Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
der Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg,
Annette Schavan.
({0})
Dr. Annette Schavan, Ministerin ({1}) ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland wimmelt es von pädagogisch wertvollen Sätzen und
bildungspolitisch richtigen Einsichten. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung eine Menge dieser
Einsichten und richtigen Sätze in Erinnerung gerufen, die
in nahezu jedem bildungspolitischen Papier dieser Tage
enthalten sind, ganz egal, wer es schreibt.
Es ist ja wahr: Bildung begründet Wohlstand. Bildung
sichert Teilhabe. Bildung ist der Schlüssel für Lebenschancen und der Motor gesellschaftlicher Entwicklung.
Es ist ja wahr: Wer über Bildung redet, muss sich um Erziehung kümmern. Wer über Erziehung redet, muss sich
um Werte kümmern. Das beginnt damit, dass Werte und
Normen nicht als Sekundärtugenden diffamiert werden
dürfen. Wer das macht, ist kein Vorbild für Kinder.
({3})
Es stimmt ja auch: Erziehung gedeiht nicht in einem
Klima der Beliebigkeit. Bildung und Erziehung gedeihen
nicht in einem Klima der Respektlosigkeit und Autoritätsverweigerung jenen gegenüber, die pädagogisch wirken.
Das heißt, wer wirklich davon überzeugt ist, dass Bildung
und Erziehung so sehr Schlüssel sind, wie wir es eben
gehört haben, der muss etwas dafür tun. Wir brauchen in
Deutschland nicht mehr Papiere und Sachverständige. Wir
brauchen die Umsetzung der Einsichten in Taten.
({4})
Deshalb versuchen wir es doch lieber ganz konkret;
Stichwort: Qualitätssicherung in unseren Schulen. Der
Bundeskanzler hat die PISA-Studie erwähnt und die
große Sorge zum Ausdruck gebracht, die für ihn aus dem
Ergebnis der PISA-Studie erwächst. Ich kann Ihnen sagen: Jahrelang haben wir mit der SPD in der Kultusministerkonferenz gestritten, weil sie die Beteiligung deutscher
Schulen an diesen internationalen Vergleichsstudien nicht
wollte.
({5})
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Bis zur letzten Sitzung in Konstanz 1997 ist gesagt
worden: Das brauchen wir nicht. Der damalige hessische
Kultusminister Holzapfel ist vielen seiner Kollegen und
Kolleginnen mit dem Satz in Erinnerung geblieben: Das
Schwein wird vom Wiegen nicht fett.
({6})
Das war die Einstellung SPD-regierter Länder in der Kultusministerkonferenz zu internationalen Vergleichsstudien.
Die Bundesbildungsministerin sagte in diesen Tagen in
einem Interview: Wir brauchen in Deutschland vergleichbare Bildungsstandards. Wir brauchen nationale Bildungsvergleiche. Dazu kann ich nur sagen: Willkommen im Klub!
({7})
Unionsregierte Länder aber haben in der letzten Kultusministerkonferenz Vorschläge für vergleichbare Bildungsstandards vorgelegt.
({8})
Als wir, lieber Herr Tauss, in dieser Kultusministerkonferenz darüber diskutiert haben, dass es auch nationale Bildungsstandards und Bildungsvergleiche geben muss, hat
die SPD am 24. Mai 2002 dazu Nein gesagt.
({9})
Des Weiteren haben Sie - zu Recht - gesagt, Bildung
sei die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts.
({10})
Auch das ist ein bekannter Satz. Vor zehn Jahren hat der
damalige Bundesforschungsminister ihn gesagt. Ich
glaube, es herrscht Konsens darüber, dass jedes Kind
wichtig ist. Die Leistungsfähigkeit eines Bildungswesens
erweist sich daran, dass niemand zum Modernisierungsverlierer werden darf und dass niemand seine Talente verstecken muss. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
({11})
Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung
gehören zusammen. Es gilt aber in Deutschland die
Faustregel: Wer das eine nicht kann, kann auch das andere
nicht. Ich füge hinzu: Wer in das eine nicht investiert, investiert auch nicht in das andere. Das können Sie wunderbar bei einem Ländervergleich feststellen. Wenn Sie
die Investitionen für die Sonderpädagogik, für die Sonderschulen sowie für die Programme zur Förderung von
Benachteiligten und Hochbegabten miteinander vergleichen, dann stellen Sie fest, dass die SPD über viele Jahre
hinweg - diese Zeit war viel zu lang - ein völlig gebrochenes Verhältnis zur Hochbegabtenförderung und Elitenförderung gehabt hat.
({12})
- Natürlich stimmt das.
Sie haben auch gesagt, zu lange habe in Deutschland
der Irrglaube vorgeherrscht, Schule zerstöre die Kindheit.
Ich habe mich gefragt: Wer hat denn diesen Irrglauben
über Jahre hinweg in Deutschland verbreitet? Wer hat
denn den Eindruck erweckt, dass Schule gleichsam ein
unsittlicher Anschlag auf die Kindheit ist?
({13})
- Zuhörenkönnen ist auch ein Hinweis auf Bildung.
({14})
Als ich vor fünf Jahren in Baden-Württemberg über
neue Wege beim Schulbeginn gesprochen und vorgeschlagen habe, dass wir beim Beginn der Schulzeit beweglicher werden müssen, dass wir in Deutschland nicht
jedes zehnte Kind von der Einschulung zurückstellen dürfen, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass das durchschnittliche Einschulungsalter bei 6,7 Jahren liegt, hat die
SPD-Opposition Kopf gestanden. Manche von Ihnen wissen sicherlich noch, was alles in den Zeitungen gestanden
hat. Sie haben damals blockiert und Nein gesagt. Sie haben alle vorgeschlagenen Projekte nicht mitgetragen.
Das gilt übrigens auch für das Thema Fremdsprachen
in der Grundschule. Dazu kann ich nur sagen: Wohl wahr!
Wo gibt es denn Fremdsprachen ab der ersten Klasse der
Grundschule? - Doch nicht in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen. Das gibt es nur
in einem einzigen Bundesland, nämlich in Baden-Württemberg.
({15})
Es ist wahr: Bildungspolitik hat nicht nur mit Geld zu
tun. Aber ohne Geld - darauf hat schon der Bundeskanzler hingewiesen - ist es auch schwierig. Deshalb sage ich:
Wer in Deutschland über Bildungspolitik spricht, der
muss über Fakten sprechen
({16})
und der muss sich die Entwicklung der letzten Jahre anschauen. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen: In dem
Zeitraum von 1990 bis 1998 - in den 90er-Jahren mussten alle Bundesländer Einsparungen vornehmen - ist allein der Anteil der Bildungsausgaben am Landeshaushalt
- alleine - für die Schulen in Bayern und Baden-Württemberg um rund 20 Prozent gestiegen. Schließlich sind
auch die Schülerzahlen gestiegen.
({17})
Im gleichen Zeitraum - das ist bekanntlich die Zeit, in der
Gerhard Schröder Ministerpräsident war - ist dieser AnMinisterin Dr. Annette Schavan ({18})
teil in Niedersachsen um 10 Prozent gesunken. Das sind
die Unterschiede in Deutschland.
({19})
Entsprechend vernichtend ist das Urteil des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Glogowski,
des Nachfolgers von Gerhard Schröder, ausgefallen. Resümee nach acht Jahren Bildungspolitik unter der Verantwortung von Gerhard Schröder - ich zitiere -:
Zieht ein bayerisches Kind hierher, muss es sich erst
einmal zwei Jahre hängen lassen, damit es das niedrige niedersächsische Niveau erreicht.
({20})
- Blödsinn? Das hat Glogowski als Urteil nach acht Jahren gesagt.
({21})
Zu den bildungspolitischen Aufgaben, die Bund und
Länder gemeinsam zu bewerkstelligen haben, gehört die
Berufsbildungspolitik. Zwei Drittel aller Jugendlichen
durchlaufen eine Ausbildung in der beruflichen Bildung.
Weltweit gilt die duale Ausbildung, die Partnerschaft von
Schule und Betrieb, als die Stärke des deutschen Bildungswesens.
({22})
Wir wissen: Wer sehen will, wo anwendungsorientiertes,
praxisorientiertes Lernen möglich ist, muss in die berufliche Bildung gehen.
({23})
Das ist der Bereich unseres Bildungswesens, in dem in besonderer Weise über Teilhabe, über Lebenschancen und
über berufliche Beschäftigungsperspektiven junger Menschen entschieden wird.
({24})
Deshalb: Wer es mit Teilhabe an Lebenschancen ernst
meint, wer es damit ernst meint, dass Bildung ein Schlüssel für Lebenschancen und für Selbstständigkeit ist, der
muss diesen Bereich „duale Ausbildung, berufliche Bildung“ in besonderer Weise stärken.
({25})
Vor wenigen Tagen hat das Institut der deutschen Wirtschaft den neuesten Vergleich der 16 Bundesländer im
Hinblick auf die Stärke der Berufsschulen und der dort erteilten Unterrichtsstunden veröffentlicht.
({26})
Niedersachsen ist auf Platz 16. Auf den Plätzen 15, 14 und
13 sind ausschließlich SPD-regierte Länder.
({27})
Das Institut der deutschen Wirtschaft stellt fest: In diesen
Ländern reicht die Leistungsfähigkeit der Berufsschulen
nicht mehr aus - wenn es so weitergeht -, um duale Ausbildung zu leisten. Diese Länder tragen wesentlich dazu
bei, dass die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe nicht
wächst, sondern stagniert.
({28})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung davon gesprochen, dass die Bundesregierung im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit und auch im Bereich der beruflichen Bildung große Erfolge erreicht hat.
({29})
Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass vor
zwei Tagen, am Dienstag, der neue Chef der Bundesanstalt
für Arbeit, Gerster, erstens darauf hingewiesen hat, dass
die Jugendarbeitslosigkeit zwischen Mai 2001 und Mai
2002 um 15,6 Prozent gestiegen ist. Im Vergleich dazu ist
die allgemeine Arbeitslosigkeit um 6,1 Prozent gestiegen.
({30})
Das ist also ein weit höherer Anstieg.
({31})
Zweitens hat Herr Gerster festgestellt, dass im Mai
485 000 Lehrstellen zur Verfügung stehen. Ihnen stehen
600 000 Bewerber gegenüber. Er kündigt an, dass zum
Herbst ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage
wohl nicht erreicht werden kann.
Das sind Zahlen, die darüber entscheiden, ob junge
Menschen Lebens- und Berufschancen erhalten oder
nicht!
({32})
Das sind Zahlen, die eine Bankrotterklärung für die Berufsbildungspolitik in Deutschland bedeuten!
({33})
Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt: Es geht nicht
nur um Geld, es geht um eine neue Kultur des Lehrens und
Lernens.
({34})
Die neue Kultur des Lehrens und Lernens setzt voraus, dass
man nicht öffentlich seine ganze Abneigung gegen Pädagogen, gegen Lehrerinnen und Lehrer, auf den Markt trägt.
({35})
Von PISA-Siegern, zum Beispiel in Skandinavien, wissen
wir, dass die Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit
der Schulen die Akzeptanz pädagogischer Arbeit ist. Niemand hat der Autorität der Lehrerinnen und Lehrer und
der Schule so sehr geschadet wie ein niedersächsicher Ministerpräsident, der der gesamten Republik erklärt hat,
was er von den Lehrern hält.
({36})
Ministerin Dr. Annette Schavan ({37})
In der Regierungserklärung ist zu Recht gesagt worden,
({38})
dass - darüber besteht auch Konsens; dem wird in
Deutschland niemand widersprechen - Schule, Studium,
Bildung und Ausbildung nicht vom Geldbeutel der Eltern
abhängig sein dürfen. Darüber besteht Konsens und das
ist auch gut so.
({39})
Aber eigentlich wissen wir nicht, was in der SPD wirklich
darüber gedacht wird. Die Bundesregierung legt eine
Hochschulnovelle vor,
({40})
derzufolge nicht mehr über Studiengebühren gesprochen
werden darf. Peter Glotz, der frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, schrieb noch in diesen Tagen:
Die Behauptung, dass Studiengebühren „unsozial“
seien, ist übrigens so verbreitet wie falsch. Unsozial
ist es vielmehr, kleine Lohnsteuerzahler, die nie nur
auch in die Nähe von Hochschulen kommen, immer
stärker zu belasten, damit die Kinder der Mittelschichten gebührenfrei studieren können.
({41})
... Die klassischen Argumente gegen Gebühren sind
schwach, aber zäh.
Die SPD muss sich jetzt entscheiden, wie es weitergehen
soll.
({42})
- Ich erläutere Ihnen, was ich will. Warten Sie ab! - Zum
gleichen Zeitpunkt, zu dem im Bundestag und im Bundesrat über das Thema Studiengebühren und soziale Gerechtigkeit im Hinblick auf Studierende gesprochen wird,
ist erstens festzustellen, dass nur 8 Prozent der Studierenden in Deutschland aus einkommensschwachen Familien
kommen. Das ist nicht sozial verträglich und damit nicht
in Ordnung.
({43})
Zweitens ist festzustellen, dass Nordrhein-Westfalen
eine Studentensteuer einführt.
({44})
Das heißt, Gebühren ohne Gegenleistung. Das ist unsozial
und damit nicht in Ordnung. Dabei handelt es sich um
eine Instrumentalisierung der Hochschulen für den Landeshaushalt.
({45})
Ihrem Einwand, dass es in Baden-Württemberg seit
1997 eine Langzeitstudiengebühr gibt, ist entgegenzuhalten, dass dabei ein Unterschied zu Nordrhein-Westfalen
besteht: In Baden-Württemberg fließen die Mittel in die
Hochschulen; in Nordrhein-Westfalen dagegen gehen sie
an den Finanzminister. Das ist der Unterschied zwischen
SPD und CDU.
({46})
Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, dass in der
Hochschulpolitik das bürokratische Korsett aus dem vorletzten Jahrhundert gefallen sei und dass die Hochschulen
befreit seien. Ich höre zurzeit aber nur von jungen Nachwuchswissenschaftlern, die rausgeschmissen werden.
Das ist eine eigentümliche Form der Befreiung.
({47})
Im Übrigen sind wir uns in den Zielen der Dienstrechtsreform einig. Wir sind uns darin einig, dass wissenschaftlicher Nachwuchs früher selbstständig werden
muss. Wir sind uns auch darin einig, dass es möglich sein
muss, dass Nachwuchswissenschaftler eigene Projekte
anmelden können. Es ist richtig, die Juniorprofessur einzuführen, aber es ist falsch, die Habilitation abzuschaffen.
({48})
Wir wollen nicht immer mehr Verbote, sondern mehr
Spielraum für die Hochschulen. Nur selbstständige Hochschulen sind international starke Hochschulen.
({49})
Über Ganztagsschulen streite ich mit Ihnen nicht. Ich
habe erst gestern wieder drei neue Ganztagsschulen in
Baden-Württemberg eröffnet.
({50})
Im Bundesvergleich haben Baden-Württemberg 6,8 Prozent Ganztagsschulen und Rheinland-Pfalz 3 Prozent.
Bremen, Schleswig-Holstein und viele andere SPDregierte Länder haben weniger.
({51})
Deshalb fordere ich Sie auf: Kümmern Sie sich um Ihre
Länder! Sorgen Sie dafür, dass das Bildungswesen in
Ihren Ländern à jour wird, dass es modernisiert wird und
dass die Hochschulen selbstständig werden können!
({52})
Geben Sie nicht Ländern gute Ratschläge, die längst dort
sind, wo Sie noch hin wollen, sich aber immer noch nicht
auf den Weg gemacht haben.
({53})
Frau Ministerin, Sie
müssen zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit
schon deutlich überschritten.
Ministerin Dr. Annette Schavan ({0})
Dr. Annette Schavan, Ministerin ({1}): Ich komme zum Ende. In vielen Ländern in Deutschland sind die Voraussetzungen für eine Modernisierung des
Bildungswesens und für nachhaltige Hochschulreformen
geschaffen.
({2})
Wir als Union arbeiten an einem Bildungswesen, das den
Blick auf Kinder und Jugendliche richtet.
({3})
Die unionsregierten Länder haben ihre Hausaufgaben zu
einem Großteil gemacht und stecken mitten in der Modernisierung, in der Regel bei Ablehnung oder gar Empörung
der jeweiligen Opposition. Der Bund hinkt hinterher, statt
nachhaltiger Strukturen schafft er nur Aktionsprogramme.
({4})
Auch deshalb wird es Zeit für eine andere Bundesregierung, die zu einem verlässlichen Partner in Sachen Bildung, Ausbildung und Wissenschaft in Deutschland wird.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen,
Sigmar Gabriel.
Sigmar Gabriel, Ministerpräsident ({0})
({1}): Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin
Dr. Schavan, auf die letzte Bemerkung, die Sie eben gemacht haben - die mit der anderen Regierung -, möchte
ich ein wenig eingehen, weil man dabei darauf hinweisen
kann, wer von bestimmten Dingen redet und wer diese
Dinge tut.
({2})
Eines steht doch fest - darauf hätte ich von Ihnen, Frau
Dr. Schavan, gerne eine Antwort gehört -: Es ist diese
Bundesregierung, die den Haushaltsansatz für Forschung
und Bildung um mehr als 20 Prozent angehoben hat.
({3})
Weil wir ja bei der von Ihnen erwünschten neuen Regierung im Wesentlichen über das alte Personal reden, wie
wir ja gerade feststellen
({4})
- Sie gehören nicht dazu; Sie sind da die löbliche Ausnahme; der Rest von denen, die bisher da waren, wird ja
aufgetaut -,
({5})
wollen wir uns doch einmal anschauen, was die Täter von
gestern in der Bildungspolitik gemacht haben.
({6})
- Zu Ihnen komme ich gleich noch, wenn ich über Werte
rede, Herr Goldmann; da sind wir ja an der richtigen
Adresse.
({7})
- Ja, ja, genau darüber reden wir ja; zum Beispiel darüber,
dass die von Ihnen gestellte ehemalige Regierung zwischen 1993 und 1998 700 Millionen DM im Bildungshaushalt des Bundes eingespart hat.
({8})
Sie haben hier gerade angekündigt, Sie wollen eine
neue Regierung. Da muss man doch angesichts der Taten
derjenigen, die früher regiert haben, so etwas wie eine Gewinnwarnung an die Börse ausgeben: Vorsicht beim Kauf
der Aktie, hier wird hinterher an der Bildung gespart.
({9})
Sie haben also nicht nur 700 Millionen DM eingespart, als
Sie damals an der Regierung waren, sondern kommen
jetzt auch noch mit einem Wahlprogramm, in dem Sie erklären, Sie wollen dreimal 40 Prozent erreichen, also auch
40 Prozent Staatsquote.
({10})
Das bedeutet - ich sage das nur, damit das die geschätzte
Öffentlichkeit weiß - eine Verringerung des Bundeshaushaltes um 170 Milliarden Euro. Raten Sie einmal, wo da
gespart werden wird: natürlich wieder bei Bildung und
Forschung. Darum geht es doch.
({11})
Was man davon zu halten hat, wenn die CDU kurz vor
Wahlen erklärt, sie wolle den Bildungshaushalt aufstocken, erleben die Hamburger Eltern gerade. Da ist das
versprochen worden, aber das Gegenteil passiert.
({12})
Eigentlich wollte ich über die Vergangenheit nicht so
sehr reden; aber es macht solchen Spaß, Frau Dr. Schavan.
Ich bin immer der Meinung, dass man Ihnen eine Antwort
geben muss. Man muss Sie in einer solchen Debatte stellen.
Ich finde, Jugendarbeitslosigkeit ist ein schönes
Thema. Sie haben 16 Jahre lang, Jahr um Jahr, Schülergeneration um Schülergeneration in die Jugendarbeitslosigkeit entlassen. Das ist das, was Sie auf diesem Gebiet
gemacht haben.
({13})
- Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen die Zahlen aus Niedersachsen nicht gleich nennen werde! Machen Sie sich
da keine Sorge! Weil Sie darum so betteln, mache ich das
gleich. Sie müssen davon ausgehen, dass ich mich in meinem Land ein bisschen auskenne.
Diese Regierung mit Frau Bulmahn als Bundesministerin hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die auf dem Ausbildungsmarkt keine Chance hatten, endlich eine qualifizierte Ausbildung bekommen haben. Sie haben diese
Menschen der Arbeitslosigkeit überlassen. Das war die
Politik in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit.
({14})
Wir haben in unserem Bundesland - falls das keiner
weiß, das ist Niedersachsen - seit 1990, seit Gerhard
Schröder zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, die Jugendarbeitslosigkeit mehr als halbiert. Unter der Vorgängerregierung und unter Beteiligung der damaligen Bundesregierung lag die Jugendarbeitslosigkeit in Niedersachsen
bei über 90 000 Menschen unter 25 Jahre. Sie alle haben
keine Arbeit gefunden.
Es gibt heute immer noch zu viele arbeitslose Jugendliche. Frau Dr. Schavan, Sie haben eben über Steigerungsquoten gesprochen: Sie müssen wissen, dass die
Quote für die durchschnittliche Steigerung der Jugendarbeitslosigkeit in Westdeutschland zurzeit bei über 17 Prozent liegt; im Land Niedersachsen liegt diese Quote bei
1,7 Prozent. Im letzten Monat bei 1,5 Prozent und im vorletzten Monat lag sie wiederum bei 1,7 Prozent. Das ist
die Realität. Kümmern Sie sich einmal um Ihre Jugendlichen und machen Sie sich keine Sorgen um unsere!
({15})
Das Land Niedersachsen gibt gegenüber dem Jahr 2000
für die niedersächsischen Schulen und für das niedersächsische Bildungssystem zurzeit 160 Millionen Euro
mehr aus. Frau Dr. Schavan, wir würden diesen Betrag
gerne erhöhen. Wir können das unter anderem deshalb
nicht, weil wir bereits über die Maßen dafür sorgen, dass
junge Leute bei uns einen guten Schulabschluss bekommen.
Sie selbst haben in den letzten Tagen lesen können,
dass die Abiturquote in Bayern bei 18,5 Prozent liegt und
dass es deshalb notwendig ist, dass aus Nordrhein-Westfalen und aus Niedersachsen mehr als 4 350 Hochschulabsolventen nach Bayern gehen, damit der Fachkräftebedarf der bayerischen Industrie gedeckt werden kann.
Das kostet 200 Millionen jährlich. Das zahlen nicht die
Bayern. Das ist Wirtschaftsförderung aus den Ländern,
die Sie hier gerade beschimpft haben.
({16})
- Kommen Sie her, halten Sie eine Rede und machen Sie
nicht nur Zwischenrufe!
({17})
- Ich komme auf dieses Problem nachher zu sprechen.
Wir haben ein Problem der Qualität und ein Problem
der Quantität. Die deutsche Wirtschaft sagt, sie brauche,
um ihren Fachkräftebedarf in zehn Jahren abzudecken,
eine Hochschulabsolventenquote - mit Hochschule sind
Universitäten, Fachhochschulen und Berufsakademien
gemeint - von 40 Prozent. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie angesichts einer Abiturquote in Bayern von
18,5 Prozent die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erreichen wollen. Sie sind doch das größte Investitionshindernis, das hier herumläuft.
({18})
Frau Dr. Schavan, Sie haben auf die Hochschulen hingewiesen. Die deutsche Wirtschaft hat gerade erklärt, dass
das Hochschulgesetz, das das Land Niedersachsen verabschiedet, das modernste in Deutschland ist. Wir wissen
das alles. Ich sähe es gern, dass Sie Ihren CDU-Kollegen
in Niedersachsen einmal erklären, dass sie dem Hochschulgesetz morgen zustimmen sollten. Bisher haben sie
immer dagegen gestimmt. Das nur zu dem Thema „Wie
verhält sich die CDU in Reden und Handeln?“.
({19})
Wenn Sie über Studiengebühren reden, dann müssen
Sie dem Haus sagen, dass Sie als Kultusministerin der
Verabredung der Kultusminister zugestimmt haben, dass
es in Deutschland keine Studiengebühren für das Erststudium geben soll und dass Sie sich aus formalen Gründen weigern, Rechtssicherheit für Studierende zu schaffen. Wir wollen doch, dass Studenten wechseln, dass sie
auch andere Universitäten besuchen. Es kann doch nicht
sein, dass die Studenten nur deshalb nicht an eine andere
Hochschule wechseln, weil dort Studiengebühren erhoben werden. Sie haben früher anders geredet und gehandelt als heute. Machen Sie den Menschen an dieser Stelle
nichts vor! Sie haben den Verzicht auf Studiengebühren
für das Erststudium genauso gefordert wie die sozialdemokratischen Länder. Ich weiß also nicht, woher Ihr Sinneswandel kommt.
({20})
Sie haben den internationalen Vergleich angesprochen.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einmal vergleichen
würden, wie viele Ganztagsschulen es in NordrheinWestfalen und Niedersachsen
({21})
Ministerpräsident Sigmar Gabriel ({22})
und wie viele es in Bayern und Baden-Württemberg gibt.
({23})
Darüber müssen wir einmal reden.
({24})
- Das sind die bildungspolitischen Experten, die Ganztagsschulen mit Gesamtschulen verwechseln. Alle Achtung!
({25})
Sie merken gar nicht, wie Sie sich selber entlarven.
Wissen Sie, warum Sie die Ganztagsschulen verhindert
haben? Sie haben zum einen zum Thema Kindererziehung
- dazu komme ich später noch - offensichtlich eine völlig
andere Auffassung als wir. Sie gehen zum anderen immer
davon aus, dass es eine ideologische Debatte um Ganztagsschulen ist. Sie müssen aufhören, diese Debatten von
gestern zu führen.
({26})
Wir brauchen nicht die Wiederholung der Debatten der
70er-Jahre. Wer Bildungspolitik betreibt, der erlebt jetzt,
dass einem ständig die bildungspolitischen Kyffhäuserkameradschaften von gestern entgegenkommen:
({27})
immer mit den gleichen Marschordnungen, immer mit
den gleichen Marschliedern. Das interessiert doch keinen
Menschen mehr.
Die PISA-Studie zeigt uns doch, dass es nicht um die
Frage Dreigliedrigkeit oder Gesamtschule geht. Die
PISA-Studie zeigt uns auch, dass es Länder gibt, die bessere Ergebnisse als wir haben, obwohl es dort größere
Klassen gibt. Es geht nicht um das Herausgreifen von
Einzelpunkten. Wir müssen uns vielmehr mit dem gesamten Bildungssystem auseinander setzen, aber nicht in
der Art und Weise, Frau Dr. Schavan, wie Sie es getan haben.
Noch eine Bemerkung zu dem internationalen Vergleich. Der damalige niedersächsische Kultusminister
Rolf Wernstedt hat den internationalen PISA-Vergleich
durchgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie noch gar
nicht im Amt, Frau Dr. Schavan. Zuhören gehört zur Bildung und intellektuelle Redlichkeit gehört zur akademischen Ausbildung. Das sollte man beachten.
({28})
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es gelegentlich
heraus. So ist das nun einmal im Leben.
({29})
- Wenn ich gewusst hätte, dass es hier so fröhlich zugeht,
wäre ich schon früher gekommen.
({30})
Wenn Sie es möchten, komme ich gerne wieder.
({31})
- Keine Sorge. Das machen wir schon, Herr Goldmann.
Sie sind ja nicht im niedersächsischen Landtag vertreten.
({32})
Das bleibt vermutlich auch so.
({33})
Diese parteipolitische Auseinandersetzung, die uns zugegebenermaßen Freude macht - bei der Rede von Frau
Dr. Schavan gab es Beifall von der einen Seite des Hauses und bei meiner Rede gibt es Beifall von der anderen
Seite des Hauses -, interessiert draußen im Lande niemanden. Das müssen wir ehrlicherweise zugeben.
({34})
PISA ist für uns so etwas wie der Sputnik-Schock gewesen. Wir mussten feststellen, dass wir alle unter Wasser
schwimmen. Wir debattieren derzeit nur über die Frage,
wer sozusagen 1 Meter, wer 2 Meter und wer 3 Meter unter Wasser schwimmt. Wir müssen aber aufpassen, dass
wir dabei nicht alle ersaufen.
({35})
Es bringt überhaupt nichts, Frau Kollegin Schavan,
wenn wir nur zur Freude der Abgeordneten in den Parlamenten Reden halten in der Art, wie Sie sie gehalten haben und - das wollte ich nur beweisen - wie ich sie halten kann.
({36})
Ich wollte nachweisen, dass wir in der parteipolitischen
Auseinandersetzung die gleiche Fähigkeit wie Sie entwickeln können. Aber ich glaube, es geht um mehr.
({37})
Die Menschen in unserem Land brauchen nicht Fundamentalismus, sondern Pragmatismus. Wir müssen eine Politik für die Wirklichkeit und nicht für die parteipolitischen
Wahlkampfauseinandersetzungen machen. Die Menschen
interessieren sich nicht für denkbare Kompetenzstreitereien zwischen Bund und Ländern. Wer wie einige CDUgeführte Länder dagegen ist - ich habe das heute Morgen
wieder gehört -, dass sich der Bund mit 4 Milliarden Euro
an dem Ausbau von Ganztagsschulen beteiligt, der soll
schlicht und ergreifend auf seine Zuschüsse verzichten.
Den anderen Ländern würde dann mehr Geld zur Verfügung stehen.
({38})
Ministerpräsident Sigmar Gabriel ({39})
Kindergärten, Horte und Ganztagsschulen sind jedenfalls viel wichtiger als ein unbezahlbares Familiengeld für
die Frau, die zu Hause bleibt.
({40})
Statt die klugen und jungen Frauen aus dem Beruf zu
zwingen, wenn sie Kinder haben wollen, brauchen wir in
Deutschland endlich familienfreundliche Strukturen.
({41})
Es müsste doch die konservativsten Wirtschaftspolitiker
Deutschlands und der Union nachdenklich machen, dass
wir wesentlich mehr Abiturientinnen als Abiturienten haben, sie aber in Forschung und Wissenschaft sowie in den
Spitzenstellungen dieser Gesellschaft nicht wiederfinden.
Das können wir uns in ökonomischer Hinsicht nicht leisten.
Das ist nicht nur unsozial, sondern auch unwirtschaftlich.
({42})
Die PISA-Studie warnt uns vor schnellen Schlüssen. Ich
habe es vorhin schon gesagt: Es geht nicht um das dreigliedrige Schulsystem oder die Gesamtschulen. Es gibt Länder
mit deutlich größeren Schülerzahlen pro Klasse, die dennoch bessere Ergebnisse erreichen. Es geht übrigens auch
nicht nur um die Frage, wie viel Unterricht ausfällt, denn
es hilft uns nichts, wenn 28 statt 30 schlechte Wochenstunden erteilt werden.
({43})
- Haben Sie einmal versucht, die PISA-Studie zu lesen?
({44})
Das hat nichts mit Lehrerbeschimpfung zu tun, sondern
mit der PISA-Studie. Darin steht, dass unsere Kinder im
deutschen Bildungssystem das Lernen nicht ausreichend
lernen. Das ist ein Problem unserer Lehreraus- und -weiterbildung.
({45})
Das ist doch wohl ein Thema, über das wir reden sollten.
({46})
Sie können doch hier nicht anders sprechen als unter vier
Augen, nur weil jetzt Kameras laufen und Zuschauer da
sind. Sie wollen immer die Vier-Augen-Gesellschaft,
({47})
in der wir uns sagen, wo die Probleme liegen, aber dann,
wenn einer zuhört, nicht mehr öffentlich und ehrlich darüber sprechen. Das ist die Politik der Union. Ich kann das
nicht mitmachen; das tut mir Leid.
({48})
PISA hat uns in der Tat gezeigt - darüber sind wir uns
wirklich einig -: Wir fördern in Deutschland weder die
Leistungsstarken noch die Leistungsschwachen gut genug. Wir geben viel Geld in das obere Segment des Bildungssystems und zu wenig in das untere Segment. Wir
haben das alte deutsche Sprichwort „Was Hänschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr“ missachtet; zumindest lernt
Hans es schwieriger.
Frau Dr. Schavan, im Hinblick auf das Thema berufliche Bildung und Politik der SPD bitte ich um intellektuelle Redlichkeit. Es war die Bildungspolitik der SPD in
den 70er-Jahren, die dazu führte, dass Menschen, die vorher, weil der Vater Arbeiter war, nur zur Hauptschule durften und hinterher über einen schweren zweiten Bildungsweg ihre Leistungen - ({49})
- Dass Sie das nicht wissen, kann ich mir wirklich vorstellen.
({50})
Bei uns gibt es ein paar Leute, die damit ganz persönliche
Erfahrungen haben. Auch ich gehöre dazu.
Die Sozialdemokratie hat in den 70er-Jahren dafür gesorgt, dass diese Menschen ihre Abschlüsse im ersten Anlauf und nicht auf dem viel schwierigeren zweiten Bildungsweg erwerben konnten. Das ist auf der einen Seite
sozialer, aber auf der anderen Seite auch ökonomisch effizienter.
({51})
Ich gehöre nicht zu denen, die der Überzeugung sind,
dass die SPD-Bildungspolitik im Jahr 2002 die gleiche
wie in den 70er-Jahren sein kann. Aber ich finde auch,
Frau Dr. Schavan, dass wir es uns nicht so einfach machen
können, die Bildungspolitik nach A- und B-Ländern, nach
SPD- und CDU-regierten Ländern, zu differenzieren. Ich
finde, das ist ein bisschen billig. Damit wiegt man zwar
die Schweine, aber man treibt sie auch durchs Dorf.
({52})
PISA hat gezeigt: Wir haben in Deutschland seit 20 und
mehr Jahren hinsichtlich der Integration massiv versagt,
weil wir uns nicht zur Zuwanderung in unser Land bekannt haben,
({53})
weil wir uns bis heute nicht dazu bekennen, dass Menschen, die mit einem deutschen Pass aus Osteuropa kommen, überwiegend in einer anderen Kultur und anderen
Sprachen sozialisiert sind als wir. Weil wir das immer ignorieren, haben wir Probleme in den Kindergärten und
Grundschulen und inzwischen bis in die Berufsschulen hinein Analphabetismus. Das ist die Realität in Deutschland.
Es ist schlimm, dass Sie das Thema Zuwanderung zum
Wahlkampfthema machen wollen. Es ist unglaublich, was
Sie da veranstalten!
({54})
Ministerpräsident Sigmar Gabriel ({55})
Sie blenden die Wirklichkeit aus. Deswegen können Sie
in dieser Frage keine vernünftige Bildungspolitik auf den
Weg bringen.
Wir haben natürlich Schulen, die zu unselbstständig
sind, denen wir alles haarklein erklären, jeden Erlass vorgeben und bei denen wir Rahmenrichtlinien und weiß
Gott was nicht alles vorschreiben. All das müssen wir
ändern. Wir brauchen daher nicht nur mehr Geld für Reformen, wir brauchen vor allen Dingen mehr Reformen
fürs Geld. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder, die in
die deutsche Grundschule kommen, auch die deutsche
Sprache können. Mein Bundesland ist, wenn ich das
richtig weiß, das erste, das Sprachförderung im Kindergarten und in der Grundschule systematisch für die
organisiert, die diese Förderung benötigen. Ich würde
mich freuen, Frau Dr. Schavan, wenn Sie neben der
- möglicherweise berechtigten - Kritik ab und zu auch
etwas zu dem sagten, was wir ganz gut auf die Beine bringen.
Zweiter Punkt. Wir müssen aufhören - das richtet sich
an die bildungspolitischen Traditionalisten in allen Bereichen -, um Schulformen zu kämpfen. Stattdessen müssen
wir um Schüler kämpfen,
({56})
und zwar um die leistungsstarken wie um die leistungsschwachen. Fördern und fordern sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wir brauchen verlässliche Unterrichts- und Betreuungszeiten und in der Tat ein Netz von Ganztagsschulen.
Wir brauchen in der Schule der Zukunft nach meiner
festen Überzeugung den Achtstundentag für Schüler
und für Lehrer.
Wir brauchen mehr erzieherische Kompetenz und Unterstützung auch der Elternhäuser, Sozialpädagogen und
Erzieher, die sich nicht nur um Kinder kümmern, sondern
auch den Kontakt zu Elternhäusern suchen. Wir müssen
auch für eine Werte- und Normenerziehung sorgen, Frau
Dr. Schavan. Aber Vorsicht: Es ist nicht die SPD und es
sind nicht die Grünen, die 1982 die geistig-moralische
Wende gefordert haben, als deren Ergebnis wir die Ellbogengesellschaft bekommen haben.
({57})
Ich finde, wir alle haben Grund zur Selbstkritik in der Bildungspolitik der letzten Jahre, nicht nur immer der jeweils
andere.
Eltern wollen mehr Wahlrechte für ihre Kinder.
Auch das finde ich vernünftig. Wir müssen ihre Mitbestimmung ausbauen, wir brauchen eine andere Lehrerausbildung und wir dürfen uns natürlich nicht vor dem
Wettbewerb der Schulen untereinander scheuen, auch
nicht, Frau Dr. Schavan, vor dem zwischen den Ländern, ganz im Gegenteil. Aber dazu brauchen die Schulen mehr Freiheiten und weniger KMK; da bin ich ganz
sicher.
({58})
Wir haben in Deutschland eine merkwürdige Debatte.
Wir tun immer so, als brauchten wir entweder bessere
Abiturienten oder mehr Abiturienten.
({59})
Das ist eine unsinnige Alternative. Wir brauchen beides.
Das Gleiche gilt auch für andere Schulformen.
({60})
- Ich kann ja verstehen, dass Sie den Unterschied zwischen 40 Prozent Hochschulbedarf in der Wirtschaft
und 18,5 Prozent Abiturientenquote in Bayern nicht
verstehen wollen. Das hat vielleicht etwas mit Ihrem
Mathematikunterricht zu tun; daran kann ich nichts ändern.
({61})
- Ich finde es auch peinlich, wenn jemand den Unterschied nicht erkennt.
Aus meiner Sicht werden wir am Ende vermutlich voneinander lernen müssen. Ich höre, in weiten Bereichen
gibt es die Vermutung, dass die Leistungsniveaus in den
süddeutschen Ländern höher liegen als in anderen Ländern.
({62})
Gleichzeitig stellen wir fest, dass eine Reihe dieser Länder, insbesondere Bayern, es nicht schaffen, auch genug
Kinder zu dieser Leistung zu bringen. Was nützen uns
höhere Leistungen, wenn wir nicht mehr Kinder dazu befähigen, sie auch zu erreichen?
({63})
Dann wird uns doch, trotz aller Wahlkämpfe, wohl nichts
anderes übrig bleiben, als voneinander zu lernen: die einen von den Leistungsniveaus der anderen, die anderen
von der Förderung der Kinder, damit möglichst viele
diese Leistungen erreichen. Voneinander lernen, das ist
das, was wir mit PISA erreichen sollten. Das ist etwas anderes als Bundestagswahlkampf. Es ist eigentlich genau
das, was wir von unseren Kindern erwarten: nichts anderes, als voneinander zu lernen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({64})
Ich erteile das Wort
Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Sie wissen, dass die FDP die Kultusministerkonferenz für die unbeweglichste, ineffizienteste und am
parteipolitischsten agierende Institution unseres Gemeinwesens hält. Ohne Ihnen, Frau Dr. Schavan und Herr
Gabriel, zu nahe treten zu wollen: Sie haben uns gerade
ein Beispiel dafür gegeben, wie sehr Sie sich in diesem
Ministerpräsident Sigmar Gabriel ({0})
Gremium gegenseitig blockieren und wie sehr es nötig ist,
dass wir die Kultusministerkonferenz neu ordnen.
({1})
Individuelle Förderung für alle, Qualitätsverbesserung,
Leistungsorientierung, Erziehung zu Werten, Engagement in
unserer Gesellschaft sowie Freiheit für Forschung und Wissenschaft, das sind die liberalen Eckpunkte dieser Debatte.
An diesen messen wir Ihre Bilanz und Ihre Behauptung,
Herr Bundeskanzler, dieses Land modernisiert zu haben.
Was haben Sie wirklich erreicht? Was haben Sie versprochen und was ist daraus geworden? Sie haben zwei
große finanzielle Projekte angekündigt: die Verdoppelung
der Investitionen für Bildung und Forschung und die
Schaffung eines elternunabhängigen BAföG. Aus der
Verdoppelung wurden 21,6 Prozent - eine erstaunliche
Leistung; fast PISA-gerecht, muss ich sagen - und aus
der BAföG-Reform wurde die größte Niederlage Ihrer
Ministerin.
({2})
Sie haben die Studenten eben nicht finanziell unabhängig
vom Elternhaus gemacht. Sie haben die soziale Ungleichheit der Familienverhältnisse eben nicht ausgeglichen.
Die große Strukturreform, die Sie angekündigt haben,
verkümmerte zu einer Anpassung der Bedarfssätze und zu
sehr bemerkenswerten Auftritten von Frau Bulmahn mit
Guildo Horn. Die Bildungslandschaft Deutschlands haben Sie damit nicht verändert. Gerade einmal 17 Prozent
eines Jahrgangs schaffen den Hochschulabschluss. Das
deutsche Bildungssystem bildet zu wenig Qualifizierte
aus, und diese auch noch schlecht.
Damit wären wir bei Ihrem Anspruch, Herr Schröder,
das Land modernisiert zu haben. Erziehung beginnt
bereits vor der Schule. Hier hat Deutschland erhebliche
Defizite. Wo waren eigentlich in den letzten vier Jahren
Ihre Vorschläge zur Vorschulerziehung? Wo war Frau
Bulmahn bei der Novellierung der Ausbildung der Erzieherinnen? Wo war Frau Bergmann bei der Debatte über
die vorschulische Förderung im Kindergarten?
({3})
Der Grundstein für die Bildung unserer Kinder wird in
den ersten Lebensjahren gelegt. Sie haben das soeben
vollmundig erklärt. Betreuung ist gut, aber zu wenig,
wenn wir Bildungsanstrengungen wirklich ernst nehmen.
Wie wahr das ist, sehen Sie, wenn Sie die Situation in
den Grundschulen betrachten. Wir wissen, dass der
Grundschulbereich in Deutschland deutlich unterfinanziert ist. Wir geben ungefähr 3 000 Euro pro Grundschüler
und Jahr aus. Schauen Sie sich Frankreich und die
Schweiz an - ich brauche in diesem Zusammenhang nicht
in die unterschiedlichen Bundesländer zu schauen -: Dort
werden 5 000 Euro ausgegeben. Angesichts der Defizite,
mit denen die Kinder in unsere Schulen kommen und die
wir alle erkennen, sind die Aufgaben wirklich enorm.
Nur ein Beispiel: Die Berliner Schulbehörde testete fast
10 000 Schulanfänger. Ergebnis: Nur jeder dritte spricht
ausreichend deutsch. Ich frage mich, ob das die Folge der
von SPD und CDU/CSU eben so hoch gelobten Bildungspolitik ist. Wir brauchen nämlich Sprachförderung in den
Kindertagesstätten, also vor der Einschulung, wenn die
Bildungskarriere nicht schon in der ersten Klasse enden
soll.
({4})
Qualität ist das Zauberwort. Wie wenig das in
Deutschland gilt, hat die PISA-Studie gezeigt. Hochbegabte - da stimme ich Ihnen, Frau Schavan, ausdrücklich
zu - werden nicht genug gefordert, Lernschwache nicht
genug gefördert. Beide werden in den Schulen oft gar
nicht erkannt. Selbst unsere guten Schüler sind im internationalen Vergleich nur Mittelmaß.
Schule muss eine verlässliche Qualität von Bildung liefern. Deshalb haben wir Qualitätsagenturen vorgeschlagen. Wir wollen Vergleichstests durchführen, damit das
Gehakele der Länder untereinander aufhört und wir wirklich nachprüfbare Ergebnisse bei einem Vergleich unserer
Schulen haben.
({5})
Ich stelle mit Erstaunen fest, dass die Kultusminister zwar
vehement miteinander streiten können, sich auf richtige
Ergebnisse aber nur mit der Langsamkeit einer Schnecke
zubewegen.
Der Bundeskanzler hat eben noch einmal vollmundig
von seinem Programm „4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen“ gesprochen. Ich hoffe sehr, Frau Bulmahn,
dass dieses Versprechen langfristiger und fundierter ist
als das Versprechen vom letzten Sommer bezüglich der
Laptops, das auch in der Versenkung verschwunden sind,
übrigens zur gleichen Jahreszeit.
Auch wir wollen mehr Ganztagsschulen als flächendeckendes Angebot. In Rheinland-Pfalz setzen wir dies
bereits um. Nur wäre es wesentlich seriöser, wenn Sie
gleichzeitig die Gemeinden entlasteten; denn diese tragen
die Folgekosten. 4 Milliarden Euro, das hört sich nach viel
an. Geteilt durch 10 000 Schulen, an die dieses Geld
fließen soll, ergibt dies gerade einmal 400 000 Euro. Das
reicht vielleicht gerade einmal für die berühmten Suppenküchen in den Schulen.
({6})
Mit den Folgen lassen Sie die Gemeinden allein;
({7})
denn auch die Gemeindefinanzreform ist von Ihnen in
dieser Legislaturperiode nicht in Angriff genommen worden. Wir werden ein Strohfeuer bekommen - da können
Sie sich noch so sehr erregen -, das uns Investitionsruinen
beschert, nicht aber die anspruchsvollere Schule, die sich
die Menschen hier wünschen.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zum Thema Berufsbildung sagen. Ich habe gelesen, dass Sie, Herr Bundeskanzler, ursprünglich sagen wollten, dass das JUMP-Programm ein großer Erfolg war.
({8})
Gott sei Dank ist dieses in Ihrer Rede gar nicht mehr vorgekommen; denn dieses Programm war kein Erfolg. Wir
alle wissen, dass es nicht gegriffen hat. Die im Vergleich
zum Vorjahr um 15,6 Prozent gestiegene Arbeitslosigkeit
- das hat Frau Schavan gerade angeführt - ist die traurige
Wirklichkeit.
Was Sie hier dargelegt haben, ist Schönfärberei; es gibt
keine Erfolgsstatistik.
({9})
Sie haben nicht das getan, was notwendig gewesen wäre,
Frau Bulmahn. Sie hätten das Berufsbildungsgesetz reformieren müssen. Wo ist diese Reform geblieben? Wann
haben Sie sich in dieser Legislaturperiode mit der modernen Ausbildung, dem dualen System befasst?
({10})
- Lieber Herr Tauss, ich empfehle Ihnen, einmal in die
Unterlagen des BMBF zu schauen. Dann hätten Sie Gelegenheit, festzustellen, dass hierin einer der Misserfolge
dieser Bundesregierung liegt.
({11})
Im Hochschulbereich haben Sie sich bewegt; das ist
richtig. Sie haben zwei HRG-Novellen auf den Weg
gebracht und haben zweimal gepatzt. Ich habe selten
zwei Novellen erlebt, von denen ich im Nachhinein sagen
musste: Was sollte das Ganze eigentlich? Wir haben einen
Aufstand des akademischen Mittelbaus an den Hochschulen. Es gibt keine Flexibilität. Wir haben keine autonomen
Hochschulen und es ist nach wie vor kein Wissenschaftstarif für die Menschen vorhanden, die an den Universitäten arbeiten. Genau das ist doch der Grund, weshalb wir keine ausländischen Akademiker in dieses Land
bekommen. Sprechen Sie doch einmal mit Vertretern von
Universitäten und Wissenschaftsorganisationen! Dann
wüssten Sie, was unter Ihrer Ägide aus diesem Standort
geworden ist.
({12})
Lassen sie mich zum Schluss kurz und knapp auf Folgendes hinweisen: Wir Liberalen wollen eine wirkliche
Schwerpunktsetzung bei der Bildung.
({13})
Wir wollen das Aufbrechen von Strukturen. Wir wollen
mehr Autonomie. Wir wollen vor allen Dingen Qualität
und das Bekenntnis zur Erziehung. Das ist mit vollmundigen Regierungserklärungen nicht zu erreichen.
Es ist schade, dass der Bundeskanzler schon weg ist. Es
wäre schön, wenn er einer Bildungsdebatte einmal bis
zum Schluss folgen würde.
({14})
Reformen sind eben mehr als klingende Worte.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Professor Baumert, der die PISA-Studie für Deutschland
gemacht hat, in einem Interview vor wenigen Wochen gefragt wurde: „Wird PISA sinnvolle Veränderungen in
Gang setzen?“, hat er folgende Antwort gegeben:
Anfangs war ich optimistisch, aber mittlerweile bin
ich skeptisch geworden. Zurzeit holen alle alte Rezepte heraus,
- also die Kyffhäuser-Kameradschaften die sie schon immer hatten, und zwar die Lehrerverbände gleichermaßen wie die Landesfürsten.
Die bevorstehenden Bundestagswahlen sind auch
nicht hilfreich, weil Bildung zunehmend für den
Wahlkampf instrumentalisiert wird.
An dieser Stelle hatte ich mir vorgenommen - ich will
es auch so halten -, zu sagen, wir sollten ihm beweisen,
dass er zumindest in dieser Frage nicht ganz so pessimistisch sein muss, weil wir hier im Bundestag durchaus in
der Lage sind, dazu qualifiziert zu diskutieren.
Ich will jetzt auf einige Punkte eingehen, die so offenkundig wahlkampfmotiviert sind, dass man auf sie eingehen muss:
Erstens. Frau Schavan, das betrifft zunächst einmal
Sie. Wenn wir jetzt den Ländervergleich bekommen,
dann sollten wir nicht darüber diskutieren - dies ist ein geflügeltes Wort -, wer in der zweiten Liga dritter oder achter wird, sondern wir sollten gemeinsam versuchen, in die
erste Liga aufzusteigen.
({0})
Als ich Ihnen lauschte, gewann ich den Eindruck, dass
bei Ihnen alles wunderbar ist und, wenn es alle so machen
wie in Baden-Württemberg, alles gut wird. Wer es glaubt,
wird selig, kann man da nur sagen.
({1})
Zur Lehrerbeschimpfung: Wer war denn der größte
Pöbler gegen die Lehrer? Das war Herr Meyer-Vorfelder.
Vergessen Sie das bitte nicht!
({2})
Zweitens. Wir brauchen keine alten Grabenkämpfe;
Herr Gabriel hat es bereits angesprochen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir 12 oder 13 Jahre bis zum Abitur brauchen, die entscheidende Frage ist auch nicht, ob
wir eingliedrig oder dreigliedrig vorgehen, die entscheidende Frage lautet: Wie können wir besser werden und
warum sind wir im Moment nicht gut genug? Dieser entscheidenden Frage müssen wir uns gemeinsam über Parteigrenzen hinweg stellen. Das halte ich für sehr wichtig.
Drittens. Was wir ganz bestimmt nicht brauchen, sind
die fürchterlichen Vereinfacher, die allen das Blaue vom
Himmel versprechen. Frau Flach, hierbei muss ich leider die
FDP ansprechen. Dabei beziehe ich mich auf einen Artikel
aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von gestern:
„Admiral auf rauher See“. Die FDP hat im Bürgerschaftswahlkampf in Hamburg 750 neue Lehrerstellen versprochen. Im Koalitionsvertrag haben Sie 400 neue Lehrerstellen versprochen. Zuletzt sagten Sie, es ginge um 150 neue
Lehrerstellen in dieser Legislaturperiode. Jetzt wurde
nachgerechnet. Was kam dabei heraus? Berücksichtigt
man die Pensionierungen, werden im Jahre 2005 in Hamburg weniger Lehrer beschäftigt sein als heute. Das ist die
Realität in Hamburg. Jetzt wird versucht, dafür quasi einen Beamten verantwortlich zu machen. Sie versprechen
viel und halten nichts. Das ist der gewaltige Unterschied
zu uns.
({3})
Frau Schavan, natürlich sind die intellektuelle Redlichkeit und die Fähigkeit zum Zuhören sehr wichtig. Man
sollte aber auch bei den Fakten und Zahlen bleiben. Da
wir im Deutschen Bundestag sprechen, rekurriere ich darauf, dass wir auch über nationale Aufgaben sprechen:
Erstens. Die Ausgaben für Bildung und Forschung
wurden unter Ihrer Ägide zwischen 1993 und 1998 im
Bundeshaushalt um 360 Millionen Euro gekürzt. Zwischen 1998 und 2002 wurden sie um 1,5 Milliarden Euro
aufgestockt. Das ist ein Plus von 21 Prozent. Das ist ein
gewaltiger Unterschied.
({4})
Zweitens. In den 80er-Jahren - das haben auch Sie zitiert - lag der Anteil von Arbeiterkindern oder - was für
ein schreckliches Wort - der Kinder aus bildungsfernen
Schichten an den Universitäten bei 17 Prozent, danach
waren es 8 Prozent. Das heißt, während Ihrer Regierungszeit ist die Anzahl der Kinder aus bildungsfernen
Schichten an unseren Universitäten halbiert worden. Sie
haben die Türen, die an unseren Universitäten in den 70erJahren weit aufgestoßen worden sind, langsam wieder zugemacht und das wollen wir jetzt umkehren.
({5})
Drittens. Als wir an die Regierung kamen, gab es
28 Prozent Studienanfänger, jetzt sind es 33 Prozent. Das
will ich nicht alles der Regierung zuschreiben, aber der
Anstieg hat auch damit zu tun, dass wir das BAföG erhöht
haben und jetzt weitere 80 000 Studierende BAföG beziehen können. Das ist nicht genug, aber auf jeden Fall ein
Schritt in die richtige Richtung.
Viertens. Die Mittel für den Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern stagnierten bis 1998, also fast
während der gesamten 90er-Jahre. Seit 1998 gibt es eine
Steigerung um 52,3 Prozent. Wir reden eben nicht nur
über Internationalisierung, sondern wir meinen es ernst
und machen auch etwas zu diesem Thema.
({6})
Jetzt habe ich das, was ich einleitend sagen wollte, ausgeführt. Wir brauchen keine Debatte darüber, wie wunderbar es bei uns ist, sondern wir brauchen eine Debatte
darüber, wie wir die Freude am Lernen - man kann ruhig
sagen: die Liebe zum Lernen - und die Bildungseinrichtungen in unserem Land wieder stärken können. Das ist
die entscheidende Frage.
Für uns Grüne gibt es in diesem Prozess drei wichtige
Leitorientierungen. Die erste ist die Zugangsgerechtigkeit. Wir wollen, dass in unserem Bildungssystem weniger selektiert und ausgegrenzt wird. Wir wollen weg von
der Selektion hin zu einer Kultur der Ermutigung und
der Zuwendung. Das macht unsere Bildungspolitik aus;
denn wir glauben: Hoffnungslose Fälle können wir uns
nicht leisten, jeder Mensch wird gebraucht. Das ist ganz
wichtig.
({7})
Der zweite Punkt: Wir wollen, dass die Bildungseinrichtungen im umfassenden Sinne autonom sind. Das betrifft die Finanz- und Personalautonomie ebenso wie die
Profilbildung. Wir wollen den Schulen ermöglichen, eigene Profile zu entwickeln: die eine eher musisch, die andere eher naturwissenschaftlich, die dritte eher fremdsprachlich. Ein wichtiges Vorbild für diese Schule der
Zukunft sind die freien Schulen, die in vielerlei Hinsicht
eine Schrittmacherfunktion übernommen und dem öffentlichen Schulwesen positive Impulse gegeben haben.
Der dritte und entscheidende Punkt: Wir denken die
Bildungspolitik vom einzelnen Menschen, vom Individuum her. Sie darf nicht mehr von der Institution, von der
Bürokratie her gedacht werden: So wichtig der Schulrat
sein mag, für uns sind die Kinder wichtiger; so wichtig die
Kultusministerkonferenz sein mag, für uns sind die Lehrer wichtiger.
({8})
Bildung soll junge Menschen vor allen Dingen dazu
befähigen, Orientierungen zu bekommen. Faktenwissen
ist das eine, aber mindestens genauso wichtig ist das Orientierungswissen. Zukunftsfähige Bildung muss heute
junge Menschen dazu befähigen, sich in einer rapide verändernden Welt zurechtzufinden, Wandel zu nutzen und
zu gestalten und mit schwierigen Situationen umzugehen.
Gerade weil im Wissenschaftsbetrieb und im Berufsleben
Interdisziplinarität, also das Denken über Fachgrenzen hinaus, so wichtig ist, müssen wir diese Fähigkeiten fördern.
Vor allen Dingen müssen wir den jungen Leuten das
Gefühl geben, dass sie wichtig sind und selbst Wirksamkeit entfalten können. Der entscheidende Unterschied
zwischen dem jetzt zu Ende gehenden Maschinenzeitalter
und der Wissensgesellschaft ist, dass der Stellenwert des
Individuums als Gestalter in der Gesellschaft enorm zunimmt. Dies beinhaltet eine riesige Chance und das wollen wir fördern.
({9})
Das betrifft vor allem die frühkindliche Bildung. In
der Tat haben wir lange geglaubt, man müsse die Bildung
möglichst aus dem Kindergarten heraushalten, da bis zum
sechsten Lebensjahr eine heile Welt aufrechterhalten werden solle. Mittlerweile wissen wir sowohl aus der Hirnforschung als auch aus der Pädagogik, dass die drei, vier,
fünf Jahre alten Kinder nachgerade wie Schwämme sind,
die danach lechzen, etwas zu lernen. Wenn wir ihre kognitiven Fähigkeiten ansprechen wollen, bedeutet dies keine
Verschulung des Kindergartens. Vielmehr soll er eine anregende, inspirierende Lernumgebung bieten. Deswegen
dürfen unsere Kindergärten keine Verwahranstalten mehr
sein, sondern wir müssen sie zunehmend zu pädagogischen Einrichtungen machen.
({10})
Aus Erfahrung mit meinen eigenen Kindern weiß ich,
dass sie es satt haben, endlos lange Mandalas auszumalen;
sie wollen im Kindergarten etwas erleben und etwas lernen.
Deswegen brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher,
die pädagogisch befähigt sind, und unterstützen Modellversuche wie den an der Alice-Salomon-Fachhochschule
in Berlin, wo der Abschluss eines Bachelor of Education
möglich ist. Auch bei der frühkindlichen Erziehung im
Kindergarten sind pädagogische Fähigkeiten unerlässlich.
In vielen Reden klang bereits an, dass uns unterlassene Investitionen in die Bildung kleiner Kinder sehr teuer zu stehen kommen und später zwei- bis dreimal so viel kosten.
Daher müssen wir mit der Erziehung früher beginnen.
In einem weiteren Punkt unterscheiden wir uns fundamental von der CDU: Statt Transferleistungen wie das
Kindergeld zu erhöhen oder ein unendlich teures Familiengeld, das utopisch ist, einzuführen, wollen wir die
Infrastruktur verbessern: Wir wollen Ganztagsschulen
und andere Angebote der Ganztagsbetreuung, damit die
Kinder optimal ausgebildet werden können. Es geht nicht
darum, die Kinder von zu Hause wegzubekommen, damit
wir unser Leben nach den Bedürfnissen der Arbeitswelt
ausrichten können, sondern darum, die Kindergärten und
Grundschulen zu pädagogischen Einrichtungen mit einem
Nachmittagsangebot weiterzuentwickeln. Wir denken
hier also nicht an eine verlängerte Aufbewahrung, sondern daran, wie die Schulen wieder in die Nachbarschaft
eingebunden und am Nachmittag die Sportvereine, die Jugendzentren und die Kulturzentren in die Schule hineingeholt werden können. Joseph Beuys hat schon vor
20 Jahren davon gesprochen, wir müssten die Welt in die
Schule hineinholen. Es ist also ganz wichtig, die Schule
der Realität gegenüber nicht abzuschotten. Beispielsweise könnte ein pensionierter Schreinermeister den Kindern beibringen, wie man schreinert, oder eine Mutter, die
ausgebildete Biologin ist, Exkursionen anbieten. Hier ist
noch unglaublich viel Kreativität möglich; die Ganztagsschulen können mit einem sehr anspruchsvollen pädagogischen Konzept verknüpft werden.
({11})
In der Tat sind wir der Meinung, dass der Bund das mit
finanzieren muss. Normalerweise haben wir die saubere
Scheidelinie zwischen Bund und Ländern, aber wir glauben
in der Tat, dass sich der Bund bei der Ganztagsbetreuung,
bei den Ganztagsschulen und auch bei den Kindertageseinrichtungen beteiligen muss. Wir wollen beim Ehegattensplitting einen Teil abschmelzen und 5 Milliarden Euro pro
anno mobilisieren, die zur Förderung von Ganztagsschulen
und Kindertageseinrichtungen eingesetzt werden. Das ist
unser Konzept und wir werden sehen, ob wir das in der
nächsten Legislaturperiode realisieren können. Wir hoffen
darauf, weil es ein vernünftiger und ein guter Ansatz ist.
Zu den Hochschulen und zu den Universitäten ist eine
ganze Menge gesagt worden. Es ist klar, dass der Stellenwert der Fachhochschulen und der Universitäten in der
Wissensgesellschaft enorm zunimmt. Leider sind wir international nicht attraktiv genug. Wir müssen besser werden. Mit der Dienstrechtsreform, der BAföG-Reform und
der Internationalisierung der Hochschulen haben wir hier
erste Schritte gemacht. Da müssen wir noch weiter gehen.
Auch da gilt das Prinzip: Die Universitäten und Hochschulen müssen autonomer werden.
Als letzten Punkt möchte ich einen Zustand ansprechen,
den ich wirklich für untragbar halte. Er hat auch mit fehlenden Betreuungseinrichtungen zu tun. - Herr Präsident,
ich komme gleich zum Schluss. - Im Wissenschaftsbetrieb
haben wir folgende Relationen: bei den Studienabsolventen 50 Prozent Frauen, 50 Prozent Männer; bei den Promotionen 70 Prozent Männer, 30 Prozent Frauen; bei den
Habilitationen 80 Prozent Männer, 20 Prozent Frauen und
bei der Berufung auf eine Professur 92 Prozent Männer,
8 Prozent Frauen. Diese Asymmetrie, dieses Ungleichgewicht ist nicht gerechtfertigt.
({12})
Deswegen ist für uns in der Bildungspolitik Frauenförderung immer sehr wichtig. Sie ist ein ganz zentraler
Punkt.
Ein letzter Satz: Für uns Grüne heißt es, dass wir Nachhaltigkeit und Interdisziplinarität fördern, dass wir die
vermeintlichen Gräben zwischen Naturwissenschaften
und technischen Wissenschaften auf der einen Seite und
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften auf der anderen Seite überwinden; denn das ist ein Scheinwiderspruch. Die Probleme, die wir lösen müssen, brauchen die
Geisteswissenschaften und die Natur- und Technikwissenschaften.
({13})
Wenn wir einen Bereich ausblenden, sind wir einäugig
und springen zu kurz.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich war gestern Nachmittag
und gestern Abend bei einer Gewerkschaftsdemonstration hier in Berlin,
({0})
an der Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler
teilgenommen haben. Die ganz klare und unmissverständliche Botschaft an die Politik hieß: So kann es nicht
weitergehen im deutschen Bildungssystem.
({1})
Ich habe mich schon gefragt, warum so wenige oder
fast keine Bundestagsabgeordneten bei dieser Veranstaltung waren. Man übernimmt durch die Teilnahme an einer Demonstration doch nicht alle Positionen. Auch ich
musste mir natürlich Kritik an die Adresse meiner Partei
anhören. Aber wir haben doch, verdammt noch mal, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nicht das Recht auf so viel
Ignoranz, um einer solchen Demonstration fernbleiben zu
können.
({2})
Schließlich fiel PISA ja nicht aus heiterem Himmel. Wenn
ich in der Regierungserklärung den Satz finde, Zugang zu
Bildung sei d i e soziale Frage des 21. Jahrhunderts, kann
ich - wie andere auch - dazu nur sagen: Recht haben Sie,
Herr Bundeskanzler, aber wo nur findet sich diese Erkenntnis in Ihrer Politik wieder?
({3})
Es muss Sie doch stutzig machen, dass, befragt nach der
Zufriedenheit mit der Regierungspolitik gerade auf dem
Sektor Bildungspolitik, nur 34 Prozent der Bevölkerung
angeben, sie seien damit zufrieden. Das Problem für mich
ist, seit die PISA-Studie auf dem politischen Markt ist, die
Reaktion darauf. Nehmen Sie es mir nicht übel: Ich erlebe
sie vorwiegend als eine versammelte, hoch kompetente
Ratlosigkeit. Finnland ist zum Hauptreiseland von Bildungspolitikern geworden.
Wenn die Kultusministerkonferenz jetzt erklärt, als
ersten Schritt brauchten wir mehr Tests, kann ich nur sagen: Ein kaputtes Auto wird nicht dadurch heil, dass man
es öfter zum TÜV schickt.
({4})
Selbstverständlich, meine Damen und Herren, muss
der Staat nicht alles regeln. Aber Bildung, Zugang zu Bildung und Chancengleichheit in der Bildung, das sind nun
einmal Kernbereiche staatlicher Verantwortung, die die
Eigenverantwortung der Schule auch nicht infrage stellen. Wer Bildung zur Ware macht, spaltet die Gesellschaft.
({5})
Wenn die Freien Demokraten private Agenturen statt
Kultusministerkonferenz in ihrem Wahlprogramm fordern, dann ist das nicht nur eine schlechthin populistische
Forderung, sondern dann ist das schlicht und einfach verantwortungslos. Auch die von den Christdemokraten vorgesehene Festschreibung von noch mehr Gliederung im
Schulwesen kann die Lösung nicht sein, denn diese Gliederung verfestigt soziale Ungerechtigkeit.
({6})
Dann haben wir die vorprogrammierte Situation, dass an
den Gymnasien die künftigen Beamten, an den Realschulen die künftigen Facharbeiter und an den Hauptschulen die
künftigen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger ausgebildet werden. Eine solche Entwicklung wollen wir nicht. Wer
den Ellenbogen bei den Jüngsten zum Prinzip erhebt, zerstört die Solidargemeinschaft, meine Damen und Herren.
({7})
Deshalb lassen Sie mich auf eine Tatsache hinweisen,
die hier im Hause sicher nicht unwidersprochen bleibt.
Aber einer der gravierenden Fehler im deutschen Vereinigungsprozess war, dass bei der notwendigen Reform des
Bildungssystems in Deutschland in den 90er-Jahren eben
nicht DDR-Erfahrungen im Bildungssystem positiv anund aufgenommen wurden.
({8})
Da gibt es eine ganze Reihe positiver Erfahrungen. Wenn
ich mit Schülervertreterinnen und Schülervertretern in Köln
oder im Westteil Berlins spreche und diese mir ihre Vorstellungen von einer zukunftsfähigen, modernen Schule, von einem modernen Bildungssystem beschreiben, sage ich: Das
ist doch aber ein Großteil dessen, was wir in der DDR
praktiziert haben.
({9})
Es wäre angebracht, positive Erfahrungen auch positiv
anzunehmen, Erfahrungen mit Kindertagesstätten, mit gemeinsamem Lernen, mit polytechnischer Ausbildung.
({10})
- Das mag Sie empören. Sie machen es sich zu leicht,
wenn Sie „mit Margot Honecker“ oder „mit Fahnenappell“ rufen. Da gibt es auch vieles Positive zu übernehmen.
({11})
Aber was in diesem Lande los ist, wie in diesem Lande
mit Osterfahrungen umgegangen wird, das hat man heute
Morgen im ZDF hören können, als ein Moderator folgende Frage gestellt hat: Kann es nicht sein, dass in Mecklenburg oder bei uns in Deutschland die rechte Hand nicht
weiß, was die linke tut? - Das ist hier leider noch immer
der Zustand von Spaltung.
({12})
Deshalb meinen wir, dass ein wichtiger Beitrag zur Lösung des Bildungsproblems tatsächlich darin bestehen
könnte, ein einheitliches Bildungssystem zu schaffen, und
zwar - auch das sei deutlich gesagt - einheitlich integriert
und nicht einheitlich gegliedert, also: in der Regel von der
ersten bis zur zehnten Klasse zusammen lernen plus individuelle Förderung. Denn integrative Schulsysteme sind
den gegliederten überlegen.
Natürlich bedarf das dann auch einer radikalen Reform
der Bildungsinhalte. Wir wollen, dass diese reformierten
Bildungsinhalte zusammen mit reformierten BildungsRoland Claus
strukturen auch rahmenrechtliche Regelungen erfahren,
die dann europatauglich sind. Es ist doch nicht hinzunehmen, dass Bildungsabschlüsse zwischen den Staaten in
Europa eher anerkannt werden als zwischen den Bundesländern in Deutschland. Wir wissen auch: Rahmenrechtliche Regelungen zerstören nicht den Föderalismus.
Meine Damen und Herren, der PISA-Ländervergleich,
der jetzt in Aussicht steht, ist hier viel zitiert worden. Natürlich hat Ministerpräsident Gabriel Recht, wenn er sagt:
Wir wollen jetzt nicht den Wettbewerb unter den
Schwächsten aufnehmen.
Ich muss aber feststellen: Der Versuchung, diesen Wettbewerb zwischen den Ländern auszurufen, konnte er in
seiner Rede hier auch nicht widerstehen. Wer weit hinter
der Spitze herrennt, sollte jetzt nicht um Platzierungen
ganz hinten streiten. Das bringt nie nach vorn. Konkurrenz unter den Schwachen hat den Schwachen noch nie
nach vorn geholfen, noch nie geholfen, stark zu werden.
Meine Damen und Herren, momentan tagt der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten.
({13})
- Das stört doch aber meine Rede nicht. Dass er das heute
tun wird, wissen wir doch alle.
Wir rufen Sie auf: Bringen Sie gemeinsam die Courage
auf für eine Bildungsreform, die den Namen verdient! Daran und nicht nur an der Ansammlung von weiteren Allgemeinplätzen will die PDS gern mitwirken.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Debatte und insbesondere leider auch Ihre Rede, Frau Schavan, zeigen, dass Sie
nicht begriffen haben, wie ernst die Situation ist.
({0})
Mit regionaler Kirchturmpolitik und mit dem ständigen
Zeigen auf andere kommen wir nicht weiter.
({1})
Offensichtlich haben einige noch nicht begriffen, dass wir
im unteren Mittelfeld gelandet sind bzw. rangieren.
({2})
Die Messlatte ist für mich nicht, ob das eine Bundesland eventuell besser als das andere ist. Sowohl in Ländern mit SPD-Kultusministern als auch in Ländern mit
CDU/CSU- oder FDP-Kultusministern gibt es erhebliche
Mängel im Schulsystem.
({3})
Deshalb brauchen wir eine nationale Kraftanstrengung
und
({4})
es muss mit dem Zeigen auf den jeweils anderen Schluss
sein.
Wenn es der Bundesregierung - sie will es; das hat der
Bundeskanzler heute deutlich gesagt -, den Ländern, den
Städten und Gemeinden, den Schulen, den Eltern und den
Lehrern nicht gelingt, unser Bildungssystem in den nächsten Jahren gemeinsam erheblich zu verbessern, dann versündigen wir uns an unseren Kindern und an unserer Jugend.
({5})
Wir brauchen in unserem Land mehr gut ausgebildete
Menschen wie die Luft zum Atmen. Wir stehen heute am
Scheideweg: Entweder greifen wir auf die alten Rezepte
der vergangenen 16 Jahre zurück oder wir nutzen die
Chance, nicht nur innezuhalten, sondern auch zu handeln,
({6})
weil wir eine wirklich erfolgreiche Reformpolitik wollen.
({7})
Ich sage Ihnen ganz klar: Diese Bundesregierung steht für
eine neue Reformpolitik. Wir wollen Reformen in unserem Bildungswesen.
({8})
Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, dass man
- wenn man wirklich ernsthaft will, dass das Bildungssystem besser wird - allerdings auch Fakten zur Kenntnis
nimmt. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass diese Bundesregierung, meine Herren und Damen von der Opposition, den Haushalt für Bildung und Forschung in den vergangenen Jahren um über 21 Prozent erhöht hat.
