen Film fördern, aber
Wolfgang Börnsen ({2})
den Kinofilm ansonsten aus der Förderung durch Abgaben und Steuern herausnehmen.
({3})
Ich warne vor diesem Experiment. Es würde bedeuten,
dass wir zwar sicher noch eine Reihe interessanter Angebote hätten, die dann in den dritten Programmen spätabends, um 24 Uhr oder später, oder von Goethe-Instituten - was verdienstvoll ist - gezeigt würden. Aber der
deutsche Kinofilm würde - da bin ich sicher - auf diesem
Wege marginalisiert werden.
({4})
Der zweite extreme Pol ist hier nicht vertreten, wenn
ich das recht sehe. Aber er lässt sich demnächst wohl in
einer Dokumentation nachlesen. Er ist relativ deutlich von
dem in Bayern zuständigen Minister für Film und Medien,
Herrn Huber, formuliert worden, der mich zu einem Gespräch der filmpolitischen Arbeitsgemeinschaft der CSU
eingeladen hatte. Bei diesem Gespräch hat er im Wesentlichen formuliert, dass er keinen Änderungsbedarf - oder
wenn, nur einen marginalen Änderungsbedarf - in den
heutigen Filmförderstrukturen in Deutschland sieht.
({5})
- Sie wollen den Systembruch, Sie wollen die Privatisierung.
({6})
- Jetzt warten Sie erst einmal ab, Herr Otto.
Ich bin der Auffassung, wir müssen nicht nur die verschiedenen Initiativen, zum Beispiel Aufwertung der
Filmfestivals - zur Berlinale ist schon einiges gesagt
worden -, voranbringen, sondern wir müssen uns auch
überlegen, ob bestimmte Weichenstellungen neu vorgenommen werden müssen. Wenn man das von mir vorgelegte Filmkonzept aufmerksam liest, dann wird man feststellen, dass dort über diese Weichenstellungen - ich
komme gleich darauf zu sprechen - sehr deutlich gesprochen wird.
Mit anderen Worten: Wir können nicht die Hände in
den Schoß legen und sagen, die Politik hat das Ihre getan,
jetzt ist es Sache der Kreativen, die interessanten Stoffe zu
liefern, die dem deutschen Film im In- und Ausland eine
größere Bedeutung geben.
Bevor ich zu den zentralen Elementen dieses Konzeptes komme, das ich übrigens als Diskussionsentwurf verstehe, möchte ich einmal kurz Distanz zu unserer jetzigen
Situation nehmen.
Die Filmförderung in Deutschland beginnt gewissermaßen mit dem Oberhausener Manifest 1962. Dieses
Manifest war nicht etwa eine Reaktion darauf, dass der
deutsche Film an den deutschen Kinokassen keine Rolle
gespielt hätte; im Gegenteil: In den Nachkriegsjahrzehnten - das wird Herr Otto gleich für seine Position in Anspruch nehmen - war der Anteil des deutschen Films in
den Kinos sehr viel höher als in den Jahrzehnten danach.
Das Oberhausener Manifest war vielmehr eine Reaktion
auf die im Großen und Ganzen geringe künstlerische Qualität und die geringe Wahrnehmung des deutschen Films
im Ausland. Das war der Anstoß. Der damalige Innenminister Höcherl hat dann ein 5-Millionen-DM-Programm
aufgelegt und das Kuratorium Junger deutscher Film
1965 gegründet. Prompt erhielten deutsche Filme auch
bei ausländischen Festivals Preise. Nachdem die FFA
1965 gegründet worden war, ging die Anzahl der Filme
zwischen 1966 und 1969 extrem nach oben, sie hat sich
von 69 auf 121 Filme fast verdoppelt. Mit dem Filmfernsehabkommen zur Kooperation mit den Fernsehanstalten
1974 ging eine Öffnung einher. Dies war der Beginn der
heutigen Struktur der Filmförderung.
Bevor wir uns heute überlegen, was wir tun müssen,
um dem deutschen Film in Deutschland und international
ein größeres Gewicht zu geben, lohnt es sich, darüber
nachzudenken, was uns eigentlich dazu treibt, dieses
Thema so intensiv zu diskutieren. Man könnte generell sagen: Die Filmbranche ist eine Branche neben vielen anderen. Der Staat sollte sich mit Subventionen in diesem
Bereich
({7})
wie in jeder anderen Wirtschaftsbranche zurückhalten;
({8})
schließlich sind wir dabei, Subventionen abzubauen.
({9})
Hierauf ist zu antworten: Die eigentliche Legitimationsgrundlage für die Förderung des deutschen Kinofilms mit
Steuern und Abgaben ist die kulturelle Dimension.
Ich will ganz deutlich sagen: Die kulturelle Dimension des Kinofilms beschränkt sich nicht auf den künstlerisch ambitionierten „kleinen“ Minderheitenfilm, sondern
die kulturelle Bedeutung des Kinofilms hängt vor allem
damit zusammen, dass das Medium Kinofilm insbesondere bei der Generation der Jüngeren - sagen wir einmal
zwischen 14 und Mitte 20, zum Teil auch noch darüber hinaus - Identitäten prägt, Bilder, wie man lebt und leben
sollte, vermittelt und mit dazu beiträgt, Vorbilder zu
schaffen. Das gilt natürlich auch für große HollywoodProduktionen, die massiv die Entwicklung der Persönlichkeit von jungen Leuten beeinflussen. Deswegen müssen wir ein Interesse daran haben, dass sich im Medium
Kinofilm nicht nur eine einzige kulturelle Prägung durchsetzt, sondern auch die Vielfalt der europäischen Kulturen
deutlich wird und die deutsche Stimme vernehmbar wird.
Das ist, wie ich glaube, ganz wesentlich.
({10})
Angesichts dessen müssen wir uns überlegen, was die
Politik dazu beitragen kann. Herr Neumann, Sie hatten
angesprochen, dass einige Monate ins Land gegangen
sind, seitdem ich im Amt bin. Das stimmt. Meine MitarStaatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin
beiter wissen, dass ich auf keinen Bereich mehr Zeit aufgewendet habe als auf diesen. Es wäre sicherlich leicht gewesen, ohne diesen Zeitaufwand ein Konzept zu erstellen.
Mein Eindruck ist - Ihre Erfahrungen müssten das eigentlich bestätigen -: Wir werden eine Veränderung zum
Besseren nur erreichen, wenn es uns gelingt, innerhalb der
Branche, bei den Filmförderern und den wichtigsten Beteiligten einen Konsens herzustellen; anders ist das nicht
zu erreichen. Das kann nicht oktroyiert werden, sondern
das geht nur, indem wir die wechselseitige Blockade, die
nach meinem Eindruck den Prozess so lange verzögert hat
- natürlich sind die Interessen unterschiedlich und treffen
auch im Bündnis für den Film aufeinander -, dadurch aufheben, dass wir ein Paket schnüren.
Deswegen appelliere ich jetzt auch an Sie, nicht einzelne Elemente - Herr Fink und Herr Otto haben das gemacht - herauszugreifen und andere abzulehnen. Wir
brauchen eine zusätzliche Förderung für deutsche Kinos.
Dazu gibt es konkrete Ideen. Auch die Kinos haben ein Interesse daran, dass der Film in Deutschland insgesamt
vorangebracht wird. Das spricht dafür, in dieses Paket
auch die Kinoabgabe einzubeziehen. Es geht hier um
eine Größenordnung von 1 Prozent des Kinokartenpreises.
({11})
Das sind etwa 12 Pfennig oder 6 Cent.
({12})
- 2,3 ist gegenwärtig der Durchschnitt.
Wir brauchen höhere Budgets. Es ist ganz merkwürdig, dass Deutschland mit seiner starken Wirtschaftskraft
so niedrige Budgets pro Film hat: niedriger als Frankreich, wesentlich niedriger als Großbritannien, von den
USA gar nicht zu sprechen.
({13})
Wir brauchen eine Stärkung der Produzenten als zentrale Akteure. Sie müssen ein Interesse daran haben, dass
ihre Filme Erfolg haben.
({14})
- Im Urheberrecht ist - so muss man sagen - die Sorge,
die verständlicherweise über viele Monate bestand, auch
aufgrund ausweislich der Schreiben, die ich jetzt bekommen habe, zerstreut.
({15})
- Über den Prozess will ich jetzt gar nicht sprechen. Wir haben intensive Diskussionen mit der Branche gehabt. So,
wie wir das Urhebervertragsrecht jetzt im Bundestag beschlossen haben, ist es keine Behinderung der Filmbranche.
({16})
- Das ist ein schwieriges Thema, wie Sie wissen. Es ist
wahr: Das ist in dieser Form nicht geschehen. Aber dafür
spricht sachlich viel.
Ich habe in diesem Konzept einige ordnungspolitische
Instrumente angesprochen. Ich will zwei in Erinnerung
rufen.
Es ist schon gesagt worden: Dass 7 Milliarden DM zu
80 Prozent in Hollywood-Produktionen gehen, ist angesichts der Situation des europäischen Films schwer erträglich.
({17})
Aber ich füge hinzu: Wir haben seit 1954 ein Handelsabkommen mit den USA, das es schwierig macht, das mit einem Federstrich zu lösen. Herr Neumann, ich kann das am
wenigsten, weil das eine finanzpolitische Frage von gewaltiger Größenordnung ist.
({18})
Wir brauchen da eine Lösung; auch ich will sie. Wir müssen darüber diskutieren, warum wir hier eine Sonderrolle
einnehmen. Das macht kein anderes Land in Europa so.
Das ist eine schwierige Debatte. Wenn wir da einen Fortschritt bekommen, dann haben wir eine ganz andere
Grundlage für den europäischen und speziell den deutschen Film.
Wir sollten uns auch nicht davor drücken, eine Investitionsquote, wie sie nach europäischem Recht möglich
ist, zumindest sehr genau zu diskutieren.
({19})
Ich habe keine Lösung; aber darüber diskutieren müsste
man.
Es lohnt sich. Es geht nicht nur um einen wichtigen Teil
der deutschen Kulturwirtschaft, sondern auch um ein faszinierendes Medium der Kunst, das kulturelle Identitäten
prägt. Wie gesagt: Es ist wünschenswert, dass in diesem
Medium die deutsche Stimme in Zukunft vernehmbarer
ist als in den letzten Jahren.
Danke schön.
({20})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 14/7705 zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Reform der deutschen Filmförderung“ sowie zu dem An-
trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Verbesse-
rung der Rahmenbedingungen für den deutschen Film“.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/7705 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses gegen die Stimmen der FDP an-
genommen worden.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/7705 empfiehlt der Ausschuss für Kultur
und Medien, die genannten Anträge auf den Drucksa-
chen 14/7178 und 14/3375 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit einstimmig angenommen worden.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verbesserung von Kinderrechten ({0})
- Drucksache 14/2096 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/8131 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({3})
Sabine Jünger
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rosel
Neuhäuser, Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({4})
- Drucksache 14/7818 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach interfraktioneller Vereinbarung haben wir für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute über ein Gesetz zur weiteren
Verbesserung von Kinderrechten. Ich weiß, dass uns allen
die Verbesserung von Kinderrechten am Herzen liegt, und
stelle fest, dass der heutige Gesetzentwurf eine echte Koproduktion zwischen Bundesrat, Bundestag und auch der
Bundesregierung darstellt.
Die Kinderrechte sind erst im Verlauf des letzten Jahrhunderts in den Blick gerückt. Die Wahrnehmung von
Kindern als Persönlichkeiten mit eigenen Rechten, eigenen Wünschen und eigenen Wertvorstellungen, aber auch
mit besonderen Schutzbedürfnissen ist uns heute selbstverständlich. Das gesetzliche Modell des Verhältnisses
zwischen Kindern und Eltern hat sich von autoritärer
Über- und Unterordnung zu einem eher partnerschaftlichen Erziehungsstil gewandelt.
({0})
- Das kann auch eine natürliche Autorität sein, Herr Kollege Geis. - Damit einher ging eine zunehmende Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von erzieherischen Vorstellungen der Eltern. Insbesondere die
Pädagogen, die Psychologen und die Ärzte haben uns die
zerstörerischen Folgen von Gewaltanwendung für die
Entwicklung von Kindern dargestellt.
Beim Schutz der Kinder vor Gewalt haben wir schon
Wichtiges erreicht: Ende 2000 ist zunächst das Gesetz zur
Ächtung der Gewalt in der Erziehung in Kraft getreten. Es
verbietet klar und unmissverständlich die Anwendung
körperlicher Strafen und anderer, auch subtiler Formen
von Gewalt als Mittel der Erziehung.
Als zweiter Schritt ist Anfang 2002 das Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten. Es verbessert den zivilrechtlichen
Schutz von Gewaltopfern in ihren eigenen vier Wänden.
({1})
Das Opfer soll nicht mehr gezwungen sein, aus der Wohnung zu flüchten; vielmehr kann es verlangen und durchsetzen, dass der Schläger die Wohnung verlässt. „Der
Schläger geht - die Geschlagene bleibt“ - das ist eine sehr
deutliche Charakterisierung.
({2})
Dieses Gesetz gibt den Opfern ein wirkungsvolles Instrument an die Hand, um den Peiniger übergangsweise oder
gegebenenfalls auch dauerhaft aus der gemeinsamen
Wohnung zu verweisen.
Diese Regelungen des Gewaltschutzgesetzes gelten allerdings nicht für das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern. Für die Regelung dieses Verhältnisses gibt es im
BGB spezielle Vorschriften, auf deren Grundlage das
Familiengericht Maßnahmen zur Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls treffen kann. Dabei kann das
Familiengericht auf eigene Initiative von Amts wegen
tätig werden; es bedarf nicht eines Antrags. Auch die Auswahl der Maßnahmen ist ganz bewusst den Familiengerichten überlassen worden. Sie treffen die geeigneten
Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls.
Wird ein Kind misshandelt, so können die Familiengerichte schon heute einen Elternteil oder einen Dritten aus
der Wohnung weisen. So haben die Gerichte zum Beispiel
schon entschieden, dass ein Nachbar, der einem Nachbarskind Gewalt zufügte oder es missbrauchte, seine WohVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
nung verlassen musste. Es wurde bisher allerdings noch
kein einziger Fall veröffentlicht, bei dem ein Gericht einen gewalttätigen Elternteil aus der gemeinsamen Familienwohnung gewiesen hat.
Um die Familiengerichte zu ermutigen, in Zukunft
ihren Spielraum auch in dieser Richtung zu nutzen, wollen wir im Rahmen des § 1666 a BGB die Wegweisung
aus der Wohnung als mögliche Maßnahme ausdrücklich
nennen. Ich denke, das ist ein wichtiges politisches Signal
zum Schutz von Kindern vor Gewalt.
({3})
So werden sich künftig das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, das Gewaltschutzgesetz und das
Kinderrechteverbesserungsgesetz zu einem Schutzsystem
bei häuslicher Gewalt, insbesondere gegenüber Kindern,
ergänzen.
Im zweiten Teil des Gesetzes haben wir einige Restanten der Kindschaftsrechtsreform aufgegriffen. Ich
nenne hier die Einbenennung eines Kindes gemäß § 1618
BGB. Diese soll künftig auch dann möglich sein, wenn
die Eltern nach der Trennung die gemeinsame elterliche
Sorge beibehalten haben. Das ist zwar schon von der obergerichtlichen Rechtsprechung zugelassen worden, ich
denke aber, dass es richtig ist, dass das geschriebene
Recht dieser Richtung folgt.
Auch eine Beistandschaft des Jugendamtes in Unterhaltsangelegenheiten soll künftig nicht nur bei alleiniger
elterlicher Sorge, sondern auch bei gemeinsamer elterlicher Sorge beantragt werden können.
({4})
Damit tragen wir einem Bedürfnis des betreuenden Elternteils Rechnung, nämlich Unterstützung bei der Geltendmachung des Kindesunterhalts zu bekommen, und
wir beenden hier eine ziemlich uneinheitliche Handhabung der Jugendämter.
Ich möchte noch einige kurze Bemerkungen zum Antrag der PDS zur Änderung des Grundgesetzes machen.
Sie wissen, dass wir über diese Frage bereits in den 90erJahren in der Gemeinsamen Verfassungskommission
lange diskutiert haben. Es hat sich herausgestellt, dass
hier eine entsprechende Änderung nicht durchzusetzen
war. Dazu muss man sagen, dass unser Grundgesetz
natürlich in vollem Umfang auch für Kinder gilt. Dies ist
eigentlich selbstverständlich.
({5})
Sie verweisen in Ihrer Begründung ausdrücklich auf diese
Tatsache. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diesen
Grundsatz immer hervorgehoben.
({6})
Das Kind als Träger eigener Rechte und eigener Würde
muss in unserer Verfassung sicher nicht neu erfunden
werden.
({7})
Mit dem nun geschaffenen gesetzlichen Rahmen ist ein
Raum geschaffen worden, um die Wahrung der Kinderrechte zu verbessern. Die Achtung der Kinderrechte ist
unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der
Kinder zu selbstständigen und auch gemeinschaftsfähigen
Erwachsenen, wie sie uns am Herzen liegt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich einmal
ist in dieser Legislaturperiode ein Gesetzgebungsverfahren so verlaufen, wie eigentlich alle Gesetzgebungsverfahren verlaufen sollten, nämlich geregelt und geordnet.
Man konnte während des Gesetzgebungsverfahren über
alles reden.
({0})
Sachliche Argumente auch der Opposition, Herr
Hartenbach, wurden berücksichtigt und es herrschte ein
kollegialer Umgang.
({1})
Eigentlich ist es ungewöhnlich, dass man so etwas zu
Beginn einer Rede lobend erwähnen muss. Der Grund für
diese ausdrückliche Erwähnung der Regelmäßigkeit und
Fairness liegt in den schlechten Erfahrungen, die wir als
Opposition bei diversen Gesetzgebungsverfahren in der
Vergangenheit, auch in der jüngsten Vergangenheit, gemacht haben.
({2})
In geradezu halsbrecherischer Geschwindigkeit und
mit einem zum Teil heillosen Durcheinander haben wir in
den letzten Wochen und Monaten hier im Deutschen Bundestag verschiedene Gesetzgebungsvorhaben vonseiten
der Regierungskoalition erleben müssen, zuletzt das Gesetzgebungsverfahren zum Urheberrecht.
Ich möchte aber - aus Überzeugung - ganz besonders
dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, dem Kollegen Professor Dr. Eckart
Pick, danken. Durch seine bereits an anderer Stelle von
mir besonders hervorgehobene ruhige, besonnene und
nicht von persönlicher Eitelkeit geprägte Art hat er es vermocht, ein professionelles Beratungsklima zu schaffen,
das bei anderen Vorhaben aus dem Bundesjustizministerium sehr zu vermissen war.
({3})
Ich möchte aber auch der Kollegin Margot von
Renesse danken. Wir arbeiten auf diesem Themengebiet
seit mehreren Legislaturperioden zusammen.
({4})
Ich würde mir wünschen, dass sich auch die Kolleginnen
und Kollegen der grünen Bundestagsfraktion an der Kollegin von Renesse ein Vorbild nähmen, weil sie es wirklich vermag, sachkundig zu argumentieren und durchaus
auch auf qualifizierte Gegenargumente einzugehen.
({5})
Ich will einige wenige Anmerkungen zum Inhalt des
Gesetzentwurfes machen, damit deutlich wird, warum wir
vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zustimmen.
Wir glauben, dass den Kindern - sie leiden unter Gewaltsituationen in der Familie oder im Umfeld der Familie
häufig am allermeisten - in der Tat zusätzliche Rechte eingeräumt werden. Diese werden durch das Kinderrechteverbesserungsgesetz in das Zivilrecht übertragen, um
auch dort die Rechte der Kinder zu stärken.
Ich möchte mit der Einfügung des Abs. 2 in § 1600 BGB
beginnen. Dadurch wird eine Rechtssicherheit für Kinder
hergestellt. Es geht um die künstliche Befruchtung und um
die Frage, wer möglicherweise anfechten kann. In unserem
Land ist die künstliche Befruchtung durch die Samenspende eines Dritten grundsätzlich verboten. Insofern
könnte man die Auffassung vertreten, dass man das überhaupt nicht regeln muss. Wir müssen es aber regeln, weil es
gesellschaftliche Realität ist, dass die künstliche Befruchtung im Ausland stattfindet und das Problem der Anfechtung in der Bundesrepublik Deutschland auftaucht. Es war
wichtig, diese gesetzliche Klarstellung vorzunehmen, um
Rechtsklarheit für die betroffenen Kinder zu erreichen.
Ich möchte einen zweiten Punkt nennen, nämlich die
beabsichtigte Änderung des § 1618 Satz 1 BGB. Diese
wird im Art. 1 Nr. 2 dieses Gesetzentwurfes vorgesehen.
Der zurzeit geltende Wortlaut dieser Regelung ist mehr als
irreführend. Nach dem Wortlaut scheint diese Vorschrift
nämlich zu bestimmen, dass bei Wiederverheiratung einer
geschiedenen Ehefrau, die in der neuen Ehe den Namen
des neuen Ehegatten annimmt, diese den neuen Namen
nur in dem Fall auf das Kind übertragen kann, dass ihr das
alleinige Sorgerecht zusteht. Selbstverständlich muss es
diese Möglichkeit auch für den Fall des gemeinsamen
Sorgerechts geben.
Diese Neuregelung schafft insoweit die notwendige
Klarheit, wenngleich ich mich über manches in der Rechtsprechung gewundert habe. Ich glaube nämlich, dass die
bestehende Regelung diesen Umstand bereits berücksichtigt. Durch wohlwollende Auslegung hätte man dieses Ergebnis also auch anders erreichen können.
({6})
Nun folgen wir quasi unserer ursprünglichen gesetzlichen
Intention und stellen es klar. Ich glaube, dass damit etwas
vollzogen wird, was hier im Hohen Hause bisher niemand
anders gesehen hat.
Ich möchte auf eine weitere Regelungslücke, die in diesem Gesetzgebungsvorgang geschlossen wird, eingehen. Es
geht um die Änderung des § 1666 a BGB. Diese ist in
Art. 1 Nr. 4 des Kinderrechteverbesserungsgesetzes geregelt. Dort wird festgelegt, dass dem Gewalttäter - sowohl
für den Fall der Gewalttätigkeit durch einen Elternteil, was
bereits geregelt war, als auch durch einen Dritten gegen das
Kind - die Nutzung der von dem Kind mitbewohnten Wohnung oder einer anderen Wohnung - das ist jetzt neu -, zum
Beispiel im selben Haus, untersagt werden kann. Zum
Schutz der von Gewalt betroffenen Kinder war diese gesetzliche Präzisierung richtig und notwendig. Ich glaube,
dass sie hier im Haus einvernehmlich vollzogen werden
kann.
Abschließend möchte ich betonen, dass die von der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragte Streichung der
Art. 2 und 3 des Gesetzentwurfes, die eine Änderung des
Gesetzes über die rechtliche Stellung der nicht ehelichen
Kinder vorsah, richtig gewesen ist. Die Übernahme dieses
Antrages durch die Koalitionsfraktionen beweist, dass die
von uns vorgetragenen Argumente für die Streichung
richtig und überzeugend gewesen sind.
({7})
Das Ziel dieser ursprünglich vorgesehenen Änderung
war die Beseitigung der alten Stichtagsregelung, auf die
nun verzichtet wird. Durch diese Regelung bei Einführung des Erbrechtes für nicht eheliche Kinder in den
60er-Jahren waren diejenigen Kinder von der erbrechtlichen Regelung ausgenommen, die zum Stichtag bereits
volljährig waren. Stichtag war damals das In-Kraft-Treten
des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nicht ehelichen Kinder am 1. Juli 1970. Folge dieser Stichtagsregelung ist es, dass nicht eheliche, vor 1949 geborene Kinder
keinen erbrechtlichen Ausgleichsanspruch haben.
Die Stichtagsregelung ist vom Prinzip des Vertrauensschutzes gedeckt, eine Rechtsauffassung, die auch durch
das Bundesverfassungsgericht geteilt wird. Im Übrigen
muss man an dieser Stelle betonen, dass durch die Testierfreiheit alle diese Fälle geregelt werden können, weil logischerweise durch ein Testament jede denkbare einzelrechtliche Regelung vollziehbar ist, sodass wir im Grunde
genommen keine gesetzliche Regelung brauchen.
Mittels des vorliegenden Gesetzentwurfes sollte also
diese Stichtagsregelung beseitigt werden. Das ist zum
Wohle des Vertrauensschutzes nun jedoch nicht erfolgt.
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass durch den Gesetzentwurf zahlreiche Lücken geschlossen werden konnten, die in der Praxis bisher für Unverständnis und Ungereimtheiten gesorgt hatten. Um es noch einmal zu
betonen: Es freut mich, dass dem berechtigten Anspruch
der Bürgerinnen und Bürger auf ein handwerklich einwandfreies Gesetzgebungsverfahren Rechnung getragen
werden konnte, was in der Vergangenheit leider eher die
Ausnahme als die Regel gewesen ist.
({8})
Der kollegiale Geist, Frau Kollegin, von dem dieses
Gesetzgebungsverfahren getragen wurde, sollte unsere
Verhandlungen öfter durchwehen. Ich bedanke mich bei
allen Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen
für diese gute, offene und konstruktive Beratung. Im Ergebnis wird dieses Gesetz den Kindern in der Bundesrepublik Deutschland helfen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über alle Fraktionsgrenzen hinweg sind wir
uns einig: Kinder sind in besonderem Maße darauf angewiesen, dass Staat und Gesellschaft alle Möglichkeiten
ausschöpfen, um ihnen ein Aufwachsen in Geborgenheit
und Sicherheit zu ermöglichen.
({0})
Die psychischen und physischen Folgen von Gewalt
gegen Kinder sind verheerend. Sie haben Auswirkungen
auf ihr ganzes Leben und nicht selten auf das Leben ihrer
eigenen Kinder. Wer die Gewaltspirale durchbrechen
will, der muss dafür sorgen, dass Kinder vor Gewalt geschützt werden. Das hat nicht zuletzt Professor Pfeiffer
vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen
ermittelt.
({1})
Wie für Frauen ist auch für Kinder der soziale Nahbereich ein gefährlicher Ort: Der Vater, der Onkel oder der
Nachbar stellen nicht selten eine Bedrohung der Kinder
dar.
({2})
60 bis 80 Prozent sexualisierter Gewalt finden im sozialen Nahbereich statt. Dabei sollte gerade die Familie der
Ort sein, an dem ein Kind auf Schutz vertrauen kann.
({3})
Darum ist es das Ziel der rot-grünen Bundesregierung,
deutlich mehr Rechtssicherheit für Kinder zu schaffen.
Ich freue mich, Herr Geis, dass auch die Opposition dieser Meinung ist.
({4})
Mit dem vorliegenden Kinderrechteverbesserungsgesetz setzen wir den Paradigmenwechsel, den wir schon
beim Gewaltschutzgesetz begonnen haben, fort. Das Gesetz stellt klar: Der Schutz vor Gewalt endet nicht an der
Wohnungstür. Schläge oder sexualisierte Gewalt in der
Familie sind nicht länger Privatangelegenheit. Das Prinzip, das gerade Herr Staatssekretär schon nannte - der Täter geht, das Opfer bleibt -, wird künftig auch dann angewendet werden können, wenn das Opfer nicht die Ehefrau
oder die Lebensgefährtin, sondern das Kind ist.
Bislang erhielten Mütter, die sich wegen sexuellen
Missbrauchs ihres Kindes an die Polizei oder an Beratungsstellen gewendet haben, meist den gut gemeinten
Rat: Schütze dein Kind, zieh aus der Wohnung aus. Künftig wird dies nicht mehr notwendig sein. Polizei und Justiz sind in Fällen von Kindesmisshandlung nicht mehr
die Hände gebunden. Sie können den Gewalttäter aus der
Wohnung verweisen, wenn dies zum Schutze des Kindes
notwendig ist. Dieses Vorgehen gilt jetzt nicht nur für Eltern, sondern auch für andere. Beispielsweise kann einem
Lebensgefährten der Mutter eine so genannte Go-Order
erteilt werden.
Ich freue mich ganz besonders, Herr Pofalla, dass auch
die Anregung der Bündnisgrünen von allen Fraktionen
einvernehmlich aufgenommen wurde, dass ein Dritter,
der zum Beispiel im gleichen Hause wohnt, ebenso der
Wohnung verwiesen werden kann, wenn er ein Kind bedroht.
({5})
- Ja, aber das ist doch hervorragend. Loben Sie uns doch
einfach einmal dafür.
({6})
- Wunderbar, das tut besonders gut.
Mit dieser Regelung finden die neuen Schutzmöglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes auch im Kindschaftsrecht Eingang.
Wir schaffen aber auch weitere Rechtssicherheit für
Kinder. Wir passen das Abstammungsrecht den neuen
technischen Entwicklungen wie der künstlichen Befruchtung mithilfe einer Samenspende an. In diesen Fällen ist
nämlich die Anfechtung einer Vaterschaft nicht mehr
möglich, wenn der Partner der Mutter vorher mit einer
künstlichen Befruchtung durch eine Samenspende einverstanden war. Damit wird verhindert, dass ein Mann, der
einer künstlichen Befruchtung durch einen anderen Mann
zugestimmt hat, sich seiner Vaterpflicht entledigen kann.
Wir stärken aber auch die Rechte des Elternteils, bei
dem ein Kind nach einer Trennung lebt. Danach kann
auch bei gemeinsamem Sorgerecht, das wir mit der Kindschaftsrechtsreform eingeführt haben, der Elternteil, bei
dem das Kind lebt, einen Antrag auf Beistandschaft des
Jugendamtes bezüglich des Kindesunterhalts stellen.
Dies war vorher nur bei alleinigem Sorgerecht möglich.
Damit muss der betreuende Elternteil - das ist in den
meisten Fällen die Mutter - künftig nicht mehr, nur weil
ein gemeinsames Sorgerecht besteht, einen Anwalt oder
eine Anwältin bezahlen, um den Kindesunterhalt durchzusetzen.