({9})
Damit haben wir es geschafft, die Bildungspolitik wieder
in das Zentrum der politischen Debatte und des Regierungshandelns zu stellen. Ich kann es Ihnen nicht ersparen,
Sie daran zu erinnern, dass dieser Haushalt von 1993 bis
1998 - während Ihrer Regierungsverantwortung - gekürzt
worden ist. Er wurde zum Steinbruch für den Finanzminister gemacht.
({10})
Der Haushalt für Bildung und Forschung ist in diesem
Haushaltsjahr so hoch wie niemals zuvor. Das ist gut so;
denn das war notwendig.
({11})
Liebe Frau Schavan, zur intellektuellen Redlichkeit
- man darf nicht nur über Werte reden, sondern man muss
sie auch leben ({12})
gehört auch, dass zum Zeitpunkt unserer Regierungsübernahme über eine halbe Million junger Menschen unter
25 Jahren ohne Ausbildung und ohne Job waren und dass
wir es mit einem wirklich ziemlich anstrengenden Kraftakt - mit dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, dem JUMP-Programm - geschafft haben, rund
400 000 jungen Menschen die zweite und dritte Chance zu
geben, die sie brauchten.
({13})
Wer hierbei, wie der Kanzlerkandidat Stoiber, von Aktionismus redet,
({14})
zeigt damit, wessen Geistes Kind er ist. Die jungen Leute,
die die zweite und dritte Chance ergriffen haben, sind
dankbar dafür und nutzen sie.
({15})
Wem es egal ist, ob diese jungen Leute auch mit 30 noch
ohne Chance, Beruf und Beschäftigung sind, kann allerdings so weitermachen, wie Sie in den 90er-Jahren verfahren sind.
({16})
Da es nicht ausreicht, auf ein Sofortprogramm zu setzen, liebe Frau Flach - auch das muss man zur Kenntnis
nehmen -, haben wir in den letzten vier Jahren parallel
dazu 55 Berufe modernisiert und 18 Berufe neu geschaffen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ein Gesetz zu verändern
ist nicht der entscheidende Punkt, weil das alleine nichts
nützt, sondern es kommt darauf an, dass wir unsere berufliche Ausbildung so verändern - das haben wir getan, das
werden wir auch weiterhin tun -, dass die Jugendlichen
eine hervorragende Ausbildung erhalten, mit der sie anschließend die besten Beschäftigungschancen haben. Wir
haben die berufliche Ausbildung verbessert, damit die Betriebe ein Interesse haben auszubilden.
Ich sage ganz klar: 70 000 Ausbildungsplätze in der
IT-Branche sind ein Erfolg. Das zeigt, dass diese Maßnahmen wirken.
({17})
Ich darf daran erinnern, dass die Zahl bei 14 000 Plätzen
lag, als ich dieses Amt übernommen habe. Sie haben viel
zu lange zugelassen, dass Zigtausende von Jugendlichen
aus der Schule in die Arbeitslosigkeit gerieten. Wir gewährleisten, dass jeder Jugendliche ein Ausbildungsplatzangebot bekommt. Dazu stehen wir; dazu werden wir
auch in Zukunft stehen.
({18})
Wir wollen in einem Land mit der wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands für mehr exzellent ausgebildete Menschen sorgen. Deshalb haben wir das BAföG reformiert. Sie
haben es in den Jahren vorher in Grund und Boden gewirtschaftet; das wissen Sie. Wir haben mit der Einführung von
Bildungskrediten und dem Verbot von Studiengebühren für
das Erststudium dafür Sorge getragen, dass junge Menschen wieder studieren können, auch wenn ihnen keine
goldene Kreditkarte in die Wiege gelegt worden ist.
({19})
Dass jetzt nach vielen Jahren Stillstand und sogar
Rückschritt endlich wieder mehr Jugendliche studieren,
dass der Anteil der Studierenden um knapp 5 Prozent gestiegen ist, ist ein Erfolg. Das reicht mir aber noch nicht
aus, um es klar zu sagen. Das ist allerdings ein gutes Zwischenergebnis. Wir müssen hier 40 Prozent erzielen. Deshalb müssen wir auf diesem Weg weitermachen.
({20})
Die Mittel für den wissenschaftlichen Nachwuchs haben wir seit 1999 um mehr als ein Drittel erhöht. Ich sage
Ihnen ganz klar: Wir reden nicht nur über Begabtenförderung und über die Förderung der Exzellenten. Wir sind die
Bundesregierung, die es tut, die handelt.
({21})
Vorher war davon nichts festzustellen. Über Jahre hinaus
sind auch unter Beteiligung der FDP an der Regierung, liebe
Frau Flach, die Mittel hierfür nicht aufgestockt worden.
Zur Bildung gehört, dass man sich einen Haushalt nicht
nur anschaut, sondern auch die Zahlen lesen kann. Wenn
Sie das tun, dann werden Sie feststellen: Wir haben den
Etat für die Begabtenförderung in unserem Land um
36 Prozent erhöht. Für mich ist das kein Widerspruch. Ich
will, dass alle Kinder und Jugendlichen die besten Bildungschancen erhalten. Dazu gehört, dass ich mich genauso um die Benachteiligten wie um die besonders Begabten kümmere. Das ist das Kennzeichen unserer Politik.
({22})
Wir haben die Leistungsfähigkeit unserer Schulen und
Hochschulen gesteigert, die Hochschulbauförderung aufgestockt, aber zum Beispiel auch Forschungszentren aufgebaut, die Studienbedingungen verbessert und für mehr
Internationalität gesorgt, weil das eine der wichtigen Herausforderungen ist. Endlich kommen wieder mehr Studierende aus anderen Ländern zu uns. Auch in diesem Punkt
bitte ich Sie, die Fakten und Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Bis zum Jahre 2001 ist der Anteil der echten ausländischen Studierenden um 20 Prozent gestiegen. Nach den
neuesten Umfragen können dazu noch einmal 15 Prozent
addiert werden. Das heißt, wir sind auch hier endlich einen Schritt weitergekommen.
({23})
Wenn ich dann höre, liebe Frau Flach, dass Sie einen
Wissenschaftstarif fordern, dann kann ich nur sagen:
Guten Morgen! Ich fordere diesen Wissenschaftstarif seit
drei Jahren.
({24})
Leider muss ich feststellen, dass auch das von der FDPregierte Bundesland Baden-Württemberg, in dem Frau
Schavan Bildungsministerin ist, genau dies bei der Ländertarifgemeinschaft blockiert. So ist das.
({25})
Wir haben eine ganze Menge erreicht. Aber es gibt
noch ungeheuer viel zu tun. Pisa steht für uns in Deutschland nicht mehr nur für einen schiefen Turm, sondern für
ein Bildungssystem mit schwerer Schlagseite. Dem Turm
können wir seine Schieflage getrost überlassen. Aber in
der Bildung müssen wir vieles wieder geraderücken. Unser Schulsystem produziert nicht nur schwache Leistungen. Es ist auch ungerechter als alle anderen Schulsysteme. In keinem vergleichbaren Land entscheidet die
soziale Herkunft so sehr über den Schul- und den Bildungserfolg eines Menschen wie in unserem. Das darf
nicht sein. Das müssen wir gemeinsam ändern. Angesichts dieses alarmierenden Befundes können wir nicht
einfach zur Tagesordnung übergehen. Deutschland darf
sich nicht mit einer Position im OECD-Mittelfeld zufrieden geben. Wir müssen wieder Spitzenwerte erreichen.
Deutschland muss unter die ersten Fünf kommen.
({26})
Die Bundesregierung hat deshalb nicht lange nach Zuständigkeiten gefragt, sondern gehandelt, und zwar schon
vor der PISA-Studie. Ich habe 1999 das Forum „Bildung“
geschaffen und die Vertreter der Länder, Wissenschaftler,
die Sozialpartner und Eltern eingeladen. Nun liegen zwölf
Empfehlungen auf dem Tisch, aus denen hervorgeht, was
wir tun müssen. Jetzt kommt es darauf an, die Konsequenzen zu ziehen und zu handeln. Sie wissen, dass wir
das nur gemeinsam tun können.
({27})
Der entscheidende Punkt ist dabei die Etablierung einer neuen Lehr- und Lernkultur. Wir sind dran und werden auch dranbleiben.
({28})
Wir werden das, was wir in den letzten vier Jahren erfolgreich auf den Weg gebracht haben, fortsetzen; denn ich
will nicht, dass alles, was wir an Zwischenerfolgen und
Erfolgen erreicht haben, wieder zerstört wird.
({29})
Wir brauchen Schulen, in denen unsere Kinder mit
Freude und Neugier lernen, in denen ihr Wissensdurst, vor
dem sie in einem bestimmten Alter nur so sprühen, am
Leben gehalten wird und in denen eine persönliche Atmosphäre und keine Angst vor Selektion und Auslese
herrscht. Kindergärten und Grundschulen bilden die Grundlage für eine gute Bildung und Ausbildung unserer Kinder.
Ihnen müssen wir mehr Aufmerksamkeit widmen. Wir
müssen deshalb auch stärker in unsere Grundschulen investieren.
Wir brauchen Schulen, in die auch die Lehrer und Lehrerinnen gerne gehen und in denen sie mit Motivation bei
der Sache sind. Dafür brauchen sie auch die notwendige
gesellschaftliche Anerkennung, und zwar auch von denjenigen, die politische Verantwortung tragen.
({30})
Wir brauchen Schulen, in denen Lehrer, Eltern und
Schüler vertrauensvoll zusammenarbeiten, in denen die
Einhaltung von Werten und Normen nicht nur in Sonntagsreden gefordert, sondern auch gelebt wird. Wir brauchen Schulen, in denen Leistung gefordert und gefördert
wird. Kinder wollen schließlich etwas leisten. Sie saugen
das Wissen auf wie ein Schwamm das Wasser. Das Wasser müssen sie auch bekommen. Wir brauchen Schulen, in
denen sie Orientierung erhalten, damit sie sich in unserer
Welt, die immer komplexer und komplizierter wird, zurechtfinden.
({31})
Wir brauchen Schulen, in denen Lern- und Kreativphasen einander abwechseln, in denen sich Zeit für die
Kinder genommen wird, in denen ihr Entwicklungsstand
berücksichtigt wird und in denen sie nach ihren jeweiligen Begabungen und Fähigkeiten gefördert werden. Wir
brauchen Schulen, in denen Lehrer und Eltern besser zusammenarbeiten, in denen Lehrer und Schüler aufeinander zugehen und in denen die Vermittlung von Werten und
die richtige Einstellung zum Wissen ein ganz selbstverständlicher Bestandteil dieses Miteinanders sind. Wir
brauchen Schulen, die mitten im Leben stehen und die mit
Partnern, zum Beispiel mit örtlichen Unternehmen, mit
Jugendverbänden und mit den Kirchen, zusammenarbeiten, also Schulen, in denen fachliches und soziales Wissen miteinander verknüpft sind, und zwar nicht nur in der
Theorie, sondern auch in der Praxis.
Das alles lässt sich in einer Ganztagsschule besser
verwirklichen. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulen. Von diesen gibt es bisher noch viel zu wenige in
unserem Land.
({32})
Liebe Frau Kollegin Schavan, gerade solche Aussagen
wie Ihre Aussage, dass der Anteil der Ganztagsschulen in
Baden-Württemberg bei 6 Prozent liege, verärgert viele
Menschen, weil darin zum Beispiel die Zahl der Sonderschulen eingerechnet ist. Diese wird in keinem anderen
Land eingerechnet. Wenn man die Zahl der Sonderschulen herausrechnet, dann stellt man fest, dass der Anteil der
Ganztagsschulen im Bereich der allgemein bildenden
Schulen in Baden-Württemberg nur bei 2 Prozent liegt.
Das ist - ich sage es Ihnen ganz klar - viel zu wenig.
({33})
Deshalb hat die Bundesregierung gesagt: Wir machen
den Ländern ein Angebot. Wir bieten den Ländern an,
dass wir sie beim Aufbau von Ganztagsschulen unterstützen. Wir wissen, dass wir in Ganztagsschulen besser
individuell fördern können - das ist genau das, was notwendig ist -, fachliches und soziales Wissen besser miteinander verknüpfen können, weil wir Kindern und Lehrern
die Zeit geben, Erlerntes auch anzuwenden, selbst zu probieren, Sprachkompetenzen besser fördern und Sprachbarrieren abbauen können.
Lernen braucht Zeit. Lernen braucht auch einen anderen Rhythmus als den 45-Minuten-Rhythmus, bei dem ein
Fach auf das andere folgt. Wir brauchen eine Schule, in der
auch musische Fächer unterrichtet werden, in der Kinder
selbst musizieren und Theater spielen können, in der sich
Phasen von Freizeitgestaltung und Lernen abwechseln.
({34})
Die Länder, die bei der PISA-Studie wirklich gut abgeschnitten haben - nicht nur Finnland, sondern auch zum
Beispiel Kanada -, zeigen uns, wie wir es besser machen
können.
Ich weiß, dass der flächendeckende Aufbau von Ganztagsschulen eine enorme Herausforderung ist, die kein
Bundesland allein bestehen kann. Deshalb haben wir gesagt: Wir unterstützen die Bundesländer dabei.
Es ist völlig klar - ich sage es noch einmal ausdrücklich -, dass diese Schule mehr als ein Ort ist, an dem man
sich aufhält und gemeinsam zu Mittag isst, dass sie mehr
bedeutet als die Verlängerung der üblichen Schulzeit von
fünf auf acht Stunden. Es ist die Chance, wirklich zu einer anderen Schule zu kommen, zu einer Schule, die Lehrenden und Schülerinnen und Schülern ein optimales Umfeld bietet.
({35})
Wir müssen dabei eines ganz bestimmt in stärkerem
Maße erreichen, als es bisher geschehen ist: Unsere Kinder müssen lernen, wie man sich Wissen selbstständig erarbeitet und in Eigenregie anwendet.
({36})
Kinder mit Lernschwierigkeiten müssen die Möglichkeit
haben, etwas nachzuholen, Schwächen auch zu Stärken
werden zu lassen.
Eine Schlüsselrolle spielen dabei ganz bestimmt Lehrerinnen und Lehrer. Deshalb brauchen sie die Unterstützung von uns allen. Deshalb brauchen sie auch Partner.
Gute Leistung soll übrigens nicht nur in der Wirtschaft belohnt werden. Auch die Leistung der Lehrerinnen und
Lehrer sollte honoriert werden. Das ist eine wichtige Entscheidung, die wir treffen müssen.
Wir müssen unseren Schulen dazu auch erheblich mehr
Verantwortung geben und sie vom bürokratischen Ballast
befreien. Ich halte nichts davon, auf die 888. Vorschrift
auch noch eine 889. Vorschrift draufzupacken. Das wird
unsere Schulen nicht besser machen. Sie brauchen mehr
Verantwortung, auch mehr Eigenständigkeit, um das zu
leisten, was wir von ihnen erwarten.
({37})
- Lassen Sie mich das doch sagen.
({38})
Notwendig ist eine nationale Kraftanstrengung. Dabei
geht es im Wesentlichen um vier Punkte:
Erstens brauchen wir die bestmögliche Förderung unserer Kinder durch die flächendeckende Einführung der
Ganztagsschule.
({39})
Unser Angebot steht. Ich wünsche mir, dass die
CDU/CSU-regierten Länder ihre bisherige Blockadehaltung, die sie bei der Vorbereitung der Bund-Länder-Sitzung am Montag an den Tag gelegt haben, aufgeben und
sagen: Ja, wir wollen mitmachen, wir wollen gemeinsam
dafür sorgen, dass unsere Schulen und unser Bildungssystem besser werden.
({40})
Zweitens brauchen wir einen Kern an nationalen Bildungsstandards und eine regelmäßige Bildungsberichterstattung, also regelmäßige Bildungsvergleiche, und zwar
über alle Jahrgänge in allen Schulstufen hinweg. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben zur
heutigen Sitzung einen Antrag vorgelegt, um genau dies zu
schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass
das, worüber wir heute diskutieren, nicht nur Schall und
Rauch ist, sondern dass wir alle gemeinsam - auch Sie in
der Opposition - diesem Antrag zustimmen, damit wir eben
nicht nur diskutieren, sondern eine wichtige Entscheidung
treffen, um zu gewährleisten, dass wir in Zukunft einen
Kern an nationalen Bildungsstandards und regelmäßige
nationale Bildungsvergleiche haben, damit wir nicht weiter auf internationale Untersuchungen angewiesen sind,
um zu erfahren, wo unsere schwerwiegenden Mängel und
Defizite liegen.
({41})
Lassen Sie mich noch eines sagen - Frau Schavan,
auch das gehört zur intellektuellen Redlichkeit -: Den Antrag auf einen länderinternen PISA-Vergleich hat der
Minister Zöllner gestellt, meiner Erinnerung nach SPDMitglied, auch jetzt noch.
({42})
- Ein guter Mann.
Drittens müssen wir dringend die Bund-Länder-Förderung gezielt auf die Behebung der zentralen Defizite
- das heißt, auf die Behebung der Leseschwäche und der
Defizite in der Mathematik - und die Förderung von Benachteiligten fokussieren. Auch dabei üben sich CDU und
CSU zurzeit in Blockade. Ich fordere Sie auf: Geben Sie
diese Blockadehaltung auf!
({43})
Schließlich wollen wir mit der „Stiftung Bildung und
Erziehung“, die der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, gemeinsam mit allen Betroffenen die Neuorientierung unseres Bildungswesens vorantreiben. Entscheidend ist, dass
jetzt gehandelt wird.
({44})
Was geschehen muss, muss rasch und zügig geschehen,
wie es im „Forum Bildung“ bereits im vergangenen Jahr
gefordert wurde. Wir müssen in zehn Jahren in der Bildung wieder innerhalb der ersten fünf Nationen rangieren.
({45})
Liebe Frau Flach, die Vorschläge der Bundesregierung
liegen seit Februar vor. Wir müssen es schaffen, in zehn
Jahren wieder auf einem der ersten Plätze zu liegen, am
besten auf dem ersten Platz, aber mindestens auf dem
fünften. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Deutschland gehört in die internationale Spitzengruppe und nicht
in das untere Mittelfeld. Dafür müssen alle Beteiligten an
einem Strang ziehen. Die Bundesregierung ist dazu bereit
und wir werden sicherlich auch die treibende Kraft bleiben.
Vielen Dank.
({46})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen, der schon am Rednerpult steht,
Dr. Gerhard Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident Gabriel hat einen neuen Stil eingeführt. Er hat
erst zehn Minuten lang polemisiert
({0})
und dann erklärt, das sei ja das Schlimme; die Leute wollten diese Polemik nicht hören.
({1})
Ich erkläre für die CDU/CSU: Wir haben ihn nicht gezwungen, hier politischen Klamauk zu veranstalten.
({2})
Wir mögen es auch nicht, lieber Kollege Tauss, wenn Landesfürsten hier auftauchen, uns belehren und dann wieder
verschwinden. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß.
({3})
Des Weiteren wurde gesagt, wir hätten zusammen mit
der GEW demonstrieren sollen. Ich bin zwar kein grundsätzlicher Gegner von Demonstrationen, aber wir überlegen uns in der Regel, wofür wir demonstrieren. Ich habe einige Texte der GEW gelesen. Darin wird zum einen
gefordert, die PISA-Studie zu lesen; die Ergebnisse seien
schrecklich und peinlich. Zum anderen ist in den Texten
der GEW nach wie vor zu lesen, dass sie sich gegen einen
zu starken Leistungsdruck wehrt und gegen ständige Prüfungen sei.
({4})
Das heißt, da beruft sich jemand einerseits auf das Leistungsprinzip, der sich aber andererseits gegen das Leistungsprinzip ausspricht.
({5})
Mit denen können wir wirklich nicht demonstrieren. Das
verwirrt doch die Menschen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss in der heutigen Debatte gut zuhören, sonst überhört man, dass der
Konsens in der Bildungspolitik in den vergangenen Jahren
eigentlich zugenommen hat. Ich darf das am Beispiel des
Ministerpräsidenten Gabriel erläutern. Er hat uns zwar einiges vorgeworfen, aber gleichzeitig wird seit Monaten in
der Presse darüber berichtet, dass er in Niedersachsen die
Orientierungsstufe abschaffen will.
({7})
Er bewegt sich also in Richtung eines gegliederten Schulsystems. Darüber freuen wir uns. Ich möchte nicht kommentieren, wer sich auf wen zu bewegt, sondern stattdessen betonen, dass der Konsens in der Bildungspolitik
zunimmt.
Es hat wenig Sinn, wenn wir uns sozusagen gegenseitig
Sonntagsreden vorhalten, während wir in der Praxis alle
unsere Sünder haben. Unsere größten Sünder, die sich vielleicht noch durchsetzen werden, sind die Finanzminister
der Länder. Diese haben alle festgestellt - auch die von der
PDS mit regierten Länder -, dass die Schülerzahlen ab
2005 zurückgehen werden und im Schulbereich Kürzungen erfolgen sollen. Also lasst uns mit denen reden, jeder
mit denen von seiner Partei, und uns die Dinge nicht gegenseitig vorwerfen.
({8})
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in
seiner Rede gesagt, dass er stolz darauf sei, was seine
Bundesregierung und insbesondere die entsprechende
Ministerin in Sachen Biotechnologie geschafft hätten.
({9})
- Herr Kollege Tauss, ich habe nie behauptet, dass Sie alles falsch machen. Da ist einiges in die richtige Richtung
bewegt worden. Es ist aber unzulässig, immer nur auf das
Geld zu verweisen.
({10})
Ich empfehle Ihnen, einmal in der „Zeit“ vom 29. Mai
2002 nachzulesen. Da steht drin: „Wir verjagen unsere
Forscher“. Das hat kein Unionspolitiker, sondern der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft gesagt.
({11})
Er gibt zu, Frau Bulmahn, dass Sie ihm Geld geben, zugleich beklagt er sich aber über die vielen Paragraphen.
Deshalb ist die Stimmung in der Forschungslandschaft
gar nicht gut.
({12})
Dann wundern Sie sich, dass Sie wegen der Steigerung
der Ausgaben für Bildung und Forschung um 20 Prozent in den letzten vier Jahren nicht Tag und Nacht gelobt
werden.
({13})
Das hängt damit zusammen, dass Sie vor der Wahl eine
Verdoppelung der Ausgaben angekündigt haben. Nach
der Wahl haben Sie von 1 Milliarde DM jährlich gesprochen. Jetzt kommt heraus: In vier Jahren stieg der Ansatz
um 20 Prozent. Frau Bulmahn, in Bayern schafft keiner
den Hauptschulabschluss, der behauptet, Verdoppelung
sei plus 20 Prozent - wirklich nicht.
({14})
Darauf dürfen Sie doch nicht stolz sein.
({15})
Noch einmal eine Anmerkung zu den Ausführungen von
Ministerpräsident Gabriel, der uns zu meiner Überraschung
vorgeworfen hat - da das ja im Wahlkampf eine Rolle spielen könnte, sage ich dazu noch einmal etwas an dieser
Stelle -, dass wir Studiengebühren einführen wollen.
({16})
Wir diskutieren darüber, Herr Kollege. Bevor aber der Herr
Gabriel uns deswegen kritisiert, sollte er mit seinem Wissenschaftsminister reden. Wir wissen doch alle miteinander, dass sein Wissenschaftsminister ein eindeutiger Befürworter von Studiengebühren auch für das Erststudium ist.
({17})
Da sich Herr Gabriel intern nicht durchsetzen kann, beschimpft er lieber uns. Vielleicht wird er nach der Wahl
verkünden, dass er sie in Niedersachsen einführt.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen noch
einmal: Erstens sind wir uns darüber überhaupt noch nicht
einig und zweitens werden wir, solange die Finanzminister
nicht zusagen, dass das Geld an die Hochschulen geht, keine
Studiengebühren beschließen. Frau Ministerin Schavan, da
sind wir uns einig.
({19})
Auch habe ich der Hochschulrektorenkonferenz geschrieben: Solange die Hochschulrektorenkonferenz keine Studiengebühren fordert, beschließen wir doch keine Zwangsbereicherung. Sonst demonstriert zum Schluss noch ein
Rektor einer Hochschule gegen uns, weil wir ihm Geld zuweisen. Erst müssen die das fordern, dann denken wir
ernsthaft darüber nach.
({20})
Dabei brauchen wir - das wissen wir alle - auch eine soziale Abfederung. Ich garantiere Ihnen - auch in Kenntnis
der internen Diskussion -, dass ich absolut der Meinung
von Frau Schavan und Ihres niedersächsischen Wissenschaftsministers bin, dass wir die Hochschulfinanzierung
umfassend prüfen müssen. Das wird zwar nicht in den
nächsten ein bis zwei Jahren zur Einführung von Studiengebühren führen, aber irgendwann werden wir uns entscheiden müssen.
({21})
Meine Damen und Herren, ich möchte auf die PISAStudie zurückkommen und ein paar Dinge dazu sagen, die
hier noch nicht erwähnt wurden. Zunächst einmal sind wir
uns einig - das wurde hier schon betont -, dass wir Probleme haben, Kinder aus sozial schwachen Familien ausreichend zu fördern. Damit nicht immer nur die Lehrer als
Versager dastehen, möchte ich hier auch einmal festhalten, dass sich die Kinder zunächst einmal in ihrer Familie
befinden. Das heißt, dass es als Erstes Probleme in den
Familien gibt und die Lehrer es nicht schaffen, die in den
Familien vorhandenen Defizite in der Grundschule wieder zu reparieren.
({22})
Wir alle sind doch Sünder. Ich bin berufstätig, meine
Frau ist berufstätig. Wir haben kaum eine Chance, die
Kinder zu kontrollieren, wenn sie stundenlang am Computer spielen oder fernsehen. Wenn wir sie dann in die
Schule schicken, haben die Lehrer Probleme. Vor diesem Hintergrund dürfen wir doch nicht nur die Lehrer
beschimpfen. Da ist doch einiges in den Familien nicht
in Ordnung.
({23})
Herr Ministerpräsident Gabriel hat uns vorgeworfen
- das passt gut zu dem, was ich noch sagen wollte -, dass
wir im Wahlkampf eventuell - das ist nicht meine Entscheidung - über das Zuwanderungsrecht reden werden.
Das hat insofern etwas mit PISA zu tun, als viele Migranten- und Flüchtlingsfamilien zu den einkommensschwachen, bildungsfernen Haushalten gehören. Ich kann mich
noch daran erinnern, dass mein Freund Beckstein, der
künftige Bundesinnenminister,
({24})
Dr. Gerhard Friedrich ({25})
einmal wüst beschimpft worden ist, als er in einer Einwanderungsdebatte gesagt hat: Wer eingebürgert werden
will, der muss erst einmal Deutsch können.
({26})
Der Gedanke, dass Integration Teil des Ausländerrechts
sein muss, ist inzwischen Allgemeingut; Sie haben diesen
Gedanken übernommen.
({27})
Zur Integration gehört zumindest die Beherrschung der
deutschen Sprache.
Neulich war ich beim BDI. Dort musste ich über das
Zuwanderungsrecht diskutieren. In § 45 Ihres Zuwanderungsgesetzes steht, dass sich, wer eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung erhalten möchte, entweder
einfach in deutscher Sprache verständigen können oder an
einem Integrationskurs teilnehmen muss.
({28})
Was ist, wenn eine Verwaltung feststellt, dass es einen
Ausländer gibt, der weder freiwillig die deutsche Sprache
lernt noch einen Integrationskurs besucht? Wissen Sie,
worin die „schreckliche“ Sanktion besteht, die Sie und
nicht wir beschlossen haben? Dieser Ausländer wird erst
über die Folgen der Nichtteilnahme an einem Integrationskurs belehrt, dann wird er heimgeschickt und seine
Aufenthaltsgenehmigung wird verlängert. Er wird weiterhin dafür sorgen, dass seine Familie, seine Frau und
seine Kinder, von der westlichen Zivilisation abgeschirmt
werden.
({29})
Es gibt Fundamentalisten, die über diesen Staat lachen,
wenn Sie solche Vorschriften beschließen.
({30})
Sie erzwingen Integration nicht, sondern Sie betteln darum. Wenn Integration nicht stattfindet, wenn ein Ausländer also nicht an Sprachkursen teilnimmt, dann unternehmen Sie nichts außer einem Beratungsgespräch.
Uns ist vorgeworfen worden - ich spreche jetzt einmal
kurz als Bayer -, dass unsere Abiturientenquote zu niedrig ist. Dem stimme ich zu.
({31})
Bei mir in Erlangen ist die Abiturientenquote allerdings
zu hoch; da will jeder seine Kinder aufs Gymnasium
schicken. Aber es gibt einige Regionen - Niederbayern,
Oberpfalz -, wo man - das könnte ich mir vorstellen - mit
Bildungswerbung mehr junge Menschen zum Abitur
führen könnte.
({32})
- Moment einmal.
Wir stellen gemeinsam fest, dass die Anforderungen
der Wirtschaft an die Arbeitskräfte steigen; deshalb brauchen wir eher mehr Abiturienten als weniger. Gleichwohl
bin ich nicht bereit, dem Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen in diesem Punkt zuzustimmen. Denn erstens hat Ministerpräsident Gabriel gesagt:
Wir brauchen zweierlei, mehr Menge und mehr Qualität.
In Ihrem Antrag ist aber nur von mehr Menge die Rede.
({33})
- Wenn Sie „mehr Qualität“ vergessen haben, dann
schreiben Sie es einfach noch hinein!
Zweitens. Sie geben das Ziel einer Abiturientenquote
von mindestens 40 Prozent vor. Es gibt Länder, die auf
eine Abiturientenquote von 44 Prozent oder 45 Prozent
stolz sind. Ich möchte einmal wissen - eine Untersuchung
darüber würde mich interessieren -, wie viele dieser Studenten ihr Studium abbrechen.
({34})
Die Abbrecherquote bei uns liegt bei bis zu 50 Prozent. Es
hat also keinen Sinn, Abiturientinnen und Abiturienten zu
produzieren, die das Studium nicht schaffen, Herr Kollege
Tauss.
({35})
Noch einmal: Im Prinzip ist es besser, wenn es in Zukunft mehr Studierende als bisher gibt. Es sollte aber
keine rein quantitativen Vorgaben geben. Wir sind nicht
bereit, die Menge zulasten der Qualität zu steigern.
({36})
Wie kommen die hohen Abiturientenquoten zustande?
Viele Länder, vor allem SPD-regierte Länder, haben noch
nicht einmal eine zentrale Abiturprüfung eingeführt.
Wissen Sie, was das im Bereich des Fußballs bedeuten
würde? Der Trainer stellt am Ende des Fußballspiels fest,
ob seine Mannschaft das Spiel gewonnen hat.
({37})
- Ja, sicher. - Die Lehrer sind die Trainer. Viele SPD-regierte Länder lassen es zu, dass diese Trainer entscheiden,
ob der Schüler einen erfolgreichen Unterricht genossen
hat. Natürlich kommen sie dann zu dem Ergebnis, dass sie
einen guten Unterricht gemacht haben.
Wir brauchen nicht nur internationale Tests. Als Erstes
brauchen wir - Beispiel Nordrhein-Westfalen - ein zentrales Abitur.
({38})
Dann wollen wir einmal sehen, wie sich die Abiturientenquote und die Quote der Studienabbrecher entwickeln.
Man darf es sich nicht zu einfach machen.
Wir sind uns darin einig - ich finde die entsprechende
Formulierung im Antrag der Koalitionsfraktionen gut -,
dass wir im Hinblick auf die Defizite vor allem bei Kindern aus sozial schwachen Familien Nachmittagsunterricht - ich würde sagen: Ganztagsschulen - brauchen.
Davon gibt es zu wenige. Auch in diesem Punkt sind wir
Dr. Gerhard Friedrich ({39})
uns einig. Wenn Sie allerdings meine Söhne fragen würden, ob sie Ganztagsunterricht wollen, bekämen Sie wirklich Ärger, weil sie diesen Ganztagsunterricht nicht brauchen.
Es gibt aber Familien, in denen die Frau und der Mann
arbeiten und in denen die Kinder noch jünger sind. Für
diese Kinder muss es eine Betreuung am Nachmittag geben. Deshalb brauchen wir neben Ganztagsschulen - wie
es in Ihrem Antrag steht - auch Ganztagsbetreuung, die
sich an der Nachfrage orientiert. Ich bin dafür, dass man
sehr klar unterscheidet: Zum einen geht es um Bildungspolitik und zum anderen geht es um Familienpolitik.
Wir sind uns aber nicht in dem Vorschlag des Bundeskanzlers einig, Frau Bulmahn, auf die Schnelle 4 Milliarden Euro lockerzumachen.
({40})
- Abwarten! - Ministerpräsident Gabriel hat hier gesagt,
er verstehe nicht, dass einige unionsregierte Länder dieses Geld nicht annehmen wollen.
({41})
Es war aber gerade Ministerpräsident Gabriel, der in der
Ministerpräsidentenkonferenz mit beschlossen hat, die
Mischfinanzierung in Deutschland zu reduzieren und
abzuschaffen.
({42})
Jetzt will er das Gegenteil.
({43})
Er will nämlich eine Mischfinanzierung, die außerhalb
des Grundgesetzes angesiedelt ist. Das ist ja noch toller.
Ich weiß, dass dieses Problem die Menschen nicht interessiert. Aber verfassungsrechtlich handelt es sich um
eine höchst problematische Angelegenheit. Ich bin dagegen, ständig neue Tatbestände der Mischfinanzierung einzuführen. Zum Schluss wissen wir in Bayern nicht mehr,
wessen Schuld es ist, wenn die Tests negativ ausfallen:
({44})
Frau Bulmahns oder Frau Hohlmeiers. Ich möchte, dass
es, wie es in einer Demokratie üblich ist, eine klare Zuweisung von Verantwortung gibt. Dann haben die Wählerinnen
und Wähler die Möglichkeit, denjenigen zu bestrafen, der
Mist baut. Aber Sie verwischen mit Ihrem Vorschlag die
Verantwortung.
({45})
Natürlich hat Frau Bulmahn einen Hintergedanken
nach dem Motto „Wer zahlt, bestimmt auch, was angeschafft wird“. Frau Bulmahn, Sie sind nicht die Oberbildungsministerin und haben keine Aufsicht über die Länder. Jetzt wollen Sie sich Mitsprache durch Geld erkaufen.
Die Länder müssen selber entscheiden - das ist nicht
meine Sache -, ob Sie sich mit diesem Trick einkaufen
können. Ich wüsste mehrere Möglichkeiten, wie der Bund
anderweitig Geld sinnvoll ausgeben kann.
Bei dem Thema Schule fällt mir ein, dass der Bund für
Schulen im Ausland zuständig ist. Was machen aber der
Bundesfinanzminister und der Bundesaußenminister? Sie
kürzen die Mittel für die Auslandsschulen.
({46})
Trotzdem hält die Frau Ministerin eine Rede über die Internationalisierung des Bildungswesens und der Hochschulen. Machen Sie doch erst einmal Ihre Hausaufgaben!
({47})
Mir tut der Bundesfinanzminister Leid, weil er angesichts der Haushaltslöcher nicht mehr weiß, wo er zuerst
kürzen soll.
({48})
Anschließend muss er für eine Wahlkampfaktion jährlich
1 Milliarde Euro bereitstellen. Das ist nicht solide. Die
Länder müssen entscheiden, ob sie dieses Geld annehmen.
In der Sache sind wir uns einig - das muss festgehalten
werden -: Wir brauchen mehr Ganztagsschulen für die
Leistungsschwachen,
({49})
deren Anteil bei uns leider 25 Prozent beträgt. Wir brauchen die Ganztagsbetreuung aus familienpolitischen
Gründen.
({50})
Wir sind dafür, dass jeder seine Hausaufgaben macht. Für
das, was ich gerade erwähnt habe, sind die Länder zuständig. Frau Bulmahn soll endlich mehr Geld für die
Genomforschung, für Exzellenzzentren an den Hochschulen und für den Hochschulbau bereitstellen.
({51})
Auch auf diese Art und Weise würden die Länder entlastet.
({52})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eine letzte
Anmerkung zu einem Thema, von dem ich meine, dass
darüber ernsthaft verhandelt werden muss, obwohl es in
dieser Hinsicht auch wieder einige Hintergedanken gibt.
Wenn ich versuche, mich über die Verhältnisse in den
Ländern im Hinblick auf die Schulen zu unterrichten,
dann habe ich erhebliche Probleme, an wirklich vernünftige vergleichende Statistiken heranzukommen.
({53})
Das müssen wir ändern.
Wenn wir am 27. Juni die Ergebnisse der nationalen
Ergänzungsstudie zu PISA erhalten, dann werden wir darüber diskutieren, welche Länder besser sind. In NordDr. Gerhard Friedrich ({54})
rhein-Westfalen gibt es sowohl Gymnasien als auch Gesamtschulen; wir werden feststellen, wer dort besser ist.
({55})
Um das zu untersuchen, benötigen wir Vergleichsdaten.
Sie sind nicht ausreichend vorhanden. Ich meine nicht
- gemeinsam mit Frau Ministerin Schavan -, dass wir
dafür unbedingt einen Bundessachverständigenrat und
einen Bundesbildungsbericht brauchen, in dem Frau
Bulmahn die Länder wie ein Oberlehrer zensiert und
darüber belehrt, was sie alles richtig und falsch machen.
({56})
Ich unterstütze den Koalitionsantrag, wenn auch mit
einer großen Einschränkung: Die Kultusminister der Länder werden dringend gebeten, vergleichbare Daten zu besorgen und sie zusammenzuführen, auch mit den Daten
des Bundes. Wir bitten die Kultusminister der Länder
dringend - die unionsgeführten Länder machen das ohnehin -: Beteiligen Sie sich weiter an solchen Vergleichstests. Wir sind für den Wettbewerb der Schulsysteme der
Länder. Wettbewerb hat aber nur einen Sinn, wenn im
Ergebnis eine Qualitätskontrolle stattfindet. Eine solche
Kontrolle haben wir seit wenigen Jahren. Es ist kein Wunder: Die Daten und die Unterlagen sind so eindeutig, dass
der Konsens zunimmt. Wir bitten nicht nur um die Beibehaltung des Wettbewerbs, sondern auch um die Beibehaltung von Qualitätskontrolle, für die Sie sich einsetzen,
Frau Schavan. Kultusminister, die dabei schlecht abschneiden, werden entweder zurücktreten oder ihre Schulpolitik
ändern müssen.
Vielen Dank.
({57})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin froh darüber, dass zum ersten Mal im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum Thema
Bildung abgegeben wurde;
({0})
denn ich glaube, dabei geht es nicht, wie ein Ministerpräsident heute morgen gesagt hat, um eine Schauveranstaltung oder um Wahlgeschenke, sondern um eine Notwendigkeit.
Herr Friedrich hat gerade davon gesprochen, der Konsens in der Bildungspolitik nehme zu. Angesichts der
Auseinandersetzungen, die heute stattgefunden haben und
stattfinden, glaube ich, dass der Streit im Sinne eines Wettbewerbs um die besten Vorschläge nicht das Schlechteste
ist und wir nicht die Konsenssoße darüber kippen sollten.
Ich will am Anfang meines Beitrages etwas ansprechen, worüber in dieser Debatte noch nicht geredet worden ist und was nicht nachkleckern bedeuten soll. Wenn
wir über Bildung und lebenslanges Lernen sprechen, dann
müssen wir zuallererst über die Familien und über Eltern
sprechen - nicht deshalb, weil die Politik Eltern irgendetwas vorschreiben sollte, sondern weil Erziehung und Bildung zuerst in der Verantwortung der Eltern liegen. Die
meisten Eltern wollen diese Verantwortung auch wahrnehmen. Ich sage das auch, weil ich finde, dass wir viel von
dem, was in den Familien und in der Gesellschaft nicht
funktioniert, auf Schule und Kindergarten abschieben. Ja,
wir brauchen verantwortungsbewusste Eltern, denn die
Vermittlung von Werten und vielleicht auch von Tugenden kann in Kindergarten und Schule zwar verstärkt werden, zuerst aber ist sie zu Hause gefragt. Ich halte es jedenfalls für dramatisch, wenn Kinder erst bei einer
Klassenfahrt lernen, dass es vielleicht Sinn macht, gemeinsam mit dem Essen zu beginnen, und dass man sich
nicht drei Stück Kuchen auflädt, wenn der Kuchen dann
nicht für alle reicht.
Ja, wir brauchen Eltern, die Kindern Märchen vorlesen, im Kreis der Familie reden, erklären und lachen, statt
im Halbkreis vor dem Fernseher zu schweigen.
Dafür, dass Eltern Zeit und Nerven dafür haben, ist
dann aber auch die Politik verantwortlich;
({1})
denn den Familien wird Zeit geklaut, wo sie mühsam Kinderbetreuung, Nachhilfeunterricht oder die Fahrt zur Musikschule organisieren.
Da sind wir dann, Frau Schavan, auch schon bei der
wirklichen Situation im Ländle, die Sie hier ein bisschen
zu bemänteln versucht haben.
({2})
Denn alles das, was Sie hier gesagt haben, klingt zwar
ganz gut; was Sie in Baden-Württemberg tun, ist aber
leider etwas anderes. Wenn man die Eltern dort fragt, dann
erfährt man vor allem eines: dass Eltern das Gefühl haben,
dass Sie die Situation der Familien im Land nicht verstanden haben, dass Sie nicht verstanden haben, wie es
den Familien geht, wie es vor allem den Müttern geht. Ihre
Statistik mit drei mehr von mehreren Tausend Schulen
- Frau Bulmahn hat darauf hingewiesen - bezieht die
Sonderschulen mit ein. Das ist eine Bilanz, die ich für eine
Bildungsministerin, die mehr als eine Wahlperiode im
Amt ist, wirklich nicht für besonders vorzeigbar halte.
({3})
Reden ja, kann man dazu sagen, Handlungskompetenz
leider Fehlanzeige.
Wenn Sie über die so genannte verlässliche Halbtagsgrundschule reden, dann meinen Sie Betreuung vor und
nach der Schule, jedenfalls dort, wo die Kommunen zahlen oder zahlen können; nach Bedarf, sagen Sie. Sie können sich wohl nicht vorstellen, was es für Mütter heißt,
wenn der Spross um 11 Uhr vor der Tür steht und nicht
einmal ein Teilzeitjob drin ist. Das ist weder fortschrittliche Bildungspolitik noch ist es zeitgemäße Familienpolitik. Am Ende leiden vor allem die Kinder darunter, deren Eltern darauf angewiesen sind, dass beide arbeiten,
und die sich dann selbst überlassen bleiben.
({4})
Dr. Gerhard Friedrich ({5})
Was die Kinderbetreuung vor der Schulzeit angeht,
da müssen wir in der Tabelle schon ganz unten nachsehen,
wenn wir Baden-Württemberg finden wollen. Bei der
WM wären Sie mit dieser Bilanz wahrscheinlich schon in
der Vorrunde ausgeschieden.
({6})
Im Gegensatz dazu sagen wir, die rot-grüne Bundesregierung, klar: Wir brauchen eine Initiative für mehr Kinderbetreuung, was nicht Zwangsbeglückung ist, sondern
mit einem ganz zentralen Defizit unseres Bildungssystems zu tun hat. Die Tatsache, dass Kinder, Migrantenkinder, aber auch Kinder deutscher Herkunft, die deutsche
Sprache nicht beherrschen, wenn sie in die Schule kommen, muss doch Folgen haben. Das kann nun wirklich
nicht mit Kompetenzgerangel und Zuständigkeiten erklärt
werden. Natürlich sind Bildung und Erziehung nationale
Aufgaben. Das Defizit kann auch nicht mit einem Familiengeld behoben werden, das an dieser Situation überhaupt nichts ändert. Es gibt keine Chancengleichheit in
diesem Land. Das müssen wir ändern und Rot-Grün wird
das ändern.
({7})
Wir wollen, dass in Deutschland auch die Kinder eine
Chance haben, die nicht in den heimischen Bücherschrank greifen können. Wir wollen, dass die Zukunft von
Kindern nicht am Geldbeutel oder am Bildungsstand der
Eltern hängt.
Dazu gehört es, dass Schulen frei und kreativ sein können, Schulen, in denen man Lernen, Rechnen und Schreiben lernt und vielleicht auch, mit 24 anderen Kindern den
gleichen Ton auf der Flöte zu finden.
({8})
Unsere Schulen müssen ihr Personal selbst aussuchen
können und über ihre Mittel verfügen können.
Schulautonomie in Baden-Württemberg - leider auch
Fehlanzeige. Im Gegenteil, die Schulen, die wirklich autonom sind, die freien Schulen, haben trotz vieler Versprechen so wenig Unterstützung bekommen wie in keinem anderen westlichen Flächenland. Ich finde, auch das
ist eine richtig schlechte Bilanz. In Berlin hat die PDS sogar dafür gesorgt, dass hier Kürzungen vorgenommen
worden sind.
({9})
Das ist aus meiner Sicht sozialer Kahlschlag à la PDS,
weil hier nämlich Eltern der Geldbeutel aufgemacht wird,
die wirklich nichts zuzusetzen haben.
({10})
Gestern gab es in Berlin Demonstrationen von Lehrerinnen und Lehrern. Ich halte mich mit der Kritik an
Lehrerinnen und Lehrern und dem Wunsch nach mehr Engagement, mehr Bereitschaft zur Fortbildung und zu
neuen Ideen wirklich nicht zurück, gerade angesichts der
Schulsituation in Ostdeutschland. Was aber nicht geht, ist,
dass wir die Defizite der Politik auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer austragen, dass wir sie - das ist zum
Teil im wortwörtlichen Sinn gemeint - im Regen stehen
lassen, weil die Turnhalle undicht ist, die Landkarten veraltet sind, immer mehr Ausfallstunden zusammenkommen und Lehrermangel die Arbeit maßlos erschwert.
({11})
Wann sollen denn die Lehrerinnen und Lehrer ein Ohr für
die Probleme und Nöte der Kinder und Zeit für die Zusammenarbeit mit den Eltern haben? In Thüringen haben
Grundschüler häufig drei Klassenlehrerinnen, weil alle
Teilzeit arbeiten. Ich weiß nicht, wie da ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Auch das ist Bildungspolitik der Union.
Noch ein Wort zur FDP: Im Koalitionsvertrag von
Sachsen-Anhalt ist zu lesen, dass man dafür sorgen sollte,
dass in den Schulen sehr früh zensiert wird. Leistung heißt
das dann. Prima! Das wird den Kindern richtig weiterhelfen. Dann wissen sie gleich, wer von Anfang an aussortiert wird, weil er nach Meinung der FDP nicht zu den
Leistungsträgern gehört.
({12})
Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Das, was
Sie hier vorschlagen und was Ihre Frontfrau, Cornelia
Pieper, die ja nun leider nicht Bildungsministerin werden
wollte, auf den Weg gebracht hat,
({13})
ist nicht Steinzeit-, sondern sogar Eiszeitpolitik.
({14})
Machen wir uns doch einfach einmal die Mühe, keine
Erwachsenenmaßstäbe anzulegen, sondern das zu tun,
was Kindern wirklich gut tut und wichtig für sie ist. Jahrelang war die Bildungspolitik ein Stiefkind der Bundesregierung. Der Rotstift war nicht zum Korrigieren der
Fehler, sondern zum Streichen der Mittel da.
Wie keine andere Regierung vorher haben wir die Familien unterstützt.
({15})
Wir haben den Bildungsetat erhöht. Aber das ist nicht genug. Wir werden den größten Notstand, die fehlende Kinderbetreuung und die fehlenden Ganztagsschulen, beseitigen. Die Haushaltslage ist schwer. Trotzdem werden wir
in den nächsten Jahren die dafür notwendigen 4 Milliarden Euro aufbringen.
Es ist eben so, dass Kinder soziale Kompetenz nicht
mehr allein in den Familien lernen. Denn es gibt keine
Großfamilien und oft auch keine Geschwisterkinder mehr.
Deswegen sind der Kindergarten und die Ganztagsschule
kein Notnagel, sondern von ganz zentraler Bedeutung für
die Entwicklung des Kindes.
({16})
Ich komme zum Schluss. Natürlich wünsche ich mir,
dass Eltern sehr viel mehr Zeit für ihre Kinder haben. Ich
möchte, dass die Kinder türkischer Migranten und ihre
deutschen Banknachbarn beides kennen: die Märchen der
Gebrüder Grimm und die von Nasreddin Hodscha, Rotkäppchen und Ali Baba. Ich bestehe darauf, dass Fünfjährige Reime kennen und nicht „Teletubbisprech“. Genau dafür - denn wir wissen, wie schön es ist, auf dem
Sofa zu sitzen und „Nils Holgersson“ oder „Die Rote
Zora“ vorzulesen - müssen wir als Politiker sorgen, indem wir Rahmenbedingungen schaffen, aufgrund deren
das wirklich möglich ist, und indem wir Rahmenbedingungen für die Kinder schaffen, die diese Aufmerksamkeit zu Hause nicht bekommen. Dies sollten wir ihnen in
qualitativ hochwertigen Kinderbetreuungseinrichtungen
und Schulen ermöglichen.
({17})
Sie können zwar so tun, als ob Sie das nichts angehe.
Aber die Bürgerinnen und Bürger werden am 22. September auch darüber entscheiden, ob sie in der Bildungspolitik einen Steinbruch bzw. einen Abbau
({18})
oder ob sie eine Politik der Zukunft wollen, womit diese
Bundesregierung begonnen hat.
Vielen Dank.
({19})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In der letzten Runde dieser
Debatte möchte ich drei Themen ansprechen. Nach der
PISA-Studie haben wir uns gefragt: Was sollten wir eigentlich an unseren Schulen tun? Was leisten sie und was
leisten sie nicht? Um es so zu beantworten: Es gibt keine
Allmachtspädagogik.
Die Kollegin von den Grünen hat mir freundlicherweise die Gelegenheit gegeben, meine Rede gut einzuleiten, indem sie auf Märchen verwiesen hat. Ich möchte
meine Kolleginnen und Kollegen an eines erinnern: an
das Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Als
man den sieben Geißlein beigebracht hatte, auf eine tiefe
Stimme und eine schwarze Pfote zu achten, hat der Wolf
Kreide gefressen und Mehl über die Pfote gestreut. Wir
werden also an den Schulen mit „Stoffhuberei“, mit immer neuen Fächern, nichts zustande bekommen, wenn wir
nicht zum Kern des Themas durchstoßen.
({0})
Der Journalist Konrad Adam hat das einmal sehr schön
beschrieben: gegen die Verkehrsprobleme Verkehrskunde, gegen die übrigen Verkehrsprobleme Sexualkunde, gegen die Drogenmafia Drogenkunde, gegen die
Versuche, die Verbraucher hinter die Fichte zu führen,
Verbraucherkunde! - Eine solche „Stoffhuberei“ führt uns
nicht weiter. Wir müssen im Deutschen Bundestag über
den Kern der Erziehung sprechen und darauf will ich hinaus.
({1})
Ministerpräsident Gabriel hat einen Teil seiner Rede
auf etwas verwendet, von dem er hinterher gesagt hat, das
interessiere gar keinen.
({2})
Wo er Recht hat, hat er Recht. Im Übrigen sind es die Menschen leid, als Konsequenz aus der PISA-Studie in einer
öffentlichen Debatte nur Vergleiche von Zahlen zwischen
Ländern zu hören. Das hilft uns überhaupt nicht weiter,
auch wenn es im legitimen politischen Interesse liegt,
seine Leistungen darzustellen.
({3})
Mit diesen Zahlenvergleichen ist aber zugleich auf ein
Problem im deutschen Bildungswesen hingewiesen worden: Es gibt keine Bildungslaufbahn, die so organisiert
werden könnte, dass sie automatisch, mit Sicherheitsgarantie, in eine vorgezeichnete Berufslaufbahn mündet. Eine
der Perversionen des deutschen Bildungswesens ist das
Denken in Semesterwochenstunden, Lerneinheiten und
Curricularrichtwerten. Die Verdienstrechtlichung des deutschen Schul- und Hochschulbetriebes, die fehlende Autonomie, ist das Übel in der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Der Bundeskanzler hat gesagt, Bildung umfasse Werte,
Normen und Haltungen. Das ist völlig richtig; große
Pädagogen haben schon immer gesagt, dass es an der
Schule nicht nur um Wissen geht, sondern ebenso um
Charakter und Haltung. Aber in der Geschichte der bildungspolitischen Diskussionen in Deutschland hat der
Herr Bundeskanzler einen vergessen, nämlich den, der der
ganzen Nation gesagt hat, das seien kleine Sekundärtugenden, so als ob man sie nicht bräuchte. Heute lernen wir
aufgrund dramatischer Ereignisse, dass genau diese zivilen Tugenden den Kern von Bildung und Erziehung ausmachen.
({5})
Es geht hier im Übrigen nicht nur um die Schule. Meines Erachtens ist in dieser Debatte zu kurz gekommen, dass
das Kind nicht erst in dem Moment beginnt, die Schlüsselqualifikationen im Bereich Bildung und Erziehung zu erwerben, nämlich Haltung, Bereitschaft zusammenzuarbeiten, der Versuch, etwas Großes zu erreichen und sich eine
Lernkultur anzueignen, in dem es die Schultüte in der
Hand hält und die Schule betritt. Die Haltung eines Menschen beginnt sich schon sehr früh in der Biographie abzuzeichnen, meist schon, bevor er einen Klassenraum betritt. Deshalb ist als Konsequenz aus der PISA-Studie nicht
nur ein Qualitätsvergleich deutscher Schulen herzustellen.
Es geht auch nicht nur um Veränderungen in der LehrerKatrin Göring-Eckardt
bildung. Der Kern muss vielmehr die erzieherische Qualität deutscher Familien gegenüber ihren eigenen Kindern
sein.
({6})
Wenn hier versagt wird, sind alle pädagogischen Bemühungen, auch alle späteren Management-Seminare und
Hochschulstudiengänge zur Erfolglosigkeit verdammt.
Wenn es eine nationale Anstrengung geben muss, Frau
Bundesbildungsministerin, dann nicht nur in Bezug auf
die Qualität der Schulen und nicht nur über eine bildungspolitische Debatte über Schlüsselqualifikationen.
Wir brauchen vielmehr eine stärkere Haltung zum klaren
erzieherischen Auftrag der Familie.
Ich erinnere mich an bildungspolitische Diskussionen,
bei denen erzieherische Aufträge nahezu als repressive
Maßnahmen gegenüber Kindern verstanden worden sind.
Das muss in einer solchen Debatte auch gesagt werden.
({7})
Ich komme zu dem dritten Kernpunkt: Alle haben gesagt, die Fülle der Begabungen müsse gefördert werden,
schwächere wie stärkere. Wenn man die Fülle der Begabungen individuell fördern will, dann kommt man nicht
umhin, nach Begabungen zu trennen,
({8})
neben anderen auch gegliederte Schulsysteme anzubieten und in allen Bundesländern den Eltern die Entscheidung zu überbelassen, welche Schulform sie für ihr Kind
bevorzugen. Es muss Wahlmöglichkeiten geben.
({9})
Wenn man fördern will, dann muss eine Auswahl bestehen.
({10})
Der Charakter einer freiheitlichen Gesellschaft zeigt sich
auch in der Fähigkeit, mit besonders Begabten umzugehen und es nicht zum sozialen Konfliktpunkt zu erklären,
wenn man sich neben der Förderung von Lernschwächeren auch ihnen zuwendet.
({11})
Auch sie haben einen Anspruch darauf.
Es ist gesagt worden, wir bräuchten eine nationale
Kraftanstrengung. Ja, die Freie Demokratische Partei und
die Fraktion sind dazu gern bereit. Aber wohin soll der
Weg einer nationalen Kraftanstrengung gehen?
({12})
Er wird nicht weiter in eine Verdienstrechtlichung des
Schul- und Hochschulbetriebes führen können, dieser
Weg muss beendet werden.
({13})
Er wird zur Qualitätsverbesserung von Schulen führen müssen. Dabei darf die Fragestellung aber nicht nur auf die Lehrer ausgerichtet sein. Eine Schule kann nur so erfolgreich
sein, wie es die familiären Erziehungskomponenten sind.
({14})
Deshalb ist auch das Ganztagsschulangebot nicht die
Lösung aller Probleme. Aus meiner Sicht muss es eine Angebotsschule sein. Wenn sich Familien dafür entscheiden,
ihr Kind in eine andere Schule zu schicken, weil sie sich
im übrigen Tagesverlauf ihren Kindern selbst zuwenden
wollen, muss auch dieses Lebensmodell möglich sein.
({15})
Deshalb ist die Ganztagsschule für uns ein Angebot.
Sie kann einen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten,
die wir der PISA-Studie entnehmen. Ich habe aber schon
wieder das Gefühl, dass die Bundesregierung den Ländern 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen will und damit meint, die gröbsten Konsequenzen aus der PISA-Studie gezogen zu haben. Das stimmt überhaupt nicht. Es
kommt nicht auf die schulische Hülle an, sondern auf die
Qualität derer, die Schulen besuchen und an Schulen unterrichten.
Das wollte ich zu diesem Stand der Debatte sagen.
({16})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Maritta Böttcher. Sie spricht für die
Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte drei Probleme aufgreifen.
Erstens. Föderalismus wird in Deutschland wie ein Zauberwort gehandelt. Ich will aber deutlich sagen: Natürlich
gibt es die Kulturhoheit der Länder, aber sie muss auch
entsprechend wahrgenommen werden. Es muss endlich
mit der provinziellen Bildungspolitik Schluss sein. Wer
integrieren will, muss Benachteiligte und die Besten fördern. Beides ist ein Gebot von sozialer Gerechtigkeit.
({0})
Zweitens. Innovation im Bildungswesen ist ohne die
Partizipation der am Bildungssystem Beteiligten nicht
zu machen. Deshalb fordert die PDS eine wirksame Mitbestimmung von Lehrenden, Lernenden und Eltern über
die Bildungsinhalte, die Organisation von Bildungsprozessen und über die Ziele und Instrumente von Bildungsreformen. Die Entwicklung eines Kindergartens, einer
Schule, einer Universität oder meinetwegen auch einer
Volkshochschule von unten ist ein Beitrag sowohl zur Optimierung des Bildungsprozesses als auch zur Demokratisierung der Gesellschaft.
({1})
Drittens. Die Gebührenfreiheit des Studiums ist eine
wichtige sozialstaatliche Errungenschaft dieses Landes,
die wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollten und dürfen. In Nordrhein-Westfalen und anderswo wehren sich
Studierende gegen die Pläne, Studiengebühren einzuführen. Das ist eine klare Antwort nicht nur auf die Gebührenpläne der Landesregierungen, sondern auch auf die
Politik der Bundesregierung.
Warum sollen ausgerechnet die Studierenden die Haushaltslöcher füllen, die durch die falsche Steuerpolitik der
Bundesregierung in den Landeskassen entstanden sind?
({2})
Wir wollen Chancengleichheit statt Haushaltsausgleich.
Wer ein Haushaltsloch gräbt, soll selbst hineinfallen,
stand auf den Plakaten. Dem kann ich nur zustimmen.
({3})
Wer im Bund die Gewinne großer Unternehmen und
hohe private Vermögen von der Finanzierung gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben befreit und dafür die Studierenden zur Kasse bittet, muss sich über die Reaktionen
nicht wundern. Im Übrigen gibt es in diesem Haus eine
ganze Reihe von Langzeitstudierenden, die keinen Pfennig Strafgebühr bezahlt haben, aber das nur am Rande.
Soziale Gerechtigkeit gebietet die Wiedereinführung
der Vermögensteuer und die Rücknahme der Unternehmensteuerreform. Der Hochschulzugang darf nicht wieder
zum Privileg der Reichen werden. Die PDS bleibt dabei:
Wir werden uns weiterhin für ein wasserdichtes Gebührenverbot stark machen, das keine Ausnahmen zulässt.
({4})
Wir sagen ja zur Innovation in Bildung und Wissenschaft und durch Bildung und Wissenschaft. Wir meinen
aber ausdrücklich Innovation durch Chancengleichheit
und Demokratie.
Abschließend gestatten Sie mir eine kleine Anmerkung. In der heutigen „Berliner Morgenpost“ gab es einen
kleinen Beweis dafür, wie gut polytechnische Bildung
und Erziehung sein können: Die PDS sägt schneller als
die CDU. Anders ausgedrückt: Pau war beim Sägen besser als Merz.
Danke schön.
({5})
Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Jörg
Tauss von der SPD das Wort.
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Böttcher, das mit dem Sägen wundert mich bei
Herrn Merz nicht.
Herr Gerhardt, ich muss Ihnen ehrlich sagen, Ihre Rede
war die peinlichste bildungspolitische Rede, die ich in den
letzten Jahren gehört habe.
({0})
Wenn wir aus den schlechten Ergebnissen der PISA-Studie nichts lernen wollen, dann müssen wir genau den
Konzepten folgen, die Sie hier vorgetragen haben. Alle
Länder, die vor uns liegen, haben erkannt, dass es nicht
darauf ankommt, im frühen Kindesalter zu selektieren
und nach sozialer Herkunft zu unterscheiden,
({1})
sondern darauf, alle Kinder gemeinsam zu fördern. Das,
was Sie hier erzählt haben, ist wirklich von vorgestern.
({2})
Aus diesem Grund lohnt es sich auch nicht, weiter darauf
einzugehen.
Liebe Frau Schavan, ich habe Ihnen außerordentlich
aufmerksam zugehört.
({3})
Gehört habe ich zur Bildungspolitik allerdings nichts
Neues. Eigentlich habe ich gedacht, dass ein Mitglied des
Kompetenzteams eine gewisse Aufbruchstimmung verbreitet, aber da hat sich nichts getan.
({4})
- Ich habe gut zugehört.
Heute haben ein Bundeskanzler und eine Bundesbildungsministerin klar zum Ausdruck gebracht, dass Bildung eine nationale Aufgabe ist, wie wir dabei vorankommen wollen und was dabei konkret zu tun ist. Sie,
Frau Schavan, haben nur ein bisschen herumgeeiert. Das
war der Verlauf der heutigen Debatte, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Im Moment diskutieren alle über Fußball. Das ist auch
gut so; ich bin auch Fußballfan. Es wäre aber ganz gut,
wenn wir in diesem Lande über Bildung ebenso intensiv
wie über Mannschaftsaufstellungen diskutierten. Vielleicht könnten wir nach PISA als Ziel formulieren - die
Bundesbildungsministerin hat es getan -, Bildungsweltmeister zu werden. Darüber sollten wir in diesem Lande
debattieren!
({6})
Herr Friedrich, Sie erzählten hier etwas über Biomedizin und Biotechnologie. Die Ausgaben für die Genomforschung sind gegenüber 1998 um über 200 Prozent erhöht worden. Bayern profitiert davon in hohem Maße,
womit Sie in Bayern gelegentlich angeben. Das ist aber
vom Bund finanziert.
Frau Flach hat kürzlich beim DIHK - das fand ich
wirklich anständig; Respekt vor Ihnen, Frau Flach - eingeräumt,
({7})
dass es ein großer Fehler der alten Bundesregierung war,
in ihrer Zeit bei Bildung und Forschung so zu kürzen, wie
sie es getan hat. Das war einmal eine klare Aussage. Wer
eine solche Aussage trifft und sich für seine Vergangenheit entschuldigen muss, sollte aber nicht so reden, wie
Sie es heute hier getan haben. Das ist völlig unglaubwürdig. Offensichtlich fehlt es Ihnen an jeglicher Selbstkritik.
({8})
Nach der Rede auch von Frau Schavan ist deutlich geworden, dass man Demagogen und Ideologen nicht nur
von Schulen fernhalten sollte, sondern auch in der Bildungspolitik nicht akzeptieren sollte. Dafür ist die Bildungspolitik zu schade.
({9})
Es ist übrigens auch schade, dass Herr Stoiber heute
keine Zeit findet, an dieser Debatte teilzunehmen. Auch
Herr Westerwelle hat die Zeit dafür nicht gefunden. Wo ist
er eigentlich? Herrn Westerwelle habe ich in diesem
Hause noch nie bei einer bildungspolitischen Debatte gesehen. In Talkshows aber redet er, als verstünde er etwas
davon. Das halte ich nicht für korrekt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({10})
So kommt es dann auch zu Uninformiertheiten. In
Ihrem Wahlprogramm fordern Sie 1 Milliarde Euro für
den Hochschulbau. Wer dieses Programm liest, könnte
erschauern. Wenn Sie in den Haushaltsplan blicken, werden Sie feststellen, dass wir diese Milliarde schon hineingeschrieben haben.
({11})
Es ist ja gut, wenn Sie in Ihrem Wahlprogramm das fordern, was wir schon machen; dann fordern Sie wenigstens
keinen Unfug. Das ist in diesen Zeiten immerhin etwas.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Lieblingssatz von Frau Schavan lautet: „Alles hat seine Zeit.“
({12})
Das bedeutet eben auch, dass Ihre bildungs- und forschungspolitischen Konzepte der Vergangenheit angehören. Das stoibersche Kompetenzteam kann vor diesem Hintergrund allenfalls als Küchenkabinett bezeichnet werden.
Es geht Ihnen um uralte Konzepte mit einem altbackenen
Familien- und Frauenbild. Ich denke hier nur an das so genannte Familiengeld, dessen Ziel eben nicht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist.
Liebe Frau Schavan, man wirft Ihnen in Baden-Württemberg völlig zu Recht vor, Politik von oben herunter zu
machen, ohne die Beteiligten in Reformprozesse einzubinden. Sie haben manche Absicht, aber gute Absichten
bedeuten noch lange nicht gute Politik. Sie haben Fremdsprachenunterricht an den Grundschulen angesprochen.
({13})
Ich glaube, dass Sie damit ein wirklich gutes politisches Ziel
formuliert haben, wie in anderen Ländern auch. Nur haben
Sie bei der Umsetzung dieser Reform weder die Eltern noch
die Lehrer oder die Schüler gefragt. Ich schildere für die
Kolleginnen und Kollegen aus anderen Landstrichen einmal
die Situation: In Württemberg wird jetzt Englisch gelehrt, in
Baden Französisch, aber dieses nicht durchgehend, sondern
an der einen Schule so und an der anderen Schule so. Sie
missachten den Elternwillen in Baden-Württemberg, Frau
Schavan. Das ist das Problem Ihrer Politik.
({14})
- Eigentlich müsste jetzt Herr Fischer Beifall klatschen.
Ich lese Ihnen einmal aus einem Leserbrief Ihres Kollegen Fischer an die Lokalpresse vor: „Frau Schavan missachtet den Elternwillen.“ Wenn schon die CDU-Kolleginnen und -Kollegen solche Dinge in der Lokalpresse
schreiben,
({15})
kann ich Ihnen, Frau Schavan, nur sagen: Redet miteinander, aber machen Sie mir bitte nicht den Vorwurf, ich
würde hier etwas erzählen, was nicht der Realität entspricht. Ich glaube, wenn der Stoiber-Edi zu uns auf die badischen Dörfer gekommen wäre und von dem Englischund Französisch-Unterricht gewusst hätte, Sie wären nie
und nimmer ins Kompetenzteam gekommen, da bin ich
mir absolut sicher.
Bevor wir uns Ihr Chaos jetzt auch noch auf die Bundesebene holen - das werden die Wählerinnen und Wähler
am 22. September verhindern -, möchte ich noch ein paar
Punkte ansprechen, zunächst die Zuwanderung. Herr
Kollege Friedrich, der uns leider verlassen musste,
({16})
hat wirklich tränenreich zu diesem Thema gesprochen.
Sie haben nicht verstanden, um was es geht.
({17})
Bei Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik geht es
darum, auch die Begabungsreserven der Kinder ausländischer Herkunft für unser Land zu erschließen.
({18})
Es geht darum, die Attraktivität und Leistungsfähigkeit
des Wissenschaftsstandorts Deutschland für ausländische
Studierende und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter zu verbessern. Hierzu werden wir heute
auch Anträge beschließen. Von Ihnen gibt es dazu zwar Lippenbekenntnisse, aber Sie tun das Gegenteil. Sie polemisieren gegen die Internationalisierung in diesem Bereich.
Das ist von großem Schaden für den Standort Deutschland
und auch für den Wissenschaftsstandort Deutschland.
({19})
Mit dieser Zündelei kommen wir nicht vorwärts.
Jetzt kritisieren Sie die Tatsache, dass der Bundeskanzler die Verantwortung dafür übernimmt und gesagt
hat: Wenn es schon nicht so klappt, wie wir es uns national vorgestellt haben, investieren wir Geld, beispielsweise
1 Milliarde pro Jahr in die Ganztagsschulen. Das ist doch
ein Wort. Ich denke nicht, dass Hans Eichel, der dort sitzt,
diese Milliarde mit frohem Herzen aus dem Etat geschnitten hat. Aber unsere Finanzpolitiker und Bildungspolitiker haben gemeinsam gesagt: Wir müssen etwas tun.
Und wir tun es.
Was haben Sie denn getan? Sie haben ein Kindergartengesetz verabschiedet, in dem Sie festgelegt haben, wie
die Kindergärten im ganzen Land auszusehen haben, aber
bei der Umsetzung dieses Konzeptes haben Sie die Länder und die Kommunen allein gelassen. So war doch die
Situation in diesem Lande.
({20})
Wir reden nicht nur von der Ganztagsschule, so wie Sie
von Kindergärten geredet und dann nichts getan haben;
wir nehmen 1 Milliarde für die Ganztagsschule in die
Hand. Apropos Schröder: Kennen Sie eigentlich
({21})
eine einzige Bildungsinitiative von Herrn Kohl in seiner
16-jährigen Amtszeit?
({22})
- Wer ist Kohl? Das war mal einer.
Frau Schavan, Sie haben sich im März 2000 für einen
Sachverständigenrat Bildung ausgesprochen. Das ist
nachlesbar.
({23})
Das finde ich okay, das fordern auch wir mit unserem heutigen Antrag, dem Sie also zustimmen können. Stimmen
Sie unserem Antrag für eine Bildungsberichterstattung
und für einen Bildungssachverständigenrat zu. Folgen Sie
der Dame aus Ihrem Kompetenzteam. Wenn Sie es nicht
glauben, lesen Sie es nochmals nach.
Kommen wir zurück zu dem, was Frau Schavan angesprochen hat, kommen wir noch einmal zu den Zahlen. In
Bayern gibt es 0,4 Prozent Ganztagsschulen. Bayern bildet das Schlusslicht bundesweit. An 29 Schulen in Bayern
- nicht an 29 Prozent der Schulen, sondern an 29 Schulen,
davon 24 in privater Trägerschaft - wird Ganztagsunterricht angeboten. Zu dem Thema sollten Sie, lieber Kollege
Friedrich, besser überhaupt nichts sagen.
({24})
Zu den Berufsschulen: Ich komme aus der Technologieregion Karlsruhe. Wir hatten an den dortigen Berufsschulen keine einzige Fachklasse für die modernen IT-Berufe. Der Bund musste 250 Millionen in die Hand nehmen,
um in Ihrem Land Fachklassen für moderne IT-Ausbildungsberufe einzurichten. Sie sollten sich lieber für all
das, was wir hier tun, bedanken.
({25})
Die ZVS wollen Sie abschaffen. Darüber kann man
lange diskutieren. Meinetwegen machen Sie es. Die Länder sind dafür zuständig. Sie ganz allein können über einen Staatsvertrag die Sache mit der ZVS regeln. Sie brauchen nicht hierher zu kommen und eine Rede über die
ZVS zu halten. Dafür sind wir wirklich nicht zuständig.
Also auch hier nur Effekthascherei!