({7})
Außerdem wird die Möglichkeit, einem Kind nach einer
Scheidung und Wiederverheiratung den neuen Ehenamen
zu geben, neu geregelt. Das wird den Interessen aller Betroffenen künftig besser gerecht werden. So scheitert es
künftig auch nicht mehr an einem gemeinsamen Sorgerecht, wenn das Kind diesen neuen Namen tragen soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesrat hat
einen weiteren Punkt als regelungsbedürftig angesehen
und Bestimmungen dazu in seinem Gesetzentwurf vorgesehen. Das ist die Gleichbehandlung der nicht ehelichen
und der ehelichen Kinder, die vor 1949 geboren wurden;
für ab 1949 Geborene hatten wir eine diesbezügliche
Regelung. Auch meine Fraktion sieht hierin eine Ungerechtigkeit, zumal die völlige Gleichstellung zwar für die
neuen Bundesländer, nicht aber für die alten Bundesländer gilt. Wir akzeptieren aber, dass ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, der auch vom Bundesverfassungsgericht bereits bestätigt wurde.
Lassen Sie mich nun noch etwas zum Gesetzentwurf
der PDS anmerken. Gut gemeint ist nicht immer gut; das
wissen wir. Die Würde des Kindes ist natürlich ebenso
wie die Würde der Frauen und die Würde der alten Menschen unantastbar. Sie alle fallen unter Art. 1 des Grundgesetzes, der die Menschenwürde festschreibt.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS,
wir haben kein gesetzliches Defizit, sondern ein Defizit
bei der Umsetzung. Darum müssen wir uns auf allen Ebenen vielmehr für die Einhaltung der Menschenwürde einsetzen. Wir brauchen aber keine Änderung des Grundgesetzes. Deshalb ist das vorliegende Gesetz auch so
wichtig. Es schützt Kinder ganz konkret vor Gewalt und
stärkt ihre Rechte. Ich bin mir sehr sicher, dass das neue
Kindschaftsrecht zusammen mit dem Recht auf gewaltfreie Erziehung auch gesellschaftliche Signalwirkung
haben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass Kinder keine Objekte sind, über die Erwachsene beliebig verfügen können.
Wir tragen die Verantwortung dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Kindern Rechte zugesteht, die ihre
Würde respektiert und Gewalt gegen Kinder verhindert.
Darum bin ich froh, dass wir diesen Antrag interfraktionell
erarbeitet haben und diesem auch so zustimmen werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die FDP begrüßt den vorliegenden Entwurf
eines Gesetzes zur weiteren Verbesserung von Kinderrechten. Dieser Entwurf schließt sich nahtlos an die große
Kindschaftsreform vom 1. Juli 1998 an. Damals ist unter
anderem die Gleichstellung von ehelichen und nicht ehelichen Kindern im materiellen Recht und im Verfahrensrecht erreicht worden, allerdings mit einer Ausnahme, die
bereits erwähnt worden ist und die zunächst auch Gegenstand der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzes und der
Beratungen im Rechtsausschuss gewesen ist. Dabei geht
es um die Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 nicht ehelich
geboren waren und aufgrund des Nichtehelichen-Gesetzes von 1969 nur einen Erbersatzanspruch besitzen.
Auch bei dieser Novelle ist wie 1998 von einer Neuregelung Abstand genommen worden, und zwar, wie ich
meine, aus gutem Grund. Die Betroffenen haben in der Regel durch Verfügungen unter Lebenden und/oder Verfügungen von Todes wegen längst sinnvolle Regelungen gefunden. Selbst dann, wenn dies nicht der Fall sein sollte,
bedarf es keiner dringenden Regelung, weil auch insoweit
die mehrfachen Entscheidungen des Gesetzgebers und des
Bundesverfassungsgerichtes respektiert werden sollten.
Meine Damen und Herren, für den Fall der einverständlichen Zeugung des Kindes durch künstliche Befruchtung mittels Samenspende ist eine familienrechtliche Regelung getroffen worden, bei der die Anfechtung
der Vaterschaft durch den Mann oder die Mutter ausgeschlossen ist. Wer die Entstehung eines Kindes verantwortet, muss für dieses Kind auch lebenslang Verantwortung übernehmen.
({0})
Das Gebot der gewaltfreien Erziehung ist bereits
durch die Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB durch das
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur
Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November
2000 geregelt, sodass dieser Passus aus dem Bundesratsentwurf obsolet war. Die Regelung, die wir noch zusätzlich in § 1666 a BGB gefunden haben, ist sicherlich
zweckmäßig; darauf sind meine Vorredner bereits ausführlich eingegangen.
Ich bin mir bewusst, dass im tatsächlichen Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern, vor allem aber zwischen
getrennt lebenden Ehegatten und Kindern trotz der großen
Kindschaftsreform und trotz des Gesetzes, das wir heute
gemeinsam verabschieden werden, nach wie vor Fragen
offen bleiben werden. Wir können nicht alle tatsächlichen
Verhältnisse durch Gesetze regeln. Fragen, die sich einer
gesetzlichen Normierung und gerichtlichen Überprüfung
entziehen, können wir nicht durch Gesetze oder Verordnungen regeln. Selbst dann, wenn solche Fragen durch
Beschluss oder Urteil entschieden worden sind, sind sie
häufig nur schwer oder gar nicht vollstreckbar. Hier wird
es auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Beteiligten
davon zu überzeugen, dass bei allem Streit zwischen Erwachsenen das Wohl der Kinder im Vordergrund stehen
muss, denn sie sind die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft.
({1})
Abschließend danke ich dafür, dass die Berichterstattergespräche in guter und sachlicher Atmosphäre stattgefunden haben und von den Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums sachkundig vorbereitet wurden. So
etwas würde man bei größeren Vorhaben auch gern erlebt
haben. Aber es verbleibt die Hoffnung auf eine bessere
Zukunft.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir beschließen heute ein weiteres
Gesetz, dessen Ziel es ist, die Rechtsstellung des Kindes
zum Inhalt gesetzlicher Regelungen zu machen. Die
Subjektstellung des Kindes hat auf der einfachgesetzlichen Ebene Deutschlands in den letzten Jahren in vielen
Bereichen schon ihre Berücksichtigung gefunden, Ich
nenne zum Beispiel das heute schon viel zitierte Gesetz
zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vom November 2000. Diese Gesetzesänderungen spiegeln die veränderte Wahrnehmung von Kindern in unserer Gesellschaft
wider. Kinder werden im öffentlichen Bewusstsein mehr
und mehr als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen. Diese Entwicklung verfolge ich als derzeitige Vorsitzende der Kinderkommission, deren Aufgabe die Wahrnehmung der Belange von Kindern ist, mit großer Freude.
Im Sinne der Berücksichtigung der Subjektstellung des
Kindes ist die Forderung des Ausschlusses der Vaterschaftsanfechtung bei künstlicher Befruchtung zu nennen. Die Regelung, dass sich Männer, die in eine künstliche Befruchtung mittels Samenspende eines Dritten
eingewilligt haben, von der damit übernommenen Verantwortung nicht wieder lossagen können, schützt aus meiner Sicht das Wohl des Kindes.
In diesem Sinne ist die Einführung einer Beistandschaft in Unterhaltssachen auch bei gemeinsamer elterlicher Sorge zu begrüßen. Sie scheint ein Indiz dafür zu
sein, dass Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, das gemeinsame Sorgerecht mittlerweile realistischer und damit kritischer als zum Zeitpunkt seiner
Einführung 1998 sehen. Bezüglich des vereinfachten Verfahrens zu Unterhaltsfragen bleibt jedoch zu prüfen, zu
welcher Wirkung es letztendlich in der Praxis führt.
Die Forderung nach einem völligen Verzicht auf Körperstrafen in der Erziehung ist im bereits erwähnten Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung schon enthalten. Darin aber - das scheint mir dabei besonders
wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen - ist geregelt,
dass das Kind ein Recht auf gewaltfreie Erziehung hat.
({0})
Hier setzt die rechtliche Regelung in Anlehnung an die
UN-Kinderrechtekonvention direkt beim Kind an. Das
Kind wird so aus seiner Rolle als Objekt elterlicher und
staatlicher Sorge herausgeholt. Dies ist auch der zentrale
Punkt des von meiner Fraktion vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes.
Wenn wir Politiker unsere Verantwortung Kindern und
Jugendlichen gegenüber wahrnehmen wollen, dann müssen wir die Entwicklung der veränderten Sichtweise von
Kindern in unserer Gesellschaft fixieren.
Unsere Verfassung bleibt aber hinsichtlich einer expliziten Formulierung subjektiver Rechte der Kinder hinter
dieser Entwicklung zurück. Diese Einschätzung hat übrigens auch die Bundesfamilienministerin Bergmann im
August des letzten Jahres in einem Artikel selbst geäußert.
Es geht um die formale Aufnahme einer längst verbreiteten Praxis. Die Verankerung der Rechte des Kindes in der
Verfassung ist meiner Ansicht nach ein längst überfälliger, beinahe schon symbolischer Akt.
({1})
Er würde aber den Willen, das Aufwachsen von Kindern
in unserer Gesellschaft verbessern zu wollen, noch einmal
deutlicher unterstreichen.
Genau heute vor einer Woche hat das Land NordrheinWestfalen als zehntes Bundesland Kinderrechte in seine
Landesverfassung aufgenommen, und zwar nicht mit einem mehrheitlichen Abstimmungsergebnis, sondern einstimmig. Wir auf Bundesebene sollten es nun auch endlich in die Hand nehmen, die Rechte von Kindern explizit
im Grundgesetz zu verankern.
({2})
Das wäre ein weiterer Schritt in der Umsetzung der
UN-Kinderrechtekonvention, den wir der deutschen
Delegation als Gepäck mit auf den Weg zum Weltkindergipfel der Vereinten Nationen in New York geben könnten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Als ich zur Volksschule ging,
wurde Ungehorsam dort noch mit körperlicher Züchtigung bestraft, und zwar geschlechtsspezifisch. Die Jungen mussten ihr Gesäß dem Rohrstock entgegenhalten,
die Mädchen die geöffneten Hände. Es herrschte Zucht
und Ordnung; besser gesagt glaubte man, Ordnung
durch Zucht zu erreichen. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei.
Leider aber bedeutet das nicht, dass Kinder heutzutage
frei von Angst und Gewalt aufwachsen können. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Gewalt gegen Kinder
in vielen Familien zum Erziehungsalltag gehört. Etwa
80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
erfahren in unterschiedlichem Ausmaß Gewalt in der
Erziehung, zum Beispiel durch Ohrfeigen oder sogar
durch eine Tracht Prügel. Rund 1,3 Millionen Kinder
werden körperlich misshandelt. Hinzu kommt in etwa der
gleichen Größenordnung psychische Gewalt in Form von
elterlicher Ablehnung oder Vernachlässigung.
Wir wissen heute, dass Kinder, die in der Familie Gewalt erlitten haben, später selbst eher zur Gewalttätigkeit
neigen. Um diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, haben wir bereits im November 2000 - das ist mehrfach erwähnt worden - das Gesetz zur Ächtung der Gewalt
in der Erziehung verabschiedet, mit dem das Bewusstsein
dafür geschärft werden soll, dass Gewalt nicht nur kein geeignetes Erziehungsmittel ist, sondern vielfältige negative
Auswirkungen auf die betroffenen Kinder hat.
Das oberste Ziel von Erziehung heißt Mündigkeit,
sagte der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und
Erziehung, Ludwig Eckinger, auf einer Pressekonferenz
des Verbandes im Juli letzten Jahres. Ich teile diese Auffassung, und zwar in doppelter Hinsicht.
Zum einen ist die Mündigkeit der Eltern gefragt. Untersuchungen zufolge misshandeln Eltern ihre Kinder
zum Teil aufgrund psychischer Überforderung, Gereiztheit oder Stress. In vielen Familien aber wird Gewalt noch
immer als brauchbares Erziehungsmittel angesehen.
({0})
Diesen Eltern ist klar zu machen, dass Gewalt nicht die
Lösung der Probleme darstellt, sondern leider allzu oft die
Ursache ist. Es hat wenig Sinn, Kinder anzubrüllen oder
gar zu schlagen; das macht sie nur verstört oder verstockt.
Es gilt, den Eltern zu vermitteln, dass man auch mit kleinen Kindern argumentieren und diskutieren kann - so
meine eigene Erfahrung - und über den Weg der Einsicht
wesentlich mehr erreicht als über den Weg der Gewalt.
({1})
Deswegen ist es zum anderen ebenso wichtig, die
Mündigkeit der Kinder zu betonen. Kinder sind nicht
der Besitz der Eltern; sie haben eine eigene Persönlichkeit
und eigene Rechte.
({2})
Es sind junge Menschen, die uns anvertraut werden, für
die wir Verantwortung übernehmen, über die wir aber
keine uneingeschränkte Gewalt ausüben dürfen und die
ein Anrecht auf eine gewaltfreie häusliche Umgebung
haben.
Ein solches Bewusstsein lässt sich aber weder verordnen noch erzwingen. Hierzu bedarf es flankierender Maßnahmen vonseiten des Staates. Deswegen bin ich sehr
froh, dass wir mit dem vorliegenden Kinderrechteverbesserungsgesetz auch eine Lücke schließen können, die das
von uns bereits verabschiedete Gewaltschutzgesetz offen
gelassen hat.
({3})
Im Rahmen der damals geführten parlamentarischen
Debatte wurde unter anderem die Frage erörtert, ob der
zivilrechtliche Schutz von Kindern vor elterlicher Gewalt
oder Gewaltanwendung durch Dritte, etwa dem neuen
Partner eines Elternteils, ausreichend ist. So sieht das Gewaltschutzgesetz zum Beispiel keinen Schutz vor, wenn
gemeinsam sorgeberechtigte Eltern mit einem Kind zusammenleben und zum Beispiel der Vater oder der Lebensgefährte das Kind, nicht aber die Mutter misshandelt.
Wir waren uns fraktionsübergreifend einig - auch dies
ist bereits mehrfach betont worden -, dass diese Gesetzeslücke zu schließen ist. Ihr Versprechen, dies mithilfe
eines Kinderrechteverbesserungsgesetzes zu erreichen,
hat die Bundesjustizministerin sehr schnell erfüllt. Dafür
gebührt dem Ministerium herzlicher Dank.
({4})
Ist zum Schutz des Kindes eine Trennung von seinen
Eltern bzw. einem Elternteil erforderlich, so wurde diese
Trennung in der Praxis bisher meist durch eine so genannte Fremdunterbringung des Kindes in einem Heim
oder bei Pflegeeltern realisiert. Mit der Ergänzung des
§ 1666 a BGB ist es nun möglich, den Schutz des Kindes
auch dadurch zu realisieren, dass das Gericht eine
Wegweisung des gewalttätigen Elternteils anordnen
kann. Das Kind kann somit in seiner vertrauten Umgebung bleiben und wird nicht zusätzlich durch eine ihm
völlig fremde Umgebung bestraft.
Wir wissen, dass für eine Anzeige bei den Behörden oft
das Täter-Opfer-Verhältnis entscheidend ist.
Die Kriminalstatistik belegt, dass Fremdtäter sehr häufig
angezeigt werden. Dagegen kommen Misshandlungen in
der Familie aus Scham, Angst oder aus Solidarität mit
dem Täter nur selten zur Anzeige.
Ähnlich hoch ist nach Ansicht der Experten auch die
Dunkelziffer bei der Misshandlung von Schutzbefohlenen. In diesem Bereich werden die Anzeigen vor allem
von Nachbarn, Kindergärtnern oder Lehrern erstattet.
Auch hier erweist sich die neue Regelung als effektiv, da
die Maßnahmen unabhängig von einem Antrag von Amts
wegen getroffen werden. Eine Wegweisung des gewalttätigen Elternteils, aber auch eines Dritten zum
Schutz des Kindes ist auch dann möglich, wenn der nicht
gewalttätige Elternteil keinen entsprechenden Antrag
stellt, weil er beispielsweise seine Beziehung nicht gefährden will. Ich denke, dies alles dient dem Wohl des
Kindes. Diese sehr gute Lösung ist im Interesse der Kinder zu begrüßen.
Somit reiht sich dieses Gesetz in die Reihe der bereits
verabschiedeten Gesetze ein, die in Zusammenarbeit zwischen den Ressorts Justiz sowie Familie, Senioren,
Frauen und Jugend in dieser Legislaturperiode erfolgreich
auf den Weg gebracht wurden.
({5})
Wir haben umfangreiche Regelungen zum Schutze von
Frauen und Kindern gegen Gewalt und Diskriminierung
getroffen. Auch das Kinderrechteverbesserungsgesetz
verdeutlicht nochmals: Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder sind eigene Persönlichkeiten mit eigenen
Rechten, die von niemandem verletzt werden dürfen - auch nicht von den eigenen Eltern.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ingrid Fischbach.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein gelungenes Werk. Ich sage das nicht
nur deshalb, weil dieser Gesetzentwurf die Stellung der
Kinder verbessert und dazu beiträgt, die Rechtssicherheit
und die Subjektstellung der Kinder in unserer Gesellschaft zu verbessern, sondern auch - das möchte ich an
dieser Stelle betonen -, weil es Ihnen, meine Damen und
Herren der Regierungskoalition, gelungen ist, auf die Vorschläge der Opposition einzugehen.
({0})
Ich kann mich noch an die eine oder andere Diskussion im
Ausschuss erinnern, bei denen Sie anfangs noch sehr
skeptisch waren. Insofern freue ich mich ganz besonders,
dass Sie unsere Vorschläge aufgegriffen haben und dass
wir heute diesen Gesetzentwurf einstimmig verabschieden können.
Dieser Gesetzentwurf ist eine gute Weiter- und Fortentwicklung des bestehenden Kindschaftsrechtsreformgesetzes, das wir seinerzeit noch unter der alten Regierung - ebenfalls gemeinsam - verabschiedet haben. Wie
alle guten Reformen und Gesetze muss auch dieses Gesetz in der Praxis überprüft werden. Dementsprechend
gilt: Wenn es neue Erkenntnisse gibt und Verbesserungen
möglich sind, muss es eine Überarbeitung geben.
In der ersten Vorlage, die wir schon vor Jahren im Ausschuss hatten, waren einige Punkte enthalten, die mittlerweile obsolet sind. Zum Beispiel wurde das Thema „gewaltfreie Erziehung“ durch das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung schon aufgegriffen. Das kleine
Sorgerecht ist mittlerweile genauso wie das vereinfachte
Verfahren bei den Unterhaltszahlungen überholt.
Das Problem des Erbrechts bei nicht ehelichen Kindern
hat schon mein Kollege Pofalla angesprochen. Ich freue
mich, dass Sie an dieser Stelle unserem Vorschlag gefolgt
sind, den bestehenden Vertrauenstatbestand nicht abzuschaffen, sondern beizubehalten. Dafür danke ich Ihnen
sehr.
Lassen Sie mich drei Punkte zu den Regelungen sagen,
die im Interesses der Kinder besonders wichtig sind. Der
erste Punkt ist die Vaterschaftsanfechtung. Ich finde es
sehr wichtig und richtig, dass die Anfechtung einer Vaterschaft bei künstlicher Befruchtung durch Samenspende
eines Dritten ausgeschlossen wird. Wer sich entschließt,
eine künstliche Befruchtung durchzuführen, bei der man
eine Samenspende eines Dritten braucht, der hat es sich
ganz genau überlegt. Diese Eltern - da sind wir sicher einer Meinung - sollte man nicht aus der Verantwortung gegenüber dem Kind entlassen. Insofern kann man diese
Regelung nur unterstützen. Sie ist der richtige Schritt im
Interesse der Kinder.
({1})
Der zweite Punkt, der für die Kinder ebenfalls sehr
wichtig ist, ist die Einbenennung bzw. das Namensrecht.
Bisher war es möglich, dass ein Kind den Namen der
neuen Familie annehmen konnte, wenn der Elternteil, der
eine neue Familie gegründet hat, das alleinige Sorgerecht
hatte. Wir haben dieses Recht auf die gemeinsame Sorge
erweitert und das ist richtig. Gerade die Erfahrungen im
Schulwesen zeigen - ich kann das aufgrund meiner früheren Tätigkeit sagen -, dass Kinder darunter leiden, nicht
denselben Namen wie die neuen Eltern zu tragen. Dank
des gemeinsamen Sorgerechts ist das jetzt möglich. Das
ist ein Weg, die Integration der Kinder in die neuen Familien zu fördern. Das sollten wir unterstützen.
Zweifel und Sorgen führten zu der berechtigten Frage:
Kann man das Recht so gestalten, dass man die Namensänderung rückgängig machen kann? Wir sollten aber
gerade beim Namensrecht auf Kontinuität achten und keinen ständigen Wechsel des Namens möglich machen. Daran sollten wir stärker arbeiten. Ich bin der Auffassung,
dass der eingeschlagene Weg richtig ist.
({2})
Meines Erachtens ist der weitere Ausbau des Schutzes
unserer Kinder vor Gewalt der wichtigste Aspekt. Dazu
gehört das Wegweisungsrecht. Ich finde es richtig, dass
der zivilrechtliche Kinderschutz konkretisiert worden ist.
Es wird klargestellt, dass ein gewalttätiger Elternteil aus
der Wohnung gewiesen werden kann. An dieser Stelle ist
es mir besonders wichtig, festzuhalten, dass nicht nur ein
gewalttätiger Elternteil weggewiesen werden kann, sondern auch ein gewalttätiger Dritter. Die Realität zeigt,
dass in neuen Familiensituationen Ehepartner bzw. Lebenspartner gewalttätig werden. Jetzt besteht die Möglichkeit, konkret zu handeln. Zum Schutze unserer Kinder
ist das wichtig.
Wir haben dafür gesorgt - ich halte es für gelungen; wir
tragen das gemeinsam -, dass Kinder nicht aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden. Wie sah es bisher
aus? Um unsere Kinder zu schützen, wurden sie in Heimen oder in Pflegefamilien untergebracht, das heißt, sie
wurden aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Für die
kindliche Entwicklung ist das schädlich.
Insofern ist es besser - davon bin ich überzeugt -, den gewalttätigen Elternteil oder den gewalttätigen Dritten aus
der Wohnung zu weisen. Das ist ein richtiger Schritt zum
besseren Schutz unserer Kinder.
({3})
Ich möchte zwei Punkte hinsichtlich der Kompetenzerweiterung des Jugendamtes nennen, die wir begrüßen.
Meine Fraktion findet es richtig, dass die Beistandschaft
des Jugendamtes in Unterhaltsachen ausgeweitet wurde.
Das bedeutet, dass auch bei Vorhandensein der gemeinsamen elterlichen Sorge das Jugendamt Beistand leisten
kann. Das ist richtig und wichtig.
Das Beurkundungsrecht des Jugendamtes ist ebenfalls erweitert worden. Es hilft den Familien und den Kindern. An diesem Punkt wird deutlich, dass Kinder gleichgestellt werden und nicht darauf geschaut wird, wer das
- alleinige oder gemeinsame - Sorgerecht hat. Die
Gleichbehandlung der Kinder steht im Vordergrund.
Die heutige Verabschiedung des Kinderrechteverbesserungsgesetzes ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Verbesserung der Kinderrechte in unserer Gesellschaft. In
Art. 2 des Grundgesetzes werden das Persönlichkeitsrecht
des Kindes und seine Rechtsstellung garantiert. Das Kinderrechteverbesserungsgesetz verfolgt dieses Ziel. Auf
diesem Gebiet arbeiten wir weiter. Insofern freue ich
mich, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf Initiative der CDU-Fraktion - das darf ich an dieser Stelle
sagen - ({4})
- Frau Schewe-Gerigk, Sie sehen: Wir sind die Initiatoren
und wir können im Moment noch damit leben, dass Sie
dieses Vorhaben umsetzen. Nach dem 22. September werden wir unsere Initiativen selbst umsetzen.
Lassen Sie uns für unsere Kinder gemeinsam arbeiten!
Danke.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Margot von Renesse.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mein heutiger Beitrag
ist wahrscheinlich mein letzter zum Thema Familienrecht. Ich freue mich, dass wir auf diesem Gebiet - gerade
in diesem Punkt - wieder Einvernehmen erzielt haben.
Sie, Herr Pofalla und Herr Funke, wissen ebenso wie
meine Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion, dass ich
immer Wert darauf gelegt habe, dass man Familienrecht
bei aller Auseinandersetzung nicht mit einer Mehrheit von
51 Prozent ändert. Damit ist weder den Regierungsfraktionen noch der Opposition geholfen;
({0})
denn das Familienrecht ist kulturell tief verankert. Man
sollte sich auf diesem Gebiet nicht einfach durchsetzen.
Das würde die Gesellschaft spalten. Im Übrigen hätte es
wenig Sinn; denn die Richter würden machen, was sie
wollen.
({1})
Wir würden - das weiß ich als Richterin - die Rechtswirklichkeit dann nicht prägen können.
Ich habe mich ein bisschen über Sie geärgert und das
will ich Ihnen auch ganz deutlich sagen, Herr Pofalla und
Herr Funke. Was Sie in Bezug auf Herrn Pick und mich
formuliert haben, waren vergiftete Komplimente. Sie erinnern mich an folgende Situation: Ich koche sonntags mit
großer Mühe und mein Mann sagt: Heute schmeckt es mal
gut.
({2})
Sie werden verstehen, dass das ein Unwerturteil ist, verpackt in eine Süßigkeit. Das kann man nicht billigen.
Wir haben uns, denke ich, Mühe gegeben, so wie Sie
es in den vergangenen Legislaturperioden getan haben,
als Sie - im Sinne dessen, was ich eingangs sagte - das
Gespräch zu moderieren hatten. Ich freue mich darüber,
dass es jedenfalls geklappt hat und dass wir im ganzen
Hause Zustimmung bekommen.
Ich möchte noch etwas deutlich machen, was die Gewalt im Nahbereich angeht; Herr Geis hat da vorhin in seinem Beitrag protestiert. Wir wissen auf der einen Seite,
dass Kinder besonders häufig durch Gewalt, Missachtung
und Misshandlung im Nahbereich geschädigt werden.
Das heißt, Schädigungen, die bei Kindern eintreten, geschehen weitgehend im Nahbereich. Auf der anderen
Seite können Kinder ohne den Nahbereich nicht leben.
Die meisten Eltern, sogar diejenigen, die die Sprache mit
dem hässlichen Ausdruck Stiefeltern belegt, lieben ihre
Kinder und sie sind in dieser Liebe Motivbündel. Wenn
sie mit Kindern zusammenleben, müssen sie Gott sei
Dank nicht danach differenzieren, was sie für sich tun und
was sie für das Kind tun; es ist alles ein Strunk.
({3})
Wenn Eltern ihr Kind Klavier spielen lernen lassen,
dann brauchen sie nicht zu fragen, ob sie das tun, weil sie
ein Kind haben möchten, das Klavier spielen kann, oder
ob sie das tun, weil sie dem Kind eine Chance zur Lebensfreude geben wollen. Es läuft alles in dieselbe Richtung.
Eine solche Unterscheidung braucht man - dem Himmel
sei Dank - in aller Regel nicht zu treffen.
Kindern bekommt der Nahbereich, weil er Nähe und
Distanz gleichermaßen vermittelt - mit Versagen, aber
auch, und zwar am meisten, mit Gutem. Wenn Eltern anfangen, Dienst nach Vorschrift zu machen, dann Gnade
uns Gott!
Das Versagen gehört dazu. Ich bekenne mich vor meinen Kolleginnen und Kollegen Eltern als jemand, der im
Erziehungsgeschäft auch immer wieder einmal versagt
hat. So etwas sollte kein Jugendamt und kein Gericht zum
Handeln zwingen.
Die Familie - das wissen wir eben auch - ist ein gefährliches besonderes Gewaltverhältnis, wenn sie nicht
funktioniert. Wenn Kälte regiert, wenn Überforderung regiert, wenn Stress regiert, dann ist es für Kinder gefährlich. Familienrecht beschreibt nicht Familie, Familienrecht ist Konfliktrecht.
Ich erinnere mich an eine Situation zu Hause. Da hat
mein Ältester von mir verlangt, dass ich um 19 Uhr das
Abendbrot serviere. Das sei in vernünftigen Familien so
üblich, erklärte er mir. Da habe ich ihn voller Zorn in sein
Zimmer geschickt, ihm die Unterhaltsparagraphen aufgeschlagen und gesagt, da könne er nachlesen, was er von
mir verlangen könne.
({4})
Normalerweise schauen weder Eheleute ins Familienrecht, wenn sie miteinander umgehen, noch Eltern, wenn
es um das Verhältnis zum Kind geht, und, wie ich hoffe,
auch umgekehrt.
Wenn wir Familienrecht formulieren, schaffen wir ein
Recht für die Fälle, in denen Eltern mit Kindern auf die
normale, intuitive Weise nicht klarkommen; es gibt diese
gescheiterten Eltern-Kind-Verhältnisse. Wir schaffen
auch ein Recht für Richter, das sie aber nicht federfuchsig
handhaben sollten. Sie sollten wissen, dass Sie immer nur
dafür da sind, das Allerschlimmste zu verhindern. Sie sind
nicht die Überväter und Übermütter unserer Kinder.
({5})
Sie haben zu respektieren, dass die Eltern ihre Kinder in
der Regel mehr lieben als Jugendämter, Familienrichter,
irgendwelche Funktionäre und auch der Gesetzgeber.
({6})
Ich hoffe, dass wir da kein Missverständnis ausgelöst haben; wenn doch, wäre es nicht in meinem Sinne.
Es tut mir Leid, dass ich nun die Lösung einiger Probleme im Familienrecht nicht mehr mit anpacken kann.
Dazu gehört das Problem der gescheiterten Besuchsverhältnisse. Dazu gehört das Problem der gescheiterten Herausgabeverhältnisse. Was wir da an Leid und
Elend in der Rechtswirklichkeit erleben, spottet jeder Beschreibung. Ich wünsche Ihnen, meine Kolleginnen und
Kollegen, dass Sie in der nächsten Legislaturperiode dabei eine glückliche Hand haben und dafür sorgen, dass es
dieses Verzweifeln am Recht nicht mehr gibt, dass es Sie
genauso stört und schmerzt wie die Betroffenen selbst.