({26})
Zu Ihren Modellprojekten in Sachen Lehrerstunden:
Ich empfehle den Journalistinnen und Journalisten in
Baden-Württemberg, sich Ihre Modellprojekte nicht nur
dann anzuschauen, wenn Sie dort sind und irgendetwas
verkünden, sondern auch ein halbes Jahr später noch
nachzusehen, was von diesen Modellprojekten übrig geblieben ist. Ihr Lack, Frau Schavan, wäre ab, noch bevor
Sie überhaupt mit irgendjemandem ein weiteres Gespräch
geführt haben.
({27})
Den Mathematikunterricht in Baden-Württemberg
wollen Sie gerade vor die Hunde gehen lassen. Sie schaffen die Leistungskurse ab und reden hier über Leistung.
Einheitsunterricht in Mathematik, egal ob einer gut oder
schlecht ist - das ist die Leistungsbezogenheit des schavanschen Mathematikunterrichts, liebe Kolleginnen und
Kollegen!
({28})
Bei der Forschungspolitik lernen Sie gerade; das mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf. Dennoch zitiere ich den
baden-württembergischen Technologierat, der gesagt hat,
man müsse im Bereich der Forschung in Baden-Württemberg mehr tun, die Landesregierung solle nicht weiter
bei der Forschung kürzen. Dafür ist nun wirklich nicht
Rot-Grün verantwortlich. Sie machen in Baden-Württemberg das, was Sie bis 1998 auch auf Bundesebene getan
haben: Sie kürzen bei Bildung und Forschung - hier ganz
konkret bei Forschung - und stellen sich hinterher hin und
sagen, Sie hätten die Lösung für die Zeit nach dem
22. September. Nein, Sie haben sie nicht.
({29})
- Etwas anderes fällt Ihnen immer nicht ein, Herr Kollege
Rachel. Sie werden nur nicht fertig damit, wenn Ihnen jemand den Spiegel vorhält und Ihnen zeigt, was Sie eigentlich tun. Das ist der Widerspruch, den Sie hier haben.
({30})
Sie fordern Leistungsvergleiche über die Bundesländer. Herr Kollege Friedrich und Frau Volquartz, Sie haben
gesagt, Daten für bundesweite Bildungsvergleiche - darum
geht es - sollten nur im Konsens aller Beteiligten erhoben
werden. Das ist ja großartig! Was dabei herauskommt,
wenn Sie Leistungsdaten nur im Konsens aller Beteiligten
erheben wollen, können Sie sich heute schon vorstellen.
Nein, auch das ist es nicht.
Frau Schavan, wenn Sie es geschafft haben, zwischen
Graben und Neudorf den Französischunterricht zu organisieren, und ein paar von Ihren Modellprojektchen zum
Erfolg geführt haben, können Sie wiederkommen und uns
einen interessanten bildungspolitischen Vortrag halten.
Im Moment mussten Sie vielleicht als Rettungsengel einer Bundesbildungspolitik einfliegen, die keinerlei Antworten hat, weil man nur auf Sie geschaut hat. Ich kann
Ihnen nur sagen: Das war ein grober Missgriff, nicht nur
wenn man in Ihr Land schaut, sondern auch nach dem,
was Sie uns heute hier vorgetragen haben. Es war nicht
ganz so peinlich wie die Rede von Herrn Kollegen
Gerhardt, aber es ging an Peinlichkeit schon weit genug.
({31})
Aus diesem Grunde sehen wir der bildungspolitischen
Debatte und der Auseinandersetzung im Wahlkampf frohen Herzens entgegen.
Ich bedanke mich.
({32})
Ich schließe
die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/9398. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/9421. Der Ausschuss
empfiehlt in Kenntnis des Berichts gemäß § 56 a der Geschäftsordnung mit dem Titel „Technikfolgenabschätzung, hier: ‚Forschungs- und Technologiepolitik für eine
nachhaltige Entwicklung‘“ sowie des Berichts der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Bildungsund Forschungspolitik für eine nachhaltige Entwicklung“
auf Drucksachen 14/571, 14/7971 und 14/8651. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7337. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6209 mit
dem Titel: „Die internationale Attraktivität und Leistungsfähigkeit des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutschland für ausländische Studierende und junge
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stärken“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/3339 mit dem Titel „Verbesserung
der internationalen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit
des Hochschulstandortes Deutschland“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/5250 mit dem Titel „Bessere Rahmenbedingungen für ausländische Studierende in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei
Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7337 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/6445 mit dem Titel „Sicherung des Wissenschafts-,
Forschungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland durch
Ausbildung hoch qualifizierter Fachkräfte“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS bei
Stimmenthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7338 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Bildungsschecks für
mehr Qualität und Wettbewerb an Hochschulen in
Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/3518 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS bei Stimmenthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7880 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Anforderungen an die
Weiterbildung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/7075 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS bei
Stimmenthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/9138 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Weltoffenheit als Chance
für die Hochschulen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7425 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 g: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/8962. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6442 mit
dem Titel „Wissenschafts- und Hochschulkooperationen
mit Entwicklungs- und Transformationsländern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
PDS bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3376 mit dem Titel „Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit mit den Entwicklungs- und Transformationsländern stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Stimmenthaltung
der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 h: Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9215 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 i: Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9217 mit
dem Titel „Deutsche Hochschulen zukunftsfähig gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkte 3 j und 3 k sowie Zusatzpunkte 2
und 3: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/9269, 14/9272, 14/9257 und
14/9392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das ist mit Zustimmung des
Hauses so geschehen. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Dr. Hansjürgen
Doss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Behinderung und Erschwerung unternehmerischer Entfaltung durch hohe Bürokratiedichte
- Drucksache 14/8945 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Das Haus
ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
({0})
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die an der Beratung nicht teilnehmen möchten, Gelegenheit geben, den Saal zu verlassen.
Alle übrigen Kolleginnen und Kollegen möchte ich bitten,
die Gespräche einzustellen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
dem Kollegen Hansgeorg Hauser, CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unternehmerisches Handeln orientiert sich in einer freien
Marktwirtschaft an den Spielregeln und Bedürfnissen des
Marktes. Recht und Gesetz sind dabei die wichtigsten
Leitplanken. Der Staat sollte ein fördernder Katalysator
sein, zumal er die Unternehmer immer an die Sozialorientierung und Verpflichtung des Eigentums erinnert.
Ludwig Erhard, der Begründer der sozialen Marktwirtschaft, hat das Zusammenspiel von Unternehmern und
Staat dementsprechend definiert. Ich, Unternehmer, will
mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des
Lebens selbst tragen und für mein Schicksal selbst verantwortlich sein; sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in
der Lage bin!
({0})
Auch der derzeitige Bundeskanzler scheint Ähnliches
im Sinn gehabt zu haben, als er in seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 versprach:
Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der
Selbstständigkeit.
Vier Jahre später schaut die unternehmerische Welt ganz
anders aus. Die Zusage der rot-grünen Regierung, moderne Mittelstandspolitik sei für sie weniger Bürokratie,
gehört zu den vielen gebrochenen Versprechen. Unternehmerisches Engagement wurde in vielen Bereichen durch
zahlreiche neue Vorschriften und Kontrollen erschwert.
Die Bürokratie und die staatliche Überwachungsdichte
drohen insbesondere den Mittelstand, der von allen als
Jobmaschine gepriesen wird, zu ersticken.
Ich zitiere nochmals aus der Regierungserklärung:
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter
machen und wir werden hemmende Bürokratie rasch
beseitigen. ... Dabei werden wir überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Regelungsdichte vermindern.
Am Ende dieser 14. Legislaturperiode und am Ende
dieser rot-grünen Regierung zeichnet sich für Unternehmer wie Bürger ein völlig anderes Bild ab.
({1})
Zentralismus und Dirigismus prägen das Land. Der Staat
hat sich vom Bürger weit entfernt.
({2})
Im Vorschriftendschungel finden sich weder die Unternehmer noch die Verwaltung zurecht.
Ich möchte Ihnen eine Resolution der Leiter der südbayerischen Finanzämter zur Kenntnis bringen. Danach haben die Mitarbeiter in einer offiziellen landesweiten Umfrage dem Zustand des Steuerrechts miserable Noten
gegeben. Sie sagen, sie sähen sich immer weniger in der
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Lage, die Masse der komplizierten Vorschriften, die durch
häufige Änderungen ständig unübersichtlicher würden, so
anzuwenden, dass eine gleichmäßige Besteuerung gewährleistet sei. Das sagen die Fachleute.
({3})
Kein Wunder, dass der Mut, sich selbstständig zu machen,
nachgelassen hat. Die Zahl der Gewerbeanmeldungen
ging seit dem Regierungswechsel 1998 von 811 000 auf
728 000 im Jahr 2001 zurück.
({4})
Andererseits wurde in den letzten Jahren die Entscheidung im erhardschen Sinn, nämlich für das eigene Schicksal selbst verantwortlich zu sein, für immer mehr Unternehmer zum Verhängnis. Mit circa 40 000 Insolvenzen
wird 2002 eine neue traurige Rekordmarke erreicht. Das
ist im Vergleich zu den Vorjahren - 1999 lag diese Zahl
noch bei rund 26 000, 2000 bei ungefähr 28 000 und 2001
bei circa 32 000 - eine deutliche Steigerung.
Zahlreiche Anmeldungs-, Anzeige-, Aufzeichnungs-,
Berechnungs-, Erklärungs-, Nachweis- und Abführungsvorschriften stellen heute reine Hand- und Spanndienste
für den Staat dar. Viele Unternehmer sehen sich zum Teil
außerstande, diese Pflichten zu erfüllen und diese Belastungen zu tragen, die aus der staatlichen Regulierungswut
resultieren. Von dieser Regulierungswut bleibt kein Bereich verschont. Egal ob es sich um das Arbeitsrecht, das
Sozialversicherungsrecht, um Vorschriften im Behindertenrecht, aus dem Bereich des Umweltrechts, des Gewerbe- und Wohnungsbaus oder um Reglementierungen
für das Kredit- und Finanzdienstleistungsgewerbe handelt, die Regulierungsdichte nimmt immer mehr zu. Die
damit verbundenen Kostenbelastungen müssen die Betroffenen in der Regel selbst tragen. Für die Feststellung
„Kosten: keine“, die man auf dem Deckblatt vieler Gesetzesvorlagen findet, wird deshalb selten Verständnis aufgebracht.
Aufgrund unserer Großen Anfrage muss sich die Bundesregierung mit über 160 konkreten Fragen auseinander
setzen.
({5})
Wir wollen wissen, inwieweit die Einführung bzw. die
Änderung gesetzlicher Vorschriften in der 14. Legislaturperiode gerechtfertigt war. Es wird sich letztlich zeigen,
dass die Regulierungswut von Rot-Grün die schon vorhandene kritische Situation - das möchte ich nicht verschweigen - drastisch verschärft hat.
({6})
Dabei könnte mit dem Bürokratieabbau sofort begonnen werden; denn der Abbau von Bürokratie kostet kein
Geld und unterliegt keinem Haushaltszwang. Ein solcher
Abbau kostet nur ein wenig guten Willen. Dieser gute
Wille war offenbar nicht vorhanden, als es im Steuerrecht
eine Inflation an neuen Kontrollrechten gab. So wurden
der Finanzverwaltung neue Rechte beim Zugriff auf digitale Daten eingeräumt, die die Unternehmen zwingen,
ihre Datenverarbeitung kostenträchtig neu zu organisieren. Durch das Instrument der Umsatzsteuernachschau
wurden weitere Möglichkeiten geschaffen, vor Ort, also
in den Betrieben, unangemeldete Kontrollprüfungen vorzunehmen, die relativ einfach zu einer vollen Prüfung ausgedehnt werden können.
({7})
Durch die Ausweitung von Geldbuße- und Steuerhinterziehungsvorschriften bei gleichzeitiger Einengung der
Möglichkeit zur Selbstanzeige werden Steuerbürger kriminalisiert. Die Einführung der Bauabzugsteuer war zwar
gut gemeint, endete aber im Chaos der Vorschriften.
Durch die Ausweitung der Bescheinigungs- und Steuerabführungspflichten war selbst die Verwaltung völlig
überfordert, sodass bereits in kürzester Zeit die Finanzgerichte bemüht werden mussten.
Eine Flut von Klagen gab es auch bei den völlig missglückten Vorschriften zur Verlustverrechnung. Der erneute Vorschlag von Herrn Poß zur Einführung einer Mindestbesteuerung - dieser wird ausgerechnet von den Grünen
massiv unterstützt, die sonst immer für die Abschaffung
solcher Vorschriften eingetreten sind - wird genauso im
Fiasko enden wie die ersten Versuche.
Die Verpflichtung, ab 1. Juli 2002 die Steuernummer auf
den Rechnungen anzugeben, bedeutet für die Unternehmer
erhebliche Umstellungskosten und ist zudem überflüssig,
da ab dem 1. Januar 2004 die Angabe der UmsatzsteuerIdentifikationsnummer EU-weit zwingend vorgeschrieben ist.
Eine chaotische Veranstaltung und ein Musterbeispiel
für Bürokratieauswüchse sind die Änderungen des früheren 630-DM- und jetzigen 325-Euro-Gesetzes. Unternehmer und Beschäftigte müssen allein 19 Fallkonstellationen für die steuer- und beitragsrechtliche Behandlung
des Lohns unterscheiden.
({8})
- Lieber Herr Kollege Eich, ich empfehle Ihnen die Broschüre des Bundesarbeitsministers,
({9})
der darin 19 Fallkonstellationen aufführt und die Unternehmer und Steuerzahler aufklärt.
Für private Haushalte ist es aufgrund der komplizierten rechtlichen Regelungen und des unzumutbar hohen
administrativen Aufwands nahezu unmöglich geworden,
überhaupt Arbeitnehmer auf 325-Euro-Basis zu beschäftigen. Nicht zuletzt deshalb sind viele Betroffene in die
Schattenwirtschaft abgetaucht. Die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist durch die Neuregelung jedenfalls deutlich zurückgegangen.
Eine weitere Bürokratieorgie findet im Bereich der
privaten Altersvorsorge statt. Die Förderung im Rahmen des Altersvermögensgesetzes ist kompliziert und
selbst von Experten kaum zu durchschauen. Schon die
Hansgeorg Hauser ({10})
Frage, ob jemand überhaupt förderungsberechtigt ist, ist
in vielen Fällen nur schwer zu beantworten. Die meisten
Menschen sind hoffnungslos überfordert und nicht ausreichend informiert. Banken und Versicherungen klagen
über hohen Beratungsbedarf und hohen administrativen
Aufwand. Dass zur Einführung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge sogar eine zentrale Behörde mit
rund 1 000 Beschäftigten notwendig ist, spricht Bände.
({11})
Eine weitere Superbehörde ist durch das neue Aufsichtsamt für Kreditwesen, Versicherungen und Wertpapierhandel entstanden, das ebenfalls Hunderte von neuen
Beamten benötigt - getreu dem Motto von Parkinson:
Bürokratie ist die Vervielfältigung von Problemen durch
die Einstellung weiterer Beamter.
({12})
Gerade im Bereich der Kreditwirtschaft ist durch
neue Kontrollvorschriften ein immenser administrativer
Aufwand entstanden, der Milliarden kostet. Das zahlen
nicht die Banken, sondern - das wissen Sie alle doch - die
Bankkunden.
Schon droht neues Unheil. Der Entwurf betreffend
die Mindestanforderungen an das Kreditgeschäft, MaK,
wurde in einer Anhörung ziemlich verrissen.
({13})
Da wurde kritisiert, dass die Regelungsdichte enorm ist
und dass einige Maßnahmen selbst bei hohem bürokratischem Aufwand und hohen Kosten nicht umsetzbar sind.
Verbesserungen sind angekündigt. Wir hoffen, dass es
auch wirklich zu einer Verbesserung kommt.
({14})
Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, dass wir bei Gesetzen und Erlassen einen Bürokratiecheck brauchen,
bei dem geprüft werden muss, welche Auswirkungen auf
Wachstum und Beschäftigung entstehen und in welchem
Maße Unternehmen und Bürger mit Kosten und Arbeitsaufwand belastet werden.
({15})
- Das muss keine neue Behörde sein. Das müssen die Beamten leisten, die das ausarbeiten. Sie müssen sich überlegen, was sie anrichten.
({16})
Es wäre natürlich erfreulich, wenn auch Sie in den Beratungen ein bisschen darüber nachdenken und nicht nur
alle Regierungsvorlagen abnicken würden, die uns so auf
die Hoppla-Hopp-Tour auf den Tisch gelegt werden.
({17})
Das Vertrauen des Steuerbürgers in den Rechtsstaat
wird durch immer schärfere Gesetze, ausufernde Kontrollrechte der Verwaltung und noch striktere Verwaltungs- und Überwachungsmaßnahmen nicht gerade gestärkt. Wenn dann noch eine unverhältnismäßig hohe
Steuer- und Abgabenbelastung hinzukommt, besteht die
große Gefahr, dass unternehmerisches Handeln immer
mehr eingeschränkt wird. Der Staat, der seine Bürger mit
Vorschriften überhäuft, sie an freier Gestaltung und kreativem Handeln hindert, wird auf Dauer selbst den größten
Schaden davontragen.
({18})
Deshalb muss zu der erhardschen These zurückgekehrt
werden, dass jeder Einzelne für sich selbst verantwortlich
ist und der Staat die positiven Rahmenbedingungen für
das Handeln zu schaffen hat.
({19})
Dazu gehört auch ein größeres Vertrauen in die Steuerehrlichkeit, die bei den Bürgerinnen und Bürgern sicherlich umso mehr zunehmen wird, je weniger sie belastet
werden.
({20})
Niedrigere Steuern und Abgaben werden manchen wieder
auf den Weg in die Legalität zurückbringen.
({21})
Mit diesem Appell schließe ich meine höchstwahrscheinlich letzte Rede im Bundestag. Ich bin froh und
stolz, dass ich „Dem deutschen Volke“, wie es auf der
Westseite des Reichstagsgebäudes heißt, zwölf Jahre als
Abgeordneter dienen durfte.
({22})
- Ich beziehe mich darauf, dass ich „Dem deutschen
Volke“ als Abgeordneter dienen durfte.
({23})
Meine Zeit als Abgeordneter war durch die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und das Zusammenwachsen
in Europa geprägt. Meine Gefühle - wenn ich das so persönlich ausdrücken darf - sind immer noch dieselben wie
bei meiner ersten Rede, die ich ebenfalls in diesem Saal
halten durfte. Allerdings befand sich damals das Podium
noch auf der anderen Seite und man konnte durch die
Fenster gen Osten schauen. Ich habe damals mein Glücksgefühl - das ich auch heute noch empfinde - darüber zum
Ausdruck gebracht, dass beim Blick nach draußen keine
Mauer mehr zu sehen ist. Dafür haben sich alle Mühen für
die Menschen und für unser Land gelohnt.
Ich bedanke mich bei Ihnen und vor allem bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Finanzen, aber ich bedanke
mich auch bei allen politischen Mitstreitern für manche
gute Diskussion. Ich hoffe, ich bin trotz mancher Attacken
immer fair geblieben,
({24})
Hansgeorg Hauser ({25})
damit wir uns auch weiterhin in die Augen sehen können.
({26})
Ich wünsche Ihnen allen eine gute Zukunft und ich
wünsche unserem Land eine neue Zeit für Taten.
({27})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verabschieden uns zwar jetzt
noch nicht von den Mitstreitern, die am Ende der Legislaturperiode aus dem Parlament ausscheiden; trotzdem
darf ich nach Ihrer letzten Rede, Kollege Hauser, Ihnen sicherlich im Namen aller unseren herzlichen Dank für Ihre
engagierte Arbeit im Parlament, dem Sie seit 1990 angehören, aussprechen. Ich wünsche Ihnen für Ihre weitere
private und berufliche Zukunft alles Gute.
({0})
Nun erteile ich dem Bundesfinanzminister Hans Eichel
für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch
ich möchte mich, unbeschadet manchen Streits, den wir
hatten, zunächst herzlich bei Herrn Hauser bedanken. Wir
haben schon seinerzeit an verschiedenen Fronten gekämpft, Sie damals als Parlamentarischer Staatssekretär
im Bundesfinanzministerium und ich als hessischer Ministerpräsident.
({0})
- Seien Sie vorsichtig; ich komme noch auf einige Beispiele zu sprechen. Das Problem stellt sich immer, wenn
man schon hinter allen Büschen gesessen hat. Herr Hauser
kennt das sicherlich auch.
Es war also bei allem Streit eine angenehme Zusammenarbeit, Herr Hauser. Das möchte ich ausdrücklich
festhalten und Ihnen insofern auch meinerseits herzlichen
Dank aussprechen.
Nun passt bei diesem Thema alles wunderbar zusammen: Herr Stoiber hat einige Vorträge gehalten, Sie stellen eine Große Anfrage und heute ist in der „Financial
Times“ ein schöner Artikel mit der Überschrift „Die fragwürdigen Rezepte des Dr. S.“ erschienen. Darin heißt es:
Dringend klären sollte Stoiber sein Konzept für mehr
Wachstum: Erst sollten massive Steuersenkungen
her. Als klar wurde, dass mit dieser Methode vor allem
das Staatsdefizit wächst, stellte Stoiber die Lockerung
des Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer und
Korrekturen am Gesetz zur Scheinselbstständigkeit
als Wachstumsmotor dar. Der neueste Trumpf des
Kanzlerkandidaten heißt Bürokratieabbau. Dafür will
er eine Idee von Hans-Olaf Henkel aufgreifen und einen Konvent für Deutschland einberufen. Nachdem
Generationen von Wissenschaftlern, Sonderkomissionen und Regierungsbeauftragten penibel aufgelistet haben, wie der Staat zu verschlanken und die
Bürokratie zu verringern ist, nun das. Bleibt nur noch
die Frage, ob der Konvent paritätisch von den bekannt reformfreudigen Tarifparteien und dem Beamtenbund besetzt oder gleich als Bundesbehörde eingerichtet werden soll.
Dazu passt Ihr heutiger Debattenbeitrag, lieber Herr
Hauser.
({1})
Die Bayerische Staatsregierung und damit Ihr Kandidat haben sich auch nicht besonders dabei hervorgetan,
wenn es darum ging, energisch Bürokratieabbau zu betreiben. Andererseits hat aber das Tariftreuegesetz, das
Sie hier im Bundestag bekämpft haben, ein Vorbild in
Bayern. Dort ist es beschlossen worden und in Kraft getreten. Es stellt zweifelsfrei eine Belastung für die Wirtschaft dar. Dennoch ist die Frage, ob sein Grundgedanke,
dafür zu sorgen, dass ordnungsgemäßer und fairer Wettbewerb stattfinden kann, nicht richtig ist.
({2})
Mit dieser Auffassung hat Bayern nicht Unrecht; das Problem ist nur, dass das, was in Bayern richtig ist, plötzlich
auf Bundesebene falsch sein soll, weil die Wirtschaftsverbände Ihnen jetzt in den Arm fallen.
Bei der Bauabzugsteuer waren Sie ja schon vorsichtiger und haben gesagt, das sei ganz gut gemeint. Sie geht
auf eine Initiative der CDU-geführten Landesregierungen
von Hessen, Baden-Württemberg und wiederum der
CSU-geführten Bayerischen Staatsregierung zurück. Der
Hintergrund dafür war, dass man darüber geklagt hat - ich
kenne das aus meiner Zeit als hessischer Ministerpräsident übrigens auch -, dass da, wo sehr viel investiert wird,
ungeheuer viele Unternehmen aus ganz Europa tätig sind
und manchmal schon längst wieder weg sind, wenn man
versucht, die Steuern zu bekommen. Sie, Herr Hauser,
wissen als alter Finanzpolitiker doch auch, dass man so etwas nicht hinnehmen kann.
({3})
- Verbrechensbekämpfung ist nicht dadurch möglich,
dass man alle die Regeln, gegen die verstoßen werden
könnte, abschafft.
({4})
An dieser Stelle geht es in der Tat um die Schaffung eines „level playing field“, wie das neudeutsch heißt, also
um gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle, und damit
um den Schutz des ehrlichen Unternehmers. Das gelingt
nur dann, wenn der Besteuerungsanspruch des Staates
auch wirklich gleichmäßig durchgesetzt wird.
({5})
Ich habe darüber lange nachgedacht, Herr Kollege
Hauser. In vielen Fällen macht es Sinn, zu sagen, das soll
in die jeweilige betriebswirtschaftliche Kalkulation geHansgeorg Hauser ({6})
packt werden; dann braucht man es nicht zu kontrollieren.
Dieser Gedanke steckt zum Beispiel hinter der Ökosteuer.
Wenn man also den Umweltgedanken per Steuerrecht in die
Kostenrechnung einbaut, braucht man keine Ordnungspolizei, die das kontrolliert. Das kann man aber im Steuerrecht nicht unbegrenzt machen: Dort Steuersparmöglichkeiten einzubauen, um sich damit jeden Vollzug zu
ersparen, weil die Leute das dann schon von selbst machen würden, ist ein Widerspruch in sich.
Die Wahrheit ist - das wissen Sie so gut wie ich und jeder Finanzminister -, dass wir zwar einfachere Gesetze,
soweit das geht - darauf komme ich gleich -, brauchen,
aber um den Vollzug und die Kontrolle des Vollzugs nicht
herumkommen, weil sonst der Ehrliche der Dumme ist.
Das wissen Sie so gut wie ich.
({7})
Im Übrigen ist auch die frühere Bundesregierung, der
auch Sie ja angehört haben, nicht besonders eifrig dabei
gewesen, die Gesetze zu verschlanken. Sie können uns
vieles vorwerfen; aber den absoluten Rekord bei der Änderung des Einkommensteuergesetzes haben Sie während
Ihrer Regierungszeit aufgestellt.
({8})
1994 haben Sie es in fünf Monaten fertig gebracht, das
Einkommensteuergesetz elfmal zu ändern. Ich habe nachgeforscht; es gab keinen häufigeren Wechsel; damit gehen
Sie ins „Guinness-Buch der Rekorde“ ein.
({9})
Das heißt aber nicht, dass Sie, verehrter Herr Kollege
Hauser, damit nicht ein sehr ernstes Thema berührt haben.
Das möchte ich ausdrücklich sagen.
Jetzt komme ich auf die Probleme bei der Umsetzung
zu sprechen. Das fängt in Deutschland damit an, dass man
staatlicherseits auf Bundesebene - das wissen Sie genauso gut wie ich - nichts ohne die Länder machen kann,
weil das Grundgesetz eine Grundentscheidung getroffen
hat. Diese ist übrigens ganz anders als in Amerika; ich will
das hier gar nicht kritisieren, aber man müsste das einmal
in die Föderalismusdebatte einbeziehen. Diese lautet: Die
Gesetzgebung findet vorzugsweise auf der Bundesebene,
der Verwaltungsvollzug aber auf Länderebene statt. Das
bedeutet übrigens auch, dass wir die Anfrage, die Sie hier
gestellt haben, größtenteils gar nicht beantworten können,
weil die Finanzverwaltung Ländersache ist. Wir müssten
dazu also die Länder fragen; diese haben sich aber in vielen Fällen bisher geweigert, uns solche Fragen zu beantworten. Dafür habe ich sogar ein gewisses Verständnis;
denn die Anfragen, die sie jeden Tag auf den Tisch bekommen und beantworten sollen - das Statistikgesetz ist
ja auch eines der hier zu behandelnden Themen -, stellt
sie schon vor große Probleme.
Wir haben hier übrigens eine Reihe von Vereinfachungen
vorgenommen. Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass
aufgrund der europäischen Integration neue Anforderungen an die Länder gestellt werden. Wir achten schon sehr
darauf, dass nur das, was statistisch wirklich notwendig
ist, gefordert wird.
Ich will Ihnen ein Beispiel für eine neue Anforderung
nennen: Wer, wie die Europäische Zentralbank und die
EU-Kommission, europäische Konjunkturpolitik machen will, der braucht - wir bekommen fast jeden Monat
im Ecofin das entsprechende Monitum - verlässliche Daten, und zwar schnell.
Wir streiten uns im Moment mit den Ländern über die
Frage - da können Sie helfen -, ob wir diesen Anforderungen zu einem großen Teil durch das Aggregieren vorhandener Daten - das ist meine Position - nachkommen
können. Herr Kollege Hauser, die Bundesländer sind an
diesem Punkte unisono anderer Meinung und, so sehe ich
das, sie bürden den Unternehmen neue Lasten auf. Aber
bitte, die von Ihnen regierten Bundesländer sollen das machen; schließlich haben sie zurzeit die Mehrheit im Bundesrat. Sie könnten auch, was das Gesetz angeht, das ich
auf den Weg gebracht habe, mit mir an einem Strang ziehen. Das ist aber nicht der Fall. Stattdessen verhindern die
Bundesländer zurzeit, dass der von mir vorgelegte sehr
schlanke Ansatz für die Statistik in die Tat umgesetzt
wird. Damit will ich deutlich machen: So einfach ist das
in Deutschland nicht. Dieses Thema ist in die Diskussion
über eine Reform des Föderalismus einzubeziehen.
({10})
Ich sage ganz deutlich: Der Bund hat gehandelt. Das
wird im Hinblick auf verschiedene Bereiche noch deutlich werden, wenn Frau Kollegin Wolf und Herr Kollege
Andres dazu Stellung nehmen, an welchen Stellen etwas
geschehen ist. Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Dank
der Arbeit der vom Bundesinnenminister eingesetzten
Kommission „Moderner Staat - Moderne Verwaltung“
sind inzwischen 40 Projekte zur Reduzierung von Verwaltungsaufwand abgeschlossen.
Zu diesen Projekten gehörten Dinge, die Sie hier, im
Bundestag, bekämpft haben. Zu einer schlankeren Verwaltung gehört auch ein modernes öffentliches Dienstrecht. Sowohl in der Opposition, aber auch, wie früher,
als Regierungspartei sind Sie plötzlich die Wahrer der Besitzstände derer, die mit einer Verschlankung des öffentlichen Dienstes ein Stück weit in ihren Besitzständen getroffen sind. Ihre Attacke ist wiederum nicht sonderlich
glaubwürdig.
({11})
Der Bundeswirtschaftsminister hat eine Initiative zum
Abbau von Bürokratie gestartet - Frau Kollegin Wolf
wird darüber noch berichten -, durch die eine ganze
Menge in Gang gesetzt worden ist.
Nun will ich einmal auf das hinweisen, was in meinem
Bereich geschieht. Übrigens, für meinen Geschmack haben Sie ein bisschen zu sehr auf den Finanzmarkt abgehoben. Als wir die Reform des Steuerrechts angegangen
sind, hatten wir durchaus einen gemeinsamen Ansatz.
Nur, als wir ihn dann verfolgt haben, wollten Sie von dieser Gemeinsamkeit nichts mehr wissen. Herr Kollege
Hauser, eine Vereinfachung im Steuerrecht bedeutet zuallererst die Abschaffung von Steuerprivilegien, von Steuerfreistellungen, von steuerlichen Sondertatbeständen;
denn diese zerstöre, im Gegenteil, das Steuerrecht.
({12})
Ihre Petersberger Beschlüsse enthalten zu Recht die Forderung nach einer solchen Abschaffung. Wir haben diese
Forderung mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 umgesetzt.
({13})
- Jetzt wird es spannend; denn mit Ihrem Lachen beginnt
etwas ganz anderes. Jetzt geht es nämlich nicht mehr um
die Steuervereinfachung, sondern um Klientelpolitik. Es
war hochspannend, zu sehen, welche Steuervergünstigungen
Sie abschaffen und welche Sie beibehalten wollen.
({14})
- Oh, lieber Herr Hirche von der FDP, machen Sie bitte
nicht so einen Zwischenruf; denn die FDP ist Weltmeister,
wenn es darum geht, ein Maximum an Subventionen zu
ergattern! Die FDP ist nämlich nicht dafür, Subventionen
über Zulagen im Haushalt zu gewähren - dort sind sie
offen ausgewiesen -; vielmehr steht ihre Politik für steuerliche Privilegierungen. Da fallen Subventionszahlungen
nicht so auf. Vor diesem Hintergrund sind Sie ein Weltmeister in der Zerstörung des Steuerrechts.
({15})
Als wir das Steuerentlastungsgesetz 1999 verabschiedet haben, als wir 70 Steuerprivilegien abgeschafft haben,
hat niemand von Ihnen von Steuervereinfachungen geredet; stattdessen haben Sie nur davon geredet, was für einen Tort wir der Wirtschaft antun.
Als Beispiel nenne ich die Besteuerung bei der Rückstellung in Bezug auf Kernkraftwerke.
({16})
- Was heißt „unangenehm“? - Aus Ihrer Haltung lässt sich
erkennen, welche Privilegien Sie verteidigen. Mit Blick
auf den 22. September frage ich Sie: Welche Privilegien
wollen Sie denn angreifen? Schauen wir uns doch einmal
die Petersberger Beschlüsse an! Was Sie dort fordern, haben wir mit Absicht verhindert. Das ist wahr. Sie wollten
doch die Steuerfreiheit bei Sonntags-, Feiertags- und
Nachtzuschlägen abschaffen. Dazu sage ich Ihnen: Das
wollen wir nicht!
({17})
Sie wollten doch den Arbeitnehmerpauschbetrag reduzieren. Das wäre übrigens nicht einmal eine Steuervereinfachung, sondern eine Steuerkomplizierung, sehr verehrter
Herr Hauser, weil man dadurch nämlich mehr Steuerfälle
schafft.
Übrigens haben Sie sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingehandelt, dass das steuerfreie Existenzminimum zu niedrig angesetzt sei. Es ist eine Frage
der Gerechtigkeit und der Steuervereinfachung, das
steuerfreie Existenzminimum höher anzusetzen; dadurch
gibt es weniger Steuerfälle und mehr Steuergerechtigkeit.
Wer so wie Sie diskutiert, der muss auch einmal diesen
Zusammenhang herstellen. Ihre Behauptung, es gehe um
Vereinfachung, ist ein ganzes Stück weit vorgeschoben.
Schaut man konkreter hin, erkennt man, dass über das
Steuerrecht sehr konkrete Sozialpolitik gemacht wird.
Maggie Thatcher hat ganz zu Beginn ihrer Amtszeit
versucht, eine kommunale Kopfsteuer einzuführen. Diese
Steuer gab es keine sechs Wochen, dann wurde sie wieder
abgeschafft. Warum? - Das ist zwar im höchsten Maße
einfach, aber zugleich extrem ungerecht.
Diesen Zusammenhang müssen wir sehen, Herr Hauser.
Deswegen spreche ich ihn an. Wenn wir einmal konkret
hinschauen, dann können wir feststellen, dass Sie bei allen
Punkten, bei denen wir gesagt haben, da müsse das Steuerprivileg weg, dagegengehalten haben. Wir haben ebenfalls
erlebt - auch das wollen wir festhalten -, dass Sie fast in jeder Debatte ein neues Steuerprivileg fordern.
({18})
Deswegen ist diese Debatte leider nicht sehr redlich.
Nächster Punkt. Es war eine gewaltige Steuervereinfachung, vom Vollanrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren überzugehen. Diese Vereinfachung hat übrigens auch etwas mit Europarecht zu tun. Auch ich bin am
Anfang in diese Thematik mit der Meinung eingestiegen,
wir könnten mit wesentlich weniger Steuergesetzen auskommen. Aber in einer Welt, die sich schnell verändert
und in der sich jedes Unternehmen auf neue Konkurrenzsituationen sehr schnell einstellen muss, kommt auch der
Staat nicht umhin, im internationalen Wettbewerb der
Standorte zu prüfen, ob seine Rahmenbedingungen noch
zeitgemäß sind. In den 16 Jahren Ihrer Regierung - das
war eines der Probleme, die Sie hinterlassen haben - haben Sie das Außensteuerrecht überhaupt nicht angepackt. Es ist ein schwerer Wettbewerbsnachteil für die
deutschen Unternehmen, dass Sie es nicht getan haben.
Für meinen Bereich sage ich weiterhin - ich stimme zu,
dass es da noch viel zu tun gibt -, dass nicht nur gesetzliche Vereinfachungen notwendig sind. Sie haben Gott sei
Dank nicht mehr die Legende belebt, das deutsche Steuerrecht sei mit Abstand das komplizierteste und 90 Prozent der Steuerrechtsliteratur in Deutschland seien unverständlich. Das alles ist nämlich falsch. Beispielsweise
sind das amerikanische und das britische Steuerrecht
weitaus komplizierter als das deutsche.
({19})
Das entlastet uns zwar nicht. Aber dennoch sollte man entsprechende Legenden gar nicht erst in die Welt setzen.
({20})
Ich will zu einem weiteren Punkt kommen. Verehrter
Herr Hauser, im Bereich des Gesetzesvollzugs könnten
Sie ein gutes Stück mithelfen. Wir versuchen im Bereich
der Steuerverwaltung, die in der Zuständigkeit der Länder
liegt, eine einheitliche Software zu installieren, damit die
Prozesse beschleunigt werden. Wissen Sie, wer sich in
diesem Punkt quer stellt? Alle Länder würden mitmachen;
nur Bayern klinkt sich aus der fiskus GmbH aus. Man hat
schon den Eindruck, dass es bei Ihnen beim Steuervollzug
nicht Föderalismus, sondern Separatismus gibt.
({21})
Verehrter Herr Kollege Hauser, Sie könnten an dieser
Stelle mithelfen, die Bayerische Staatsregierung auf einen
anderen Weg zu führen.
Die bayerische Finanzverwaltung musste erst durch
das Bundesverfassungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht - ich habe es im Moment nicht genau im
Kopf - gezwungen werden, den Bundesrechnungshof zur
Prüfung in die Finanzverwaltung hineinzulassen. Das
sind Probleme, die man nicht von der Hand weisen sollte.
In diesem Punkt sind Sie näher dran als ich und könnten
vielleicht helfen.
Was Sie zum Finanzmarkt gesagt haben, kann ich leider nicht unterschreiben.
({22})
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
ist, wie Sie wissen, von der überwiegenden Zahl der Finanzinstitute sehr begrüßt worden. Sie wird und muss auch
von ihnen finanziert werden. Nur strenge Regeln und eine
straffe Aufsicht garantieren einen guten Finanzstandort.
({23})
An dieser Stelle werden wir mehr tun müssen. Darüber
gibt es keinen Streit. Im Gegenteil: Der Bundesverband
deutscher Banken verlangt von mir beispielsweise, in
Brüssel eine neue eigene Einheit aufzubauen, um dort unsere Interessen wahrzunehmen. Recht hat er. Wir werden
das auch tun.
({24})
Bei der Geldwäsche, verehrter Herr Kollege Hauser,
wäre ich vorsichtig. Wir sind in der Gefahr, internationale
Standards nicht zu erfüllen. Ich bitte Sie alle dringend,
nicht zuzulassen, dass die „Financial Intelligence Unit“,
also die deutsche Zentralstelle für Verdachtsanzeigen
bei Geldwäsche, im Gestrüpp des Bundesrates - Sie haben dort die Mehrheit - hängen bleibt. Wir wären dann
nämlich das einzige Land unter den G-7-Staaten, das
keine Meldeeinheit hat. Weil wir die OECD-Standards
nicht erfüllen würden, würde die Gefahr bestehen, dass
wir von der OECD auf die Liste der nicht kooperierenden
Jurisdiktionen wie Liechtenstein gesetzt werden. Da
gehören wir nicht hin und wir dürfen auch in Zukunft dort
nicht hingehören. Herr Hauser, in diesem Punkt haben Sie
etwas zu tun.
({25})
Gelegentlich müssen Gesetze sein, damit wir eine ordnungsgemäße Handhabung durchsetzen können.
Ein Problem liegt auch darin - damit will ich zum
Schluss kommen -, dass viele Menschen und inzwischen
auch viele Unternehmen - ich will das nicht kritisieren,
aber festhalten - der Meinung sind: Was nicht verboten
ist, ist erlaubt. Das ist der eigentliche Grund für die vielen
Gesetze, die wir haben.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der Biografie meiner
Eltern. Mein Vater, der 1972 gestorben ist, war Architekt.
Er hat in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Architektenvertrag abgeschlossen. Ein einziges Mal hat jemand versucht, einen solchen Vertrag mit ihm abzuschließen. Mein Vater hat ihm geantwortet, dass es eine
Standesordnung und eine Gebührenordnung gebe. Entweder wolle er mit ihm bauen, dann bekomme er aber keinen
Architektenvertrag, oder er wolle einen solchen Vertrag,
dann müsse er sich aber einen anderen Architekten suchen. Heute können Sie in einem solchen Fall nichts mehr
ohne Vertrag regeln.
Ich sage ganz ernsthaft: Wir sind es gar nicht, die dauernd in einem Pingpongspiel Regeln erfinden, um die
Leute zu kujonieren. Sehr vieles müssen wir vollziehen,
weil uns die Richter ins Stammbuch schreiben, dass wir
an dieser Stelle Gesetzeslücken haben oder weil Europa
aufgebaut wird. Im Gegenzug müssen wir anstreben, dass
wir Regelungen bei uns abbauen und nicht noch draufsetzen.
Aber ich sage auch: Deswegen trifft der Satz von
Ludwig Erhard nicht mehr die Wahrheit. Er ist auch im
Unternehmerlager nicht mehr gültig. Dazu kann ich Ihnen
gleich noch ein Beispiel erzählen.
Aber was ist das für eine Gesellschaft, in der Leute in
den Urlaub fahren und in ihrer Pension Behinderte antreffen und daraufhin vor Gericht klagen, ihr Urlaubsvergnügen sei gestört, weil dort behinderte Menschen gewesen seien? Darauf bezog sich ein berühmtes Urteil. Was
ist es für eine Situation, wenn Leute aus dem Urlaub
zurückkommen und ihre erste Überlegung ist, wie sie
Geld zurückbekommen können und was im Urlaub nicht
genauso, wie im Prospekt vorgesehen, war?
({26})
Bei dem Punkt Vollkaskomentalität habe ich dem Kollegen Gerhardt zugestimmt; sie bezieht sich inzwischen
auf die gesamte Gesellschaft.
({27})
- Ja, richtig, genau so heißt es, Herr Hinsken. Ich könnte
auch über Ihre Handwerksordnung reden. Die Bürokratie
machen Sie doch selber.
({28})
Ich bin dafür, Bürokratie abzubauen. Ich will doch nur
festhalten, dass gar nicht alle Bürokratie vom Staat
stammt.
Ich will Ihnen zum Abschluss zwei Beispiele geben.
Als wir in Hessen die dortige Bauordnung geändert haben, um möglichst schnell zu Genehmigungen zu kommen, haben wir die Unternehmen gefragt: Hättet ihr es
nicht lieber wie in Amerika, wo man ohne Baugenehmigung bauen kann? Dann könntet ihr schon einmal anfangen. Ihr könnt euch ja versichern. Wir reichen dann die
Genehmigung nach; dabei habt ihr aber ein eigenes Risiko.
- Wissen Sie, was die Antwort der Wirtschaft war? - Wir
wollen lieber das deutsche System, wir wollen kein eigenes Risiko, wir wollen vom Staat vorher wissen, dass wir
das dürfen; dann ist das in Ordnung und wir marschieren.
Josef Paul Kleihues, einer der bekannten Berliner Architekten, hat einmal darüber geklagt, was er alles wegen
der deutschen Bauvorschriften nicht gestalten könne. Er
hätte so gern eine Treppe ohne Geländer gebaut. Er hat es
dann in Amerika versucht. Die amerikanischen Baubehörden haben gesagt: Das darfst du. - Aber die Versicherungen sagten: Das darfst du zwar; aber das musst du
versichern und bezahlen. Wenn du in einem solchem Gebäude eine Treppe ohne Geländer baust und einer hinunterfällt, dann bist du dran. - Was ist das Ergebnis? Die
Treppe hat ein Geländer bekommen. Die Vorschrift kam
nur nicht vom Staat, sondern von den Versicherungen.
Die Wahrheit ist also etwas komplizierter. Wir haben es
hier mit einem sehr komplexen Thema in einer ebenfalls
immer komplexer werdenden Gesellschaft zu tun. Es ist
eine mühselige Arbeit, die Gesetze zu vereinfachen.
Es ist ein absurder Gedanke, Gesetze mit Verfallsdatum zu versehen. Das bedeutete einen Rechtsstaat mit
Verfallsdatum. Was hieße das für diejenigen, die sich auf
Gesetze verlassen sollen? Der einzig vernünftige Gedanke ist, eine Gruppe einzusetzen, die die bestehenden
Gesetze - meinetwegen die älteren zuerst - permanent
überprüft und feststellt, ob wir sie noch brauchen oder ob
wir sie schlanker machen können. So habe ich das in der
hessischen Staatskanzlei gehalten. Bei jedem neuen Gesetz - da haben Sie Recht - müssen wir beurteilen, ob wir
die Regelungen wirklich brauchen. Dazu werden wir noch
ein paar Beiträge leisten; das ist ganz sicher.
Verehrter Herr Kollege Hauser, das Thema eignet sich
zwar, um gelegentlich in öffentlichen Versammlungen
Beifallsstürme auszulösen. Wenn wir aber ehrlich mit den
Menschen reden und uns selber gegenüber redlich sind,
dann wissen wir: Wir alle brauchen eine etwas andere Einstellung, die Bereitschaft, selber etwas mehr Risiko zu tragen. Anderenfalls bekommen wir eine durchbürokratisierte Gesellschaft, weil wir sie uns in Wirklichkeit selber
erst erziehen.
({29})
Für die
Fraktion der FDP spricht der Kollege Rainer Brüderle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe noch die Regierungserklärung
des Bundeskanzlers in Erinnerung. Am 10. November
1998 hat er im Bundestag gesagt - ich zitiere:
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter
machen. Wir werden hemmende Bürokratie rasch beseitigen.
Wir werden
überflüssige Vorschriften streichen und auf diese
Weise die Regelungsdichte vermindern.
({0})
Das erinnert mich an einen anderen Satz des Kanzlers ich zitiere:
Wenn wir die Arbeitslosigkeit nicht deutlich reduzieren, haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu
werden.
({1}) - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das
geht weiter: „Wir werden auch nicht wiederge-
wählt werden!“)
Grün-Rot ist beim Abbau der Arbeitslosigkeit und
ebenso kläglich beim Abbau der Bürokratie gescheitert.
Beides hat leider miteinander zu tun. Gerade der Mittelstand, der Jobmotor Nummer eins, ächzt unter dem bürokratischen Joch. Die Bürokratiebelastungen sind beileibe
nicht alle in den vergangenen drei Jahren entstanden;
({2})
aber sie sind durch die staatsgläubige und interventionistische Politik weiter verschärft worden. Dies trägt zum
miesen Klima in der mittelständischen Wirtschaft bei.
Sie fühlt sich von Grün-Rot zu Recht im Stich gelassen.
({3})
- Sie werden ja nachher noch reden, Herr Kollege; dann
können Sie hier sagen, was Sie für richtig halten.
Allein die modernen Hand- und Spanndienste belasten
die Unternehmen in Deutschland jährlich mit über 30 Milliarden Euro. Kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten - das sind 80 Prozent des deutschen Mittelstands - tragen rund 3 500 Euro Bürokratiekosten pro
Arbeitsplatz. Ein Großunternehmen hingegen muss im
Durchschnitt nur 150 Euro pro Arbeitsplatz für Statistik,
Steuererhebung, Berichts-, Auskunfts-, Berechnungs- und
Aufbewahrungspflichten aufwenden. Hier besteht eine
Schieflage zulasten des deutschen Mittelstands.
({4})
Besonders ärgerlich ist, dass viele dieser Bürokratiedienste überflüssig sind. Wir könnten zum Beispiel jedes
Jahr 12 Millionen Umsatzsteuerveranlagungen sparen,
wenn wir den Veranlagungsmeldezeitraum von einem auf
drei Monate verlängern würden.
({5})
Das ist international üblich und verschafft sowohl den
Unternehmen wie der Finanzverwaltung deutliche Erleichterung.
Wir haben in diesen Bundestag einen Gesetzentwurf
eingebracht. Aber wie argumentiert die Regierung zu dieBundesminister Hans Eichel
sem konkreten Vorschlag? - Sie lehnt den Abbau von
12 Millionen Formularen und Steuererklärungen, die erarbeitet und bearbeitet werden müssen, ab, weil damit die
Umsatzsteuer angeblich leichter hinterzogen werden
kann. Genau das ist die Denke von Grün-Rot: Statt die
Chance zur Entlastung zu nutzen, werden Unternehmer
lieber kriminalisiert.
Natürlich überziehen die Maßnahmen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs die Unternehmen mit weiterer Bürokratie. Sie reiht sich in andere Bürokratielasten
ein: die Ökosteuer mit ihren Ausnahmen, die 630-MarkRegelung, die Bauabzugsteuer, das Scheinselbstständigengesetz, die Ausdehnung der Mitbestimmung, das Tariftreuegesetz. Das ist so, als wenn beim 100-Meter-Lauf einer
Spikes anzieht, um schneller laufen zu können; aber weil
einer mit Skischuhen laufen will, müssen alle Skischuhe
anziehen, damit sie gleich langsam sind. Das ist die Ideologie, die hinter dem Tariftreuegesetz steckt. Absurd!
({6})
Durch den bürokratischen Wust, mit dem die Regierung unser Land und unsere Wirtschaft überzieht, wird
klar: Man misstraut den Unternehmen und auch dem
Markt. Der Arbeitsmarkt ist überreguliert. Alle Sachverständigen sagen das, der Bundesbankbericht, die OECD.
Damit ist auch der Grund für eine zu hohe Arbeitslosigkeit gelegt. Was macht die Regierung? - Sie reguliert und
bürokratisiert weiter, sie verregelt, sie verriestert, Tarifzwang, Teilzeitzwang, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz,
Verschärfung der Mitbestimmung. Auch das trifft wieder
vornehmlich den Mittelstand.
Selbst der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel
- kein Erzengel, eher ein Sünder - hat inzwischen gemerkt, dass der Kündigungsschutz bei Kleinunternehmen dazu führt, dass weniger eingestellt wird. - So der
niedersächsische Ministerpräsident, meines Wissens immer noch SPD-Mitglied.
({7})
Deshalb will Herr Gabriel den Kündigungsschutz reformieren. Erstaunlich ist, dass ihm aus den eigenen Reihen von Grün-Rot nicht soziale Kälte vorgeworfen wird
wie der FDP, wenn sie das Gleiche sagt. Das sind zweierlei Maß: Wenn es der Rote sagt, sagt man nichts, im anderen Fall schimpft man.
({8})
Aber davon abgesehen hat Herr Gabriel völlig Recht.
Natürlich entlasten wir Kleinunternehmen gewaltig und
schaffen Barrieren für die Neueinstellung ab, wenn wir
die Kündigungsschutzrechte erst ab 20 Mitarbeiter zur
Geltung kommen lassen. Das ist ein konkreter Beitrag.
({9})
Natürlich entstehen dadurch neue Jobs. Deshalb lassen
Sie uns diesen Vorstoß des niedersächsischen Ministerpräsidenten bitte ohne Scheuklappen, ohne Ideologie aufnehmen und etwas Konkretes für mehr Arbeitsplätze, für
den deutschen Mittelstand tun, wie es Herr Gabriel fordert.
Wenn ich dann aber den Bundeswirtschaftsminister
höre, geht mir der Hut hoch. Er denkt eben nur in seinen
Monopolkategorien. Wahrscheinlich werden wir in Kürze
wieder neue Beispiele erleben. Er kennt die Sorgen und
Nöte kleiner und mittlerer Unternehmen nicht. Müller
sagt doch tatsächlich, er wolle den Arbeitsmarkt nicht deregulieren, sondern höchstens entbürokratisieren. Das
sind rhetorische Nebelkerzen; das ist typisch für grün-rotes Nichtstun. Solche Aussagen sind ärgerlich und haben
mit verantwortungsvoller Wirtschaftspolitik, insbesondere für den Mittelstand, nichts zu tun.
({10})
Jeder weiß: Durch neue Regulierungen schaffe ich
neue Bürokratie. Die Regierung hat den Arbeitsmarkt mit
lähmender Bürokratie geradezu überzogen. Es bleibt dabei: Sie reden so, handeln aber anders.
Die Bundesanstalt fürArbeit ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Deren Beschäftigtenzahlen
sind höher als die der BASF weltweit. Wenn der neue Vorstandsvorsitzende, Florian Gerster, etwas gegen die überbordende Bürokratie seiner Behörde tun will, bekommt er
sofort von der eigenen Regierung Knüppel zwischen die
Beine geworfen. Typisch ist: Reformrhetorik ja, Reformen nein. Lasst doch Gerster tun, was er vorschlägt! Aber
sofort wird er von Grün-Rot und den Gewerkschaften gestoppt. Es ist keine Bewegung möglich.
({11})
Es ist doch signifikant, dass Herr Eichel im Zusammenhang mit Reformen davon sprach, dass die Tarifparteien bekanntermaßen nicht reformfreudig seien. Selbst
der Bundesfinanzminister räumt dies also ein. Lasst doch
den Gerster etwas tun! Ihr habt ihn an diese Stelle nur gesetzt, um ein bisschen Kosmetik zu betreiben. Nach der
Wahl wird er dann wieder mit Korsettstangen eingeschnürt. Lasst ihn doch das tun, was er vorschlägt! Nichts
tut sich. Es genügt doch nicht, den Chef der Filiale auszuwechseln, wenn oben im Vorstand die Sache nicht
stimmt. Das ist die Realität.
({12})
Grün-Rot muss endlich lernen: Der Arbeitsmarkt ist
- auch wenn es die Gewerkschaften anders sehen - keine
staatliche Veranstaltung. Er ist schon lange nicht mehr
vom Klassenkampf geprägt. Man sollte sich endlich auch
bei Grün-Rot von diesen antiquierten Vorstellungen verabschieden. Der Arbeitsmarkt ist ein Markt. Nur wenn die
Marktmechanismen Geltung haben, wenn die Bürokratie
konsequent abgebaut und die Regulierung auf das notwendige Maß beschränkt wird, werden neue Arbeitsplätze
entstehen. Wir verhindern ja geradezu, dass sie entstehen,
und beklagen dann, dass die Arbeitslosigkeit zu hoch ist.
({13})
Wenn wir die Einstellungshemmnisse nicht reduzieren,
dann wird hier nichts Neues entstehen. Da kann man auch
nicht mit dem Tabuargument, das alles sei soziale Kälte,
kommen. Sozial kalt ist derjenige, der die Arbeitslosigkeit
nicht abbaut. Die größte soziale Ungerechtigkeit ist die
Massenarbeitslosigkeit. Dagegen tun Sie nichts.
({14})
- Herr Andres, reden Sie sich doch nicht immer mit der
Vergangenheit heraus! Schön, dass Sie hier sind und unsere Debatte verfolgen! Sie wurden ja rechtzeitig von der
Rednerliste gestrichen, damit Sie der Debatte nicht beizuwohnen brauchen. Willkommen in der Diskussion!
Zu einem weiteren Punkt: zur Entbürokratisierung des
Steuerrechts. Allein das Lohnsteuerabzugsverfahren erfordert jährlich Ausgaben von 5 Milliarden Euro. Ich
möchte nicht wissen, zu welchen zusätzlichen Belastungen
die Bauabzugsteuer führt. Herr Eichel, es ist einfach nicht
redlich, dass Sie sagen, wir würden im Rahmen von Steuervereinfachungen Privilegien fordern. Keine Partei hat ein
radikaleres Konzept für eine Steuerreform vorgeschlagen
als die FDP: drei Steuersätze, 15, 25 und 35 Prozent,
({15})
sowie eine radikale Vereinfachung.
Bei Ihnen ist die Vereinfachung völlig untergegangen.
All das, was Sie geändert haben, ist komplizierter geworden. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Gesetzgebung
für die 630-Mark-Verträge. Frau Scheel und Herr
Metzger - da durfte er noch etwas sagen; jetzt ist er ja abgeschossen worden - sind durch die Gegend gerannt und
haben gesagt: Das ist ein schreckliches Monster. - Aber
Sie haben die Hand gehoben und den Quatsch mit beschlossen. Die Wirtschaft bzw. der Mittelstand leiden unter diesen falschen Regelungen. Das ist die Realität.
({16})
Gerade für den Mittelstand ist es wichtig, dass das Steuerrecht konsequent und radikal vereinfacht wird. Der Mittelstand kann sich keine Spezialisten bzw. Steuerabteilungen erlauben, die jeden Winkel einer Grauzone ausloten,
um über die Hürden zu kommen. Ein kompliziertes Steuerrecht ist immer ungerecht, weil es den Kleinen bzw. dem
Mittelstand nicht die gleichen Chancen bietet wie den
Großkonzernen. Die haben weltweit die besten Spezialisten. Die kennen sämtliche Strategien, wie man möglichst
wenig Steuern zahlt. Das zeigt sich bei den Ergebnissen.
Dass die Zahl der Selbstständigen bei Grün-Rot sinkt,
hat natürlich damit zu tun, dass wir es ihnen unendlich
schwer machen.
({17})
- Herr Eich, Sie sind nachher an der Reihe. Dann können
Sie das alles erzählen. Das, was ich gesagt habe, ist absolut richtig. Sie sehen doch die Bilanz: Die Zahl der Selbstständigen geht runter und die Arbeitslosigkeit wird nicht
abgebaut.
({18})
Sie haben die Arbeitsmarktstatistik geschönt, indem Sie
die 630-Mark-Verträge einbezogen haben. Damit haben
Sie sie optisch verbessert.
({19})
Sie haben es aber nicht geschafft, Ihr bescheidenes Ziel
von 3,5 Millionen Arbeitslosen zu erreichen. Jetzt üben
Sie sich in Rhetorik und Herumschreien, um Ihr elementares Versagen in der Arbeitsmarktpolitik zu vernebeln.
Sie sollten sich schämen. Sie sollten nicht am 1. Mai demonstrieren und in der Woche danach das Gegenteil von
dem tun, wofür Sie demonstriert haben.
({20})
Die Menschen verzweifeln daran, dass Sie ihnen keine
Chance geben. Was hat Ihnen denn der deutsche Mittelstand getan, dass Sie ihn so mies behandeln und ihm nicht
die Möglichkeit geben, etwas zu tun?
({21})
Stichwort Scheinselbstständigkeit. Die Menschen
wollen keine Kriminalität begehen, sondern arbeiten bzw.
andere einstellen. Lasst sie doch endlich! Behindert doch
den deutschen Mittelstand nicht, damit er endlich etwas
tun kann!
({22})
Sie machen das Gegenteil, verwenden eine unaufrichtige Rhetorik und vernebeln. Wir wollen und müssen die
Weichen anders stellen, damit wir bei uns wieder Chancen entwickeln können.
({23})
- Herr Tauss, dass Sie schreien müssen, verstehe ich. Als
IG-Metall-Funktionär sind Sie quasi verpflichtet zu
schreien. Tun Sie es! Zwickel wird sich darüber freuen.
Aber damit helfen Sie den Menschen nicht. Sie zementieren alles und deshalb laufen Ihnen die Mitglieder weg.
({24})
Jedes Jahr verliert der DGB Hunderttausende von Mitgliedern. Deshalb wurde ja auch aus ÖTV, HBV und weiteren Gewerkschaften Verdi. Vielleicht wird Verdi demnächst durch Fusion mit der IG Metall zu Puccini. Die
Leute stimmen mit den Füßen ab. Sie machen Ihren arbeitsmarktpolitischen Unsinn nicht mit. Wir rufen den
Menschen zu: Haltet durch! Am 22. September ist Freiheitstag, dann wird dieser Quatsch abgewählt.
({25})
Ich erteile das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Margareta Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir
eigentlich vorgenommen, auf Herrn Brüderle überhaupt
nicht mehr zu reagieren. Eines möchte ich Ihnen aber
doch noch mit auf den Weg geben: Ihnen steht es aus
Gründen der intellektuellen Redlichkeit nicht zu, sich auf
Ludwig Erhard zu beziehen; denn Sie kündigen die soziale Marktwirtschaft in unserem Lande auf, und das in jeder Rede, die Sie halten, mehr.
({0})
Wir wissen ja, dass die Verdrängung der eigenen Geschichte vonseiten der FDP eine spezielle Note hat. Vielleicht haben Sie vergessen, Herr Kollege, dass Ihre Fraktion
bis zu unserem Amtsantritt seit 1974 jeden Wirtschaftsminister gestellt hat. Trotzdem stellen Sie sich hier hin und
werfen Nebelkerzen. Sie waren erfolgreich, aber nur im
Aufbau von Bürokratie. Ansonsten haben Sie sich nicht
durchgesetzt. Wir haben einen unvergleichlichen Bürokratiewust vorgefunden. Das haben Sie mit zu verantworten und dazu sollten Sie auch stehen.
({1})
Herr Hauser, ich habe gerne mit Ihnen zusammengearbeitet. Aber die Beamtenschelte, die Sie hier losgelassen
haben, finde ich unverhältnismäßig.
({2})
Sie hätten nur eine Woche zu warten brauchen. Dann wäre
Ihre umfangreiche Große Anfrage beantwortet gewesen
und wir hätten eine sachliche Grundlage für diese Diskussion gehabt, eine Diskussion über ein Thema, das uns
allen, natürlich auch mir als Mittelstandsbeauftragter,
sehr am Herzen liegt und bei dem wir etwas getan haben.
Sie hätten sich Ihre Polemik sparen können; das hätten Sie
dann auch gemerkt. Dieser Bundesregierung geht es darum, die Belastungen für den Mittelstand zurückzufahren.
Das haben wir uns auf die Fahnen geschrieben. Wenn Sie
in den letzten vier Jahren nicht nur körperlich anwesend
gewesen wären, hätten Sie gewusst, dass wir hier schon
sehr viel erreicht haben.
({3})
- Herr Hinsken, glauben Sie denn wirklich, dass Ihre
Große Anfrage mit 172 Fragen - Herr Eichel hat schon
gesagt, dass viele dieser Fragen die Zuständigkeit der
Kommunen betreffen und nur dort zu klären sind - eine
Hilfe ist beim Abbau von Bürokratie für den Mittelstand?
Das ist doch wohl eher nicht der Fall.
({4})
Sie hätten Ihre Landesminister fragen oder in den Kommunen tätig werden sollen. Dann hätten wir gemeinsam
an der Initiative für den Abbau von Bürokratie in Deutschland arbeiten können.
({5})
Verehrter Herr Hauser und Herr Brüderle, mich würde
wirklich einmal interessieren, wo Sie in den letzten Jahren etwas getan haben, um Bürokratie abzubauen. In allen
Regierungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren Ihre Parteien, in welcher Form auch immer,
beteiligt. Nirgendwo haben Sie etwas getan. Nehmen Sie
nur die zahlreichen Initiativen des Bundesrates als Beispiel! Herr Eichel hat schon auf einige hingewiesen.
Ich möchte hier nur einmal auf die Bauabzugsteuer zu
sprechen kommen. Woher stammt denn diese Idee? - Sie
stammt aus Bayern.
({6})
Man kann mir nicht erzählen, dass Gesetze in Bayern und
Baden-Württemberg, aber auch in Hessen und im Saarland keine Bürokratie nach sich ziehen.
Ich finde den Vorgang unmöglich: Die Bundesregierung hat gemeinsam mit dem ZDH einen Vorschlag erarbeitet und wir haben uns mit der Bauabzugsteuer einverstanden erklärt. Aber jetzt laufen Sie mit Herrn Philipp
übers Land und erzählen jedem, der es nicht hören will,
die Bauabzugsteuer bringe vor allen Dingen Bürokratie.
Das haben wir, das hat das Wirtschaftsministerium Ihnen
vorher gesagt, aber wir wollten gemeinsam die Schwarzarbeit bekämpfen. - Ihre Argumentation ist unredlich und
das können wir nicht hinnehmen.
({7})
Ich möchte auch noch das Tariftreuegesetz anführen;
denn man kann es nicht oft genug sagen: Auch dieses Vorhaben stammt aus Bayern. Wir haben es unterstützt. Ich
bin einmal gespannt, was am 21. Juni im Bundesrat geschieht. Vielleicht ist Bayern ja in der Lage, zusammen
mit den anderen Ländern ein Tariftreuegesetz zu schaffen,
das gar keine Bürokratie nach sich zieht. Bleiben Sie ehrlich, betrachten Sie, was Sie tatsächlich gemacht haben.
({8})
Sie fokussieren Ihre Fragen vielfach auf das Abgabenund Steuerrecht. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Sprechen
Sie einmal mit Ihren Länderfinanzministern über den Sinn
und Zweck so mancher Regelung! Wenn Sie das täten, dann
müssten Sie so manche Frage nicht mehr stellen. Vielleicht
wäre es auch hilfreich, wenn Sie die Vereinfachungen, die
Herr Eichel in der Unternehmensteuerreform durchgesetzt hat, tatsächlich honorierten.
({9})
Ein Weiteres kann ich Ihnen nicht ersparen: Sie sagen
in Ihrer Großen Anfrage, Bürokratie führt dazu, dass unternehmerische Entfaltung erschwert wird. Jeden Morgen
werden wir, wenn wir die Zeitung aufschlagen, von neuen
Dingen überrascht, von denen ich meine, dass sie die unternehmerische Entfaltung erheblich erschweren.
An einem Tag spricht Herr Stoiber von einer Staatsquote unter 40 Prozent.
({10})
- Ja, das machen Sie auch.
Die Lichtgestalt - das ist ein bekannter Fernsehmoderator und von mir sehr geschätzter ehemaliger Ministerpräsident - sagt: Das ist alles Quatsch, das ist überhaupt
nicht zu erreichen, maximal in zwölf Jahren. - Die FDP
- die Wissenschaftler sagen, sie kann überhaupt nicht rechnen, sie macht nur unseriöse Programme - toppt das Ganze
mit 35 Prozent oder 30 Prozent. Wunderbar. Was lernen
wir daraus? - Wir sind verwirrt.
Herr Seehofer sagt: Die Rentenversicherungsbeiträge
werden nach der Wahl um 0,5 Prozent steigen. - Am
nächsten Tag lesen wir in der Zeitung, dass Stoiber sagt,
die Rentenversicherungsbeiträge werden nicht steigen.
Am übernächsten Tag sagt das dann auch wieder Herr
Seehofer.
Zur Freistellung der Veräußerungsgewinne sagt
Herr Stoiber: Das müssen wir überprüfen. - Früher hat er
einmal gesagt, sie muss weg. Herr Späth sagt, das ist eine
Gefährdung für den Standort Deutschland. Was sollen die
Leute überhaupt noch glauben?
({11})
Die letzte schöne Geschichte handelt von den Krankenversicherungsbeiträgen. Sollen sie steigen oder sollen sie sinken? Das ist eine Kakophonie, die dazu führt,
dass es in Bezug auf Investitionen in diesem Land, gerade
die von Ausländern, einen gewissen Attentismus gibt. Das
haben Sie zu verantworten.
({12})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Sie
haben in Ihrer Großen Anfrage viel von Steuern gesprochen. Ich möchte gern wissen, ob Herr Merz wieder zum
Vollanrechnungsverfahren zurück will.
({13})
Gestern habe ich gelesen, dass Herr Glos nicht wieder
zum Vollanrechnungsverfahren zurück will. Vorgestern
habe ich von Herrn Merz gehört, dass er zurück will. Wir
alle wissen: Das Vollanrechnungsverfahren hat zu erheblicher Bürokratie geführt, die von den Unternehmen und
den Finanzämtern kaum zu bewältigen war.
({14})
Werden Sie endlich einmal deutlich. Vielleicht gewinnen
wir dann wieder den Eindruck, dass Sie wissen, wovon
Sie sprechen.
Wir haben ein Gutachten über den Abbau von bürokratischen Hemmnissen bei Existenzgründungen erstellen lassen. Dieses lässt sich uneingeschränkt auf bestehende Unternehmen übertragen. Wenn Sie schon nicht
abwarten können, bis wir Große Anfragen beantworten,
dann sollten Sie zumindest in der Lage sein, Studien zu lesen, die allen zugänglich sind und jedem Abgeordneten
zugesandt werden.
Eine solche Studie ist zum Beispiel vom IfM in Bonn.
Darin kann man zum verwaltungsbedingten Zeitaufwand
für die Umsetzung von Gründungsvorhaben lesen - ich
zitiere aus der Zusammenfassung -, dass Deutschland,
wenn man den tatsächlichen Zeitbedarf bei Existenzgründungen zugrunde legt, knapp hinter den Niederlanden den
zweiten Rang belegt.
Ein weiteres Zitat:
Trotz der größeren Anzahl der zu absolvierenden
Verfahren in Deutschland ist der Zeitaufwand im
Vergleich zu anderen Ländern mit Ausnahme der
Niederlande in Deutschland geringer.
({15})
Das zu der Studie. Damit möchte ich aber nicht sagen,
dass wir am Ende des Weges angekommen sind. Wir sind
jedoch auf einem sehr guten Weg.
Ich möchte Ihnen jetzt sagen, welche Hemmnisse im
verarbeitenden Gewerbe die Studie, die wir in Auftrag gegeben haben, am häufigsten genannt hat. Ganz oben stand
die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern. Hier würde mich vor allem interessieren, was
Herr Hinsken dazu sagt. Unter unserer Regierung haben
wir zumindest einen Prüfauftrag erfüllt und die Beiträge
zu den Industrie- und Handelskammern sind heute so
niedrig wie seit 1957 nicht mehr.
Wenn Sie Bürokratie konsequent abbauen wollen,
dann schleichen Sie nicht immer daran vorbei.
({16})
Wir wollen die Industrie- und Handelskammern nicht auflösen, aber wir wollen sie überprüfen
({17})
- seien Sie einmal ruhig, gleich sind Sie noch einmal dran,
Herr Hinsken - und alles dafür tun, dass sie wirklich
dienstleistungsorientiert arbeiten. Da sind wir im ständigen Gespräch.
Das Zweite, was im Hinblick auf Bürokratieabbau
ganz oben auf der Skala rangiert, ist die Handwerksordnung.
({18})
Sagen Sie einmal etwas dazu, sehr geehrter Herr Hinsken,
woran alle Modernisierungsschritte in Sachen Handwerksordnung scheitern. Ich erinnere nur an die Leipziger
Beschlüsse. Wie lange haben wir über Ausnahmeregelungen in Zusammenhang mit § 8 des betreffenden Gesetzes
verhandelt! Sie mussten immer erst mit Herrn Schleyer
Rücksprache halten, ehe wir weiterverhandeln konnten.
Das alles hat ziemlich lange gedauert.
({19})
- Der Wirtschaftsminister hat zusammen mit den Fraktionen die Handwerksordnung modernisiert. Wir werden sie
auch nach dem 22. September weiter modernisieren.
({20})
- Vielleicht sollten Sie in der nächsten Legislaturperiode
Herrn Scherhag als Berater nehmen; dann brauchen Sie
auch nicht mehr mit einer roten Laterne herumzulaufen,
sehr geehrter Herr Kollege Hinsken.
({21})
Die Bürokratie im Steuer-, Arbeits-, Sozial- und Umweltrecht spielt demgegenüber tatsächlich eine untergeordnete Rolle. Sie sollten hierüber nicht nur mit den
ideologisch festgefahrenen Berufsfunktionären, sondern
auch einmal mit dem Mittelstand in unserem Land reden.
({22})
Die Studie zeigt ganz klar auf - ich erwarte von der Opposition, dass sie auch in Wahlkampfzeiten Studien liest -,
dass wir dort ansetzen sollten, wo wir auf Bundesebene etwas bewirken können, zum Beispiel bei der Mittelstandsfinanzierung. Hier könnten auch Sie als Repräsentant der
Commerzbank tätig werden, Herr Kollege Hauser.