In diesem Sinne: Gutes Glück für weiteres Gelingen!
({7})
Gutes Glück
wünschen wir auch Ihnen. Wir jedenfalls möchten Ihre
Rede zum Familienrecht noch nicht als Abschiedsrede gewertet wissen.
({0})
- Ich wollte damit nur klarstellen, wie viel Sie uns wert
sind.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur weiteren
Verbesserung von Kinderrechten, Drucksachen 14/2096
und 14/8131. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.
({1})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Stimmt jemand dagegen? - Das ist nicht der Fall. - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter
Lesung einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/7818 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({2})
- Drucksache 14/8099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Abgeordnete Fritz Schösser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 9. Dezember 1992 sagte Rudolf Dreßler in der Debatte zum Gesundheitsstrukturgesetz:
Die im Gesetzentwurf vorgesehene neue Regelung
der Beitragszahlung für freiwillig Versicherte, die
nach dem 31. Dezember 1992 Rentner werden, hat zu
heftigen öffentlichen Diskussionen geführt. Auch
wenn dieser Neuregelungsvorschlag nicht von uns
erfunden wurde, sondern aus den Reihen der Koalition stammt - die SPD hätte bekanntlich eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bevorzugt -,
haben wir keine Veranlassung, zu dieser Regelung
auf Distanz zu gehen.
Hätte Horst Seehofer - dem ich im Übrigen von dieser
Stelle aus die besten Genesungswünsche übermitteln
möchte ({0})
auf die SPD gehört, wären die Beitragszahler pro
verdienten 100 DM über der damaligen Beitragsbemessungsgrenze von 5 100 DM mit einem Krankenversicherungsbeitrag von 6,22 DM bzw. höchstens mit
18,66 DM bei einem Einkommen von 5 400 DM belastet
worden. Damit wären wir verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite gewesen und es wäre uns ein Haufen Ärger
erspart geblieben.
({1})
- Herr Wolf, das ist bei Kompromissen so. Trotzdem ist in
der damaligen Auseinandersetzung deutlich geworden,
was falsch war.
({2})
Falsch war, die Regelung zu den Vorversicherungszeiten
zu verschärfen.
Dennoch war das, was Horst Seehofer beitragsrechtlich für freiwillig versicherte Rentner in der Krankenversicherung auf den Weg brachte, überlegenswert.
Warum? Zum einen traf diese Regelung den Normalrentner nicht. Zum anderen mussten die Rentner, die neben
der gesetzlichen Rente hohe zusätzliche Einkünfte aus
Kapitalvermögen und Vermietung hatten und die nach den
Bestimmungen des Gesetzes als freiwillig Versicherte
einzustufen waren, höhere Beiträge zahlen, weil jetzt
auch diese Einkünfte bis zur Bemessungsgrenze beitragspflichtig wurden.
Bei einem Teil der freiwillig versicherten Ruheständler
war das im Übrigen auch schon vor dem 1. Januar 1993
so. So wird es wohl auch in Zukunft sein, und zwar dann,
wenn ihre Versicherungsvita nicht wenigstens dem so genannten Halbbelegungsgrundsatz entspricht. Und das ist
auch richtig so. Denn es ist ja nicht einzusehen, dass
zum Beispiel eine allein erziehende Arbeitnehmerin mit
1 200 Euro brutto pro Monat auf ihr gesamtes Einkommen
Krankenversicherungsbeiträge zahlen muss, während
sich der freiwillig Versicherte mit geringer Rente, aber mit
hohen Einkünften aus anderen Einkommensquellen mit
Krankenversicherungsbeiträgen in bescheidener Größenordnung in die solidarische Krankenversicherung hineinschwindeln kann.
({3})
Anlass für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit
war also die Verschärfung der Regelung zu den Vorversicherungszeiten im Gesundheitsstrukturgesetz vom 1. Januar 1993. Das ist letztendlich der ursächliche Fehler, der
zur Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht geführt hat.
({4})
Seither werden Rentenbezieher nur noch dann Mitglied in
der Krankenversicherung der Rentner, wenn zumindest
bei neun Zehnteln der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens
eine Pflichtmitgliedschaft vorgelegen hat. Dies hatte zur
Folge, dass ein Versicherter, der mit seinem Einkommen
in einigen Jahren seines Erwerbslebens die Beitragsbemessungsgrenze überschritten hatte und damit freiwillig
versichert war, nicht mehr in die Krankenversicherung der
Rentner aufgenommen werden konnte, sondern sich als
Rentner freiwillig oder privat versichern musste. Diese
Regelung, verbunden mit der Frage der beitragsrechtlichen Ungleichbehandlung zwischen pflichtversicherten
Rentnern einerseits und den freiwillig versicherten Rentnern andererseits, verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes.
Das Bundesverfassungsgericht lässt für den Gesetzgeber nun ganz ausdrücklich zwei Wege offen: Entweder
kann er die Vorversicherungszeit zur Begründung einer
Mitgliedschaft neu gestalten und vor allem die Zeiten der
freiwilligen Versicherung zur Begründung einer Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung für Rentner
wieder berücksichtigen oder die Beitragsbelastung der
pflichtversicherten Rentner und der freiwillig versicherten Rentner wird angenähert. Auch hier lassen die Verfassungsrichter die Wege in beide Richtungen offen und
schaffen kein Präjudiz.
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht für den
Fall, dass der Gesetzgeber die Schlechterstellung der freiwillig versicherten Rentner nicht beseitigt, den Zugang
zur Versicherungspflicht der Rentner nach den Regelungen des Gesundheits-Reformgesetzes von 1988 festgelegt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes hat
damit Gesetzeskraft und bedürfte eigentlich keiner gesetzlichen Klarstellung.
Vor welcher Situation stehen wir nun? Die vom Bundesverfassungsgericht erwogene Alternative, das Beitragsrecht von Rentnern neu zu regeln, muss gut durchdacht und abgewogen werden. Es wäre meines Erachtens
fatal, jetzt eine Präjudizierung der Frage der künftigen
Gestaltung des Beitragsrechtes der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen.
({5})
- Ganz ruhig, Herr Wolf, das kommt schon noch. - Im
Übrigen befinden wir uns damit in voller Übereinstimmung mit Herrn Seehofer, der in der „Frankfurter Rundschau“ vom 28. Juli 2000 mit folgender Aussage wiedergegeben wird:
Unionsfraktionsvize Horst Seehofer ({6}), aus dessen Zeit als Gesundheitsminister die kritisierte Regelung stammt, mahnte im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau zu „großer Ernsthaftigkeit“ beim
Umgang mit dem Urteil. Der Spruch habe „tiefgreifende Bedeutung weit über den Kreis der Rentner hinaus“. Die Frage, ob Zins- und Mieteinnahmen zum
Kassenbeitrag herangezogen werden, „könnte auch
für andere Sozialversicherungszweige erhebliche
Bedeutung haben“.
({7})
Deshalb geht es heute nicht um irgendwelche Schnellschüsse.
({8})
Das zeigt sich auch, wenn man die Kleine Anfrage der
CDU/CSU vom 29. Januar liest, Herr Wolf, in der Sie unter Ziffer 3 fragen:
Sofern die Bundesregierung im Amt bleibt, schließt
sie auch für die nächste Legislaturperiode aus, dass
- wie von dem rheinland-pfälzischen Sozialminister
Gerster ({9}) vorgeschlagen - alle Rentner mit
sämtlichen Einkünften zur Beitragsbemessung herangezogen werden?
({10})
Ich zitiere einmal Frau Stamm aus der Zeit, als sie noch
Gesundheitsministerin war. Das ist nämlich ganz interessant. Ich zitiere aus einer Pressemitteilung:
Eine Strukturreform dürfe auch nicht die Einnahmenseite der gesetzlichen Krankenversicherung
außer Acht lassen.
({11})
Es stelle sich die Frage, ob es noch gerechtfertigt sei,
die Beiträge allein an das Arbeitsentgelt zu koppeln.
Immerhin sei der Anteil der Arbeitseinkünfte am gesamten Einkommen der Versicherten von 56 Prozent
in 1960 auf 42 Prozent in 1997 gesunken.
Dann folgt ein Zitat von Frau Stamm:
„Ist es nicht falsch verstandene Solidarität, wenn der,
der auch andere Einnahmequellen als seine Arbeit
zur Verfügung hat, die Solidargemeinschaft voll in
Anspruch nehmen kann?“
Ich frage mich: Wer will da was für die Zukunft?
({12})
Ich hoffe, Herr Wolf, Sie sorgen für Aufklärung darüber,
was Sie in der nächsten Legislaturperiode machen würden, wenn der komische Zustand eintreten würde, dass
Herr Stoiber Bundeskanzler wird, was ich ganz und gar
nicht erwarte oder glaube.
({13})
Der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Rahmen kann erst im Zuge einer grundlegenden Neuregelung
des Beitragsrechtes für alle Versicherten ausgelotet werden. Jetzt geht es uns darum, für die betroffenen Rentner
Klarheit zu schaffen, damit sie wissen, woran sie sind.
Jetzt geht es um Vertrauensschutz und Bestandsschutz für
die betroffenen Rentner. Das ist die Zielrichtung des heutigen Gesetzes.
({14})
Die überwiegende Zahl von 1 Million freiwillig krankenversicherten Rentnern wird im Übrigen entlastet. Für
sie entfällt die Beitragspflicht auf sonstige Einnahmen
und sie haben auf Versorgungsbezüge geringere Beiträge
zu entrichten. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts droht aber Rentnern, die ausschließlich eine gesetzliche Kleinrente bzw. nur ganz geringe Versorgungsbezüge erhalten, eine Belastung. Diese Rentner müssen
als künftige Pflichtversicherte nicht mehr den ermäßigten,
sondern den allgemeinen Beitragssatz entrichten. Es geht
für diesen Personenkreis also um 0,75 Beitragspunkte
mehr. Ähnliches gilt im Übrigen für die mitversicherten
Familienangehörigen, die ein Einkommen unter 335 Euro
haben, wenn der Stammversicherte bisher freiwillig versichert und nur Rentenbezieher war.
Weil wir es nicht akzeptieren, dass die Rentner mit
mehrfachem und gutem Alterseinkommen weniger zahlen
und die mit geringerem Einkommen jetzt bluten sollen,
sorgen wir mit unserem Gesetzentwurf dafür, dass bestehende Versicherungsverhältnisse von Rentnern im bisherigen Versichertenstatus bei gleicher Beitragsleistung
fortgeführt werden. Das ist unsere Zielsetzung. Wir stellen also für die vom Urteil negativ betroffenen Rentner einen weit gehenden Bestandsschutz bezüglich Ihrer Versicherungsverhältnisse her.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir gehen mit
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sozial verantwortlich um und wetzen erneut eine Scharte aus, die Sie
uns, meine Damen und Herren von der Opposition zu
meiner Rechten, eingebrockt haben.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über
den von der Regierungskoalition eingebrachten Gesetzentwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - ein sehr komplizierter Titel; die Leute verstehen das kaum. Die Presse, die ja die
Aufgabe hat, die Dinge etwas klarer zu stellen, hat diesem
Gesetzentwurf, wie ich finde, einen besseren Titel gegeben: Die Regierungskoalition beginnt mit Wahlgeschenken an die Rentner.
({0})
Ich finde, damit hat die Presse es genau auf den Punkt gebracht.
Was lag denn vor? Es lag in der Tat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vor, in dem gesagt wurde: Ihr
müsst die Rentner gleich behandeln; entweder bei den
freiwillig versicherten Rentnern die Nebeneinkünfte bei
der Beitragsbemessung nicht mehr wie bisher mitberücksichtigen oder umgekehrt bei den pflichtversicherten
Rentnern neben der Rente auch die Nebeneinkünfte zur
Beitragsbemessung heranziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat also gefordert: Gesetzgeber, du musst
alle gleich behandeln. Das ist ja auch okay. Weiter hat es
gesagt: Wie du, Gesetzgeber, diese Gleichbehandlung
herstellst, ist dir überlassen; das sollst du sagen.
({1})
Zu den Aussagen, die ich gerade gehört habe, man sei
noch nicht so weit und müsse verantwortlich damit umgehen usw.,
({2})
sage ich, lieber Fritz Schösser - Herr Schösser ist ja ein
alter Fahrensmann der Gewerkschaftsbewegung -:
({3})
Zwei Jahre habt ihr Zeit gehabt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nicht erst gestern oder vor drei
Monaten oder vor sechs Monaten ergangen.
({4})
Nein, vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht
gesagt: Gesetzgeber, du musst handeln. Dafür hat es dem
Gesetzgeber zwei Jahre Zeit gegeben.
({5})
Ich habe damals schon gesagt, dass ich sehr gespannt
bin, in welche Richtung die SPD gehen wird und ob sie
vor der Bundestagswahl den Mut aufbringt, das zu tun,
was sie in ihr Wahlprogramm von 1996 hineingeschrieben
hat.
({6})
Da steht nämlich ausdrücklich drin:
Die SPD schlägt vor: eine gerechtere Bemessungsgrundlage in der Rentner-Krankenversicherung
durch Einbeziehung von Nebeneinkünften.
Das war der Beschluss von 1996.
({7})
Dann stand dort:
Schluss mit der Flickschusterei der Regierung Kohl.
Das war sozialdemokratische Beschlusslage 1996.
({8})
Was müssen wir heute feststellen? Heute hat die Regierungskoalition jeglicher Mut verlassen. Sie hat nicht
einfach gesagt: „Wir machen in dieser Frage gar nichts“,
sodass der ursprüngliche Rechtszustand wieder hergestellt worden wäre. Nein, es gibt noch ein paar Rentner,
denen unter Umständen etwas Böses geschehen wäre. Als
Konsequenz wurde ein Gesetzentwurf, der der Besitzstandswahrung dient, vorgelegt; die niedrigen Beiträge
werden beibehalten.
In der Begründung Ihres Gesetzentwurfes steht ein
wirklich verräterischer Absatz. Da steht doch tatsächlich:
Eine gesetzliche Regelung des Mitgliedschafts- bzw.
Beitragsrechts von Rentnern entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erscheint zum
gegenwärtigen Zeitpunkt ... nicht sachgerecht, weil
keine Präjudizierung der Frage der künftigen Gestaltung des Beitragsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen werden sollte.
({9})
Die vom Bundesverfassungsgericht geforderten
Regelungen sollten daher in den Kontext einer
grundlegenden Neuregelung des Beitragsrechts für
alle Versichertengruppen gestellt werden.
Erlauben Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner, Herr Kollege
Fink?
Ja, gerne.
Kollege Fink, Sie
sind ja als Experte bekannt, der darum bemüht ist, sich für
sachgerechte Regelungen einzusetzen.
({0})
Würden Sie uns bitte erklären, welchen konkreten Gegenvorschlag Sie und Ihre Partei machen?
({1})
Denn das Parlament hat ja die Aufgabe, sich auszutauschen.
Ja, Kollege, das kann ich sagen.
Wir haben der Regierungskoalition in den letzten dreieinhalb Jahren immer wieder gesagt: Es war einfach ein Fehler, dass Sie mit Ihrem ersten Gesetz die Neuordnungen
bei der Selbstbeteiligung, beim Zahnersatz und bei vielen
anderen Fragen - sie sind notwendig - zurückgenommen
haben. Sie haben damit die Krankenversicherung mit
1 Milliarde DM mehr belastet.
({0})
Wir haben darüber hinaus gesagt: Sie müssen dringend
eine Reform des Risikostrukturausgleichs vornehmen.
Sie haben als Erstes das Gutachten, das wir dafür in Auftrag gegeben hatten, gecancelt,
({1})
nach dem Motto: Wir brauchen das alles nicht zu machen.
Die Konsequenz ist, dass Sie jetzt nur eine Flickschusterei haben machen können.
Sie haben darüber hinaus immer wieder gesagt: Wir
brauchen gar nicht grundlegend an das Gesundheitssystem heranzugehen; vielmehr wird sich das schon von alleine gestalten.
({2})
Heute sagen Sie: Jawohl, wir brauchen eine grundlegende
Gesundheitsreform.
Lieber Herr Kollege, das eigentliche Problem lautet:
Dreieinhalb Jahre sind der Gesundheitspolitik verloren
gegangen. Sie sind in die falsche Richtung gegangen.
({3})
Sie haben dabei eine Flickschusterei nach der anderen gemacht. Da kommen Sie natürlich zum Schluss nicht mehr
hin. Sie haben Angst vor dem Wähler - das ist mir schon
klar - und sagen: Dann machen wir es einmal so.
({4})
Das werden die Wähler merken.
({5})
Denn eines ist doch klar: Durch diese Regelungen oder
dadurch, dass Sie nichts getan haben, gehen den Krankenversicherungen weitere 300 oder 400 Millionen Euro
pro Jahr verloren. Die Krankenversicherungen heben ihre
Beitragssätze jetzt schon flächendeckend an. Vorher hat
es geheißen: 13,5 Prozent, das ist es. Mittlerweile sagen
alle: 14 Prozent.
({6})
Jetzt kommt noch einmal neuer Beitragsdruck. Wer zahlt
das zum Schluss? Das sind doch alle Versicherten, auch
die Rentner. Denjenigen, denen Sie mit der einen Hand
ein Wahlgeschenk geben, nehmen Sie es mit der anderen
Hand gleich wieder weg.
({7})
- Wie wollen Sie denn die Beitragsausfälle, die jetzt kommen, wettmachen? Sie haben doch ohnehin schon Druck
im Beitragssatzschlauch.
({8})
Jetzt kommen noch 300 oder 400 Millionen Euro hinzu.
Wie sollen die Krankenkassen das ausgleichen?
({9})
Frau Schmidt-Zadel, Herr Rebscher hat Ihnen doch
vorgerechnet, welche Lasten Sie in der letzten Zeit auf die
Krankenkassen verlagert haben:
({10})
Arbeitslosenhilfe, Rente und dergleichen mehr. Ständig
haben Sie den Etat von Herrn Eichel zulasten der Krankenkassen entlastet. Er hat dennoch einen blauen Brief
aus Brüssel bekommen.
({11})
Was müssen die armen Leute machen? Sie müssen die
Beitragssätze erhöhen. Wer zahlt das? Das sind genau dieselben Leute, denen Sie vor der Wahl sagen: Ihr werdet
entlastet. - Das ist genau der Punkt.
({12})
Sie werden einsehen müssen, dass die Krankenversicherung der Rentner eine zentrale Rolle bei der künftigen
Reform des Gesundheitssystems spielen wird. Sie wissen
vielleicht, dass zu Beginn, in den 50er-Jahren, die Krankenversicherung der Rentner überwiegend durch Beiträge
der Rentner gedeckt wurde. Der Anteil, den die Rentner
zur Deckung beitragen, ist danach aber immer weiter gesunken. Mittlerweile sind nur noch 40 Prozent der Ausgaben durch die Beiträge der Rentner für die Krankenversicherung gedeckt. Diesen Zustand werden Sie nicht in alle
Zukunft prolongieren können.
Sie wissen ganz genau, dass dieses Problem für die gesetzliche Krankenversicherung immer gravierender werden wird; es ist nämlich demographisch begründet: Die
Zahl der Rentner steigt.
({13})
Wenn Sie nun ein Signal geben, dass Sie den Deckungsgrad
weiter verringern, dann kommen Sie doch nie zurecht.
({14})
Diese Regelung kann doch für die Zukunft nicht taugen.
({15})
Sie werden nicht darum herumkommen, auch in diesem Bereich eine grundsätzliche Neuorientierung vorzunehmen; denn wenn Sie so weitermachen, dann werden
Sie - Herr Müller, Ihr Wirtschaftsminister, hat dazu ein
Gutachten in Auftrag gegeben und hat Ihnen das vorgerechnet - auf Beitragssätze von 31 Prozent kommen.
Durch die von Ihnen jetzt beabsichtigten Maßnahmen erhöhen Sie das jetzt auch noch.
({16})
Ich sage Ihnen: Die Wählerinnen und Wähler werden
sich durch eine solche Maßnahme, wie sie die Regierungskoalition jetzt vorgenommen hat, nicht täuschen lassen. Das wird nach der Wahl wieder einkassiert werden;
aus einer Entlastung wird dann eine Belastung werden.
Ich finde, das haben die Leute nicht verdient.
({17})
Bevor ich das
Wort dem nächsten Redner gebe, frage ich Sie, ob Sie da-
mit einverstanden sind, dass die Reden der Kollegin Karin
Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, und der Kolle-
gin Dr. Ruth Fuchs von der PDS zu Protokoll gegeben
werden.1) - Ich höre dazu keinen Widerspruch.
1) Anlage 2
Ich rufe als nächsten Redner in der Debatte den Abgeordneten Detlef Parr auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ulf Fink hat doch Recht: Still ruhte der See.
Sehr spät, acht Wochen vor Ablauf der gesetzten Frist,
reagiert die Bundesregierung jetzt auf den Spruch der
Karlsruher Richter. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
({0})
Die Bundesregierung wäre dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auch durch Nichtstun nachgekommen, wenn sie das gewollt hätte. Dann wäre der alte
Rechtszustand von 1993 wieder hergestellt worden. Freiwillig Versicherte, die die erleichterten Zugangsbedingungen des alten Rechts erfüllt hätten, wären wieder in die
Krankenversicherung der Rentner gekommen. Das hätte,
Herr Schösser, die durch folgenreiche Fehlentscheidungen der Bundesregierung bereits schon jetzt gebeutelte
GKV mit circa 250 Millionen Euro Mindereinnahmen zusätzlich belastet.
({1})
Das ist vor dem Hintergrund der eben erst in Kraft getretenen Beitragserhöhungen schon schlimm genug.
Wir haben den Wahltag vor Augen und stellen fest: Die
Bundesregierung wird zunehmend nervös.
({2})
Sie gehen mit dem Änderungsgesetz, das Sie heute vorlegen, sogar über die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes hinaus, ohne das zu müssen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Kirschner?
Selbstverständlich gestatte ich
gerne eine Zwischenfrage des Vorsitzenden meines Ausschusses.
Verehrter Herr Kollege Parr,
Sie haben schon zu Recht auf das Urteil aus Karlsruhe
hingewiesen. Können Sie dem Hohen Haus vielleicht darüber Auskunft geben, welche Ursachen das Urteil hat,
auf welches Gesetz es sich bezieht und ob die FDP-Fraktion diesem Gesetz zugestimmt hat?
({0})
Es geht zunächst einmal um die
Verfassungsmäßigkeit, und den Gleichbehandlungsgrundsatz. Ich persönlich bin für das, was in der betreffenden Legislaturperiode gelaufen ist, nicht verantwortlich.
({0})
Auch die SPD - Herr Kollege Zöller hat eben darauf
aufmerksam gemacht - hat zugestimmt. Frau SchmidtZadel, insofern sind wir gar nicht auseinander.
({1})
Ich komme zu der Situation zurück, die wir heute vorfinden. Zum einen enthält der Gesetzentwurf folgende
Regelung: Entgegen der bisherigen, vom Verfassungsgericht gerügten Praxis werden von April an bei der Berechnung der Kassenbeiträge der freiwillig versicherten
Rentner die Einkünfte aus Kapitalerträgen, Vermietung
und Verpachtung nicht mehr und Einnahmen aus Betriebsrenten nur noch zum Teil angerechnet. Dazu kommt
aber noch Folgendes: Die Bundesregierung eröffnet den
betroffenen Rentnern darüber hinaus die Möglichkeit, innerhalb von sechs Monaten nach In-Kraft-Treten des Gesetzes die Wahl zu treffen, ob sie in die KVdR oder freiwillig versichert bleiben wollen.
Für wen rechnet sich dieses Optionsmodell? Es wird
sich insbesondere für Rentner mit hohen Zusatzeinkünften sowie für diejenigen rechnen, deren Ehepartner nur
über eine geringe Rente verfügt.
Offen bleibt die Frage, ob dieses Modell der Regierung
den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an eine Gleichstellung von freiwillig und pflichtversicherten Rentnern wirklich genügt.
Denn erstens ist es mehr als ungewöhnlich, dass man
in einem solidarisch finanzierten Sozialversicherungssystem Versicherten die Möglichkeit der Wahl zwischen einem niedrigeren und einem höheren Beitrag lässt, obwohl
beide mit den gleichen Bedingungen und den gleichen
Leistungen unterlegt sind.
({2})
Es geht also nicht etwa darum, dass jemand die Wahl erhält, einen niedrigeren Beitrag zu zahlen und dafür auf
Leistungen zu verzichten oder einen höheren Selbstbehalt
in Kauf zu nehmen. Dieser Gedankengang ist der Regierungskoalition fremd.
({3})
Es geht nur darum, dass jemand eine Vorher-Nachher-Berechnung vornimmt und sich dann für das günstigere Modell entscheidet. Das wird die Krankenkassen zusätzlich
zig Millionen kosten.
({4})
Zweitens. Das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung von 1993 für verfassungswidrig erklärt. Die Bundesregierung gibt mit diesem Optionsgesetz jedoch einem
bestimmten Personenkreis die Möglichkeit, an einer solchen verfassungsinkonformen Lösung festzuhalten. Dies
ist ein weiterer Widerspruch in sich.
Drittens. Durch diese Regelung wird eine neue Ungleichbehandlung geschaffen, nämlich zwischen denjenigen, die ihren Rentenantrag bis zum 31. März 2002 gestellt haben, und denjenigen, die erst später in Rente
gehen können. Sie schafft zudem eine UngleichbehandVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
lung gegenüber den bereits heute in der Krankenversicherung der Rentner Pflichtversicherten. Diese erhalten nicht
die Möglichkeit, sich zwischen einer freiwilligen Versicherung und einer Pflichtversicherung zu entscheiden.
Frau Ministerin, Sie haben versprochen, niemand solle
durch die Neuregelung schlechter gestellt werden. Wir
werden Sie im Gesetzgebungsverfahren daran messen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nur das Stichwort
„Kostenerstattung“ nennen.
Viertens. Die Option für einen niedrigeren Beitragssatz
ist von der Versichertengemeinschaft zu tragen. Die
Beitragsverluste erhöhen den Druck auf die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung zusätzlich.
Auch die Arbeitgeber, die immer mit der Hälfte dabei
sind, haben somit etwas von dieser Regelung, um es ironisch auszudrücken.
Fünftens. Wie von Grünen und Sozialdemokraten eigentlich nicht anders zu erwarten, ist mit dem Optionsmodell ein ungeheurer bürokratischer Aufwand verbunden.
({5})
Jetzt möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen
Frau Schmidt-Zadel: Opa ist zurzeit freiwillig versicherter Rentner. Nunmehr erhält Opa zum 1. April eine Nachricht seiner Krankenversicherung, dass er wieder pflichtversichert ist.
({6})
Eine neue Beitragsberechnung ist beigefügt, die neue
Krankenversichertenkarte ebenfalls. Der Rentenversicherungsträger stellt den Rentenbescheid um. Auch dieses
Schreiben erfreut unseren Opa. Es ist ja schön, wenn man
Post bekommt.
Monate später kommt sein Enkel zu Besuch. Opa freut
sich wieder. Dieser Enkel stellt fest, dass Opa mehr bezahlt, als er bezahlen müsste. Opa teilt der Krankenkasse
mit, dass er doch lieber freiwillig versicherter Rentner
bleiben möchte. Die Krankenkasse nimmt eine Nachberechnung der letzten Monate vor. Sie stellt die Beitragsberechnung um und schickt ihm eine neue Krankenversichertenkarte. Sämtliche Rentenbescheide der letzten fünf
Monate müssen revidiert und die Weichen für die Zukunft
richtig gestellt werden.
({7})
- Dies alles, Herr Schösser, gibt es natürlich nicht zum
Nulltarif. - Die Beitragssätze steigen und Opa bezahlt so
viel wie vorher, nur ist er diesmal nicht mehr allein, sondern in Gesellschaft all der anderen Versicherten um ihn
herum. Das ist Solidarität verkehrt.
({8})
Meine letzte Bemerkung: Mit ihrer an Inflation grenzenden Gesetzesflut erhöht die Bundesregierung mit jeder
Teilmaßnahme den Reformdruck, ohne ein schlüssiges
Gesamtkonzept für eine den Patienten und Ärzten dienende Gesundheitsreform im Kopf zu haben, geschweige
denn vorzulegen.
({9})
- Ich wage die Prognose, Frau Schmidt-Zadel: Sie kommen aus Ihren selbst gestellten Fallen nicht mehr heraus.
Sie werden mit Ihrer Gesundheitspolitik scheitern.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit ({0}): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht nur um die Verfassungsmäßigkeit, Herr Parr. Das ist richtig. Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Wir haben uns mit so vielen
Verfassungsgerichtsurteilen zu beschäftigen, weil Sie bei
Ihren Gesetzesvorhaben erst an letzter Stelle auf die Verfassungsmäßigkeit geachtet haben.
({1})
- Herr Kollege Zöller, darüber wollen wir jetzt aber nicht
diskutieren.
Die Frage ist vielmehr: Worum geht es hier? Herr Kollege Fink, es ist keine späte, sondern eine sehr gut überlegte Reaktion. Es geht hier nicht um Wahlgeschenke für
Rentner und Rentnerinnen, sondern um eine gerechte Lösung.
({2})
Meine Auffassung von Elterngeneration ist eine andere
als die Ihrige. Ich sehe, dass in diesem Fall zu Recht die
Beseitigung einer Ungerechtigkeit in Bezug auf
({3})
diejenigen, die pflichtversichert sind, und diejenigen, die
freiwillig versichert sind, angemahnt wurde. Die freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentner sind der
Solidargemeinschaft ihr Leben lang treu geblieben und
haben in die gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt.