({23})
Nur 8 Prozent der Befragten klagten über das Steuerrecht,
weitere 8 Prozent über Bauvorschriften, aber 31 Prozent
über die Schwierigkeiten bei der Finanzierung ihrer betrieblichen Existenz. Mit diesem Thema beschäftigt sich
die Bundesregierung, das Wirtschaftsministerium, in der
Tat seit 1998. Wir haben viel erreicht. Das gilt insbesondere für die Verbreiterung der Basis für eine neue Finanzierungskultur. Wir haben Haftungsfreistellungen ermöglicht, Beteiligungskapital evoziert und Bürgschaften als
Instrument eingesetzt. Auch sitzen wir mit den Verbänden
der öffentlichen und privaten Wirtschaft an runden Tischen zusammen. Anstatt hier herumzukrakeelen, täten
Sie gut daran, in Ihren Wahlkreisen darüber zu informieren, was Basel II bedeutet, und die Sparkassen dazu zu bewegen, die Menschen aufzuklären. Wir haben dazu eine
Hotline eingerichtet; bei uns berät ein Stab von Leuten
täglich etwa 20 kleine und mittlere Unternehmen, die von
ihren Sparkassen, Raiffeisenbanken und privaten Banken
kein Geld mehr bekommen. Anstatt hier herumzulamentieren, sollten Sie vor Ort tätig werden. Anstatt 172 merkwürdige Fragen zu stellen, wäre es besser, wenn Sie mit
uns endlich einmal an einem Strang zögen.
({24})
Das wäre sicherlich eher im Interesse des deutschen Mittelstandes und der dort Beschäftigten, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen.
({25})
Das Bundeswirtschaftsministerium verfolgt mit der
Arbeitsgruppe „Bürokratieabbau“ den Ansatz, durch
konkrete Maßnahmen Verwaltungsabläufe für Unternehmen zu optimieren. Sie haben in Ihrer Großen Anfrage danach gefragt, wie viele Referenten damit beschäftigt
seien. Die Antwort: Einer koordiniert die Arbeit und 1 800
sind mit dem Problem befasst. Damit ist eine Ihrer Fragen
hier beantwortet.
({26})
Ganz zu Anfang haben wir alle Verbände angeschrieben und sie nach konkreten Vorschlägen gefragt. Darauf
haben wir kaum einen Rücklauf erhalten. Dann sind wir
zu den Verbänden gegangen, haben aber immer noch
kaum Rücklauf bekommen. Inzwischen haben wir durch
die Einrichtung einer Mailbox einen durchaus repräsentativen Rücklauf von Unternehmen, die sich mit ihren Anliegen unmittelbar an die Projektgruppe wenden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir führen
keine akademischen Diskussionen, wir setzen auch keine
Schlichterkommission und keine Deregulierungskommission ein, um hinterher Ergebnisse zu dokumentieren.
Vielmehr ist uns an einer ganz pragmatischen Lösung gelegen. So haben wir schon 80 konkrete Maßnahmen zum
Abbau bürokratischer Hemmnisse vorgestellt.
({27})
- Im Wirtschaftsausschuss haben wir darüber diskutiert.
Sie haben alle Unterlagen.
({28})
- Herr Hinsken, Sie müssen sich nicht jetzt schon warm
reden. Sie haben noch ein bisschen Zeit.
Durch das Gesetz zur Erprobung einer bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer haben wir die Voraussetzungen
geschaffen, die bestehende Normenvielfalt in Deutschland
zu reduzieren und die Verwaltungsabläufe zu vereinfachen und effizienter zu gestalten. Das Gesetzgebungsverfahren ist abgeschlossen; mit der Erprobung wird am
1. Juli begonnen werden. Darauf sind wir stolz. Dies kann
die Voraussetzung für die bundesweite Einführung einer
einheitlichen Wirtschaftsnummer sein.
Des Weiteren haben wir die Kommunikation zwischen
Unternehmen und Krankenkassen bei den Meldungen
vereinfacht und beschleunigt. Das diesbezügliche Projekt
ist abgeschlossen und entlastet die Unternehmen ganz erheblich, da alle für die Meldung zur Sozialversicherung
relevanten Daten per E-Mail
({29})
- nix Bürokratisierung - an eine einzige Sammelstelle gesendet werden.
Wichtig ist ferner - das wissen wir inzwischen ja,
durch diese Debatte auch Sie -, dass die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten durch die Entscheider vor Ort in
den Kommunen auch tatsächlich genutzt werden müssen.
Deshalb haben wir durch das Forschungsvorhaben
„Good Practice“
({30})
genau an der Schnittstelle zwischen Kommune und Unternehmen gute Beispiele unternehmerfreundlichen Handelns in Kommunen herausgestellt. Das stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der Kommunen. Wir arbeiten hier mit
dem Städtetag und mit dem Landkreistag ganz eng zusammen. Es wird auch schon deutlich, dass zum Beispiel
im Baurecht intelligentere Regelungen angewendet werden und der von Ihnen reklamierte „one stop shop“ in vielen Kommunen tatsächlich schon existiert.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
komme zum Schluss. Jeder kennt jemanden, der auf eine
Baugenehmigung mehr als ein Jahr gewartet hat und für
die Gründung seines Unternehmens 20 Genehmigungen
brauchte. Aber das ist nicht repräsentativ. Ich werfe Ihnen
vor, dass Sie in den Debatten ein großes Buhei machen
- es ist Wahlkampf ({31})
und den Investitionsstandort Deutschland aus Wahlkampfgründen schlecht reden.
({32})
Das hat unser Land nicht verdient, das hat der deutsche
Mittelstand nicht verdient. Ich bitte Sie wirklich, auch in
diesen schwierigen Monaten vor der Wahl eine sachlich
orientierte Debatte zu führen, weil wir alle wissen, dass
die Situation nicht einfach ist. Wir möchten einen Konjunkturaufschwung und wir werden ihn schon in diesem
Jahr bekommen, im nächsten Jahr einen noch größeren.
Dafür tragen wir alle gemeinsam eine Verantwortung. Es
darf nicht sein, dass man aufgrund billiger Wahlkampfrhetorik, oder weil man sich auf kein Konzept einigen
kann, hier den Mittelstand schlecht redet.
Danke schön.
({33})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss leider konstatieren:
Den Kleinst-, Kleinunternehmen und dem Mittelstand
geht es heute nicht besser als vor vier Jahren. Die Zahlen
belegen das Gegenteil. Gerade in Bezug auf Betriebsaufgaben wurden neue Höchstmarken erreicht.
Herr Hauser, ich hätte Ihnen gewünscht, dass Sie Ihre
letzte Rede aus einem besseren Anlass gehalten hätten
({0})
als zu diesem doch plumpen Wahlkampfthema. Gerade
Sie mit Ihrer zwölfjährigen Erfahrung im Bundestag wissen, dass eine am 24. April gestellte Anfrage mit 172 Fragen in dieser Wahlperiode nicht mehr beantwortet werden
kann.
({1})
Wenn Sie über das Thema diskutieren wollen, hätten Sie
besser gleich einen Antrag mit Ihren Vorschlägen vorgelegt.
({2})
Auch mich hätten einige Antworten interessiert, da bin ich
ehrlich. Ich habe jetzt erfahren, dass es ein Referat für
Bürokratieabbau im Bundeswirtschaftsministerium gibt.
({3})
Das finde ich toll. Das wusste ich vorher nicht.
({4})
Mich würde schon interessieren, wie dieses Referat arbeitet, wie die Bürokratie zum Bürokratieabbau tatsächlich funktioniert.
Diese Anfrage ist natürlich plumper Wahlkampf und
ordnet sich ein in Ihre Versuche, Ihren Kanzlerkandidaten
Stoiber als denjenigen zu präsentieren, der Wirtschaftskompetenz für sich gepachtet hat. Nun hat die Praxis gerade in Bayern das wirklich widerlegt. Diese Legende
wird nicht funktionieren. Ich nenne nur einige Stichworte:
Neue Maxhütte, Insolvenz der Kirch-Gruppe. In diesen
Fällen wurden unter dem Kanzlerkandidaten Stoiber
Steuergelder in Milliardenhöhe verschleudert.
({5})
Letztlich war es auch hier wieder eine Umverteilung von
unten nach oben. Das ist einfach die Realität.
Ihre Große Anfrage ist zudem populistisch und äußerst
tendenziös.
({6})
Sie ist deshalb populistisch, weil Sie versuchen, eine betriebswirtschaftliche Aufrechnung der Kosten der Bürokratie vorzunehmen. Mir fehlt in Ihrer Anfrage zumindest vom Ansatz her das Anerkenntnis, dass man in einer
hochspezialisierten Wirtschaft natürlich ein Regelwerk
braucht. Das ist einfach notwendig.
Sie haben mit konkreten Beispiele begründet, warum
Sie das ablehnen. Ich nenne Ihnen jetzt die Frage 31. Da
sagen Sie, dass die Sicherheitsbeauftragten deutscher
Unternehmen jährlich 2,75 Milliarden Euro kosten. Die
Zahl kann ich jetzt nicht überprüfen; sie mag so hoch sein.
Was wäre aber, wenn die Unternehmen keine Sicherheitsbeauftragten hätten? Wie sähe es dann aus mit den Kosten
durch Unfälle am Arbeitsplatz, die die Gesamtgesellschaft zu tragen hätte? Wie sähe es aus mit den Kosten für
Krankenversicherung?
({7})
Und wie sähe es aus mit Abläufen innerhalb der Unternehmen, wenn Pannen passieren würden und dann der
normale Betriebsablauf gestört wäre?
({8})
Es ist doch einfach kurzsichtig und populistisch, eine solche Frage zu stellen.
In der Frage 156 fragen Sie nach der Regulierungsdichte im Behindertenrecht. Sie fragen nach den Kosten
der Rehabilitation und der Teilhabe behinderter Menschen in den Unternehmen. Im Grundgesetz gibt es die
Aussage: Die Würde des Menschen ist unantastbar. - Wir
haben gesellschaftlichen Konsens dahingehend, dass die
Gleichstellung behinderter Menschen in allen Lebensbereichen Ziel sein sollte. Das kostet natürlich Geld und ich
finde es normal, dass sich die Unternehmen an diesen
Kosten beteiligen. Darum geht es doch.
({9})
Was wäre denn, wenn es nicht so wäre, wenn behinderte
Menschen, die heute schon schlechtere Möglichkeiten auf
dem Arbeitsmarkt haben, völlig ausgegrenzt wären? Dann
müsste doch wieder die Gesellschaft, die Solidargemeinschaft insgesamt, eintreten müssen. Wir wissen, dass die
Beiträge zu den Sozialversicherungen wesentlich stärker
von der arbeitenden Bevölkerung erbracht werden als von
denen, die wirklich viel Geld haben, und von den Konzernen. Die gesellschaftlichen Kosten der Ausgrenzung wären
dann ungleich höher, wenn man den Menschen die Möglichkeit nähme, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
({10})
Es ist also äußerst unsozial, was Sie in Ihren Fragen implizieren. Es ist auch tendenziös. Sie fragen nur nach den
bürokratischen Belastungen und Pflichten der Unternehmen und beklagen, dass die Unternehmen Mitwirkungspflichten zu tragen haben, die natürlich auch Kosten verursachen. Ich frage mich: Was ist daran so schlimm?
Haben Sie bei der Erstellung Ihrer Großen Anfrage vielleicht einmal auch mit nur einem Auge in das Sozialrecht
geguckt? Jeder Bürger in Deutschland, der sich in einer
Notsituation befindet, hat Anspruch auf Sozialhilfe. Aber
er muss den Antrag erst einmal stellen. Dass das oftmals
in einer Art so geschieht, dass sich die Menschen zu Recht
gedemütigt fühlen, ist noch eine ganz andere Frage. Aber
natürlich muss man auch dann den Antrag stellen.
({11})
Dazu Unterlagen beizubringen bedeutet für eine Sozialhilfeempfängerin oder einen Sozialhilfeempfänger wesentlich mehr Aufwand im Vergleich mit dem, was Unternehmen leisten müssen. Ein Rentenantrag hat heute sechs
Seiten, die Erläuterung dazu zwölf Seiten. Das ist schon
katastrophal. Dann kann man aber nicht so tun, als ob
bürokratische Belastungen nur den Unternehmen entstünden.
Ich muss allerdings sagen: Das, was Sie vonseiten der
Regierungskoalition in den letzten vier Jahren in Richtung eines Abbaus von Bürokratie geleistet haben, tendiert meines Erachtens stark gegen null. Etwas anderes zu
behaupten entspräche nicht der Wahrheit. Ich nehme nur
einmal meinen Spezialbereich, die Steuer- und Finanzpolitik. Der Finanzausschuss hat gestern seine 136. Sitzung absolviert. Damit dürften wir etwa im Spitzenbereich der Arbeit der Ausschüsse des Bundestages liegen.
Ich arbeite sehr gern dort, es macht Spaß; allerdings
würde ich mir wünschen, dass wir uns nicht laufend damit beschäftigen würden oder hätten beschäftigen müssen, bestehende Gesetze nachzubessern. Wir hatten ein
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002. Kurz danach
gab es ein Korrekturgesetz, das Gesetz zur Bereinigung
steuerlicher Vorschriften. Kurz vor diesem Entlastungsgesetz hatten wir noch zwei Vorschaltgesetze zu beraten.
Dann kam das Steuersenkungsgesetz von Herrn Eichel,
danach kamen das Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz, das Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften, das Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes, also eine Vielzahl von Gesetzen.
Es ist wahrlich so, dass selbst die Steuerberater heute
keinen Überblick mehr haben und eigentlich unter die
Steuererklärungen ihrer Mandantinnen und Mandanten
ihre Unterschrift nicht guten Gewissens setzen können.
Das ist leider einfach Fakt.
Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam den Mut
aufbrächten, eine tatsächliche Änderung vorzunehmen,
den Paragraphendschungel zu lichten und überschaubar
zu machen, und dass die Steuerpolitik, die chaotisch ist
und unter anderem auch zu historischen Steuerausfällen
geführt hat, wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird.
Letztendlich hat die Steuerpolitik von Rot-Grün zu immensen Steuerausfällen geführt, sodass Bund, Länder und
Kommunen kaum mehr Geld für Investitionen haben.
Auch das ist eine Ursache dafür, dass es den Kleinst-,
Kleinunternehmen und dem Mittelstand sehr schlecht
geht. Da öffentliche Aufträge nicht erteilt werden, können
sich kleine Unternehmen auch nicht mehr an der Ausschreibung und Durchführung solcher Aufträge beteiligten.
({12})
Wir als PDS haben eine Reihe von Vorschlägen auf den
Tisch gelegt, wie man gerade im Steuerrecht einiges bewirken könnte. Dazu nenne ich ein einfaches und sehr verständliches Beispiel, nämlich die Individualbesteuerung;
es gäbe nur noch eine Steuerklasse. Wir hätten dann auch
die Möglichkeit, Geld einzunehmen, das zielgerichtet für
die Zahlung des Kindergeldes und für das Leben mit Kindern ausgegeben werden könnte.
Ich habe mich gefreut, als ich heute in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen habe, dass auch Herr Poß als stellvertretender Fraktionsvorsitzender erkannt hat, dass die
Konzerne unter der Regierungskoalition über Gebühr - das
ist noch milde ausgedrückt - entlastet wurden,
({13})
dass er unseren Vorschlag der Mindestbesteuerung aufgreift und dass er es für notwendig hält, dass gerade diejenigen, die viel Geld haben, sich endlich an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
({14})
Wir haben die Steuerbefreiung für Existenzgründungen,
die Einführung einer Ist-Besteuerung bei der Umsatzsteuer,
den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Handwerksdienstleistungen und die Förderung von Unternehmen nicht nur
in der Gründungs-, sondern auch in der Konsolidierungsphase vorgeschlagen.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich denke, diese Dinge würden in der konkreten Umsetzung wirklich zu einer Vereinfachung führen. Menschen würden ermutigt werden,
eigene Betriebe zu gründen, und sie hätten die Chance,
diese auch am Leben zu halten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile jetzt dem
Kollegen Wolfgang Schulhoff für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eines
der größten Übel für unternehmerische Gestaltungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten ist eine überbordende Bürokratie. Wir haben das eben bereits von vielen Rednern gehört;
darin sind wir uns einig. Kein Wirtschaftszweig begrüßt
den staatlichen Bürokratieabbau deshalb mehr als das so
stark betroffene Handwerk und der Mittelstand insgesamt.
Von einer modischen Richtung in der Ökonomie, der
Publizistik und der Politik werden aber leider ausgerechnet die Bedingungen, die den Wettbewerb schaffen, als
Regulierung betrachtet und unter der Flagge der Deregulierung bekämpft. Die Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft wussten zum Beispiel, dass die Ordnung des
Wettbewerbs eine rechtsschöpferische Leistung erfordert.
Wettbewerb ist ohne Spielregeln unmöglich.
So ist es, um ein aktuelles Beispiel anzuführen, auch im
Fußball. Wer die Spielregeln im Fußball abschaffen
wollte, weil sie beide Mannschaften an der Entfaltung ihrer freien Kräfte hindern, wäre kein erfolgreicher Deregulierer, sondern würde das Fußballspiel vermutlich ruinieren.
({0})
Auch zu viel Regulierung ist natürlich nicht gut, wie das
Fußballspiel Kamerun gegen Deutschland - man denke
an die gelben Karten - offensichtlich gezeigt hat.
Es geht also um zu viel Bürokratie und - ich will es ganz
deutlich sagen - um Bürokratie, die die unternehmerische
Freiheit systemwidrig einengt. Diese staatlichen Eingriffe
wirken nämlich wettbewerbsverzerrend und innovationshemmend und sind letztlich demokratiefeindlich.
({1})
Liebe Frau Wolf, ich darf Sie in dem Kontext einmal
ansprechen und Sie bitten, mir ihr Gehör zu leihen. - Sie
hört einfach nicht zu, ich mache trotzdem weiter: Was Sie
hier eben gesagt haben, war handwerksfeindlich.
({2})
Es war eine Kampfansage an einen der wichtigsten Wirtschaftszweige der Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Sie haben es ohne jegliche Sachkenntnis vorgetragen.
({4})
Es war dürftig, aber zum Glück wird dieser Spuk am
22. September beendet sein.
({5})
Wenn Gesetze und Anordnungen nicht einsichtig und
intellektuell nicht nachvollziehbar sind, wirken sie wie
ein Geßler-Hut auf die Menschen und lassen ihre Verfasser als Popanz erscheinen. Sie führen zur Staatsverdrossenheit mit dem Ergebnis, dass sich der Einzelne nicht
mehr mit seinem Staat identifizieren kann. Diese Tendenzen spürt man in Deutschland und in vielen westlichen Demokratien leider schon überdeutlich. Nicht ohne Grund hat
deshalb Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung angekündigt - wir wiederholen das -:
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter
machen, und wir werden hemmende Bürokratie
rasch beseitigen.
Dies hat besonders der Mittelstand gerne gehört. Es
gab viele, die ihm das damals zutrauten. Er hatte eine ausDr. Barbara Höll
reichende Mehrheit, parlamentarisch vieles durchzusetzen.
({6})
Hier wäre ihm in weiten Teilen - das darf ich für meine
Kollegen sagen - die Opposition gerne gefolgt.
({7})
Auch wollte der Bundeskanzler nicht alles anders, aber
vieles besser machen.
({8})
Das hört sich gut an: eine gewisse Bescheidenheit, gepaart
mit Tatendrang. Das ist ein sehr schönes Kanzlerbild; das
muss ich zugeben. Aber was ist danach geschehen? Nichts ist besser, aber vieles schlechter geworden, und
zwar nachweisbar.
({9})
Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir
noch reden.
({10})
Wir werden es immer wiederholen. Daran werden wir
auch Herrn Eichel messen, der ebenfalls nicht mehr da
ist. Deutschland befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, die in vielen Bereichen selbst verschuldet
ist.
({11})
- Ich weiß nicht, warum Sie darüber lächeln. - Statt Bürokratie abzubauen, ist die Belastung der Wirtschaft durch
zusätzliche Aufgaben unerträglich angestiegen.
Ich möchte diese Aussage wachsender Bürokratiebelastung an dem konkreten Beispiel eines mittelständischen
Unternehmers erläutern. Es handelt sich um einen Metallbaubetrieb aus Düsseldorf. Der Betrieb beschäftigt
28 Mitarbeiter. Die Frau des Betriebsinhabers ist für Büro
und Personal zuständig. So, wie es im Handwerk üblich
ist, müssen die Ehefrauen im Betrieb mitarbeiten, damit
er über die Runden kommt.
({12})
- Das ist eine Wahrheit. - Der Betriebsinhaber hat seit 1998
alle zusätzlichen staatlichen Aufgaben aufgelistet und bewertet. Diese administrativen Mehraufwendungen schlagen
in diesem Unternehmen mit zusätzlich 10 000 Euro zu Buche. Er hat diese Zahlen detailliert aufgeführt. Ich kann
Ihnen die Beispiele geben. So weit also zum Bürokratieabbau.
Dieser enorme Kostenanstieg und natürlich weitere administrative Hemmnisse sind für die Strukturschwäche
der deutschen Wirtschaft mitverantwortlich. Nicht ohne
Grund haben wir die schwächsten Wachstumsraten in
der EU. Das haben wir eben schon von Vorrednern gehört.
({13})
- Dafür gibt es viele Gründe. - Dagegen hilft kein Gesundbeten, keine abenteuerliche Dateninterpretation und
auch keine Reformrhetorik, wie wir sie eben von Herrn
Eichel wieder gehört haben, sondern nur schnelles und
entschlossenes Handeln; denn der Abwärtstrend setzt sich
leider fort.
({14})
Ich will hier nichts schlecht reden, wie uns auch eben
wieder von Frau Wolf vorgeworfen wurde. Im Gegenteil:
Ich will, dass es der deutschen Wirtschaft besser geht;
denn ich selber bin mittelständischer Unternehmer und
weiß, wovon ich rede. Deshalb spreche ich ohne jegliche
Gehässigkeit und ohne jegliche Häme. Inzwischen leiden
Millionen meiner Kolleginnen und Kollegen unter der jetzigen Situation. Dies gilt selbstverständlich auch für unsere Mitarbeiter, für die wir uns verantwortlich fühlen.
Für uns gibt es das „hire and fire“, das in den Großbetrieben und Banken üblich ist, nicht. Wir halten unsere Mitarbeiter so lange, wie es eben möglich ist.
({15})
Frau Wolf, Sie sollten sich mit dem Handwerk und dem
Mittelstand beschäftigen, bevor Sie eine solche Rede wie
vorhin halten.
({16})
Als die Schröder-Regierung von Mittelstandspolitik und
Bürokratieabbau sprach, waren das leider nur Worthülsen,
wie sie eben auch wieder von Herrn Eichel benutzt wurden. Bedauerlicherweise gilt das auch für den an sich
sympathischen Wirtschaftsminister. Vielleicht liegt es bei
ihm, der an sich aus der Praxis kommt, daran, dass er nur
Großbetriebserfahrung hat.
({17})
- Herr Brüderle, wir denken kongruent. - Diese Erfahrungen konnte er nur bei einem Monopolisten sammeln.
Lenken wir unseren Blick einmal auf die Finanzpolitik.
Niemals wurde Steuerpolitik - das hat Herr Hauser eben
deutlich gemacht; er weiß, wovon er redet - so dilettantisch
und einseitig wie unter Hans Eichel angegangen. Niemals
wurde sie so bürokratiebeladen, so wettbewerbsfeindlich
und so ungerecht betrieben. Viele unserer aufgelisteten
Fragen machen das überdeutlich. Deswegen sind diese
Fragen auch so unangenehm. Das haben wir gehört. Man
hat uns eben vorgeworfen, weshalb wir überhaupt fragen.
Was ist das für ein Verständnis gegenüber einer Opposition?
({18})
Eines kann aber - das ist noch viel wichtiger - zusammenfassend festgestellt werden: Die Großen wurden entlastet und die Kleinen belastet. So sieht also sozialdemokratische Politik in Wahrheit aus.
({19})
An dieser Feststellung ändert aus mittelständischer Sicht
auch die Gewerbesteuerentlastung nichts. Sie war ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
({20})
Ich wiederhole: Die Koalition favorisiert eindeutig
Großbetriebe, die im Übrigen durch ihre Strukturen mit
bürokratischen Belastungen besser umzugehen verstehen
als die Kleinbetriebe. Darauf hat Herr Brüderle eben hingewiesen. Ich möchte hier keinen Gegensatz zwischen
Groß- und Kleinbetrieben herbeireden. Ich plädiere nur
für mehr Gerechtigkeit und Waffengleichheit im Wettbewerb; denn nach vier Jahren rot-grüner Politik steht der
Mittelstand mit dem Rücken zur Wand. Bei fast jeder Reform der Bundesregierung stand er auf der Verliererseite.
Trotz aller gegenteiligen Versprechungen hat er mit höheren Belastungen und höheren bürokratischen Hürden als
jemals zuvor zu kämpfen. Das sind Tatsachen.
({21})
Gerade jetzt muss der Mittelstand wirksam unterstützt
werden; denn zu all den Mehrbelastungen, die er schon
jetzt zu tragen hat, kommt mit Basel II eine fast apokalyptische Gefahr auf ihn zu. Das, was hier von den mittelständischen Firmen verlangt wird - wir haben schon
Erfahrungen in den entsprechenden Kammern sammeln
können -, ist kaum zu leisten.
({22})
Die Banken handeln leider schon im vorauseilenden Gehorsam. Wo bleiben die vollmundigen Ankündigungen
des Kanzlers? - Er schweigt bzw. er will eine Mittelstandsbank gründen.
({23})
Das bedeutet noch mehr Bürokratie. So können wir die
Probleme nicht lösen. Gerät ein Großbetrieb in Schwierigkeiten, dann kümmert sich der Kanzler selbst um ihn,
und das natürlich im vollen Licht der Scheinwerfer. Wirtschaftliche Vernunft spielt dann keine Rolle mehr, sondern nur noch die Schlagzeilen. Holzmann war dafür ein
abschreckendes Beispiel.
Wenn die Regierung offensichtlich Großbetriebe favorisiert, dann ist das wahrscheinlich auch im Selbstverständnis der Sozialdemokraten begründet. Sie vertrauen
offensichtlich mehr dem Staat als der unternehmerischen
Freiheit des Einzelnen. Die Großen sind nämlich der
staatlichen Bürokratie ähnlich. Man unterhält sich sozusagen von Gleich zu Gleich. Dabei wird man natürlich
von den Gewerkschaften kräftig unterstützt, weil diese
auf beiden Seiten sitzen. Strukturveränderungen sind bei
dieser Rollenverteilung nur hinderlich. Allen notwendigen Veränderungen gegenüber verhält man sich reaktionär. Das ist auch systemimmanent.
Zurück zum Thema. Ehrlicherweise muss man zugeben: Keiner Regierung ist es bisher gelungen, der metastasierenden Krebsgeschwulst Bürokratie Herr zu werden.
Um es einmal selbstkritisch zu sagen: Die eine Regierung
hat es nur besser verstanden als die andere, den Anstieg zu
verlangsamen und die Lasten gerechter zu verteilen. Wir
kennen den Mechanismus. Jeder gute Beamte - wir haben
ja nur gute - will einen Nachweis seiner Produktivität erbringen. Einen solchen Nachweis erbringt der Ministerialrat zum Beispiel dadurch, dass er ein neues Gesetz entwirft oder ein altes verändert. Der Unterabteilungsleiter
muss natürlich seine Produktivität und Qualifikation gegenüber dem Abteilungsleiter auch nachweisen. Deshalb
ist er für jeden Vorschlag des Referenten, ein neues Gesetz auf den Tisch zu legen oder ein altes zu ändern, zutiefst dankbar. Der Abteilungsleiter befindet sich im
Verhältnis zum Staatssekretär natürlich in derselben Interessenlage. Ebenso verhält es sich im Verhältnis von
Staatssekretär zum Minister. Auch der Minister ist in einer schwierigen Situation. Er muss sich in der Öffentlichkeit darstellen. Wie glänzt man am besten? - Natürlich mit
einem neuen Gesetz und mit der Verbesserung der alten
Gesetze. Jetzt wäre an sich die Stunde der Volksvertreter
gekommen, dem Gesetzeswust Einhalt zu gebieten. Leider ist dem nicht so; denn die jeweiligen Sprecher müssen
ja der Fraktion gegenüber auch ihre Wichtigkeit beweisen. Insbesondere brauchen sie in ihren Wahlkreisen Beachtung und Anerkennung. Und wie schafft man das? Den
Rest kennen Sie schon.
Ich weiß, dass ich vereinfache. In einer Beurteilung
dürften wir uns jedoch einig sein: Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Aber wir dürfen uns damit nicht abfinden. Die Bürokratiedichte zu verringern ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben. Ich hoffe - lassen Sie mich das
in meiner wohl letzten Rede vor dem Deutschen Bundestag als Wunsch äußern -, dass es den politisch Handelnden
zukünftig gelingen wird, auf diesem Feld mehr Erfolge zu
erzielen als bisher. Dies gilt für alle. Dass es grundsätzlich
möglich ist, belegen ermutigende Beispiele aus einigen
Ländern, zum Beispiel Hessen. Zu der dadurch zu gewinnenden Freiheit gibt es keine Alternative. Ich wünsche Ihnen in diesem Bemühen viel Glück und alles Gute und
danke Ihnen herzlich.
({24})
Herr Schulhoff, Sie
haben zum Ausdruck gebracht, dass dies Ihre letzte Rede
vor dem Deutschen Bundestag war. Wir alle danken Ihnen
für Ihr Engagement und für die Begleitung in unserem demokratischen Geschäft. Wir wünschen Ihnen alles Gute!
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Uwe Jens für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das Streben des Kollegen
Schulhoff nach immer mehr Gerechtigkeit ist sehr ehrenwert. Ich plädiere in erster Linie für etwas mehr Redlichkeit, für das Bemühen um etwas mehr Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es täte dem Haus insgesamt gut, wenn wir den
platten Wahlkampf ein bisschen an die Seite stellten.
({0})
Für die wuchernde Bürokratie gibt es aus meiner Sicht
eine Fülle von Ursachen - ich gebe gern zu: wir können
sie gar nicht alle diskutieren -: Erstens muss man feststellen, dass unsere Gesellschaft so kompliziert geworden
ist, dass der technische und soziale Wandel so rapide voranschreitet, dass man das mit einfachen Lösungen häufig
gar nicht mehr in den Griff bekommen kann.
Zweitens gibt es die EU-Kommission. Von dort kommt
eine Fülle von neuen Vorschriften auf dieses Haus zu, die
bearbeitet werden müssen und die zur Ausweitung der
Bürokratie beitragen.
Die meisten Wünsche nach neuen Gesetzen kommen
jedoch nicht von einzelnen Abgeordneten, sondern aus
der Wirtschaft oder ihren Verbänden direkt, die gern
dieses oder jenes geregelt haben möchten.
({1})
Sehr häufig kommen wir solchen Wünschen nach und
widersetzen uns ihnen leider viel zu wenig.
({2})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Franz
Werfel, der einmal gesagt hat: Die absolute Freiheit schafft
einen undurchdringlichen Urwald. Die absolute Gerechtigkeit und Gleichheit schafft eine leblose Wüste. - Wir
müssen versuchen, unser Staatsschiff zwischen diesen
beiden Polen hindurchzusteuern. Das Streben nach immer
mehr Gerechtigkeit führt sicherlich auch dazu, dass es immer mehr Bürokratie und immer mehr Vorschriften gibt,
vor allem, Herr Hauser, im Steuerrecht. Es gibt da also
Grenzen, die wir erkennen müssen.
Wir haben in den letzten vier Jahren das eine oder andere - ich sage sogar: relativ viel - getan, um das zu verwirklichen, was der Bundeskanzler in der Regierungserklärung, die von der Opposition jetzt schon zweimal
zitiert worden ist, gesagt hat. Ganz wichtig war für mich
zum Beispiel die Abschaffung des Rabattgesetzes und
der Zugabeverordnung.
({3})
Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung gewesen. Jetzt steht noch eine Novellierung des UWG an,
durch die wir zum Beispiel erreichen müssen, dass solche
Aktionen, wie sie C & A Brenninkmeyer praktiziert hat,
auch ohne Gerichtsverfahren möglich sind. Auch dies
scheint mir ein Schritt in die wirklich richtige Richtung zu
sein.
Wir haben die Gewerbeordnung, insbesondere für
Schausteller, vereinfacht.
({4})
Auch das war wirklich notwendig und das kann man nicht
einfach unter den Tisch kehren. Auch das muss die Öffentlichkeit erfahren.
Wir haben sogar etwas getan, um die recht restriktive
Handwerksordnung, Herr Kollege Schulhoff, ein bisschen aufzulockern. Mit den so genannten Leipziger Beschlüssen haben wir es ermöglicht, dass Altgesellen insbesondere im Übernahmefall die Möglichkeit geboten
wird, einen Betrieb zu übernehmen, ohne den großen Befähigungsnachweis zu erbringen. Ich meine, auch das ist
ein Schritt in die richtige Richtung. Manchen Altgesellen
ist diese Möglichkeit noch nicht bekannt. Ich meine aber,
dass sie sie auch nutzen sollen.
({5})
Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile 52 Existenzgründungslehrstühle.
({6})
An den Universitäten wird versucht, jungen Menschen
beizubringen, wie und vor allem warum es sinnvoll ist,
diesen Sprung in die Selbstständigkeit zu versuchen. Über
Jahre - wir waren nicht immer an der Regierung - hat sich
eine Mentalität entwickelt, nach der junge Leute lieber
Beamte geworden sind, als den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. Wir sind dabei, diese Mentalität umzukehren. Das ist ein vernünftiger Schritt, der endlich erfolgen musste.
({7})
Wir fangen damit sogar schon in den Schulen an. Mit unserem Projekt „Junior“ versuchen wir, Schüler zu animieren,
sich damit auseinander zu setzen, ob es nicht sinnvoller ist,
die Selbstständigkeit - möglicherweise nach Abschluss eines Studiums - anzustreben. Aus meiner Sicht muss schon
in den Schulen angesetzt werden. Das muss vielleicht weiter verstärkt werden - dabei könnten die Länder mithelfen -, aber wir bewegen uns auf alle Fälle in die richtige
Richtung.
Im Übrigen bedeutet nicht jedes Gesetz auch mehr
Bürokratie. Wir haben dennoch - das gebe ich gerne zu,
Herr Poß - in den nächsten vier Jahren sehr viel zu tun.
Unsere Steuerreform geht in die richtige Richtung. Auch
sie hat dazu beigetragen, die Situation etwas zu erleichtern.
Im vergangenen Jahr sind übrigens 69 000 Neugründungen erfolgt.
({8})
Dabei handelt es sich um die Differenz zwischen denjenigen, die Liquidation angemeldet haben, und denjenigen,
die neu hinzugekommen sind. 69 000 Neugründungen reichen mir noch nicht aus, aber es ist sehr lobenswert und
muss hervorgehoben werden.
({9})
Ich plädiere dafür und gebe das meinen Kollegen mit
auf den Weg - ich habe auch bereits mit den Vertretern der
IHK darüber gesprochen -, dass zum Beispiel Existenzgründern in den ersten fünf Jahren die Kammerbeiträge
erlassen werden könnten. Das wäre ein kleiner Schritt.
Ich plädiere auch dafür, dass wir die Buchführungspflicht, die im Steuerrecht festgelegt wird, etwas später
einführen, als es zurzeit kodifiziert ist. Ich plädiere dafür,
die Statistiken, die von kleinen und mittleren Unternehmen erstellt werden müssen, zu überprüfen, um festzustellen, ob alle auf diese Weise anfallenden Statistiken
wirklich gebraucht werden. Im Allgemeinen sind es die
Verbände, die sie brauchen; es ist nicht der Gesetzgeber.
Mir ist bekannt, dass im Wirtschaftsministerium daran gearbeitet wird und ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg.
Besondere Sorge bereitet mir die Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen; das ist bereits dargestellt
worden. Die Risikoscheu der Banken ist größer geworden.
Die Auflockerung des öffentlich-rechtlichen Systems hat
dazu geführt, dass es im Kreditwesen nicht mehr so viel
Wettbewerb gibt, wie es früher der Fall war. Das Streben
nach Shareholder Value führt zweifellos dazu, möglichst
viel hereinzuholen und wenig an die Zukunft zu denken.
Der Bundeskanzler hat das Problem erkannt. Basel II ist
noch nicht aktuell, sondern kommt erst in fünf Jahren,
aber darüber muss bereits jetzt nachgedacht werden.
Es gibt eine Fülle von Ursachen, die uns darüber nachdenken lassen, ob für die Finanzierung der kleinen und
mittleren Unternehmen nicht etwas getan werden muss.
({10})
Ich bin sehr dafür, die Deutsche Ausgleichsbank in eine
deutsche Mittelstandsbank zu überführen
({11})
und ihr auch mehr Kompetenzen einzuräumen, damit die
kleinen und mittleren Unternehmen eine Anlaufstelle bekommen.
Auch ich werde wahrscheinlich zum letzten Mal in diesem Hohen Hause gesprochen haben. Erlauben Sie mir
noch einmal einige Anmerkungen über den Tag hinaus.
Meine große Sorge ist, dass unsere Marktwirtschaft und
der mit ihr verbundene starke Wettbewerb, wofür ich eigentlich immer gekämpft habe, langsam aber sicher in
eine Art Machtwirtschaft entarten. Die großen Konzerne
sind zweifellos auf dem Vormarsch. Deshalb ist das, was
wir heute hier tun, auch so wichtig. Wir müssen uns um
kleine und mittlere Unternehmen kümmern
({12})
und dafür sorgen, dass nicht nur der Wettbewerb erhalten
bleibt, sondern auch junge Leute, die hellen Köpfe, die
nachwachsen, eine Chance bekommen, in dem offenen
System, in dem wir leben, voranzukommen.
Ich mache mir auch Sorgen, dass unser demokratisches
System und unsere politische Ordnung so, wie sie gestaltet
ist - um einen modernen Begriff zu gebrauchen -, nicht
nachhaltig ist. Wir taktieren aus meiner Sicht zu viel. Wir
agieren zu kurzfristig, immer nur auf den nächsten Wahltermin ausgerichtet. Wir hören zu viel auf die Interessenvertretungen. Wir müssten mehr grundsätzliche und langfristige Überlegungen anstellen, sodass von diesem Haus eine
eigenständige Entwicklung ausgeht. Sie kommt mir manchmal im hektischen Kampf des Wahlgeschehens viel zu kurz.
Meine Damen und Herren, ich gehe ohne Trauer und
auch ohne Wehmut. Ich halte es mit Hermann Hesse:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen und wünsche Ihnen
alles Gute.
({13})
Lieber Kollege Jens,
auch Ihnen gelten Dank und Anerkennung des gesamten
Hauses und alle guten Wünsche für den neuen, freieren
Lebensweg. Ich weiß, wovon ich rede.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Ernst Hinsken.
Werte Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich
den Vorrednern herzlich danken, die gerade in ihren Abschlussreden Richtungsweisendes gesagt haben. Herr
Kollege Hauser, das betrifft Sie genauso wie den Kollegen Schulhoff; auch das, was Professor Jens zuletzt gesagt
hat, kann in größten Teilen von mir mitgetragen werden.
Sie haben den Deutschen Bundestag mitgeprägt und haben sich insbesondere auch auf steuerpolitischem und
wirtschaftspolitischem Gebiet hier eingebracht.
Ich möchte zum Thema Folgendes ausführen:
({0})
Bürokratie ist die Geißel des Mittelstandes. Sie liegt wie
ein Mehltau über unserem Land und erstickt jede Initiative. Die Wirtschaft zählt die Bürokratie zu den Top Five
der Investitionshemmnisse.
({1})
Für kleine und mittlere Betriebe ist gerade die Bürokratie
eine besondere Belastung. Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten geben pro Mitarbeiter jährlich rund 3 500 Euro
dafür aus und müssen zudem 62 Stunden dafür arbeiten.
Ein etwas größerer, mittelständischer Betrieb wendet zur
Bewältigung der bürokratischen Auflagen 92 Arbeitstage
auf, das entspricht 731 Stunden. Großunternehmen - das
ist von einigen Vorrednern schon gesagt worden - mit
über 500 Mitarbeitern haben dagegen nur eine Belastung
durch die Bürokratie von 150 Euro bzw. 5,5 Stunden pro
Mitarbeiter zu tragen.
Mir ist auch wichtig zu sagen, weil gerade von den Vorrednern zum Teil Unrichtiges gesagt wurde, dass ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt: Länder mit hoher Regelungsdichte haben einen geringeren Beschäftigungsstand
als Staaten, die nicht alles zu regeln versuchen. Eine
OECD-Untersuchung in 21 führenden Industriestaaten beweist: Deutschland liegt, was die Bürokratiebelastung angeht, leider auf Platz 16. Ich bedauere, dass Herr Minister
Eichel nicht mehr da ist. Es wäre nämlich wichtig gewesen, dass er das hört; denn er hat hier eine andere Meinung
vertreten. Diese Ergebnisse zeigen eines ganz klar: Es wird
nur dann ein höheres Wachstum geben, wenn der Bürokratie zu Leibe gerückt wird.
({2})
Anders als versprochen, haben Sie von Rot-Grün in dieser Legislaturperiode zusätzliche bürokratische Monster
auf Unternehmer losgelassen. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbstständigkeit, Novellierung
des Betriebsverfassungsgesetzes, Ökosteuer usw. sprechen hier Bände.
Eine vor kurzem durchgeführte Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags hat ergeben,
dass allein der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit die
Schaffung von 250 000 neuen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland verhindert hat. Das sollte Ihnen
zu denken geben.
({3})
Darum ist es höchste Zeit, dass sich etwas ändert. Ab morgen sind es nur noch 100 Tage, bis der Spuk von links zu
Ende geht.
Herr Staatssekretär Staffelt, ich bedauere, dass Ihre
Kollegin Wolf nicht mehr da ist. Sie ist als Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung angetreten. Sie sagte, es
werde ihre Hauptaufgabe sein, Bürokratie abzubauen.
Außer heißer Luft hat sie aber nichts produziert.
Sie sollte sich ein Beispiel an dem nehmen, was wir in
unserer Regierungszeit gemacht haben. Ich selbst durfte
einmal in einer Deregulierungskommission des Wirtschaftsministeriums mitarbeiten. Wir haben damals 96 Vorschläge gemacht und innerhalb eines Dreivierteljahres
wurden 62 dieser Vorschläge umgesetzt. Wir haben nicht
nur geprüft, wie uns von Ihrer Seite immer wieder gesagt
wird, sondern wir haben gehandelt; denn das war zum
Wohle der Wirtschaft dringend erforderlich. Ich möchte allerdings hinzufügen: Das war noch viel zu wenig.
Wir müssen uns natürlich an die eigene Brust schlagen:
In nur drei Jahren sind 30 Steuergesetze und 20 Arbeitsmarktgesetze in Kraft getreten. Es ist unglaublich: Bei der
Gründung einer Firma in der Bundesrepublik Deutschland muss man 58 Paragraphen der Arbeitsstättenverordnung und darüber hinaus, falls es sich um einen kleineren
Betrieb handelt, 8 490 Einzelvorschriften beachten. Davor kapitulieren immer mehr potenzielle Unternehmer.
Während es 1998 noch über 810 000 Gewerbeanmeldungen gab, so waren es im Jahr 2001 nur noch etwas mehr
als 728 000. Das ist ein Minus von 10 Prozent. Ich meine,
dass deshalb das Gebot der Stunde lauten muss: Rotstift
ansetzen, um Vorschriften, Regelungen, Ausführungsbestimmungen, Verordnungen, Gesetze und was es sonst
noch gibt rigoros zusammenzustreichen.
Das Saarland zeigt hierbei den richtigen Weg.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin gleich fertig, Frau
Präsidentin. - Ministerpräsident Müller hat seit seinem
Amtsantritt 1 365 Verwaltungsvorschriften gekürzt oder
gestrichen und niemand hat es gemerkt. Wir brauchen ein
Gesetz, das überflüssige Gesetze abschafft. Wir brauchen
einen Bürokratie-TÜV. Das ist erforderlich, damit unsere
Wirtschaft wieder so richtig in Gang kommt. Dafür zu
sorgen, waren Sie in den letzten vier Jahren nicht in der
Lage. Wir werden das in der nächsten Zeit nachholen, damit die Wirtschaft und der Mittelstand Luft zum Atmen
haben und Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden
können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Ludwig Eich für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Natürlich ist der Abbau von Bürokratie ein
wichtiges Ziel. Dennoch gibt es keinen Grund, in blinden
Aktionismus zu verfallen. Es gibt auch keinen Grund für
Krokodilstränen. Herr Kollege Hinsken, ich muss schon
sagen: Gesetze, deren Abschaffung man nicht merkt, sind
nicht diejenigen Gesetze, die uns Probleme machen.
({0})
Ich möchte auf folgenden Punkt hinweisen: Hinter dem
negativ belegten Wort „Bürokratie“ steht doch das Wort
„Ordnungspolitik“.
({1})
Politik, die Ordnung in Abläufe bringen will, die gewährleisten soll, dass es gerecht zugeht, die die Umwelt schützen oder wichtige politischen Ziele durchsetzen soll, kann
doch nicht ohne bürokratischen Aufwand, also ohne das
Mittel von Bürokratie, in Gang gesetzt werden. Natürlich
besteht die Neigung - das ist klar -, des Guten zu viel zu
tun. Deswegen ist es eine ständige Aufgabe von Politik,
das bürokratische Mittel so klein wie möglich zu halten.
Die hier diskutierte Große Anfrage der CDU/CSU erfüllt diesen Anspruch noch nicht einmal im Ansatz. Die
Union stellt 172 Fragen. Bei einigen Fragen kann man
wirklich nur den Kopf schütteln. Da wird beispielsweise
gefragt, wie hoch die Zahl der derzeit gültigen Gesetze,
Rechtsverordnungen und Einzelvorschriften auf Bundesebene sei. Warum fragen Sie nicht, wie viele Kilogramm
Akten jeden Tag über den Schreibtisch gehen? Was soll
die Antwort auf eine solche Frage bewirken, außer dass
sie Heerscharen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
Bewegung setzt?
({2})
Was soll die Frage, wie viele neue Gesetze und Rechtsverordnungen in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet und in Kraft gesetzt worden sind? Warum fragen
Sie eigentlich nicht, wie viele neue Gesetze und Verordnungen zurzeit der Unionsregierung in Kraft getreten
sind?
({3})
Das waren doch sicherlich Gesetze, die Sie für wichtig
hielten. Wer eine solche Anfrage in einem Wahlkampfjahr
stellt, verfolgt eben nicht die Absicht, Bürokratie abzubauen. Ganz im Gegenteil: Sie beschäftigen den Regierungsapparat über jedes vernünftige Maß hinaus und verursachen einen gewaltigen bürokratischen Aufwand.
({4})
Sie wollen darüber hinaus den Mittelstand Glauben
machen, die gesamte staatliche Bürokratie sei in den letzten dreieinhalb Jahren entstanden.
({5})
Natürlich will ich nicht bestreiten, dass auch durch rotgrüne Politik, Herr Kollege Hinsken, Bürokratie entstanden
ist. Leider sind davon auch mittelständische Unternehmen
betroffen. Das ist doch völlig klar. Aber die Regierung
Schröder hat vor allem den Mittelstand unterstützt.
({6})
Sie hat auch Erfolge beim Abbau von Bürokratie.
Wenn ich Ihre Fragen lese, verehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, komme ich aus dem Staunen nicht
mehr heraus. Sie fragen beispielsweise nach den Kosten
der Bauabzugsteuer. Davon war schon mehrfach die
Rede. Irre ich mich oder ist die Bauabzugsteuer auch eine
Initiative von Bayern und Baden-Württemberg im Bundesrat gewesen?
({7})
Hat diese Steuer nicht auch das Bauhauptgewerbe gefordert? Ist sie nicht ein Schutz vor illegalen Praktiken?
({8})
Ich frage mich weiter: Wie sollen anständige Unternehmer ohne jeglichen bürokratischen Aufwand geschützt werden?
({9})
Wie soll beispielsweise der Schutz vor Schwarzarbeit
ohne ordnungspolitische Maßnahmen funktionieren? Wie
sollen wir illegale Beschäftigung eindämmen sowie Korruption und Steuerhinterziehung zurückdrängen? Wie sollen wir die Geldwäsche bekämpfen, ohne dass wir nicht
auch das Mittel der Bürokratie dafür einsetzen?
({10})
Aber es geht Ihnen nicht darum, eine differenzierte Betrachtung anzustellen. Sie wollen Wahlkampf machen und
machen dabei von diesen Mitteln Gebrauch.
Ihre Anfrage soll aber auch von den Leistungen der Regierung Schröder für den Mittelstand ablenken. Ich nenne
zum Beispiel die Steuerpolitik. Wann hat es jemals eine
solche Steuersenkung für den Mittelstand gegeben, Herr
Kollege Hinsken?
({11})
Die Gewerbesteuer ist für Personengesellschaften praktisch abgeschafft.
({12})
Ich weiß nicht, wie lange bereits die Gewerbesteuer erhoben wird. Aber ist es wirklich übertrieben, zu sagen, dass
die praktische Abschaffung der Gewerbesteuer für die
Personengesellschaften ein historisches Verdienst der Regierung Schröder ist?
({13})
Durch die Erhöhung des Grundfreibetrages und die
Senkung des Spitzensteuersatzes wurden auch die Personengesellschaften von der Einkommensteuer stark entlastet. Im Übrigen: Tun Sie nicht so, als gäbe es im Bereich
des Mittelstandes keine GmbHs. Lieber Kollege
Schulhoff, es ist natürlich ein breiter Spagat, als Gesellschafter einer GmbH hier die Krokodilstränen des Handwerks zu weinen. Aber ist es nicht richtig, zu sagen, dass
wir durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes von
45 bzw. 40 auf 25 Prozent auch den Mittelstand in erheblichem Umfang von Steuern entlastet haben?
({14})
Die Regierung Schröder hat den Mittelstand nach
Kräften gefördert. Ich frage mich, warum Sie nicht die
Souveränität haben, dies einfach anzuerkennen.
({15})
- Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen.
({16})
Warum erkennen Sie nicht an, dass Rot-Grün mit vielen Maßnahmen Existenzgründungen gefördert hat,
Herr Kollege Brüderle? Durch Finanzhilfen mit den
verschiedenen Programmen der Förderbanken werden
Neugründungen von Unternehmen beträchtlich gefördert.
Warum erkennen Sie nicht an, dass das MeisterBAföG eine wichtige Maßnahme ist, die es verdient, hier
erwähnt zu werden?
({17})
Warum verschweigen Sie eigentlich, dass kleinere und
mittlere Betriebe bei Investitionen und bei der Schaffung
von Arbeitsplätzen mit den verschiedenen Programmen
nach Kräften unterstützt werden?
Ein Teil Ihrer Fragen, verehrte Damen und Herren der
Union, befasst sich mit dem bürokratischen Aufwand für
Betriebsräte. Insbesondere hinterfragen Sie die letzte
Reform des Betriebsverfassungsgesetzes.
({18})
Im Prinzip wollen Sie damit die Botschaft verbinden: Betriebsräte behindern und erschweren die unternehmerische Entfaltung.
({19})
Sie suggerieren der Öffentlichkeit, dass die Arbeitnehmervertreter in den Betrieben überflüssig sind und nicht
im Interesse der Unternehmen arbeiten.
Mich ärgert weniger, dass Ihnen diese Teilhabe an der
Demokratie offenbar keinen bürokratischen Aufwand
wert ist, sondern mehr die Verkennung der Tatsache, dass
es in der Praxis gerade die Betriebsräte sind, die in
schwierigen Zeiten absolut solidarisch hinter ihren Unternehmen stehen.
({20})
Sind es nicht die Betriebsräte, die bereit sind, auch Lohnverzicht zu leisten, wenn eine Notlage entstanden ist?
({21})
Mobilisieren nicht gerade die Betriebsräte - und die Gewerkschaften, Herr Kollege Brüderle - die Politik und die
Öffentlichkeit? Warum erkennen Sie nicht an, dass gerade
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerkschaften und ihre Vertreter die solidarischsten und treuesten Verbündeten ihrer Unternehmen sind? Das verstehe
ich nicht, meine Damen und Herren.
({22})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? - Bitte
sehr.
Herr Kollege Eich, Sie
haben vorhin dem Mittelstand das Wort geredet. Das kann
ich im Großen und Ganzen teilen. Sie haben eben insbesondere das Betriebsverfassungsgesetz angesprochen und
unsere Forderung nach einer Entbürokratisierung speziell
beim Betriebsverfassungsgesetz zurückgewiesen. Deshalb frage ich Sie, ob Ihnen bekannt und bewusst ist, dass
in Unternehmen ab 200 Beschäftigten ein zusätzlicher
Betriebsrat, der freigestellt werden muss, 170 000 bis
200 000 DM oder etwa 100 000 Euro kostet und dass der
kleine Betrieb mit etwa zehn Beschäftigten, dem Sie das
Wort geredet haben, zusätzlich mit Kosten von etwa 9 000
bis 10 000 DM bzw. 5 000 Euro belastet wird, falls er einen Betriebsrat bekommt, dieses Geld aber nicht ohne
weiteres als Manna vom Himmel fällt?
({0})
Herr Kollege Hinsken, ich frage
mich, welchen Anteil diese 10 000 DM im Verhältnis zur
Lohnkostensumme bei einem Betrieb mit 200 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern darstellen mögen.
({0})
Sie diskutieren darüber, was zwei Betriebsräte mehr in
diesem berühmten Betrieb mit 200 Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern bedeuten.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich empfinde das als
lächerlich. Warum können Sie einfach nicht akzeptieren,
dass es hier um eine Erweiterung von Mitbestimmung
geht? Warum können Sie nicht akzeptieren, dass Betriebsräte den Betrieben auch viel Arbeit abnehmen?
({1})
Ich halte es für einen verhängnisvollen Fehler, wenn
Sie diese Diskussion führen. Ich bitte Sie, damit aufzuhören, in der Öffentlichkeit die Arbeit der Betriebsräte
als lästig oder als irgendwie überflüssig darzustellen.
({2})
Eine besondere Zielscheibe Ihrer Fragen ist die Ökosteuer. Hatte nicht Ihr Kanzlerkandidat verlautbart, er
wolle diese Steuer abschaffen? Jetzt ist zu hören, es gehe
nur noch um die Stufe, die am 1. Januar 2003 in Kraft treten soll.
({3})
Mich interessiert nun, warum Sie dieses nach Ihrer Auffassung so bürokratische Regelwerk beibehalten wollen.
Mich wundert im Übrigen auch, dass Sie in Ihrer Anfrage keine Auskunft über die Auswirkung des Dosenpfands haben wollen. Könnte es sein, dass Sie lieber nicht
darüber reden wollen, dass das Dosenpfand ein Ergebnis
der von Ihnen kreierten Verpackungsverordnung ist?
({4})
Ist es nicht so, dass diese Bürokratie, die ja auch den Mittelstand belastet, aus Ihrer christlich-sozialen Feder
stammt?
Im Übrigen wäre es ein spannendes Thema, zu diskutieren, warum die freiwillige Selbstverpflichtung des Mittelstandes und der Industrie in diesem wie auch in anderen Fällen nicht funktioniert hat.
Wir erleben ja derzeit noch ein anderes Beispiel, nämlich die Diskussion über den so genannten Teuro. Fest
steht, dass die Regierung Schröder bei der Einführung des
Eurobargeldes auf gesetzliche Vorschriften weitgehend
verzichtet hat. Rot-Grün wollte dem Mittelstand und dem
Handel diesen bürokratischen Aufwand nicht zumuten.
Das Ergebnis kennen wir. Ich muss sagen: Es ist nicht in
allen Fällen zufrieden stellend. Es ist keine Ermunterung
der Politik, auf ordnungspolitische Maßnahmen ganz zu
verzichten. Das sind schlicht die Erfahrungen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch für mich war
dies höchstwahrscheinlich die letzte Rede.
({6})
Ich bedanke mich für so manches schöne Gespräch. Ich
habe mich hier sehr wohl gefühlt, verspüre jetzt aber keine
Wehmut. Ich muss offen sagen: Ich bin froh, in meinem
nächsten Lebensabschnitt zu Hause mehr Zeit für körperliche Arbeit zu haben.
Vielen Dank.
({7})
Auch Ihnen, Herr
Kollege Eich, gilt der Dank des ganzen Hauses. Alle guten
Wünsche begleiten Sie.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 d sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf:
40. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dirk Niebel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 14/8545 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian
Müller ({2}), Dr. Rainer Wend, Dr. Axel Berg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({3}),
Ulrike Höfken, Kerstin Müller ({4}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ als regelgebundenes Fördersystem erhalten
- Drucksache 14/9242 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Pia Maier, Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sozialbindung des Eigentums in beschäftigungspolitische Verantwortung umsetzen
- Drucksache 14/8552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina
Schenk, Pia Maier, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Eigenständige Existenzsicherung durch Rückkehr in den Beruf statt nachehelicher Unterhaltsabhängigkeit
- Drucksache 14/9185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JörgOtto Spiller, Adelheid Tröscher, Dr. Ernst
Ulrich von Weizsäcker, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Andrea Fischer ({8}),
Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Reform der internationalen Finanzarchitektur
- Drucksache 14/9359 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Sylvia Voß, Albert Schmidt ({10}),
Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Aktionsplan zum Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland
- Drucksache 14/9363 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({11})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({12}), Matthias
Wissmann, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft Meer - Für eine verantwortungsbewusste Nutzung der Meerestechnologie
- Drucksache 14/9352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 e und 41 g
bis 41 w sowie die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 41 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 15. Juni
1999 des Übereinkommens zum Schutz des
Menschen bei der automatischen Verarbeitung
personenbezogener Daten und zu dem Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zu diesem
Übereinkommen
- Drucksache 14/9193 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({14})
- Drucksache 14/9407 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Beatrix Philipp
Grietje Bettin
Petra Pau
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/9407, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Es haben sich alle erhoben. Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das
Branntweinmonopol
- Drucksachen 14/9005, 14/9042 ({15})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({16})
- Drucksache 14/9409 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Schultz ({17})
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({18})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/9450 Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Hans-Eberhard Urbaniak
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Uwe-Jens Rössel
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9409, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind alle, also ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Änderungen vom 17. November 2000 des Übereinkommens vom 20. August 1971 über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation INTELSAT
- Drucksache 14/8983 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({20})
- Drucksache 14/9412 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({21})
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/9412, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDSFraktion ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 14/9000, 14/9259 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({23})
- Drucksache 14/9418 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Sylvia Bonitz
Grietje Bettin
Petra Pau
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9418, den Gesetzentwurf in
Vizepräsidentin Anke Fuchs
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksachen 14/9197, 14/9235 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({25})
- Drucksache 14/9423 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Wolfgang Götzer
Volker Beck ({26})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9423, den Gesetzentwurf in seiner Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Enthaltung der FDP ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der FDP-Fraktion ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 g:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 15. Dezember 1997 zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge
- Drucksache 14/9198 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 14/9424 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Norbert Geis
Volker Beck ({28})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/9424, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es haben sich alle erhoben. Insofern ist der Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 h:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung des Zweiten Protokolls vom
19. Juni 1997 zum Übereinkommen über den
Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, der gemeinsamen
Maßnahme betreffend die Bestechung im privaten Sektor vom 22. Dezember 1998 und des
Rahmenbeschlusses vom 29. Mai 2000 über die
Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen
Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung
des Euro
- Drucksachen 14/8998, 14/9258 ({29})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 26. Mai 1997
über die Bekämpfung der Bestechung, an der
Beamte der Europäischen Gemeinschaften
oder der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union beteiligt sind
- Drucksachen 14/8999, 14/9208 ({30})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Zweiten Protokoll vom 19. Juni 1997
zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
- Drucksachen 14/9002, 14/9207 ({31})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({32})
- Drucksache 14/9413 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({33})
Christine Lambrecht
Dr. Wolfgang Götzer
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des
Zweiten Protokolls zum Übereinkommen über den
Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, der gemeinsamen Maßnahme betreffend
Vizepräsidentin Anke Fuchs
die Bestechung im privaten Sektor und des Rahmenbeschlusses über die Verstärkung des Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro auf
den Drucksachen 14/8998 und 14/9258. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9413, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Eine Gegenprobe ist nicht nötig. - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es
haben sich alle erhoben. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte
der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind, auf den Drucksachen 14/8999 und 14/9208. Der Rechtsausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9413, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Eine Gegenprobe ist nicht
nötig. Es haben alle zugestimmt. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es
haben sich alle erhoben. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Zweiten Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften auf
den Drucksachen 14/9002 und 14/9207. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9413, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Alle
haben sich erhoben. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 i:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Ordnungswidrigkeitenverfahrensrechts
- Drucksachen 14/9001, 14/9238 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({35})
- Drucksache 14/9426 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Ronald Pofalla
Volker Beck ({36})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9426, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 j:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 13. Dezember 2000
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Australien über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/8984 ({37})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({38})
- Drucksache 14/9234 Berichterstattung:
Abgeordnete Pia Maier
Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/9234, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Nun komme ich zu Tagesordnungspunkt 41 k:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates vom 5. November 1992
- Drucksache 14/7545 ({39})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({40})
- Drucksache 14/9408 Vizepräsidentin Anke Fuchs
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({41})
Dr. Hans-Peter Uhl
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/9408,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der
PDS-Fraktion ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS
ist der Gesetzentwurf angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 41 l auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Revisionsprotokoll vom
12. März 2002 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 14/9201 ({42})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({43})
- Drucksache 14/9381 Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl
Hansgeorg Hauser ({44})
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({45}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/9441 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/9381, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Es haben sich alle erhoben. Der
Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Nun komme ich zu Tagesordnungspunkt 41 m:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Internationalen Kaffee-Übereinkommen von 2001
- Drucksache 14/9202 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({46})
- Drucksache 14/9411 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/9411, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist
der Gesetzentwurf angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 41 n auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung von Rechtsvorschriften an veränderte Zuständigkeiten oder Behördenbezeichnungen innerhalb der Bundesregierung ({47})
- Drucksache 14/8977 ({48})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({49})
- Drucksache 14/9353 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Bernd Wilz
Volker Beck ({50})
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9353, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 41 o auf:
Beratung der Beschussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({51}) zu
dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Nutzung satellitengestützter Erdbeobachtungsinformationen
Vizepräsidentin Anke Fuchs
- Drucksachen 14/8034, 14/8514 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Lothar Fischer ({52})
Hans-Josef Fell
Angela Marquardt
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8034 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 p:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({53}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Änderung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für
den Ausschuss nach Art. 77 des Grundgesetzes
({54})
- Drucksachen 14/119, 14/9123 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/119 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die
Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenom-
men.
Dazu gibt es eine Erklärung der Kollegin Dr. Evelyn
Kenzler. Diese nehmen wir zu Protokoll.1)
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsauschusses.
Tagesordnungspunkt 41 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({55})
Sammelübersicht 397 zu Petitionen
- Drucksache 14/9229 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelübersicht 397 angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({56})
Sammelübersicht 398 zu Petitionen
- Drucksache 14/9230 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 s:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({57})
Sammelübersicht 399 zu Petitionen
- Drucksache 14/9231 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS
bei Enthaltung der FDP ist die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 t:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({58})
Sammelübersicht 400 zu Petitionen
- Drucksache 14/9232 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ist die Sammelübersicht 400 angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 u:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({59})
Sammelübersicht 401 zu Petitionen
- Drucksache 14/9233 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der PDS ist diese Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 v:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({60}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertste Verordnung zur Änderung der
Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/8740, 14/8829 Nr. 2.2, 14/9303 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 14/8740 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 w:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({61}) zu der Verordnung der Bun-
desregierung
Sechsundfünfzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 14/8712, 14/8829 Nr. 2.1, 14/9304 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 10
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 14/8712 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 5 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen zum Übereinkommen vom 7. November 1991 zum Schutz der
Alpen ({62})
- Drucksache 14/8980 ({63})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({64})
- Drucksache 14/9457 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Dr. Paul Laufs
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9457, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 5 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. Oktober 2001 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Kroatien andererseits
- Drucksache 14/8981 ({65})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({66})
- Drucksache 14/9271 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Heubaum
Karl Lamers
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Wolfgang Gehrcke
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Auswärtige Ausschuss
empfiehlt auf der Drucksache 14/9271, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es haben
sich alle erhoben, damit ist der Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.
Nun rufe ich Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen aktueller Vorschläge zum Umbau der
Sozialversicherungssysteme auf die Höhe der
Rentenbeiträge und die Gesundheitsversorgung der Bürger
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Zeitung von
heute sagt Herr Seehofer: Wir wollen die Abgabenlast
verringern. Gleichzeitig will er - durch Selbstbehalte den Krankenkassen Mittel entziehen. Daneben wird in
dem Artikel gesagt, dass es keine Belastungen für Kranke
geben soll.
Da frage ich mich ernsthaft: Glauben Sie wirklich, dass
die Menschen schon alles vergessen haben? Glauben Sie
ernsthaft, dass die Leute vergessen haben, dass Sie in Ihrer Regierungszeit vor der Wahl von 1998 das Zuzahlungsvolumen von 1,2 Milliarden DM auf 5,4 Milliarden
DM allein im Arzneimittelbereich erhöht haben? Glauben
Sie, die Leute haben vergessen, dass Sie die Zuzahlungen
insgesamt auf ein Volumen von 10 Milliarden Euro heraufgesetzt haben, die nur die Kranken erbringen müssen,
niemand sonst?
Das Zweite, was die Menschen sicherlich nicht vergessen haben, auch wenn Sie ihnen versprechen, alles
werde prima werden, sind die Leistungsausgrenzungen.
Im Augenblick beschäftigen wir uns im Bundestag damit,
was mit den Mütterkuren und in den Kurorten passiert ist.
Wir sind doch gerade dabei, all dies zu reparieren. Dies
schließt auch die Streichungen beim Krankengeld ein.
({0})
Schauen wir uns einmal an, was Sie jetzt anbieten.
({1})
Sie bieten Wahltarife und Selbstbehalte an und legen damit letztendlich die Axt an das Solidarsystem.
({2})
Sie wissen sehr genau - das werfe ich vielen, die hier sitzen, vor -, dass dies ein Angebot für Junge, Gesunde und
Singles ist. Nur wenn jemand gesund und jung ist und keine
Familie mit Kindern hat, wird er Leistungen abwählen oder
sich für einen Selbstbehalt entscheiden können.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Was wird dabei herauskommen? Untersuchungen belegen, dass circa ein Drittel der Versicherten so gut wie
keine Leistungen in Anspruch nimmt. An diese Gruppe
richtet sich Ihr Angebot. Man kann davon ausgehen, dass
die Menschen nur dann einen Selbstbehalt wählen, wenn
es sich im Hinblick auf die zu zahlenden Gesamtbeiträge
lohnt. Man geht davon aus, dass ein Monatsbeitrag von
schätzungsweise 1 100 Euro erstattet oder gleich einbehalten wird. Wissen Sie, was das bei einer Gruppe dieser
Größe bedeutet? Den Krankenversicherungen werden
circa 6 Milliarden Euro fehlen, mit denen sie bisher chronisch Kranke, Alte und Familien versorgen konnten.
({3})
Mit dieser Abwahl steigen sie aus. Wenn wir Sie dann
fragen - in diesem Fall hat das ein Journalist für uns gemacht -, ob sie dann, wenn sie älter oder krank werden,
wieder einsteigen dürfen - möglicherweise sind sie eines
Tages Diabetiker -, dann sagt Herr Seehofer:
Die Optionen müssten begrenzt werden, sonst gibt es
Verwerfungen.
Wie sollen sie denn begrenzt werden? Am Ende bleibt die
Botschaft: Einmal abgewählt, Pech gehabt. Oder zahlt
dann doch die Gemeinschaft, der man vorher die Solidarität vorenthalten hat?
Wie sieht es mit Ihren weiteren Vorschlägen aus? Sie
schlagen vor, die versicherungspflichtigen 630-MarkJobs wieder aufzugeben. Dies bedeutet, dass zu den 6 Milliarden Euro, die ich eben aufgezeigt habe, nochmals
1,5 Milliarden Euro fehlen werden.
({4})
Der nächste Vorschlag lautet, 1 Milliarde Euro mehr
für neue Ärzte im Krankenhaus. Das ist alles ganz wunderbar und löblich. Wir sind hier bereits mit 100 Millionen
jährlich gestartet. Das ist verkraftbar. Aber Sie sprechen
von 1 Milliarde. Wenn dann gefragt wird, wie diese Milliarde finanziert werden soll, heißt es: Das kann man
durch Einsparungen bei unwirtschaftlichen Ausgaben machen. Ich frage Sie ernsthaft, wo solche Einsparungen
vorgenommen werden sollen, da Sie in den letzten Wochen und Monaten ständig behauptet haben, dieses Gesundheitssystem sei ausgepresst wie eine Zitrone. Haben
wir nun Unwirtschaftlichkeit und Einsparpotenziale oder
nicht?
({5})
Bevor Sie mit einem Wahlprogramm auftreten, sollten Sie
erst einmal für sich selbst abklären, was Sache ist.
({6})
- Das sage ich Ihnen jetzt.
Niemand in diesem Land will den Ausstieg aus der solidarischen Krankenversicherung.
({7})
Niemand in diesem Land braucht den Ausstieg aus der sozialen Krankenversicherung.
({8})
Wir brauchen aber mehr Prävention.
({9})
Sie haben sie 1997 abgeschafft.
({10})
Wir haben sie 1998 wieder installiert.
({11})
Wir brauchen weiterhin mehr Qualität. Wir werden am
1. Juli mit strukturierten, qualitätsgesicherten Behandlungsprogrammen für Diabetiker starten und im Jahr 2003
auch mit Vorsorgeuntersuchungen von hoher Qualität und
mit einem Brustkrebsscreening für Frauen. Gleichzeitig
werden wir auch bei der Behandlung von Brustkrebs für
eine Qualität nach internationalem Standard sorgen.
Wir brauchen mehr Transparenz.
({12})
In Rheinhessen läuft zurzeit ein Modellversuch. Patienten
bekommen eine Quittung und können sehen, was passiert
ist. Wir werden am Ende sehen können, wie wir das zu bewerten haben.
({13})
Wir werden die Patientenkarte bekommen; die Vorbereitungen dazu sind nahezu abgeschlossen. Dann können
alle Patienten, wenn sie es möchten, ihre Daten sehen. Sie
können sehen, was passiert ist, was geleistet und was abgerechnet wurde. Man kann auch sehen, welche Behandlungsschritte durchgeführt und welche Arzneimittel verordnet wurden. Das verstehe ich unter Qualitätssicherheit
und Transparenz.
Was brauchen wir sonst? Brauchen wir das, was Sie unter Wettbewerb verstehen? Brauchen wir Wettbewerb um
den niedrigsten Beitragssatz? Brauchen wir Wettbewerb,
damit sich einer, der es sich leisten kann, weil er jung und
gesund ist, aus dem System verabschiedet? Diese Form
des Wettbewerbs hatten wir in den letzten zwei Jahren
massiv. Dadurch haben uns jährlich Milliardenbeträge gefehlt, die wir zur Versorgung von chronisch Kranken
benötigt hätten.
({14})
Was haben Sie jetzt anzubieten? Sie bieten im Prinzip
in einer etwas veränderten Form das Gleiche an, was wir
mühsam repariert haben. Was wir brauchen, ist Wettbewerb um Qualität; das sichern wir mit den strukturierten
Behandlungsprogrammen für Chroniker. Wir brauchen
weiterhin Wettbewerb bei der Leistungserbringung. Das
werden wir dort, wo es möglich und verantwortbar ist,
einheitlich und gemeinsam den Krankenkassen aufgeben.
({15})
Wir brauchen weiterhin Wettbewerb mit mehr Qualität
durch eine bessere Abstimmung zwischen ambulanter und
stationärer Behandlung. Das heißt, es wird neben den Kollektivverträgen auch Einzel- und Gruppenverträge geben.