Sie haben damit Anspruch darauf, genauso behandelt zu
werden wie diejenigen, die als Pflichtversicherte in der
Solidargemeinschaft bleiben mussten;
({4})
denn die freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentner hätten in jüngeren Jahren auch den Weg in die private
Versicherung wählen können, wie es viele, die am Ende
des Erwerbslebens gern wieder in die Solidargemeinschaft zurückkommen würden, getan haben. Das ist der
Unterschied.
({5})
Meine Damen und Herren, deshalb werde ich gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen mit diesem Gesetz
dafür sorgen, dass diejenigen, die der Solidargemeinschaft treu geblieben sind, im Alter zu den gleichen Bedingungen versichert werden wie diejenigen, die pflichtversichert waren.
({6})
Das Gericht hat ja auch ausdrücklich gesagt, dass der Status eines Versicherten während der Erwerbstätigkeit nicht
ausschlaggebend dafür sein kann, welcher Status ihm im
Rentenalter zukommt.
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte
schön.
Frau Ministerin, was
Sie eben gesagt haben, kann von jedem, der hier sitzt,
nachvollzogen werden. Gerade das Gegenteil tun Sie
aber.
Sie sagen, Sie wollen eine Gleichbehandlung zwischen
den freiwillig Versicherten und den Pflichtversicherten in
der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihre Regierung
hat das genaue Gegenteil beschlossen, indem sie zum Beispiel den freiwillig Versicherten die Möglichkeit der
Kostenerstattung lässt, den anderen diese aber genommen hat. Das ist eine Ungleichbehandlung. Oder sehen
Sie das anders?
({0})
Wir
können über dieses Thema im Zusammenhang mit den
weiteren Reformbemühungen noch einmal reden.
({0})
Darum geht es nicht. Es geht nicht um die Frage: Kostenerstattung bei freiwillig Versicherten und anderen - Ja
oder nein?
Herr Kollege Zöller, heute geht es um die Frage, ob wir
Respekt davor haben, was die ältere Generation für den
Aufbau dieses Landes getan hat, und davor, dass sie die
Solidarsysteme gestützt hat. Als junge Menschen haben
sie nämlich alle eingezahlt und dadurch den Anspruch erworben, dass sie, wenn sie älter werden, häufiger einen
Arzt oder das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen
können als Jüngere.
({1})
Es ist eine Solidargemeinschaft, wo Junge für Alte, Gesunde für Kranke, Singles für Familien und Menschen mit
hohem für Menschen mit niedrigem Einkommen einstehen. Nur so funktioniert dieses System. Deshalb sagen
wir: Wer neun Zehntel der zweiten Hälfte seines Berufslebens Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung
war, erhält im Rentenalter den Zutritt zur KVdR, der
Krankenversicherung der Rentner, als Pflichtmitglied.
({2})
Nun kommt eine Gruppe von Personen hinzu - sie wurden auch angesprochen -, die in den zehn Jahren, in denen das andere Gesetz galt, freiwillig versicherte waren
und ausschließlich Rente beziehen. Wir sagen: Wir wollen nicht, dass es denjenigen, die einen bestimmten Status
haben und Beitragszahlungen leisten, durch diese Neuregelung schlechter geht. Das Gericht hat nämlich gesagt,
dass Differenzierungen durchaus möglich sind. Deshalb
geben wir jedem einmalig die Möglichkeit, für sich zu
entscheiden, ob der alte Status beibehalten werden soll.
Das gilt nicht für diejenigen, die ab dem 1. April 2002
Rentner oder Rentnerin werden bzw. in den Ruhestand gehen, sondern das gilt nur für diejenigen, die schon jetzt einen bestimmten Status haben und diesen nicht verändern
möchten. Es ist recht und billig, diesen Versicherten einen
Vertrauensschutz zu gewähren. Dabei geht es nicht um
den Opa.
Ich glaube nicht, dass die älteren Menschen, die mir in
Briefen ihre Sorgen schreiben, Mitteilungen der Krankenkasse nicht verstehen. Sie wissen sehr wohl, wie sie
darauf zu reagieren haben.
({3})
Aber weil man diese Dinge natürlich auch besprechen
will, haben wir eine Frist eingeräumt, während der sich
die Menschen entscheiden können. Es ist recht und billig,
dass sich eine Regierung darüber Gedanken macht, ob die
Rentnerinnen und Rentner mit dieser Situation zurechtkommen. Sie können sich entscheiden und haben
hier die Wahlfreiheit, die Sie sonst immer fordern.
({4})
Insofern halte ich das, was hier vorgelegt wurde, für
den richtigen Weg. Ich halte ihn auch in der Hinsicht für
angemessen, dass man die jahrelangen Beitragsleistungen
der Menschen berücksichtigt.
Sie haben angesprochen, dass in unserem Gesetzentwurf keine Präjudizierung der Frage der künftigen Gestaltung vorgenommen wird, weil das Gericht auch die
Möglichkeit eingeräumt hat, dass jeder, der jahrelang in
die Versicherung eingezahlt hat, nach seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auf alles Beiträge zahlt. Diesen Weg gehen wir nicht, weil wir keine Ungleichbehandlung zwischen der aktiven und der nicht mehr
aktiven Generation wollen. Dass andere Dinge diskutiert werden, wissen Sie genauso gut wie ich.
Ich persönlich sage Ihnen: Ich halte die Vorschläge,
sonstige Einkommen einzubeziehen, für nicht sozial gerecht. Unsere Beitragsbemessungsgrenze liegt bei
3 375 Euro. Es würden immer nur diejenigen getroffen,
die unterhalb dieser Grenze von 3 375 Euro im Monat liegen. Das ist unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit
kein gangbarer Weg.
Dass wir langfristig, wenn sich die Lohnquote immer
weiter nach unten entwickelt, überlegen müssen, wie auch
in 10, 20 oder 30 Jahren die Finanzierung gesichert werden kann, ist eine ganz andere Frage. Aber diese Frage
wird dann alle betreffen. Sie muss für alle geregelt werden, nicht nur für die ältere Generation, während man die
aktive Generation außen vor lässt.
Um das deutlich zu machen: Ich bin nicht der Auffassung, dass wir an dem Punkt sind, an dem wir das regeln
müssten. Das wird auch in der nächsten Legislaturperiode
nicht der Fall sein. Denn wir haben ein System, welches
das vorhandene Geld nicht optimal einsetzt. Das weiß jeder, der in der Gesundheitspolitik etwas zu sagen und mit
ihr zu tun hat.
({5})
Meine Auffassung ist: Wenn wir jetzt über eine Verbreiterung der Finanzierungsgrundlagen reden, um
mehr Geld ins System zu bekommen,
({6})
dann gibt es in diesem System überhaupt keine Reform
mehr, sondern es bleibt weiter dabei, dass wir Ineffizienzen, Doppeluntersuchungen und Parallelbehandlungen
haben, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Wir werden zu keiner Qualitätssicherung und zu keiner verbesserten Versorgung der chronisch kranken Menschen gelangen.
Wenn wir die Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen
und die Qualität der Versorgung gestärkt haben, dann erst
wird irgenwann der Punkt kommen, an dem wir das Beitragssystem ändern müssen, weil die Einnahmenbasis
nicht ausreicht. Dieser Punkt wird aber viel später eintreten. Deswegen kann ich auch klar sagen: Dies wird auch
in der nächsten Legislaturperiode nicht anstehen, wenn
wir weiterhin regieren, wovon ich ausgehe.
({7})
Die Menschen können in der Gesundheitspolitik sehr
genau unterscheiden: Wollen sie auch in Zukunft ein Gesundheitssystem, das jedem, der krank ist, das medizinisch Notwendige ohne Ansehen der Person und des Einkommens zur Verfügung stellt? Oder wollen sie einen
Weg gehen, wie ihn viele aufseiten der Opposition befürworten, bei dem die Leistungen im Gesundheitswesen
vom Einkommen abhängen, weil man Grund- und Wahlleistungen hat?
({8})
Mit uns wird es diesen Weg nicht geben.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Aribert Wolf.
({0})
Keine Sorge, Herr
Schösser, es gibt auch noch einen Bundesrat. Vielleicht
können wir uns dann dort wieder unterhalten.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Woche hat die rot-grüne Bundesregierung ihr ganzes „Können“ richtig unter Beweis gestellt: ein Innenminister, der sein Haus nicht im Griff hat
und damit das NPD-Verbotsverfahren zu vergeigen droht,
ein Verteidigungsminister, der nicht in der Lage ist,
73 Flugzeuge nach dem Haushaltsrecht richtig zu bestellen, ein Finanzminister, der einen blauen Brief aus Brüssel
bekommt. Wenn diese tolle Truppe dann so richtig in Aktion ist, dann darf natürlich auch die Gesundheitsministerin nicht fehlen.
Um zu zeigen, wie unprofessionell und kurzatmig unter Ulla Schmidt gearbeitet wird,
({1})
werfen wir einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des
uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs oder erinnern wir
daran, dass heute im Bundesrat ein Gesetz der rot-grünen
Bundesregierung, an dem unter Ulla Schmidt weiter gearbeitet worden ist, das Fallpauschalengesetz, ebenfalls
mit großer Mehrheit zurückgewiesen worden ist.
({2})
Man sieht: Die rot-grüne Gesundheitspolitik steht vor einer Wand. Sie ist komplett gescheitert.
({3})
Auch mit dem, was heute vorliegt, werden Sie keine Probleme lösen.
({4})
Kollege Ulf Fink hat bereits darauf hingewiesen: Vor
zwei Jahren, nämlich am 15. März 2000, hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dazu aufgefordert, in
der Krankenversicherung der Rentner neue Regelungen
einzuführen. Es hat dafür eine Frist bis zum 31. März
2002 gesetzt. Diese Frist läuft bald ab.
Bis zur vorletzten Woche hieß es im Gesundheitsausschuss noch, dass Rot-Grün gar kein Gesetz hat, man sich
vor einer gesetzgeberischen Entscheidung drücken und
stattdessen das machen will, was das Verfassungsgericht
in dem Urteil ebenfalls als Möglichkeit aufgezeigt hat:
Macht der Gesetzgeber nichts, bleibt es bei der alten
Rechtslage.
Ich habe letzte Woche im Gesundheitsausschuss
Staatssekretärin Schaich-Walch gefragt, ob es ein Gesetz
zur KVdR geben und was gegebenenfalls dessen Inhalt
sein werde. Sie konnte mir weder sagen, ob es ein Gesetz
geben wird, noch Auskunft geben, was in einem solchen
Gesetz stehen könnte.
({5})
Selbst als ich am Dienstag dieser Woche im Ausschuss
noch einmal nachfragte, war die Regierung nicht in der
Lage, mir über ein solches Gesetz Auskunft zu geben.
Heute wird uns von Rot-Grün ein Gesetz auf den Tisch
gelegt, das mit so heißer Nadel gestrickt ist, dass man
förmlich spüren kann, wie warm das Papier noch ist, auf
dem der Gesetzentwurf gedruckt ist.
({6})
Ich fühle mich davon peinlich an die „ruhige Hand“ des
Kanzlers erinnert. Er hat ja auch monatelang nichts zur
Ankurbelung der Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt getan.
({7})
Jetzt plötzlich fällt ihm ein, dass man schnell ein paar
showmäßige Einzelaktionen starten muss. Leider läuft es
auch in der Gesundheitspolitik auf diese Weise. Das ist
kein überlegtes Regieren, sondern hektischer Aktionismus pur. Damit lösen wir die Probleme im Gesundheitswesen leider nicht.
({8})
Dem traurigen Kapitel rot-grüner Gesundheitspolitik,
das unter der Überschrift „Keine Konzepte - wieder eine
Reformchance vertan“ steht, wird heute ein neuer Absatz
angefügt. Aber nicht nur die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes spricht Bände; auch der Inhalt wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der rot-grünen Koalition und ihre Gesundheitspolitik.
Zunächst eine freudige Nachricht: Es ist richtig, dass
die vielen freiwillig versicherten Rentner aufgrund dieses
Gesetzes weniger Krankenkassenbeiträge zahlen müssen.
Wenn der Bürger etwas geschenkt bekommt, dann ist das
normalerweise ein Grund zur Freude. Warum kommt aber
draußen in der Öffentlichkeit keine rechte Freude auf?
Das hat mehrere Gründe.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Wege aufgezeigt, die der Gesetzgeber gehen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat zum einen gesagt: Der Gesetzgeber
kann das, was für pflichtversicherte Rentner gilt, auch
für die freiwillig versicherten Rentner regeln. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht aber gesagt, Frau
Schmidt: Gleichbehandlung ist auch dann gewährleistet,
({9})
wenn man den umgekehrten Weg geht, indem man die
pflichtversicherten Rentner den freiwillig versicherten
gleichstellt und im Gesetz die Bemessungsgrundlage verbreitert.
Was Sie heute machen, entspricht nicht dem, was das
SPD-Präsidium am 25. April 1996 beschlossen hat und
was Sie vor der Wahl angekündigt haben.
({10})
- Das haben Sie selbst beschlossen, Herr Schösser; das ist
doch der Punkt. Wieso tun Sie denn etwas anderes, als Sie
selbst beschlossen haben?
({11})
Sie sind doch an der Regierung. Im Beschluss des SPDPräsidiums vom 25. April 1996 - ich lese es Ihnen vor;
dieses Papier müssten Sie kennen - heißt es:
({12})
„Die SPD schlägt vor: gerechtere Bemessungsgrundlage
für die Rentnerkrankenversicherung durch Einbeziehung
von Nebeneinkünften“ in die Beitragszahlungen.
({13})
Frau Schmidt, das haben Sie 1996 beschlossen. Jetzt
aber machen Sie das genaue Gegenteil dessen, was Sie
damals beschlossen haben. Das ist kein Konzept, sondern
kurzatmiges Handeln. Weil Sie merken, dass Sie in einem
Umfragetief sind und es sich nicht mehr leisten können,
den Menschen die Wahrheit zu sagen, wollen Sie kurzfristig Wahlgeschenke machen.
({14})
Die Menschen draußen durchschauen Ihr Vorgehen.
Sie gewinnen damit keinerlei Vertrauen in die Gesundheitspolitik. Die Menschen wissen, dass das ein Danaergeschenk ist.
({15})
Sie kennen die Geschichte von Troja: Als die Griechen
nach langer Belagerungszeit ein hölzernes Pferd als Geschenk zurückließen, haben haben die Trojaner dieses
Pferd in ihre Stadt hineingenommen und gefeiert. Des
Nachts sind Soldaten aus dem Pferd herausgekommen
und haben die ganze Stadt niedergebrannt. So geht es auch
den Rentnerinnen und Rentnern, meine Damen und Herren: Jetzt bekommen sie kurzfristig eine Beitragsentlastung. Nach kurzer Zeit aber - nach der Wahl - steigen die
Krankenversicherungsbeiträge und hinterher zahlt jeder
mehr an die Krankenversicherung als heute. Das ist keine
seriöse Politik.
({16})
Frau Schmidt, Sie wissen doch, dass die Finanzlage der
Krankenkassen angespannt ist. Nach wie vor drohen Milliardendefizite. Alle Kassen überlegen, ob sie ihre
Beiträge erhöhen müssen. Das Gesetz, das Sie heute eingebracht haben, hätte zur Folge, dass wieder 300 Millionen Euro weniger bei den Krankenkassen landen, als es
bei einer vernünftigen Politik der Bundesregierung der
Fall wäre. Ihre Nachfolger laufen sich ja schon warm.
Herr Gerster geht schon forsch daran und glaubt, dass er
Sie bald ablösen kann.
({17})
Er ist auch etwas mutiger und sagt zum Beispiel - auch
das lese ich Ihnen vor, wenn Sie wollen, Herr Schösser -,
({18})
er sei der Meinung, dass die Dinge in eine andere Richtung gedreht werden müssten.
Eines ist auf alle Fälle klar - da können Sie schreien,
was Sie wollen -: Mit diesem Gesetz verabschieden Sie
sich weiter von einem Ziel, das der Bundeskanzler in dieser Legislaturperiode in seine Regierungserklärung hineingeschrieben hat: die Sozialversicherungsbeiträge
unter 40 Prozent zu drücken. Wir sind heute bei 41 Prozent. Wenn Sie dieses Gesetz beschließen und damit weiter in die falsche Richtung gehen, drohen den Bürgern
trotz Ökosteuer-Milliarden
({19})
weitere Belastungen in der Krankenversicherung. Die
Zielmarge von 40 Prozent ist im Hinblick auf die Sozialversicherung in weite Ferne gerückt.
({20})
Darum ist es leider so, Frau Schmidt: Wenn man konzeptionell schwach ist, kann auch das Schiff der Regierung keinen klaren Kurs fahren. Sie sind wie ein Schiff
ohne Steuermann, das von der einen Welle in die eine
Richtung und zwei Wochen später von der nächsten Welle
in die andere Richtung getrieben wird.
({21})
- Das ist leider so traurig. Wir können hier leicht reden.
Die Menschen draußen haben die Zeche aber über erhöhte
Krankenversicherungsbeiträge mit barer Münze zu bezahlen.
({22})
Wenn Sie wirklich Respekt vor den Rentnerinnen und
Rentnern haben, Frau Schmidt, dann müssen Sie ihnen
vor allem die Wahrheit sagen.
({23})
Es ist den älteren Menschen gegenüber respektlos, wenn
Sie deren Lebensleistung damit vergelten wollen, dass Sie
ihnen heute eine Mark in die Tasche stecken, nach der
Wahl aber zwei Mark aus ebendieser Tasche herausziehen
wollen.
({24})
Das ist keine seriöse Politik. Diese Regierung verdient es
allein wegen ihrer Gesundheitspolitik, abgewählt zu werden.
({25})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8090 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser
({1}), Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Gerhard
Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
„Stiftung Bildungstest“ - Qualität und Effizienz für den wachsenden Bildungsmarkt
- Drucksachen 14/6437, 14/8092 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Küchler
Norbert Hauser ({3})
Ernst Burgbacher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ernst Küchler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stiftung Warentest hat im Auftrag der Bundesregierung kürzlich eine Machbarkeitsstudie vorgelegt, mit der untersucht worden ist, ob und
inwieweit Bildungsangebote zu testen sind. Diese Studie
belegt, dass auch Bildungsangebote wie Produkte und
Dienstleistungen seriös und erfolgreich getestet werden
können. Die Bundesregierung hat damit auf die zahlreichen einschlägigen Vorschläge und Forderungen reagiert
und so die Voraussetzungen für eine sachliche Debatte
über dieses Thema geschaffen.
({0})
Die Studie befasst sich auch eingehend mit den Entwicklungen auf dem Weiterbildungsmarkt und bestätigt
die Beurteilung des Weiterbildungssektors, welche die
Koalitionsfraktionen in ihren beiden Anträgen zur Weiterbildungspolitik beschrieben haben. Diese Aussagen beziehen sich auf die Defizite und damit auf den politischen
Handlungsbedarf. Sie beziehen sich auf das Thema Transparenz im Weiterbildungsbereich, den Zugang zur Weiterbildung, die Beratung und Qualitätssicherung.
Hier setzt der Vorschlag der Machbarkeitsstudie an,
durch die Etablierung eines Bildungstestsystems die drei
folgenden Ziele zu erreichen: erstens die Stärkung des
Verbraucherschutzes durch Bildungsinformation und die
Schaffung von Transparenz durch vergleichende Untersuchungen von Bildungsangeboten, zweitens die Beschreibung und Veröffentlichung von Qualitätskriterien zur
Orientierung und zum Schutz der Verbraucher und drittens die Qualitätssicherung durch Qualitätswettbewerb
unter den Anbietern. - So wirken Bildungstests nach innen in das System der Weiterbildungsanbieter hinein und
nach außen, indem sie die Nachfrageseite stärken.
Bezüglich der Qualitätssicherung geht der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion meines Erachtens von der falschen
Annahme aus, eine „Stiftung Bildungstest“ sei hinreichend, um die Qualität der Angebote und der Anbieter, das
heißt der Weiterbildungseinrichtungen, sicherzustellen.
Die CDU/CSU weist der Stiftung Bildungstest gleichermaßen die Aufgabe zu, einerseits Weiterbildungsangebote zu testen und zu vergleichen und andererseits
Weiterbildungsanbieter zu zertifizieren. Die Machbarkeitsstudie empfiehlt, diese beiden Aufgaben nicht bei ein
und derselben Institution anzusiedeln. Sollte sich die Stiftung auch durch die Vergabe von Gütesiegeln finanzieren, sind Interessenkonflikte nicht auszuschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir teilen die Intentionen des Antrags der CDU/CSU-Fraktion; aber wir wollen einen anderen Weg gehen. Die „Stiftung Bildungstest“
soll erst nach einer dreijährigen Erprobungsphase in Abstimmung mit den Ländern begründet werden. Sie soll
sich auf vergleichende Tests der Angebote im Bereich der
Weiterbildung, der Schule und der Hochschule beschränken.
Damit bleibt jedoch nach wie vor die Aufgabe, ein
Qualitätssicherungssystem zu schaffen. Dieses System,
dessen institutionelle Verankerung noch zu prüfen sein
wird, soll die Zertifizierung von Weiterbildungseinrichtungen sicherstellen, damit sich die Anbieter an einer seriösen und nachvollziehbaren Qualitätskontrolle beteiligen. Die Unabhängigkeit der Zertifizierungsinstanz muss
dabei gewährleistet sein.
Die Bundesregierung hat den richtigen Weg eingeschlagen, indem sie zunächst eine Machbarkeitsstudie in
Auftrag gegeben hat und nun nach der Vorlage dieser Studie eine Erprobungsphase vorsieht, in der - beschränkt
auf die Angebote der beruflichen Weiterbildung - Bildungstests durch die Stiftung Warentest durchgeführt
werden. Erst danach ist die Einrichtung einer „Stiftung
Bildungstest“ in Absprache mit den Ländern sinnvoll und
machbar.
Mit dieser Initiative wird den Bemühungen der Koalitionsfraktionen, einen verlässlichen Rahmen für das Weiterbildungssystem zu schaffen, ein weiterer Baustein hinzugefügt. Sie ergänzt die bereits in Angriff genommenen
Vorhaben zum Ausbau dieses Weiterbildungssystems.
({1})
Ich erinnere an die Schaffung regionaler Netzwerke in
der Weiterbildung, die Verabschiedung gesetzlicher Regelungen zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung,
etwa die Job-Rotation im Rahmen der Verabschiedung
des Job-Aqtiv-Gesetzes, und die Vereinbarungen im
Bündnis für Arbeit zur betrieblichen Weiterbildung, um
nur einige zu nennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Ablehnung
des CDU/CSU-Antrags aus vorgenannten Gründen wird
das Vorhaben nicht gefährdet. Im Gegenteil: Wir beginnen
sofort mit Bildungstests und bereiten die Einrichtung einer „Stiftung Bildungstest“ solide vor. Der Antrag der
CDU/CSU ist somit überholt und erledigt.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Hauser.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit ist reif für
eine „Stiftung Bildungstest“, so lautete das Fazit, als wir
unseren Antrag zur Errichtung einer eigenständigen „Stiftung Bildungstest“ im Juni 2001 eingebracht haben. Die
Koalition hat sich seitdem - das ist bemerkenswert - mit
eigenen Anträgen zurückgehalten. Aber sie hat eine Leistung vollbracht: Sie hat es hinbekommen, dass eine Machbarkeitsstudie erstellt wurde.
({0})
Das Ergebnis dieser Studie lautete: Die Zeit ist reif für
eine „Stiftung Bildungstest“.
Bereits am 31. Juli des Jahres 2000 haben die badenwürttembergische Kultusministerin Dr. Annette Schavan
und ich die Einrichtung einer „Stiftung Bildungstest“ gefordert.
({1})
Diese Stiftung soll einmal alle Bildungsangebote, vom
Bereich Schule bis zum Bereich Weiterbildung, testen.
Zunächst aber soll sie sich auf die Weiterbildung konzentrieren; denn hier haben wir es mit einem sehr ungeordneten und undurchschaubaren Markt zu tun. Es gibt
35 000 Anbieter mit insgesamt 400 000 Weiterbildungsangeboten und einem Volumen von etwa 40 Milliarden
Euro.
Darüber, ob sich die Investition von Mensch und Kapital in die Weiterbildung lohnt, gibt es nämlich leider
keine Analysen. In vielen Fällen weiß der Betroffene erst,
nachdem er einen Kurs absolviert hat, ob dies tatsächlich
der Kurs war, den er benötigt, um wieder in den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren zu können oder um die Kompetenz zu erhalten, auch zukünftig den Anforderungen des
Arbeitsmarktes gerecht werden zu können. Ist dies nicht
der Fall, hat er eben Pech gehabt. - Gerade deshalb brauchen wir eine „Stiftung Bildungstest“. Sie soll auf die so
zentrale Frage Antwort geben, ob der Nachfrager Vertrauen in den Kurs haben kann. Denn wir alle können uns
keine Verschwendung von Humankapital leisten, weder
die Menschen noch der Staat.
({2})
Es gibt vier Ziele, die mit einer „Stiftung Bildungstest“
erreicht werden sollen:
Das erste Ziel ist die Transparenz. Der entscheidende
Nachteil des Weiterbildungsmarktes ist, dass Angebote
nicht zentral abgerufen werden können. In vielen Fällen
ist es eigentlich reiner Zufall, welches Angebot der
Kunde, der Nachfrager von Weiterbildungsleistungen, in
Anspruch nimmt. Die „Stiftung Bildungstest“ kann und
muss daher der Wegweiser durch den Dschungel von Weiterbildungsangeboten werden.
({3})
Das zweite Ziel ist die Vergleichbarkeit. Um eine
echte Auswahl treffen zu können, muss eine Vergleichbarkeit zwischen den Anbietern und den Angeboten von Weiterbildung hergestellt werden. Die „Stiftung Bildungstest“
wird hier den Maßstab bilden, um eine Vergleichbarkeit
zugunsten des Nachfragers, des Kunden, herstellen zu
können.
Damit bin ich auch schon beim dritten Ziel, dem Wettbewerb. Die „Stiftung Bildungstest“ wird zu Wettbewerb
auf dem Weiterbildungsmarkt führen. Anbieter und Nachfrager werden sich an der Arbeit und den Ergebnissen dieser Stiftung orientieren. Wir müssen dahin kommen, dass
sich die Weiterbildung an den Bedürfnissen der Nachfrager orientiert - wir haben es auch einmal „marktorientiert“ genannt - und dass nicht von oben dekretiert wird,
wie Weiterbildung auszusehen hat.
({4})
Das vierte Ziel ist die Qualitätssicherung. Herr
Küchler, wir können uns gerne darüber unterhalten, ob es
nun ein Gütesiegel geben soll und ob wir neben der „Stiftung Bildungstest“ eine weitere Einrichtung brauchen, die
Qualitätssicherung gewährleistet und dazu Kriterien erarbeitet. Wir sind der Meinung, dass dies die „Stiftung Bildungstest“ leisten kann und dass es ihr möglich sein sollte
- es wäre trotzdem gut gewesen, wenn Sie einen weiteren
Vorschlag gemacht hätten, über den wir uns hätten verständigen können -, Qualitätssicherungsmaßstäbe zu setzen und damit schwarze Schafe vom Markt zu verdrängen. Dadurch wird die „Stiftung Bildungstest“ einen
maßgeblichen, unschätzbaren Beitrag zum Verbraucherschutz auf dem Feld der Weiterbildung leisten.
({5})
Die Reaktion von Frau Bulmahn, unserer Bundesbildungsministerin, auf unseren Antrag vor nahezu zwei Jahren war: Das wollen wir nicht; das kennen wir schon, wir
sind schon viel weiter.
({6})
Es ist doch schön, dass Sie auf den Pfad der Tugend
zurückgefunden haben und jetzt selber eine „Stiftung Bildungstest“ wollen. Besser spät als nie!
({7})
Allein die Tatsache, dass die Machbarkeitsstudie, wenige Tage bevor das Thema in unserem Ausschuss diskutiert wurde, das Licht der Welt erblickte, zeigt doch, dass
man Sie und die Regierung auch auf diesem Feld zum Jagen tragen musste.
({8})
Sie zeigt ein Weiteres: Es sind nicht Sie, sondern es ist die
Opposition, die in der Bildungspolitik den Takt vorgibt.
({9})
- Wenn ich gleich noch Zeit habe, diese Frage zu beantworten, werde ich das gerne tun.
({10})
- Gerne. - Auch auf dem Feld Bildungstest gehört Mut
dazu, Dinge anzupacken.
Das Gutachten der Stiftung Warentest ist hervorragend.
Aber wir haben zwei Jahre Zeit verloren, in der wir dieses
Ziel hätten weiterverfolgen können.
({11})
Es ist auch nichts dagegen zu sagen, dass die Stiftung Warentest zunächst einmal Weiterbildungsangebote prüfen
soll. Das Ziel ist ehrenwert. Aber die Ausführung ist absolut mangelhaft und unzureichend. Die Bundesregierung
will 6 Millionen Euro in drei Jahren zur Verfügung stellen,
({12})
2 Millionen Euro im Jahr bei einem Markt, der ein Volumen von 40 Milliarden Euro hat. Die Stiftung Warentest
geht von maximal 20 Tests pro Jahr bei einem Angebot
von 400 000 aus. Die Trefferquote liegt also im
Norbert Hauser ({13})
Promillebereich. Wenn Sie Lotto spielen, ist Ihre Trefferquote höher als bei der Untersuchung der „Stiftung Bildungstest“.
({14})
Damit werden Sie die Transparenz, die wir benötigen,
nicht erreichen. So wird es nicht zum Durchbruch kommen. „Kleckern statt Klotzen“ heißt hier die Devise.
Wir beklagen einen Fachkräftemangel. Die „Stiftung
Bildungstest“ kann dazu beitragen, den Fachkräftemangel
zu beseitigen. Wenn Arbeitslose sowie Männer und
Frauen, die Weiterbildung nachfragen, möglichst schnell
eine richtige Wahl in Bezug auf Weiterbildungsmaßnahmen treffen können, dann ist dies ein Beitrag zur Beseitigung des Fachkräftemangels.
({15})
Die „Stiftung Bildungstest“ lässt sich finanzieren. Wir
wissen sehr genau, dass Milliardenbeträge in den zweiten
und dritten Arbeitsmarkt, in AB-Maßnahmen sowie in
Weiterbildungsmaßnahmen fehlinvestiert werden. Wenn
es uns gelingt, auch nur einen Bruchteil hiervon sachgerecht und effektiv für die „Stiftung Bildungstest“ einzusetzen, dann haben wir unser Ziel erreicht. Dann haben
wir nämlich den Menschen geholfen und haben überdies
auch noch Geld gespart.
Wir wissen auch, dass wir in Sachen Bildung mit den
Ländern in einem Boot sitzen. Diesbezüglich gibt es eine
gemeinsame Verantwortung. Deshalb sollten auch die Länder Verantwortung für die „Stiftung Bildungstest“ tragen.
({16})
Dies würde die Bedeutung und den Wert der „Stiftung
Bildungstest“ unterstreichen.
Wir fordern eine eigenständige „Stiftung Bildungstest“. Sie darf nicht im Warenkorb - der Ansatz der Stiftung Warentest mag auch noch so gut gemeint sein - als
„ein bisschen Weiterbildung“ zwischen Waschmitteln und
Windeln untergehen. Herr Küchler, Sie wissen genau,
dass es in der Machbarkeitsstudie fünf Beispiele gibt, von
denen nur eins eine eigenständige Stiftung vorsieht. Wir
appellieren an Sie, mit uns zusammen eine eigenständige
„Stiftung Bildungstest“ zu schaffen.
({17})
Einer unserer wenigen Rohstoffe ist das Wissen und
sind die Fertigkeiten der Menschen in unserem Land. Dieser Bedeutung kann nur eine eigenständige „Stiftung Bildungstest“ gerecht werden. Ich wiederhole: Die Zeit ist
reif für eine „Stiftung Bildungstest“.
({18})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen, die Sie wieder einmal nicht zu Potte und
aus den Puschen gekommen sind,
({19})
werden in wenigen Monaten wieder auf den Oppositionsbänken sitzen.
({20})
Vielleicht haben Sie dann Zeit bzw. Muße und können
Kraft sammeln, um die Kreativität zu erreichen, die man
für die Schaffung einer „Stiftung Bildungstest“ benötigt.
Bis dahin werden Sie das Stück „Warten auf Godot“ in der
Fassung „Warten auf die Vorschläge von Frau Bulmahn“
aufführen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({21})
Danke schön. Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Josef Fell das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Idee zur
Schaffung einer „Stiftung Bildungstest“ analog zur Stiftung Warentest ist doch nicht neu. Herr Hauser, Sie tun gerade so, als wenn Sie selbst das erfunden hätten.
({0})
Sie hatten wirklich viele Jahre Zeit. Falls Sie wieder die
Regierungsbank erreichen - wovon ich überhaupt nicht
ausgehe -,
({1})
werden Sie - da bin ich sicher - den Vorschlag zur Errichtung einer „Stiftung Bildungstest“ wie so viele andere
Vorschläge in Ihren Anträgen einstampfen; schließlich haben Sie sie jahrelang nicht verwirklicht.
({2})
Die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen unterstützt natürlich die grundsätzliche Zielsetzung
dieser Idee, was auch aus dem Koalitionsantrag zur Weiterbildung hervorgeht. In diesem sprechen wir uns für die
Prüfung der Einrichtung einer solchen Stiftung aus. Uns
allen ist klar: Bildung wird beim Übergang von der Industrie - zur Wissens- und Informationsgesellschaft zu einem bestimmenden Faktor. Wir können den Übergang nur
meistern, wenn Bildung insgesamt einen höheren Stellenwert erhält.
({3})
In diesem Kontext wird nicht nur die Bedeutung von
allgemeiner und beruflicher Bildung zunehmen. Die Herausforderung, vor der wir derzeit stehen, ist, alle Stufen
des Bildungssystems, vom Kindergarten bis zur WeiterNorbert Hauser ({4})
bildung, in einem gemeinsamen Raster zusammenzuführen. Die Idee, dass jemand nach einem ersten beruflichen Abschluss ausgelernt hat, ist hinfällig; deshalb brauchen wir zum einen mehr und zum anderen qualitativ
hochwertigere Weiterbildungsangebote.
Der Markt für Weiterbildung ist bereits heute enorm
und er wird weiter wachsen. Weiterbildungsinteressierte
stehen einer Vielzahl von Angeboten gegenüber, für die es
kein System der qualitativen Bewertung gibt. Es liegt unter anderem in den Händen der Politik, dafür Sorge zu tragen, dass der Bildungsmarkt nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ wächst.
({5})
Im Sinne einer modernen Verbraucherschutzpolitik
müssen wir die Position der Nachfrager von Bildung stärken. Verbraucherschutz endet bei uns eben nicht bei den
Fragen der Ernährung. Ob Biosiegel, Rabattgesetz oder
Bildung - Bündnis 90/Die Grünen ist die Partei des Verbraucherschutzes.
({6})
Die rot-grüne Regierung ist längst tätig geworden und
hat einen ersten Versuch gestartet, um zu prüfen, inwiefern die Stiftung Warentest mit ihren Instrumenten Bildungsangebote sinnvoll evaluieren kann. Das geschieht
für den IT-Bereich. Ab Juli 2002 wird die neu geschaffene
Abteilung „Stiftung Bildungstest“ der Stiftung Warentest
Kursangebote im Bereich der Weiterbildung untersuchen.
Wir wollen die Ergebnisse abwarten. Wir wollen keine
Schnellschüsse wie Sie in der Union. Es gibt noch keine
einhellige Expertenmeinung zu der Frage, inwieweit die
Mittel des herkömmlichen Verbraucherschutzes ausreichen, um genügend Transparenz und Qualitätssicherheit
für die Teilnehmer zu gewährleisten. Ob im Anschluss an
diese Versuchsphase eine eigenständige Stiftung aufgebaut wird, muss dann überlegt werden. Wir sehen daher
noch keinen Entscheidungsbedarf in dieser Frage.
Der Antrag der CDU/CSU ist als Beitrag zur Debatte
generell zu begrüßen; zustimmen können wir ihm aus den
genannten Überlegungen heraus aber nicht.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen über die Vorstellungen der CDU/CSU hinausgehen.
({7})
Über ein Ranking und ein Testverfahren der „Stiftung Bildungstest“ hinaus setzen wir uns auch für den Aufbau von
Beratungsstrukturen ein.
({8})
Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger aktiv darin unterstützen, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen.
({9})
Wir wollen allen die Chance des lebensbegleitenden
Lernens eröffnen.
({10})
Dies darf nicht auf diejenigen beschränkt bleiben, die in
der Lage sind, sich selbst umfassend zu informieren.
({11})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich der Kollegin Ulrike Flach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Antrag der CDU/CSU greift das wichtige
Thema „Qualitätssicherung und Evaluation“ auf. Das ist
eines der Themen, das uns mit Sicherheit weit über die jetzige Legislaturperiode hinaus umtreiben wird. Deshalb,
lieber Herr Hauser, ist die Idee, eine „Stiftung Bildungstest“ zu gründen und Bildung für die Nutzer transparenter
zu machen, gut;
({0})
aber sie geht aus Sicht der FDP bei weitem nicht weit genug.
({1})
Was ich hier gehört habe, war ganz erfreulich. Eines
scheint Ihr Antrag ja auch bewirkt zu haben: Das Ministerium und die freundlich lächelnden Herren von SPD und
Bündnisgrünen scheinen aufgewacht zu sein.
({2})
Vor zwei Wochen haben wir da eine Art Sturzgeburt erlebt: Frau Bulmahn will mit der Stiftung Warentest Angebote der beruflichen Weiterbildung untersuchen.
({3})
Eines hat mich allerdings etwas verwirrt: Herr Fell, Sie
haben gesagt, Ihre Überlegungen seien noch nicht so richtig abgeschlossen.
({4})
Herr Küchler hat uns vorher gesagt, es sei alles kalter Kaffee, den Herr Hauser da anbiete. Vielleicht empfiehlt sich
da etwas mehr Kommunikation zwischen den beiden.
({5})
Qualitätssicherung, Überprüfung und Zertifizierung
sind offensichtlich ein schwieriges Geschäft. Daher bitte
ich Sie, doch einmal über den nationalen Zaun zu
schauen. Ich empfehle in diesem Fall, da es nicht nur um
Weiterbildung geht, einmal einen Blick nach Schweden.
Unsere Nachbarn in Schweden zertifizieren, überprüfen
und qualifizieren sozusagen ständig auch die Schulen und
nicht nur die Weiterbildung.
({6})
Dort gibt es Qualitätsstandards, die ständig überprüft werden, und dort gibt es eine Art Schul-TÜV. Das ist übrigens
auch das, was die FDP Ihnen vorschlägt und was über Ihre
Vorstellungen, Herr Hauser, deutlich hinausgeht.
Sie wissen: Wir mahnen einen Qualitätsrahmen für unser Bildungswesen in umfassendem Sinne an und darunter verstehen wir deutlich mehr als nur die reine Weiterbildung;
({7})
darunter verstehen wir auch Schule und Hochschule. Insofern hoffe ich, dass Sie, Frau Bulmahn, dieses Angebot
über den Bereich der Weiterbildung hinaus entwickeln
und auch den Schul- und Hochschulbereich einbeziehen;
bei der Vorstellung der neuen Aufgabe der Stiftung Warentest haben Sie es ja ein bisschen durchklingen lassen.
Lassen Sie mich kurz noch etwas zur Konstruktion sagen. Dreieinhalb Minuten für uns von der FDP sind immer sehr wenig, um Ihnen unsere umfassenden Bildungsansichten zu schildern.
({8})
Herr Hauser, Sie haben ein Konzept vorgeschlagen, bei
dem ich ausgesprochene Zweifel daran habe, ob es wirklich so schnell greifen wird, wie Sie sich das vorstellen.
Sie wollen einen Staatsvertrag. Ich frage mich, wie angesichts der uns allen bekannten Spritzigkeit und Schnelligkeit der Bundesländer ein solcher Vertrag greifen soll. Wir
Liberale sind zwar von Ihrem Vorschlag angetan. Aber
wir neigen eher dazu, den Vorschlag zu unterstützen, wonach bei der Stiftung Warentest eine Abteilung zur Prüfung von Weiterbildungsangeboten eingerichtet werden
soll; denn damit wird die Unabhängigkeit der Kontrollen
garantiert.
Nur, Frau Bulmahn stellt nach unserer Meinung viel zu
wenig Geld für das, was sie vorgeschlagen hat, zur Verfügung. Da stimme ich Ihnen zu.
({9})
Schließlich gibt es 35 000 Anbieter und 400 000 verschiedene Programme. Für die zukünftige Stiftung sollen
aber nur 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.
Das wird gerade einmal bis zur Bundestagswahl reichen.
Damit komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der für das
bulmahnsche Bildungskonzept charakteristisch ist: Es
gibt immer kleine Initialschübe, die - davon müssen wir
ausgehen - nach der Bundestagswahl schlagartig aufhören und im Nichts versinken werden, weil keine Mittel
mehr bereitgestellt werden. Das ist meine Sorge.
Zusammenfassend möchte ich feststellen: Der Vorschlag der CDU/CSU ist zwar gut. Aber er greift nach unserer Meinung zu kurz. Wir werden uns deshalb enthalten.
Wir hoffen sehr, dass Frau Bulmahn bei Herrn Eichel
noch mehr Mittel loseisen kann.
({10})
Dann kann auch etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt
werden.
({11})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mittlerweile wird in allen Sonntagsreden die große Bedeutung der Weiterbildung betont.
Doch jenseits solcher Reden, wenn es um praktische Vorschläge und Maßnahmen geht, verengt sich alles sehr
schnell auf die Frage: Wie lässt sich Weiterbildung am effektivsten für die Verbesserung des so genannten Humankapitals einsetzen? Dieses Herangehen bildet auch den
Hintergrund des vorliegenden Antrags. Schon deshalb,
Herr Hauser, können wir ihm nicht zustimmen.
Wie wichtig für eine gedeihliche Entwicklung unserer
Gesellschaft kulturelle und politische Bildung sind, hat
uns die Debatte am Mittwoch doch nachdrücklich vor Augen geführt. Wenn wir nun Qualitätskontrollen und
Qualitätsverbesserungen auf die berufliche Weiterbildung
konzentrieren, dann ist das ein weiterer Schritt zur Vernachlässigung von allgemeiner und kultureller Bildung.
Aus diesem ersten Kritikpunkt ergibt sich ein zweiter:
Durch die Verengung der Weiterbildung auf ihre wirtschaftlichen Aspekte werden die Bereiche der Weiterbildung verabsolutiert, die marktmäßig organisiert sind
und in denen die Bildung demzufolge eine Ware ist. Wir
möchten aber die Bildung vorrangig als ein öffentliches
Gut bewahren und entwickeln,
({0})
das allen ohne Einschränkung zugänglich ist. Der Markt
kann das alleine nicht leisten.
({1})
Ich halte es durchaus für sinnvoll, wenn die Stiftung
Warentest den Bürgerinnen und Bürgern sagt, welches
Auto mit welchen Qualitätsmerkmalen sie sich bei ihrem
jeweiligen Verdienst leisten können. Für die Weiterbildung ist das allerdings nicht akzeptabel; denn das hieße,
die bereits höher Qualifizierten könnten sich teurere und
bessere Kurse leisten als andere. In der Weiterbildung
müsste es aber genau umgekehrt sein: Für die sozial und
in ihrer Bildungsbiografie Benachteiligten müsste es die
besten und damit die teuersten Kurse geben. Vor allem sie
brauchen gute Lehrkräfte, die besten Lernmaterialien und
mehr Zeit, um die Folgen früherer Benachteiligungen auszugleichen.
Schließlich will ich ein Drittes anmerken: Der PDS
wird in der Bildungspolitik immer wieder Zentralismus
unterstellt. Im Unterschied zu unserem Antrag zur Weiterbildung - Sie können das unter Punkt 6 unseres entsprechenden Antrags nachlesen - ist der vorliegende Vorschlag Zentralismus pur.
({2})
Ich halte es für ein Unding, die Qualität der Weiterbildung
von einer zentralen Institution aus wirksam zu verbessern.
({3})
Über die Möglichkeiten einer solchen Institution gibt uns
die vom BMBF in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie
ja eine ungefähre Vorstellung. Danach sollen im Rahmen
einer Abteilung der Stiftung Warentest zwölf Mitarbeiter
jährlich circa 20 Kurse testen. Dem stehen über 35 000 Anbieter mit über 400 000 verschiedenen Programmen gegenüber.
({4})
- Ja, in der Erprobungsphase. - Ich hätte es sinnvoller gefunden, die vorgesehenen 2 Millionen Euro in das BIBB
zu stecken, um dort den Weiterbildungsbereich zu stärken. Damit würde sich das erreichen lassen, was ich vorhin an der Stelle, an der Sie, meine Damen und Herren von
der SPD, Beifall geklatscht haben, geschildert habe. Wenn
Sie das tun, sind wir uns wieder einig. Dann werden wir
den Weiterbildungsbereich zu einer Säule im Bildungswesen machen, die diesen Namen auch verdient. Dann
werden Sie uns an Ihrer Seite haben.
Danke schön.
({5})
Jetzt spricht der Kollege Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Herr
Hauser und andere hier ihre eigene Geschichtsbetrachtung vorgenommen haben, sage ich, um der Wahrheit
die Ehre zu geben: Ideen werden nicht erst dann zu guten
Ideen, wenn sie von der CDU/CSU kommen.
({0})
Darum, Herr Hauser, sei Ihnen empfohlen, die Machbarkeitsstudie Bildungstests zu lesen, in der Sie auf Seite 14
finden: Genese Testeinrichtung Bildung, wo auf einen
Vorschlag von der Hans-Böckler-Stiftung vom Dezember 1998 verwiesen wird, der kurz darauf von der
Bertelsmann-Stiftung aufgenommen wurde. Uns ist das
deshalb wichtig zu erwähnen, weil Sie von der CDU/CSU
keine Ideen aus dem gesellschaftlichen Raum aufnehmen,
sondern erst nach einem gewissen zeitlichen Abstand sagen, sie seien von Ihnen. Wir als Sozialdemokraten halten
es für besser, es anzuerkennen, wenn von gesellschaftlichen Institutionen Ideen kommen; denn das bedeutet Respekt gegenüber diesen Institutionen.
({1})
Die Idee der Stiftung und der Bildungstests ist nicht im
Kopf von Politikern entstanden, sondern im gesellschaftlichen, bildungsbezogenen Umfeld. Deshalb haben wir
als Sozialdemokraten im Jahr 2000, als wir unseren
Leitantrag zu Weiterbildungsfragen ins Parlament eingebracht haben, relativ bescheiden diese Idee aufgegriffen
und sie als Prüfauftrag an die Regierung weitergegeben.
Die Regierung hat dann ihre Arbeit aufgenommen. Das ist
der richtige Weg.
({2})
Ein Zweites will ich an die CDU/CSU gewandt sagen.
Uns hat gewundert, dass Sie einerseits ganz massiv in die
Richtung gingen, nur noch das informelle Lernen zu protegieren - Sie erinnern sich, wie sehr sich Kollege Lensing
dafür eingesetzt hat -, und andererseits jetzt fordern, im
Haushalt 2002 mit fünfmal 50 Millionen die Qualitätssicherung des formellen Lernens in den Mittelpunkt zu stellen. Unsere Bitte an Sie: Verabschieden Sie sich von dem
Irrweg, nur informelles Lernen sei zukunftsbezogenes
Lernen, wenn Sie mit Ihren Anträgen wie dem zur „Stiftung Bildungstest“ doch zugleich besonders das institutionelle, das organisierte Lernen fördern wollen.
({3})
Frau Flach, bei Ihnen müssen wir die gleiche merkwürdige Wendung feststellen. Ihrem Beitrag gerade war
zu entnehmen, dass Sie meinen, die Regierung hätte die
Stiftung Warentest in Bezug auf die Bildungstests noch
stärker unterstützen müssen. Weil bekannt ist, wie die
FDP sich wendet,
({4})
habe ich einen Antrag der FDP vom 11. Oktober 2000
mitgebracht, in dessen Begründung es heißt:
... dass die Bundesregierung die Stiftung mit zusätzlichen Aufgaben, nämlich mit Bildungstests, beauftragen will. Hierfür müsste die Stiftung aber völlig
neue Kompetenzen aufbauen, die wiederum Geld
und Zeit kosten. Dies erscheint gerade in der aktuellen Situation als unangebracht. Sinnvoller wäre es,
wenn die Bundesregierung solche Aufträge öffentlich ausschreiben würde, um Bewerbungen verschiedener ({5}) Fachinstitute zu ermöglichen.
({6})
Das war im Jahr 2000, als Sie mit der Stiftung gar
nichts am Hut hatten. Die Regierung ist dagegen einen geraden Weg gegangen,
({7})
und das in praktischer Kontinuität.
Ich komme im zweiten Teil meiner Ausführungen auf
das zurück, was den Antrag der CDU/CSU, dessen fachliche Bewertung schon vom Kollegen Küchler vorgenommen worden ist, von dem Prozess, der von der Regierung praktisch eingeleitet worden ist, unterscheidet.
Die CDU/CSU möchte, dass der Bundestag die Bundesregierung auffordert, mit den Ländern in Verhandlungen
über eine „Stiftung Bildungstest“ einzutreten und dafür
mit den Ländern ein Finanzierungsmodell zu entwickeln.
In dem Antrag sind vier Punkte aufgelistet, die bei diesen
Verhandlungen der Regierung mit den Ländern im Einzelnen erfüllt werden sollen.
An dieser Stelle sagen wir: Wir finden es besser, dass die
Regierung jetzt konkret einen Prozess einleitet, als dass es
am Ende eines langen Weges vielleicht zu Ergebnissen
kommt. Dazu haben Sie leider und bemerkenswerterweise
in Ihrem umfassenden Redebeitrag fast nichts gesagt.
({8})
Denn die Regierung tut jetzt etwas.
({9})
Sie investiert in den nächsten drei Jahren 2 Millionen Euro für einen bestimmten Prüfbereich, nämlich
Tests für berufliche Bildung. Damit macht sie es möglich,
dass Erfahrungen gesammelt werden. Diese Erfahrungen
machen beispielhaft deutlich, worauf sich die Länder
dann in einem gemeinsamen Entschluss mit dem Bund
einlassen könnten.
({10})
Das ist praktische Reformpolitik.
Sie bewegt sich im Übrigen in einem finanziellen Rahmen, der sich nicht wesentlich von dem unterscheidet,
was Sie uns mit Ihrem Antrag, fünfmal 50 Millionen ab
dem Haushalt 2002 für eine Stiftung bereitzustellen,
anempfohlen haben. Das Stiftungskapital soll ja nicht
verzehrt werden, sondern soll über Erträge etwas
abwerfen. Von 50 Millionen Stiftungskapital jetzt zu
4 Millionen DM real einsetzbares Geld zu kommen, ist
durchaus eine angemessene Entsprechung.
({11})
An der Stelle merken wir, dass es gut ist, dass jetzt begonnen wird.
Auch wenn jetzt begonnen wird, möchte ich in meinem
dritten Teil zwei Fragen aufwerfen, die wir von uns aus in
die Debatte bringen, um diesen Prozess zu begleiten.
Das eine ist die Frage, wie wir denn, wenn auch den
Ländern eine Beteiligung angeboten werden soll, bei der
jetzigen Konstruktion der Stiftung Warentest diese mit ins
Boot bekommen. In den Gremien der Stiftung Warentest
sitzen sie bislang nicht; dies aber müsste vorgesehen werden, wenn die Bund-Länder-Zusammenarbeit in Bezug
auf Weiterbildung verankert werden soll.
Zum Zweiten sind neben dem wissenschaftlichen
Sachverstand in der Stiftung Warentest bisher auch Verbraucher und Wirtschaft stark vertreten. Wenn man den
Bildungsbereich organisiert, müssen sich, wie wir glauben, auch die Repräsentanzverhältnisse verschieben. Es
ehrt die Stiftung Warentest, dass sie trotz Befangenheit in
ihrer Machbarkeitsstudie auch diese Frage aufwirft. Es
liegt jetzt an uns, diese Studie nicht unbeachtet zu lassen,
sondern an ihr entsprechend mitzuarbeiten und dafür zu
sorgen, dass dies so aufgenommen wird.
Durchaus auch in kritischer Auseinandersetzung mit
manchen Punkten, die die Regierung ins Auge fasst, ist es
eher unsere Vorstellung, die „Stiftung Bildungstest“ auf
den Weiterbildungsbereich zu konzentrieren und dort so
zu positionieren, dass sie auch einen gewissen Einfluss
entwickeln kann.
({12})
Wenn man einerseits sagt, dass 2 Millionen Euro für
20 Tests im Bereich der beruflichen Bildung zu wenig
seien, dann kann man jetzt andererseits nicht noch gleichzeitig fordern, dass Schule und Hochschule in dieses
Bildungskonzept miteinbezogen werden. Weil Sie ja auch
dafür sorgen müssen, dass die CDU-regierten Länder motiviert werden, wird man letztlich sicherlich gemeinsam
anstreben, dass man aus der Substanz - Sie wollten ein
Stiftungskapital von 250 Millionen; unser Realzuschuss
beläuft sich jetzt auf 10 Millionen - 80 Tests für insgesamt
100 Maßnahmen, die man im weiteren Sinne beurteilt,
entwickelt. Das reicht dann, so glaube ich, zur Qualitätssicherung aus.
Abschlussgedanke: Die Bildungspolitiker der Koalition - ich glaube, das kann man auch auf das ganze Haus
ausdehnen - können wirklich zufrieden sein, wenn man
sich einmal anschaut, welche Bausteine für Weiterbildung
in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht wurden:
({13})
100 Prozent mehr Mittel - von 100 Millionen DM auf
200 Millionen DM -, Netzwerk lernende Regionen,
100 Prozent Steigerung beim Meister-BAföG, Softwareentwicklung auch für den Weiterbildungsbereich und
Job-Aqtiv-Gesetz mit Jobrotation. Dieses letzte Vorhaben, nämlich eine „Stiftung Bildungstest“ mit Qualitätssicherung zu beauftragen, ist ein weiterer Baustein in dem
guten Fundament, das Frau Bulmahn und die Regierung
für die Weiterbildung gelegt haben. Dafür bedanken wir
uns herzlich.
Danke schön.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/8092 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel:
„‚Stiftung Bildungstest’ - Qualität und Effizienz für den
wachsenden Bildungsmarkt“. Der Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/6437 abzulehnen. Wer folgt
dieser Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und bei
Enthaltung der FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Nun rufe ich Zusatzpunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Schutz von zugangskontrollierten Diensten und von Zugangskontrolldiensten ({0})
- Drucksache 14/7229 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 14/8130 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Alle Reden sind zu Protokoll gegeben.1) So eröffne ich
die Aussprache und schließe sie auch wieder.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über den
Schutz von Zugangskontrolldiensten in der Ausschussfassung auf den Drucksachen 14/7229 und 14/8130.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer
stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU auf
Drucksache 14/8145? - Wer stimmt dagegen? - Gegen
die Stimmen der CDU/CSU ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die
Stimmen der CDU/CSU und bei Enthaltung der PDS ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen - Wer enthält sich - Gegen die Stimmen
der CDU/CSU und bei Enthaltung der PDS ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 21 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Christine Ostrowski, Sabine
Jünger, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Dranske retten - der Gemeinde eine Perspek-
tive geben
- Drucksachen 14/5806, 14/7887 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
Auch hier sind die Reden bis auf diejenige der Kolle-
gin Christine Ostrowski zu Protokoll gegeben.2)
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Christine Ostrowski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Viele Städte in Ostdeutschland sind
in einem schlimmen Zustand. Dranske, dieser eigentlich
sehr idyllisch gelegene Ort auf Rügen, ist meines Erachtens in dem schlimmsten Zustand. Stellen Sie sich ein
wunderschönes altes Dorf und daneben 700 Plattenwohnungen vor, von denen 530 leer stehen: tote Fenster, vernagelte Haustüren, ein verwahrloster, trostloser Ort.
Nun fragt man sich: Wo sind die Bewohner alle hin?
Denn zu DDR-Zeiten waren diese Wohnungen bevölkert.
Ist der Bürgermeister in der Gemeinde Dranske so grässlich, dass alle ausgerissen sind? Hat die Gemeinde so
schlecht gearbeitet? - Mitnichten. In Dranske gab es einen NVA-Standort. Der NVA gehörten auch die Wohnungen. 1990 sind die Wohnungen zu Bundeseigentum geworden. Aus dem NVA- wurde ein Bundeswehrstandort
und dieser Standort wurde 1992 geschlossen. Mit der
Schließung des Standortes stieg die Arbeitslosigkeit
schlagartig. Es begann die Abwanderung. Die Einwohnerzahl sank. 50 Prozent der Einwohner dieses Ortes sind
weg, und zwar für immer.
Zwei Jahre später verkaufte der Bund 700 Wohnungen
an die Gemeinde Dranske, und zwar zu einer Zeit, als eine
Studie, die er selber gefördert hatte, dem Bund sagte:
Diese Wohnungen werden nie mehr bevölkert werden; der
Leerstand in der Gemeinde wird sich erhöhen, weil die
Einwohnerzahl weiter sinken wird. - Das heißt, der Bund
wusste um diese Situation. Er hat der Gemeinde die
700 Wohnungen zu Bedingungen verkauft, die ich für unredlich halte. Er hat zum Beispiel der Gemeinde die Auflage gemacht, diese Wohnungen 20 Jahre lang in einem
vermietbaren Zustand zu halten. Zudem hat er der Gemeinde einen Sanierungsaufwand von 19 Millionen DM
und andere schwierige Bedingungen aufgedrückt.
Herr Otto von der CDU hat gesagt: Was wollen Sie
denn, Frau Ostrowski? Die Gemeinde hat sich unternehmerisch betätigt und sich eben verspekuliert! - Da hat er
Recht. Aber den Vertrag haben zwei geschlossen. Auf der
einen Seite saß die Bundesregierung, vertreten durch professionelle Leute, auf der anderen Seite eine Gemeinde,
vertreten durch ehrenamtliche Gemeinderäte.
Auch der Bund hat spekuliert, nämlich zu seinen Gunsten. Er hat 9 Millionen DM für diese Wohnungen eingenommen, die er ansonsten am Hals gehabt hätte und die
ihm nur finanzielle Belastungen gebracht hätten. Diese
Belastungen lagen von da an bei der Gemeinde. Sie ist
hoch verschuldet, alleine mit 20 Millionen DM wegen
dieser Wohnungen.
Das generelle Problem von Dranske - Arbeitslosigkeit,
Abwanderung, Leerstand - hat nicht die Gemeinde verschuldet. Dieses generelle Problem ist typisch für viele
Regionen in Ostdeutschland. Der Bund hat die Wohnungen zu Bedingungen verkauft, die unredlich sind.
Unser Antrag ist vom 4. April vergangenen Jahres.
Zwei Monate nach diesem 4. April hat sich die Bundesregierung endlich bewegt. Sie ist auf das Land und auf die
Gemeinde zugegangen und hat einige dieser knebelnden
Bedingungen verändert. Die Gemeinde muss nun keinen
Schadensersatz mehr zahlen. Die Gemeinde muss nicht
mehr so hohe Verzugszinsen und keinen Verbilligungsabschlag mehr zahlen.
({0})
Dies alles hätten Sie aber sowieso nie bekommen. Diese
Gemeinde ist mittellos. Greifen Sie einem nackten Mann
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 3
2) Anlage 4
einmal in die Tasche. Sie haben also lediglich Bedingungen verändert, die sich durch das reale Leben schon eh erledigt hatten. Auf die Verzugszinsen haben Sie noch nicht
einmal ganz verzichtet, sondern nur auf die Hälfte.