Wenn wir diese Punkte - Prävention, Qualität, Transparenz, Wettbewerb um Qualität - aufgreifen, werden wir
auch mehr Effizienz erzielen. Im Krankenhausbereich haben wir damit bereits begonnen. Wir haben dort ein Preisund Leistungssystem gesetzlich vorbereitet, in dem auch
kleine Krankenhäuser berücksichtigt werden. Sie versprechen die Besitzstandwahrung für alle kleinen Krankenhäuser. Das ist das nächste unredliche Versprechen.
Dazu muss ich fragen: Was ist mit manchem kleinen
Krankenhaus, bei dem einfach die Qualität gar nicht mehr
gegeben ist, weil die Leistung so selten vorkommt?
({16})
Ich frage aber auch: Was ist mit kleinen Krankenhäusern, die wir für eine Notfallversorgung in der ländlichen
Fläche brauchen?
({17})
Für diesen Bereich haben wir Sonderzahlungen vorgesehen, damit sie bleiben. Ich kann aber nicht einfach die
Garantie geben: Es bleibt alles immerzu und ewig. Ich
muss mich an verschiedenen Punkten orientieren. Wenn
man Stabilität erreichen will, geht das letztendlich nur
über mehr Qualität.
({18})
Bevor ich dem Kollegen Dr. Wolf Bauer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort
erteile, möchte ich der Gesundheitsministerin zu ihrem
heutigen Geburtstag gratulieren.
({0})
Wir wünschen Ihnen Glück und Erfolg, aber natürlich
auch Gesundheit.
Herr Dr. Bauer, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Ich möchte natürlich auch Geburtstagsgrüße überbringen und Ihnen vor allem gute
Besserung wünschen. Ich glaube, Sie haben im Moment
ein paar Probleme. Alles Gute, damit Sie bald wieder mit
voller Schaffenskraft unter uns sein können.
Für mich als Gesundheitspolitiker ist schon äußerst interessant, dass die Koalitionsfraktionen das Thema ihrer
Aktuellen Stunde kurzfristig geändert haben. Ganz offensichtlich haben sie in letzter Minute eingesehen, dass
eine Diskussion über „aktuelle Vorschläge, die im Ergebnis zur Einführung einer Zweiklassenmedizin führen“,
ein Eigentor geworden wäre. Denn nicht aktuelle Vorschläge, sondern eine verfehlte Gesundheitspolitik der
rot-grünen Bundesregierung hat es bereits geschafft, dass
nicht mehr viel bis zum Erreichen einer Zweiklassenmedizin fehlt.
({0})
Mit Recht empört sich der Vizepräsident des Sozialverbandes Deutschlands, Sven Picker, darüber, dass - ich
zitiere diese Zweiklassenmedizin nicht mehr länger hinnehmbar ist. Es ist ein Unding, dass die Billigmedikamentpflicht nur für Kassenpatienten gelten solle.
Leider muss man Sven Picker Recht geben; denn Ihre Gesundheitspolitik muss nahezu zwangsläufig zu einer
Zweiklassenmedizin führen. Dank Ihrer Gesetzgebung ist
die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung - sprich:
speziell der GKV-Versicherten - heute geprägt durch Vorenthalten von Leistungen, Verschieben von Operationen,
Verschreiben nur noch des Billigsten, und das alles bei
steigenden Beitragssätzen.
({1})
- Sie können so viel dazwischenreden, wie Sie wollen, es
ist nun einmal so. Sie können auch gern einmal nach
draußen gehen und die Menschen fragen.
({2})
- Ich sage Ihnen gleich, was durch Wiederholen nicht
wahrer wird.
Das ist das Ergebnis von nur vier Jahren rot-grüner
Gesundheitsreformpolitik. Sie ist gescheitert. Und was
weitere Jahre einer solchen konzeptlosen Politik bringen
würden - um noch einmal auf das Thema der Aktuellen
Stunde einzugehen -, hat die Bundesgesundheitsministerin selbst gesagt. Sie will die Leistungen der GKV an
ihre Mitglieder weiter zusammenstreichen. Auf dem
Weltgesundheitstag in Leipzig erklärte sie - ich zitiere -,
dass
besondere Leistungen wie Mutterschaftsgeld, Sterilisation, künstliche Befruchtung, Krankengeld bei
Erkrankung des Kindes und Sterbegeld künftig nicht
mehr von der Kasse gezahlt werden
sollten. Das ist der Weg in die Zweiklassenmedizin.
Mittlerweile pfeifen die Spatzen von den Dächern,
dass bisher alle Reformvorhaben der Bundesgesundheitsministerin erfolglos geblieben sind. So wundert es nicht,
dass sich Nervosität im Regierungslager breit macht. Dass
allerdings allein schon das Ende der krankheitsbedingten
Abwesenheit von Horst Seehofer ausreicht, die BundesParl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch
gesundheitsministerin kopflos werden zu lassen, ist bemerkenswert.
({3})
Man muss sich überlegen, was in der Pressemitteilung
vom 10. Juni alles verkündet wurde. Auf nur drei Seiten
Ministerinpapier standen sechs Unwahrheiten. Diese Unwahrheiten sind heute wiederholt worden. Sie werden
aber durch permanentes Wiederholen nicht wahrer.
({4})
So weiß ich zum Beispiel nicht, woher die Gesundheitsministerin die Erkenntnis hat, dass bei der Union - ich
zitiere - „fast alles zur Disposition stehen“ solle. Für Leistungsbereiche wie Krankenhausbehandlung, ambulante
ärztliche Versorgung und Arzneimitteltherapie wird es mit
uns keine Abwahlmöglichkeit geben. Was wir wollen
- und das ist richtig; das wollen auch die Versicherten -,
ist, mehr Eigenverantwortung in das System zu bringen.
({5})
Wir wollen, dass die Versicherten über den Umfang ihres
Versicherungsschutzes mitbestimmen können.
Es war eine Bestätigung unserer Politik - das fand ich
prima -, dass die Staatssekretärin vorhin gesagt hat, niemand im Land wolle den Ausstieg aus der Solidargemeinschaft. Also kann man uns das letztlich nicht vorwerfen; noch sind wir auch Bürger dieses Landes.
({6})
Ich wäre jetzt gern noch auf die Arzneimittelversorgung und ähnliche Probleme eingegangen. Es ließe sich
viel sagen. Da die Redezeit aber zu Ende geht, möchte ich
nur feststellen, dass wir, die CDU/CSU, im Gegensatz zur
rot-grünen Bundesregierung und zu den sie tragenden
Koalitionsfraktionen ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept für die Gesundheitspolitik haben. So wie es in unserem Regierungsprogramm 2002/2006 steht, wollen wir
- ich zitiere ein Gesundheitswesen, das dem medizinischen Fortschritt verpflichtet bleibt und das allen Versicherten
unabhängig von deren Einkommen, Alter, Art der
Krankheit oder Familienstand zugute kommt.
Das ist unser Ziel. Und, meine Damen, meine Herren, wir
werden es erreichen, auch wenn noch öfter alle Roten und
alle Grünen zusammen mit Falschdarstellungen und Verleumdungen versuchen, uns daran zu hindern.
({7})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich der Ministerin - sie ist noch da - herzlich gratuliert habe - alles Gute, liebe Ulla Schmidt -, will
ich am Anfang meiner Rede sehr deutlich sagen, dass
nicht die Rückkehr von Horst Seehofer Ausschlag zu irgendetwas gegeben hat. Ich freue mich von ganzem Herzen über seine Rückkehr und bin froh, dass er wieder gesund ist. Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen.
Die Äußerungen, die Horst Seehofer nicht allein in die
Welt gesetzt hat, sondern auch Friedrich Merz und andere,
sind Anlass dieser Debatte. Es geht dabei nicht um Kopflosigkeit unsererseits.
({0})
Ich bin froh darüber, dass ich jetzt verstanden habe,
was es mit dem Kompetenzteam auf sich hat. Im Kompetenzteam sind Leute, die das, was im Wahlprogramm der
Union steht, in irgendeiner Weise revidieren müssen. Erst
war es Lothar Späth, jetzt ist es Horst Seehofer. Wolfgang
Schäuble ist, wenn man an seine Vorschläge zur Bundeswehr denkt, auch in dem Team. Wenn man sich das einmal genau anschaut, erkennt man, dass es eine Art Wiederkehr der Kohl-Köpfe auf niedrigem Niveau ist.
({1})
Es ist so, weil sich nichts geändert hat. In der „Süddeutschen Zeitung“ lese ich: „Seehofer im Zick-ZackKurs“. Wahrscheinlich haben Sie alle das nicht gelesen,
weil es nicht in der Zeitung von heute, sondern in der vom
24. Februar 1997 steht.
({2})
Ich zitiere:
Seehofer ist unter Druck geraten, er steuert einen unbegreiflichen Zick-Zack-Kurs. Eine Flut von neuen
Gesetzen hat in den letzten Monaten Verwirrung gestiftet, einiges im System aus dem Lot gebracht und
die Patienten über Gebühr belastet. Die zunächst
favorisierte Positivliste ({3}) wurde gestrichen, die Verzahnung zwischen ambulanter und
stationärer Behandlung fehlt nach wie vor. Den Ärzten drohte Seehofer mit der Peitsche, jetzt lockt er sie
mit Zuckerbrot: Er lockert die Zulassungsbeschränkung und hebt die Ausgabenbegrenzung für Arzneimittel auf, obwohl die Defizite der Kassen genauso
hoch sind wie 1992.
Meine Damen und Herren, das ist 1997 unter der Überschrift „Seehofer im Zick-Zack-Kurs“ sozusagen zu Protokoll gegeben worden. Ich habe den Eindruck, dass sich
daran wirklich nicht viel geändert hat.
Das, was Sie wirklich vorhaben, haben Sie uns ja präsentiert. Das müssen Sie den Wählerinnen und Wählern
dann aber auch klar sagen.
({4})
Jemand, der die Erhöhung der Rentenbeiträge erst fordert
und diese Forderung dann wieder dementiert, muss schon
erklären, wie er das Defizit, das dann, wenn die letzte
Stufe der Ökosteuer nicht in Kraft gesetzt wird, entsteht,
ausgleichen will. Die Verbesserung der Konjunktur soll
wie Manna vom Himmel fallen. In Ihrem Programm wird
alles damit begründet, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung schon verbessern werde und dass man damit alles finanzieren könne.
({5})
Sie wollen die Einstellung von Klinikärzten, den Wegfall
der Ökosteuereinnahmen und offensichtlich auch noch
das Wohl der ganzen Welt damit finanzieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Wählerinnen und Wähler auf solche Dinge nicht mehr hereinfallen. Dazu kennen Sie euch
noch zu genau.
({6})
Was haben Sie noch vor? Sie wollen den Einstieg in das
Optionsmodell. Ich habe versucht, mir das vorzustellen.
({7})
Sie sagen selbst, dass das so ähnlich wie bei der Kraftfahrzeugversicherung laufen soll. Ich finde - das habe ich
hier schon einmal gesagt -, dass Patienten bzw. - allgemein - Menschen keine Autos sind. Bleiben wir aber in
diesem Bild: Jemand, der nicht viel Geld hat, wird den billigeren Beitrag auswählen. Er versichert also nur einen
Teil. Viele Studenten fahren mit einer alten Kutsche durch
die Gegend. Wenn sie irgendwann einen Unfall bauen,
fahren sie eben eine Weile mit Beulen durch die Gegend.
Ich möchte nicht, dass Patientinnen und Patienten, also
Kranke, in diesem Land mit Beulen durch die Gegend laufen, weil sie sich die Gesundheit nicht leisten können.
({8})
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Das werden die Wählerinnen und Wähler merken und dann auch
entsprechend entscheiden.
({9})
Horst Seehofer hat gesagt, er brauche einen Beirat aus
Ärzten. Ich sagen Ihnen: Jemand, der den runden Tisch
von Ulla Schmidt auf eine Art und Weise, die aus meiner
Sicht schon nicht mehr redlich war, kritisiert hat und jetzt
sagt, man brauche einen Beirat aus Ärzten, betreibt Lobbypolitik.
({10})
Es geht im Gesundheitswesen nämlich darum, dass nicht
eine Gruppe irgendetwas bestimmt. Das hatten wir in den
letzten Jahren der Kohl-Regierung. Mit starker Unterstützung der FDP haben Sie damals genau diese Lobbypolitik
betrieben. Die Apotheker dürften dann wahrscheinlich
auch noch mitberaten.
({11})
Wir wollen - das haben wir auch erreicht -, dass alle,
nämlich die Ärzteschaft, die Apothekerschaft, die Krankenkassen und vor allem die Versicherten und die Patientinnen und Patienten, von deren Blickwinkel aus wir die
Gesundheitspolitik betrachten, an einem Tisch sitzen. Das
ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Das werden
die Wählerinnen und Wähler am 22. September merken.
({12})
Ich bin froh, dass hinsichtlich der Beitragserhöhungen
und der Verschlechterung der Versorgung die Katze aus
dem Sack ist. Jetzt wissen wenigstens alle, zwischen welchen Optionen sie sich zu entscheiden haben.
Vielen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag auf Durchführung dieser Aktuellen Stunde vonseiten der rot-grünen
Koalition zeugt von ihrer wachsenden Nervosität.
({0})
Dazu hat sie angesichts der miserablen sozialpolitischen
Bilanz, die sie nach den letzten vier Jahren vorzulegen
hat, allen Grund.
({1})
Eines kann ich Ihnen sagen: Sie argumentieren immer
nur rückwärts gewandt. Die Wähler werden am 22. September über die vier Jahre Ihrer Politik entscheiden.
({2})
Nicht die Zeit vor 1998, sondern 2002 steht die rot-grüne
Koalition zur Wahl.
Ich will Ihnen einfach nur ein paar Zahlen aus dieser
Bilanz nennen. Die gesetzlichen Krankenkassen hatten
1998 einen Überschuss von ungefähr 1,2 Milliarden Euro.
({3})
Sie haben 2001 ein Defizit von 2,8 Milliarden Euro. Das
heißt, Sie haben innerhalb der letzten vier Jahre durch Ihre
Beschlüsse schlicht und ergreifend 4 Milliarden Euro verspielt.
({4})
Sie müssen mit einer Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen in diesen Wahlkampf gehen, obwohl Ihr Kanzler
3,5 Millionen Arbeitslose angekündigt hatte. Was noch
schlimmer ist: Im Gegensatz zu 1998, als ab Mai die Zahl
der Arbeitslosen unter die Zahl des Vorjahres sank, steigt
bei Ihnen im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Arbeitslosen. Das heißt, Ihre Wirtschaftspolitik hat außer Kostensteigerungen und Arbeitslosen nichts bewirkt.
({5})
Das werden Ihnen die Wählerinnen und Wähler nicht
durchgehen lassen.
({6})
Keiner redet mehr darüber, dass Sie im Jahr 2002 die
Rentenversicherungsbeiträge eigentlich auf 18,9 Prozent
senken wollten. Das konnten Sie nicht, weil Ihre Rentenreform einfach nicht vernünftig und tief greifend genug war.
Statt den Rentenbeitragssatz zu senken, mussten Sie ihn bei
19,1 Prozent halten, was im Endeffekt eine Erhöhung des
Beitragssatzes gegenüber der Prognose darstellt.
Ihre Wirtschaftspolitik bewirkt darüber hinaus, dass
nach dem 22. September niemand auch nur im Ansatz so
schnell daran denken kann, das wieder gutzumachen, was
Sie alles in den Sand gesetzt haben, sodass eine Anhebung
der Rentenbeiträge vorübergehend nicht ausgeschlossen
werden kann. Aber was wichtig ist: Die Strukturreformen,
die Sie vier Jahre lang nicht durchgeführt haben, müssen
jetzt nicht nur in der Rente, sondern selbstverständlich
auch in der Gesundheitspolitik angepackt werden.
Die Frau Parlamentarische Staatssekretärin hat sich
hier über zehn Minuten lang nur mit dem beschäftigt, was
die Union vorschlägt.
({7})
- Meinetwegen waren es neun Minuten. Dann hat sie sich
acht Minuten mit dem beschäftigt, was die Union vorschlägt, und eine Minute mit dem, was Sie selber machen
wollen.
({8})
Dabei sind gerade in den letzten Monaten Ihrer Regierungszeit die durchschnittlichen Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung von 13,5 auf 14 Prozent
gestiegen. Sie versuchen, die Wählerinnen und Wähler
über Ihre Absichten zu täuschen, indem Sie einfach Schlagworte in die Welt setzen und dies als ein Konzept verkaufen. Sie sagen aber nicht konkret, was Sie tun wollen.
Zu dem einzigen Punkt, den Sie konkret genannt haben, nämlich die strukturierten Behandlungsprogramme
für chronisch Kranke
({9})
- das muss man machen; das sehen wir genauso -, sagen
die Ärzte, die das machen sollen, dass das so viel Bürokratie verursachen wird, dass dies vom Ansatz her verfehlt
ist.
({10})
Das ist ein Kennzeichen Ihrer Gesundheitspolitik: Sie
denken nicht wirklich daran, wie Sie die Selbstverantwortung der Menschen stärken können, sondern Sie wollen neue Institutionen mit mehr Bürokratie. Das ist das
Einzige, worüber Sie nachdenken.
Die FDP will in der Tat einen völlig anderen Weg gehen,
({11})
der übrigens Zustimmung bei den Patienten findet.
({12})
Wettbewerb muss im gesamten Gesundheitssystem konsequent durchdekliniert werden. Wenn man das nicht
macht, dann wird es besonders teuer. Deswegen ist der
wettbewerbsorientierte Weg auf jeden Fall richtig. Warum
sollen denn die Menschen den Umfang ihrer Versorgung
nicht selber bestimmen?
({13})
Sie wollen sie bevormunden.
Wir wollen dagegen die Selbstverantwortung stärken.
Sie werden sehen: Die Menschen wollen Selbstverantwortung haben.
({14})
- Ich komme sofort zum Schluss. - Das ist der Weg aus
der Zweiklassenmedizin, den Sie - und nicht irgendjemand anders - mit der Budgetierung gegangen sind. Sie
müssen aus Kostengründen letztlich den Patienten Leistungen vorenthalten, weil die Budgets ausgeschöpft sind.
Das ist ein Irrweg. Wir werden das ändern.
({15})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wer uns heute zuhört, hat sehr schnell erkannt und begriffen, welches der
tatsächliche Anlass der heutigen Aktuellen Stunde ist. Es
ist Wahlkampf und Horst Seehofer hat zum falschen Zeitpunkt unvorsichtiger- und unbedachterweise die Wahrheit
über die zukünftige Entwicklung der Rentenbeiträge und
über einige sensible Bereiche der Gesundheitspolitik gesagt. Mit der Wahrheit ist es aber so eine Sache: Jeder hat
seine und vor allem in Wahlkampfzeiten scheint sie für
diejenigen, die an die Macht wollen, das bestgehütete Geheimnis zu sein.
So gesehen bin ich Herrn Seehofer für seine Meinungsäußerung sehr dankbar. Auch wenn er auf höheren
Befehl hin seine Aussagen korrigieren musste, ist trotzdem eines erreicht worden - das finde ich sehr gut -: Die
Öffentlichkeit ist durch die Medien lange nicht mehr so
gut und ausführlich über die Wahlversprechen der Parteien und das, was hinter ihnen steckt, informiert worden
wie durch die so genannten unvorsichtigen Worte des Sozial- und Gesundheitsexperten Seehofer.
Seine Einschätzung, dass die Sozialversicherungssysteme zunehmend in Finanznot gerieten, wenn die Massenarbeitslosigkeit nicht konsequent zurückgedrängt werden könne, ist richtig. Er hat nur vergessen, Folgendes zu
sagen: Mit den Vorschlägen der Union, auf die letzte Stufe
der Ökosteuer ersatzlos zu verzichten und den Niedriglohnsektor massiv auszubauen, kommt kein Geld in die
Rentenkassen. Im Gegenteil: Dem Rentensystem werden
Einnahmen entzogen. Wenn Stoiber dann noch verkündet,
die Ruhestandsgehälter ungeschmälert zu lassen, dann
würde das automatisch zu höheren Rentenbeiträgen führen.
Der Kollege Blüm hat in der Debatte am letzten Donnerstag, in der es um die Zukunft der Sozialversicherungssysteme ging, eigentlich klare und deutliche Worte
dazu gesagt. Schade ist nur, dass in der Union anscheinend niemand mehr auf ihn hört. Ich weiß, dass die PDS
damals dem demographischen Faktor in Blüms Rentenkonzept sehr kritisch gegenüberstand. Aber im Vergleich
zu dem, was die Union für die Zukunft der Rentenversicherung anzubieten hat und was Rot-Grün als RiesterRente verkauft, war Blüms Rentenkonzept das kleinere
Übel.
Nun ein paar Worte zu dem Problem in der gesetzlichen Krankenversicherung. Diesbezüglich hat Kollege
Seehofer, als er gesund in die Politik zurückgekehrt ist,
durchaus einige Wahrheiten ausgesprochen. Wenn er sagt
- ich zitiere aus der Ausgabe der „Welt“ vom 10. Juni -:
„Viel zu sehr haben wir uns als Politiker um die finanziellen Probleme des Systems gekümmert und zu wenig um
das medizinisch Notwendige“, dann kann ich daran nichts
Falsches finden.
({0})
Natürlich ist es wahr, dass in den zurückliegenden Jahren,
schon weit vor Rot-Grün, die Bürokratie im Gesundheitswesen unerträgliche Ausmaße angenommen hat. Sie ist
für Ärzte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen
zu einer regelrechten Qual geworden. Hier etwas zu verändern sollte unser aller Anliegen sein.
Nur, das Problem ist Folgendes: Die Einsichten von
Herrn Seehofer bewirkten nicht, auch andere grundlegende Fehlvorstellungen der Union in der Gesundheitspolitik kritisch zu bewerten. Im Gegenteil: Auch er will
den Patienten „mehr Gestaltungsspielraum geben“. Das
hört sich gut an, um nicht zu sagen: Es ist sogar verführerisch. - Zur Wahrheit gehört dann aber auch, zu erklären,
was sich tatsächlich dahinter verbirgt. In der Realität heißt
das für die Versicherten: Die Union will erneut steigende
Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen einführen. Allerdings werden sie jetzt unter dem schönen Begriff einer
größeren Wahlfreiheit der Versicherten angeboten: Versicherte sollen über den Umfang ihres Versicherungsschutzes eigenverantwortlich entscheiden können.
Was das bedeutet, ist von der Parlamentarischen
Staatssekretärin gesagt worden; ich brauche das nicht zu
wiederholen. Ich bekräftige nur noch eine Feststellung
von ihr: Junge und gesunde Versicherte werden dies vielleicht gut finden, aber das Solidarsystem setzen Sie damit
aufs Spiel. - Da können Sie, lieber Kollege Bauer, das Gegenteil behaupten. In der Praxis ist es so.
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel dafür, dass Sie das Solidarsystem infrage stellen. Mit dem Ansinnen, Versicherten ein Wahlrecht zwischen Sachleistungs- und Kostenerstattungsprinzip einzuräumen, zerstören Sie - da beißt
die Maus keinen Faden ab; das ist so - die Solidargemeinschaft.
({1})
Wie sagte Ihr Kollege Norbert Blüm in der Debatte am
letzten Donnerstag von diesem Platz aus? Ich zitiere:
Der Sozialstaat muss verteidigt werden. Er ist ein
kultureller und wirtschaftlicher Stabilisator...
({2})
Marktwirtschaft ist ohne Sozialstaat überhaupt nicht
möglich.
({3})
Meine Damen und Herren von der Union, wo er Recht hat,
hat er Recht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Botschaften der letzten
Tage - einige sind heute aus allen möglichen Presseorganen zitiert worden - haben uns gezeigt, dass alte gesundheitspolitische Zöpfe wieder aus der Versenkung geholt
werden. Wir, aber auch die Wählerinnen und Wähler würden mittlerweile allzu gern wissen, wohin in Ihrer Partei
gesundheitspolitisch der Hase wirklich läuft.
({0})
Sie überbieten sich mittlerweile in Bekenntnissen zum
Solidarprinzip. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir
- nicht nur mir allein - fehlt der Glaube.
({1})
In Wahrheit reden Sie nämlich der Entsolidarisierung das
Wort. Wer Wahltarife propagiert, weiß ganz genau, dass er
kranken Menschen mehr Geld aus der Tasche holt.
({2})
Das wollen Sie tun. Das entspricht nicht dem Solidarprinzip.
Oberflächlich betrachtet mag die Begründung für das
Wahltarifmodell ohne weiteres einleuchten. Der mündige
und souveräne Krankenversicherte soll selbst entscheiden - so sagen Sie ja -, ob er den standardisierten Versicherungsschutz von der Stange haben will oder eine maßgeschneiderte individuelle Vorsorge betreiben will. Wer
von uns tritt nicht für möglichst viel Freiheit ein? Aber die
Zeche für die Freiheiten, die Sie in Ihrem Wahlprogramm
propagieren, meine Damen und Herren, zahlen die Kranken, zumal die chronisch Kranken, die bitter dafür büßen
müssen.
({3})
Anders als das Alter ist Krankheit eben nicht planbar.
Das ist der große Unterschied, den Sie nach all den vielen
Jahren immer noch nicht begriffen haben. Nur Junge und
Gesunde können es riskieren, Wahloptionen auszuüben.
Sie dürfen dafür, wie Sie sagen, mit Beitragsnachlässen
belohnt werden.
({4})
Dann käme weniger Geld ins System, die Gesundheitskosten sänken jedoch nicht, sie stiegen und das Ende vom
Lied wäre: Die Kranken müssen zwangsläufig eine
größere Last schultern, wiederum vor allem die chronisch
kranken Menschen. Wahltarife - darauf will ich besonders
hinweisen - sind auch frauen- und familienfeindlich.
({5})
Weiter sagen Sie, dass Sie den jungen, gesunden und
gut verdienenden Versicherten mehr geben wollen. Sie
sollten ihnen aber reinen Wein darüber einschenken, dass
eine Abwahl von Leistungen sie teuer zu stehen kommen
kann. Wer im vorgerückten Lebensalter die abgewählten
Leistungen in der privaten Versicherung haben will, wird
dafür viel Geld lockermachen müssen. Das Äquivalenzprinzip enthält nun mal keine sozialen Komponenten.
({6})
Mit Ihrem Wahlprogramm leiten Sie den Einstieg in
den Ausstieg aus dem Solidarprinzip ein. Sie legen mit der
Beschwörung des Solidarprinzips ständig nur Lippenbekenntnisse ab. Das ist Ihr Programm.
({7})
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, ist in diesem Punkt
weitaus offener. Er will den GKV-Versicherten zwei Monatsbeiträge erstatten lassen, wenn sie ein Jahr lang keine
Leistungen in Anspruch nehmen.
({8})
Davon, was das bedeutet, können viele sicherlich aus eigener Erfahrung ein Lied singen.
({9})
Allzu oft kehren Krankheiten, die nicht rechtzeitig behandelt werden, mit voller Härte zurück;
({10})
das wirkt sich auch auf das Solidarprinzip aus.
({11})
- Ich würde nicht darüber lachen, Frau Schwaetzer. Über
das, was Sie den Versicherten heute geboten haben, sollten viele einmal nachdenken.
({12})
Das Geld wird aber gebraucht, um die Gesundheitsausgaben zu bezahlen. Wer wird wohl sein Scherflein beisteuern müssen, damit die Krankenkassen ihre Aufgaben
erfüllen können? Die Antwort kennen wir alle: die Kranken. 20 Prozent der Versicherten verursachen 80 Prozent
der Gesundheitskosten. Sagen Sie doch den mehr als
14 Millionen Betroffenen - vor allem den chronisch kranken Menschen, darunter viele Rentnerinnen und Rentner -, dass die CDU/CSU ihnen nicht nur für ihre Krankenversicherung, sondern auch für ihre Gesundheit mehr
Geld aus der Tasche ziehen will. Das ist nämlich das, was
Sie wollen.
({13})
Sie diskreditieren das Solidarprinzip, das aber - darauf
weise ich ausdrücklich hin - kranken Menschen noch immer ohne Rücksicht auf ihren Geldbeutel den Zugang zu
den medizinisch notwendigen Leistungen öffnet. Wir werden weder eine Zweiklassenmedizin noch eine Zuzahlungs- und Wartelistenmedizin dulden. Dabei soll es bleiben und dabei wird es auch nach dem 22. September
bleiben.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren!
({0})
Die SPD unternimmt den untauglichen Versuch, etwas
für ihren Wahlkampf zu erreichen, indem sie ein Bild von
Vorschlägen der Union malt, wie sie von der Union in keiner Weise gemacht worden sind, bei dem es sich also um
ein reines Zerrbild handelt.
({1})
Dieser Versuch wird jedoch scheitern.
({2})
Es ist deutlich erkennbar, dass es die Union war, die das
System der solidaren Sicherung in der Bundesrepublik
Deutschland geschaffen hat. Nicht Sie, sondern wir waren
das.
({3})
Ich muss Ihnen nun vorwerfen,
({4})
dass Sie in den vier Jahren, in denen Sie Regierungsverantwortung getragen haben, mit dem Sozialsystem, das
wir Ihnen überlassen haben, Schindluder getrieben haben.
({5})
Das kann ich Ihnen auch beweisen. Dass zum ersten Mal in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Menschen die Erfahrung gemacht haben, wie eine Zweiklassenmedizin aussieht, ist ein Menetekel für Ihre Politik. Lassen Sie mich die Zahlen nennen: Mehr als ein Drittel der
gesetzlich krankenversicherten Patienten haben die notwendigen Medikamente nicht erhalten, weil Sie das System
der Budgetierung der Arzneimittel eingeführt haben.
({6})
Nehmen wir einmal das Gebiet der Alzheimer-Erkrankungen als Beispiel. Entsprechende Studien liegen vor. In
diesem Bereich gibt es die modernen AChE-Hemmer, die
ermöglichen, dass an Alzheimer Erkrankte länger selbstständig bleiben. Damit kann die Einweisung in Pflegeheime um mindestens ein Jahr hinausgezögert werden.
18 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten mit einer
entsprechenden Erkrankung bekamen im Jahr 1999 diese
Medikamente. Bei den privat Krankenversicherten hingegen hat mehr als ein Drittel diese modernen Medikamente
bekommen.
Nehmen wir weiter das Gebiet der an Schizophrenie
Erkrankten. Bekanntlich sind die modernen atypischen
Neuroleptika für die Behandlung von Schizophrenen sehr
viel besser geeignet als die der alten Generation.
({7})
Wie sieht es mit der Anwendung aus? Der Einsatz moderner Neuroleptika macht in Spanien 20 Prozent aus, in
Italien 40 Prozent, in den USA 60 Prozent und in der Bundesrepublik Deutschland bei den gesetzlich Krankenversicherten 10 Prozent. Das nenne ich eine Zweiklassenmedizin.
({8})
Friedrich Merz hat völlig Recht: Unter Ihrer Regierungsverantwortung ist es dazu gekommen, dass nur noch
Sozialhilfeempfänger und privat Krankenversicherte eine
erstklassige medizinische Versorgung erhalten, während
für die anderen eine Zweiklassenmedizin gilt. Das ist Ihre
Politik.
({9})
Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas unter der Regierungsverantwortung von Sozialdemokraten in Deutschland passiert. Aber es ist wahr; es ist geschehen: Sie haben eine Zweiklassenmedizin bei uns eingeführt.
({10})
Ich nenne ein Gebiet, auf dem es keine Lobby gibt: die
Pflegebedürftigen. Sie haben sich an der Kasse der Pflegeversicherung vergriffen - ich hätte es nicht für möglich
gehalten, dass so etwas geschieht - und 400 Millionen DM
der Pflegeversicherung entzogen,
({11})
damit der Herr Eichel seinen Etat sanieren kann. Sie haben das Geld den Pflegeversicherten geklaut.
({12})
Außerdem sind seit 1995 die Leistungen der Pflegeversicherung um keinen Pfennig angehoben worden. Sie
haben nicht einmal Anstalten gemacht, diese Leistungen
anzuheben. Stellen Sie sich einmal vor, es wäre bei
Tarifverhandlungen oder bei den Renten passiert, dass
den Menschen über Jahre hinweg kein Pfennig mehr gegeben wird. Sie aber haben das hier so laufen lassen, obwohl die Menschen wirklich dieser Leistungen bedürfen.
Dann haben Sie in der Regierungserklärung groß angekündigt, Sie wollten etwas für die Demenzkranken tun.
({13})
Was haben Sie gemacht? Sie haben tatsächlich gewagt, es
als Verbesserung darzustellen, dass Sie den Menschen pro
Tag 1,31 Euro für die Betreuung von Alzheimerpatienten
geben. Das nennen Sie Verbesserung? Was Sie da machen, ist ein Witz.
({14})
Nehmen wir einen dritten Punkt, die Versorgung in
Krankenhäusern und die Urteile zur Arbeitszeit. Jeder
weiß, es fehlen 10 000 bis 15 000 Stellen. Weil Sie es bisher nicht ermöglicht haben, diese Stellen zu besetzen,
müssen Ärzte in der Konsequenz Überstunden bis zum
Geht-nicht-Mehr leisten. Ärzte operieren noch, nachdem
sie 30 Stunden im Dienst gewesen sind. Ursache dafür ist
Ihre Politik.
({15})
Nehmen wir ein Weiteres, die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten. Wir haben dafür gesorgt, dass die
Menschen in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer
endlich Zugang zu einer besseren medizinischen Versorgung bekommen haben. Sie haben es zugelassen, dass
mittlerweile die Versorgung mit Hausärzten in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt nicht mehr sichergestellt werden kann.
({16})
Treten Sie am 22. September ab! Es wird höchste Zeit.
({17})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu dieser Aktuellen Stunde zwei Vorbemerkungen machen, eine an Herrn Fink, eine an Frau
Schwaetzer.
Herr Fink, Kinder brauchen Märchen. Darüber haben
wir heute Morgen in der Bildungsdebatte diskutiert. Diesem Parlament müssen aber keine Märchen, erst recht
nicht Ihre, über den Zustand des Gesundheitssystems erzählt werden.
({0})
Frau Schwaetzer, Sie haben gesagt, Sie wollten hier
keine Debatte, in der zum Beispiel über die Resultate Ihrer 24-jährigen Regierungstätigkeit diskutiert wird, denn
diese Resultate würden hier gar nicht mehr zur Diskussion
stehen.
({1})
Das ist ganz sicher richtig. Gucken wir uns dann doch einmal an, was Sie hier und heute vorgetragen haben, Frau
Schwaetzer.
({2})
Sie haben zum Beispiel gesagt, dass der heutige Beitrag von 19,1 Prozent zur gesetzlichen Rentenversicherung eine Steigerung der Beiträge bedeuten würde. Dann
haben Sie ganz leise hinzugefügt: gegenüber den Prognosen.
({3})
Wenn Sie hier redlich über die Situation unseres Sozialversicherungssystems sprechen würden, hätten Sie, Frau
Schwaetzer, darauf hingewiesen,
({4})
dass wir im Jahre 1998 einen Rentenbeitrag von 20,3 Prozent übernommen haben und dieser heute bei 19,1 Prozent
liegt.
({5})
Das ist keine Steigerung, es sei denn, man macht eine
Milchmädchenrechnung auf, sondern eine Senkung der
Rentenversicherungsbeiträge.
({6})
Gerade was die Zukunft der Sozialversicherungssysteme
anbelangt, führen Sie hier also eine unredliche Debatte;
deswegen werde ich zu den weiteren Punkten, die Sie hier
vorgetragen haben, nicht mehr viel sagen.
Am Anfang dieser Woche wurde das Kompetenzteam
von Herrn Stoiber, das so genannte S-Team, um Herrn
Seehofer - zuständig für den Bereich der Sozialversicherung - erweitert. Dies ist eine neue Variante des Wahlkampfspiels. Das Spiel heißt: Heute verspreche ich das
eine, morgen nehme ich es wieder zurück. Wir kennen die
Beispiele: Im Hinblick auf die Steuerreform wurde erst
gesagt, man werde sie vorziehen. Dann sagte Herr Merz,
das gehe so nicht. In der Debatte über die Sozialversicherungsbeiträge wurden wie bei der Staatsquote und beim
Spitzensteuersatz 40 Prozent versprochen.
({7})
Dann ruderte Herr Späth zurück und sagte: Schauen wir
erst einmal, wie es so läuft; Wahlprogramme sind sowieso
nicht so wichtig.
Heute gibt es eine Neuauflage durch Herrn Seehofer,
der allerdings nichts versprochen, sondern sich versprochen hat.
({8})
Er hat nämlich versehentlich die Wahrheit gesagt. Er hat
deutlich gemacht, dass die sozial- und rentenpolitischen
Konzepte der CDU zu nichts anderem als zu Beitragserhöhungen führen können. Das sind Ihre Konzepte. Ich
will Ihnen zeigen, an welcher Stelle die Beiträge steigen
werden.
({9})
- Ich habe nichts falsch verstanden, sondern ich zitiere
nur, Frau Schwaetzer. Schauen Sie einfach in die Zeitungen! Am Montag konnten wir lesen, dass Herr Seehofer
der Meinung ist, eine Erhöhung der Rentenbeiträge sei
unvermeidlich.
({10})
Am Dienstag konnten wir lesen: Die Union wird die Rentenbeiträge nicht erhöhen; das könne er eindeutig ausschließen. Heute erklärte Herr Seehofer, wie man das Ziel
erreichen will, nämlich indem man die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik machen werde. Mehr sagte er
dazu nicht.
({11})
- Sie fragen: „Was ist daran falsch?“ Redlicherweise sollten Sie sagen, was Sie wirklich versprechen: Die Stabilität
der Beiträge? Sagen Sie, was Sie dem Beitragssystem antun wollen! Aus Ihren Programmen ist ersichtlich, dass
Sie die Ökosteuer aussetzen wollen. Das bedeutet einen
jährlichen Einnahmeverlust von 3 Milliarden Euro. Da
fragt man sich, wie Sie das gegenfinanzieren wollen. Sie
verraten das nicht. Wie wollen Sie den Druck auf die
Beiträge, der durch das Aussetzen der Ökosteuer ausgelöst wird, ausgleichen?
Zweiter Vorschlag: Herr Seehofer hat am Anfang dieser Woche darauf hingewiesen, dass die Schwankungsreserve wieder erhöht werden müsse. Zurzeit ist sie höher
als zum Zeitpunkt unserer Regierungsübernahme. Eine
solche Erhöhung führt - das gibt er selbst zu - zu einer
Beitragssteigerung in der Rentenversicherung um noch
einmal 0,4 Prozent.
Dritter Vorschlag: Sie wollen durch eine Heraufsetzung
der Grenze bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen die Wirtschaftsdynamik entfalten. Die FDP möchte
diese Grenze im Übrigen noch höher ansetzen. Außerdem
wollen Sie eine Pauschalbesteuerung einführen. Im Klartext bedeutet das, dass Sie die soziale Sicherung der geringfügig Beschäftigten aushöhlen wollen. Diese Menschen hätten dann keinen Anspruch mehr auf diese
Versicherungsleistungen. Den Sozialversicherungskassen
werden außerdem die Beitragszahlungen fehlen. Wie wollen Sie das ausgleichen? - Sie geben keine Antwort.
Was bleibt dem ratlosen Leser und der ratlosen Leserin
der Presse in dieser Woche? Sie erinnern sich an alte Konzepte, die im Laufe der 90er-Jahre zu einer eklatanten
Steigerung der Sozialversicherungsbeiträge geführt haben. Diese Konzepte führten in ganz erheblichem Maße
zu der hohen Arbeitslosigkeit, die zum Zeitpunkt unserer
Regierungsübernahme herrschte.
Denken Sie bitte
an die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Wir müssen die Sozialabgaben
senken, und zwar mit redlichen Konzepten, die den sozialen Schutz der Versicherten nicht aushöhlen, sondern
die sozialen Sicherungssysteme stabilisieren. Davon haben Sie in dieser Woche nichts gesagt. Sie haben verschleiert.
Frau Kollegin,
bitte.
Sie haben „verstoibert“. Sie nehmen alles zurück. So kann
man das Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken,
nicht erreichen.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat es gezeigt:
Bei der Bundestagswahl geht es auch in der Gesundheitspolitik um eine Richtungsentscheidung. Es geht nämlich
darum, ob der umfassende Leistungskatalog von der
Prävention über die Akutbehandlung bis zur Reha auch in
Zukunft noch gilt. Frau Schwaetzer hat gesagt, sie wolle
diesen Katalog abschaffen.
Die Volkspartei CDU/CSU schreibt zwar in ihrem
Wahlprogramm, dass den Versicherten auch weiterhin alle
medizinisch notwendigen Leistungen in der GKV gewährt werden.
({0})
Aber gleichzeitig sollen Leistungen abgewählt werden
können. Das ist doch ein Widerspruch in sich. Es geht Ihnen im Kern darum, die medizinisch umfassende Behandlungskette auszuhebeln. Das haben Sie bereits
während Ihrer Regierungszeit mit dem Vorschlag der Einführung von Gestaltungsleistungen versucht, beispielsweise bei Heilmitteln oder häuslicher Krankenpflege und
mit der Ausgliederung von Zahnersatz aus der vertragszahnärztlichen Versorgung. Die Folge Ihres Abwahlkonzeptes wäre, dass die Versicherten im Krankheitsfall die
abgewählten Leistungen privat zuzahlen müssen.
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, hat es in der
„Bild am Sonntag“ vom 21. April mit den Worten verdeutlicht:
Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung soll
es, wie bei den privaten, mehr Wahlfreiheit geben.
Deshalb schlagen wir vor, den Arbeitgeberanteil zur
Krankenversicherung festzuschreiben.
({1})
Der Arbeitnehmer kann dann über die Höhe seines
Beitrages selbst entscheiden - je nachdem, ob er weiter eine Vollversicherung wünscht oder bereit ist, einen Teil seiner Krankheitskosten - etwa bis zu
500 Euro im Jahr - selber zu tragen.
({2})
- Frau Schwaetzer, das mag aus Ihrer Sicht vernünftig
sein. Ich halte es nicht nur für unvernünftig, sondern für
unverschämt.
({3})
Meine Damen und Herren, mit solchen Vorschlägen
verschieben Sie das Koordinatensystem der solidarischen
Krankenversicherung.
({4})
Sie verschweigen die Folgen, da Ihnen die Wähler bereits
bei der letzten Bundestagswahl dafür die rote Karte gezeigt haben. Deshalb werden wir den Menschen sagen:
Für diejenigen, die auf die solidarische Krankenversicherung im Krankheitsfall angewiesen sind, nämlich für die
Schwerkranken
({5})
- das trifft vor allen Dingen die Älteren und die Rentner,
die in der Regel kränker sind als die Jungen -, steigen
dann die Finanzierungsanteile in dem Umfang, wie Sie sie
auf der anderen Seite durch Boni an Gesunde verteilen
wollen.
Sie stellen damit - das müssen Sie sich vorhalten lassen - den Gesellschaftsvertrag zwischen Jung und Alt,
Gesunden und Kranken, gut Verdienenden und weniger
gut Verdienenden, Alleinversicherten und Familienversicherten infrage.
({6})
Sie legen die Axt an die Wurzeln der solidarischen Krankenversicherung.
Deshalb werden Sie beispielsweise auf die folgenden
Fragen eine Antwort geben müssen: Was geschieht mit
den Versicherten, die als junge Menschen nicht an chronische oder lebensbedrohliche Krankheiten denken und
die Leistungen wie Heil- und Hilfsmittel, häusliche Krankenpflege und Reha in jungen Jahren abwählen, aber im
späteren Leben einen Schlaganfall erleiden und dringend
auf Krankengymnastik, Logopädie und häusliche Krankenpflege angewiesen sind? Was wird dann aus deren Behandlung? Welchen Stellenwert hat die Reha in der Gesundheitsversorgung à la CDU/CSU, wenn sie abwählbar
ist, wenn Krankengymnastik und Sprachheilkunde nicht
mehr zum Pflichtleistungskatalog der GKV gehören sollen? Was ist mit demjenigen, der einen Rollstuhl benötigt,
aber die Hilfsmittel abgewählt hat? Was passiert mit einer
Patientin, wenn nach einer Brustkrebsoperation die Lymphdrainage nicht mehr von der GKV gewährt wird, weil sie
in jungen Jahren abgewählt wurde?
Lieber Kollege Fink, Sie haben sich vorhin wegen der
Sozialhilfeempfänger sehr echauffiert. Bekommt dann
der Pflichtversicherte nicht die gleiche Behandlung wie
der Sozialhilfeempfänger, für den das zuständige Sozialamt weiterhin die medizinisch notwendige Vollversorgung zu übernehmen hat? Glauben Sie, dass dies rechtlich
haltbar ist? Erklären Sie dies einmal den Bürgerinnen und
Bürgern.
({7})
- Liebe Frau Schwaetzer, weil Sie dies als Blödsinn bezeichnen, möchte ich Ihnen raten, ein bisschen genauer
hinzuschauen. 1989 hat die Bundesregierung die St.Vinzenz-Deklaration unterschrieben
({8})
- hören Sie einmal genau zu! -, die vorsah, dass wir in der
Bundesrepublik Deutschland die Zahl der durch Diabetes
bedingten Neuerblindungen um mindestens ein Drittel reduzieren, die Zahl der durch Diabetes bedingten Niereninsuffizienzen um mindestens ein Drittel senken und die
Zahl der Gliederamputationen mindestens halbieren.
Was haben Sie denn erreicht? Jetzt, da wir Disease-Management-Programme machen, diffamieren Sie dies und
sagen, man könne eine solches Wort nicht aussprechen.
Haben Sie eigentlich nicht begriffen, was in der Gesundheitspolitik dieser Republik notwendig ist?
({9})
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zum Schluss
nur noch eines vorhalten.
({10})
Weil Sie immer sagen, wenn nichts in Richtung Ihrer Politik der Abwahl von Leistungen geschehe, breche das
System zusammen, möchte ich etwas zitieren:
Grundsätzlich stehen mit insgesamt jährlich
250 Milliarden DM Ausgaben für Medizin so viele
Mittel zur Verfügung, dass damit auch heute ein qualitativ hoch stehendes Versorgungssystem für alle
medizinischen Bereiche finanziert werden könnte.
Aber: Die Geldströme stimmen nicht, die ökonomischen Anreize sind falsch und führen zu oft unsinnigem wirtschaftlichem, aber auch medizinischem
Verhalten. Die Vergütungssysteme sind nicht an der
Qualität medizinisch notwendiger Leistungen orientiert, überbewerten die Technik und schützen Erbhöfe, die in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität erworben wurden.
Wissen Sie, von wem das stammt? - Dieses Zitat stammt
vom ehemaligen Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, von Herrn Dr. Schorre, einem Intimkenner dieses Bereiches. Das können Sie alles nachlesen.
Herr Kollege,
Sie wollten schon vor dem Zitat zum Schluss kommen.
Meine Damen und Herren,
ich ziehe das Fazit: Weichen Sie von diesem Weg ab.
Wahltarife und Selbstbehalte sind Sargnägel für die solidarische Krankenversicherung.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Kirschner, Sie haben Recht: Am 22. September wird es
eine Richtungswahl geben. Die Leute werden entscheiden
müssen, ob sie Staatsmedizin oder ein freiheitliches Gesundheitssystem wollen.
({0})
Die Leute werden zu entscheiden haben, ob sie Listenmedizin oder Therapiefreiheit wollen, und sie werden darüber entscheiden.
({1})
Von Ihnen kommt immer der Zwischenruf, wie so etwas finanziert werden soll. Auch die Sozis sollten endlich
begreifen: Der Schlüssel zur Finanzierung unserer Sozialsysteme ist eine vernünftige Wirtschaftspolitik. Auf diesem Gebiet haben Sie voll und ganz versagt. Sozial ist,
was Arbeitsplätze schafft.
({2})
Wenn wir alle uns dies zu eigen machen, haben wir Chancen, auch unsere Sozialsysteme auf Dauer finanzieren zu
können.
({3})
Auch wenn die Ministerin heute Geburtstag hat, kann
ich ihr das, was sie die letzten zwei, drei Tage an falschen
Aussagen und an Halbwahrheiten losgelassen hat, nicht
durchgehen lassen. Das kann einfach nicht im Raum stehen bleiben. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen.
Da stellt sich die Ministerin hin und behauptet, die
Union wolle „keine bessere Versorgung für Chroniker“.
({4})
- Hier kommt auch ein Zwischenruf, der diese Behauptung bestätigt. Sie ist aber unwahr. Die Union und die FDP
waren die ersten, die im Neuordnungsgesetz die Härtefallregelungen für chronisch Kranke verbessert und die
Zuzahlungen halbiert haben.
({5})
Das war die erste Maßnahme. Für chronisch Kranke ist
aber noch viel wichtiger, dass man mit der Abschaffung
der Budgets endlich dafür Sorge trägt, dass die zentrale
Voraussetzung für eine verbesserte medizinische Versorgung dieser kranken Menschen gegeben ist, denn Budgets
führen unweigerlich zu Rationierung. Dies trifft besonders chronisch Kranke.
({6})
Ich komme jetzt zu den von Ihnen eingeführten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke.
({7})
Wir sind gegen die Art und Weise, wie Sie es einführen,
weil es zu bürokratisch, zu teuer und zu wenig effizient
ist. Sie wollen eine Standardisierung der medizinischen
Versorgung;
({8})
nicht mehr die individuellen Bedürfnisse stehen bei Ihnen
im Vordergrund, sondern die Erfüllung von vorgegebenen
Leitlinien.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben
vier chronische Krankheiten herausgegriffen, für deren
Behandlung Sie mehr Geld ausgeben wollen. Das begrüßen wir alle. Aber Sie müssen den Leuten gleichzeitig
sagen: Bei den von Ihnen vorgegebenen Budgets werden
die übrigen chronisch Kranken weniger Mittel bekommen. Wie wollen Sie den Rheumakranken oder den
Krebskranken klar machen, dass Sie ein Programm nur
für bestimmte chronisch Kranke machen, während Sie für
andere chronisch Kranke weniger ausgeben? Das müssen
Sie ihnen erklären.
({9})
Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Rot-Grün
und der Union ist? Sie werfen uns zu Unrecht vor, wir
wollten eine Zweiklassenmedizin einführen. Tatsächlich
hat Rot-Grün die Zweiklassenmedizin durch die Hintertür
schon längst eingeführt.
({10})
Chronisch Kranke erhalten kaum noch innovative Arzneimittel, es sei denn, sie zahlen sie privat. Für bestimmte
Operationen gibt es in Deutschland schon Wartelisten, es
sei denn, sie werden privat gezahlt. Das nennen Sie nicht
Zweiklassenmedizin?
Und wozu hat Ihre Zahnersatzregelung geführt? Sie
haben einen prozentualen Zuschuss eingeführt. Das bedeutet, einen besonders aufwendigen Zahnersatz können
sich nur noch zwei Personengruppen leisten: diejenigen,
die ein hohes Einkommen haben, und die Sozialhilfeempfänger. Zahlen müssen das dann all diejenigen, die im
mittleren Einkommensbereich sind. Auch das ist eine
Zweiklassenmedizin.
Sie haben die Zweiklassenmedizin in Deutschland
nicht nur hoffähig gemacht, sondern durch Ihre verfehlte
Politik noch mehr Unmenschlichkeit in dieses System gebracht. Aufgrund Ihrer Politik kommt es nämlich zum
Beispiel dazu, dass sich Dekubituskranke erst großflächig
wund liegen müssen, bevor ihre Behandlung bezahlt wird.
Durch Ihre verfehlte Politik ist es zum Beispiel auch dazu
gekommen, dass Osteoporosekranke sich erst die Knochen brechen müssen, bevor die Behandlung bezahlt
wird. Das können Sie doch nicht menschlich nennen! Was
Rot-Grün hier praktiziert, ist weder sozial noch gerecht.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Fritz Schösser.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal freue ich mich,
dass Herr Seehofer seine Krankheit wohl weitgehend
überwunden hat und wieder in der Lage ist, sich als
sozialpolitischer Solotänzer der Union wenigstens in den
Redaktionsstuben aufzuhalten. Schöner wäre es noch,
wenn er an der heutigen Debatte teilnehmen würde. Aber
ich habe den Eindruck, er fühlt sich in den Redaktionsstuben in seiner Funktion wohler als in Ihrer Fraktion.
({0})
Auf der politischen Bühne ist Seehofer allerdings eher
als Quax der Bruchpilot wieder aufgetreten. Die ersten
Botschaften von Seehofer sind zwar wenig originell,
dafür aber ausreichend widersprüchlich. Ich glaube, das
kann man ganz klar und deutlich sagen. Ich frage mich
wirklich, wie man noch vor wenigen Tagen sagen konnte,
dass man die Rentenversicherungsbeiträge erhöhen muss,
wie man davon sprechen kann, dass man Wahlleistungen
einführen will, wenn man dann nach einer gemeinsamen
Pressekonferenz seine eigene Landesarbeitsministerin
zurückpfeift, die sagt, dass die Skifahrer, Jumpingspringer usw. höhere Beiträge bezahlen sollen.
({1})
Herr Seehofer musste vom Krankenbett aus agieren, um
das alles wieder ins Lot zu bringen. Das ist schon sehr kurios.
Besonders traurig an der Angelegenheit ist das, was er
heute in der „Süddeutschen Zeitung“ sagt. Das ist nun
wirklich spannend. Ich greife einmal wenigstens zwei
Passagen heraus.
Die eine ist folgende. Er sagt:
Zunächst, wie ich jetzt selbst erfahren habe, brauchen wir eine bessere Vorsorge, besonders gegen
die Volkskrankheiten Herz-Kreislauf-Beschwerden,
Krebs und Diabetes.
Ich frage mich: Erinnert sich Herr Seehofer nicht mehr
daran, dass er 1997 das Beitragsentlastungsgesetz gemacht hat und im Grunde die Gesundheitsförderung, die
Prävention und vieles andere total abgeschafft hat?
({2})
Erinnert er sich nicht mehr daran, dass das allein im
AOK-System bei Gymnasiasten, Sportlehrern und vielen
anderen bundesweit 1 400 Arbeitsplätze gekostet hat? Erinnert er sich nicht mehr daran, dass die ganzen Infrastrukturen verschwunden sind und erst durch uns mühsam
wieder aufgebaut werden mussten?
Es ist ja hervorragend, wenn man zur späten Erkenntnis kommt. Aber in diesem Fall kann ich nur sagen: Sie
kommt sehr spät und ist, wie ich glaube, wahltaktisch motiviert.
Zum Zweiten. Seehofer sagt:
Wir wollen Beiträge und Kosten senken durch mehr
Wahlmöglichkeiten.
Ein Stück weiter heißt es:
Und um es gleich ganz klar zu sagen: Es geht dabei
nicht um Regel- und Wahlleistungen.
Ich frage mich: Um was geht es denn dann?
Dazu hat - es ist noch gar nicht lange her - am 31. August 2001 eine Pressekonferenz mit Frau Stewens und den
Herren Seehofer und Zöller stattgefunden. Ich habe mir
die entsprechenden Texte mitgenommen. Sie alle müssten
das eigentlich gut bezeugen können. Herr Zöller, da steht
Folgendes:
Der Versicherte sollte ... künftig wählen können,
welche Leistungen er in der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen will.
({3})
Da eine diagnosebezogene Trennung von so genannten Kernleistungen gegenüber anderen Leistungen
nicht möglich ist, wird vorgeschlagen, die Leistungsblöcke Krankenhausbehandlung, Arzneimittel
und ärztliche Behandlung sowie Krankengeld für die
Wahlmöglichkeit des Versicherten unangetastet zu
lassen.
({4})
- Jetzt kommt es aber. Jedoch kann der übrige Block, der circa 16 Prozent
der Leistungsausgaben ausmacht, insgesamt oder
teilweise vom Versicherten abgewählt werden.
({5})
Herr Zöller, Sie waren gestern in unserem Ausschuss
bei der Anhörung zu Mutter-Kind-Kuren und der anschließenden Debatte anwesend. Was heißt das denn nun?
Zählt die Mutter-Kind-Kur zu dem Bereich von 16 Prozent oder nicht? Sagen Sie den Müttern, dass das eine
Wahlleistung ist und dass diejenigen, die sich für diese
Wahlleistung entscheiden, eine solche Kur machen können, während die anderen, die sich nicht für diese Wahlleistung entscheiden, eine solche Kur nicht machen können?
({6})
Wer sind denn die anderen? Diejenige, die keine Mutter
ist, die kein Kind hat, entscheidet sich natürlich nicht für
diese Wahlleistung - und Männer tun dies natürlich auch
nicht.
Wissen Sie, was Sie tun? Sie empfehlen den Menschen
eine Krankenversicherung für Kranke. Dies wird schlicht
und einfach nicht funktionieren.
({7})
Die Krankenversicherung braucht den Starken, der dem
Schwachen hilft. Jede Wahlleistung, die Sie einführen,
schröpft das Solidarsystem und bringt demjenigen, der
sich der Solidarität entzieht, Vorteile. Das ist die Situation.
({8})
Am Ende meiner Rede komme ich noch einmal ganz
kurz auf Herrn Seehofer zu sprechen.
({9})
Ich empfehle Herrn Seehofer, den Rat des ehemaligen
Präsidenten der Bundesärztekammer, des Herrn Vilmar,
zu befolgen, der sagte:
Vor allem muss er die Mahnungen seiner Ärzte befolgen und muss sich schonen.
Bei dem sozialpolitischen Flohzirkus, den Sie und er in
den letzten acht Tagen betrieben haben,
({10})
wäre er wirklich gut beraten, sich zu schonen und sich
nicht zu früh wieder auf die politische Bühne vorzuwagen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist
grundsätzlich richtig, dass jeder Bemerkung von Horst
Seehofer mehr Gewicht beigemessen wird als den langatmigen Erklärungen der Regierungsmitglieder. Denn
hinter den Aussagen von Horst Seehofer steckt Substanz.
({0})
Herr Kollege Schösser, nicht richtig ist dagegen, sich hier
derart über seinen Gesundheitszustand auszulassen. Ich
bin froh, dass es Horst Seehofer wieder besser geht und
dass er bald wieder bei uns sein wird.
({1})
Tatsache ist: Nach vier Jahren ist Rot-Grün auch im
Hinblick auf die Rentenversicherung am Ende. Die Probleme sind Ihnen über den Kopf gewachsen. Sie sind ausgebrannt; Sie sind ideen- und konzeptionslos. Deshalb
sollten Sie zuhören, wenn die Opposition spricht und Vorschläge macht. Sie sollten sie aber auch richtig verstehen.
Niemand, weder der Kollege Seehofer noch andere, arbeiten darauf hin, die Rentenversicherungsbeiträge zu erhöhen. Diese Aussage war bösartig.
({2})
Aber richtig ist, dass wir in großer Sorge darüber sind,
dass Ihnen die Rentenversicherung und die Beiträge zunehmend entgleiten.
({3})
Sie haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von
Ankündigungen und Versprechen gemacht, die Sie nicht
eingehalten bzw. gebrochen haben. Sie hatten angekündigt, die Rentenversicherungsbeiträge in diesem Jahr unter 19 Prozent zu drücken. Tatsache ist, dass Sie das nicht
erreicht haben, dass wir einen Beitrag von 19,1 haben. Sie
hatten angekündigt, ab 2003 weitere Schritte zur Senkung
einzuleiten. Tatsache ist: Prognosen der Rentenversicherungsträger besagen, sie würden auf mindestens 19,3 Prozent steigen. Sie hatten angekündigt, die Rentenversicherung transparenter und sicherer zu machen. Tatsache ist,
dass Sie die Schwankungsreserve der Rentenversicherung
auf 0,8 Prozent der Monatsausgaben verringert haben.
Durch diese Vielzahl von Korrekturen, die Sie vornehmen mussten, haben Sie das Vertrauen der Rentner und
Beitragszahler massiv beschädigt.
({4})
Deshalb bedarf es einer anderen Politik.
Was Sie als Ausgleich für die Niveausenkung angeboten haben - nichts anderes stellt die so genannte RiesterRente dar -, die neue private Säule der Rentenversicherung, kommt nicht richtig in Schwung. Die Zahlen, die
uns vorliegen, sind ernüchternd: Von den 30 Millionen
Versicherten, die diese Rente in Anspruch nehmen könnten, haben bis zur Stunde nur wenige, nämlich 2 Millionen, entsprechende Verträge unterschrieben. Uns erreichen Meldungen aus den Medien, dass mehrere
Hunderttausend diese Verträge storniert haben bzw. beabsichtigen, sie zu stornieren. Damit zerbröselt dieser Eckpfeiler der Rentenversicherung.
Es ist richtig, dass Sie sich nun mehr mit unseren Vorschlägen beschäftigen. Aber machen Sie es richtig! Das
private Standbein der Rentenversicherung ist so, wie Sie
es konzipiert haben, viel zu kompliziert. Deshalb wird
dies nicht angenommen. Zudem nimmt die Bürokratie
überhand. Das sagen im Übrigen nicht nur wir, sondern
nahezu alle Sozialverbände, die Banken, die Sparkassen
und andere, die auf diesem Gebiet Fachleute sind.
Worum geht es eigentlich? Wir haben vor vier Jahren
eine Rentenreform nicht nur entworfen, sondern auch beschlossen, die die große Herausforderung, vor der das
Rentensystem steht, nämlich die Herstellung einer Balance zwischen den Generationen, berücksichtigt hat, und
zwar durch den demographischen Faktor. Dieser Faktor
sollte das Ungleichgewicht wieder in ein Gleichgewicht
bringen. - Dies haben Sie verhindert und deshalb wachsen Ihnen jetzt die Probleme über den Kopf. Ich sage Ihnen: Die vier Jahre rot-grüner Regierung waren verlorene
Jahre für die Rentenversicherung. Es waren verlorene
Jahre, hier wieder auf einen guten Weg zu kommen. Wir
werden diesen falschen Weg nicht mitmachen. Wir werden reparieren und eine Rentenreform vorlegen, die diesen Namen verdient und die den Menschen das Vertrauen
gibt, dass die Alterssicherung in Zukunft wieder sicher ist.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte von dieser Stelle aus,
auch wenn es der eine oder andere vielleicht nicht glauben
mag, Herrn Seehofer weiterhin gute Besserung wünschen.
Es wäre schön, wenn er bald wieder unter uns wäre.
({0})
Er hat aber, wie ich finde, durch seine jüngste Pressemitteilung die Katze aus dem Sack gelassen. Wenn er sagt,
eine Beitragserhöhung zwischen 0,4 und 0,5 Prozent sei
unvermeidlich, dann steht das in eklatantem Widerspruch
zu dem Wahlprogramm der Union; darüber muss man hier
schon einmal diskutieren.
({1})
Seine Ankündigung ist ernst zu nehmen, da die Krankenversicherungsbeiträge in der letzten Legislaturperiode unter seiner Führung von 12,3 auf 13,6 Prozent angestiegen
sind.
Ich kann ja verstehen, dass nun versucht wird, zurückzurudern; denn diese Aussage passt nun einmal nicht zum
Wahlprogramm. Darin wird die Senkung des Spitzensteuersatzes, der Sozialversicherungsbeiträge und der Staatsquote, jeweils unter 40 Prozent - „dreimal vierzig“ -, angekündigt. Deshalb wird die Äußerung von Herrn
Seehofer jetzt dementiert. Das glaubt Ihnen aber niemand
mehr. Nun wissen die Wähler auch, was mit Ihrem Wahlslogan „Zeit für Taten“ gemeint ist: Den Arbeitnehmern in
die Tasche zu greifen ist wirklich eine Tat, jedoch keine
große, und Mitglied bei den Pfadfindern kann man damit
nicht werden.
({2})
Was bisher vom südlastigen so genannten Kompetenzteam des Kanzlerkandidaten zu hören war, ist an Widersprüchlichkeit nicht zu überbieten. So fordert die Union
- auch hier in einem Antrag -, zu gewährleisten, dass der
Gesamtsozialversicherungsbeitrag langfristig auf unter
40 Prozent gesenkt werden kann. Da besteht doch ein Widerspruch, schließlich spricht Seehofer davon, den Rentenversicherungsbeitrag um 0,5 Prozent zu erhöhen.
Es ist ein Widerspruch, wenn man die Sozialversicherungsbeiträge senken will, gleichzeitig aber verspricht,
den Rentenversicherungsbeitrag stabil halten und die
Ökosteuer abschaffen zu wollen. Schließlich handelt es
sich bei Letzterem um die Einnahme bei der Rentenversicherung, die von allen, nicht nur von Arbeitern und Angestellten, getragen wird, also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Sie streuen den Wählern doch Sand in die Augen. Man
kann den Eindruck gewinnen, die Union wisse in der Sozialpolitik überhaupt nicht mehr, was sie machen soll. Sie
verfahren nach dem Hühnerhofprinzip, Sie picken mal
hier und mal dort, aber immer nehmen Sie es den Arbeitnehmern fort.
Sie zeigen: Sie haben keine Alternative zu unserer Politik und wollen dort weitermachen, wo Sie 1998 aufgehört haben, bevor die Wählerinnen und Wähler Sie auf die
Oppositionsbank schickten. Dort werden Sie auch bleiben.
({3})
Rot-Grün hat den Rentenversicherungsbeitrag in drei
Stufen von 20,3 Prozent auf 19,1 Prozent gesenkt. Wir
helfen den Menschen beim Aufbau einer zusätzlichen
Säule der Altersversorgung. Sie hatten dazu keine Kraft.
Wir haben die soziale Grundsicherung beschlossen, die ab
dem nächsten Jahr besonders den älteren Frauen helfen
wird. Wir wollen keine verschämte Altersarmut - im Gegensatz zur Union. Oder wie ist es sonst zu werten, dass
Sie die Grundsicherung wieder abschaffen wollen?
Der Aufbau der neuen Säule ist auf einem guten Weg,
Herr Singhammer: Mehr als 16 Millionen von den
30 Millionen förderberechtigten Arbeitnehmern werden
von Tarifverträgen über die betriebliche Altersversorgung
erfasst. Ich halte es für verantwortungslos, wenn CDUPolitiker wie Herr Laumann die Arbeitnehmer auffordern,
mit dem Abschluss von Verträgen bis nach der Bundestagswahl zu warten.
Sie werden zwar nicht dazu kommen, aber es ist doch
auch vermessen, den Eindruck zu erwecken, als könne
man innerhalb von drei Monaten etwas anderes auf den
Weg bringen. Herr Singhammer, Sie haben hier beklagt,
dass 100 000 Verträge wieder geändert worden sind. Denken Sie doch einmal darüber nach, ob diese Verträge nicht
unter vollkommen falschen Voraussetzungen zustande gekommen sind, weil die Verträge noch nicht zertifiziert waren und die Menschen durch die betriebliche Altersversorgung ganz andere rentierliche Möglichkeiten haben.
Die Wählerinnen und Wähler wissen, was sie an unserer
Politik haben und auch weiter haben werden. Sie werden
dafür sorgen, dass Sie auf der Oppositionsbank bleiben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Selbst der Opposition Wohlgesinnte müssen
erkennen, dass sich die Opposition auf der rechten Seite
dieses Hauses wie ein Hühnerhaufen benimmt. Jeder
scharrt in eine andere Richtung und macht seinen eigenen
Mist. Da ich der Opposition jedoch nicht wohlgesonnen
bin - Sie werden das verstehen -, behaupte ich, dass die
Opposition im bevorstehenden Wahlkampf den größten
Wählerbetrug aller Zeiten begehen möchte.
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen deutlich machen. Sie wollen die Staatsquote auf 40 Prozent senken,
so steht es im Entwurf Ihres Wahlprogramms, das Sie mit
Zustimmung Ihres bayerischen Hofhahnes aus Wolfratshausen vorgelegt haben. Bei der Verwirklichung droht
eine Einschränkung der Ausgaben von Bund, Ländern
und Gemeinden von 170 Milliarden Euro, mit allen negativen Folgen für öffentliche Investitionen, Arbeit und
Infrastruktur. Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland
davor bewahrt wird.
({0})
Gleichzeitig fordern CDU/CSU-Familienpolitiker, dass
für Familiengeld 24 Milliarden Euro mehr ausgegeben
werden sollen. Der verteidigungspolitische Sprecher der
Opposition will natürlich auch, dass jedes Jahr 2 bis 3 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr ausgegeben werden. Obwohl die Regierung Schröder für notwendige
Straßeninfrastrukturverbesserungen mehr investiert, als
Sie in Ihrer Regierungszeit je in der Lage waren, wollen
Sie auch hier locker vom Hocker einige Milliarden für den
Straßenbau mehr ausgeben. Das verkünden jedenfalls Ihre
Abgeordneten vor Ort.
Auf Grundlage Ihrer widersprüchlichen Haushaltsreden der vergangenen Jahre könnte man diese Beispiele
für jedes Ministerium problemlos fortsetzen. Damit wird
jedem, der zwei und zwei zusammenzählen kann, deutlich, dass hier der größte Wählerbetrug der Nachkriegsgeschichte vorbereitet wird.
Einigen Herren wie Herrn Späth und jetzt auch Herrn
Seehofer wurde angesichts dieser Strategie offenbar klar,
dass Sie den Bürgerinnen und Bürger hier etwas weismachen wollen, was wohl nicht aufgehen kann. Die Wählerinnen und Wähler sind nämlich nicht so dumm, wie Sie
glauben. Sie durchschauen Ihre wirren Versprechungen.
Das haben sie 1998 gemacht und das wird auch am
22. September wieder der Fall sein.
Ihre Politik ist ein Rückschritt in die letzten Jahrzehnte.
Erinnern wir uns: 1995 bis 1998 waren Sie nicht fähig,
auch nur eine Reform durchzusetzen. Das, was Sie als Reform verkauften, hat beim Bürger dazu geführt, dass er am
liebsten seinen Geldbeutel zugenäht hätte, so ungeniert
haben Sie immer hineingelangt. Wirkliche Reformen, die
den Menschen etwas gebracht hätten, blieben bei Ihnen
auf der Strecke. Das Wort des letzten Jahres Ihrer Regierung war Reformstau, Frau Schwaetzer. Nun sind Sie
auch noch so dreist und werfen der Bundesregierung, die
es immerhin geschafft hat, Arbeit auf mehr Schultern zu
verteilen, vor, keine Erfolge vorweisen zu können.
({1})
Ich erinnere daran, dass es 1998 37,6 Millionen Arbeitsplätze gab. 2002 sind es 38,7 Millionen Arbeitsplätze.
Das ist ein Plus von 1,1 Millionen Beschäftigten, Frau
Schwaetzer, falls Sie nicht rechnen können.
({2})
- Es ist auch ein Erfolg, Frau Schwaetzer, wenn man Arbeit auf mehr Schultern verteilt. Oder wollen Sie noch
mehr Überstunden und solches Zeug zulassen?
Die Arbeitslosigkeit ist gesunken: im Jahresdurchschnitt 2001 im Vergleich zu 1998 um gut 400 000. Im
Vergleich des Monats Mai 2002 zum Mai 1998 sind es
225 000 Arbeitslose weniger. Das reicht uns nicht; das
macht uns auch nicht zufrieden. Aber die Richtung des
von uns eingeschlagenen Weges stimmt. Das zeigt auch
der Rückgang bei den Langzeitarbeitslosen um fast
240 000.
Wir haben im Wahlkampf 1998 versprochen, die sozialpolitischen Notwendigkeiten, also die so genannten
Fremdleistungen, mit allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren. Dieses Versprechen haben wir mit der Ökosteuer
eingelöst; denn die Ökosteuer bezahlen auch Abgeordnete, Unternehmer und Beamte. Das ist ökologisch vernünftig und sozialpolitisch gerecht.
({3})
Sie wollen die Ökosteuer einfrieren und dafür den Rentenversicherungsbeitrag um, wie man hört, 0,5 Prozent in
die Höhe schnellen lassen. Folgte man Ihren Vorstellungen,
was Sie noch alles in die Pflegeversicherung hineinpacken
wollen - Herr Zöller hat dafür wieder ein glänzendes Beispiel gegeben -, würden den Bürgerinnen und Bürgern
auch hier noch Beitragserhöhungen zugemutet werden.