({1})
- Das soll etwas sein für eine Gemeinde, die 12 000 DM
Schulden pro Kopf hat? Frau Lucyga, Sie waren noch nie,
noch kein einziges Mal dort. Und dabei liegt Dranske in
Ihrem Land und Ihrem Wahlkreis.
Das Entgegenkommen des Bundes hat sich also auf
Schritte reduziert, die lächerlich sind. An der Gesamtlage,
an der Existenzfähigkeit dieser Gemeinde hat sich überhaupt nichts geändert. Ich habe gestern zum wiederholten
Mal mit dem Bürgermeister, der von der FDP ist, gesprochen, der mir dies bestätigt hat: Die Existenzfähigkeit der
Gemeinde steht nach wie vor auf der Kippe. Das ist völlig klar.
Die SPD und konkret Sie, Frau Lucyga, erklärten im
Ausschuss, für eine Entschuldung enthalte das Programm
„Stadtumbau Ost“ umfangreiche Maßnahmen. Das ist
sachlich und fachlich großer Blödsinn. Zur Entschuldung
der Wohnungswirtschaft, auch der Wohnungswirtschaft in
Dranske, beinhaltet das Stadtumbauprogramm keine einzige Maßnahme. Das ist eines der größten Probleme dieses Programms.
({2})
Das gesamte Land Mecklenburg-Vorpommern bekommt
für Rückbau und Aufwertung im Rahmen dieses Programms in diesem Jahr insgesamt 34 Millionen DM vom
Bund. Zur Relation: Dranske alleine hat 20 Millionen DM
Schulden.
Angesichts der Tatsache, dass die Ausschussmitglieder
regelmäßig wegen spannender Themen nach England,
China oder in sonstige Länder der Welt reisen, habe ich
mich sehr ernsthaft darum bemüht, dass wenigstens die
Wohnungspolitiker der Fraktionen eine Tagesreise nach
Dranske unternehmen. Ich habe allen Ausschussmitgliedern einen Brief geschrieben. Zunächst bekam ich eine
heimliche Zusage von einer Kollegin aus der SPD, dann
eine Absage vom Kollegen Goldmann aus der FDP - und
am Ende eine generelle Absage. Der Ausschuss war nicht
zu bewegen, wenigstens fünf Vertreter nach Dranske zu
schicken.
Selbstverständlich habe ich dies öffentlich gemacht,
auf einer Gemeindeversammlung in Dranske und auf andere Weise. Man hat mir daraufhin den Vorwurf unkollegialen Verhaltens gemacht.
Frau Kollegin, bitte
denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum
Schluss. - Ich frage Sie: Halten Sie es nicht für einen
Skandal, dass Sie jede Gelegenheit, eine Reise zu unternehmen, nutzen, dass Sie es aber nicht fertig bekommen,
von Berlin nach Dranske zu fahren und sich vor Ort von
der Situation zu überzeugen?
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/7887 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Dranske retten“ - der
Gemeinde eine Perspektive geben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5806 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zum Umfang der
Umsatzsteuerbefreiung von Dienstleistungen
der Deutschen Post AG
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDSFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Tagen
war in der Presse von dem Bericht des Bundesrechnungshofes über die umstrittene Steuerbefreiung der Deutschen
Post AG die Rede. Zu dem Bericht will ich mich nicht
äußern. Ich kenne ihn zwar; aber er ist, wie wir wissen, eigentlich noch immer streng geheim, obwohl die Medien
tagtäglich darüber berichten.
Mir geht es auch nicht um die Deutsche Post AG an
sich, gegen deren Privatisierung die PDS gestimmt hat.
Die Privatisierung hatte einerseits gravierende Folgen für
die Beschäftigten und die flächendeckende Versorgung.
Heutzutage kann ein Dorf, das noch einen Bäckerladen
hat, in dem Briefmarken verkauft werden, schon stolz
sein. Die Anzahl der Filialen wurde von 14 000 im Jahr
1998 auf 12 000 reduziert. Aber alle Vorteile, die mit der
Erfüllung hoheitlicher Aufgaben verbunden sind - wie die
Umsatzsteuerbefreiung -, werden natürlich mitgenommen.
Mir geht es erstens um Aufklärung der in diesem Zusammenhang sichtbar gewordenen steuerrechtlichen Probleme und zweitens um den Umgang der Bundesregierung mit dem Parlament.
Zu erstens: Das Umsatzsteuergesetz hätte spätestens
zum 1. Januar 1998 im Zuge der Privatisierung der Post
geändert werden müssen. Das Postgesetz schreibt die hoheitlichen Aufgaben der Post fest. Darunter fallen aber
nicht die Universaldienstleistungen und die sonstigen
Leistungen. Um diesen Bereich geht es heute hier. Hier
sind Wettbewerber zugelassen, auch wenn diese derzeit
noch nicht zahlreich sind. Die Wettbewerber müssen UmChristine Ostrowski
satzsteuer zahlen, die Deutsche Post aber eben nicht. Das
ist Wettbewerbsverzerrung.
({0})
In ihrem Börsenprospekt hat die Post in Vorbereitung
auf den Börsengang festgestellt, dass eine Klärung hinsichtlich der Steuerpflicht notwendig ist. Auf Seite 180
dieses Prospekts wird auf Steuerforderungen der Finanzbehörden von knapp 1 Milliarde Euro allein für die Jahre
1998 und 1999 verwiesen. Lakonisch heißt es darin weiter:
Die Bundes- und Landesfinanzbehörden haben die
Frage der Umsatzsteuerbefreiung im Jahre 2000 abschließend entschieden, ... dass die Postuniversaldienstleistungen nach § 4 Nr. 11 b Umsatzsteuergesetz von der Umsatzsteuer freizustellen sind.
Darauf komme ich noch einmal zurück.
Es ist unstrittig, dass die Deutsche Post im Bereich der
Universaldienstleistungen hohe Investitionen in die Infrastruktur vorgenommen hat. Deshalb optierte die Deutsche
Post seit dem 1. Januar 1999 selbst zur Umsatzsteuerpflicht, um in den Genuss der Vorsteuerüberhänge in
Höhe von circa 45 Millionen DM pro Monat zu kommen,
und stellte offensichtlich im gewerblichen Bereich Unternehmen Umsatzsteuer in Rechnung.
Hieraus ergeben sich für mich zwei Fragen: Erstens.
Wurde die Deutsche Post durch Steuergeschenke der Bundesregierung börsenfähig gemacht? Zweitens. Wenn die
Umsatzsteuerbefreiung im Jahre 2000 geklärt war, wieso
hat dann die Post selbst anders gehandelt und teilweise zur
Umsatzsteuerpflicht optiert, wie es heute der „Bild“-Zeitung zu entnehmen war?
Bei der vorliegenden Einzelentscheidung der Bundesregierung zur Besteuerung der Post haben wir es nicht nur
mit einem steuerrechtlichen Problem zu tun, sondern auch
mit möglichen Verstößen gegen § 20 Verwaltungsverfahrensgesetz, gegen § 82 Abgabenordnung und gegen die
Geschäftsordnung der Bundesregierung. Auch hier tut
Aufklärung Not.
Damit bin ich bei meinem zweiten Problem: Ich hatte
aus dem Börsenprospekt zitiert, wonach Bundes- und
Landesbehörden entschieden hatten, die Universaldienstleistungen der Post steuerfrei zu stellen. Das Finanzministerium in Nordrhein-Westfalen war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Finanzminister Eichel
unterzeichnete dennoch eine entsprechende Weisung an
seinen Düsseldorfer Kollegen.
Der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages
wurde nicht gefragt, übrigens auch nicht bei der jüngsten
Änderung des Postgesetzes, wonach die Universaldienstleistungen von der Post bis zum Jahre 2007 vorgehalten
werden müssen. Diese Verlängerung hätte ich selbstverständlich unterstützt. Gleichzeitig hätte ich aber gefordert,
den Punkt „Kosten der öffentlichen Haushalte“ zu ändern.
({1})
Wenn wir Parlamentarier es denn wollen, bleiben die
Universaldienstleistungen umsatzsteuerfrei und damit gehen den Kassen von Bund, Ländern und Kommunen Gelder in einer beträchtlichen Größenordnung verloren. Das
ist meines Wissens nicht mit den Ländern besprochen
worden. Wir wurden aber nicht gefragt, sondern Herr
Eichel hat per Unterschrift und im Alleingang entschieden, dass die Universaldienstleistungen steuerfrei seien.
Frau Kollegin, wir
sind in der Aktuellen Stunde. Sie haben Ihre Redezeit
überschritten.
Gleichzeitig wurden Gesetze zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges verabschiedet. Das habe ich unterstützt. Aber hier wird einfach
anders gehandelt. Was nützt uns dieses Gesetz? Wie sollen meine Kollegen im Finanzamt draußen prüfen gehen,
wenn der Minister entscheidet, was steuerfrei und was
steuerpflichtig ist?
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin
beim Bundesfinanzminister, Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In den von der PDS-Fraktion
angesprochenen Presseberichten wird aus einem als geheim eingestuften Bericht des Bundesrechnungshofes zitiert. Dies geschieht noch dazu ziemlich einseitig und ungenau. Darüber hinaus verletzen diese Berichte das
Steuergeheimnis der Deutschen Post AG.
Dies vorausgeschickt will ich mich - wohl wissend,
dass dieser Versuch inzwischen skurrile Züge annimmt ausdrücklich nur zu den Presseberichten äußern, weil der
Bericht des Bundesrechnungshofes nach wie vor geheim
ist. Dass er nach wie vor geheim ist, liegt in der Verantwortung des Bundesrechnungshofes. Die Einstufung
wurde durch den Großen Senat vorgenommen und kann
auch nur durch diesen aufgehoben werden. Darauf hat die
Bundesregierung keinen Einfluss. Die Deutsche Post AG
hat aber den Bundesminister der Finanzen am Donnerstag
vergangener Woche insoweit vom Steuergeheimnis entbunden.
Die umsatzsteuerliche Bewertung muss die rechtlichen
Vorgaben und die Wettbewerbssituation betrachten. Ich
komme zunächst zu den rechtlichen Vorgaben:
Nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchstabe a der 6. EGRichtlinie befreien die Mitgliedstaaten „die von den öffentlichen Posteinrichtungen ausgeführten Dienstleistungen“ von der Umsatzsteuer. Nach § 4 Nr. 11 b Umsatzsteuergesetz sind die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen Post AG von der Umsatzsteuer befreit. Diese Vorschrift ist durch das Gesetz zur
Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation
vom 14. September 1994 mit Wirkung vom 1. Januar 1995 zur Umsetzung der 6. EG-Richtlinie ins nationale Recht in das Umsatzsteuergesetz eingefügt worden.
Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass
die Steuerbefreiung zumindest so lange bestehen bleiben
soll,
als wesentliche Marktsegmente den Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost ausschließlich
vorbehalten bleiben, diese Unternehmen besondere
Infrastrukturlasten zu tragen haben und durch hoheitliche Maßnahmen wie auch durch Allein- und
Mehrheitsbesitz des Bundes die Einhaltung staatlicher Vorgaben gesichert bleibt.
Zudem ging der Gesetzgeber damals davon aus, dass der
öffentliche Charakter der Deutschen Post AG trotz Umstrukturierung der Deutschen Bundespost von einem Monopolunternehmen in drei private Unternehmen noch
nicht vollständig aufgegeben worden ist.
Am 1. Januar 1998 trat das Postgesetz in Kraft. Zweck
dieses Gesetzes ist es, durch Regulierung im Bereich des
Postwesens den Wettbewerb zu fördern und flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen
zu gewähren. Nach § 51 Postgesetz wurde der Deutschen
Post AG für einen näher bezeichneten Bereich von Postdienstleistungen - zunächst bis zum 31. Dezember 2002,
jetzt bis 2007 - eine gesetzliche Exklusivlizenz eingeräumt. Diese Leistungen sind nach § 4 Nr. 11 b Umsatzsteuergesetz von der Umsatzsteuer befreit.
Darüber hinaus kann die Deutsche Post AG - zunächst
bis zum 31. Dezember 2002, jetzt bis 2007 - bei Marktversagen zur Erbringung eines so genannten Universaldienstes verpflichtet werden. Die weiteren Einzelheiten
hierzu sind in der Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15. Dezember 1999 geregelt.
({0})
- Es ist offenbar notwendig, auf die Rechtslage hinzuweisen.
({1})
- Sie kennen mich ja als durchaus lebhafte Rednerin. Es
scheint mir aber notwendig zu sein, hier - in der Hoffnung, dass auch die Herren und Damen Kollegen so viel
Auffassungsgabe wie die von Ihnen angesprochenen Juristen des ersten Semesters haben - sehr eindeutig und nachdrücklich auf die Rechtslage hinzuweisen.
Die Post-Universaldienstleistungsverordnung legt in
§ 1 fest, welche Leistungen der Deutschen Post AG als
Universaldienstleistungen anzusehen sind. Hierzu
gehören die Beförderung von Briefen bis zu einem Gewicht von 2 000 Gramm, soweit deren Maße bestimmte
Grenzen nicht überschreiten, von Paketen bis zu einem
Gewicht von 20 Kilogramm, soweit deren Maße bestimmte Grenzen nicht überschreiten, sowie von bestimmten Zeitungen und Zeitschriften.
Diese Universaldienstleistungen, die ein Mindestangebot an Postdienstleistungen darstellen, muss die Deutsche
Post AG unter den in den §§ 2 bis 4 und 6 der Post-Universaldienstleistungsverordnung genannten Anforderungen und Bedingungen flächendeckend erfüllen. Dabei
werden Mindestanforderungen an die Qualitätsmerkmale
für die Beförderung von Briefen und Paketen sowie von
Zeitungen und Zeitschriften festgelegt.
({2})
Kein anderes Unternehmen als die Deutsche Post AG
kann diese Leistungen derzeit erbringen, sodass im Ergebnis dieses Bündel von Leistungen mit Fug und Recht
als der Deutschen Post AG eigentümlich und vorbehalten
angesehen werden kann.
({3})
- Der Rechnungshof hat offenbar nur Teile der Gesetzeslage zur Kenntnis genommen.
({4})
Zur Klarstellung hat der Gesetzgeber im Zweiten Gesetz zur Änderung des Postgesetzes die Deutsche Post AG
verpflichtet, für den Zeitraum der gesetzlichen Exklusivlizenz, die jetzt bis 2007 gilt, bis dahin auch die Universaldienstleistungen zu erbringen. Die Novelle wird in Kürze
im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Daraus lässt sich
entnehmen, dass der Gesetzgeber selbst deutlich gemacht
hat, dass er diese Sicht der Dinge auch schon 1998 den
damaligen Regelungen zugrunde gelegt hat.
({5})
Zweitens. Es ist zu fragen: Steht die Deutsche Post AG
auch hinsichtlich der Universaldienstleistungen in vollem
Wettbewerb? Dafür spricht lediglich, dass zum Zeitpunkt
der Entscheidung, nämlich am 18. Februar 2000, Lizenzen an 220 private Wettbewerber erteilt waren, die zu diesem Zeitpunkt nach Auskunft des Bundesrechnungshofes
allerdings lediglich rund 1 Prozent Marktanteil hatten.
Aber die Deutsche Post AG stand und steht nach wie vor
unter einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung.
Die Verpflichtung der Deutschen Post AG zur Erbringung des Universaldienstes ergibt sich aus dem am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Postgesetz. Hintergrund für
die Regelungen des Postgesetzes ist die Vorgabe des
Art. 87 f des Grundgesetzes, wonach der Bund im Bereich
des Postwesens flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen gewährleistet.
Das Postgesetz sieht in den §§ 11 ff. vor, dass die Regulierungsbehörde zur Gewährleistung des Universaldienstes erforderlichenfalls Unternehmen zu Universaldienstleistungen verpflichten kann. Dabei ging der
Gesetzgeber für eine Übergangszeit von einer faktischen
Erfüllung der Universaldienstleistungsverpflichtung
durch die Deutsche Post AG aus. Dies ergibt sich aus den
§§ 52 und 56 des Postgesetzes. Dort wird die Deutsche
Post AG verpflichtet, der Regulierungsbehörde eine beParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
absichtigte Dienstleistungseinschränkung im Bereich des
Universaldienstes sechs Monate vorher mitzuteilen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Regulierungsbehörde Versorgungslücken im Bereich der Grundversorgung verhindern kann; § 52 des Postgesetzes.
({6})
Die in § 56 des Postgesetzes unterstellte Verpflichtung der
Deutschen Post AG zur Erbringung von Universaldienstleistungen bis sechs Monate nach Kündigung wird von
der gerade verlängerten Exklusivlizenz flankiert, die den
Zutritt privater Wettbewerber insoweit verhindert.
({7})
Soweit die bisherige Regelung.
({8})
In der Begründung der Neufassung des § 52 des Postgesetzes durch die Novelle zum Postgesetz ist in authentischer Interpretation des Gesetzgebers ausgeführt - ich
zitiere -:
Mit der Neufassung des § 52 wird der faktisch bestehende Zustand gesetzlich festgeschrieben. Die Deutsche Post AG ist als alleiniger Anbieter sämtlicher
Universaldienstleistungen bereits heute während des
Zeitraums der Exklusivlizenz ausschließlicher
Adressat einer im Falle des Auftretens einer Versorgungslücke gegebenenfalls notwendig werdenden
förmlichen Verpflichtung zum Universaldienst und
unterliegt daher einer besonderen Universaldienstverantwortung, die auch in der Regelung des § 56
zum Ausdruck kommt. Vor dem Hintergrund der dadurch schon nach der bisherigen Rechtslage begründeten faktischen Universaldienstpflicht hat die Änderung des § 52 in erster Linie klarstellende
Funktion.
Ich habe aus dem verabschiedeten Gesetz zitiert.
Zur Sicherstellung des verfassungsrechtlichen Auftrages hat die Deutsche Post AG zum Beispiel gemäß § 2 der
Post-Universaldienstleistungsverordnung eine unter betriebswirtschaftlichen Maßstäben überdimensionierte Infrastruktur mit mindestens 12 000 Filialen zu unterhalten.
Diese in der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung liegenden Vorhaltekosten, von der Deutschen Post AG als Universaldienstlasten bezeichnet, belasten nur die Deutsche
Post AG, keinen der Wettbewerber.
Frau Kollegin, ich
muss Sie auf das Ende Ihrer Redezeit aufmerksam machen, weil sich sonst alles nach hinten verschiebt. Bitte
sehr.
({0})
Solange diese kostenträchtige Verpflichtung besteht, ist voller Wettbewerb nicht
hergestellt.
({0})
Ich möchte Ihnen gern noch ein Zitat des früher verantwortlichen Staatssekretärs Dr. Stark vorlesen, der genau zu diesem Schluss kommt. Er hat am 2. Juli 1996 dargelegt:
Ob und wann die Deutsche Post AG mit anderen Unternehmen in uneingeschränkten Wettbewerb tritt
und ihre Leistungen in vollem Umfang der Umsatzsteuer zu unterwerfen sind, hängt nicht zuletzt von
der weiteren EG-rechtlichen Entwicklung auf dem
Gebiet der Postdienstleistungen ab. Bis zu diesem
Zeitpunkt muss es bei der bestehenden Regelung verbleiben.
({1})
Unter anderem damit begründete Dr. Stark, als Ihre Bundesregierung die Verantwortung trug, die Umsatzsteuerbefreiung.
({2})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({3})
Nun wissen wir es
alle. - Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel.
({0})
- Ich weise darauf hin, dass die Bundesregierung länger
reden darf. Wir sind in der Aktuellen Stunde. Jetzt bitte
höchstens fünf Minuten!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin, wenn Sie schon so gut vorlesen können, hätten Sie uns
auch den Text anderer Schreiben vortragen können. Ich
hörte, dass das „Handelsblatt“ zitierte, es gebe Schreiben
von der Post AG an Ihr Haus, in denen dringend darum
gebeten werde, mit Blick auf den Börsengang darauf zu
verzichten, die Mehrwertsteuer zu erheben. Nach Auskunft des „Handelsblatts“ heißt es darin weiter, man solle
Gründe dafür suchen. Warum haben Sie uns dieses
Schreiben hier nicht vorgelesen?
({0})
Folgt man dem „Handelsblatt“ weiter, ging es um eine
ganze Reihe von Antwortschreiben des Staatssekretärs
Overhaus, um Schreiben, die an den Minister des Landes
Nordrhein-Westfalen gerichtet wurden. Warum haben Sie
diese Schreiben nicht zitiert? Sie wären sehr interessant
und dazu geeignet gewesen, die Sachzusammenhänge
aufzuhellen und Klarheit zu schaffen.
({1})
Wenn Sie ausführen, Sie könnten leider nichts Weiteres sagen, weil der Bundesrechnungshof die Geheimhaltung vorgegeben habe, hätten Sie es in der Hand, die Akten an den Deutschen Bundestag herauszugeben. Es sind
Ihre Akten, über die da verhandelt wird. Dann könnten wir
selber diesen Skandal mit der richtigen Bewertung in der
Öffentlichkeit darstellen.
({2})
Da beißt die Maus keinen Faden ab: Mit seiner Entscheidung hat Bundesminister Hans Eichel nicht nur Länder, Kommunen und Sozialversicherungen und übrigens
auch die Europäische Union um Milliarden gebracht. Er
hat vielen kleinen Geldanlegern großen Schaden zugefügt.
({3})
Er hat darüber hinaus ein geradezu verheerendes Bild
über die internen Entscheidungsprozesse im Bundesfinanzministerium abgeliefert. Der Minister hat eine Entscheidung, die üblicherweise Gerichte fällen, schlichtweg
an sich gerissen - vorbei am Parlament, vorbei am Bundesrat, nur ein Ziel verfolgend: Man wollte unbedingt im
Jahr 2000 mit der Post an die Börse gehen.
({4})
Warum wollte man das? Man wollte an die Börse, weil
man die 10 Milliarden unbedingt im Bundeshaushalt
brauchte,
({5})
um einen strahlenden Hans Eichel und einen schönen
Bundeshaushalt präsentieren zu können. Dies hätte es
nämlich anderenfalls gar nicht gegeben. Die volkswirtschaftlichen Daten hätten sich ganz anders entwickelt.
({6})
Daher musste man einen Weg finden und fand den Weg,
die Gelder, die eigentlich für die Umsatzsteuer hätten zur
Verfügung gestellt werden sollen, einfach zu Gewinn zu
machen. Damit präsentierte man in der Öffentlichkeit ein
Ergebnis, das suggerierte: Jawohl, die Post ist für den
Gang an die Börse gewappnet.
({7})
Auf diese Weise hat man die Situation mit einem Federstrich bereinigt, sodass dieser Börsengang möglich
wurde. In der Fernsehwerbung für die Postaktie freilich
wurde dieser Trick bewusst nicht vorgeführt; vielmehr
wurde der Ertrag der Post dargestellt. Daraufhin kaufte
der kleine Mann die Aktie.
Schlecht für Hans Eichel: Der Bundesrechnungshof
hat die Sache zu früh aufgedeckt. Bis jetzt hat offenbar
noch niemand richtig wahrgenommen, dass die Verjährung des Umatzsteueranspruchs - das kann noch eine
große Rolle spielen ({8})
erst Ende 2002 eintritt und sich bis dahin noch alle Beteiligten darum bemühen können, ihre Ansprüche zu realisieren.
({9})
Meine Damen und Herren, lachen Sie nicht zu früh; das
Thema wird mit Sicherheit noch sehr viele bewegen. Es
ist sehr schlecht für Sie, dass die rechtswidrige Entscheidungspraxis aus dem Haus Eichel bekannt geworden ist.
Die Kollegin hat es vorhin schon gesagt: Hier sind vier
Firewalls, vier Gesetze vorhanden: die Abgabenordnung,
das Verwaltungsverfahrensgesetz, die Geschäftsordnung
des eigenen Hauses und darüber hinaus die Entsenderichtlinie des Bundesinnenministers. Über all diese Vorschriften hat sich das Finanzministerium in eigener Sache
hinweggesetzt. Das ist ein Skandal ersten Ranges und
kein Kavaliersdelikt.
({10})
Jetzt kommt noch eine ganz neue Story, die hier - abgesehen von Ihnen, Frau Ehlert - noch gar nicht angesprochen worden ist: die Rechtfertigung durch das neue
Gesetz. Wer einmal den Werdegang dieses Gesetzentwurfs
verfolgt, wird erkennen, dass der Bundesrat das Gesetz anfangs ganz anders eingebracht hat. Dann hat das Gesetz
- sehr spät - eine andere Wendung genommen: vorbei am
Bundestag, vorbei am Bundesrat; niemand hat es gemerkt.
({11})
In dieses Gesetz hätte man hineinschreiben müssen, dass
man eine andere Grundlage beschließen wolle, was in den
nächsten Jahren 5 Milliarden DM kosten werde. Dann
wäre die Sache sauber gewesen.
({12})
Dass man das nicht getan hat, ist eine Manipulation des
Gesetzgebers durch diese Regierung, meine Damen und
Herren. Das kann und wird sich dieses Parlament nicht gefallen lassen.
({13})
Nun hat der Kollege
Oswald Metzger für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass sich
der Kollege Fuchtel in der Sache ereifert, habe ich im
Rechnungsprüfungsausschuss erlebt, als er die Sitzung
am vorletzten Freitag als stellvertretender Vorsitzender
leitete.
In der Sache selbst kann man Folgendes festhalten: Es
gibt eine Praxis der Umsatzsteuerbefreiung für die Deutsche Post AG, die wir in der rechtlichen Anwendung von
der Vorgängerregierung übernommen haben. Es gibt
keine neue rechtliche Position auf Bundesebene.
({0})
In allen europäischen Ländern - deshalb gibt es eine
EU-Richtlinie - haben die Postunternehmen, die überwiegend aus Staatsunternehmen hervorgingen, für entsprechende gemeinwirtschaftliche Auflagen befristete
Steuerbefreiungen erhalten.
({1})
- Wie Sie vielleicht gehört haben, ist die Befreiung nach
geltendem Recht in Deutschland bis 2007 befristet. Das
sage ich als Ordnungspolitiker jetzt als Fußnote. ({2})
Natürlich ist klar, dass sich im Zuge des zunehmenden
Wettbewerbs eines nicht allzu fernen Tages auch im Bereich der Universaldienstleistungen die Frage der Umsatzsteuerpflicht der Deutschen Post AG stellen wird.
Damit sind wir genau an dem Punkt, der heute in der
„Bild“-Zeitung eine Rolle spielt. Dort wird nämlich der
Eindruck erweckt, die Deutsche Post AG würde Mehrwertsteuer von gewerblichen Kunden erheben, dann aber
auf dem Umsatzsteuerprivileg beharren und dadurch
Rechtsbruch begehen. Meine Damen und Herren, hier unterliegen sowohl die „Bild“-Zeitung als auch Sie von der
Opposition einem Irrtum: Die Deutsche Post AG hat
natürlich auch einen gewerblichen Bereich, in dem sie
nicht den Rechtsverpflichtungen nach der PUDLV unterliegt.
({3})
Dort kann sie Umsatzsteuer erheben. Diese Umsatzsteuer
wird an die Finanzverwaltung abgeführt. Das können Sie
in einer Pressemitteilung der Deutschen Post AG von
heute, 11.34 Uhr, nachlesen. Selbstverständlich können
die gewerblichen Kunden der Deutschen Post AG die in
Rechnung gestellte Umsatzsteuer als Vorsteuer von der
bei ihnen zu ermittelnden Umsatzsteuer abziehen. Dies ist
also formalrechtlich auch in Ordnung.
Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt. Ihnen
geht es ja im Prinzip um die Diskreditierung eines Vorgangs im September, den Ihre Staatssekretäre selber mitgetragen haben. Dem Postgesetz, gegen das Sie jetzt vorgehen, hat zumindest die Union zugestimmt, die FDP
nicht; hier muss ich differenzieren.
({4})
- Sie haben im September der Postgesetz-Novelle zugestimmt.
({5})
Daher brauchen Sie sich hinsichtlich der materiellrechtlichen Natur dieses Vorgangs jetzt nicht aufzublasen.
Natürlich gibt es Kritik am Prozedere im Finanzministerium. Aber was hat das Finanzministerium gemacht?
Staatssekretär Overhaus und Staatssekretär Zitzelsberger
waren bei der ersten parlamentarischen Behandlung des
Vorgangs im Rechnungsprüfungsausschuss anwesend
und haben Rede und Antwort gestanden. Sie waren an diesem Mittwoch im Finanzausschuss des Deutschen Bundestag anwesend und standen auch zur Verfügung, als dieser Vorgang im Haushaltsausschuss des Deutschen
Bundestag andiskutiert wurde. Die Bundesregierung hat
in dieser Woche zugesagt, dass der Bundesfinanzminister
bei der abschließenden Beratung im Rechnungsprüfungsausschuss - ich glaube, am 23. Februar - zur Verfügung
stehen wird. Wie wollen Sie da den Eindruck erwecken,
dass die Bundesregierung mauert und sich dieser Auseinandersetzung nicht stellt?
({6})
Seien wir doch ehrlich: Sie alle wissen, dass einer der
beiden Staatssekretäre, nämlich der Nachfolger - sozusagen in Zweitnachfolge - von Herrn Dr. Stark im Verantwortungsbereich der Steuerabteilung, vier Monate lang
schwer erkrankt war. Genau in dieser Zeit wurde der Börsenprospekt der Deutschen Post AG erstellt. In Vertretung
dieses Staatssekretärs Professor Zitzelsberger hat Staatssekretär Overhaus, der seinen Kollegen im Amt vertrat,
({7})
dies dem Minister vorgetragen.
({8})
Der Finanzminister hat eine Entscheidung getroffen, die
die alte Regierung im Außenverhältnis auch getroffen
hatte.
({9})
- Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen. - Jetzt kommt
der entscheidende Punkt: Das war ein formaler Fehler.
Das haben Staatssekretär Overhaus und auch die Koalition eingeräumt. Das Finanzministerium hatte nach dem
Bericht des Rechnungshofs schon die Konsequenz gezogen, dass künftig im Vertretungsfall beteiligte Mitarbeiter
des BMF, die im Aufsichtsrat von Beteiligungsunternehmen sitzen, künftig nicht mehr gegenzeichnen dürfen.
Das ist in Ordnung.
({10})
Diese Entscheidung ändert aber in materiellrechtlicher
Hinsicht nichts daran, dass der zuständige Mitarbeiter, bei
dem keine Interessenkoalision im Rechtssinne bestanden
hätte, zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre.
({11})
Ihr Bemühen als Opposition, guten Ministern sozusagen durch formale Mängel am Zeug flicken zu wollen, ist
durchaus legitim;
({12})
aber was ist das Ergebnis der ganzen Aufregung? Ich
meine, dass dieser Versuch in der Sache gescheitert ist.
Wir werden dieses Scheitern noch erleben, weil sie am
23. Februar im Rechnungsprüfungsausschuss an diesem
Thema sicherlich längst kein Interesse mehr haben werden.
Vielen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion
hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung zu Ihnen,
Frau Staatssekretärin: Ich bin ehrlich genug zuzugeben,
dass ich es in Ihrer Funktion wahrscheinlich genauso gemacht und hier die Gesetzestexte verlesen hätte. Denn ich
finde es - auch Ihnen persönlich gegenüber - unfair, dass
die hochrangigen Männer in Ihrem Hause wie Eichel,
Overhaus, Diller und wie sie alle heißen, die sich mit diesen Angelegenheiten beschäftigen, alle den Karren in den
Dreck gefahren haben und Sie es hier ausbaden sollen.
Das ist nicht sehr sauber.
({0})
Was wir bisher über die Umsatzsteuerbefreiung der
Deutschen Post AG und die dazu gehörigen Vorgänge erfahren haben - es kommen immer noch neue Vorgänge
hinzu -, ist so ungeheuerlich, dass befürchtet werden
muss, dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs
handelt. Es ist zu befürchten, dass noch mehr Informationen dazukommen, und es ist nicht auszuschließen, dass
sich viele Kleinaktionäre, die Postaktien gekauft haben,
verraten und betrogen fühlen.
({1})
Im Finanzministerium wird ein Staatssekretär beauftragt, den Börsengang der Post vorzubereiten. Gleichzeitig sitzt dieser Staatssekretär im Aufsichtsrat der Deutschen Post AG. Allein das ist ein Vorgang, der nicht nur
gegen die Geschäftsordnung der Bundesregierung verstößt, sondern auch gegen die Abgabenordnung. Darin
heißt es:
In einem Verwaltungsverfahren darf für eine Finanzbehörde nicht tätig werden, ... wer bei einem Beteiligten gegen Entgelt beschäftigt ist oder bei ihm als
Mitglied des Vorstandes, des Aufsichtsrates oder eines gleichartigen Organs tätig ist.
({2})
Das wird von diesem Staatssekretär in einer Pressekonferenz so kommentiert, das sei wohl formal nicht alles in
Ordnung gewesen. - Wie gehen Sie denn mit dem Gesetz
um? Wie geht dieser Staatssekretär mit dem Gesetz um?
({3})
Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Kleinigkeit.
Deswegen fordert die Fraktion der FDP den Bundesfinanzminister auf, den betreffenden Staatssekretär sofort
zu entlassen.
({4})
Dieser Staatssekretär hat dafür gesorgt
({5})
- hören Sie doch zu, Herr Kollege, Sie kommen auch noch
dran -, und Herr Eichel hat sich daran beteiligt, dass die
Post von der Umsatzsteuer befreit wurde. Ich habe von Ihnen kein Wort dazu gehört, Herr Metzger. Es gab aber Widerstand im Ministerium. Die leitenden Personen, die dort
mit dem Thema befasst waren, haben Widerstand geleistet und auch schriftlich niedergelegt, dass sie dagegen waren.
Der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen
- das ist ja keiner von uns, sondern Ihr Parteifreund
Steinbrück ({6})
hat Widerstand geleistet und gesagt: Wenn ich es denn
machen muss, dann fordern Sie mich schriftlich dazu auf.
Das war im Februar 2000.
Warum ist denn das Ganze geschehen? Die Antwort
auf diese Frage sind Sie uns bisher schuldig geblieben.
({7})
Sie haben das Ganze doch nur gemacht, um die Bilanz der
Post AG für den Börsengang aufzupäppeln. Nichts anderes haben Sie gemacht! Das werfe ich Ihnen vor.
({8})
- Ich bin kein Jurist; ich kann das nicht beurteilen. Aber
die Börsenaufsicht sollte sich schon damit beschäftigen,
Herr Funke.
Sie haben die Umsatzsteuerbefreiung doch nur gewährt, um nach dem Börsengang der Post zugunsten des
Bundeshaushalts kräftig abkassieren zu können. Nichts
anderes war der Grund.
({9})
Als Nächstes zu den Bundesländern. Haben Sie überhaupt mit ihnen gesprochen? Das Bundesland, aus dem
ich komme, Schleswig-Holstein - das ist gar nicht einmal
so groß -, hat durch Sie in zwei Jahren 30 Millionen DM
verloren. Wie wird das wohl in NRW sein?
({10})
- Von den Kommunen will ich gar nicht erst reden.
({11})
Es ist doch sonst bei solchen Dingen üblich, mit den Bundesländern zu reden. Haben Sie mit dem Bundesrat oder
dem Bundestag darüber gesprochen? - Das haben Sie
nicht gemacht.
Herr Kollege Fuchtel hat mit Recht das angesprochen,
was noch auf uns zukommen wird. Auch da haben wir ja
erst die Spitze des Eisbergs gesehen. Was ist denn mit der
Vorsteuerpauschale? Was wurde dabei alles angerechnet?
Da bleibt noch vieles im Dunkeln. Wir haben es doch im
Rechnungsprüfungsausschuss erlebt: Dort wurden uns
weit über eine Stunde lang erst einmal nur Dokumente gezeigt.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch darauf hinweisen: Ich habe den Staatssekretär Overhaus in der Bundespressekonferenz vor einer Woche gehört. Er sollte einmal nachlesen, was er dort gesagt hat. Er hat nämlich
gesagt, er sei nur einmal mit dieser Angelegenheit befasst
gewesen, nämlich als er die Vorlage für den Bundesminister der Finanzen gemacht hat, das Land NRW anzuweisen, die Umsatzsteuerfreiheit zu gewähren.
({12})
Ich habe im Rechnungsprüfungsausschuss noch andere
Dokumente gesehen; ich habe häufiger etwas von Herrn
Overhaus gelesen. - Frau Staatssekretärin, Sie sollten
Herrn Staatssekretär Overhaus bitten, sich zu überlegen,
seine Aussage zu korrigieren. Nach meiner Erinnerung
stimmt sie nicht mit dem überein, was ich durch den
Rechnungsprüfungsausschuss weiß.
Ich wiederhole: Der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Herr Overhaus, muss sofort entlassen werden.
({13})
Wenn der Bundesfinanzminister zu diesem Schritt nicht
bereit ist, dann
({14})
schließe ich nicht aus, dass der Bundesfinanzminister
selbst den Hut nehmen muss.
({15})
Denn, Herr Kollege Wagner, der Bundesfinanzminister
trägt letztlich die Verantwortung dafür, dass beim Börsengang der Deutschen Post AG getarnt, getäuscht und
hinters Licht geführt worden ist.
({16})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Dr. Christa Luft für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen war in der
„Süddeutschen Zeitung“ zu lesen:
Irgendwie fühlt man sich zurzeit an das Frühjahr
1999 erinnert, als die Regierung Schröder von Fehler
zu Fehler stolperte. Damals hatte sie die Entschuldigung, noch in der Lernphase zu sein.
Dieses Argument sticht allerdings im vierten Jahr der rotgrünen Koalition nicht mehr.
({0})
Was an Ungereimtheiten, Fehlern und Versäumnissen im
Regierungsalltag allein in den letzten vier bis fünf Wochen an die Öffentlichkeit gelangt ist, gar der Versuch,
sich am Gesetzgeber, am Parlament, vorbei mogeln zu
wollen, spricht, wie ich finde, eher für Selbstgerechtigkeit.
({1})
Das kann sich dieses Parlament nicht länger gefallen lassen.
Nach dem Verteidigungsminister, dem Innenminister,
dem Arbeitsminister und dem Wirtschaftsminister kommt
nun auch der Finanzminister, der ansonsten immer versucht, sorgsam mit den Zahlen umzugehen, ins Gerede,
weil er entgegen der einhelligen Rechtsauffassung der
Steuerreferate sowohl des Bundesfinanzministeriums als
auch des Finanzministeriums von Nordrhein-Westfalen
die Eigenmächtigkeit seines Staatssekretärs geduldet hat,
obwohl eine gesetzliche Regelung notwendig gewesen
wäre.
({2})
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es gibt
überhaupt keine Rechtfertigung, diesen Vorgang herunterzuspielen,
({3})
auch nicht mit dem Hinweis, Herr Kollege Metzger, die
Vorgängerregierung habe dies auch immer so praktiziert.
Ich frage mich allmählich, wie lange man als fehlerhaft erkannte Praktiken der Vorgängerregierung mit dem Hinweis auf die Vorgängerregierung fortsetzen will; denn dies
taucht ja fast in jeder Debatte auf.
({4})
Dieser Fall ist wie der Fall des Steuererlasses gegenüber der bayerischen Rüstungsfirma Diehl exemplarisch
für das willkürliche Agieren des Bundesfinanzministeriums. Per Erlass oder per Anordnung werden Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Gründen Steuern erlassen. Wenn der entsprechende Fall in die Öffentlichkeit
gelangt und wenn Parlamentarier Rechenschaft fordern
- so wie heute die PDS-Bundestagsfraktion -, dann zieht
sich der Finanzminister auf das Steuergeheimnis zurück.
Das Steuergeheimnis verbietet aber nur die Offenbarung
der Steuerverhältnisse Dritter. Das Steuergeheimnis hindert die Bundesregierung überhaupt nicht daran, zu ihrem
eigenen Verhalten Stellung zu nehmen.
({5})
Es erstaunt mich schon - aber wir hören ja noch einige
Kolleginnen und Kollegen der Koalition -, dass das deutliche Raunen, das in den letzten Tagen zu diesem Fall zu
hören war und über das der „General-Anzeiger“ am
29. Januar berichtet hat, in der heutigen Diskussion überhaupt nicht mehr anklingt. Dabei sind doch eine Fülle von
Fragen, die berechtigterweise gestellt werden, noch
nicht - auch nicht durch die lange Chronik, die die Frau
Parlamentarische Staatssekretärin uns hier vorgetragen
hat - beantwortet.
Im Übrigen muss ich sagen, Frau Staatssekretärin, Sie
waren im Unterschied zu Ihren sonstigen Reden heute
nicht besonders kämpferisch.
({6})
Sie haben eine solche Akribie an den Tag gelegt, dass man
vermuten muss, die Bundesregierung ist sich sicher, dass
es zu weiteren Prüf- und vielleicht auch Gerichtsverfahren kommt. Ich persönlich möchte nicht ausschließen,
dass das der Fall sein wird.
Die Fragen, die noch nicht beantwortet sind, lauten:
Warum optiert ein umsatzsteuerbefreites Unternehmen
zur Umsatzsteuerpflicht? Bezog sich dieses Optieren nur
auf die im Wettbewerb stehenden Leistungen? Diese Fragen sind bisher noch nicht beantwortet. Warum kann die
Telekom nicht das gleiche Privileg in Anspruch nehmen,
da sie doch auch verpflichtet ist, Universaldienstleistungen wie den Sprachdienst oder die flächendeckende Versorgung mit öffentlichen Fernsprechern anzubieten?
Warum räumt Staatssekretär Overhaus Fehler ein, wenn
im Grunde genommen alles seine Ordnung hatte? Man
kann diese Unstimmigkeiten doch nicht mit Vertretungsund Krankheitsfällen begründen.
Ich glaube, dass der hier debattierte Fall große Zweifel
an der Konsistenz und Glaubwürdigkeit rot-grüner
Steuer- und Finanzpolitik nährt. Wer auf der einen Seite
Umsatzsteuerbefreiungen in Milliardenhöhe für ein einziges Unternehmen genehmigt, der möge auch begründen,
warum zum Beispiel Handwerksbetriebe, die arbeitsintensive Dienstleistungen anbieten, nicht mit einem niedrigen Mehrwertsteuersatz belegt werden.
({7})
In diesem Fall wird immer gesagt, das führe zu Steuerausfällen. Das führt aber nur zeitweilig zu Steuerausfällen, weil damit Wachstum und Beschäftigung und somit
neue Steuereinnahmen generiert werden.
({8})
Aus diesem Fall kann die öffentliche Hand außer einer
kurzfristigen Haushaltseinnahme keine weiteren Vorteile
erzielen.
Man muss dem „Handelsblatt“ zustimmen, das am
28. Januar geschrieben hat, dass die Bundesregierung
kein politisches Konzept mehr hat, das bis zum Wahltag
frei von Häme und Kritik ist. Ich glaube, der eben debattierte Fall belegt das, was das „Handelsblatt“ geschrieben
hat.
({9})
Jetzt hat der Kollege
Dieter Grasedieck für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-, PDS- und
CDU/CSU-Detektive sind wieder einmal fündig geworden.
({0})
Oberdetektiv Austermann spricht von einem Steuerskandal. Sie müssen es wissen. Sie haben ja lange genug Spendenaffären in verschiedenen von Ihnen regierten Ländern
gehabt. In diesem Bereich sind Sie zu Hause; da haben Sie
Erfahrung.
({1})
Worin geht es im Kern bei dieser Aktuellen Stunde?
({2})
Es geht erstens um Wahlkampf.
({3})
Das erkennt man besonders deutlich an der Rede von
Herrn Koppelin. Es geht zweitens um Ihr Postgesetz und
im Zusammenhang damit um Ihr Steuergesetz. Sie, Herr
Repnik, Herr Fromme und Herr Koppelin, haben das Gesetz 1995 und 1998 eingebracht.
({4})
Sie dürfen nicht alles verteufeln, was Sie einst beschlossen haben, Herr Fromme. Manches war ganz gut;
vieles war natürlich sehr schlecht. Das ist gar keine
Frage.
Nebenbei bemerkt: Es geht - das ist vorhin schon angesprochen worden - um offensichtliche Verfahrensfehler.
({5})
Die Kernfrage, die hier im Raum steht, lautet: Braucht die
Post Steuervorteile oder nicht? Ich sage: Ja. Die Post hat
soziale Aufgaben: Sie befördert die Post, die Päckchen
und die Zeitungen von München zur Hallig Hooge.
({6})
Ihre Aufgabe ist es, ihre Dienstleistungen flächendeckend
anzubieten. Es ist wichtig, dass die Post auch das normale
Paket transportiert. Das ist ebenfalls eine Aufgabe der
Post, die flächendeckend erfüllt werden muss. Die dafür
anfallenden Kosten müssen - auch vom Staat - ausgeglichen werden.
Herr Fromme, es gibt faktisch keinen Wettbewerb.
Denn der freie Markt stellt nur 1 Prozent - nicht mehr der Postdienstleistungen zur Verfügung; die auf dem
freien Markt tätigen Unternehmen haben allerdings nicht
die Aufgabe, flächendeckend zu arbeiten.
({7})
- Hören Sie doch zu!
Wir brauchen in ganz Deutschland ein Dienstleistungsnetzwerk. Die Post wird den Betrieb in 12 000 Filialen aufrechterhalten müssen; im Moment hält sie den
Betrieb in 13 000 Filialen aufrecht.
({8})
Für meinen Wahlkreis ist es wichtig, die Poststellen zu
erhalten.
({9})
Ich bin froh, dass es in meinem Wahlkreis Bottrop-Recklinghausen noch viele Poststellen gibt. Sie haben doch sicherlich hin und wieder auch Probleme mit der
Schließung von Poststellen.
Sie sollten auch sehen, dass wir die Gebühren berücksichtigen müssen. Nicht die Post, sondern eine Regulierungsbehörde setzt die Gebühren fest. Auch deshalb
benötigt die Post ein Steuerprivileg.
({10})
Das wissen Sie doch; schließlich haben Sie dieses Gesetz
mit verabschiedet und waren sozusagen mit von der Partie.
Ein weiterer für mich entscheidender Punkt ist: Die
Planungssicherheit muss für unsere Post gewährleistet
sein, und zwar deswegen, weil wir in Europa eine einheitliche Regelung haben. In Europa zahlen staatliche
Poststellen, staatliche Unternehmungen keine Umsatzsteuern.
({11})
Für mich ist ein ganz entscheidender Punkt - Herr
Fromme, Sie werden überrascht sein -, dass mit dem
Schicksal der Deutschen Post AG auch das Schicksal von
300 000 qualifizierten Menschen, die ihre Arbeit machen,
verbunden ist. Diese Menschen brauchen in den nächsten
Jahren Planungssicherheit.
({12})
Deshalb sagen wir: Wir brauchen Planungssicherheit bis
2007.
Sie stellen die Frage: Was geschieht, wenn die Umsatzsteuer wegfällt? Ich sage Ihnen: Sie reduzieren die sozialen Aufgaben der Post; Sie gefährden weiterhin
300 000 Arbeitsplätze. Unser Fazit ist: Die Postdienstleistungen müssen bis 2007 umsatzsteuerfrei bleiben.
({13})
Jetzt hat der Kollege
Josef Hollerith für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als zuständiger
Berichterstatter im Rechnungsprüfungsausschuss bescheinige ich dem Rechnungshof ausdrücklich seriöse Arbeit, saubere Dokumentation und ein hohes Maß an
Pflichterfüllung gegenüber dem Parlament.
({0})
Der Bericht ist geheimgestempelt. Ich zitiere deshalb
nicht aus diesem Bericht.
({1})
Meine Ausführungen stützen sich ausdrücklich auf eigene
Recherche und eigene Erkenntnisse.
Der erste zu hinterfragende Punkt ist die Befangenheit
des zuständigen beamteten Staatssekretärs. Er ist Vertreter der Bundesregierung im Aufsichtsrat der Deutschen
Post AG und beeinflusst nicht nur, sondern prägt
({2})
auch die Haltung des Bundesfinanzministeriums zur
Frage der Umsatzsteuerfreiheit der Post AG.
({3})
Damit hat er - gegen die Rechtsauffassung des zuständigen
Umsatzsteuerreferats und gegen die Rechtsauffassung des
für die Veranlagung zuständigen Finanzamtes in NRW - in
unzulässiger Weise in ein Verwaltungsverfahren eingegriffen. Damit verstößt er gegen die Geschäftsordnung des
Bundesministeriums der Finanzen, gegen § 82 Abs. 1 Abgabenordnung, gegen § 20 Verwaltungsverfahrensgesetz
und gegen die Entsenderichtlinien des Bundesministeriums des Innern. Zu fragen ist daher: Wie wird mit einem
solchen Fehlverhalten umgegangen?
({4})
Ein kleiner Beamter wird disziplinarrechtlich verfolgt,
wird in der Personalakte abgestraft - mit allen negativen
Konsequenzen. Ich fordere Bundesminister Eichel auf,
({5})
als zuständiger Dienstvorgesetzter die notwendigen Konsequenzen, die jeder kleine Beamte zu tragen hat, auch in
diesem Fall zu ziehen.
({6})
Der zweite Fragenkomplex betrifft die Seriosität des
Bundes als Beteiligungsverkäufer. Der Bund hat gerade
zu dem Zeitpunkt, zu dem die Privatisierung der Deutschen Post anstand, zu dem auch die Notwendigkeit bestand, in die Bilanz Rückstellungen für möglicherweise
zu zahlende Umsatzsteuer einzustellen, zu dem also auch
die Wertermittlung der Post anstand, in unzulässiger
Weise diese Umsatzsteuerbefreiung erklärt.
({7})
Damit hat er die Aktienkäufer getäuscht. Er hat Börsenmanipulation betrieben. Er hat im Ergebnis Bilanzfälschung betrieben.
({8})
Die dritte Fragestellung betrifft die Steuerverteilung in
unserem Land. Durch Ministerschreiben hat das Bundesministerium der Finanzen gegen die erklärte Rechtsauffassung des nordrhein-westfälischen Finanzministeriums
die Anweisung erteilt, dass die Post AG von der Umsatzsteuer zu befreien ist. Damit entgehen den Ländern
Steuereinnahmen in erheblichem Umfang, es entgehen
den Kommunen erhebliche Steuereinnahmen und es entgehen der Europäischen Union sowie der Rentenversicherung Steuereinnahmen. Bemerkenswert dabei ist, dass
dieser Streit über die Auslegung des Umsatzsteuerrechts
nicht vor den Finanzgerichten ausgetragen worden ist,
wie das sonst üblich ist, und dass entgegen der normalen
Praxis die Umsatzsteuerreferenten der Länder nicht am
Verfahren beteiligt worden sind, sondern dass allein durch
Ministerschreiben von Hans Eichel eine solche Anweisung erteilt worden ist. Das widerspricht in doppelter
Weise den Regeln und der Praxis in unserem Rechtsstaat.
Auch dafür trägt der Bundesfinanzminister die volle Verantwortung.
({9})
Er hat sich im Rechnungsprüfungsausschuss zu stellen.
Er hat sich im Haushaltsausschuss zu stellen.
({10})
Er trägt die gesamte politische Verantwortung für diesen
Vorgang.
({11})
Ich erteile für Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Oswald Metzger das
Wort. Er spricht ein zweites Mal.
Ob das zulässig ist, ist umstritten. Heute lasse ich es zu
und dann klären wir das. Es gibt schon Fälle, auf die man
sich berufen kann. Aber wenn das alle so machten, dann
wäre hier von jeder Fraktion einer und redete viermal.
({0})
Das kann nicht im Sinne der Geschäftsordnung sein.
Weil Sie es sind, Herr Kollege Metzger! Sie dürfen
heute ein zweites Mal reden. Ich danke Ihnen allen dafür,
dass Sie damit einverstanden sind.
Frau Präsidentin! Vielen Dank für die Ermahnung, aber es
gibt in der Tat Fälle aus den letzten Wochen, auf die man
sich berufen kann.
Zu meiner Entschuldigung kann ich anführen: Meine
Kollegin Scheel ist kurzfristig verhindert. Wir hatten uns
die Redezeit aufgeteilt. Ihre Argumente habe ich in meinem ersten Beitrag vorgetragen. Jetzt möchte ich noch
drei Argumente von mir einbringen.
({0})
Herr Kollege
Metzger, Sie sind jetzt sozusagen die Kollegin Scheel. In
Ordnung.
({0})
Nein, jetzt bin ich Oswald Metzger.
Erstens. Die EU-rechtlichen Aspekte müssen wir uns
noch einmal genauer anschauen. Das Briefmonopol ist
praktisch vertraglich in den Richtlinien verankert. Das gilt
EU-einheitlich bis 2007. Die EU-Kommission hat im
Sommer 2001 den Antrag eines privaten Kurierdienstes
aus Ludwigshafen, in dem sich dieser über die Ungleichbehandlung im Wettbewerb mit der Post AG beschwert
hat, abgelehnt, weil die umsatzsteuerrechtlichen Regelungen nach EU-Recht nun einmal so sind, wie sie sind, und
eben Ausnahmen für gemeinwirtschaftliche Leistungen
zulassen, und zwar europaweit.
Zweiter Punkt. Die von verschiedenen Rednerinnen
und Rednern aufgestellte Behauptung, dass der Erlös aus
der Privatisierung der Deutschen Post in den Bundeshaushalt eingeflossen sei, ist falsch.
({0})
Dieser Erlös ging - diesen Begriff kennt man - in die Postunterstützungskasse.
({1})
Aus dieser Unterstützungskasse werden die Pensionen
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezahlt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wenn ich Ihre Einwände richtig verstanden habe, dann
sind Sie der Meinung, dass die Postunterstützungskasse
aus Steuermitteln finanziert werden soll.
({2})
Ich muss mich wundern; denn Sie sind doch sonst diejenigen, die uns immer vorwerfen, wir konsolidierten den
Haushalt nicht. Wir haben alle Erlöse - es gab nicht nur
welche aus dem Börsengang der Deutschen Post AG, sondern auch aus den Platzhalterlösungen, die Ihr Finanzminister Waigel 1996 gefunden hatte, um Geld in den Bundeshaushalt einzustellen, da die Postunterstützungskasse
noch nicht in den Bundeshaushalt integriert war - für die
Postunterstützungskasse - sie ist nun in den Bundeshaushalt integriert - und für die Tilgung alter Schulden verwendet. So weit, so gut. Das alles ist ganz solide. Aber genau diese Solidität macht Ihnen Probleme. Deshalb reiben
Sie sich so am Bundesfinanzminister.
({3})
Dritter Punkt. Wer verliert bei diesem Geschäft? Bitte
schön, erklärt ihr von der Opposition doch einmal den
Bürgerinnen und Bürgern, was es bedeuten würde, wenn
die Deutsche Post AG auf Leistungen im Universaldienstleistungsbereich 16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen
müsste. Das würde doch bedeuten, dass die Leistungen
der Deutschen Post AG für den Endverbraucher - das beträfe viele Millionen Menschen in unserem Land - genau
um diesen Prozentsatz teurer würden, es sei denn, ihr
glaubt, die Deutsche Post AG würde solch erhöhte Preise
beim Endkunden nicht durchsetzen können. Wo, bitte
schön, ist angesichts der Tatsache, dass der Bund die
Deutsche Post AG verpflichtet, mindestens 12 000 Poststellen in der Fläche vorzuhalten, der volkswirtschaftliche
Verlust? Welcher private Kurierdienst würde beispielsweise in Oberschwaben, wo ich zu Hause bin, oder im Allgäu, also in entlegenen ländlichen Regionen, die postalische Versorgung der Bevölkerung sicherstellen?
({4})
Weil der Wettbewerb in diesem Segment noch schwach
ausgeprägt ist, ist gesetzlich geregelt, dass die Deutsche
Post AG ein Umsatzsteuerprivileg hat.
Das macht übrigens - vorhin kamen entsprechende
Zwischenrufe - auch den Unterschied zur Telekom aus.
Dem Unternehmen Telekom sind per Gesetz keine Sonderlasten auferlegt worden. Außerdem ist der Wettbewerb
im Telekommunikationsbereich - Gott sei Dank - wesentlich stärker ausgeprägt. Das alles führt dazu, dass die
Telekom umsatzsteuerpflichtig ist. Die Kunden können
das auch erkennen, weil der Anteil der Umsatzsteuer auf
der monatlichen Rechnung der Telekom separat ausgewiesen ist. Das ist auch gut so.
Letzter Punkt. Zu Ihnen spricht ein Redner, der durchaus ein Anhänger des Wettbewerbsgedankens ist und der
aus marktwirtschaftlichen Gründen für fairen Wettbewerb
eintritt. Wenn der Gesetzgeber - auch Sie waren dieser
Meinung, als Sie noch an der Regierung waren - der Meinung ist, dass die Deutsche Post AG Sonderlasten zu tragen hat und deshalb von der Umsatzsteuer befreit werden
muss, dann kann ich nur sagen: Diese Auffassung ist konsistent, rechtlich korrekt und kompatibel mit EU-Recht.
Dass das Bundesland Nordrhein-Westfalen eine andere
Auffassung hat, ist legitim; denn die Deutsche Post AG
hat ihren Sitz in diesem Bundesland. Natürlich würde es
dieses Bundesland gern sehen, wenn Dienstleistungen der
Deutschen Post AG umsatzsteuerpflichtig wären; denn
dann hätte es zusätzliche Einnahmen. Ich will zwar die
Legitimität dieses Interesses nicht in Abrede stellen. Aber
ich möchte auf die Vielzahl von Fällen verweisen, in denen die Finanzgerichtsbarkeit und der Gesetzgeber andere
Positionen vertraten als die nachgeordneten Dienststellen.
Das ist alles. Dies eignet sich meines Erachtens nicht für
einen Skandal und schon gar nicht dafür, den Rücktritt eines Bundesministers oder eines Staatssekretärs zu fordern. Das ist absurd.
({5})
Für die SPD-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Hans Georg Wagner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aktuelle
Stunde hätte nicht stattgefunden, wenn der Kollege
Koppelin nicht das mir vorliegende Papier der Presse
übergeben hätte. Aufgrund eines Berichts in der Ausgabe
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 27. Januar
2002, in dem Sie namentlich mit entsprechenden Kommentaren erwähnt werden, gehe ich davon aus, dass Sie
der Informant der Presse gewesen sind.
({0})
Diese Debatte hätte nicht stattgefunden, wenn Herr Kollege Koppelin und andere, insbesondere die PDS, an der
ganzen Sitzung des Rechnungsprüfungsausschusses teilgenommen hätten. Ich muss Herrn Fuchtel bestätigen,
dass er die Verhandlungsführung im Rechnungsprüfungsausschuss ordnungsgemäß wahrgenommen hat.
({1})
In diesem Ausschuss sind alle Probleme angesprochen
worden. Dort ist nach Aussagen von Herrn Professor
Zitzelsberger und auch von Dr. Overhaus, der zugegeben
hat, dass man diesen Punkt etwas kritischer sehen kann,
festgestellt worden, dass alles nach Recht und Gesetz zugegangen ist.
({2})
- Herr Zwischenrufer, Sie waren nicht dabei; deshalb reden
Sie nicht dazwischen, sondern behalten Sie das für sich.
Ich bin froh, dass der Rechnungsprüfungsausschuss am
23. Februar Gelegenheit hat, Herrn Minister Eichel anzuhören und mit ihm darüber zu diskutieren.
Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes nicht
als geheim empfunden. Ich fand es unsinnig, ihn als geheim
einzustufen. Aber das ist Sache des Bundesrechnungshofes,
nicht unsere Sache. Ich habe den Stempel nicht aufgedrückt. Ich habe den Bericht durchgelesen und bin zu dem
Schluss gekommen, dass er ein Drehbuch ist, um Herrn
Overhaus abzuschießen. Für mich sah das so aus.