Wie Sie so auf eine Lohnnebenkostenquote von
40 Prozent kommen wollen, wie Sie es im Entwurf Ihres
Wahlprogramms festgeschrieben haben, ist mir schleierhaft. In Ihrer Regierungszeit sind doch die Lohnnebenkosten von 34 Prozent auf über 42 Prozent gestiegen. Die
Menschen haben nicht vergessen: Hier sitzt die Lohnnebenkostenerhöhungskoalition von CDU/CSU und FDP.
Erst die SPD-geführte Bundesregierung hat hier eine
Trendwende erreicht. Sie haben nichts, aber auch gar
nichts zu dieser Trendwende beigetragen.
({4})
Die Bürgerinnen und Bürger wollen jedoch nicht von einem Hühnerhaufen regiert werden, der in alle Richtungen
scharrt und der goldene Eier verspricht, die sich für den
Bürger nach der Wahl als faule Eier entpuppen.
({5})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Berichts der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg
in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft
- Drucksache 14/8900 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist vollbracht! Vermutlich enden
fast alle Enquete-Kommissionen mit diesem Stoßseufzer,
wenn man über Jahre zusammengesessen und manche Sisyphusarbeit hinter sich gebracht hat. Wir haben einen Bericht vorgelegt, in dem die Arbeit von zweieinhalb Jahren
steckt, und unseren Auftrag erfüllt, eine Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlung zum bürgerschaftlichen
Engagement vorzulegen. Der umfängliche Bericht hat,
wie sich jetzt schon zeigt, eine gute Resonanz gefunden.
Um nur ein Beispiel vorzutragen, zitiere ich aus einer
Stellungnahme:
Die Enquete-Kommission hat in ihrer zweijährigen
Arbeit die gesellschaftliche Diskussion um bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Arbeit
weit vorangebracht und wichtige Handlungsempfehlungen vorgelegt. Wir unterstützen die Forderungen
und Anregungen der Enquete-Kommission, die die
Förderung und Ermöglichung des bürgerschaftlichen
Engagements als Querschnittsaufgabe der Politik begreift und damit eine Stärkung der Beteiligungsrechte von Bürgern auf allen Ebenen der Politik befürwortet.
Das ist nicht das einzige Lob, das die Enquete-Kommission erreicht hat.
Was sind, auf einen kurzen Nenner gebracht, die Markierungen unseres Berichts? Ich möchte drei Eckpunkte
benennen: erstens die Vielfalt des Engagements; zweitens
das Leitbild, an dem sich die Kommission orientiert hat,
nämlich die Bürgergesellschaft; drittens die Anerkennungskultur als wesentliches Ziel der Förderung des Engagements.
Vielfalt des Engagements. Was verstehen wir unter
bürgerschaftlichem Engagement? Neben Tätigkeiten in
Vereinen und Verbänden, in Kirchen und karitativen Organisationen, in Freiwilligenorganisationen, in Hospizbewegungen oder Tafeln umfasst es die Mitarbeit unter
anderem in Selbsthilfegruppen, in Nachbarschaftsinitiativen, in Tauschringen. Auch politisches Engagement ist
damit gemeint; es umfasst die Mitarbeit in Bürgerinitiativen, bei Volksbegehren oder in anderen Formen von direkt-demokratischer Bürgerbeteiligung, in Parteien und
Gewerkschaften sowie den Einsatz in Freiwilligendiensten. Schließlich zählen auch gemeinwohlorientierte Aktivitäten von Unternehmen und Stiftungen dazu.
Bürgerschaftliches Engagement bedeutet Vielfalt. Es
schließt das Ehrenamt mit ein, aber seine Bedeutung reicht
deutlich darüber hinaus. Anders ausgedrückt bedeutet bürgerschaftliches Engagement „Ehrenamt in der Demokratie“, wie es Rita Süssmuth richtig ausgedrückt hat. Ich bin
überzeugt: Den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken ist eine Überlebensfrage der Demokratie.
({0})
Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements ist eine
eminent wichtige politische Aufgabe für die nächsten
Jahre.
Die Debatte in Deutschland war lange Zeit bestimmt
von einer Perspektive, die die individuelle Motivation der
22 Millionen engagierten Bürgerinnen und Bürger in den
Mittelpunkt rückt und Engagement als einen bunten
Markt der Möglichkeiten versteht. Auch die EnqueteKommission hat nach Rahmenbedingungen gesucht, die
geeignet sind, die persönliche Bereitschaft zum Engagement zu fördern. Zu unseren Empfehlungen für die Praxis gehören der Abbau von Bürokratie ebenso wie der verbesserte Schutz von Engagierten und eine allgemeine
Aufwandspauschale von 300 Euro pro Jahr.
({1})
Wir haben uns sehr ausführlich und sehr intensiv mit
den rechtlichen Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen
Engagements befasst. Wir machen eine Reihe von Vorschlägen dazu, wie wir auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, aber auch bei Organisationen und Verbänden
bürgerschaftliches Engagement fördern können.
Von besonderer Bedeutung ist aus unserer Sicht der
Strukturwandel in den Motiven der engagierten Bürgerinnen und Bürger. Die klassischen Ehrenamtlichen kennen
wir alle: Vom Jugendalter an ehrenamtlich tätig bei der
Feuerwehr, beim Rettungsdienst, im Sport oder in einer
karitativen Einrichtung bekleidet er oder sie womöglich
heute ein Vorstandsamt, verpflichtet sich auf jeden Fall
langfristig einer bestimmten Organisation und bleibt dem
eigenen Verein viele Jahrzehnte treu. Zum Glück gibt es
diese Ehrenamtlichen immer noch. Auf ihre dauerhafte
und verlässliche Motivation können die Vereine gar nicht
verzichten. Aber gerade die Jüngeren engagieren sich
heute immer häufiger auf kürzere Zeit und eher in Projekten. Engagement muss dann zur jeweiligen Lebenssituation passen.
Noch bedeutsamer ist vielleicht die Beobachtung, dass
bürgerschaftliches Engagement mit den damit verbundenen
Aktivitäten auch das Bedürfnis nach Eigenverantwortung
und Selbstbestimmung einbezieht. Daraus resultieren erhöhte Anforderungen an Mitbestimmung, Gestaltung und
Eigenverantwortung im Engagement.
({2})
Ein Beispiel: „Schüler Helfen Leben“ ist eine Graswurzelinitiative, eine Jugendbewegung, mittlerweile übrigens
die erste Schülerstiftung Deutschlands. Bei „Schüler Helfen Leben“ engagieren sich junge Leute projektorientiert,
selbst organisiert, eigenverantwortlich. An Interessierten
herrscht kein Mangel. In diesem Jahr wollen sich 170 000
Schülerinnen und Schüler aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen am „Sozialen Tag“ beteiligen.
Von dem Erlös werden Schulen und Jugendeinrichtungen
auf dem Balkan gebaut. „Schüler Helfen Leben“ ist eine
Erfolgsgeschichte.
({3})
„Schüler Helfen Leben“ zeigt auch beispielhaft, dass Jugendliche nach wie vor bereit sind, sich zu engagieren,
wenn, ja wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Noch ein nachdenkliches Wort zu dem individuellen
Engagement. Für die zukünftige Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements scheint mir auch die demographische Entwicklung in Deutschland eine wichtige Rolle
zu spielen. Ich glaube, wir müssen auf diesen Faktor, die
Entwicklung der Bevölkerung, auch die Zahl an Migranten, an Ausländern, die bei uns sind, stärker als bisher
Rücksicht nehmen.
Der zweite Eckpunkt, das Leitbild Bürgergesellschaft: Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements betrifft aus meiner Sicht eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Reformprojekte unserer Zeit. Die
Bürgergesellschaft bildet sozusagen ein Tätigkeitsfeld eigener Art zwischen Staat, Wirtschaft und Familie, ein Netzwerk von selbst organisierten, freiwilligen Assoziationen,
von Vereinen und Verbänden, von NGOs, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, von Stiftungen, Freiwilligendiensten, aber auch von politischen Parteien und
Gewerkschaften. Bürgergesellschaft als Leitbild richtet
sich insofern an alle Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, sich an der Res
publica, an den öffentlichen Dingen, stärker als bisher zu
beteiligen, mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Ideen, mit
ihren Erfahrungen. Bürgergesellschaft als Reformperspektive erfordert vonseiten der Wirtschaft Unternehmen,
die sich dem Gemeinwesen gegenüber verantwortlich
verhalten und in diesem Sinne auch Teile der Bürgergesellschaft sind.
({4})
Vonseiten des Staates erfordert Bürgergesellschaft ein
verändertes Bewusstsein und eine veränderte Politik. Wir
gebrauchen den Begriff des ermöglichenden Staates, der
bürgerschaftliches Engagement erleichtert, schützt und
unterstützt. Das bedeutet nicht, dass sich der Staat aus der
Bürgergesellschaft zurückzieht und nur zuschaut, wie sich
der frei werdende Raum notgedrungen mit bürgerschaftlicher Eigeninitiative füllt.
Bürgerschaftliches Engagement als Feigenblatt für den
Abbau des Sozialstaates - das ist ein großes Missverständnis, das uns in der Zeit der Enquete-Kommission
häufiger begegnet ist. In aller Deutlichkeit gesagt: Bürgerschaftliches Engagement kann niemals ein Lückenbüßer für die sozialen Verpflichtungen des Staates sein.
({5})
Unser Verständnis ist ein anderes. Der ermöglichende
Staat wird bei der Förderung und Unterstützung bürgerschaftlicher Initiative selbst aktiv. Er wird, wenn nötig,
auch aktivierender Staat in einer sozialen Bürgergesellschaft, zum Beispiel wenn es darum geht, Menschen mit
geringer Bildung und Ausbildung erst zu befähigen, sich
auch engagieren zu können.
Drittes Stichwort: Anerkennungskultur. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung unserer
Gesellschaft wird sein, dass bürgerschaftliches Engagement anerkannt und gewürdigt wird. Die Engagierten
sind, wie wir aus vielen Befragungen wissen, vor allem
daran interessiert, dass ihre Tätigkeiten auch sichtbar werden und dass sie Wertschätzung erfahren. Zu einer umfassenden Anerkennungskultur für bürgerschaftliches
Engagement gehören nicht nur Auszeichnungen und
Ehrennadeln, obwohl man diese Formen der Anerkennung nicht unterschätzen darf und sie durchaus auch zeitgemäß gestalten kann. Aber Anerkennungskultur zeigt
sich vor allem im Alltag von Organisationen, in Arbeitsabläufen, in der Wertschätzung seitens der Hauptamtlichen sowie in der Schule, im Beruf, in der Familie. Zur
Anerkennungskultur gehören zum Beispiel auch Qualifizierungsangebote.
Wenn wir von der Wissensgesellschaft, vom lebenslangen Lernen reden, so gehören Kompetenzen aus dem
bürgerschaftlichen Engagement aus meiner Sicht unbedingt dazu. Wer sich engagiert, wird dabei eine ganze
Menge lernen. Aber es gilt auch: Bürgerschaftliches Engagement muss gelernt werden. Bürgergesellschaft ist
kein Selbstläufer. Die Bereitschaft, aktiv mitzuwirken,
können wir nicht als selbstverständlich gegeben hinnehmen. Diese Bereitschaft wird vermittelt. Sie wird vorgelebt in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule. Soziales Lernen, das Lernen von Gemeinschaftsfähigkeit
und sozialer Kompetenz, gehört zum Fundament bürgerschaftlichen Engagements und muss entsprechend gefördert werden.
({6})
Anerkennungskultur umfasst selbstverständlich auch
die Politik, die politische Ebene und das schließt den
Kreis unserer heutigen Debatte. Was wäre die Vorlage des
Berichts einer Enquete-Kommission ohne eine entsprechende Würdigung gegenüber den beteiligten Akteuren?
Eine Enquete-Kommission ist aus meiner Sicht ein
sehr wertvolles Instrument der Politikberatung, das in
mancherlei Hinsicht Maßstäbe setzt. Die Zusammensetzung aus Abgeordneten und Sachverständigen von außerhalb des Parlaments und die längerfristige Kontinuität eines Diskussions- und Arbeitszusammenhangs leisten
einen Brückenschlag zwischen ganz unterschiedlichen
Denkwelten und Handlungsweisen.
Ich möchte mich bei den Mitgliedern der EnqueteKommission für zwei Jahre engagierter und ausgesprochen intensiver Zusammenarbeit bedanken. In dieser Zeit
haben wir durchaus auch Meinungsverschiedenheiten und
Konflikte austragen müssen. Interessanterweise verliefen
die Fronten nicht nur zwischen den Fraktionen, sondern
häufig auch quer durch die Reihen der Kommissionsmitglieder. Die Arbeit in der Kommission und die dabei entwickelte Streitkultur waren im Großen und Ganzen aber
an der Sache orientiert und von gegenseitigem Respekt
getragen. Ich denke, wir Abgeordneten haben von den
sachverständigen Mitgliedern und auch von den Kolleginnen und Kollegen aus den jeweils anderen Fraktionen
viel lernen können.
Mein zusätzlicher Dank gilt Wilhelm Schmidt, der unsere Arbeit in der Kommission von Anfang an mit Rat und
Tat - vor und hinter den Kulissen - sehr intensiv und persönlich begleitet hat. Ohne ihn wäre die Kommission
überhaupt nicht eingesetzt worden.
({7})
Der herzliche Dank schließt die Mitarbeiter im Sekretariat ein und nicht zuletzt alle Engagierten, Organisationen, Vereine und Verbände, die der Enquete-Kommission
ihre Erfahrungen und Anliegen vorgetragen haben. Wir
konnten nicht alles berücksichtigen. Das was uns vorgetragen worden ist, hat den Bericht aber entscheidend geprägt. Sie haben uns davon überzeugt, dass die Vernetzung und Verstetigung der Förderung bürgerschaftlichen
Engagements eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben in
Deutschland ist.
Ich meine, wir haben Grund zu der Annahme, dass die
Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements positiv aussieht. Wenn wir einen langen Atem, Nachhaltigkeit, AusDr. Michael Bürsch
dauer und Beharrlichkeit bei unseren Bemühungen haben,
ist mir um die Zukunft des Engagements nicht bange.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin und stellvertretendes Mitglied der Enquete-Kommission! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
Zweieinhalb Jahre harter Arbeit sind vollbracht. Ich kann
mich mit diesen Worten dem Herrn Vorsitzenden nur anschließen.
Elf Sachverständige und 22 ordentliche und stellvertretende Mitglieder der Kommission haben sich über
zweieinhalb Jahre intensiv mit dem Thema „bürgerschaftliches Engagement“ auseinander gesetzt. 37 Sitzungen und acht Anhörungen mit Verbänden, Vereinen, Gruppen, Initiativen, Unternehmen, Gewerkschaften und
Kirchen sowie fünf Klausurtagungen, vier Workshops
und zahllose Gespräche auf Veranstaltungen oder bei Podiumsdiskussionen mit Ehrenamtlichen bzw. bürgerschaftlich Engagierten haben uns eine Fülle von Erkenntnissen gebracht, die zu einem guten Teil in den Bericht
eingeflossen ist.
Dass wir heute hier stehen und den Bericht einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages mit einer
Reihe guter Handlungsvorschläge debattieren können,
ist aber nicht zuletzt auch ein Mitverdienst von wackeren
Streitern der CDU/CSU aus der letzten Legislaturperiode.
Unter der Federführung von Klaus Riegert stellten sie
eine Große Anfrage an die damalige Bundesregierung zur
Bedeutung ehrenamtlicher Tätigkeit für unsere Gesellschaft.
({0})
Zusammen mit den nachfolgenden sieben Anhörungen
sorgte die Beantwortung der Anfrage für eine breite
Außenwirkung.
Einer unserer Sachverständigen in der Kommission,
der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sieht in den Initiativen und der Großen Anfrage
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Recht die Initialzündung für eine weitere intensive Befassung des Parlaments mit dieser Frage. Dass es dann so schnell zur Einrichtung einer Enquete-Kommission gekommen ist, ist
sehr erfreulich und zeigt, dass das bürgerschaftliche
Engagement in allen Fraktionen dieses Hauses starke Befürworterinnen und Befürworter hat.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit in
dieser Enquete-Kommission war trotz einiger erfreulicher
Erfolge nicht immer einfach.
({1})
Oft war es ein zähes Ringen um einzelne Punkte und Formulierungen, aber auch um Formalien und Fragen der Geschäftsordnung. Es gab auch Streitigkeiten um die Einhaltung der Minderheitenrechte. Manch ein Mitglied hat
sich vielleicht gefragt: Warum tue ich mir das eigentlich
die ganze Zeit an?
({2})
Dennoch bin ich froh, dass wir immerhin einiges an
Gemeinsamkeiten festhalten und eine Reihe von Handlungsempfehlungen an den Bundestag richten konnten,
von denen wir überzeugt sind, dass sie die Rahmenbedingungen der Engagierten spürbar verbessern können.
Bei allen Gemeinsamkeiten wurden jedoch schon
nach kurzer Zeit Unterschiede in mehreren Bereichen
klar. Bereits auf unserer ersten Klausurtagung habe ich
den Vorschlag gemacht, dass wir uns über die verschiedenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen, über unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und mögliche
Streitpunkte schon frühzeitig unterhalten, damit wir ausreichend Gelegenheit haben, darüber zu sprechen.
Gleichzeitig hätte eine frühzeitige Diskussion für mehr
Verständnis gegenüber der anderen Position und so zu einer größeren Akzeptanz geführt. Dies ist im kleinen Kreis
der Berichterstattergruppen gelungen, in vielen Fällen
aber nicht in den Kommissionssitzungen, die letztendlich
über die Vorschläge der Berichterstattergruppen zu befinden hatten.
Leider wurde mein Vorschlag nicht aufgegriffen, da die
Auffassung vorherrschte, man solle zunächst einmal nach
Gemeinsamkeiten suchen und die Streitpunkte am Ende
erörtern. Am Schluss fehlte aber schlichtweg die Zeit, sich
über Themen von zentraler Bedeutung zu unterhalten.
Über hoch komplexe Themen wurde nach Aufruf ohne
Diskussion abgestimmt. Auf diese Weise war es in einigen
wichtigen Bereichen unmöglich, Gegensätze zu überbrücken und von der Abstimmungsmehrheit abweichende
Meinungen dementsprechend einfließen zu lassen.
Ein Bericht, der die Verschiedenheit von Meinungen zu
zentralen Punkten nicht ausreichend wiedergibt, ist etwas,
was keiner der Beteiligten will. Zu viel Arbeit, Kompetenz und Idealismus sind dafür in diesen Bericht eingeflossen. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie die Sachverständigen Professor Dr. André
Habisch und Professor Dr. Peter Maser haben sich daher
bei der Abstimmung über den Bericht enthalten, ihm also
nicht zugestimmt, und sich dafür entschieden, den Bericht
mit einem Sondervotum zu ergänzen. Wir haben die Unterschiede in der Schwerpunktsetzung deutlich gemacht,
einiges etwas kritischer hinterfragt und wichtigen Punkten den Stellenwert eingeräumt, der ihnen gebührt. Hierzu
gehört zum Beispiel die Rolle der Familie bei der Erziehung zum gemeinnützigen Engagement, die im Bericht
nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hat. Meine
Kollegin Marie-Luise Dött wird nachher sicherlich noch
ein paar Worte zu diesem Thema sagen.
Einer der grundlegenden Unterschiede zwischen
CDU/CSU und SPD war und bleibt auch weiterhin das
Verständnis in Bezug auf das Verhältnis vom engagierten
Bürger zum Staat. Während ich manchmal Gemeinsamkeiten mit dem Kollegen von den Grünen, Herrn Simmert,
in Bezug auf das Menschenbild feststellen konnte,
({3})
können sich manche Teile der Sozialdemokraten bis heute
nicht von der gefährlichen Illusion lösen, dass der Staat
möglichst viel regeln muss.
Richtig ist, dass wir uns im Laufe der Jahrzehnte daran
gewöhnt haben, unsere Erwartungen mehr auf den Staat
und weniger aufeinander auszurichten. Statt Aufgaben in
Selbstorganisation zu lösen, wurde der Staat in Anspruch
genommen. Richtig ist aber auch, dass immer mehr Menschen allzu große staatliche Einflussnahme eher als Belastung denn als Segen empfinden. Die Tendenz muss
weg von staatlicher Bevormundung und ganz eindeutig
hin zu mehr Gestaltungsmöglichkeiten von Bürgerinnen
und Bürgern sowie zu gemeinnützigen Organisationen. Es
kann einfach nicht sein, dass sich der Staat anmaßt, überall mitmischen zu wollen, und zwar auch dort, wo er unsinnig und unerwünscht ist.
Ich will Ihnen hierzu ein aktuelles Beispiel nennen. Die
großen gemeinnützigen Verbände haben sich dazu entschieden, ein bundesweites Netzwerk zur Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements zu gründen. Die großen
Verbände wollten damit eine bessere Zusammenarbeit untereinander ermöglichen, Erfahrungen austauschen, gestärkt gegenüber staatlichen Ansprechpartnern auftreten
sowie Ideen und Anstöße aus dem Internationalen Jahr der
Freiwilligen aufgreifen und weiterführen.
Während die Verbände ursprünglich davon ausgegangen sind, als unabhängige Gesprächspartner mit der Politik in einen Diskurs zum Wohle des bürgerschaftlichen
Engagements treten zu können, zeigt sich nun, dass das
Familienministerium hierzu ganz andere Vorstellungen
hat. Ein Drittel der Sitze im Interimsvorstand des Netzwerkes sind durch politisch verlässliche Staatsvertreter
besetzt worden. Der Staat soll und muss bei einem solchen Netzwerk Gesprächspartner sein. Er darf aber die
Geschicke eines Netzwerkes für bürgerschaftliches Engagement auf keinen Fall durch eigene Vertreter mitgestalten.
Auf der anderen Seite fehlen wichtige gesellschaftliche
Gruppen wie die Kirchen oder der Deutsche Kulturrat.
Dies scheint mir ziemlich unverständlich zu sein. Man
könnte vermuten, dass der Vertreter des Deutschen Kulturrates, Herr Zimmermann, den ich vorher schon zitiert
habe, vielleicht deshalb herausgefallen ist, weil er ab und
zu den Mut gehabt hat, manche Vorschläge der Opposition gutzuheißen.
Die nachhaltigste und effektivste Möglichkeit für
staatliche Institutionen, bürgerschaftliches Engagement
zu fördern, ohne die Bürgerinnen und Bürger ständig zu
bevormunden, ist, bei gesetzgeberischen Maßnahmen die
Auswirkungen auf das bürgerschaftliche Engagement zu
beachten. Deshalb schlagen wir eine so genannte Ehrenamtsfreundlichkeitsprüfung vor, die Gesetzgebungsvorhaben von Anfang an auf ihre Freundlichkeit hinsichtlich
des Ehrenamtes überprüft.
Wir hatten einen erstmals so formulierten Passus im
Einsetzungsbeschluss der Enquete-Kommission vorgesehen. Danach sollten alle laufenden Gesetzgebungsvorhaben auf ihre „Ehrenamtsfreundlichkeit“ hin von der Enquete-Kommission überprüft werden. Das hat aber leider
nur bei den Themen funktioniert, die nach Meinung der
Mehrheitsfraktionen sinnvoll waren.
({4})
- Herr Vorsitzender, Sie wissen ganz genau, dass wir einen Antrag zu dem Thema „Sozialversicherungspflicht
von geringfügig Beschäftigten“ gestellt haben. Da dieser
abgebügelt wurde, konnten wir leider nie darüber diskutieren. Es wurde bei öffentlichen Veranstaltungen zwar
immer wieder darauf verwiesen, dass sich die EnqueteKommission mit diesem Thema beschäftigen werde. Dies
ist uns aber leider nicht gelungen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Eine Kultur der
Freiwilligkeit, des Helfens und des Engagements der
Bürgerinnen und Bürger wird nicht mit finanziellen Anreizen geschaffen. Eine solche Kultur wird nur dann entstehen, wenn den engagierten Bürgerinnen und Bürgern
Dank, Anerkennung und Wertschätzung aus der unmittelbaren Umgebung zuteil werden. Sie sind die wichtigsten
Motive für bürgerschaftliches Engagement. Sie bestärken
engagierte Bürgerinnen und Bürger, sich für ein gemeinwohlorientiertes Ziel einzusetzen, und ermutigen
auch Außenstehende, sich für gemeinwohlorientierte
Aufgaben zu interessieren. Dank, Anerkennung und Wertschätzung aus dem unmittelbaren Umfeld können nicht
angeordnet und nicht durch formalisierte Dankesbekundungen, Anreize und Gratifikationen ersetzt werden. Sie
können nur in einem Klima gegenseitiger Achtung und
Anerkennung sowie bei entsprechendem Verantwortungsbewusstsein entstehen.
In diesem Sinne möchte auch ich mich ganz herzlich
bei allen Mitgliedern der Enquete-Kommission und insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats bedanken. Insgesamt haben wir trotz aller unterschiedlichen Auffassungen über das bürgerschaftliche
Engagement einen deutlichen Schritt vorwärts gemacht.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Simmert.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Durch die
Arbeit der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ ist es in dieser Legislaturperiode gelungen, dem freiwilligen Engagement einen umfassenden Raum im Parlament zu geben. Auch ich möchte
mich zu Beginn meiner Rede bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Enquete-Kommission, aber auch bei
allen Sachverständigen, insbesondere bei dem Sachverständigen der Grünen, Adalbert Evers, für die hervorragende Zusammenarbeit bedanken, auch wenn sie an manchen Punkten nicht sehr einfach war.
In unserer Arbeit und im Bericht der Kommission wird
deutlich, dass es das Engagement vieler Bürgerinnen und
Bürger in den unterschiedlichsten Bereichen ist, das die
Gesellschaft zusammenhält und neue Impulse für Veränderungen gibt.
({0})
Das zivile, das bürgerschaftliche Engagement macht den
sozialen Kitt in unserer Gesellschaft aus. Gerade die vielen kleinen, kreativen, neuen Initiativen und Netzwerke,
die meistens selbst organisiert sind, aber auch die uns
wohlbekannten größeren Verbände und NGOs machen
unsere zivile Gesellschaft erst zur Zivilgesellschaft. Die
kleinen innovativen Netzwerke sind es aber, die bislang
kaum direkten Zugang zur Politik gefunden haben oder
- besser gesagt - deren politische Anliegen kaum berücksichtigt wurden. Dieser Zugang war und wird von den
Großen bestimmt. Dies gilt leider zu oft auch für die Entscheidungen des Bundestages. In Zukunft müssen kleine
und große Netzwerke sowie die NGOs auch bei parlamentarischen Debatten und Entscheidungen ein stärkeres
Gewicht bekommen.
({1})
Deshalb gilt es, die Zivilgesellschaft zu stärken und
auch - das richte ich an die Adresse aller Abgeordneten einen selbstkritischen Blick auf das Parlament zu werfen.
Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission macht
deutlich, dass es vielfältiges Engagement gibt und dass
wir keineswegs in einer Gesellschaft leben, in der der eine
dem anderen egal ist. Dennoch muss man feststellen: Es
gibt Hindernisse für das zivilgesellschaftliche Engagement und Herausforderungen. Der Bericht benennt sie.
Der Vorsitzende Bürsch hat über sie gerade referiert.
Ich denke, eine der wichtigsten Feststellungen in dem
vorliegenden Bericht ist, dass freiwilliges Engagement
und Erwerbsarbeit - hier meine ich auch potenzielle Erwerbsarbeitsfelder - voneinander abgegrenzt werden
müssen. Nehmen wir einmal als hypothetischen Fall - den
mögen meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD immer besonders; er könnte in den nächsten Jahren tatsächlich eintreten - die Abschaffung des Zivildienstes. Hier
nur darauf zu setzen, die durch den Zivildienstleistenden
abgedeckte Arbeit könne schon irgendwie durch freiwilliges Engagement ersetzt werden, ist falsch.
({2})
Es geht hierbei um mehr Arbeitsplätze im Gesundheitswesen, um mehr Geld für das Gesundheitswesen und
nicht einfach nur um mehr Engagement.
Um nicht missverstanden zu werden: Engagement ist
auch hier wichtig. Aber bürgerschaftliches Engagement
darf nicht zur Spardose werden. Leider haben wir es beim
Beispiel Zivildienst nur bis zu einem Sondervotum im Bericht geschafft.
Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement ist kein
Ausfallbürge für sozialstaatliche Reformen oder in toto
Ausfallbürge für den Rückzug des Staates oder den Abbau
von Sozialleistungen.
({3})
Es gibt noch einen anderen Aspekt, den ich ansprechen
möchte; meine Kollegin Antje Vollmer wird nachher auf
weitere, den Grünen wichtige Punkte eingehen. Mir ist
wichtig, in dieser Diskussion festzustellen, dass wir uns
für eine Zivilgesellschaft einsetzen - das habe ich in der
Diskussion in der Enquete-Kommission von allen Seiten
des Hauses auch immer so verstanden -, die Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nicht hinnimmt.
({4})
Dies gilt vor allem dann, wenn es darum geht, diese unzivilen Ressentiments salonfähig zu machen. Gerade viele
kleine Initiativen, vor allem von jungen Menschen, von
Jugendlichen, sind es, die zum Beispiel in den neuen Bundesländern mit ihrem Engagement dem Unzivilen, dem
Rechsradikalismus etwas Ziviles entgegensetzen. Das ist
wichtig und das bedarf unserer Unterstützung.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was nützt diese Unterstützung, wenn es Politiker gibt, die mit ihren Äußerungen den Glauben an einen zivilgesellschaftlichen Grundkonsens mutwillig zerstören? Die gelbe „Mölle-Welle“
hat uns in den vergangenen Wochen gezeigt, wie es funktioniert, das Unzivile salonfähig zu machen, und hat damit die übergroße Mehrheit in diesem Land, die sich gegen Antisemitismus einsetzt, vor den Kopf gestoßen. Das,
meine Damen und Herren, dürfen wir nicht hinnehmen.
({6})
Ich bin sehr froh - das möchte ich zum Schluss erwähnen -, wenn wir heute den Abschlussbericht der EnqueteKommission zur Kenntnis nehmen. Ich möchte an dieser
Stelle jedoch noch einen Teil der Bundestagsrede von
Herrn Werner Bornheim zitieren:
Meine Damen und Herren, Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch - ohne darum
herumzureden - in Anbetracht der Situation, in der
wir uns befinden. Ich kann meinen politischen Standpunkt in wenige Worte zusammenfassen: Erstens das
Selbstverständnis unter der Voraussetzung, zweitens
und das ist es, was wir unseren Wählern schuldig sind,
drittens, die konzentrierte Beinhaltung als Kernstück
eines zukunftsweisenden Parteiprogramms.
Mit diesen Worten von Werner Bornheim alias Victor
von Bülow - besser bekannt als Loriot - möchte ich
schließen - mit der Erkenntnis, dass Engagement von
Bürgerinnen und Bürgern gehaltvoll ist und nicht durch
politische Floskeln, sondern durch konkretes politisches
Handeln und politische Transparenz unterstützt wird. Der
Bericht wurde zwar in dieser Legislaturperiode geschrieben, doch in der nächsten muss er umgesetzt werden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der Beschluss des
Bundestags zur Einsetzung der Enquete-Kommission hat
bestimmt allen Mitgliedern, Abgeordneten wie Sachverständigen, so viele Reaktionen in Form von Papier ins
Haus gebracht, wie das in ihrem Leben noch nie der Fall
gewesen ist.
({0})
- Sie waren ja nicht der Verursacher, Herr Kollege
Bürsch. - Damit kommt zum Ausdruck, dass sich in
Deutschland 22 Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren. Das ist ein großes Geschenk. Das hat die Politik
mit großem Dank zur Kenntnis zu nehmen. Denn diese
Menschen formen eine große Zivilgesellschaft.
({1})
Diese ist aber noch in starkem Maße staatlich reguliert
und wird von ständigem Misstrauen begleitet, wie uns in
vielen Gesprächen nahe gebracht wurde. Es ist hohe Zeit,
sich ernsthaft dieser dritten Säule eines modernen liberalen Gemeinwesens zuzuwenden. Der Selbstermächtigung, Selbstorganisation und Selbstverantwortung
der Bürgerinnen und Bürger muss sehr viel mehr Raum
zugestanden werden.
In der Enquete-Kommission sind meines Erachtens
viel zu viele Anhörungen, vor allem Verbandsanhörungen, durchgeführt worden, in denen vielfach ein bestimmter roter Faden hin zu mehr Staatsnähe und staatlicher Verankerung gesucht wurde. Diejenigen, die
tatsächlich ehrenamtliche Arbeit leisten, sind kaum und
viel zu selten zu Wort gekommen.
({2})
- Wir haben diese Vorschläge gemacht, verehrte Frau
Kollegin Kortmann, haben uns aber nicht damit durchgesetzt. Bekanntlich hat die FDP-Fraktion daraufhin eine eigene Anhörung mit vielen Jugendlichen aus dem gesamten Bundesgebiet, die selber ehrenamtliche Arbeit leisten,
durchgeführt. Auch einige Mitglieder der Enquete-Kommission haben daran teilgenommen. In dieser Anhörung
hat sich ein völlig anderes Bild ergeben als das, das uns
von den Vertretern der Verbänden als roter Faden präsentiert worden ist. Ich beklage das nicht; aber es war eine
sehr interessante Feststellung.
Die Enquete-Kommission hat in der Analyse und mit
guten Ansätzen für eine zukunftsorientierte Politik gute
Arbeit geleistet. Ich meine, wir haben allen Grund, ausnahmslos allen Sachverständigen, aber auch den vielen
Mitarbeitern aus der Wissenschaft, die uns hilfreich beraten haben, herzlich zu danken.
({3})
Ich bin gespannt, ob es der Bundesregierung, der bisher die Kraft gefehlt hat, zukunftsweisende Ideen politisch umzusetzen, gelingen wird, dieses Anliegen aufrechtzuerhalten. Bürgerschaftliches Engagement findet
nicht im luftleeren Raum statt. Durch die Änderung des
325-Euro-Gesetzes sind zum Beispiel viele Vereine, die
Aufwandsentschädigungen an Mitglieder gezahlt haben,
in die Lage gekommen, plötzlich wie ein Lohnbüro Sozialversicherungsbeiträge ausrechnen und abführen zu
müssen. Das können die meisten Vereine gar nicht. Wir
sollten uns klar machen, dass nur durch diese Belastung
der Vereine Druck auf die Politik entstanden ist, die Nachteile wenigstens durch steuerliche Freibeträge zu kompensieren.
Die Organisation des Engagements vor Ort ist eine
kommunale Aufgabe. Auch dabei kann vieles nicht geleistet werden, weil den Gemeinden ständig neue Aufgaben aufgebürdet werden. So ist es fast skurril, dass die Enquete-Kommission Musterbeispiele für kommunales
Handeln hervorhebt, wie zum Beispiel im Fall Nürtingen.
Für Städte und Gemeinden, die nicht einmal ihren staatlichen Pflichtaufgaben nachkommen können, ist das verständlicherweise schwierig.
Dem Staat, der alle Bereiche menschlichen Lebens gestalten, regeln und organisieren möchte, setzt die Enquete-Kommission das liberale Ideal eines ermöglichenden Staates entgegen. Der Staat soll nur noch ein Akteur
unter mehreren sein und die zivilgesellschaftliche Eigenverantwortung seiner Bürger respektieren. Die Kommission hat damit die Vorstellung eines aktivierenden Staates
abgelehnt, der Engagement stimulieren und in bestimmte
Felder dirigieren will. Diese Übereinstimmungen sind in
vielen Diskussionen einvernehmlich erarbeitet worden.
Leider, Herr Kollege Bürsch, entnehme ich Ihrer Pressemitteilung von heute Mittag, Sperrfrist 12 Uhr, dass genau
an diesen beiden Punkten Hintertürchen geöffnet werden
und Sie in gewisser Weise davon abrücken.
({4})
Das halte ich nicht für in Ordnung; das gebe ich zur
Kenntnis.
({5})
- Das hat mit „anderen Impulsen“ nichts zu tun, sondern
das sind grundsätzliche Entscheidungen.
Es ist außerordentlich traurig, dass es so ist. Ich
bedaure das sehr. Traurig stimmen mich auch die statistischen Rückfälle, zu denen es gegenwärtig bei der Gründung des Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements kommt. Unter der Regie des Familienministeriums werden - das hat die Kollegin Aigner schon erChristian Simmert
wähnt - etwa zu einem Drittel Staatsvertreter in den Vorstand des Netzwerks entsandt. Man muss sich klar machen, welches mangelnde Verständnis hier besteht. Das
sind wirkliche Defizite.
Für die Engagierten hat materielles Entgelt kaum Bedeutung. Das ist vor allen Dingen in unserer öffentlichen
Anhörung mit den Jugendlichen klar geworden.
({6})
Die Kommission hat daher vielen Vorschlägen für materielle Anreize, wie sie von Funktionären vorgetragen wurden, eine klare Absage erteilt. Neben der Suche nach
Sinnerfüllung und der persönlichen Entwicklung stehen
Dabeisein und Mitmachendürfen ganz oben. Zu wenige
dieser immateriellen Anreize stehen Jugendlichen zur
Verfügung. Der Raum, um sich in eigener Verantwortung
engagieren zu können, fehlt. Hier müssen sich insbesondere die Schulen öffnen. Auch das ist bei Anhörungen mit
jungen Menschen, sogar noch bei der, die wir gestern
durchgeführt haben, deutlich geworden.
({7})
Nur wenn Kinder und Jugendliche sich im Engagement
erfahren können und Verantwortung zu übernehmen lernen, können sie diese Erfahrungen in eine künftige Gesellschaft hineintragen.
Der zukunftsorientierte Ansatz der Kommission
schlägt sich leider nur teilweise in den Handlungsempfehlungen nieder. Zu viel Raum nimmt Geschiebe im Regelungsdschungel des Steuer- und Verwaltungsrechts ein.
Darüber haben wir uns ja auch viel zu lange unterhalten.
Die FDP fordert stattdessen eine Umsetzung der Gleichwertigkeit der Engagementformen. Es darf in Zukunft
keinen Unterschied machen, wie und in welcher Form
sich die Bürgerinnen und Bürger engagieren. Dazu muss
insbesondere das Gemeinnützigkeitsrecht grundlegend
reformiert werden. Weitere Einzelstatuierungen - wie im
Bericht vorgeschlagen - greifen zu kurz.
Wir haben mehrere Punkte als Sondervoten in dem Bericht platzieren können. Es besteht die große Gefahr, dass
nicht allzu viel Notiz von dieser Debatte genommen wird,
sowohl aufgrund des Wahlkampfes als auch dadurch, dass
diese wieder nur von einer Minderheit des Hauses wahrgenommen wird. Es gibt darum nur dann eine Chance das müssen wir, die Mitglieder der Kommission, die Mitarbeiter und die Sachverständigen vermitteln -, dass
Bürgerinnen und Bürgern Engagement ermöglicht wird,
wenn diese das Thema genauso ernst nehmen, dranbleiben und ihren Willen einfordern.
Lassen Sie mich abschließend allen Mitarbeitern des
Sekretariats, den Kolleginnen und Kollegen der Kommission und den Sachverständigen herzlich danken. Es hat
Spaß gemacht, auch wenn es eine ziemlich mühevolle Arbeit war.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Enquete-Kommission, der vorgelegt wurde, ist das Ergebnis
umfangreicher Arbeit. Je mehr Menschen in die Arbeit der
Enquete-Kommission einbezogen wurden, desto deutlicher wurde die Dringlichkeit von Veränderungen der
Grundlagen und der Regelungen in diesem Bereich. Aber
wie das eben so ist: Je mehr Leute einbezogen wurden,
desto mehr Papier wurde produziert. Ich gebe zu, dass ich
jedes Mal ängstlich ins Büro schaute, wie viel Meter Papier von der der Enquete-Kommission wieder eingetroffen sind.
({0})
- Ja, wer viel schreibt, der schreibt manchen etwas. So
enthalten die Papiere sicherlich auch etwas. Die Frage ist
nur, wie wir das Notwendige herausfiltern.
Aber das war eigentlich nicht mein Anliegen, sondern
mir ging es vielmehr um die sinnvollen Vorschläge, die
nicht in die Papiere aufgenommen wurden, und auch darum, dass für die Umsetzung der sinnvollen Vorschläge
und Anregungen, die darin enthalten sind - dem möchte
ich Ausdruck verleihen -, nicht allzu viel Zeit verbleibt.
Bei der Bewertung darf nicht allzu vieles unter den Tisch
gekehrt werden, sondern in erster Linie muss die Arbeit
der Engagierten erleichtert werden. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ganz besonders die Engagierten auf
den Tribünen von Bayern bis nach Thüringen. Herzlich
willkommen und herzlichen Dank insbesondere für Ihre
Arbeit!
({1})
Ich möchte diesen Dank natürlich insbesondere an die
Vertreter der Verbände, der Vereine, der Graswurzelbewegung und der Selbsthilfegruppen richten, durch deren
Arbeit wir viel Boden unter die Füße bekommen haben.
Die PDS hat dem Bericht zugestimmt. Sie macht davon
auch jetzt keinerlei Abstriche. Wir danken auch dem von
uns in die Enquete-Kommission entsandten Sachverständigen, Herrn Professor Roth. Ich glaube, er hat nicht nur
für uns, sondern für die Enquete-Kommission insgesamt
sehr Nützliches geleistet. Er hat in seinem Sondervotum
auf die Bereiche hingewiesen, wo wir ein bisschen mehr
Handlungsbedarf sehen. Dazu möchte ich später ein paar
Dinge sagen.
Zunächst möchte ich allerdings, Kollege Bürsch, etwas
zum aktivierenden Staat sagen. In dem Sondervotum des
Kollegen Roth kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass
unter „aktivierender Staat“ in dem Bereich, in dem ich freiwillig besonders engagiert bin, in der Arbeitslosenbewegung, etwas ganz anderes verstanden wird, nämlich dass
der aktivierende Staat die angeblich nicht Arbeitswilligen
„fördern und fordern“ soll, auf dass sie wieder arbeiten.
({2})
- Okay. Aber insgesamt gibt es diesen Blickwinkel.
Ich will auch Folgendes deutlich sagen: Angesichts der
Tatsache, dass es 22 Millionen Engagierte gibt, kann das
Wort von der natürlichen Faulheit der Menschen nicht
ganz stimmen. Das sage ich in eine ganz bestimmte Richtung.
({3})
Uns geht es vor allen Dingen darum, dass das bürgerschaftliche Engagement gestärkt wird und dass es mehr
als eine gelegentliche Ergänzung der repräsentativen Politik, sozusagen ein schmückendes, aber eigentlich
unnötiges Beiwerk, ist. Wer sich die verschiedenen Ebenen der öffentlichen Hand genau anschaut, der weiß, dass
das bisher der Fall ist. Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements erfordert mehr politischen Gestaltungsspielraum. Bisher war es Lückenbüßer, wenn öffentliche Leistungen gestrichen wurden. Es war quasi ein
Ausfallbürge, der dann zum Einsatz kam, wenn es darum
ging, Personen für nicht mehr bezahlbare Tätigkeiten zu
finden. Wir wissen, dass die Kassen allerorten leer sind.
Die Stärkung des bürgerlichen Engagements erfordert
zugleich die Abgabe von Macht der öffentlichen Hand, der
Parlamente und der Parteien. Außerdem erfordert es eine
weitaus stärkere politische, ökonomische und soziale Unterstützung des Engagements der Bürger. Ich glaube, es ist
in den Anhörungen immer wieder deutlich geworden, dass
es auf diesem Gebiet wirklich Nachholbedarf gibt.
Dabei hängt die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements wesentlich von der Stärkung der kommunalen
Ebene ab - auch das ist deutlich geworden -, weil auf dieser Ebene am meisten bürgerschaftliches Engagement
stattfindet. Dort sind die Handlungskompetenzen am größten, während die Finanzausstattung am geringsten ist.
Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements hat
zur Bedingung, dass seine sozial-ökonomischen Voraussetzungen für alle Bürgerinnen und Bürger geschaffen
werden. Damit bürgerschaftliches Engagement keine Sache derer bleibt, die es sich leisten können, bzw. derer, die
ihrem Anliegen anders kein Gehör verschaffen können,
bedarf es einer sozialen Grundsicherung. In einem ersten Schritt sollten angemessene soziale Garantien insbesondere für benachteiligte Gruppen geschaffen bzw. gestärkt werden.
Wenn zum Beispiel ein Sozialhilfeempfänger in Berlin
heute zu einem Ort fahren will, wo er sich engagieren
möchte, dann muss er 1,5 Prozent bis 2 Prozent des Eckregelsatzes der Sozialhilfe auf den Tisch legen, um an diesen Ort zu gelangen. Das kann so nicht funktionieren. Da
ist etwas zu verändern. Die besondere Lebenslage von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Alleinerziehenden,
Behinderten und Senioren muss eine angemessene
Berücksichtigung finden, damit sie in dieses Engagement
einbezogen werden können.
({4})
Dies ist auch im Bereich des Niedriglohnsektors vonnöten.
({5})
Sie wissen, was auf diesem Gebiet passiert.
Lassen Sie mich zum Schluss auf das hinweisen, worauf wir keine Antwort gefunden haben - daran müssen
wir sicherlich noch arbeiten -: Es ist das Problem der Flexibilität und der Mobilität der Menschen, die nicht mehr
so gebunden sind. Dieses Problem hat auf das bürgerschaftliche Engagement Auswirkungen. Die Auswirkungen auf die Arbeitnehmerschaft sind größer als die auf die
Arbeitgeberschaft. Das sage ich auch in Richtung der
CDU, die so sehr darauf gedrungen hat, auf das Engagement der Arbeitgeber zu setzen. Ich meine, dass der große
Teil der Engagierten der Arbeitnehmerschaft angehört.
Diese Menschen sind durch die von mir hier genannten
Fakten am meisten belastet. Es gibt also noch Handlungsbedarf. Ich hoffe, dass wir durch die Gesetze und Regelungen, die wir schaffen werden, Veränderungen herbeiführen können.
({6})
Für die SPD-Fraktion
erteile ich jetzt dem Kollegen Wilhelm Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sage
ganz offen, dass ich heute voller Freude das Ergebnis der
Enquete-Kommission präsentiere. Ich danke für das Lob,
das mir Herr Bürsch hat zuteil werden lassen. Ich will es
gern weitergeben. Ich kann mich sehr gut daran erinnern,
dass am Anfang dieser Legislaturperiode, also zu Beginn
der Arbeit der Koalition, Antje Vollmer und ich über dieses Thema gesprochen haben. Wir sind dann aufgrund der
Arbeit, die in der SPD-Fraktion schon in der vorherigen
Wahlperiode geleistet worden ist, gemeinsam zu der
Überzeugung gekommen, diese Enquete-Kommission
einzurichten.
Ich glaube, Antje Vollmer, wir können heute sagen,
dass es sich gelohnt hat. Wir, die wir nicht immer an der
intensiven und harten Arbeit in der Enquete-Kommission
mitwirken konnten, wollen ganz besonders denjenigen
Dankeschön sagen, die die Arbeit und die praktische Umsetzung geleistet haben. Ich nenne Michael Bürsch und
Karin Kortmann auf unserer Seite, aber auch die anderen
hier anwesenden Mitglieder wie auch die Sachverständigen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ich glaube, die Öffentlichkeit kann gar nicht richtig
einschätzen, welcher Berg an Arbeit bei Enquete-Kommissionen im Allgemeinen, aber bei dieser im ganz besonderen Maße anfällt, bevor man zu einem solchen Ergebnis kommt. Deswegen will ich an dieser Stelle meinen
Dank aussprechen.
Wir stehen vor einem unglaublich großen Kompendium von Wissen, das hier über das ehrenamtliche und
freiwillige Engagement und über das, was wir mit „bürgerschaftlichem Engagement“ neu beschreiben, zusammengetragen worden ist. Mit diesem Begriff wird ein
neuer Beitrag für die Zivilgesellschaft beschrieben, der in
gewisser Hinsicht auch Tradition hat. Wir alle wissen,
dass ohne den Einsatz der Gesellschaft der Aufruf, sich zu
engagieren, nicht diese Resonanz finden würde. Die MenDr. Klaus Grehn
schen in dieser Gesellschaft würden nicht diesen Reichtum an bürgerschaftlichem Engagement vorfinden,
wenn es nicht die gewachsenen Strukturen geben würde,
die wir schon seit Jahrzehnten kennen.
Wir unterschätzen immer wieder, welche Arbeit hinter
den Kulissen in den Vereinen und Verbänden sowie in den
Organisationen geleistet wird. Darum hat sich meine
Fraktion insbesondere der Praktiker aus den Organisationen und Verbänden als Sachverständiger versichert, damit
das Engagement, das Herr Schüßler und andere mit Recht
angemahnt haben, gefördert werden kann. Das ist dankenswerterweise gelungen.
Wir haben darüber hinaus nicht nur Funktionärswissen
abgerufen, sondern wir haben durch sehr viele Kontakte
und durch die vielen Möglichkeiten der direkten Auseinandersetzung und der Ansprache der Beteiligten die gesamte Erfahrung abgerufen. Daher liegt diese Fülle von
Wissen und Erfahrungen und von Erkenntnissen vor, die
hier eine Rolle gespielt haben.
Wir haben dadurch Handlungsempfehlungen für die
Politik bekommen. Wir haben auf der anderen Seite aber
auch Handlungsempfehlungen für die gesellschaftlichen
Gruppen aufgestellt, auf die ich nun eingehen möchte,
weil sie in unseren Überlegungen eine besondere Rolle
gespielt haben. Diese Gruppen werden sich umstellen
müssen. Das haben ihre Vertreter in der Enquete-Kommission, aber auch alle darüber hinaus Beteiligten immer
wieder erfahren müssen. Das herkömmliche Engagement
allein - Herr Bürsch hat es schon mit Recht angesprochen - reicht nicht mehr aus; denn damit können die Anforderungen nicht mehr erfüllt werden. Man muss sich mit
neuen und modernen Formen, die jungen, aber auch älteren Menschen angemessen sind, beschäftigen. Man muss
daneben eine Aufgeschlossenheit an den Tag legen, die
wir in dem Bericht der Enquete-Kommission als notwendig darstellen.
Ich will aber auch ein Wort an die Unternehmen richten. Es war zum Beispiel völlig richtig, dass die SPDFraktion im November 2000 mit dem großen Kongress
„Unternehmen und Bürgerschaftliches Engagement“ im
Vorfeld des Internationalen Jahres der Freiwilligen eingefordert hat, dass sich die Unternehmen mehr, als es bis dahin der Fall war und als es bisher diskutiert worden war,
bürgerschaftlich engagieren.
({0})
Wir lassen nicht nach, dieses Engagement einzufordern.
Wir haben eine gute Steuerreform gemacht. Dadurch
sind viele Unternehmen erheblich entlastet worden, die
mittelständischen wie auch die großen Unternehmen.
({1})
Darum fordern wir im Gegenzug: Engagieren Sie
sich mehr als bisher! Sorgen Sie dafür, dass Ihren Mitarbeiterinnen und Ihren Mitarbeitern die richtigen Signale
gegeben werden, um beispielsweise das Zusammengehörigkeitsgefühl im Unternehmen, aber auch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Standortgemeinde des
Unternehmens zu stärken! Engagieren Sie sich in Bürgerstiftungen, in den Vereinen und Verbänden sowie bei Projekten, die Ihnen möglicherweise zusätzlichen Imagegewinn für das Unternehmen bringen können! Ich glaube,
damit haben wir eine ganze Reihe Möglichkeiten eröffnet,
über die auch berichtet worden ist.
Ich will noch einen Satz zur Opposition sagen, nicht
nur wegen des Sondervotums und wegen der Enthaltung
bei der Abstimmung über den Bericht. Es war Ihre Entscheidung, dass Sie während der Zeit, in der die EnqueteKommission getagt hat, mit manchen unbezahlbaren Forderungen an die Öffentlichkeit getreten sind. Darüber
wollen wir nicht weiter richten; das gehört manchmal zum
Spiel zwischen Opposition und Regierung. Dass Sie aber in
der vorigen Woche die Spitze der Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements niedergestimmt haben, nämlich
Volksbegehren und Volksentscheid in unser Grundgesetz
auzunehmen, nehme ich Ihnen übel.
({2})
Von daher ist Ihre Glaubwürdigkeit ziemlich belastet. Sie
sollten noch einmal in sich gehen, wenn auch nicht mehr
jetzt, weil die Legislaturperiode zu Ende geht.
Ich danke allen Beteiligten für ihren Einsatz. Das war
die Spitze bürgerschaftlichen Engagements. Viele Millionen Menschen danken es ihnen allen mit Recht, so auch
ich.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich jetzt dem Kollegen Norbert Barthle
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Alles Große in unserer Welt geschieht, weil jemand
mehr tut, als er muss.
Die Enquete-Kommission hat sich genau mit den
Menschen beschäftigt, die mehr tun, die sich ehrenamtlich und freiwillig für unsere Gesellschaft engagieren.
Diesen Menschen gilt mein erster, mein herzlichster
Dank. Da der Dank die stärkste Form der Bitte ist, möchte
ich ihn unterstreichen. Ich bin überzeugt, auch auf der Zuschauertribüne sitzen viele, die sich draußen tagtäglich
ehrenamtlich engagieren. Ich kann sie nur ermuntern, dabei zu bleiben.
({0})
Bedanken möchte ich mich ebenso bei meinen Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit, aber auch
bei den sachverständigen Mitgliedern für ihre zumindest
meistens erhellenden Beiträge.
({1})
Wilhelm Schmidt ({2})
Mein Dank gilt ebenfalls dem Sekretariat der EnqueteKommission. Hierbei sage ich vor allem Herrn Josef
Kestler herzlichen Dank, der mich bei der Leitung der Arbeitsgruppe „Rechtsbezogene Vorschläge“ sehr tatkräftig
unterstützt hat.
({3})
Meine Damen und Herren, wir wissen: Das bürgerschaftliche Engagement braucht eine Zukunft und hat
eine Zukunft. Wir müssen alles tun, um die Bedingungen
für bürgerschaftliches Engagement zu verbessern. Unsere
Bürgerinnen und Bürger wollen sich engagieren; wir müssen sie dabei unterstützen. Das ist zumindest die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die meint, dass
sich der Staat auf das Beseitigen von Hindernissen konzentrieren sollte, denn die Menschen wissen selbst am besten, wo und wie ihr Engagement gefordert ist.
Daher haben wir einige Probleme mit dem Bild des
aktivierenden Staates, das in der Diskussion immer wieder eine zentrale Rolle spielte. In diesem Begriff zeigt sich
ein zentralistisch orientiertes Staatsverständnis, bei dem
der Staat Inhalt und Organisation bürgerschaftlichen Engagements beeinflusst oder beeinflussen will.
({4})
- Nein. Darauf komme ich gleich zurück.
An dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün, kann ich Ihnen eine leise Kritik nicht ersparen.
In dieser schönen Nachmittagsdebatte, in der so viel Lob
und Dank ausgesprochen wird und so viel Konsens aufscheint, muss man doch festhalten, dass Sie es leider nicht
immer geschafft haben, dieses für uns alle so bedeutende
Thema von einer parteipolitisch orientierten Ideologisierung frei zu halten. Das wollen die 22 Millionen Engagierten draußen nicht, im Gegenteil. Wer sich in Vereinen,
in Hilfsorganisationen, bei den Kirchengemeinden, in der
Kommune, in Schule und Kindergarten, bei den Selbsthilfegruppen oder wo auch immer ehrenamtlich engagiert, will primär der Sache dienen. Diese Menschen wollen weder Teil eines gesellschaftlichen Veränderungsmodells nach dem Leitbild des aktivierenden Staates sein,
noch wollen sie sich in irgendeiner Weise einer staatlichen
Zielsetzung - bei der SPD heißt das meist „Demokratisierung der Gesellschaft“ - unterordnen oder sich gar für sie
instrumentalisieren lassen. Im Gegenteil, diese Menschen
erwarten von uns, dass wir ihren Einsatz erleichtern, würdigen und respektieren und dass wir Hindernisse aus dem
Weg räumen.
({5})
Deshalb meinen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
dass der Staat sich zurücknehmen sollte, wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht. Er soll den Rahmen
vorgeben, in dem sich Engagement frei entfalten kann.
Wir haben Vertrauen in die Kreativität und die Problemlösungsfähigkeit der Bürger.
Gerade die Tatsache - um auf Baden-Württemberg
zurückzukommen; denn das ist ein Beispiel für das, was
wir unter einem „ermöglichenden Staat“ verstehen -, dass
sich in Baden-Württemberg 40 Prozent aller Menschen
bürgerschaftlich engagieren - das sind 6 Prozent mehr als
der Bundesdurchschnitt -, zeigt doch, dass diese These
richtig ist.
({6})
Bezeichnend hierfür war auch die Tatsache, dass das
eigentlich nicht von uns berufene sachverständige Mitglied der Kommission in dieser Woche in einer Pressemitteilung hat verlauten lassen, dass immer dann, wenn
der Unterschied zwischen Staat und ehrenamtlich Aktiven verwischt wird, der Idee der Bürgergesellschaft eher
geschadet als genützt wird. Ich meine, dem ist nichts hinzuzufügen.
Ein Großteil meiner Arbeit in der Enquete-Kommission war den rechtlichen Rahmenbedingungen gewidmet.
Ich bin überzeugt, dass insbesondere die Ergebnisse in
diesem Bereich uns nachhaltig in Erinnerung bleiben werden. Mit dem Gutachten der Professoren Igl, Jachmann und
Eichenhofer ist es gelungen, den Ist-Zustand im Stiftungs-,
Steuer-, Vereins- und Gemeinnützigkeitsrecht umfassend
zu beschreiben. Auf dieser Basis konnten Handlungsempfehlungen für staatliche Maßnahmen erarbeitet werden.
Ich bedauere allerdings, dass die Kommission gerade bei
diesen Handlungsempfehlungen keine einheitlichen Standpunkte finden konnte und dass dadurch auch das Sondervotum der Union notwendig wurde. Ich hätte mir an dieser
Stelle manchmal etwas mehr Mut seitens der Regierungskoalition gewünscht.
Lassen Sie mich, um an diesem Nachmittag noch etwas
konkreter zu werden, einige Punkte benennen, die uns besonders wichtig waren und die nicht in den Bericht aufgenommen wurden.
Die nachhaltigste, effektivste Möglichkeit des Gesetzgebers, Bürgerengagement zu fördern - das hat meine
Kollegin Ilse Aigner schon angesprochen -, ist, eine
Ehrenamtsfreundlichkeitsprüfung bei der Gesetzgebung
einzuführen.
Das zweite wichtige Stichwort lautet Entbürokratisierung. Denn die bürgerschaftlich Engagierten klagen
immer wieder darüber, dass sie mehr Zeit für Formulare
und Anträge brauchen als für die eigentliche Arbeit. Da
muss sich der Staat noch mehr zurücknehmen.
Wir müssen alle staatlichen Vorgaben streng daraufhin
überprüfen, ob sie dem Geist der Subsidiarität dienen. In
den Bereichen Haftung und Versicherung sowie Stärkung
der wirtschaftlichen Kraft dagegen ist keine Zurücknahme, sondern gesetzgeberisches Handeln gefordert. Wir
müssen vor Haftungsrisiken schützen und die Wirtschaftskraft unserer Vereine stärken. Deshalb plädieren wir zum
Beispiel dafür, die Neuregelung der 325-Euro-Jobs und
der Scheinselbstständigkeit so vorzunehmen, dass unsere
Vereine und Verbände von den wirtschaftlichen und bürokratischen Benachteiligungen wieder befreit werden.
({7})
Wir empfehlen zum Beispiel auch, die Besteuerungsfreigrenze nicht nur auf 40 000, sondern auf 50 000 Euro heraufzusetzen. Damit ginge Entbürokratisierung einher.
({8})
Ich will nicht auf die weiteren Details dieser Maßnahmen eingehen. Nur ein uns wichtiger Punkt soll noch erwähnt werden: die so genannte Übungsleiterpauschale.
Wir meinen, der Bezugskreis sollte unbedingt auf ehrenamtlich tätige Mitglieder im geschäftsführenden Vorstand, zum Beispiel auch auf die Organisationsleiter und
die Kampfrichter, ausgeweitet werden.
({9})
Das ist notwendig, um Hilfestellung leisten zu können.
Es würde, wie gesagt, zu weit gehen, jetzt die einzelnen Punkte aufzuführen. Diese Handlungsempfehlungen
sind der Konsens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich
versichere Ihnen, dass wir uns engagiert dafür einsetzen
werden, dieses in der kommenden Legislaturperiode umzusetzen. Am besten geht das natürlich mit Regierungsverantwortung. Aber darüber wird erst später entschieden.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte ist schon viel Dank ausgesprochen worden,
aber noch nicht von allen. Deshalb will ich mich diesem
wirklich berechtigten Dank an alle anschließen.
Nun komme ich in der Kürze der Zeit zu drei Punkten,
die ich noch anmerken möchte.
Erst einmal vorweg: Die Kommission hat etwas sehr
Erfreuliches herausgefunden, nämlich dass die Bürgergesellschaft tatsächlich lebt und dass ausgerechnet in einer
Singlegesellschaft, der man die Fähigkeit zum sozialen
Miteinander so oft abspricht, viel neues und interessantes
Engagement entsteht. Das begrüßen wir alle.
Bei diesem positiven Ergebnis liegt es ein bisschen an
uns und manchmal auch an den Ländern, dass wir etwas
stärker in die Debatte über die Veränderungen der Bedingungen unseres Gemeinwesens einsteigen. Es liegt an uns
allen, Hindernisse zu beseitigen, um ein engagementfreundliches gesellschaftliches Klima zu schaffen.
({0})
Lassen Sie mich kurz auf drei Themen zu sprechen
kommen. Wir haben in dieser Legislaturperiode eigentlich
den zweiten Schritt, die Reform des Stiftungsrechts, zuerst
getan. Damit wollten wir auch an die vermögenderen Bürger appellieren: Tut erst einmal ihr etwas - je nach eurem
Vermögen - für das Gemeinwesen! - Das Freiwilligenengagement ist der Appell an den kleinen Mann oder die
kleine Frau, der oder die sagt: Ich habe zwar kein großes
Vermögen; aber ich habe meine Zeit, meine Kenntnisse
und meine Lebensfreude anzubieten und die will ich für
das Gemeinwesen einsetzen.
Dabei fehlt mir etwas - es freut mich, dass es in der Enquete-Kommission auch diese Forderung gegeben hat -:
Wenn man für Stiftungen und für das kleine Engagement
werben will, dann braucht man Transparenz bzw. sehr viel
Öffentlichkeit. Ich freue mich, dass wir in unserem Bericht in Bezug auf das Stiftungsrecht geschrieben haben,
dass wir ein Stiftungsregister wollen. Das heißt, wir wollen Transparenz in Bezug auf das, was in diesem Bereich
passiert, damit noch mehr für das Gute, das da geleistet
werden soll, geworben werden kann. Neben der großen
Vorgabe, die der Staat macht, nämlich dass er in diesem
Zusammenhang steuerliche Vorteile schafft, kann jeder
Bürger dadurch entlohnt werden, dass er sieht, für welchen guten Zweck das Geld eingesetzt wird.
({1})
Darum wünschte ich mir, dass bei diesen Debatten
auch die Bundesratsbank besetzt wäre.
({2})
Die Reform des Stiftungsregisters ist nämlich bis jetzt
im Bundesrat gescheitert. Vielleicht wird das ja in Zukunft anders.
Transparenz ist aber auch dann nötig, wenn man es den
Bürgern, die sich für ein Freiwilligenengagement neuen
Typs entscheiden, erleichtern will, dahin zu kommen, wo
sie hinwollen, und ihnen die Möglichkeit gibt, zu wählen
und zu entscheiden. Wir haben immer wieder festgestellt,
dass es hier folgendes Problem gibt: Wenn sich jemand
engagieren will, dann hat er bei den großen Organisationen häufig das Gefühl, man packe ihn lebenslänglich. Er
möchte sich aber vielleicht nur eine Zeit lang engagieren
und nach einer gewissen Zeit wieder ein bisschen Abstand
haben bzw. die Freiheit haben, ein anderes Engagement
einzugehen oder andere Dinge zu tun.
Gerade hier sind die Freiwilligenagenturen eine ganz
wichtige Innovation, die diesem Bedürfnis entgegenkommt. Das heißt, dass demjenigen, der sich engagieren
möchte, erst einmal ein Angebot gemacht wird und ihm
eine Garantie gegeben wird, dass vorher geprüft wurde,
zu welchen Bedingungen er arbeiten wird. Ihm wird so die
Möglichkeit eingeräumt, zu sagen: Ich mache das eine
Zeit lang. Ich habe euch als Berater und kann mir später
etwas anderes suchen.
Diese Freiwilligenagenturen, die mit großem Engagement arbeiten, sind bisher noch nicht genug gefördert
worden. In der nächsten Legislaturperiode möchte ich
weiter darum werben, dass wir uns dieser innovativen Institution annehmen und eine entsprechende Grundversorgung schaffen, damit diese Institution arbeiten kann. Wir
sollten in diesem Zusammenhang über die Idee, pro Bürger 1 Euro für das Freiwilligenengagement zu zahlen,
nachdenken und diese nach Möglichkeit auch unterstützen.
({3})
Noch dringlicher und nach Ansicht der Kommission
auch kurzfristig umsetzbar ist die Erleichterung des Zugangs zum Gemeinnützigkeitsstatus für Freiwilligenagenturen und Selbsthilfegruppen. Es besteht das große
Problem, dass wir aus steuerrechtlichen und finanztechnischen Gründen keine Möglichkeit haben, ihnen diesen
Zugang zum Gemeinnützigkeitsstatus zu erleichtern. Eine
solche Erleichterung brauchen sie und darüber sollten wir
nachdenken.
Meine erste Anmerkung betraf das Stiftungsrecht und
der zweite Punkt die Themen aus der Enquete-Kommission, die wir noch umsetzen müssen. Vor uns allen liegt
aber eine gewaltige dritte Aufgabe, nämlich das Gemeinnützigkeitsrecht insgesamt neu zu definieren. Viel zu häufig haben wir Gemeinnützigkeit so formuliert, wie es im
19. Jahrhundert verstanden worden ist. Vieles von dem
würden wir heute als Freizeittätigkeit bezeichnen, die nicht
unbedingt diesen starken gemeinnützigen Charakter hat.
Um darüber umfassend diskutieren zu können, müsste
eine neue Enquete-Kommission eingerichtet werden.
({4})
Ich möchte hiermit alle Kolleginnen und Kollegen, die
mit für diese dritte große Stufe streiten wollen, auffordern,
dafür zu kämpfen, dass in der nächsten Legislaturperiode
eine neue Enquete-Kommission gebildet wird, die sich
die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts - das ist übrigens das Allerschwerste - vornimmt. Wie die Dinge nun
einmal sind, muss man dies zu Beginn der nächsten Legislaturperiode machen; denn so dicht vor den Wahlen
wäre das für jede Konstellation zu schwierig. Das wissen
alle, die sich in dieser Sache auskennen.
Danke schön.
({5})
Nun hat das Wort die
Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich mich ganz
herzlich bei allen bedanken, die in der Enquete-Kommission mitgearbeitet haben, und auch bei den vielen beteiligten Initiativen.
Worum geht es heute? Es geht um die Bürgergesellschaft und deren Zukunft. Es geht um die Chancen der
Menschen, ihre Fähigkeiten und Talente in unsere Gesellschaft einzubringen. Kurz: Es geht darum, sich einzumischen.
Die Sondervoten spiegeln die unterschiedlichen Auffassungen der Fraktionen über die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements und über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat wider. Offensichtlich wurde das
in der immer wiederkehrenden Diskussion um den Begriff
„aktivierender Staat“.
Wir von der CDU/CSU wollen keinen Staat, der von
oben nach unten denkt.
({0})
Wir wollen eine aktive Bürgergesellschaft, die sich von
unten nach oben engagiert.
({1})
Wir wollen unser Gemeinwesen weiterentwickeln, das
vom Grundsatz her auf die Kräfte der freiwilligen Zusammenschlüsse, der Vereine und Verbände setzt. Vertrauen in die Kräfte der Bürger zu haben bedeutet, diesen
mehr Entfaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu
überlassen und deren kreative Herangehensweise zu stärken. Diese Sichtweise von Staat und Bürgergesellschaft
entspricht unserem Werteverständnis.
Ich nenne als Beispiel die Familie. Die Familie ist
Lernraum für bürgerschaftliches Engagement. Wie Kinder und junge Menschen ihre soziale Umwelt wahrnehmen, ob sie sich mit politischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen auseinander setzen, ob sie sich mit ihrer
Region und ihrem Land identifizieren und sich von Problemen auch persönlich herausgefordert fühlen, wird in
der Familie gelernt. Übt ein Familienmitglied ein Ehrenamt aus, so wachsen Kinder bereits durch das gelebte Vorbild in bürgerschaftliches Engagement hinein.
({2})
Die Schauspielerin Ida Ehre hat einmal gesagt, Kinder
könne man nicht erziehen, die machten sowieso alles
nach. - Es stellt einen wesentlichen Mangel des Abschlussberichtes dar, dies nicht ausreichend zum Ausdruck zu
bringen.
Auch die Bedeutung, die Unternehmen und Unternehmer für das Engagement spielen, kommt im Abschlussbericht der Enquete-Kommission zu kurz. Bürgerschaftlich
Engagierte verfolgen ihre Ziele nämlich nicht nur in Vereinen, Verbänden, Umwelt- und Nachbarschaftsinitiativen
oder anderen Netzwerken. Sie erreichen ihre Ziele auch
durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen, zum Beispiel durch Sponsoring.
({3})
Unternehmer engagieren sich aber auch in Kammern
und Bildungseinrichtungen, in der Arbeitsverwaltung und
im Gesundheitswesen ehrenamtlich. Gerade weil die Mehrzahl der Betriebe in Deutschland klein und mittelständisch
strukturiert ist, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen Handwerker und Kleinunternehmer entlasten, anstatt
sie mit zusätzlichen bürokratischen Arbeiten zu belasten.
Diese Unternehmer sind es nämlich, die sich engagieren,
indem sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in Sportvereinen und Schulen, in Kirchengemeinden und Umweltgruppen oder in sozialen Initiativen einbringen. Lassen
Sie mich als Mittelständler sagen: Ich kenne keinen Mittelständler, der sich nicht engagiert.
({4})
Damit stellt das bürgerschaftliche Engagement gerade
von Unternehmen und Unternehmern einen wichtigen und
oft unterschätzten Standortfaktor in einer Region dar - die
Bürgermeister wissen davon zu berichten -, den es zu erhalten, zu fördern und zu würdigen gilt. Unternehmerisches Engagement oder Corporate Citizenship sind Kooperationsformen, die im Sozial- und Bildungswesen, im
Kulturbetrieb und im Gesundheitssektor des 21. Jahrhunderts unverzichtbar sind. Dies sind einige der Gründe, die
uns von der CDU/CSU-Fraktion bewogen haben, einen eigenen Bericht vorzulegen, der unserer unterschiedlichen
Auffassung und Schwerpunktsetzung Rechnung trägt.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns heute an
der Grenze staatlicher Leistungs- und Steuerungsfähigkeit. Bürokratische Überregulierungen lähmen immer
mehr die Aktivitäten des Bürgers. Die wachsende Anspruchshaltung der Bürger einerseits und der immer stärker zentralisierende und bürokratische Betreuungsstaat
andererseits haben Werte wie Eigeninitiative, Mitverantwortung und Gemeinsinn verdrängt. Diese Werte müssen
wieder belebt werden.