({3})
- Ich unterstelle, dass private Gründe in die Formulierungen eingeflossen sind, die ich so nicht akzeptieren kann,
weil sie keinen sachlichen Bezug haben. Das will ich ganz
deutlich sagen.
Eben ist schon dargelegt worden, dass wir vor etwa einem Jahr in einem Bundesgesetz beschlossen haben, dass
die Post die 12 000 bzw. 13 000 Postdienststellen im
Lande bis zum Jahre 2007 aufrechterhält. Bei 6 000 Postdienststellen ist für die Post die Wirtschaftlichkeitsgrenze.
Das heißt, wir zwingen die Post durch einen Bundestagsbeschluss - Sie haben daran mitgewirkt, ob Sie zugestimmt haben oder nicht - in die Unwirtschaftlichkeit.
Sie reden immer von Wettbewerb. Der freie Wettbewerb macht nur 1 Prozent aus. Sagen Sie mir einmal, wo
da insgesamt Wettbewerb stattfindet! Das ist bestimmt
kein Wettbewerb.
({4})
Herr Repnik, zu Ihren Äußerungen zu den Aufgaben
der Post sage ich Ihnen aus der Erfahrung in meinem eigenen Heimatort: Überall, wo Postdienststellen geschlossen worden sind, werden Protestbriefe geschrieben. Diese
Erfahrungen machen auch Sie. Das ist alles akzeptiert.
Aber ich erlebe beispielsweise, dass ein privater Paketdienst, der in einem entfernten Ort ein Paket ausliefern
soll, zur nächsten Postdienststelle geht und es dort aufgibt, sodass die Post kostenlos dort hinfahren muss; das
finde ich nicht richtig.
({5})
- Natürlich muss man eine Gebühr dafür zahlen. Aber der
private Transporteur spart die Benzinkosten und die Fahrerkosten, sodass es wahrscheinlich billiger ist, wenn er
die Post dort hinschickt. Ich wollte nur darauf hinweisen,
wie sich das System der privaten Anbieter auf die
Flächenversorgung auswirken kann. Ich bin der Meinung,
dass es so, wie es läuft, nicht gut läuft.
Ich denke, Herr Koppelin, dass auch Überlegungen
eine Rolle gespielt haben, die Kleinaktionäre der Post zu
verunsichern. Die Aktivitäten, die Sie in der Öffentlichkeit betrieben haben, gehen in diese Richtung. Sie wollten die Kleinaktionäre der Post verunsichern und das als
Wahlkampfinstrument gegen die Bundesregierung richten.
({6})
- Das ist eine Tatsache, ob Ihnen das gefällt oder nicht.
({7})
Ich kann das nur so darstellen, wie ich das wahrnehme;
ich habe mit dieser Wahrnehmung sicherlich nicht danebengelegen.
Die Kollegin Ehlert hat gesagt, wir hätten der Post
Steuergeschenke gemacht. Aber diese „Geschenke“ sind
gesetzlich verbrieft. Das mag vielleicht in anderen Zeiten
und anderen Staaten so gewesen sein; in dieser Bundesrepublik Deutschland gelten nach wie vor Recht und Gesetz.
({8})
Danach ist von allen gehandelt worden.
Wir werden uns im Rechnungsprüfungsausschuss hoffentlich abschließend mit der Sache befassen. Herr
Koppelin hat schon den Staatsanwalt gefordert. Der muss
dann bis 1995 zurückgehen und auch die Handlungen anderer Minister untersuchen.
({9})
Ich finde, die politische Auseinandersetzung ist in diesem Punkt verkommen. Wir sollten zu einem normalen
Umgang unter den Abgeordneten zurückkehren.
Ich finde, es ist fatal, wenn etwa aus dem Immunitätsausschuss Verfahren an die Öffentlichkeit kommen, interessanterweise nur Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und nie Christdemokraten betreffend. Wer gibt
diese preis? Und wer sagt, was mit den V-Leuten in der
NPD war? Das wird alles aus einer vertraulichen Sitzung
des Kontrollgremiums ausgeplaudert.
({10})
- Das waren nicht Sie, das war Herr Marschewski, der in
der Öffentlichkeit Namen genannt hat, die in diesem Gremium gefallen sind.
({11})
Dieser Umgang miteinander ist unmöglich! Wenn Sie aus
reiner Wahlkampfarithmetik heraus versuchen, solche
Gerüchte zu verbreiten, tun Sie mir furchtbar Leid.
({12})
Stellen Sie endlich ein Programm auf die Beine, über das
man dann streiten kann. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Praxis zu beenden.
({13})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Elmar Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege
Wagner, dazu, dass Sie hier geradezu Tränen über den
mangelnden Wettbewerb bei der Post verlieren, kann ich
Ihnen nur sagen: Ihre Fraktion tut alles, damit der Wettbewerb kaputtgemacht wird.
({0})
Seit der Verlängerung des Monopols bekommen wir
wöchentlich Briefe von Unternehmen, die kaputtgehen
oder Arbeitsplätze abbauen. Es ist schon peinlich, dass Sie
jetzt hier Tränen vergießen.
({1})
- Sie haben dieses Monopol verlängert. Ich werde dazu
ein paar Sätze sagen.
Meine Damen und Herren! Seit der Auflösung des
Postministeriums ist das Wirtschaftsministerium politisch
für die Postbereiche zuständig,
({2})
für die Vermögensteile ist das Finanzministerium zuständig.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an einen Punkt
erinnern, den vielleicht schon mancher vergessen hat. Anfang des Jahres 2000 hatten wir hier die Diskussion um
die Portoerhöhung bei Briefen und anderen Leistungen.
({3})
Das war ein interessanter Vorgang: Der Bundeswirtschaftsminister ging für alle überraschend an die Öffentlichkeit und sagte, die Post wolle das Porto von 1,10 DM
um weitere Pfennige erhöhen, weil die Portoerhöhung
von 1997 nicht ausreiche. In diesem Zusammenhang hat
er, sozusagen als Robin Hood, gesagt, er wolle das auf alle
Fälle verhindern. Das hat er dann schließlich auch mit einer Anordnung an die Regulierungsbehörde getan. Die
Regulierungsbehörde hatte aber exakt zu diesem Zeitpunkt vorgesehen, anzuordnen, das Porto um 15 Prozent
abzusenken, weil die Portotarife um etwa 30 Prozent über
dem europäischen Niveau lagen.
({4})
Deswegen war also eine Absenkung um 15 Prozent vorgesehen. Der Wirtschaftsminister hat leider bei diesem
Spiel eine traurige Rolle gespielt und der Verbraucher
muss die Zeche zahlen.
({5})
Es bestand überhaupt keine Chance für irgendeinen Wettbewerber, angesichts dieser Wettbewerbsverzerrung hier
noch irgendwie zu bestehen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach der
Presseerklärung vom 19. März fand also diese Nichterhöhung des Portos und die ebenso unrechtmäßige Festlegung der Preise durch den Bundeswirtschaftsminister
statt. Zu diesem Zeitpunkt, im März 2000, Frau Staatssekretärin, waren nicht 220, sondern bereits 677 Lizenznehmer auf dem Markt, wovon rund 400 bereits in diesem
Bereich tätig waren. Die meisten haben inzwischen übrigens ihre Segel gestrichen, weil unter den herrschenden
Wettbewerbsverhältnissen diese Unternehmen überhaupt
keine Chance gehabt haben.
({7})
Damit es da überhaupt keinen Zweifel gibt - ich höre
ja schon das Argument, dass auch die alte Regierung das
Monopol verlängern wollte -, sage ich hier deutlich: Wir
wollten das Monopol Ende 2002 auslaufen lassen und
auch diese Regierung wollte es auslaufen lassen. Noch in
einem Bericht an den Wirtschaftsausschuss, Herr Kollege
Barthel, im Mai 2000 hat das Wirtschaftsministerium mitgeteilt, dass die Exklusivlizenz 2003 auslaufen werde und
sich die Regierung auch an diese Gesetzeslage halten
wolle.
Nun gibt es, meine Damen und Herren, die Frage, auf
die auch Sie, Frau Staatssekretärin, eingegangen sind,
nämlich wer zum Universaldienst verpflichtet werden
kann. Am 13. Dezember des vergangenen Jahres, Herr
Kollege Barthel, waren wir schon überrascht - zugleich
kam ja der Bericht des Rechnungshofes im Haushaltsausschuss, wie ich glaube, an -, dass am Tage der letzten Beratung in den Ausschüssen morgens noch ein Änderungsvorschlag zum Gesetz vorgelegt wurde, durch den in den
Bereich, wo es um die Pflicht zur Universaldienstleistung
geht, noch der Satz eingefügt wurde, dass künftig nur die
Post AG zum Universaldienst verpflichtet sei. Vor dieser
Zeit waren nicht nur die Post AG, sondern alle am Markt
beteiligten Unternehmen verpflichtet
({8})
- Herr Barthel, ich kann es Ihnen vorlesen -, mit einer
Umlage dazu beizutragen, dass mögliche Versorgungslücken beim Universaldienst geschlossen werden können.
Herr Barthel, erklären Sie mir doch, warum Sie noch am
Tag der Entscheidung in den Ausschüssen diesen Änderungsantrag vorgelegt haben! Sie hätten das ja schon im
Entwurf vorschlagen können, der im Oktober vorgelegt
wurde. Also ist in der Zwischenzeit irgendetwas geschehen. Das hat offensichtlich mit dem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums zu tun. Das macht das ganze Dilemma, die Manipulation und die Art und Weise, wie Sie
mit dem Gesetzgeber, mit dem Bundestag, umgehen,
wirklich deutlich.
Meine Damen und Herren, diese Art der Beratung und
der Manipulation, zu der Sie hier beigetragen haben, ist
erbärmlich. Sie sollten zu diesen Fehlern stehen. Es kann
zwar keine Korrektur stattfinden. Aber daraus erklärt sich
die ungeheure Wettbewerbsverzerrung, die wir auf diesem Markt haben, und dass die Wettbewerber überhaupt
keine Chancen haben, auf diesem Markt Fuß zu fassen.
Einziges Ziel war es - ich will es wiederholen; der Wirtschaftsminister hat das in einem Interview zur vermeintlichen Portoerhöhung erklärt -, die Post AG für den Börsengang mit ausreichenden Gewinnen auszustatten.
({9})
Das gleiche Ziel hatte die Mehrwertsteuerbefreiung.
Stehen Sie zu Ihren Fehlern und korrigieren Sie zunächst durch Rücktritte,
({10})
dann aber auch durch Ausgleich für die Länder und Kommunen - diesen Fehltritt.
({11})
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Klaus Barthel.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eines gestehen wir der größten Oppositionspartei gerne
zu:
({0})
dass sie von der Verflechtung von privaten, persönlichen,
wirtschaftlichen und politischen Interessen mehr versteht
als wir.
({1})
Aber man sollte an Ihrer Stelle nicht von sich auf andere schließen. Wenn man schon öffentlich von Rechnungshofberichten Gebrauch macht, die normalen Abgeordneten nur unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen
zugänglich sind, dann sollte man diese Berichte genau lesen und auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. Vielleicht
wäre es auch klüger gewesen, wenn Sie erst Ihre Kleinen
Anfragen eingebracht, deren Beantwortung abgewartet,
sie dann gründlich gelesen und zur Kenntnis genommen
hätten und sich dann erst öffentlich geäußert hätten,
({2})
anstatt heute hier herumzuspekulieren. Denn was in den
letzten Tagen an Missverständnissen, Verdrehungen und
Unwahrheiten in den Medien zu lesen war, entbehrt leider
der Sachkenntnis und auch der Kenntnis der rechtlichen
Situation im Postwesen in der Bundesrepublik und in
ganz Europa. Deswegen einige Klarstellungen.
({3})
Zunächst hebt das Umsatzsteuerrecht, wie der Rechnungshof zutreffend feststellt, im Prinzip auf die Steuerfreiheit des Postwesens ab, zumindest insoweit es sich in
öffentlichem Auftrag bewegt.
({4})
- Ich zitiere nicht den Bericht,
({5})
sondern diesen Band, der vom ehemaligen Bundespostminister herausgegeben worden ist und in dem das hinten
nachzulesen ist.
({6})
Art. 12 des Postneuordnungsgesetzes ist damals eben
nicht am Parlament vorbei, wie die PDS behauptet, beschlossen worden. Vielmehr ist dieses Gesetz 1994 vom
Deutschen Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates
beschlossen worden.
Das Postwesen ist also von der Umsatzsteuer im Prinzip befreit. Jetzt ist es aber für nicht Sachkundige schwer,
verschiedene Bereiche, die juristisch und systematisch zu
unterscheiden sind, die sich aber wirtschaftlich an einigen
Elmar Müller ({7})
Stellen überschneiden, voneinander zu trennen. Deswegen muss man hier noch einmal die Rechtslage klären.
Erst einmal lohnt immer ein Blick ins Grundgesetz.
({8})
In Art. 87 f Abs. 1 heißt es:
Nach Maßgabe eines Bundesgesetzes, das der
Zustimmung des Bundesrates bedarf, gewährleistet
der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und
ausreichende Dienstleistungen.
Man kann dann also lesen:
Nach der amtlichen Begründung zählt zu den hoheitlichen Aufgaben insbesondere, die aus der Sicht
der Nachfrage angemessenen und ausreichenden
Dienstleistungen flächendeckend zu sichern.
({9})
So der Bötsch-Kommentar zur Postreform II.
Ich wiederhole die Begriffe: „hoheitliche Aufgabe“
und „angemessene und ausreichende Dienstleistungen
aus der Sicht der Nachfrage“. Genau das versteht man
heute landläufig unter Universaldienst. Dies sollte durch
ein Bundesgesetz definiert werden. Durch das Postgesetz
und die Post-Universaldienstleistungsverordnung ist das
auch geschehen.
Wie Ihnen allen bekannt ist, findet der Universaldienstbereich bei uns größte Aufmerksamkeit; denn er ist
für uns im Interesse der Kunden wichtig. Der Universaldienst umfasst zum Beispiel - das will ich einmal aufzählen - fast den ganzen Postsektor, Briefsendungen bis
2 000 Gramm, Pakete bis 20 Kilogramm, Zustellungen
von Zeitungen und Zeitschriften, Einschreiben, Eil-,
Nachnahme- und Wertsendungen, Postfilialen, Briefkästen sowie werktägliche Zustellung. All das ist dort festgelegt.
Das Postgesetz in seiner geltenden Fassung geht eindeutig davon aus, dass die Deutsche Post AG das Unternehmen ist, das dazu verpflichtet ist - damit unterscheidet
es sich von allen anderen Wettbewerbern -, diese Leistungen zu erbringen.
({10})
- Sie von der PDS sagen gerade, dass einem da die Tränen kommen. Versuchen Sie doch einmal, einen Wettbewerber zu finden, der sich, ob freiwillig oder dazu verpflichtet, bereit erklärt, Briefe, Pakete oder Ähnliches bis
ins kleinste Dorf in Mecklenburg-Vorpommern oder in
Brandenburg zuzustellen oder dort Filialen offen zu halten. Wenn Sie mir einen nennen können, dann können wir
über die Befreiung von der Umsatzsteuer für ihn reden.
Aber ich sage Ihnen: Dazu ist keiner bereit.
({11})
Nebenbei bemerkt ist - das ist bekannt - auch die Post AG
nicht freiwillig dazu bereit. Wir haben sie per Gesetz dazu
verpflichten müssen, all diese Filialen und all diese Leistungen aufrechtzuerhalten. Deswegen ist es EU-konform
und richtig, dass wir die Deutsche Post AG von der Umsatzsteuer befreien.
An dieser Stelle - das ist die entscheidende Stelle - irrt
offenbar der Rechnungshof; denn der Rechnungshof unterscheidet wohl nicht zwischen dem Monopolbereich
und dem Universaldienstbereich.
({12})
Der öffentliche Auftrag gilt für den Universaldienstbereich. Der Monopolbereich ist wesentlich kleiner. Er umfasst nur Briefe bis 200 Gramm und Massensendungen bis
50 Gramm. Der öffentliche Auftrag bezieht sich nicht nur
auf den Monopolbereich; das wäre zu wenig. Dann könnte
man die ganzen Filialen nicht halten. Der Monopolbereich ist das EU-konforme Instrument zur Sicherstellung
und Finanzierung des Universaldienstes. Das ist der entscheidende Unterschied, den wohl der Rechnungshof
meiner Auffassung nach nicht begriffen hat. Inzwischen
ist klar, dass diese Regelung EU-konform ist.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich mache eine
letzte Bemerkung hinsichtlich des EU-Rechts. In der „Financial Times Deutschland“ war zu lesen, dass der EUBinnenkommissar Bolkestein bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet hat,
doch musste man in Brüssel rasch eingestehen, dass die
Rechtslage keine Schritte zulässt. In fast allen Ländern
der Europäischen Union, abgesehen von zwei Ausnahmen, haben wir dieselbe Situation.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wer die Umsatzsteuerbefreiung aufheben will, der muss den Kunden ganz
klar sagen, dass sie das in Form höherer Tarife zahlen
müssen, und darf sich nicht wie die Vertreter einiger Parteien hier hinstellen und in diesem Hause eine Senkung
des Portos fordern.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Dass Sie sich in langweiligen Gesetzestextverlesungen ergehen,
({0})
dass Sie falsche Anschuldigungen machen und dass diejenigen, die am Verfahren eigentlich beteiligt sind, hier
Klaus Barthel ({1})
gar nicht auftauchen, zeigt, welch schlechtes Gewissen
Sie bei dieser Angelegenheit haben.
({2})
Zweitens. Es geht nicht darum, einem anonymen Dritten
etwas zu geben, wie das hier immer den Anschein hat,
sondern darum, dass sich die Bundesregierung selbst etwas geben will, indem sie den Privatisierungserlös für
sich selbst erhöht, um Haushaltsmittel zu sparen oder
Mehreinnahmen im Haushalt verzeichnen zu können, und
um nichts anderes. Dies ist ein Fall für die Börsenaufsicht
und für die EU. Wir werden sehen, wie es weitergeht.
({3})
„Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, heißt
es so schön im „Faust“. Ich kann verstehen, dass man sich
angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen und von drohenden blauen Briefen aus der EU jede Mark und jeden
Pfennig unter den Nagel reißen will. Hier artet das aber zu
einem „Faust“-Recht aus und nicht zu einem literarischen
Erguss. Darum kann es doch gehen. Sie haben das Recht
so eigenartig ausgelegt, damit es Ihnen passt.
({4})
Seit wenigen Tagen hat dieser Fall eine neue Dimension. Hoch gekommen ist er doch nur durch die Umsatzsteuerbefreiung. Jetzt stellen wir fest - wie das „Handelsblatt“ berichtet -, dass die Post auf der einen Seite die
Steuerbefreiung in Anspruch nimmt, auf der anderen Seite
aber gleichzeitig Mehrwertsteuer in Rechnung stellt. Das
ergibt sich, mein lieber Kollege Metzger, bereits aus dem
Börsenprospekt. Das ist nicht irgendeine Spekulation. Die
Post hat das selbst gesagt.
Dabei geht es um viel Geld, nämlich um Steuern in
Höhe von circa 45 Millionen DM monatlich, das sind
circa 500 Millionen DM im Jahr, die die Post möglicherweise zurückzahlen muss. Denn eines ist klar: Wenn ich
unberechtigt Mehrwertsteuer kassiere, hafte ich insgesamt für diesen Bereich, ohne dass ich einen Vorsteuerabzug geltend machen kann. Da kommt noch einiges auf die
Post zu.
({5})
Dies kann so nicht durchgehen. Man kann nicht in dem
gleichen Sektor eine Umsatzsteuerbefreiung - sei sie berechtigt oder unberechtigt - hinnehmen und gleichzeitig
Mehrwertsteuer kassieren.
Das Ganze dient doch nur der Bilanzkosmetik.
({6})
- Wer zahlt denn die Zeche? - Die Kleinsparer! Jetzt werden die Kurse wieder fallen, wie es auch bei der Telekom
passiert ist.
({7})
Warum betreiben Sie denn Bilanzkosmetik auf Kosten
der Rentenversicherung, der Länder und der Gemeinden?
Es geht um 450 Millionen DM Umsatzsteuer jährlich. Sie
wollen das bis zum Jahre 2007 fortsetzen. Das sind dann
insgesamt 4,5 Milliarden DM.
({8})
Sie haben niemanden gefragt. Dass Sie es hinter verschlossenen Türen gemacht haben, ist doch bezeichnend.
Zu wessen Lasten geht denn das? - Dies geht zulasten der
Rentenversicherung, denn ihr stehen 5,63 Prozent der Umsatzsteuer zu. In dieser Kasse fehlen 250 Millionen DM,
die Sie dann den Leuten über die Ökosteuer wieder aus die
Tasche ziehen. 2,2 Prozent der Umsatzsteuer bekommen
die Gemeinden. Zusammen mit dem Finanzausgleich sind
das 290 Millionen DM. 2 Milliarden DM müssen die Länder bezahlen. Lieber Kollege Metzger, Sie irren. Nordrhein-Westfalen muss ein Interesse an hohen Gewinnen
haben, denn die Körperschaftsteuer bleibt im Land, die
Mehrwertsteuer wird verteilt.
Sie haben hier etwas hinter verschlossenen Türen gemacht - das spricht für Ihr schlechtes Gewissen -, was üblicherweise mit den Steuerreferenten der Länder besprochen und abgestimmt sowie in OFD-Karteien oder sonst
wo veröffentlicht wird. Sie haben das nicht gemacht.
Warum? - Sie wollten das Geld in der eigenen Tasche haben.
({9})
Das ist ein politischer Vorgang. Hier geht es darum, dass
sich die Bundesregierung Privatisierungserlöse direkt
oder indirekt in die eigene Tasche stecken will, und zwar
auf Kosten anderer.
({10})
Das ist die übliche eichelsche Methode. Die hatten wir
schon bei den UMTS-Lizenzen oder sonst wo. Sie wollen
immer auf Kosten anderer Geschäfte machen.
Die Art und Weise, wie Sie vorgehen, spricht Bände.
Warum machen Sie dies hinter verschlossenen Türen?
({11})
Die Post hat in der vorigen Woche erklärt, sie verzichte
auf die Einhaltung des Steuergeheimnisses. Das heißt,
dass am letzten Mittwoch im Finanzausschuss alles, das
heißt amtliche Zahlen, hätte auf dem Tisch liegen können.
Dann hätten wir nicht über Pressemitteilungen spekulieren müssen, sondern hätten gewusst, worüber wir reden.
({12})
- Ich habe überhaupt nichts weitergegeben.
({13})
Die Presse hat die Zahlen berichtet, als die Post gesagt hat,
sie habe nichts dagegen, wenn sie genannt würden. Aber
ihr nennt die Zahlen nicht. Warum nicht? Das Ganze soll
hinter verschlossenen Türen stattfinden, damit es ja keiner merkt. So geht es nicht.
Dass diese Debatte hier stattfindet, ist ein wichtiges
Signal auch für die Öffentlichkeit, dass unsere Korrekturmechanismen doch noch funktionieren.
({14})
Meine Damen und Herren, so kann es nicht weitergehen. Wer sich selbst in die Tasche wirtschaftet, ist ein Fall
für die Börsenaufsicht.
({15})
Ihre Beschuldigungen hier werden mit Sicherheit Folgen
haben.
({16})
Wir haben Sie bei einem Betrug zulasten der Bürger, zulasten der Rentner und zulasten der Länder und Gemeinden erwischt.
({17})
Als letzter Redner hat
für die SPD-Fraktion Dr. Frank Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Ausführungen von Herrn Fromme weiß man so langsam nicht
mehr, wer die letzten 16 Jahre vor uns regiert hat, wer per
Gesetz dafür gesorgt hat, dass jetzt diese Umsatzsteuerbefreiung auf uns zugekommen ist.
({0})
Es ist schon interessant, was hier zum Besten gegeben
wird. Sie wollen von Ihrer eigenen Regierungsverantwortung, die Sie früher hatten, wie so oft nichts mehr wissen.
Aber vielleicht kennen Sie ja einen Kollegen noch, der
auch heute noch bei Ihnen ist, nämlich Herrn Dr. Michael
Meister.
({1})
Soweit ich weiß, ist er immer noch im Bundestag. Er hat
bei der Gesetzesverabschiedung am 9. Oktober 1997 zu
diesem Thema sehr deutlich ausgeführt:
Wir bekennen uns ausdrücklich dazu, dass wir eine
flächendeckende Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland erhalten wollen.
({2})
Wir haben in diesem Gesetz die notwendigen Mechanismen vorgesehen, um diese flächendeckende
Versorgung sicherzustellen.
({3})
Dies deshalb, damit die Poststellen hier in Deutschland erhalten bleiben und eine entsprechende Umsatzsteuerbefreiung erfolgen kann.
Das sind also Ihre Vertreter. Es war Ihre Gesetzesvorlage, die am 9. Oktober hier beschlossen worden ist, und
nicht die Vorlage vonseiten der SPD oder der Koalition.
({4})
Wir können feststellen: Sie von der Union haben noch
1994 und 1995 sowie - das habe ich eben zitiert - 1997
und 1998 große Versprechungen abgegeben, was mit der
Post in der Region und in der Fläche geschehen soll.
({5})
Dazu gehörte auch die Umsatzsteuerbefreiung, die es
heute gibt. Aus nahe liegenden Gründen, die mit dem
22. September zu tun haben, wollen Sie davon nichts
mehr wissen. Das steht ja übrigens auch in den Protokollen des Deutschen Bundestages von damals.
Sie waren damals zu feige, öffentlich zu bekennen, dass
Sie lieber ein Poststerben in der Region wollen. Herr Müller,
Sie haben es damals im Deutschen Bundestag zitiert. Die
43 000 Postbediensteten, die in der Rheinaue demonstriert
haben, waren angeblich nicht der Grund, warum entsprechende Regelungen gefasst wurden. Aber sie hatten Einfluss
auf die Gesetzgebung. Damals hat sich die CDU dafür ausgesprochen, dass die Post in der Region bleibt und dass entsprechende steuerliche Regelungen gefasst werden.
Und heute? Heute wollen Sie nichts mehr davon wissen, dass Sie 1997 - vielleicht auch aus Wahlkampfgründen - entsprechende Dinge beschlossen haben. Das passt
nicht zusammen. Das muss hier öffentlich angeprangert
werden. Wenn Sie damals dafür waren, können Sie sich
heute nicht dagegen aussprechen.
({6})
Ich komme zu einem Punkt aus der Praxis, über den
eben schon gesprochen wurde. Sie haben die Hoffnung,
dass der Markt es schon irgendwie richten wird. Gerade
wurde von einem Prozent gesprochen.
({7})
Wie sieht es denn in der Realität aus? Herr Fromme, gehen Sie in die Region und in die ländlichen Wahlkreise.
({8})
Sie werden feststellen, dass zum Beispiel in Limburg - bei
mir zu Hause - zwei neue Postfilialen eingerichtet werden
müssen, weil der Markt es nicht gerichtet hat.
({9})
Die Post ist dazu verpflichtet, weil wir entschieden haben,
dass zwei neue Filialen eingerichtet werden sollen. Es ist
Wille des Gesetzgebers und auch unser Wille, dass in der
Region, in der Fläche die Post erhalten bleibt. Wer dies
will, muss auch dazu und zu den steuerlichen Regelungen
stehen. Wer es nicht will, muss es abschaffen.
({10})
Er muss dann aber auch hier sagen, dass er die Post in der
Region und in der Fläche nicht haben will.
({11})
Wenn Sie das nicht wollen, dann sagen Sie das.
({12})
Ich komme zu dem Verdacht, den Sie eben geäußert haben: Umsatzsteuerbetrug. Darüber wurde auch heute Morgen in der Presse berichtet. Sie haben es eben aufgegriffen.
Es grenzt an Heuchelei, was Sie hier betreiben. Warum haben Sie - das ist ja noch nicht allzu lange her - unserem
Gesetzeswerk - es ging um das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz; Sie kennen es - Ende vorigen Jahres
nicht zugestimmt? Es sorgt dafür, dass dem Umsatzsteuerbetrug in dieser Republik besser nachgegangen werden
kann. Sie haben nicht zugestimmt. Sie können nicht gegen
ein Gesetz stimmen, das dafür sorgt, dass eine Bekämpfung der Steuerverkürzung vorgenommen werden kann,
({13})
und sich gleichzeitig hier hinstellen und sagen, dass entsprechende Maßnahmen zur Steuerverkürzung von einem
Unternehmen durchgeführt werden. Wenn etwas unrechtmäßig geschehen ist, wird dem nachgegangen, und zwar
durch die Gesetzesvorlage, die wir beschlossen haben und
die ordnungsgemäß hier im Deutschen Bundestag zum
Abschluss gebracht worden ist.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können feststellen, dass die Union, die sich an eine Anfrage der
PDS gehängt hat, unglaubwürdig bezüglich ihrer Position in der Umsatzbesteuerung ist. Ich habe eben dargestellt, dass Sie noch vor wenigen Jahren eine ganz andere Position hatten. Sie sind unglaubwürdig bezüglich
Ihres Versprechens, dass Sie früher einmal gegeben haben. Sie sagten nämlich, dass Sie für die Post in der Region sind. Schließlich sind Sie unglaubwürdig bezüglich der Verfolgung von Umsatzsteuerbetrug. Sie
betreiben in diesem Parlament nichts anderes als
Scheingefechte.
({15})
Das erleben wir immer wieder. Sie wollen davon ablenken, dass Sie - das weiß inzwischen ohnehin jeder ein staatlich anerkannter Hühnerhaufen in Steuer- und Finanzfragen sind. Etwas anderes wird Ihnen bis zum
22. September niemand mehr abnehmen, weil Sie einfach
keine Ahnung von diesen Dingen haben. Deswegen sind
Sie nicht regierungsfähig. Das weiß inzwischen auch jeder in diesem Land.
({16})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet. - Wir sind damit am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Februar 2002, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende und
eine fröhliche Karnevalszeit.
Ich schließe die Sitzung.