Die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements wird
entscheidend von der Lösung der folgenden Fragen abhängen: Wie viel Verantwortung ist der Bürger bereit und
in der Lage zu übernehmen? Welche Gestaltungsräume
kann der Staat den Bürgern öffnen oder neu eröffnen? Was
können die Bürger auf Dauer in Eigenverantwortung
übernehmen? Wie können sich kooperative und unterstützende Netzwerke der Gesellschaft bilden und welcher
Ordnungsrahmen kann dies gewährleisten? Welche Aufgaben soll der Staat wahrnehmen?
Die Antworten auf diese Fragen sind unterschiedlich
ausgefallen, je nachdem, von welchem Menschenbild
wir ausgegangen sind. Gehen wir vom unmündigen Bürger aus, so muss ihm von oben gesagt werden, was gut für
ihn ist, da er das nicht selbst entscheiden kann. Gehen wir
aber vom mündigen Bürger aus, so weiß dieser Bürger
selbst, was gut für ihn ist. Der mündige Bürger ist Teil unserer christlich geprägten Kultur.
Wir gehen von einem Menschenbild aus, dessen Prinzipien Subsidiarität und Solidarität sind. Subsidarität
geht davon aus, dass jeder Bürger oder jede Einheit der
Gesellschaft die Chance und die Pflicht hat, seinen bzw.
ihren Beitrag zur Selbsthilfe zu leisten. Erst wenn die
Eigeninitiative nicht möglich ist oder deren Mittel erschöpft sind, kommt die Solidarität zum Tragen.
({5})
Ein solches Gesellschaftsverständnis trägt dazu bei,
dass jeder Einzelne für die Gesellschaft wichtig ist und
aktiv an deren Gestaltung mitwirkt. Das meinte unser erster
„Die
Demokratie lebt vom Ehrenamt.“ Da die Kollegen der
SPD aber von einem bevormundenden Staat ausgehen,
({0})
die Rolle von Familie und Unternehmen vernachlässigen,
dafür aber die Rolle von Gewerkschaften besonders hervorheben,
({1})
besteht folglich Uneinigkeit darüber, wie die Ergebnisse
der Enquete-Kommission umgesetzt werden sollen.
Während die Damen und Herren der SPD es vorziehen,
eine Kommission zu beauftragen, die sich darum kümmern
soll, die erarbeiteten Vorschläge des Abschlussberichtes
umzusetzen, schlagen wir von der CDU/CSU-Fraktion vor,
jedes einzelne Gesetz, bevor es in Kraft tritt, daraufhin zu
überprüfen, ob es das Engagement fördert oder behindert.
({2})
Das ist unser Vorschlag zu weniger Bürokratie, schlankem
Staat und Kosteneffizienz.
({3})
Nun hat die Kollegin
Karin Kortmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe anwesenden
Engagementswilligen und -unterstützenden! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Enquete-Kommission!
Nachdem ich hier so manche Trauerrede, auch Ihre, Frau
Dött, gehört habe, frage ich mich: Haben zwei Jahre Fortbildung für Sie nicht gereicht, um endlich zu verstehen,
auf was es uns beim bürgerschaftlichen Engagement ankommt? Es geht nicht darum, an einzelnen Stellschrauben
zu drehen oder Ehrenamtstauglichkeitsprüfungen durchzuführen, sondern es geht um ein gesamtgesellschaftliches Konzept, das Sie scheinbar immer noch nicht verstanden haben.
({0})
Zu Beginn unserer Arbeit in der Enquete-Kommission
haben wir gefragt, von welcher Grundlage wir auszugehen haben und was von uns vorangebracht werden soll.
Die Mitglieder der SPD-Fraktion haben zwei Fragen gestellt, die für uns von grundsätzlicher Bedeutung waren.
Die erste Frage lautete: Was hält diese Gesellschaft zusammen, wie können Staat, Markt und Zivilgesellschaft
zu einer neuen verlässlichen Verantwortungsteilung
kommen und mit ihren spezifischen Aufträgen und aus
ihrem jeweiligen Selbstverständnis heraus zu mehr Gemeinwohlorientierung beitragen? Seinerzeit hat uns der
Typus des bzw. der Freiwilligen etwas überrascht: Nach
allen Untersuchungen ist er bzw. sie erwerbstätig und hat
damit ein materielles Einkommen, ist kein Pendler und
keine Pendlerin, hat einen festen Wohnort und ist sozial
integriert. Aus dieser Definition fallen viele Menschen heraus, die wir gerne an diesem bürgerschaftlichen Engagement beteiligt sähen und denen wir mit den Rahmenbedingungen Möglichkeiten für eine Beteiligung schaffen.
Die zweite zentrale Frage wurde in den Zeiten, als Sie
an der Regierung waren, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen: Seit 1989/90 hat sich die Bundesrepublik
Deutschland verändert. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hat uns im Hinblick auf die Frage des Engagements in den alten und in den neuen Bundesländern vor
neue Herausforderungen gestellt. Was ist denn aus der
staatlich verordneten Solidarität der DDR geworden? Was
ist aus der privaten, unabdingbar notwendigen Nachbarschaftshilfe in der DDR geworden? Was hat sich aus den
demokratischen Bürgerinnen- und Bürgerbewegungen
der 80er-Jahre entwickelt und wo sind sie in der heutigen
Gesellschaft zu Hause? Für uns ist bürgerschaftliches Engagement, also die Strukturierung und Unterstützung der
Zivilgesellschaft, ein Prozess gesellschaftlicher Verantwortung, der Integrationslotsen und -lotsinnen braucht,
damit wir zu mehr Gemeinwohlorientierung kommen.
Von der Union ist bis heute kein wesentlicher Beitrag
geleistet worden, wie wir bei der Gestaltung von Zuwanderung und Einwanderung dazu kommen wollen, dass
sich Menschen, die in unsere Republik ziehen, integriert
fühlen. Für uns ist das bürgerschaftliche Engagement hier
eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen. Uns geht es
darum, was sich in den Vereinigungen von Menschen ausländischer Herkunft tut und welchen Beitrag sie leisten
können, damit sich die Menschen hier zu Hause fühlen
und ihre Kultur und Sprache pflegen können, sodass es zu
einem gedeihlichen Miteinander kommt.
({1})
Ich kann es bald nicht mehr hören, wenn Sie bei uns
von einem Staatsverständnis ausgehen, das Sie nur im
Horoskop nachgelesen haben können, aber nicht beweisen können.
({2})
Sie glauben doch, dass wir einen regulierenden Staat
wollten. Ich zeige Ihnen anhand einiger Beispiele, was Sie
gemacht haben. Sie haben 1989/90 in den neuen Bundesländern sämtliche Jugendklubs geschlossen, weil Sie
glaubten, dass sie SED-gefärbt gewesen seien, und damit
den jungen Menschen wichtige Anlaufstellen genommen
und Integrationsmöglichkeiten verwehrt. Ihre Ministerin
Nolte hat dafür gesorgt, dass ohne bürgerschaftliche Beteiligung - noch nicht einmal das Bundesjugendkuratorium wurde dazu gehört - eine Stiftung „Bürger für Bürger“ gegründet wurde, deren Erfolgsaussichten bereits
nach einem Jahr so jämmerlich waren, dass wir froh waren, dem ein Ende bereiten zu können. In der letzten Woche haben Sie dafür gesorgt, dass mehr Bürgerbeteiligung
in Form von Volksentscheiden und Volksbefragungen auf
Bundesebene nicht möglich wird. Hier ist die Frage, wer
regulieren und wer etwas zulassen will.
({3})
Ich komme nun zu einigen Eckpunkten unseres
Reformkonzepts, das in der Enquete-Kommission mehrheitlich verabschiedet worden ist. Dazu haben wir - die
Sachverständigen Roland Roth, Thomas Olk sowie
Adalbert Evers und ich - heute in einer gemeinsamen
Pressekonferenz deutlich gemacht, wohin es gehen soll.
Dies zeigt, wie viele Gemeinsamkeiten es jenseits der parteipolitischen Mitgliedschaften von Bundestagsabgeordneten gibt. Wir haben erklärt, die Aufwertung bürgerschaftlichen Engagements in der öffentlichen Debatte sei
Ausdruck neuer Erwartungen an die Bürgerinnen und
Bürger als Mitgestalter eines lebendigen demokratischen
Gemeinwesens. Für die Zukunftsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft ist das bürgerschaftliche Engagement eine wesentliche Voraussetzung. Deshalb wollen wir
auch die Rahmenbedingungen für eine lebendige Zivilgesellschaft verfolgen. Zu dem, was wir als SPD wollen, ein
paar wichtige Punkte:
Erstens. Wir wollen allen Freiwilligen, egal in welcher
Vereinigung sie sich engagieren, Unfall- und Haftpflichtversicherungsschutz gewähren.
({4})
Versicherungsschutz darf nicht davon abhängen, ob die
Organisation, in der jemand mitarbeitet, materiell in der
Lage ist, diesen Schutz für ihre Freiwilligen zu gewähren.
Deswegen ist das für uns das Wichtigste, was der Staat allen garantieren muss.
({5})
Zweitens: Nachteilsausgleich. Es ist wunderbar, Sie,
Herr Barthle, über die Übungsleiterpauschale reden zu
hören.
({6})
Ich glaube, auch hier noch sagen zu müssen: Die Übungsleiterpauschale wurde unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt.
({7})
Er hat gesagt: Das, was der Sport in den Bereichen Gesundheitsprävention und Integration leistet, ist uns so
wichtig, dass für die freiwillig geleistete Mehrarbeit
100 DM pro Monat in der Übungsleiterkasse steuerfrei
bleiben. Der zweite sozialdemokratische
Dieser Gedanke ist weiter zu
verfolgen; das gefällt uns. Er hat die Übungsleiterpauschale auf 200 DM erhöht. Der dritte sozialdemokratische
Bundeskanzler, der auch nach dem 22. September weiterhin hier stehen wird,
({0})
hat gesagt: Dieser Gedanke ist uns weiterhin wichtig.
Deswegen haben wir die Übungsleiterpauschale auf
300 DM erhöht. Sie haben zu diesem gesamten Bereich
nicht eine müde Mark dazu gegeben und sollten sich
schämen, hier Forderungen zu stellen, die Sie gar nicht erfüllen können.
({1})
Drittens. Damit hier einmal klar wird, worüber wir
überhaupt reden: Auf der Zuschauertribüne sitzen hoch
verdiente Feuerwehrleute. Wie wir alle wissen, sind die
kommunalen Haushalte dermaßen eng, dass eine flächendeckende Einführung einer Berufsfeuerwehr gar nicht
möglich ist und wir auf Menschen angewiesen sind, die in
ihrer Freizeit helfen, schützen, bergen und löschen. Deswegen war es so wichtig, dass der Bundeskanzler beim
Feuerwehrtag in Augsburg das Versprechen gegeben hat:
Wir werden Regelungen schaffen.
({2})
- Sie müssen es hören, egal wie lange. - Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind für diese Menschen, die Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen bekommen, 300 DM sozialversicherungs- und steuerfrei.
({3})
Ein vierter Punkt. Die Frage ist: Was kann und was
muss der Staat tun? Es ist doch eine Schizophrenie sondergleichen, dass Sie es in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit
({4})
nicht geschafft haben, den sozialintegrativen Aspekt des
bürgerschaftlichen Engagements auch für Arbeit suchende
Menschen zu eröffnen.
({5})
Sie haben die Deckelungsregelung in der Sozialgesetzgebung beibehalten, nach der Arbeit suchende Menschen,
die Hilfe aus öffentlichen Kassen bekommen, sich nur
15 Stunden wöchentlich engagieren dürfen, weil sie sonst
dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen würden.
Welch eine Idiotie! Gerade dadurch würde dafür gesorgt,
dass sie weiterhin sozial integriert bleiben.
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen, damit klar ist, dass es sich nicht um Stellschrauben handelt:
Wir wollen zu einer Verstetigung des Engagements beitragen und haben dazu vier wichtige Punkte.
Vier Punkte sind zu
viel, Frau Kollegin. So viel Zeit haben Sie nicht mehr.
({0})
Nur zwei Sätze zur Verstetigung: Wir haben dazu beigetragen, dass die Mittel zum Internationalen Freiwilligenjahr im vergangenen Jahr beim
BMFSFJ ressortiert waren. Sie sind folgerichtig auch für
dieses Jahr und für die kommenden Jahre gesichert, damit
bürgerschaftliches Engagement eine finanzielle Grundlage hat.
Zweitens danke ich dem BMFSFJ, dass es als Ergebnis
des Internationalen Jahres der Freiwilligen das Bundesnetzwerk von Vereinen und Verbänden unterstützt und ihnen Möglichkeiten gibt, sich auch in der gemeinsamen Interessenvertretung zu vernetzen.
Drittens fordern wir in jeder Legislaturperiode einen
Engagementbericht und viertens - das können Sie uns
überhaupt nicht streitig und madig machen - wollen wir
ab der 15. Legislaturperiode hier im Bundestag eine
Kommission für bürgerschaftliches Engagement einrichten, weil wir nichts dem Zufall überlassen wollen. Wir
brauchen eine Struktur, die weiterhin das umsetzt, was wir
dem Bericht der Enquete-Kommission zugrunde gelegt
haben. Sie können sicher sein: Wir machen das gern ab
dem 23. September.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache und gehe davon aus, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, dass Sie den Bericht auf Drucksache 14/8900 zur
Kenntnis genommen haben.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis e sowie Zu-
satzpunkt 7 auf:
6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk
Fischer ({1}), Eduard Oswald, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine vorausschauende Wohnungs- und
Städtebaupolitik
- Drucksachen 14/6048, 14/9344 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Spanier
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({2}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Die Talfahrt der Wohneigentumsbildung und
politische Konzepte
- Drucksachen 14/7124, 14/8297 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt,
Eduard Oswald, Heinz Seiffert, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Bessere steuerliche Rahmenbedingungen für
den Wohnungsbau
- Drucksachen 14/6637, 14/9141 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Grasedieck
Elke Wülfing
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8993 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
- Drucksache 14/9347 -
Berichterstattung:
Abgeordner Hans-Michael Goldmann
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung - Initiative Architektur und Baukultur
- Drucksache 14/8966 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Spanier, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter
Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohlig, Albert Schmidt ({7}),
Helmut Wilhelm ({8}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Die nachhaltige Stadt- und Wohnungspolitik
weiter vorantreiben
- Drucksache 14/9355 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Fraktion der CDU/CSU hat zu ihrer Großen Anfrage einen Entschließungsantrag vorgelegt, über den wir
am Ende abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Kollege
Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem knappen, aber zutreffenden Satz: Die Bilanz unserer Städtebau- und Wohnungspolitik ist rundum positiv.
({0})
Die Opposition in diesen vier Jahren war schwach, zumindest konzeptionell. Ich meine damit niemanden persönlich und schon gar nicht Herrn Dr. Kansy, weil ich
weiß, dass er heute in diesem Haus zu unserem gemeinsamen politischen Feld seine „Abschiedsrede“ halten
wird.
({1})
Bevor Sie sprechen, möchte ich Ihnen doch noch einmal
in allem Ernst bescheinigen: Wir haben Sie in all den Jahren als einen erfahrenen, sachkundigen und fairen Kollegen kennen gelernt. Ich glaube, Ihr Ausscheiden aus dem
Parlament ist ein Verlust für unseren Ausschuss und für
unser politisches Feld.
({2})
Zunächst war unser wichtigstes politisches Ziel, den
Reformstau, der sich nach 16 Jahren Regierung Kohl ergeben hatte, aufzulösen. Wir haben die wichtigsten Aufgaben gelöst. Wir haben nach 26 Jahren endlich das Mietrecht reformiert.
({3})
Wir haben das Wohngeld nach 10 Jahren endlich angehoben, und wir haben nach langjährigen Diskussionen
endlich die Reform des sozialen Wohnungsbaus hin zur
sozialen Wohnraumförderung geschafft.
({4})
Aber das Wesentliche ist: Wir haben insgesamt Städtebauund Wohnungspolitik enger verzahnt und eine Neuorientierung der Städtebau- und Wohnungspolitik mit dem
Leitbild der Nachhaltigkeit eingeleitet, am deutlichsten
zu erkennen bei der Städtebauförderung - die Mittel dafür
haben wir übrigens in diesen vier Jahren verdoppelt - und
bei den beiden innovativen Programmen „Soziale Stadt“
und „Stadtumbau Ost“. Beide sind richtungweisend für
die Städtebau- und Wohnungspolitik auch der 15. Legislaturperiode.
({5})
Ich möchte auch auf eine Besonderheit des heutigen
Tages hinweisen. Zum ersten Mal diskutieren wir heute
über Baukultur. Der Präsident der Bundesarchitektenkammer hat wohl nicht nur mir geschrieben. Es ist in der
Tat ein historischer Schritt, dass wir hier heute den ersten
Bericht der Initiative Architektur und Baukultur diskutieren.
({6})
Ich glaube, dass wir auch dies zu den positiven Ergebnissen dieser Legislaturperiode zählen können. Meine Kollegin Gabriele Iwersen wird sicher gleich näher darauf
eingehen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich weiß - Sie, Herr Dr. Kansy, werden es sicher gleich
wiederholen -, dass Sie die Zusammenlegung der beiden
Ministerien immer kritisch begleitet haben.
({7})
Dennoch meine ich, dass sich diese Zusammenlegung
durchaus bewährt hat. Die Bilanz dessen, was wir in diesen vier Jahren tatsächlich geschafft haben, ist entscheidend. Ich glaube, dass sich diese Bilanz im Vergleich zu
den Bilanzen der vorherigen Legislaturperioden mehr als
sehen lassen kann.
({8})
Ich sage aus meiner ganz persönlichen Sicht, dass man
durchaus darüber nachdenken könnte und sollte, ob es
richtig war, die beiden Ausschüsse zusammenzulegen.
({9})
Darüber wird man sicherlich noch einmal reden können,
({10})
weil es selbstverständlich auch bei einem zusammengelegten Ministerium zwei neben- und miteinander arbeitende selbstständige Ausschüsse geben kann.
({11})
Aber, Herr Dr. Kansy, ich muss Ihnen heute doch einmal in aller Deutlichkeit sagen:
({12})
Auf der einen Seite müssen wir uns seit vier Jahren das
große Klagelied und die massive Kritik gegen die Zusammenlegung der beiden Ministerien anhören, während
auf der anderen Seite ein, wie ich finde, sehr aufschlussreicher Artikel in der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ vom
7. Juni 2002 veröffentlicht wurde. Dort heißt es:
Wenn die CDU die Bundestagswahl gewinnt,
- „gewönne“, also Konjunktiv II, Irrealis, müsste es eigentlich sein,
dann kommt es zu weit reichenden Veränderungen
im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen. Überlegungen der gegenwärtigen
Opposition gehen nämlich dahin, die erfolgte Zusammenlegung wieder aufzuheben.
Jetzt kommt es:
Die allgemeinen Bau- und Wohnungsbereiche sollen
in das Bundeswirtschaftsministerium verlagert, die
Wohnungsbauförderung einschließlich aller steuerlichen Regelungen beim Bundesfinanzministerium
angesiedelt werden.
({13})
Was bleibt dann von einem Bauministerium überhaupt
noch übrig?
({14})
Es ist so platzsparend, dass Sie es bald in einer Imbissbude unterbringen können. Ich bitte Sie, hierzu gleich
doch noch ein paar deutliche Worte zu sagen. Es steht unwidersprochen auf der ersten Seite der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ und ist so der Öffentlichkeit mitgeteilt
worden.
({15})
- Es kam, wie es heißt, aus Fraktionskreisen.
({16})
Sie können es klarstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
es gehört auch zum Ritual, dass Sie den Rückgang der
Fertigstellungszahlen beklagen. Sie übersehen dabei
schlicht und einfach, dass die Baugenehmigungen und
Fertigstellungen von der Nachfrage abhängen. Die Nachfrage ist nach Anfang der 90er-Jahre deutlich zurückgegangen. In weiten Teilen gibt es einen gesättigten Wohnungsmarkt und nur in einigen Ballungszentren gibt es
noch Wohnungsnachfrage. Dort ist die Zahl der Baugenehmigungen und Fertigstellungen dementsprechend
deutlich höher.
Wenn ich das letzte Jahr betrachte, stelle ich fest, dass
die Mieten, inklusive der Mietnebenkosten, um 1,4 Prozent gestiegen sind. Ich glaube, das ist ein sehr günstiger
Wert.
Ich möchte auf eine weitere Zahl eingehen, die in der
öffentlichen Debatte selten eine Rolle spielt. 1998 betrug
die Zahl der Wohnungslosen in unserem Land 680 000.
Sie ist auf deutlich unter 500 000 zurückgegangen. Ich
glaube, wir stimmen alle miteinander überein, dass das
eine sehr erfreuliche Entwicklung ist.
({17})
Die Durchführungsverordnung zu § 72 BSHG, für die
Sie, Herr Dr. Kansy - ich spreche Sie noch einmal ganz
persönlich an; Sie werden heute verabschiedet - und
natürlich auch andere, sich immer sehr stark eingesetzt
haben, mag dabei eine große Rolle gespielt haben.
({18})
Die Union schlägt natürlich wieder neue steuerliche
Subventionen vor. Das heißt, so neu sind sie gar nicht. Sie
kommen in Ihrem Antrag wieder mit dem Vorkostenabzug,
obwohl Sie damals in Ihrem Petersberger Programm - ich
hätte beinahe „Petersburger Schlittenfahrt“ gesagt - selbst
die Abschaffung dieses Vorkostenabzugs festgelegt haben. Sie kommen
({19})
mit der Abschaffung der Verlängerung der Spekulationsfrist und der Abschaffung der Absenkung der AfA, obwohl Sie 1996 selbst die Weichen dafür gestellt haben.
Auch bei der Eigenheimzulage wollen Sie natürlich Verbesserungen.
({20})
Insgesamt - ich habe es durchgerechnet - fordern Sie
schlicht und einfach 2 Milliarden DM jährlich zusätzlich,
ohne irgendeinen Hinweis zu geben, wie das finanziert
werden könnte.
({21})
Bestenfalls taucht irgendwann das schöne Wort „umschichten“ auf. Sie sagen immer nur, wohin Sie schichten,
Sie sagen aber nie, wo Sie es wegnehmen wollen. Hier
werden wir in den kommenden Monaten sicherlich kräftig nachhaken bzw. nachfragen.
({22})
Ihr Entschließungsantrag zeigt, dass Sie auf eines geradezu manisch fixiert sind, nämlich auf die Eigenheimzulage. Auch hierzu will ich Ihnen schlicht und einfach
die Zahlen nennen. 1998 haben wir in diesem Bereich insgesamt 7 Milliarden DM und im Jahre 2001 15,7 Milliarden DM ausgegeben.
({23})
Es ist richtig, zu sagen, dass die Eigenheimzulage allein
durch diese Verdopplung des finanziellen Volumens bei
uns einen sehr hohen Stellenwert hat. Eines noch als Anmerkung: 50 Prozent fließen in den Bestandserwerb und
50 Prozent in den Neubau.
({24})
Sie werfen uns in Ihrem Entschließungsantrag vor, wir
seien diejenigen, die die Bauwilligen verunsichern. Sie
setzen noch einen obendrauf. Sie werfen der Bauministerkonferenz vor, dass sie eine Wirkungsanalyse in Auftrag
gegeben hat, obwohl Ihre eigenen Länder, die B-Länder
- Bayern allen voran -, maßgeblich daran beteiligt waren,
diese Wirkungsanalyse auf den Weg zu bringen, die gegen
Ende dieses Jahres vorliegen wird. Herr Beckstein ist also
offensichtlich mitschuldig und muss dafür mithaften, dass
die Zahl der Eigenheime rückläufig ist.
({25})
Wollen Sie eigentlich nicht wissen, ob das Geld effektiv und bedarfsgerecht ausgegeben wird? Sie wollen hier
eine Denkblockade verhängen. Von daher ist dieser Vorwurf geradezu lächerlich. Einer Ihrer eigenen Leute, Herr
de Maizière, Minister der CDU, nicht der SPD, in Sachsen, hat auf einem Kongress des GdW an der Förderung
der Eigenheimzulage genau das Verhältnis von Bestand
und Neubau kritisiert.
({26})
Der geheime Eichkater der Wohnungs- und Städtebaupolitik, Herr Nooke, hat dazu ebenfalls seinen Senf abgegeben. Bleiben Sie also ganz ruhig. Ich glaube, Sie bauen
einen Popanz auf. Denkverbote wird es für uns nicht geben. Selbstverständlich sagen wir Ja zur Eigenheimzulage. Wir haben das Gesetz damals gemeinsam auf den
Weg gebracht. Aber es kann nicht sein, die Effektivität
dieses Instruments zu überprüfen, ohne dann möglicherweise Konsequenzen zu ziehen.
Ebenfalls einen Popanz wollen Sie beim Thema einer
höheren Erbschaft- und Grundsteuer aufbauen. Sie
wissen ganz genau, dass die Bewertungsregeln für Immobilien bis 2006 verlängert worden sind.
({27})
Sie selbst und Ihre Länder haben Vorschläge zur Reform
der Grundsteuer gemacht. Das finden wir richtig so, weil
die Reform der Grundsteuer in dem Programm der nächsten vier Jahre steht.
Eines muss man Ihnen offensichtlich immer wieder sagen: Die Initiative zur Veränderung - es muss etwas verändert werden - muss von den Ländern ausgehen. Auch
hier, Herr Dr. Kansy und liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, bitte keine Denkverbote! Ich glaube,
darüber werden wir in der kommenden Legislaturperiode
sehr sachlich und sehr vernünftig reden können.
({28})
Drei Ziele haben wir uns für die kommende Legislaturperiode gesteckt:
Erstens. Wir müssen die Neuorientierung in der Städtebau- und Wohnungspolitik konsequent weiterführen, Antworten auf die Stadtflucht suchen, die unsere Städte nach
wie vor bedroht, Lösungen für das Problem der Zersiedlung und für die ganz unterschiedlichen regionalen Entwicklungen finden. Vergleichen Sie nur Frankfurt an der
Oder mit Frankfurt am Main. Das können wir so nicht
weiter hinnehmen. Auch deswegen gehören alle Förderinstrumente auf den Prüfstand, um sie treffsicherer zu gestalten. Wir brauchen eine Antwort auf das Ausbluten der
Innenstädte. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die City21-Initiative unseres Ministeriums. Das ist der richtige
Ansatz; das ist der richtige Weg.
({29})
Zweitens. Wir brauchen eine Reform des Bauplanungsrechts.
({30})
Dabei sind sicherlich neue wichtige Aspekte hinzugekommen, die die Novellierung notwendig machen. In diesem
Zusammenhang sehe ich auch - das habe ich schon angesprochen - die dringend notwendige Reform der Grundsteuer.
Drittens. Wohnen zur Miete, Wohnen im Eigentum und
das genossenschaftliche Wohnen sind für uns gleichwertig.
({31})
Deshalb haben wir das Mietrecht novelliert und das
Wohngeld erhöht. Ich sage frank und frei: Es kann nicht
noch einmal zehn Jahre dauern, bis wir die nächste Wohngeldanhebung in diesem Hause beschließen. Dass wir mit
der letzten so lange gewartet haben, war, glaube ich, ein
schwerer Fehler und hat viele kleine Leute ganz entscheidend benachteiligt.
Die Eigentumsförderung bleibt selbstverständlich erhalten. Aber auch sie gehört - hier gibt es kein Denkverbot - auf den Prüfstand. Wenn die Wirkungsanalyse vorliegt, werden wir die Gestaltung dieses Instruments
gemeinsam mit den Bundesländern anpacken, gleich wie
die Mehrheitshältnisse im Bundesrat sind.
({32})
Ein Letztes, was mir persönlich ganz besonders am
Herzen liegt: Ich glaube, dass das genossenschaftliche
Wohnen keine Traditionsform ist. Nach meiner Einschätzung ist das genossenschaftliche Wohnen in ganz besonderer Weise zukunftsweisend.
({33})
Unter Berücksichtigung all dessen, was in der Diskussion
über die Zivilgesellschaft über das Wohnen gesagt worden ist, hat das genossenschaftliche Wohnen einen hohen
Stellenwert.
({34})
Deshalb werden wir - das ist das dritte Ziel - in der kommenden Legislaturperiode unter Einbeziehung dessen,
was in der entsprechenden Fachkommission vorbereitet
wird und was wir bereits auf Kongressen vorbereitet haben
- wir haben ja gemerkt, dass daran nicht nur bei den Wohnungsgenossenschaften ein großes Interesse besteht -, die
Grundlagen für eine Renaissance des genossenschaftlichen Wohnungswesens in unserem Land legen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zusammenarbeit. Natürlich gab es Differenzen und sind scharfe Worte
gefallen. Das gehört selbstverständlich dazu. Schließlich
müssen nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die
Unterschiede klar werden. Ich glaube, dafür werden auch
die nachfolgenden Redner sorgen.
Herzlichen Dank.
({35})
Nun hat das Wort der
Kollege Dr. Dietmar Kansy für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zuerst vielen Dank, Herr Spanier. Die persönliche Zusammenarbeit im Ausschuss war über viele
Jahre hinweg hervorragend. Ich teile Ihre Bewertung dieser Zusammenarbeit. Es wird Sie aber sicherlich nicht
wundern, dass ich der Bilanz, die Sie hinsichtlich der
Wohnungspolitik, die Sie in dieser Legislaturperiode gemacht haben, gezogen haben, nicht zustimmen kann. Ich
sehe das völlig anders.
Ich gehe in das Jahr 1998 zurück und frage: Wie stellte
sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt damals, als Sie
die Regierung übernommen haben, eigentlich dar? Damit
wir nicht in Wahlkampfatmosphäre Verdächtigungen aussprechen, möchte ich einfach die Zahlen und die Sachverständigen sprechen lassen, die am 24. April in der großen
Anhörung unseres Ausschusses ihre fachliche Bewertung
- wohlgemerkt nicht die Bewertung Ihrer Politik, verehrter Herr Kollege Maaß - vorgetragen haben.
Zuerst die Zahlen: 1998 wurden in Deutschland
432 000 Wohnungen gebaut und 408 000 Baugenehmigungen erteilt. Heute erwarten alle Fachleute, dass im
Jahr 2002 insgesamt 250 000 Wohnungen gebaut werden
und dass die Zahl der Baugenehmigungen bei 230 000 liegen wird. Frau Kollegin, das ist weit unter der unbestrittenen Ersatzbaurate. Ich bin nicht auf die Superzahlen aus
den 90er-Jahren fixiert, als - zu Recht - über 600 000
Wohnungen gebaut wurden.
({0})
Die gleiche Entwicklung zeichnet sich auch im Bereich
des Eigenheimbaus ab. 1998 wurden 221 000 Eigenheime gebaut, während es dieses Jahr höchstens 170 000
sein werden. Bei dieser Gelegenheit darf man wohl auch
sagen - der Kollege Wiesehügel ist ja schließlich nicht nur
ein wortgewaltiger Gewerkschafter, sondern auch Abgeordneter -, dass in den letzten vier Jahren 200 000 Jobs auf
dem Bau durch Ihre Politik verloren gegangen sind.
({1})
- Nein, es ist völlig richtig: Ich teile die Auffassung von
Herrn Spanier insoweit, dass Arbeitsplätze allein kein
Grund dafür sein können, um Geld zu investieren und
Wohnungen zu bauen.
({2})
- Frau Eichstädt-Bohlig, Sie brauchen gar nicht „Aha“ zu
sagen. Ihre Argumente kennen wir ja: Über 1 Million
Wohnungen stehen in Deutschland leer;
({3})
die Bevölkerung geht zurück.
({4})
Es ist wahr: In diesem Land stehen mehr als 1 Million
Wohnungen leer. In diesem Zusammenhang stellt sich für
diesen hoch verschuldeten Staat eine Frage. Das reicht
jetzt weit über unsere heutige Debatte hinaus, Herr Minister, wobei ich hoffe, dass Sie nicht mehr so lange Minister sind. Für die nächste Legislaturperiode müssen wir uns
fragen: Müssen wir 57 Jahre nach Kriegsende und Vertreibung und zwölf Jahre nach der deutschen Einheit noch
diese Milliardensummen in den Wohnungsbau stecken
und, wenn ja, muss der Bund das tun?
Es ist schon angesprochen worden, dass dies wahrscheinlich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag ist,
zumindest als Abgeordneter. Ich habe fast 22 Jahre dem
Ausschuss für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
bzw. dem heutigen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen angehört. Das erste Resümee, das ich heute,
insbesondere auch in Anbetracht der Sachverständigenanhörung, ziehen möchte, ist: Es ist dringender denn je, für
die Wohnungs- und zwischenzeitlich auch für die Städtebaupolitik eine längerfristige Marktbeobachtung und Gesellschaftsbeobachtung durchzuführen und vor allem eine
Verstetigung hineinzubringen, statt eine Politik des
Schweinezyklus zu betreiben, wie das in den letzten vier
Jahren passiert ist.
({5})
Sie beschwören die Tatsache, dass mehr als 1 Million
Wohnungen leer stehen.
({6})
Wenn in Frankfurt/Oder Wohnungen leer stehen, dann
nutzt das denen, die in Frankfurt am Main eine Wohnung
suchen, nichts. Das ist das Problem.
({7})
- Wenn die Einwohnerzahl zurückgeht, dann - dieser
Zwischenruf ist richtig - geht noch längst nicht die Zahl
der Haushalte in diesem Land zurück. Wir werden in
ganzen Regionen Deutschlands noch dekadenlang einen
Anstieg der Zahl der Haushalte zu verzeichnen haben.
Deswegen ist das Motto „Ruhige Hand im Wohnungsbau“
falsch.
({8})
In den neuen Bundesländern - auch das ist angesprochen
worden - gibt es einen dramatischen Wohnungsleerstand,
aus unterschiedlichen Gründen; die interpretiert jeder natürlich nach seiner Façon. Viele Wohnungsunternehmen sind
zwischenzeitlich am Rande der Existenzgefährdung. Es
wird auch städtebauliche Auswirkungen haben, wenn wir
so weitermachen; da teile ich Ihre Bewertung, Herr Kollege Spanier. Wir sind hier - wir gemeinsam, Bund, Länder, Union, SPD und die anderen Parteien - auf dem richtigen Weg. Aber gehen Sie einmal in die neuen Länder!
Wir tun das ja: Wir ziehen von Kongress zu Kongress. Da
sind noch viele Probleme zu lösen. Wenn sie nicht gelöst
werden, wird einiges schiefgehen.
Ich nenne zum Beispiel die Grunderwerbsteuer. Ich
weiß: Das ist Länderzuständigkeit, aber es bedarf der Zustimmung des Bundes. Die Grunderwerbsteuer behindert
oft die dringend notwendige Fusion von Unternehmen.
Ungelöst!
({9})
Der Altschuldenerlass müsste eigentlich für alle Wohnungen gelten, die leer stehen; denn sonst kriegen viele
Unternehmen die Kurve nicht.
Das KfW-Programm, Herr Minister, läuft nicht so, wie
wir alle uns das vorgestellt haben.
In den einzelnen Ländern gibt es sagenhafte Miet- und
Belegungsbindungen, die eine vernünftige Reformpolitik
in diesen Städten unmöglich machen.
({10})
Die Möglichkeit der Verwertungskündigung bei Beständen mit nur noch wenigen Mietern, die verhindern, dass
da eine städtebauliche Bereinigung stattfindet, hätten wir
im Mietrecht verankern müssen. Da haben Sie sich verweigert.
Kurzum: Die Probleme - das muss einfach einmal festgestellt werden - entwickeln sich trotz dieses Programms
zurzeit schneller, als die Lösungen greifen.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von beiden Regierungsparteien: Welche Bilanz müssen wir nach
Ihren vier Jahren denn nun tatsächlich ziehen? - Nicht die
geschönte Bilanz vom liebenswerten Kollegen Spanier!
({11})
- Moment! - Jetzt kommt die Bilanz des auch liebenswerten Kollegen Dietmar Kansy:
Wohngeldnovelle - okay. Warum okay? - Weil wir
den von Ihnen im Bundestag gefassten Beschluss, durch
den die Länder und Gemeinden mit 2,5 Milliarden zur
Kasse gebeten worden wären, im Bundesrat zunichte gemacht haben.
({12})
- Natürlich! Das war der Gesetzentwurf! Das war ein weiterer Anschlag auf die Kommunen, die wegen der Belastungen durch den Bund ohnehin nicht vor und zurück wissen.
({13})
- Eigentlich, Herr Staatssekretär, ist die Häufung der Zwischenrufe von der Regierungsbank ungewöhnlich.
({14})
- Nein, sie ist eigentlich ungewöhnlich. Aber es sei Ihnen
konzediert. Wir haben schließlich viele Jahre zusammengearbeitet.
Das Programm „Die soziale Stadt“ - dort sitzt der
letzte Bauminister; er sollte mir zuhören, wenn ich ihn anspreche, aber er hört nicht zu - ist nämlich schon unter der
alten Bundesregierung in der ARGEBAU angestoßen und
umgesetzt worden. Wir unterstützen das Programm voll.
Es ist auch jahrelang vorbereitet worden. Das ist völlig
richtig; ich sage auch nichts dagegen. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion haben auch immer die Reform des
sozialen Wohnungsbaus begrüßt. Wir hatten aber in Teilbereichen eine andere Meinung und haben Ihnen schon
damals gesagt: Wer so viele Hoffnungen in diese Gesetzgebung setzt, muss wenigstens andeutungsweise eine entsprechende Dotierung vorsehen. Die von Ihnen vorgenommene Dotierung aber ist eine Luftnummer.
({15})
Deswegen komme ich nun tatsächlich - wie Sie es schon
vorhergesehen haben - auf das Thema eines selbstständigen Bauministeriums sowie auf die Folgen zu sprechen,
die sich daraus ergeben, dass es ein solches Ministerium
nicht mehr gibt.
Erst kam es zur Abschaffung des Ministeriums, dann
zur Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungen im Wohnungsbau. Dann folgten die Reform des Mietrechts zulasten der Investitionen im Wohnungsbau, die
mehrmalige Verschlechterung der Eigenheimzulage,
({16})
eine radikale Kürzung der Mittel im sozialen Wohnungsbau auf ein Drittel des Ansatzes und die verunsichernde
Diskussion über die Vermögen- und Erbschaftsteuer, die
die Bürgerinnen und Bürger davon abgehalten hat, noch
in den Wohnungsbau zu investieren, und die De-factoAusklammerung der Wohnung in der Riester-Rente, die
der Minister als sehr gute Lösung bezeichnet hat. Und Sie
wundern sich, warum nur noch halb so viele Wohnungen
gebaut werden wie in unserer Regierungszeit! - Wir wundern uns nicht, meine Damen und Herren.
({17})
Übrigens ist der Wohnungsmarkt 1987 das letzte Mal
so stark eingebrochen, Herr Bauminister. Bedauerlicherweise musste der damalige Bauminister kurzfristig gehen
und es wurde eine neue Ministerin ernannt. Mehr möchte
ich dazu nicht sagen.
({18})
Wenn bei den öffentlichen Finanzen - ich gehe dabei
nicht von Eichels Zusagen gegenüber Brüssel aus, sonst
könnten wir unsere Arbeit im Bundestag gleich einstellen - in Zukunft der Gürtel noch enger geschnallt werden
muss, ist es zulässig - ich unterstreiche alle Zwischenrufe
in dieser Richtung -, über die staatliche Dotierung des
Wohnungs- und Städtebaus zu diskutieren. Wenn wir aber
nicht über zusätzliche Mittel verfügen, brauchen wir dringender denn je eine steuernde Hand. Dann brauchen wir
eine Wohnungspolitik des Bundes, die alles mit einbezieht,
was ohne zusätzliche staatliche Mittel getan werden kann,
damit in diesem Land wieder Wohnungen gebaut werden.
({19})
Das zweite Ergebnis der Anhörung war: Die unmissverständliche vorherrschende Meinung der Experten war,
dass es ein großer Fehler war, die beim Bund liegenden
Kompetenzen - solange es diese Kompetenzen gibt; er hat
sie schließlich nicht abgegeben - nicht in einem selbstständigen Ministerium zu bündeln.
Hinter dem Begriff „gut informierte Kreise“ kann sich
alles verbergen, Herr Kollege Spanier. Die CDU/CSUBundestagsfraktion und insbesondere Dietmar Kansy vertreten die Meinung: Solange es hinsichtlich der Aufgabenteilung in Deutschland keine Bereinigung gibt,
brauchen wir auf Bundesebene ein Bauministerium.
({20})
Aber die steuernde Hand, von der ich sprach, gibt es nicht
mehr.
Herr Spanier, Sie haben zu Recht gesagt - ich habe Ihnen auch Beifall geklatscht; hoffentlich ist das im Protokoll vermerkt -, dass wir uns als Parlament fragen müssen, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben, dass wir,
wenn wir schon nicht die Abschaffung des Ministeriums
verhindern konnten - das sage ich aus der Sicht der Opposition -, nicht zumindest den Wohnungs- und Städtebauausschuss behalten haben. Wir sollten uns, wer auch
immer die nächste Regierung bildet, vornehmen, zu versuchen, wenigstens diesen Ausschuss wieder einzurichten. Ich meine, wenn wir das gemeinsam machen, kommen wir schon ein Stück weiter.
Steuergesetze werden nun einmal im Finanzministerium und im Finanzausschuss entworfen. Sie betreffen
den Wohnungsbau elementar. Das Mietrecht entsteht im
Justizministerium und im Rechtsausschuss. Das betrifft
uns unmittelbar. Die Riester-Rente und die Frage der Einbeziehung des Wohnens wird im Arbeitsministerium und
im Arbeitsausschuss behandelt. Auch das betrifft uns unmittelbar. An der Eigenheimzulage wird im Finanzministerium und im Finanzausschuss gearbeitet. Die Kette
könnte fortgesetzt werden: Wohngeld wieder bei uns,
HOAI im Wirtschaftsministerium.
Wenn es, Frau Eichstädt-Bohlig, keine ordnende Hand
gibt
({21})
und wenn es keinen Bauminister gibt - wir hatten ja schon
drei in dieser Legislaturperiode, die sich zwar so nannten,
aber selbst in der Öffentlichkeit nur noch als Verkehrsminister bezeichnet wurden; das wundert keinen, der Ihre
Baupolitik kennt -,
({22})
der diese Sachen zusammenführt und notfalls einmal mit
der Faust auf den Kabinettstisch haut, damit selbst dann,
wenn kein Geld da ist, eine vernünftige Wohnungs- und
Städtebaupolitik gemacht wird, können wir uns als Bund
von dieser Aufgabe verabschieden.
({23})
Zur Bildung von Wohneigentum will ich nichts sagen,
weil dazu der Kollege Dr. Meister einiges für unsere Fraktion sagen wird. Unsere Aussagen für die Zukunft wird
gleich der Kollege Oswald tätigen. Eines sage ich Ihnen
aber noch, Frau Eichstädt-Bohlig - der Frosch, den ich
jetzt im Hals habe, ist kein grüner Frosch -: Ihnen wird es
nicht gelingen - ich freue mich, dass fast alle Wohnungsund Bauverbände, die kirchlichen Siedlungswerke und
der Familienbund Seite an Seite mit der CDU/CSU stehen -, mit allen möglichen Tricks und Vorbehalten die
Taktik durchzuhalten, die Frage der Eigentumsbildung
insbesondere durch Neubau vor der Wahl aus der Diskussion zu lassen. Den Zahn der Hoffnung, da nach dem
Wahltag abkassieren zu können, will ich Ihnen auf zweifache Weise ziehen: Erstens werden Sie die Öffentlichkeit
in dieser Frage nicht vereinnahmen können und zweitens
werden Sie nach der Wahl keine Gestaltungsmöglichkeit
mehr haben.
({24})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU unterstützt
die „Initiative Architektur und Baukultur“ in Deutschland. Das erste Jahr, Herr Minister, war ermutigend. Es
kann aber bestenfalls der Anfang sein. Wenn man unter
Baukultur mehr versteht als die Herstellung von bebauter
Umwelt, also beispielsweise auch den Umgang mit dieser
Umwelt, dann darf es hier nicht nur um Planen und Bauen
gehen, sondern beispielsweise auch um Qualitätssicherung und Instandhaltung. Das beschränkt sich dann nicht
nur auf Architektur, sondern muss alle Ingenieurbereiche
umfassen: also auch die Stadt- und Regionalplanung. Sie
haben hier keineswegs schon den Durchbruch geschafft.
Zum Abschluss möchte ich als Vorsitzender der Baukommission, der ich im Parlament auch viele Jahre gewesen bin, an folgende Sache erinnern: Man muss sich einmal vorstellen, dass der Bundesrechnungshof kritisiert
hat, Frau Kollegin Iwersen, dass wir für den Umbau des
Reichstagsgebäudes einen Wettbewerb ausgeschrieben
haben. Das ist eine Anmaßung der dortigen Damen und
Herren.
({25})
Der frühere Kollege Peter Conradi hat zu Recht von
Rechnungshofarchitektur gesprochen; das ist auf jeden
Fall alles andere als Baukultur, wenn wir in diesem Lande
nach diesen Maßstäben verfahren. Ebenso wenig ist es ein
Weg zu mehr Baukultur, wenn ein junger Stadtbaurat, der
den Mut hat, ein Angebot eines Unternehmers, der unter
drittem Namen nach zwei Pleiten wieder mit einem neuen
Angebot auftaucht, das auf dem Papier in Ordnung ist, abzulehnen, weil so nichts Nachhaltiges geschaffen werden
kann, dafür vom Bund der Steuerzahler in die Pfanne gehauen wird. So praktisch stellt sich die Frage Baukultur in
dieser Gesellschaft dar.
Diese Punkte werden Sie im Ausschuss mit Ausnahme
von uns wenigen, die ausscheiden, in der nächsten Legislaturperiode gestalten können. Ich wünsche Ihnen viel
Glück dabei.
Danke schön.
({26})
Herr Kollege Kansy,
ich spreche Ihnen im Namen des ganzen Hauses unseren
Dank für Ihr Engagement aus und wünsche Ihnen alles
Gute für den neuen Lebensabschnitt. Herzlichen Dank!
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Franziska EichstädtBohlig für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ganz besonders spreche ich Sie, liebe Kollegin
Gabriele Iwersen und lieber Kollege Kansy, an. Ich finde
es schon ein wenig schade, dass Sie ausscheiden. Wenn
man einmal von den Hahnenkämpfen hier im Plenum absieht, sind die Gemeinsamkeiten in der Baupolitik eigentlich sehr groß.
Allerdings hatte ich eben das Gefühl, dass Sie mehr
eine Bewerbungsrede gehalten haben, um in Stoibers
Schattenriege aufgenommen zu werden, als ernst zu nehmende Kritik an der Baupolitik von Rot-Grün geübt haben.
({0})
Die Fachleute müssen prüfen, ob das wirklich sinnvoll ist
oder ob die Baupolitik nicht doch lieber in rot-grünen
Händen bleiben sollte. Ich glaube, Sie haben mit Ihrer
Rede fast dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit von Letzterem eigentlich sehr viel eher überzeugt wird.
({1})
Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben: Sie
sind neidisch, dass wir es geschafft haben, die Reform von
Wohngeld, sozialem Wohnungsbau sowie Mietrecht
durchzuführen und dass wir das zukunftsweisende Programm „Die soziale Stadt“ ins Leben gerufen haben. Da
Sie darauf verwiesen haben, dass sich die ARGEBAU um
dieses Programm schon lange bemüht hat, sage ich Ihnen:
Auch Sie hätten dafür sorgen können, dass diese Angelegenheit endlich unter Dach und Fach ist.
Darüber hinaus verweise ich auf den Stadtumbau Ost
- auch das haben wir auf den Weg gebracht -, auf die Energiesparverordnung und auf ein umfassendes Altbausanierungsprogramm. Es ist wirklich eine riesige Leistung, ein
so umfangreiches bau- und wohnungspolitisches Programm aufzulegen, das soziale Gerechtigkeit und ökologische Innovation voranbringt. Diese Leistung lassen wir
uns von niemandem mies machen. Wenn Sie ehrlich sind,
dann müssen Sie mir zustimmen: Eigentlich können Sie
uns dieses Programm gar nicht mies machen.
({2})
Ich bedanke mich bei dem Ministerium, bei Minister
Bodewig, bei Staatssekretär Großmann. Ich bedanke mich
bei den Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion,
bei Iris Gleicke - sie ist heute nicht da -, bei Wolfgang
Spanier, beim Kollegen Weis, bei Gabriele Iwersen, dafür,
dass wir wirklich so gut und so konstruktiv zusammengearbeitet haben. Ich finde, wir waren ein tolles Team und,
wie gesagt, manchmal für die Opposition unausstehlich.
Aus meiner Sicht drückt sich darin ein Stück Qualität aus.
({3})
Ich bedanke mich aber auch bei der Opposition, bei Ihnen, Kollege Kansy, bei der heute fehlenden Kollegin
Ostrowski und beim Kollegen Goldmann, für die Oppositionsarbeit. Manchmal haben Sie durch Ihr Drängen bewirkt, dass wir vorankamen. Das hat unserer Politik gut
getan.
Ihre inhaltlichen Konzepte sind aber bis zur Stunde
nicht die besseren; deswegen möchte ich ein deutliches
Wort zur Sache sagen: Kollege Kansy und Kollege
Goldmann, es tut mir Leid, sagen zu müssen, dass Sie eigentlich noch immer das Bild der Baupolitik der
80er-Jahre im Kopf haben. Erstens nehmen Sie den Bevölkerungsrückgang nicht ernst, zweitens ignorieren Sie,
dass die Wohnungsmärkte in weiten Teilen Deutschlands
inzwischen ausgeglichen sind.
Aus Gründen der Marktentwicklung können wir nicht
einfach wieder Wohnungsüberschüsse produzieren - darauf hat der Kollege Spanier eben schon hingewiesen -,
sondern wir müssen uns die verschiedenen regionalen
Märkte sehr ernsthaft, sehr differenziert anschauen. Ich
bitte Sie, den Unterschied zwischen Frankfurt/Oder und
Frankfurt/Main oder zwischen München und Berlin endlich ernst zu nehmen. Das ist mir so wichtig, weil wir die
Immobilien derjenigen Bürger entwerten, die bis heute in
Immobilien investiert haben - egal ob in Eigenheime oder
in Mietwohnungen -, wenn wir die Bauwirtschaft so stimulieren, dass es zu einem Überangebot an Wohnungen
kommt. Eine Politik, die dazu beiträgt, dass durch Wohnungsüberschüsse die Objekte, die bereits bestehen, genutzt werden, finanziert sind und sich refinanzieren müssen, entwertet werden, wäre unverantwortlich.
({4})
Ich fordere Sie deshalb auf, keine Wohnungsüberschusspolitik zu machen. Sie forcieren eine Politik - dieses Problem kommt hinzu -, deren Maxime lautet: Eigenheimbau, Eigenheimbau, Eigenheimbau. Mit einer
steigenden Anzahl an Eigenheimen ist nicht nur das ökologische Problem der Zersiedelung verbunden - darauf
will ich heute gar nicht eingehen, obwohl mir als Grüne
das besonders am Herzen liegt -, sondern auch das Problem einer immer größeren sozialen und ökonomischen
Schwächung der Städte.
Ich bitte Sie, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass
man nicht einfach immer nur „Mehr Markt, mehr
Markt, mehr Wohnungen, mehr Wohnungen“ rufen kann
- Sie haben das eben wieder in einer perfekten Form gemacht -; vielmehr müssen wir sehen, dass die von Ihnen
angestrebte Politik zum sozialen Auseinanderdriften der
Städte führt, weil die Schicht der Besserverdienenden und
insbesondere die Familien mit Kindern ins Umland abwandern, während in den Städten, vor allem in den alten
Arbeitervierteln, die sozialen Probleme zurückbleiben.
Sosehr wir uns für das Programm „Die soziale Stadt“
auch engagiert haben: Durch das Programm „Die soziale
Stadt“ kann nicht all das aufgefangen werden, was passieren wird, wenn immer nur die Zersiedelung gefördert
wird, so wie Sie es gerne wollen. Auch heute haben Sie
entsprechende Pläne wieder dargestellt. Ihr Antrag propagiert diesen Ansatz ebenfalls.
({5})
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Bauwirtschaft sagen. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Bauwirtschaft von der Zahl der Baugenehmigungen und von der
Ersatzbaurate abhängt. Das stimmt nicht. Wenn man mehr
in den Wohnungsbestand investiert - wir alle haben unsere verschiedenen Instrumente dahin gehend orientiert -,
dann braucht man nicht so viele Ersatzwohnungsneubauten; vielmehr qualifiziert und fördert man dadurch die Gebäude und die Wohnungen derjenigen, die bereits eine Immobilie besitzen, also Immobilieneigentümer sind.
Gegenüber diesen Menschen handelt man dann verantwortlich.
Es ist eine solide und richtige Politik, dass wir die Eigentümer nicht unnötig einer Konkurrenzsituation aussetzen, sondern dass wir nur an den Orten den Neubau fördern, an denen er gebraucht wird. An den anderen Orten
müssen wir sehr viel vorsichtiger agieren und unser Vorgehen am Bestand ausrichten.
({6})
Das hilft der Umwelt, den Städten sowie der Bauwirtschaft und trägt außerdem dazu bei, den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Ich möchte nach wie vor bei Ihnen
dafür werben - ich habe es vier Jahre lang vergeblich getan -, endlich die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.
Lassen Sie mich jetzt ein paar ernste Worte zu den Aufgaben sagen, die als Nächstes auf uns zukommen. Wir haben zwar sehr viel geschafft, aber wir haben noch sehr viel
vor. Rot-Grün wird diese Ziele in der nächsten Legislaturperiode angehen - selbstbewusst und in Zusammenarbeit mit den Kommunen, Ländern und der Wohnungswirtschaft.
Wir müssen die demographischen und sozialen Veränderungen, aber auch die neuen Lebensweisen und Formen
des Zusammenlebens, die sich in unserer Gesellschaft abzeichnen, endlich ernst nehmen. Zum einen gibt es einen
Bevölkerungsrückgang. Die Einwohnerzahl wird von
82 Millionen auf 70 Millionen im Jahr 2050 sinken, gegebenenfalls sogar noch darunter. Einige Prognosen sagen sogar eine Einwohnerzahl von 60 Millionen voraus.
Das ist eine dramatische Entwicklung.
Zum anderen gibt es noch den traditionellen Kleinfamilienhaushalt, auf den der Wohnungsbau, die städtische
Infrastruktur und die von den Konservativen gewünschte
Bauförderung noch immer ausgerichtet ist, der sich aber
verändert hat und der sich noch weiterhin verändern wird.
Wir haben längst eine individualisierte und sehr differenzierte Gesellschaft, die ganz unterschiedliche Wohnund Lebensformen hervorbringt. Darauf müssen wir die
Politik ausrichten.
Wir müssen vor allem Tatsachen wie die Überalterung
der Gesellschaft, die Kinderlosigkeit, das räumliche Auseinanderdriften wie das Wegziehen der Familien mit Kindern in das Umland und auch den Aspekt der altershomogenen Siedlung berücksichtigen. All diesen Themen
müssen wir uns stellen. Wir werden uns ihnen insbesondere mit dem Ziel stellen, die Bedeutung der Städte und
des vorhandenen Siedlungsbestandes zu stärken. Das
heißt aber nicht, dass wir gegen den Neubau sind. Wir sind
jedoch der Meinung, dass der Neubau überwiegend in
Verbindung mit der Erhaltung des Siedlungsbestandes,
mit der Sanierung von vorhandenen Wohnungsbeständen
und mit dem Ausbau der vorhandenen Infrastruktur erfolgen sollte.
({7})
Das ist unser wesentliches Ziel. Wir werben daher
dafür, dass sich die Städte, aber auch die Wohnungs- und
Immobilienwirtschaft sowie die Bausparkassen bis hin zu
den Architekten daran aktiv beteiligen. Alle sind aufgefordert, an der Umsetzung des Leitbildes „Wohnen in den
Städten“ konstruktiv mitzuwirken, damit wir den sozialen
Zusammenhalt in unseren Städten und in unserer Gesellschaft nicht gefährden.
Wir werben mit großem Nachdruck für eine kinderund familienfreundliche Stadt, aber gleichzeitig auch für
eine altersgerechte Stadt. Wir müssen nämlich damit rechnen, dass im Jahre 2015 35 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft - in Ost wie in West - zu den Senioren
zählen, sprich: über 60 Jahre alt sind. Auch diese Tatsache
spricht ein wenig gegen das Bild, das Sie mit Ihrer Politik
propagieren.
Es besteht folgende Gefahr: Wenn wir die Weichen
jetzt nicht richtig stellen - in der Wohnungspolitik kann
man nicht in Vierjahresabschnitten denken; sie muss langfristige Zyklen in den Blick nehmen -,
({8})
dann kann die Gesellschaft für die Jahre 2015 bis 2050
nicht vernünftig planen, fördern und bauen. Wir wollen
nicht, dass im Jahre 2050 die Wohnungen, die wir jetzt
fördern, leer stehen.
Aufgrund Ihrer Politik besteht aber die Gefahr, dass die
Wohnungen schon im Jahre 2015 leer stehen. Wir haben im
Osten gesehen, wie schnell der Wechsel von Wohnungsbedarf und Wohnungsnot zu Wohnungsüberhängen erfolgen kann. Wir möchten nicht, dass heute der Bau und morgen der Abriss gefördert wird. Es ist schon schlimm genug,
dass wir die Abrisse in Ostdeutschland fördern müssen. Wir
tun dies nicht zum Vergnügen, sondern weil wir wissen,
dass ohne diese Wohnungsmarktbereinigung die Grundlage für lebenswerte Städte nicht geschaffen werden kann.
Darum handeln wir auf diese Weise.
Wir wünschen dem Westen nicht - dafür werden wir
mit unserer Politik sorgen -, dass in einzelnen Städten
Verhältnisse eintreten, wie sie jetzt im Osten zu finden
sind. Das darf nicht sein. Deswegen bekämpfen wir die
politische Strategie,
({9})
die Sie und auch die FDP so vehement propagieren.
Abschließend möchte ich noch auf das eingehen, was
bundespolitisch zu tun ist, aber zunächst noch Folgendes
anmerken: Es geht eben nicht nur darum, die eigentumsorientierte Politik gegen die mieterorientierte Politik auszuspielen. Das halten wir für völlig falsch, denn wir
wollen sowohl Mieter als auch Eigentümer im Siedlungsbestand und in gestärkten Städten und Siedlungsregionen haben. Wir sollten also nicht so tun, als
ginge es um die Rechtsform. Vielmehr geht es um die sich
verändernden Wohnansprüche, um differenzierte Lebensformen, aber vor allem auch um das Wohnumfeld,
um das soziale Milieu, um die Qualität von Schulen und
Kitas, um Sport, Spiel und Grün.
Wegen dieser Aufgaben sind die künftige Wohnungspolitik und die Bauförderung nicht nur auf das Ziel auszurichten, die Städte zu stärken. Vielmehr stellt sich die
Frage, wie es mit der Steuerpolitik und der Stärkung der
Gemeindefinanzen weitergeht. Von daher ist es für uns ein
ganz zentrales, entscheidendes Ziel, die Gemeindefinanzen wieder zu stabilisieren, damit die Gemeinden in Infrastruktur, in Grün, in Sport- und Erholungsmöglichkeiten investieren können - für die Kinder, für die Familien,
für die Zukunft unserer Gesellschaft. Das ist unser politisches Leitbild.
({10})
Lassen Sie mich noch etwas zur Förderung der
Wohneigentumsbildung sagen. Wir sind nicht gegen das
Wohneigentum. Ich habe eben bewusst gesagt: Wir wollen keine der beiden Formen gegeneinander ausspielen.
Wir sind aber dafür, dass auch die Eigentumsförderung
konstruktiv mit städtebaulichen, sozialen und ökologischen Zielen verknüpft wird.
Wir sind dafür - an dieser Stelle gab es auch einige Dissense in der Koalition -,
({11})
dass das Wohneigentum als wichtige Säule der Altersvorsorge gestärkt wird. Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode aktiv dafür einsetzen, dass der Erwerb von
Wohneigentum weiter erleichtert wird. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Wir meinen, die Eigenheimzulage muss mit dem Ziel reformiert werden, die Wohneigentumsförderung dort zu stärken, wo sie städtebaulich
wirklich sinnvoll und nötig ist. Mit ihr muss der Erwerb
von Wohneigentum im Bestand und in den Städten mehr
als bisher unterstützt werden. Deshalb sind wir für zwei
Bausteine der Wohneigentumsförderung. Der erste besteht in der Stärkung der Bestandsförderung und der
zweite in einer regionalen Differenzierung, die wir für
nötig halten, um den regionalen Marktunterschieden besser gerecht zu werden.
Sie haben Recht: Wir haben es in dieser Legislaturperiode nicht geschafft, die Förderung von Wohnungsgenossenschaften neu zu regeln. Aber wenn Sie unsere Bilanz sehen und ernst nehmen, dann müssen Sie zugeben:
Wir haben wirklich viel auf den Weg gebracht. Aber wir
wollen in der nächsten Legislaturperiode natürlich auch
noch ein paar Aufgaben haben.
({12})
- Nein, nach dem 22. September 2002 machen wir mit
Vergnügen weiter.
Wir werden die Wohnungsbaugenossenschaften weiter
fördern. Wir wollen sie auch im Rahmen der Eigenheimzulage weiter stärken, weil sie erstens eine sehr wichtige
Alternative zum individuellen Eigentum sind; denn genossenschaftliche Wohnungen stehen zwischen Mietwohnung und Eigentumswohnung und sind insofern auch für
Haushalte mit kleinem Portemonnaie die geeignete
Wohnform. Zweitens sind sie sehr wichtige Akteure, um
Nachbarschaft und sozialen Zusammenhalt in den Stadtteilen und Siedlungen zu stärken. Daher haben wir ein besonderes Interesse an genau dieser Wohn- und Rechtsform.
Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode verstärkt aber auch dem Thema Grundsteuer zuwenden. Die
Gemeindefinanzreform habe ich schon genannt. Wir glauben, dass es im Steuerrecht nicht darum geht, mehr
Erleichterung und mehr Steuervorteile für den Wohnungsbau in der Annahme zu gewähren, dann werde wieder
mehr gebaut und die Welt sei wieder in Ordnung. So ungefähr lauten Ihre Anträge. Wir wollen vielmehr mit den Instrumenten des Steuerrechts und der Gemeindefinanzreform die Städte und die bestehenden Siedlungsregionen
stärken und auch die Grundsteuer in diesem Sinne reformieren, um der Entsolidarisierung und dem räumlichen
Auseinanderdriften nicht weiter Raum zu geben.
({13})
- Das heißt nicht, die Grundsteuer zu erhöhen; vielmehr
soll sie genau ausdifferenziert werden. Dafür gibt es das
Modell der Bodenwertsteuer. Die Diskussionen reichen
bis zu einer reinen Flächensteuer. Lassen Sie uns in der
nächsten Legislaturperiode differenziert über die sinnvollste Vorgehensweise diskutieren.
({14})
Aber wir werden das auch als Instrument nutzen, um die
Flächenpotenziale im Bestand, die Brachen, die wir seit
dem Freiwerden der großen Industriestätten, Militärstätten, Infrastrukturstätten, zum Beispiel der Bahn und der
Post, haben, aktiv nutzbar zu machen. Ich hoffe, dass das
ebenfalls ein gemeinsames Ziel ist.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte mich, weil die
Differenzen zwischen Opposition und Koalition außerhalb des Plenums, wenn man ehrlich ist, so groß gar nicht
waren, bei allen ganz herzlich bedanken und insbesondere
Kollegin Gabriele Iwersen und dem Kollegen Kansy alles
Gute für die nächsten Jahre wünschen.
({15})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf die
heutige Debatte gefreut, auch deshalb, weil sie Gelegenheit gibt, Dank für überwiegend gute Zusammenarbeit zu
sagen. Das gilt vor allem für den Kollegen Maaß, den ich
herausheben möchte; der „kleine Trompeter“ wird mir in
besonders guter Erinnerung bleiben.
Diese Debatte ist notwendig - auch deshalb habe ich
mich gefreut -, weil es Sinn macht, die Unterschiede herauszuarbeiten, die zwischen Ihren wohnungspolitischen
Konzepten und denen einer liberalen Partei bestehen.
Ich will gleich als Erstes betonen, dass es für uns keine
Diskussion darüber gibt, welchen Stellenwert Eigentum
- ob als Eigenheim oder als Eigentumswohnung - hat.
Wir halten ganz entschieden daran fest, alle Wege zu gehen, damit möglichst viele Menschen in Deutschland Eigentum haben,
({0})
damit sie sich in ihrem Eigentum wohl fühlen, damit sie
soziale Sicherheit haben
({1})
- auch mit der Genossenschaftsform bin ich einverstanden, Dieter Maaß - und damit dieses Eigentum von dem
Einzelnen genutzt werden kann, um dem Rechnung zu
tragen, was notwendig ist.
Frau Eichstädt-Bohlig, ich glaube, Sie haben vorhin einen falschen Schluss gezogen, als Sie sagten, mehr Markt
bedeute mehr Wohnungen. Es geht nicht um mehr Wohnungen, sondern um sachgerechte Wohnungen. Es geht
genau um das, was auch Sie ansprechen, aber was Sie sozusagen von oben überstülpen wollen: Es geht um die
Ausgestaltung unserer Innenstädte, damit sie den individuellen Bedürfnissen der Menschen genügen, deren Sozialisation in unserer Gesellschaft sich deutlich verändert
hat. Wir haben wesentlich mehr Singles und wesentlich
mehr kleine Familien als früher. Es geht darum, den Markt
in die Freiheit zu entlassen, denn dann gestaltet sich dieser Markt aus.
({2})
Genau diese Freiheit haben Sie dem Markt ein Stück
genommen. Deswegen stehen Sie auch vor einigen Trümmern im Bereich der Wohnungsbaupolitik.
({3})
Sie haben einen riesigen Verlust an Arbeitsplätzen, einen
Verlust an Gestaltungsmöglichkeiten und einen Einbruch
im Bereich der Eigentumsbildung. Das halten wir für
schlecht. Sie haben die Reformchancen verpasst, die Investoren verschreckt und das Wohneigentum geschwächt.
Das ist ein Fazit Ihrer Arbeit und steht in krassem Widerspruch zu dem, was heute aus der Pressemitteilung des
Ministeriums hervorgeht, nämlich hier sei es zu mehr
Ordnung und Gerechtigkeit gekommen.
Nein, das ist nicht der Fall. Es gab erhebliche Eingriffe, die nachteilig waren. Ich will sie aufzählen: Die
Energieeinsparverordnung ist ein bürokratisches Monstrum. Die Reform des Mietrechts ist ein Gesetzeswerk der
Unausgewogenheit. Die Schritte der Liberalisierung im
sozialen Wohnungsbau sind viel zu schwach ausgeprägt.
Im Grunde genommen halten Sie an Regelungen fest, die
aus der Nachkriegszeit stammen. Ihre Wohngeldreform
ist in der Summe in Ordnung, aber sie hat einen ganz
großen Makel: Sie ist aus der Kürzung der Eigenheimförderung finanziert worden. Das ist keine gute Politik für
Menschen.
Die Riester-Rente ist in die Altersvorsorge der Menschen nicht so einbezogen, dass sie dadurch wirklich Vorteile hätten. Wir werden diesen Bereich aufgreifen und ihn
verändern müssen. Ich glaube, da sind wir uns einig.
Es wird relativ viel Geld für den Stadtumbau Ost in
Aussicht gestellt, aber das Ganze ist nicht koordiniert. Wir
stehen in den neuen Ländern bis jetzt vor riesigen Problemen. Sie haben beim Altschuldenhilfe-Gesetz dramatische Fehler gemacht
({4})
und wenn wir Anträge gestellt haben, die darauf abzielten,
der Wohnungswirtschaft aufzuhelfen, haben Sie diese abgelehnt.
({5})
- Nein, die waren nicht dramatisch schlecht. Die waren
besser als Ihre Vorschläge, Frau Iwersen, und kamen frühzeitiger. Wir haben zum Beispiel Anträge dazu gestellt,
wie man den Wohnungsbaugesellschaften oder Wohnungsbaugenossenschaften in den neuen Ländern bei Zusammenkünften helfen kann.
Wir haben ein Programm mit Mitteln in Höhe von
1 Milliarde DM schon zu einem Zeitpunkt aufgelegt, an
dem Sie noch gar nicht an solche Programme gedacht
haben.
({6})
Wir haben zum Altschuldenhilfe-Gesetz einen Vorschlag
gemacht, dem die Wohnungsbaugenossenschaften in den
neuen Ländern hinterhertrauern, weil er nicht umgesetzt
worden ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin EichstädtBohlig?
Nein, das tue ich
nicht.
({0})
- Frau Eichstädt-Bohlig, wir haben uns vier Jahre lang darüber ausgetauscht. Wir können das auch weiterhin tun.
Nun lassen Sie mich aber in Ruhe meine Sicht der Dinge
darlegen. Regen Sie sich nicht auf! Das ist doch sonst gar
nicht Ihre Art.
Ich möchte noch etwas zur Eigenheimförderung sagen. Ich will es nicht dramatisieren, aber Sie auffordern,
Klarheit zu schaffen. Lieber Herr Spanier, wenn Sie in
Ihrem Antrag sagen, Sie messen der Eigenheimzulage einen hohen Stellenwert bei, dann müssen Sie auch sagen,
wie hoch er für Sie ist.
({1})
Oder folgen Sie der Position der Grünen? Jeder weiß, dass
sie diesem Bereich nicht mehr den Stellenwert zubilligen,
wie wir das meiner Meinung nach bis jetzt in einem
großen Konsens getan haben.
An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Fummeln Sie
nicht an der Eigenheimzulage herum!
({2})
Dies würde den Menschen, den Arbeitsplätzen und Ihrer
politischen Arbeit sehr schlecht bekommen.
({3})
Frau Eichstädt-Bohlig, Sie können zwar sagen, dass
unsere Vorstellungen nicht die Ihren waren; das will ich
auch hoffen. Aber Sie können nicht sagen, dass wir Ihnen
nicht die Chance gegeben hätten, bessere Gesetze auf den
Weg zu bringen. Wir haben ein eigenständiges Mietrecht
eingebracht. Sie wissen ganz genau, dass die asymmetrischen Kündigungsrechte in Ihrem Mietrecht ein riesiges
Problem sind. Sie wissen ganz genau, dass das dazu führt,
dass Menschen, die Geld haben, nichts mehr investieren.
Sie bedauern es vielleicht, dass manche Menschen Geld
haben. Wir freuen uns darüber. Wir wollen, dass diese ihr
Geld in die Umgestaltung der Stadt bzw. in Eigentum investieren. Wenn Sie aber die investiven Bedingungen zum
Nachteil des Vermieters verändern, dann brauchen Sie
sich nicht darüber zu wundern, dass kein Vermieter mehr
bereit ist, in diesen Markt zu investieren.
({4})
Damit provozieren Sie im Grunde genommen den Frust
der Vermieter und schaffen erhebliche Nachteile für den
Mieter.
({5})
Wir haben Ihnen klare Konzepte für den sozialen Wohnungsbau vorgelegt. Ich bin nach wie vor davon überHans-Michael Goldmann
zeugt, dass der Verwaltungsaufwand, der auf Bundesebene betrieben wird, in einem krassen Missverhältnis zu
dem steht, was bei den Ländern ankommt, um vor Ort einen sozialen Wohnungsbau zu gestalten. Das ist eine
rückwärts gerichtete Politik.
({6})
Wir haben Vorschläge zur privaten Altersvorsorge gemacht. Schade war das damals: Herr Eichel wollte das
nicht und Herr Bodewig hat sich zum Schluss bemüht.
Aber wir mussten ihn zum Jagen tragen. Insgesamt ist
eine Lösung zustande gekommen, die absolut unbefriedigend ist.
({7})
Ihre Hilfe für Ostdeutschland ist bis jetzt keine Hilfe.
Die ständige Diskussion über die Erhöhung der Erbschaftsteuer schadet einem Markt natürlich gewaltig, der
weitgehend davon bestimmt ist, dass man Freude am Eigentum hat.
Wir wollen eine markt- und angebotsorientierte Politik. Wir wollen mehr Markt. Ich glaube, dass ich in diesem Fall sehr genau weiß, wovon ich spreche.
({8})
Ich bin ständig in den Niederlanden unterwegs.
({9})
Es gibt Fachliteratur, Herr Schmidt, die sagt: Wenn wir die
Rahmenbedingungen der Engländer und der Niederländer
bei der Förderung von Eigenheimen, also mehr Orientierung am Markt und an Angeboten hätten, hätten wir in
Deutschland 5 Millionen mehr Eigenheime. Ich denke,
Sie sollten sich schon die Frage stellen, ob es richtig ist,
was Sie auf den Weg gebracht haben. Sie sollten hier nicht
zu selbstherrlich sein.
Ich bin davon überzeugt, dass wir am 22. September im
Gegensatz zu Ihnen, liebe Kollegen von den Regierungsparteien, in die Lage versetzt werden, eine gute liberale
Wohnungsbaupolitik zu gestalten. Wir werden nicht so
viel von oben regeln, sondern dem Einzelnen die Möglichkeit geben, das auszugestalten, was er für notwendig
erachtet.
Wir wollen das Wohneigentum stärken. Wir wollen Investoren auf diesen Markt locken und die Reformchancen nutzen. Wir wollen an der Eigenheimförderung festhalten.
({10})
Wir lehnen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer entschieden ab. Wir wollen mehr für junge Familien tun. Wir wollen das Mietrecht wieder vernünftig ausgestalten, es entbürokratisieren
({11})
- Herr Schmidt, das ist keine Kahlschlagpolitik; Sie kennen sich anscheinend in der Sache nicht aus und sollten
ein bisschen nachlesen - und dafür sorgen, dass zwischen
dem Vermieter und dem Mieter wieder eine Begegnung
auf Augenhöhe möglich ist.
({12})
Wir wollen dafür sorgen, dass das Subjekt wieder mehr
im Zentrum steht. Wir wollen auch dafür sorgen, dass wir
die Innenstädte ausgestalten können. Ich war gestern
Abend am Alexanderplatz und habe mir erklären lassen,
was man für Umbauvorstellungen für den Alexanderplatz
hat. Ich habe dabei hochinteressante Gesichtspunkte kennen gelernt. Deswegen möchte ich auch, dass sich Architekten, Raumordner und Stadtplaner mehr in die Politik
einbringen.
Was Sie auf den Weg gebracht haben, ist sicherlich ein
gutes Moment im Bereich von Architektur und Baukultur.
Ich bin aber entschieden dagegen, wieder eine Trennung
zwischen Bauministerium und Verkehrsministerium vorzunehmen. Wer die Städte entwickeln will, wer den ländlichen Raum ordnen will, muss die Einheit zwischen
Wohnen, Arbeiten und sonstigen Umfeldbedingungen
herstellen. Ich denke, das geht mit einem engagierten Ministerium. Da liegen die Mängel.
Herr Minister Bodewig hat sich um den Wohnungsbaubereich viel zu wenig gekümmert. Das konnte auch
durch einen engagierten Staatssekretär nicht kompensiert
werden.
({13})
- Ich finde es sehr schön, dass ich Ihnen einen Blumenstrauß überreiche.
({14})
Es ist aber bedauerlich, dass Sie anscheinend auch in diesem Bereich über keine Kenntnis verfügen. Als Biologe
muss ich Ihnen das sagen.
Wir wollen die liberale Bürgerstadt auf den Weg
bringen - „City 21“ ist nicht schlecht, aber „soziale Stadt“
ist zu eng -, auch unter den Gesichtspunkten, die Sie, Herr
Spanier, ansprachen, damit es zu einer Durchmischung
der Nutzungsmöglichkeiten kommt. Wir müssen ans Baugesetzbuch heran, überhaupt keine Frage. Wir müssen
dafür sorgen, dass Arbeit, Wohnen, Leben, Freizeit, Kultur und Sport mehr miteinander in Einklang sind. Ich
glaube, dass wir in diesem Bereich mit unserem Konzept
der liberalen Bürgerstadt, bei dem wir betonen, dass die
Investitionsbereitschaft, die Beteiligungsbereitschaft des
Bürgers mehr im Zentrum stehen muss, die richtige Antwort geben. Ich denke, dass wir in diesem Bereich arbeiten müssen.
Wir werden die Riester-Rente vereinfachen.
({15})
Die Menschen sind nicht in der Lage, dieses Modell zu
nutzen. Das liegt nicht nur daran, dass es selbst mir
schwer fällt, es zu erklären
({16})
- das kann auch Herr Maaß nicht besser; da bin ich mir
ziemlich sicher -, sondern das liegt schlicht und ergreifend daran, dass eine hochkomplizierte, nicht greifende
Regelung auf den Markt gebracht worden ist.
({17})
Das müssen wir einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Wir
können nicht so tun, als ob hier Interessenvertretungen sozusagen gegen die Regierung schießen. Wenn von allen
Seiten Meldungen kommen, dass dieses Modell ungeeignet
ist - obwohl wir alle davon überzeugt sind, dass man neben
die Säule der Solidarität aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen eine private Säule stellen muss -, dann müssen wir hier einen Weg gehen, der dazu führt, dass sich ein
Modell entwickelt, das wirklich zukunftsfähig ist.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Frau Präsidentin,
herzlichen Dank für Ihre Geduld.
Wir werden ab dem 22. September eine gute Wohnungsbaupolitik machen.
Ich bedanke mich nochmals dafür, dass wir in vielen
Dingen gut miteinander klargekommen sind. Die Unterschiede musste ich aber deutlich machen.
({0})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Heidemarie Ehlert.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alles, was wir bis jetzt gehört
haben, ist das übliche Ritual vor der Wahl. Die Opposition
von CDU/CSU rügt die Regierung wegen mangelhafter
Wohnungspolitik.
({0})
Die Regierungsparteien loben sich über den grünen Klee.
Das ist alles nichts Neues. Was aber sind die Konzepte, die
Sie anbieten?
Die CDU/CSU fordert in einem der hier vorliegenden
Anträge eine „vorausschauende Wohnungs- und Städtebaupolitik“, die Nachfrage und Bedarf in Zukunft angemessen berücksichtigen soll. Da haben Sie Recht. Das
fordern wir auch. Mit Ihrem zweiten Antrag allerdings
widersprechen Sie dem ersten Anliegen.
({1})
Die Lösungen, die Sie anbieten, sind nicht für die Zukunft, sondern von vorgestern.
({2})
Sie haben lediglich die Konzepte aus Ihrer Regierungszeit
bis 1998 wieder aufgelegt. Die Zeiten und die Verhältnisse haben sich seither aber gravierend geändert.
Wenn man anerkennt, dass Wohnungswirtschaft und
Kommunen in Regionen und Ländern angesichts 15- bis
50-prozentiger Leerstände vor völlig neuen Herausforderungen stehen, dann muss einem klar werden, dass steuerliche Rahmenbedingungen nicht auf flächendeckendes
Wachstum oder gar weitere „stadtnahe Baulandmobilisierung“, wie Sie sie fordern, sondern am aktuellen Bedarf
und an der Prognose künftiger Entwicklungen auszurichten sind.
({3})
Ich komme aus Sachsen-Anhalt und weiß, wovon ich
spreche.
({4})
Wir haben in unserem Land im Durchschnitt 19 Prozent
Wohnungsleerstand. Wir brauchen keine weitere undifferenzierte Neubauförderung, sondern eher die Verlagerung
der Eigenheimzulage von Neubau auf Bestand
({5})
oder die Einführung regionaler Komponenten.
Der Rückgang des Eigenheimbaus liegt doch nicht an
der Senkung der Einkommensgrenzen, sondern daran,
dass der Nachholbedarf gedeckt ist und es zumindest im
Osten viele Familien gibt, deren Einkommen weit weniger als 80 000 Euro im Jahr beträgt, deren Mitglieder arbeitslos sind oder in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stehen.
Wenn Sie reformieren wollen, dann werfen Sie bitte
nicht mit der Wurst nach der Speckseite,
({6})
sondern greifen einkommensabhängig gerade denjenigen
stärker unter die Arme, die geringere Einkommen beziehen.
({7})
Was die CDU/CSU hier fordert, ist kein Reagieren auf
neue Herausforderungen, sondern neuer Wein in alten
Schläuchen. Deshalb werden wir Ihre Vorschläge ablehnen.
({8})
- Ich weiß schon, wo Sie sitzen, Herr Kansy. Ich habe Ihnen zugehört.
Was uns die Koalitionsfraktionen dagegen in ihrem
Antrag präsentieren, bleibt im Allgemeinen und merkwürdig verschwommen. Das muss ich schon sagen. Die
Bemühungen zur Bündelung und Vernetzung der Aktivitäten von Bund, Ländern und Gemeinden sollen verstärkt werden. Warum werden Sie nicht konkret? Die PDS
hat dazu schon im Jahr 2000 während der Haushaltsberatungen im Bundestag konkrete Vorschläge unterbreitet:
Alle Förderprogramme für Stadtentwicklung, Städtebauförderung und die soziale Stadt sollten gebündelt und den
Ländern und Gemeinden mehr Eigenverantwortung und
Flexibilität bei deren Umsetzung eingeräumt werden.
Seien Sie doch einmal mutig und schlagen Sie eine
Schneise aus dem lang gewohnten, aber bürokratischen
Förderdschungel!
Der Vorsitzende des Verbandes der Wohnungswirtschaft Sachsen-Anhalts, Jost Riecke, hat gerade vorgestern geäußert, es sei wünschenswert, die Förderungen zu
bündeln, damit ein großer Topf entstehe, über den die
Kommunen mit Pauschbeträgen frei verfügen könnten.
Sie wollen den „Stadtumbau Ost im Dialog mit Ländern und Kommunen problemgerecht fortsetzen“, heißt es
in Ihrem Antrag. Aber um die Zukunft der ostdeutschen
Städte und der in ihnen lebenden Menschen zu sichern, ist
schnelles und entschlossenes Handeln erforderlich.
({9})
Ich zitiere wieder Verbandsvorsitzenden Riecke:
Wir haben 250 große Wohnungsunternehmen in unserem Land. 60 von ihnen sind nicht zu retten und gehen in die Insolvenz, wenn jetzt keine wirksamen
Maßnahmen greifen.
Damit der Stadtumbau wirklich gelingt, müssen die
Probleme, die ihn weiter behindern, sofort beseitigt werden. Dazu gehört erstens: Die Wohnungsunternehmen
müssen endlich und endgültig von den Altschulden befreit werden.
({10})
Die nach der Teilentlastung verbliebenen Altschulden belaufen sich selbst unter Berücksichtigung bereits erfolgter
Tilgungen noch immer auf durchschnittlich 70 Euro pro
Quadratmeter. Das bedeutet allein für den Leerstand bei
kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen einen jährlichen Kapitaldienst von fast 150 Millionen Euro.
Das ist genauso viel, wie der Bund an Verpflichtungsermächtigung für den Stadtumbau Ost pro Jahr eingegangen ist. Daran zeigt sich, dass die Mittel nicht einmal ausreichen, um den Schuldendienst an die Banken zu decken,
von Umbaumaßnahmen ganz zu schweigen.
Wenn die Wohnungsunternehmen nicht von den Altschulden entlastet werden, haben sie trotz der Zuschüsse
für den Rückbau keine Chance, einen sozial verträglichen
Stadtumbau zu erreichen. Im Gegenteil: Es bleibt die Gefahr, dass immer mehr von ihnen zwangsläufig in die Insolvenz getrieben werden.
Das GEWOS-Institut, das das Konzept für den Stadtumbau in Stendal erarbeitet, hat errechnet, dass die Gesamtschuld des städtischen Wohnungsunternehmens von
heute 112 Millionen Euro bis zum Jahr 2025 auf über
256 Millionen Euro ansteigen wird. Die Experten haben
festgestellt, dass die bisher im Rahmen des Programms
„Stadtumbau Ost“ vorgesehene staatliche Unterstützung
nicht ausreicht. Das Fazit von GEWOS:
Um den Wohnungsmarkt in Stendal langfristig und
nachhaltig zu stabilisieren, müssen kurzfristig konkrete Schritte eingeleitet werden, sonst werden alle
Beteiligten, sowohl die öffentliche Hand als auch die
privaten Vermieter, dauerhafte Verluste erleiden.
Zweitens. Sie haben jetzt selbst feststellen müssen,
dass von den eingeplanten rund 350 Millionen Euro zur
Altschuldenentlastung bereits 218 Millionen Euro, also
mehr als die Hälfte, für 25 bewilligte Anträge von Wohnungsunternehmen verbraucht werden. Aber bereits weitere 65 Unternehmen haben Antrag auf Entlastung gestellt. Der Mittelansatz muss deshalb erhöht werden.
Doch davon steht nichts in Ihrem Antrag. Jahre sind ins
Land gegangen und Sie wollen noch immer den Krebsschaden des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit einer
Schmerztablette lindern.
Die PDS hatte bereits im Oktober 2000 den Einsatz von
UMTS-Milliarden für Altschuldenentlastung und Stadtumbau angeregt. Wären Sie für die Realitäten nicht blind
und taub gewesen, hätten wir längst die Weichen gestellt;
denn es geht um mehr als um die Rettung von Wohnungsunternehmen: Es geht um die Zukunftsfähigkeit
von ganzen Städten und ganzen Regionen. Ich erinnere
Sie nur daran, wie oft und wie konsequent wir Ihnen das
in diesem Hause bereits vorgeschlagen haben. Zwölf Anträge und Gesetzentwürfe zum Thema Altschulden und
Stadtumbau hat meine Fraktion allein in den letzten beiden Jahren vorgelegt.
Die Gebietskulisse für die erhöhte Investitionszulage
muss auf den Anwendungsbereich des Stadtumbauprogramms und über das Jahr 2004 hinaus bis 2009 ausgedehnt werden. Auch hatten wir bereits in den Jahren 2000
und 2001 einen Grundsteuererlass und die Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von Wohnungsgesellschaften vorgeschlagen, wovon auch Herr Kansy vorhin gesprochen hat.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Sie hätten sich und den Wohnungsunternehmen wie
den Kommunen viel Zeit und Arbeit ersparen können,
wenn Sie unsere Entwürfe und Vorschläge ernst genommen hätten. Ihre Kollegen von der CDU in Sachsen-Anhalt haben schon begriffen, wie gut unsere Anträge sind,
und sie übernommen. Übernehmen also auch Sie unsere
Anträge und berücksichtigen Sie sie bei Ihrer Regierungsarbeit.
({0})
Ich erteile dem Bundesbauminister Kurt Bodewig das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich beginne mit einem Dank für die
gute Zusammenarbeit an die Kolleginnen und Kollegen,
die aus dem wohnungspolitischen Bereich des Ausschusses ausscheiden: Herrn Dr. Kansy, Herrn Otto, Frau
Iwersen und Herrn Maaß.
Auch am Ton dieser Debatte können wir schon feststellen, dass Wohnungspolitik etwas ist, was alle Menschen berührt und bei dem wir zusammenarbeiten wollen.
Hier ist nur der eine oder andere Missgriff erfolgt. Herr
Goldmann, Sie sprachen von Trümmern. Ich stelle noch
einmal klar: Der Leerstand im Osten, eine Gerechtigkeitslücke im Wohnungsbau und Fehlentwicklungen
durch eine bestimmte Steuerpolitik kennzeichneten das
Desaster, das Sie 1998 hinterlassen haben. Deswegen sind
es Ihre Trümmer, die wir wegräumen mussten.
({0})
Meine Damen und Herren, da ich gerade dabei bin, etwas richtig zu stellen, komme ich gleich auf die Eigenheimzulage zu sprechen. Für diese Zulage waren wir alle;
sie war nicht Ihr Produkt. Die SPD-Bundestagsfraktion
und Herr Staatssekretär Großmann haben sie vorangetrieben. Ich bin froh, dass wir sie gemeinsam beschlossen haben. Das ist das Entscheidende daran.
({1})
Wir haben in der Wohnungspolitik wie in der Städtebaupolitik ganz schnell die richtigen und guten Entscheidungen
getroffen. Es ist wichtig, dass wir Reformen vorangetrieben
haben. Gerechtigkeit und Ordnung auf dem Wohnungsmarkt sind etwas für die Menschen besonders Wichtiges.
Ich glaube, das Ministerium, das Verkehrspolitik und
Mobilität mit städtebaulichen Funktionen und mit erfolgreicher Wohnungspolitik verbindet, ist eine gut funktionierende Konstruktion. Das zeigt sich beim Bundesverkehrswegeplan auf der einen Seite, in der Raumordnung
auf der anderen Seite und nicht zuletzt an funktionsfähigen Städten. Auch diesen Punkt sollten wir uns noch einmal zu Gemüte führen.
({2})
Ich will ein paar Elemente dieser integrierten Politik beschreiben:
Erstens: Leerstand. Der Leerstand ist doch keine neue
Entwicklung, sondern hat sich in den Jahren seit 1991 aufgebaut. Das wissen wir doch.
({3})
Sie wissen auch, dass der Leerstand in den neuen Bundesländern spezifisch ist. Übrigens haben Sie die Fehlentwicklungen ja steuerlich gefördert. Was Sie gemacht
haben, war eine steuerliche Abschreibungspolitik bei Luxusobjekten,
({4})
für die es keinen Bedarf gab.
({5})
Dafür wurden jede Menge Gelder von Steuerzahlern verwandt und heute müssen diejenigen, die dort investiert haben, ordentlich draufzahlen. Sie haben Geld verbrannt;
das muss man wissen.
({6})
- Hören Sie ruhig zu. Schauen Sie sich doch die leer stehenden Wohnungen in Leipzig an.
({7})
Wir wollen einmal über die Scherben reden, die wir
weggeräumt haben, und zwar mit einer klugen Politik, gerade für die neuen Bundesländer.
({8})
Das Stadtumbauprogramm Ost ist immerhin 2,7 Milliarden Euro schwer und läuft bis 2009. Das ist langfristig,
wie Sie, Herr Kansy, es gefordert haben. Vor allem ist es
wirksam. Wer den städtebaulichen Entwicklungsprozess
und den Wettbewerb sieht, erkennt, dass hier etwas richtig in Schwung gekommen ist, dass die Städte und
Gemeinden ihre eigene Zukunft planen und entwickeln
wollen. Das ist wegweisende Politik, nicht Abschreibungsmodelle à la Waigel.
({9})
Ich will noch weiter gehen: Wir werden sogar die Übertragung dieses Programms von den neuen Bundesländern
auf bestimmte Regionen in den alten Bundesländern testen.
({10})
Ich glaube, dass das richtig ist, da Stadtumbau etwas mit
Struktur zu tun hat. Da unterscheidet sich Chemnitz nicht
so sehr von Völklingen. Deswegen können wir aus diesem
Prozess lernen und Erfahrungen übertragen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Stadtumbauprozess für die Städte etwas bringen wird. Sie werden Erfahrungen daraus ziehen. Stadtentwicklung - wir haben sie
nicht in allen Städten; ich glaube sogar, wir haben sie nur
in den wenigsten - wird ein Strukturmerkmal dieser Politik sein. Deswegen werden Sie uns nach dem 22. September bei dieser Politik begleiten dürfen, aber wir werden sie
machen.
({11})
Wir sollten nichts schlecht reden. Das ist eine Gefahr. Ich
glaube, die Menschen werden es Ihnen am 22. September
nicht gut anrechnen, wenn Sie immer alles herunterreden
und Deutschland als Wirtschaftsstandort madig machen.
Wir sprachen gerade über das Programm „Soziale
Stadt“. Die FDP hat dagegen gestimmt, das muss man
wissen. Das ist ein Programm - der letzte Kongress hier
in Berlin mit über 1 000 Vertretern aus den Kommunen
hat es deutlich gemacht -, bei dem die Menschen einsteigen, mit dem sie ihre eigene Stadt entwickeln wollen, wo
sie etwas voranbringen wollen. Auch dieses Programm
haben wir nicht nur konzeptionell, sondern auch materiell
unterlegt.
({12})
Wir haben die Städtebauförderung seit 1998 verdoppelt.
Machen Sie das erst einmal nach. Sie werden allerdings
keine Gelegenheit dazu haben; denn wir werden es tun.
({13})
- Seien Sie nicht so übermütig. Die angebliche schwarzgelbe Mehrheit ist bei Forsa weg. Das wird sich in den
nächsten Tagen noch fortsetzen. Übermut tut selten gut.
Wir warten auf die Wähler und die Wähler werden richtig
entscheiden.
({14})
- Stören Sie nicht. Qualifizierte Zwischenrufe ja, aber den
Rest ersparen wir uns.
Sie haben unsere Initiative „Architektur und Baukultur“ angesprochen. Dazu hätten Sie 16 Jahre Zeit gehabt. Wir haben doch die Architektur und die Baukultur
wieder in den Vordergrund gerückt. Wir machen doch die
Kongresse. Wir sorgen doch dafür, dass deutsche Ingenieure und Architekten auch im Ausland wieder Chancen
haben. Diesen Prozess sollten wir gemeinsam tragen. Lernen Sie dazu!
({15})
Deswegen werden wir diesen Bericht dem Parlament vorlegen und ihn dann gemeinsam - ich hoffe, auch konstruktiv - hier diskutieren.
Mein zweiter Punkt: Wir haben die Rahmenbedingungen für Investitionen neu geregelt. Es war richtig, dass wir
ein Programm zur Verringerung von CO2-Emmissionen aufgelegt haben. 5 Milliarden Euro KfW-Darlehen
werden über fünf Jahre mit 1 Milliarde Euro von uns gefördert. Sie haben Rio und Kioto unterzeichnet, nicht wir,
({16})
aber wir müssen das, was Sie überhaupt nicht angepackt
haben, jetzt lösen. Das tun wir, unter anderem mit solchen
Programmen, aber auch mit der Energieeinsparverordnung.
({17})
Denn das heißt Investitionen in Umweltschutz, in Nachhaltigkeit, und wir schonen dabei gleichzeitig das Portemonnaie der Menschen. Ich glaube, besser kann man es
nicht machen. Deswegen ist dies ein gutes Projekt, und
ich glaube, Ihre kleinkarierte Kritik ist nicht angebracht.
({18})
Kommen wir zum nächsten Punkt: Gerechtigkeit auf
dem Wohnungsmarkt. Zunächst zur Eigenheimzulage.
Sie unterstellen uns immer, wir wollten sie kürzen. Ich
lese da etwas anderes; der CDU-Wirtschaftsrat sprach in
der vergangenen Woche vom Abschaffen. Weiß denn bei
Ihnen die eine Hand nicht, was die andere macht? Das ist
ja wie Späth und Stoiber; der eine sagt hü, der andere sagt
hott.
({19})
Wir haben die Eigenheimzulage gemacht, und wir wissen mit dieser Eigenheimzulage auch in Zukunft Politik
zu machen. Nicht umsonst haben wir einen Anstieg der
Eigentumsquote im Wohnungsbau seit 1998 zu verzeichnen. Wir beseitigen also die Fehler, die Sie uns hinterlassen haben.
({20})
Schauen Sie in die BBR-Prognose, darin steht das alles
schwarz auf weiß.
({21})
Ich komme zum sozialen Wohnungsbau. Wir haben
eine Reform des sozialen Wohnungsbaus vorangetrieben.
Sie enthält ein ganz wichtiges Element: Sie gibt den Ländern und Kommunen mehr Spielräume, sie ist flexibel.
Wir haben über 200 Paragraphen abgeschafft. Das ist Entbürokratisierung im Sinne von mehr Bezug auf regionale
Wohnungsmärkte. Das haben Sie nie geschafft. Sie haben
lange darüber lamentiert. Wir haben es gemacht. Ich finde
es wichtig, dass das so ist.
Das haben wir auch beim Wohngeld gemacht. 10 Jahre
lang haben Sie darüber geredet. Wir haben das Wohngeld
erhöht. Jetzt haben 3,2 Millionen Haushalte Anspruch darauf, 400 000 mehr als davor. Für eine durchschnittliche
Familie ist das Wohngeld von 110 auf 160 Euro im Monat
gestiegen. Das ist etwas, was sich sehen lassen kann. Darauf sind wir auch stolz.
({22})
Jetzt kommen wir zu Ihrer Politik. Sie tun immer so, als
ob das, was Sie in einem Wahlprogramm verkünden,
keine Rolle spielt. Wir müssen das vom Kopf auf die Füße
stellen. Die Absenkung der Staatsquote auf 40 Prozent
bedeutet ein Drittel weniger investive Mittel. Wissen Sie,
was das für den Wohnungsbau, für den sozialen Wohnungsbau heißt? Wissen Sie, was das für den konsumtiven
Bereich heißt? Sie beseitigen die Strukturen, die wir in
Deutschland haben, und zwar die, die soziales Funktionieren ermöglichen. Nur der wirklich Reiche kann sich einen armen Staat erlauben - das ist Ihr Konzept, das ist ein
falsches Konzept. Ich muss Ihnen sagen, die von der FDP
vorgesehene Staatsquote von 35 Prozent ist ein Witz, leider ein schlechter.
({23})
Ich glaube aber, Sie haben mit Herrn Möllemann gelernt,
dass die Zeit der Spaßpartei vorbei ist. Politik ist eine ernste Angelegenheit.
({24})
Ich hoffe, Sie werden sich langsam daran gewöhnen.
Ihre Ankündigungen sind immer interessant: Erhöhung
der Einkommensgrenze bei der Eigentumsförderung, also
höhere Einkommen fördern, Erhöhung der Mittel für den
sozialen Wohnungsbau, also mehr Geld zur Verfügung
stellen, neue Abschreibungsmöglichkeiten, so ein liberales Spezialitätenwerk - das alles kostet Geld. Sie wollen
das Gegenteil, Sie wollen Steuern senken, Sie wollen die
Staatsquote senken. Sie wollen das, was Sie hier beschreiben, gar nicht.
Aber ich meine, Politik muss ehrlich sein. Ehrliche Politik heißt, dass man das, was man den Menschen erklärt,
was man ihnen im Wahlprogramm vorschlägt, einhalten
muss. Wir tun das. Deswegen, glaube ich, wird sich am
22. September der Wähler richtig entscheiden. Er wird es
tun für eine langfristige Wohnungspolitik im Sinne der
Menschen, und zwar für die Bedürfnisse der Menschen im
Verkehrs-, Bau- und Wohnungswesen.
Vielen Dank.
({25})
Jetzt hat das Wort
Kollege Eduard Oswald für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier eine
Präsidentin, die sich heute diesem Thema auch verbunden
fühlt.
({0})
- Insgesamt natürlich. Insofern ist es vielleicht ganz interessant, auch von dieser Warte aus die Debatte zu verfolgen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Wohnungsbaupolitik ist eine gemeinsame Aufgabe
von Bund, Ländern und Kommunen. Das kommt mir in
dieser Debatte etwas zu kurz. Die Ziele sind klar. Benötigt
werden ausreichend viele Wohnungen in den Städten und
Kommunen mit Lebensqualität für alle. Es geht um Qualität und um Quantität; denn Wohnungspolitik bestimmt
ganz entscheidend die Zukunft unseres Landes mit.
Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass es viel Gemeinsames gibt: gemeinsame Wege und Ziele, aber auch
Unterschiede. Ich würde sagen, eine solche Debatte soll
vieles darlegen, aber die Entscheidung des Wählers sollen
und können wir in diesem Hause schon gar nicht vorwegnehmen.
({1})
Die amtierende Bundesregierung hat - den Vorwurf,
Herr Bundesminister und alle Redner der Koalition, müssen Sie sich anhören - die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau fortlaufend verschlechtert.
({2})
Die „Süddeutsche Zeitung“ beschrieb kürzlich das, was
nach einer Untersuchung des Instituts für Städtebau, Wohnungswirtschaft und Bausparwesen veröffentlicht wurde,
als „PISA-Studie für den Wohnungsbau“.
({3})
Im europäischen Vergleich sind wir zurückgefallen.
Ich verstehe sehr wohl, dass Sie Ihre Bilanz schönreden wollen; Sie haben aber die Chancen, die Sie in dieser
Legislaturperiode hatten,
({4})
verpasst.
({5})
Die Zahlen sind eindeutig und Sie sollten sich auch diese
anhören: Von den in Westeuropa im letzten Jahr insgesamt
knapp 2 Millionen gebauten Wohnungen entfielen mit
340 000 Einheiten nur noch 18 Prozent auf Deutschland.
1997 waren es noch rund 30 Prozent. Die so genannte
Wohneigentumsquote in Deutschland ist nun die niedrigste aller EU-Staaten. Diese Zahlen sind Fakten.
({6})
Für dieses Jahr wird mit einem weiteren Rückgang gerechnet, obwohl übereinstimmende Prognosen für die
nächsten zehn Jahre - jetzt kommt der Bedarf - von einem
Neubaubedarf in einer Größenordnung von 400 000 Einheiten pro Jahr ausgehen.
({7})
In der öffentlichen Anhörung unseres Ausschusses wurde
deutlich, dass die Wohnungsbaupolitik in unserem Land
neue Impulse benötigt.
({8})
Herr Bundesminister, es gilt immer das, was in unserem Regierungsprogramm steht. Unser Regierungsprogramm 2002 bis 2006 ist darauf ausgerichtet, zu einem
geordneten Wohnungsmarkt in Deutschland zurückzufinden. Vor allem werden wir die Schaffung von Wohneigentum wieder stärker fördern.
({9})
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wohneigentum ist
ein wichtiger Bestandteil der Vermögensbildung,
Wohneigentum trägt entscheidend zur wirtschaftlichen
Unabhängigkeit bei, Wohneigentum entlastet den Markt
für Mietwohnungen und Wohneigentum ist ein wichtiger
Beitrag zur privaten Vorsorge für das Alter.
Wenn drei Viertel unserer Bürgerinnen und Bürger in
den eigenen vier Wänden wohnen wollen, aber noch nicht
einmal die Hälfte der Bevölkerung, nämlich gerade einmal 42 Prozent, es geschafft haben, besteht ein erheblicher Nachholbedarf.
({10})
Wir dürfen dies nicht nur zur Kenntnis nehmen, wir müssen darauf auch reagieren. Wir haben sehr genaue Vorstellungen von den Notwendigkeiten:
Erstens. Wir wollen die Förderung des selbst genutzten
Wohneigentums in Neubau und Bestand stärken. Vor allem wollen wir im steuerlichen Bereich neue Akzente setzen.
Zweitens. Wir wollen die Eigenheimförderung familienfreundlicher gestalten.
Drittens. Wir wollen das Wohneigentum wirksam in
die Förderung der privaten Altersvorsorge einbinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich - ich glaube,
darin sind wir uns einig - beschränkt sich Wohnen nicht allein auf den Wohnraum. Zur Wohnung gehört das Wohnumfeld. Wohnen ist nicht allein das Ausfüllen eines
Raumes von einigen Quadratmetern; es hat vielmehr etwas
mit Wohlfühlen und Zufriedenheit und mit etwas ganz
Emotionalem, nämlich mit nachbarschaftlichen Kontakten
und dem Zusammenleben der Menschen, zu tun.
({11})
Ich sage das, weil der Wohnungs- und Städtebau gesamtgesellschaftlich mehr Beachtung finden muss. Ich kritisiere, dass diese Themen durch die Zusammenlegung im
Ministerium zu kurz gekommen sind. Das genau ist das
Problem.
({12})
Folgendes ist unsere Zielsetzung:
Erstens. Wir wollen die Schaffung eines sozialen Wohnungsbaus, der auch in Zukunft Bestand hat.
Zweitens. Wir wollen die Förderung eines individuellen Wohneigentums insbesondere für Familien mit Kindern und die Vorsorge für das Alter.
Drittens. Wir wollen Hilfe für junge Ehepaare in der
Familiengründungsphase bei der Suche nach Wohnraum.
Es geht um eine familienfreundliche Wohnungsbaupolitik.
Viertens. Wir wollen eine stärkere Förderung des Erwerbs von vorhandenem Wohnraum und von Belegungsrechten im Wohnungsbestand.
Fünftens. Wir wollen die Gewährleistung ausgewogener Bewohnerstrukturen im Interesse der Bewahrung des
sozialen Friedens.
Sechstens. Wir wollen eine ausreichende Flexibilisierung wohnungspolitischer Regelungen für eine effiziente Wohnungspolitik in den Ländern, den Regionen und
dem örtlichen Bereich, weil dies eine gemeinsame Aufgabe des Bundes, der Länder und der Kommunen ist.
({13})
Siebtens. Wir wollen eine Unterstützung und Förderung ökologischer Belange und Bauweisen, auch im
Sinne einer Vorreiterfunktion für Innovation und Entwicklung inner- und außerhalb der Wohnraumförderung.
({14})
Wohnungsbaupolitik hat also nicht nur eine hohe
soziale, sondern vor allem auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Der Wohnungsbau ist übrigens die traditionell bedeutendste Auftragssparte für die Bauwirtschaft.
Die Bauwirtschaft darf in einer solchen Debatte natürlich
nicht zu kurz kommen. 90 Prozent der Wohnungsbauleistungen werden durch Handwerksbetriebe erbracht. Herr
Bundesminister, wer den Wohnungsbauinvestoren Steuervorteile nimmt, spart immer am falschen Ende.
({15})
Wir haben in unserem Regierungsprogramm klare
Aussagen gemacht, dass wir die Talfahrt in der Wohnungsbaupolitik beenden und die Rahmenbedingungen
für den Wohnungsbau verbessern werden. Wir wollen als
eine wichtige gesamtwirtschaftliche Maßnahme die Investitionsbereitschaft im Wohnungsbau wieder herstellen.
Dazu nennen wir vier Punkte:
Erstens. Wir werden die Beschränkungen der Verlustrechnung für den Mietwohnungsbau wieder aufheben.
Zweitens. Wir werden die Abschreibungsbedingungen
verbessern.
Drittens. Wir werden die so genannte Spekulationsfrist
spürbar verkürzen.
Viertens. Wir werden dafür sorgen, dass ein größerer
Erhaltungsaufwand bei vermieteten Objekten steuerlich
wieder auf mehrere Jahre verteilt werden kann.
Nur wenn wir in dieser Weise Investitionsanreize
schaffen und der Wohnungsbau damit für Vermieter wirtschaftlich wieder interessant wird, werden wir zu einem
vernünftigen Wohnungsmarkt zurückkommen können.
Wir alle sollten immer daran denken: Wenn Vermieten uninteressant wird, dann unterbleiben Investitionen und die
Mieten steigen. Nur ein investitionsfreundliches Steuerrecht und ein ausgewogenes Mietrecht garantieren die
notwendigen Investitionen im Wohnungsbau.
({16})
Es ist heute schon viel davon gesprochen worden, dass
dies die letzte wohnungsbaupolitische Debatte dieser Legislaturperiode ist. Als Ausschussvorsitzender möchte ich
mich auch im Plenum bei allen Mitgliedern im Ausschuss
für die Zusammenarbeit herzlich bedanken.
({17})
Wir sind ein Fachausschuss. Wir haben bei aller politischen Kontroverse in vielen Bereichen einen hohen Grad
an Gemeinsamkeiten. Wenn man diese Debatte genau verfolgt, kann man dies durchaus feststellen.
Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen aus unserem Ausschuss, die ausscheiden und nicht mehr für den
Deutschen Bundestag kandidieren, ein herzliches Wort
des Dankes und der Anerkennung sagen. Dies gilt für die
Redner des heutigen Tages Dr. Dietmar Kansy, Dieter
Maaß, Gabriele Iwersen ebenso wie für meinen Stellvertreter und Freund Klaus Hasenfratz, den ich stellvertretend für alle nenne, die nicht wieder kandidieren.
({18})
Sie werden verstehen, dass ich für meine Fraktion,
die Fraktion der CDU/CSU, in besonderer Weise
Dr. Dietmar Kansy nenne. Der Name und die Persönlichkeit von Dr. Dietmar Kansy sind mit der deutschen
Wohnungs- und Baupolitik aufs Engste verbunden.
Dr. Dietmar Kansy hat nie einfachen und populistischen
Patentrezepten das Wort geredet. Er ist einer Handlungsrichtschnur immer treu geblieben. Ich kann dies beurteilen, weil wir uns sehr früh kennen gelernt haben. Ich sage
sehr herzlich und freundschaftlich: Auch ich habe viel von
ihm gelernt. Er hat immer wieder als Leitschnur formuliert:
Eine angemessene Wohnungsversorgung lässt sich nur im
Bündnis mit den privaten Investoren sicherstellen. Ein
größeres Wohnraumangebot wird den Erwartungen an eine
soziale Wohnungspolitik eher gerecht als Zwangsbewirtschaftung und staatlicher Dirigismus.
Dietmar Kansy hat in der Regierungsfraktion wie auch
als Oppositionsabgeordneter für unsere Parlamentsbauten
insgesamt viel erreicht. Die Eigenheimzulage und das
Bundesbaugesetz wären ohne seine Initiative und seine
parlamentarische Mitwirkung so nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank, Dietmar Kansy, für deinen Einsatz
für die Wohnungs- und Baupolitik in Deutschland!
({19})
Wohnungspolitische Verantwortung zu übernehmen
heißt, sich den jeweils aktuellen Problemen zu stellen,
auch im Parlament ausführlich und detailliert über sie zu
reden und Lösungen - auch dies möchte ich anmahnen
und einfordern - nicht nur für heute, sondern auch für
kommende Generationen zu entwickeln und umzusetzen.
Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Für das Erreichen
dieses Ziels sollten wir arbeiten.
({20})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Dieter Maaß für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die heutige Debatte über den Wohnungsbau und dessen Auswirkungen auf die Bauwirtschaft gibt mir Gelegenheit, einige Schwerpunkte unserer
erfolgreichen Regierungszeit darzulegen. Vorgefunden
haben wir Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen
einen Bundeshaushalt, der einen Schuldenstand von
1 500 Milliarden DM auswies.
({0})
Deshalb musste die Haushaltssanierung oberste Priorität
haben. Trotzdem ist es uns gelungen, das Wohngeld - das
war eine der ersten Maßnahmen - kräftig zu erhöhen.
({1})
Das bedeutet gerade für Familien eine soziale Verbesserung. Das Wohngeld haben wir dabei in Ost und West angeglichen.
Außerdem musste ein neues Wohnungsbaurecht geschaffen werden. Mit unserer Mehrheit wurde es im September 2001 Gesetz. Die Verabschiedung des sozialen
Mietrechts im Jahre 2001, das Mietern und Vermietern
mehr Rechtssicherheit gibt, gehört ebenfalls zu unserer
erfolgreichen Politik.
({2})
Seit einigen Jahren bin ich Berichterstatter für Bau- und
Wohnungswesen im Einzelplan 12 des Bundeshaushaltes.
Deshalb kann ich einiges zu den Investitionen des Bundes
für diesen Bereich sagen. Allein für das laufende Haushaltsjahr 2002 stehen für Investitionen des Bundes fast
2 Milliarden Euro bereit. Um die wichtigsten zu nennen:
Für den sozialen Wohnungsbau stehen 230 Millionen Euro,
für das CO2-Programm circa 205 Millionen Euro, für die
Städtebauförderung 476 Millionen Euro und für unser Erfolgsmodell „Soziale Stadt“ 75 Millionen Euro zur Verfügung. Im Mai 2002 veranstaltete das Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen einen zweitägigen
Kongress zu diesem Thema, auf dem Praktiker zu Worte
kamen. Alle Fachleute begrüßten die finanziellen Hilfen,
aber auch das Konzept für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Wohnungsleerstände und Stadtflucht im
Osten unserer Republik bekämpfen die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen mit dem Programm „Stadtumbau Ost“, für das bis 2005 1,5 Millionen Euro an
Bundesmitteln pro Jahr zur Verfügung stehen. - So weit zu
den Investitionen und den Programmen, die wir in der
nächsten Legislaturperiode fortsetzen werden.
({3})
In der ausgehenden Legislaturperiode war ich Berichterstatter unserer Arbeitsgruppe Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für Gesetzentwürfe, die die soziale Sicherheit der am Bau tätigen Menschen betreffen. Begonnen
haben wir mit dem Winterbaugeld. Damit schützen wir
die Bauarbeiter vor Einkommensverlusten, die ihnen allein wegen Witterungsverhältnissen entstanden wären.
Das haben wir im Wahlprogramm den Bauarbeitern versprochen und das haben wir auch gehalten,
({4})
während Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, das ehemalige Schlechtwettergeld gestrichen
haben.
({5})
Die Arbeitnehmer am Bau werden durch uns auch stärker vor illegaler Beschäftigung geschützt. Das Gesetz zur
Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit regelt diesen Schutz. Diese Aufzählung ließe sich fortführen - vom Arbeitnehmer-Entsendegesetz bis hin zum Tariftreuegesetz.
({6})
Union und FDP haben das Tariftreuegesetz im Bundesrat blockiert. Diese Ablehnung durch eine christlich orientierte Partei,
({7})
mit der Lohnausbeutung der ostdeutschen Bauarbeiter gerechtfertigt wird, finde ich als Gewerkschafter, ehrlich gesagt, schlimm; von der FDP war ohnehin nichts anderes
zu erwarten.
({8})
Meine Damen und Herren, dies ist meine letzte Rede
hier im Plenum. Meine zwölfjährige Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag endet nach der Wahl im September.
Schwerpunkt meiner Arbeit in dieser Zeit war der Bereich
Städtebau und Wohnungswesen. Heute stelle ich zufrieden fest: Die Wohnungsnot, die wir 1990 in unserem Land
noch hatten, ist beseitigt.
({9})
Allerdings ist es mir und anderen nicht gelungen, zu erreichen, dass das Eigentum der Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften die gleiche steuerliche Förderung
erhält wie das private Wohneigentum. In § 17 Eigenheimzulagengesetz und in § 12 des Gesetzes zur Reform des
Wohnungsbaurechts gibt es bescheidene Ansätze. Eines
Tages, so hoffe ich, wird der Genossenschaftsgedanke in
unserer Gesellschaft wieder eine wichtige Rolle spielen
und in gesetzlichen Maßnahmen zum Ausdruck kommen.
({10})
Kolleginnen und Kollegen, ich danke allen für die gute
Zusammenarbeit während meiner Tätigkeit hier. Denen,
die bleiben, wünsche ich persönlich alles Gute; Gleiches
auch für die, die wieder in den Beruf zurückgehen. Meinen sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen
wünsche ich darüber hinaus einen politischen Erfolg am
22. September.
({11})
Denen, die wie ich in den Ruhestand gehen, wünsche ich,
dass Wilhelm Busch mit seiner Erkenntnis Recht hat: Der
Ruhestand ist ein Genuss, wenn man noch kann und nicht
mehr muss.
({12})
Herr Kollege Maaß,
Sie hören den Applaus. Im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen wünsche ich Ihnen für diesen neuen Lebensabschnitt alles Gute.
Nächster Debattenredner ist der Kollege Dr. Michael
Meister für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister
Bodewig, Sie haben davon gesprochen, Sie hätten für den
sozialen Wohnungsbau mehr Spielraum geschaffen. Ich
will Ihnen jetzt einfach einmal die Haushaltszahlen von
vier Jahren rot-grüner Politik im Bereich des sozialen
Wohnungsbaus vortragen: Sie haben im Jahr 1999 mit
1,1 Milliarden DM angefangen. Es ging weiter im Jahr
2000 mit 600 Millionen DM, im Jahr 2001 mit 450 Millionen DM und im Jahr 2002 mit 230 Millionen Euro. Sie
haben uns im Jahr 1998 - da gab es 1,347 Milliarden DM
für den sozialen Wohnungsbau - vorgeworfen, das sei
die Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus.
({0})
Sie haben die Mittel um den Faktor vier reduziert. Ich
frage Sie schlicht und ergreifend: Was haben Sie getan?
Haben Sie mehr Spielraum für den sozialen Wohnungsbau geschaffen? Nein, Sie haben ihn beerdigt. Sie haben
ihn abgeschafft. Sie haben ihn beseitigt. Das ist Ihre Politik.
({1})
Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben zu Recht erwähnt
- auch der Kollege Oswald hat es treffend gesagt -: Wohnungsbaupolitik ist nicht nur eine Bundesaufgabe, sondern auch eine Aufgabe von Ländern und Kommunen. Nur
muss man den Ländern und Kommunen dann natürlich
auch die Freiheit und die Kraft geben, sich dieser Aufgabe
zu stellen. Schauen Sie sich die Mai-Steuerschätzung an!
Denken Sie an das Thema UMTS-Gelder! Denken Sie an
das Thema „Mindestsicherung in der Riester-Rente“! Überall haben Sie dafür gesorgt, dass die Kommunen überhaupt nicht mehr den finanziellen Spielraum haben, um
diesen Aufgaben gerecht werden zu können.
({2})
Sie kündigen seit vier Jahren eine Kommission an, die
sich der Gemeindefinanzreform annehmen soll.
({3})
Ankündigung, Ankündigung, Ankündigung! Sie entziehen das Geld und fordern die Kommunen auf, in diesem
Bereich tätig zu werden.
({4})
Was Sie an dieser Stelle tun, Frau Eichstädt-Bohlig, ist unsolide und unseriös.
({5})
Jetzt zum Thema Eigenheimzulage. Die Eigenheimzulage ist von 1996 bis 1999 in der deutschen Wohnungsbaupolitik eine Erfolgsgeschichte gewesen. In diesem
Zeitraum gab es eine Steigerung der Zahl von selbst genutzten Eigenheimen und Wohnungen um 25 Prozent pro
Jahr. Eine Steigerung um 25 Prozent durch die Einführung
der Eigenheimzulage!
({6})
Damit - der Kollege Oswald hat es erwähnt - sind wir
dem Wunsch der Menschen nachgekommen: Drei Viertel
der Bevölkerung wollen in selbst genutztem Wohneigentum leben. Wir haben die Rahmenbedingungen dafür geschaffen.
({7})
Das hatte auch einen Nebeneffekt: Wir sind damit nicht
nur dem Wunsch der Menschen nachkommen, sondern
haben auch etwas für den Arbeitsmarkt getan. Denn jede
Wohnung, die gebaut wurde, hat auch Arbeitsplätze gesichert.
({8})
Was haben Sie an dieser Stelle getan? Schauen Sie sich
einmal die Entwicklung beim Wohneigentum nach 1999
an! Sie haben gesagt, Herr Bodewig, die Kurve sei aufwärts verlaufen. Nach 1999 sind zwar die Ausgaben gestiegen, aber nicht die Zahl der Fertigstellungen beim privaten Wohneigentum. Seit 1999 ist die Zahl der
Fertigstellungen in diesem Bereich Jahr für Jahr rückläufig. Das liegt an den Maßnahmen, die Sie durchgeführt
haben.
In Ihrem Antrag, Frau Eichstädt-Bohlig, heißt es so
schön, es müsse etwas für den Bestand getan werden. Das
ist auch durchaus richtig. Das haben Sie bereits vor vier
Jahren in Ihre Koalitionsvereinbarung aufgenommen.
Was aber tun Sie? Sie beseitigen den Vorkostenabzug. Das
war ein Schlag gegen den Bestand.
({9})
Das, was Sie schriftlich ankündigen oder in Sonntagsreden an die Öffentlichkeit bringen, ist das Gegenteil von
dem, was Sie hier beschließen. Das müssen die Menschen
begreifen. Ihr Reden und Ihr Handeln klafft auseinander.
({10})
Was kommt noch hinzu? Sie haben in den vergangenen
vier Jahren den zentralen Fehler gemacht, dafür zu sorgen,
dass die gesamte Bauwirtschaft verunsichert wurde.
Statt zur Sicherheit beizutragen, schürten Sie Verunsicherung an allen Enden. Zum Beispiel haben Sie neben der
Abschaffung des Vorkostenabzuges die Spekulationsfrist
verlängert. Wer will denn angesichts dessen noch investieren?
Sie haben die steuerwirksame Verteilung des Erhaltungsaufwands auf mehrere Jahre zurückgenommen und
so ins Steuerrecht eingegriffen. Der Kollege Goldmann
hat das Mietrecht erwähnt. Überall haben Sie dafür gesorgt, dass die Rahmenbedingungen für Investitionen verschlechtert werden. Deshalb ist die Philosophie, dass sich
die Nachfrageentwicklung verändert habe, nicht richtig.
({11})
Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil der
Wahrheit ist, dass Ihre Politik zu einer Verschlechterung
der Rahmenbedingungen für Investoren geführt hat.
({12})
Das muss zur Kenntnis genommen und korrigiert werden.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Leider mussten wir - der Kollege Kansy hat das zu Recht
festgestellt -, fast über die gesamten vier Jahre die Baupolitik vermissen.
({13})
- Die Politik in diesem Bereich hat der Bundesfinanzminister gemacht, Frau Eichstädt-Bohlig. Er hat diktiert, wie
die Gesetze aussehen sollen. Wenn eine Gesetzesänderung vorgenommen wurde, dann hat nicht das Bundesbauministerium entschieden, wie diese aussehen soll,
sondern das Bundesfinanzministerium - aus fiskalpolitischen Gründen. Wir müssen in der Wirtschafts- und in der
Baupolitik endlich dazu zurückkommen, dass Sachpolitik
und nicht Fiskalpolitik betrieben wird.
Ein Blick auf die Eigenheimzulage zeigt, dass Sie nur
eines im Sinn haben: Ihren Finanzminister, Ihre Finanzpolitik, Ihre Budgetpolitik. Sie nutzen diesen Bereich als
Sparschwein, um andere Aufgaben zu retten. Das versuchen Sie aber zu verschleiern.
({14})
Wir als Union dagegen sind Garant für das selbstgenutzte Wohneigentum. Wir werden das, was der Kollege
Oswald vorgetragen hat, Punkt für Punkt erfüllen.
({15})
Lieber Herr Spanier, Sie haben eingangs in dieser Debatte vorgetragen, die Bilanz der Politik dieser Bundesregierung sei rundum positiv.
({16})
Damit haben Sie aus Ihrem Antrag zitiert.
Lassen Sie mich einige Zahlen nennen. Die Entwicklung im Eigenheimbau ist - das habe ich bereits erwähnt seit zweieinhalb Jahren rückläufig. Auch die Zahl der
Baugenehmigungen - der Kollege Kansy hat das angesprochen - ist rückläufig. Für dieses Jahr ist ein Rückgang
um 8,5 Prozent prognostiziert. Auch der Personalabbau
im Baugewerbe ist bereits angesprochen worden: Mehr
als 200 000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Für dieses Jahr ist der Verlust von weiteren 50 000 Arbeitsplätzen im Baugewerbe angekündigt worden. Das ist die
„rundum positive Bilanz“ dieser Bundesregierung.
Im vergangenen Jahr gab es mehr als 30 000 Insolvenzen, ein großer Teil davon in der Bauwirtschaft. Für dieses Jahr wird eine weitere Steigerung, auf rund 40 000 Insolvenzen, prognostiziert. Das ist die „rundum positive
Bilanz“ dieser Bundesregierung. Das sind Spitzenzahlen,
nur mit dem falschen Vorzeichen. Deshalb ist eine Änderung nötig. Das Vorzeichen muss geändert und Ihre Politik dringend beendet werden.
({17})
Ich möchte noch kurz auf das Thema Zersiedlung eingehen, das Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, immer so gerne ansprechen. Wir sind zwar der Meinung, dass vorrangig eine
bundesweit einheitliche Eigenheimzulage notwendig ist.
Aber natürlich muss darauf geachtet werden, dass dies mit
anderen Bereichen, zum Beispiel mit einer sinnvollen
Stadt- und Raumordnungspolitik, vernetzt wird. Wer
glaubt, dass dies allein mit dem Instrument der Eigenheimzulage möglich ist, ist auf dem falschen Weg. Wir
müssen die Eigenheimzulage als bundesweites Instrument belassen und sie durch andere Instrumente flankieren. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Wenn wir das zur Abstimmung stellen, sind wir auf einem guten Weg. Dann werden auch die Kollegen, die uns
verlassen, Herr Maaß, Herr Kollege Kansy und andere,
die uns leider nicht mehr auf diesem Weg begleiten können, von außen sagen: Ab dem 22. September 2002 wird
im Bauausschuss des Deutschen Bundestages doch wieder eine gute Sach- und Fachpolitik betrieben.
Herzlichen Dank.
({18})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Gabriele Iwersen für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! 1998 ist die alte Regierung
wegen absoluter Reformunfähigkeit abgewählt worden.
Was Sie heute geliefert haben, zeigt, dass Sie wieder in die
Zeit vor 1998 zurück wollen.
({0})
Sie haben von der gesamten Entwicklung nichts verstanden. Sie verstehen nicht, dass sich aufgrund von Überkapazitäten Insolvenzen entwickelt haben. Sie verstehen
auch nicht, dass die Zahl der Eigenheimbauten zurückgegangen ist, weil der Bedarf gedeckt war. In diesem Punkt
sind ja die Beiträge der PDS noch besser. Das will schon
etwas heißen. Sie sollten sich das einmal zu Herzen nehmen.
({1})
Ich will mich deshalb lieber einem friedlichen Thema
zuwenden und es noch einmal mit der Baukultur versuchen. Baukultur - für diejenigen, die es noch nicht wissen - beschreibt den Umgang der Gesellschaft mit der gebauten Umwelt, mit Städten und Dörfern, mit dem
öffentlichen Raum und dem privaten Raum. Der Begriff
Kultur allein ist natürlich noch kein Qualitätsnachweis. Er
weist aber darauf hin, dass es sich um eine gesellschaftliche Gesamtleistung handelt, die Auskunft gibt über die
Art des Zusammenlebens unterschiedlicher sozialer
Gruppen und Generationen, über staatliche Ordnungen,
Stellenwert von Geschichte und Tradition und Umgang
mit dem kulturellen Erbe eines Volkes. Das sind allgemeine Beschreibungen, die noch lange nachwirken. Dieses alles zusammen verdient die Bezeichnung Baukultur.
Eine wachsende Gesellschaft kann zu einem explosionsartigen Wachstum der Städte und Siedlungen führen.
Als Beispiele nenne ich die Gründerzeit, aber auch die
Zeit nach der Öffnung der Mauer und des Eisernen Vorhangs. Es gibt aber auch Phasen der Stagnation oder sogar
des Verfalls durch Kriege, Katastrophen, Seuchen, Wanderungsverluste oder drastischen Geburtenrückgang. Auf
all diese Ereignisse gibt es Antworten, die ihren Ausdruck
in der Baukultur einer Gesellschaft finden, welche immer
eine Mischung aus persönlicher Entscheidung und Gestaltungskraft des Einzelnen und einem Ordnungswillen der
Gemeinschaft oder früher der Obrigkeit verkörpert.
In unserer Gesellschaft haben wir als Deutscher Bundestag zusammen mit den Parlamenten der Länder übergeordnete Entwicklungsleitlinien zu entwerfen. Dabei
gibt es verschiedene Instrumente: Das Baugesetzbuch ist
unsere Bibel und der Bundeshaushalt das Steuerungsinstrument, mit dem Entwicklungen durch Programme initiiert oder bewusst oder mangels Masse auch verzögert
werden können.
Leider sind nicht alle persönlichen Wünsche der Bürger mit den Interessen der Gemeinschaft in Einklang zu
bringen. Da aber jeder Mensch in dem Spannungsfeld
zwischen seiner individuellen privaten Lebenswelt, also
seiner Wohnküche, und dem identitätsstiftenden öffentlichen Raum seiner Stadt oder seines Dorfes lebt, muss es
unsere wichtigste Aufgabe sein, diesen übergeordneten
Stadt- oder Siedlungsraum zu entwickeln, um ihn der sich
ständig verändernden Gesellschaft anzupassen. Vor
30 Jahren - das wissen Sie alle - prägte das Ideal der autogerechten Stadt die Planungen, heute steht zum Beispiel
der Gedanke der Barrierefreiheit oder des sozialen Zusammenhalts im Vordergrund, insbesondere bei der rotgrünen Wohnungs- und Städtebaupolitik. Im Grunde genommen würden Sie das aber auch nicht ablehnen.
({2})
Unsere Gesellschaft altert rapide - das weiß nun schon
jeder -, die Zahl der Einwohner wird innerhalb der nächsten
Jahrzehnte vielleicht tatsächlich um bis zu 20 Millionen
sinken. Das heißt, je mehr jetzt gebaut wird, umso mehr
wird auch von dem jetzt Vorhandenen abgebrochen werden müssen, wenn unsere Kinder und Enkel nicht gerade
in Geisterstädten leben sollen. Dieser Prozess der Erneuerung muss mit Weitsicht geplant werden, damit es
nicht zu einer Auflösung der Städte und der städtischen
Gesellschaft kommt.
({3})
Der Statusbericht „Baukultur in Deutschland“ - ein
sehr lesenswertes Papier - weist darauf hin, dass der Bestand an verdichteter Innenstadtbebauung wesentlich zur
Identität jeder Stadt beiträgt und sich diese nicht über die
größte Vorstadt oder das größte Einkaufszentrum definiert. Behutsame Stadterneuerung bedeutet deshalb in
erster Linie Pflege und weitere Nutzung des Bestandes,
Schutz der historisch wertvollen Bausubstanz, Reaktivierung von brachliegenden Flächen - die wird es zunehmend geben - und Verhinderung der Gettobildung.
({4})
Die sozialen Aspekte der Stadtentwicklung gewinnen
immer mehr an Bedeutung; denn die soziale Polarisierung
in unserer Gesellschaft schlägt sich auch in der räumlichen Struktur der Stadt nieder. Die rot-grüne Regierung
hat diesen Strukturproblemen deshalb einen Schwerpunkt
ihrer Städtebaupolitik gewidmet. Die Programme „Die
soziale Stadt“, „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“
sind so unheimlich wichtig, weil sie dazu beitragen, den
Organismus Stadt als eine Einheit der gebauten Umwelt
und ihrer Bewohner zu betrachten. Erst wenn das geschieht, kann man Problembereiche verändern.
Auch hierbei erfahren wir, dass der öffentliche Raum
zur Lebensqualität eines Quartiers wesentlich beiträgt. Er
dient eben nicht nur zur Erschließung, sondern er ist auch
Lebensraum, der eine eigene Gestalt hat. Der Vorgang des
Gestaltens ist der kulturelle Beitrag aller an der Planung
und Ausführung Beteiligten. Alle, das heißt Fachleute sowie Bürger; denn Baukultur ist Ausdruck eines Gemeinschaftsergebnisses. Sie bleibt der Nachwelt als Zeugnis
der Lebensform unserer Gesellschaft, die auf Bürgerbeteiligung setzt, erhalten.
({5})
Baukultur findet ihren Ausdruck andererseits in Massenware, die unter dem Stichwort „Wohneigentum“ nach
staatlicher Förderung verlangt. Nicht die Zahl der Baugenehmigungen ist für die Beurteilung der Eigenheimzulage und ihrer Wirkung wichtig, wie Dr. Kansy oder
Dr. Meister glauben, sondern die Frage, wo diese Häuser
gebaut werden. Leider entstehen sie oftmals dort, wo der
Bauplatz billig ist und die Städte eher durch Leerstand als
durch einen engen Wohnungsmarkt, der unbedingt des zusätzlichen Bauens bedarf, gekennzeichnet sind.
({6})
- Nein, Sie haben bei der Anhörung nicht zugehört; sonst
wüssten Sie, was wir da zu hören bekommen haben.
({7})
Zwischen der Befriedigung eines Anspruchs - den haben diejenigen, die nach einer Wohnungsbauförderung
fragen - und einem Bedarf besteht nämlich ein Unterschied: Der Bedarf steht bei der Städtebauförderung im
Vordergrund. Deshalb halte ich die Städtebauförderung
für den besseren Weg, um gesamtgesellschaftliche Probleme zu lösen.
({8})
Auf jeden Fall war der Bundesbauminister wirklich gut
beraten, als er die „Initiative Architektur und Baukultur“
ergriff. In der Tat muss in der Öffentlichkeit wesentlich
stärker darauf hingewiesen werden, bei wem die Verantwortung liegt, nämlich bei Bauherren, Planern und Politikern. Das gilt besonders dann, wenn sie sich daranmachen, zusätzliche Baurechte auszuweisen und Eingriffe in
unsere Siedlungsgeschichte in die Wege zu leiten.
Zum Schluss möchte ich ein Wort zu dem öffentlichen
Bauherrn sagen. Natürlich hat die öffentliche Hand als
Bauherr die Pflicht, Vorbildliches zu leisten. Das gilt sowohl für Neubauten wie auch für den Umgang mit Ererbtem. Wettbewerbe sind deshalb der beste Weg, sich einer
Gestaltung zu versichern, die aus einer Vielzahl von Lösungen herausgefiltert worden ist. Das sollte auch für die
historische Mitte Berlins gelten; denn jede Zeit hinterlässt
durch ihre wichtigsten öffentlichen Bauten Zeugnisse ihrer gestalterischen Kraft. Es gab allerdings auch Epochen,
die auf Nachahmung der Vergangenheit setzten, um neue
Inhalte hinter alten Fassaden zu verstecken. Wollen wir
tatsächlich Neobarock in Berlin einführen? - Ich jedenfalls nicht!
({9})
Baukultur ist ein weites Feld, über das wir noch lange
reden könnten. Ich kann Ihnen nur noch sagen: Meine Zeit
in diesem Hohen Hause ist um. Ich bedanke mich bei allen, die einigermaßen seriös diskutiert haben, um die Probleme unserer Städte und unserer Bevölkerung zu lösen.
Bei denen, die nur aus Prinzip Gegenargumente suchen,
bedanke ich mich vorsichtshalber nicht.
({10})
Frau Kollegin
Iwersen, auch für Sie war es die letzte Rede hier im Hohen Hause. Vielen Dank für Ihr Engagement und alles
Gute auf Ihrem weiteren Lebensweg!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/9344 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für eine vorausschauende Wohnungs- und Städtebaupolitik“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6048 abzulehnen.
({1})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Kann ich noch einmal fragen, wie das Abstimmungsverhalten der FDP-Fraktion war?
({2})
- Dann machen wir das Ganze noch einmal. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu ihrer Großen Anfrage auf Drucksache 14/7124: Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf
Drucksache 14/9397? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Jetzt klappt es im ersten Anlauf. Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf
Drucksache 14/9141 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Bessere steuerliche Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau“: Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6637 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften, Drucksache 14/8993: Der Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9347, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDPFraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen gibt es keine. Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8966 und 14/9355 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“
- Drucksache 14/9020 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die SPDFraktion ist der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass wir
heute einen kleinen Rückblick und eine kleine Zusammenfassung der Arbeit der Enquete-Kommission haben.
Ich möchte einige Worte zur Entwicklung sagen. Wie
ist es dazu gekommen, dass sich der Deutsche Bundestag
so intensiv mit bioethischen Themen befasst hat? Wir hatten in der Vergangenheit in diesem Hause bereits mehrfach Themen diskutiert, die eine starke ethische Relevanz
hatten und die zeigten, dass Medizin immer wieder an
Grenzen stößt, die mit unserem Grundgesetz zu tun haben, nämlich mit der Menschenwürde. Wir haben vor über
zehn Jahren das Embryonenschutzgesetz diskutiert. Wir
haben die Debatte um die Abtreibung gehabt. Wir haben
in der letzten Legislaturperiode das Transplantationsgesetz verabschiedet. Wir haben dann in der letzten Legislaturperiode - wenn auch nicht hier im Plenum, so doch
in verschiedenen Gremien im Deutschen Bundestag - debattiert, ob Deutschland die Bioethikkonvention des Europarates unterzeichnen soll oder nicht.
Aus dieser Debatte, die überfraktionell unter Abgeordneten stattgefunden hat, wurde die Idee geboren,
diese Diskussion zu strukturieren, die Lücken in der
Bioethikkonvention herauszufinden und sie für Deutschland zu schließen, bevor Deutschland diese Konvention
zeichnet. Das war der Anlass und wurde dann so auch in
den Koalitionsverhandlungen besprochen. Es gab dazu
zwar keine schriftliche Vereinbarung, aber eine Absprache.
Es war nicht einfach, diese Absprache anschließend in
den einzelnen Fraktionen umzusetzen. Es gab Widerstände gegen die Einrichtung einer Enquete-Kommission.
Diese Widerstände sind überwunden worden - wenn auch
leider etwas spät, sodass wir erst im Frühjahr des Jahres 2000 mit der Arbeit beginnen konnten. Weil wir also
nur noch wenig Zeit hatten, mussten wir uns auf wenige
Themen konzentrieren.
Eine Voraussetzung unserer Arbeit war, die in Gesetzgebungsprozessen anstehenden Entscheidungen nicht
durch lange theoretische Überlegungen zu behindern. Das
nämlich befürchteten die Praktiker in der Regierung wie
in den Fraktionen. Wir haben versprochen, entscheidungsbegleitend arbeiten zu wollen. Das konnten wir in
drei Fällen tun.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Erstens begleiteten wir den Diskussionsprozess um die
Europäische Grundrechte-Charta. Ich bin sehr froh darüber, dass wir dabei erreichen konnten, einen Diskriminierungsschutz im Hinblick auf die genetische Prädisposition der Menschen in die Grundrechte-Charta einfließen
zu lassen. Früher konnte man Menschen zum Beispiel
wegen ihrer Hautfarbe, wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer Herkunft diskriminieren. Das sind genetische
Merkmale, aber die Möglichkeiten der Diskriminierung
steigen mit dem Wissen um die genetische Prädisposition
der Menschen. Dem haben wir Rechnung getragen. Das
ist direkt in unsere Vorschläge eingeflossen.
Zweitens behandelten wir die Frage des Stammzellimportes. Die mehrfach geführten Debatten darüber nahmen in diesem Haus großen Raum ein.
Drittens debattierten wir - ebenfalls entscheidungsbegleitend - über die Umsetzung der Biopatentrichtlinie
der Europäischen Union. Wir haben hierzu Empfehlungen
ausgesprochen, die das Parlament auffordern, diese Problematik noch einmal umfassend zu betrachten und die
möglichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Medizin und der Forschung gründlicher zu bedenken. Ich bin
froh, dass diese Bedenkzeit angenommen wurde und die
Fraktionen bisher davon Abstand genommen haben, eine
Entscheidung darüber durch das Parlament zu peitschen.
({0})
Zum Zwecke der systematischen Bearbeitung haben
wir uns für einige Themenfelder in Arbeitsgruppen aufgeteilt: Fortpflanzungsmedizin, Organersatztechnologien
und Schutz der genetischen Daten. Die Arbeitsgruppen
haben Berichte erstellt, die wir anschließend zusammengeführt haben. Das war möglich, weil wir engen Kontakt
gesucht haben, einerseits mit der Bevölkerung und andererseits mit Fachleuten, mit Sachverständigen und Wissenschaftlern, wie das bei einer Enquete-Kommission
üblich ist. So konnten wir eine Menge Material aufarbeiten, das zum Beispiel auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin eine Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der
Präimplantationsdiagnostik bildet: Soll es erlaubt sein,
Embryonen auszusortieren, weil sie bestimmte Merkmale
haben? Darf der Mensch das tun? Zu diesen Fragen haben
wir ein deutliches Votum erarbeitet, in dem wir uns
gegen die Einführung der Präimplantationsdiagnostik in
Deutschland aussprechen.
Wir haben parallel dazu über die Pränataldiagnostik
debattiert, weil wir meinten, dass dieses Thema dazugehört. Auch auf diesem Gebiet hat eine Entwicklung
stattgefunden, die das Parlament nicht einfach tolerieren
kann. Auch hierzu haben wir Empfehlungen entwickelt.
Wir haben darüber hinaus sehr intensiv über den Bereich der Stammzellforschung debattiert. Neben der
Diskussion über die embryonale Stammzellenforschung
haben wir akribisch die Chancen der alternativen Forschung, der Forschung an adulten Stammzellen und der
Forschung zu Nabelschnurblutstammzellen herausgearbeitet. Wir haben die Möglichkeiten der einzelnen Alternativen nebeneinander gestellt, um sie dem Parlament
nahe zu bringen und Entscheidungen darüber zu ermöglichen.
Ich hebe hervor, dass wir uns im Hinblick sowohl auf
die Stammzellforschung als auch auf die Biopatentrichtlinie gestritten haben. Dazu gab es keine einheitlichen
Voten, sondern es kam zur Gabelung von Voten. Es gab
Voten, die nebeneinander standen, sowie Minderheitenvoten. Das alles kann man dem Bericht entnehmen.
Aber es gibt auch Bereiche, in denen wir einer Meinung waren und zu einem einheitlichen Beschluss gekommen sind, so zum Beispiel im Bereich der genetischen Daten. Wir sind hier alle der Meinung, dass eine
Regelung erforderlich ist, und haben die Bedingungen für
eine Regelung aufgelistet. Die CDU/CSU hat dann gleich,
weil sie das aus der Opposition heraus so bequem kann,
einen Antrag daraus geschmiedet. Es ist aber zum Ende
der Legislaturperiode hin schwierig, einen solchen Antrag
umzusetzen; das wissen Sie selbst. Wir haben uns bescheidener gebärdet. Wir haben Eckpunkte formuliert, die
wir aus diesen Empfehlungen abgeleitet haben, und werden diese in der nächsten Legislaturperiode umsetzen.
Das ist unsere Herangehensweise.
Ich erwähne diesen Bereich deshalb noch einmal, weil
er auch in der Öffentlichkeit nicht genügend wahrgenommen wird. Wer den Film „Gattaca“ gesehen hat, dem ist
eine Vision vermittelt worden, die von der Wirklichkeit
gar nicht so weit entfernt ist. Darin geht es um einen jungen Mann, dessen Bildungschancen nach seiner genetischen Prädisposition abgeschätzt werden. Ihm wird gesagt: Du hast bestimmte Risiken und bestimmte Anlagen.
Für dich kommt nur dieser Bildungsweg infrage, sonst haben wir eine Fehlinvestition getätigt. Hier wird uns gezeigt, was daraus werden kann, wenn aufgrund von genetischen Anlagen diskriminiert wird. Ich denke, dass wir
die Medien, die uns das anschaulich machen, brauchen
und dass solche Filme in Schulen und in der Öffentlichkeit gezeigt und diskutiert werden sollten, damit wir eine
Ahnung von dem bekommen, was auf uns zukommen
kann und was wir regeln müssen, damit kein Missbrauch
geschieht.
Die Medizin war immer ein Grenzgebiet. Die ArztPatienten-Beziehung war etwas Heiliges, bei dem keiner
dazwischenfunken durfte. Die Dyade Arzt/Patient war etwas, bei dem das Interesse Dritter nichts zu suchen hatte.
Das hat sich geändert, zum Beispiel als die Transplantationsmedizin hinzukam, als die Organe von Patienten für
andere genutzt werden sollten. Das hat sich jetzt auch in
Bezug auf den Lebensanfang geändert, nämlich wenn es
darum geht, Embryonen, die, wie man sagt, überzählig
seien, zu verwerten, um daraus Medikamente zu machen.
Hier ist ein besonderer Schutz nötig und hier brauchen wir
gesetzliche Regelungen.
Herr Kollege Wodarg,
ich muss Sie jetzt doch ein bisschen bremsen, weil Ihre
Redezeit weit überschritten ist.
In Ordnung. Wir haben
leider nur sehr kurze Redezeiten. Meine Kollegen werden
auf die einzelnen Punkte wahrscheinlich noch eingehen.
Ich möchte zum Schluss all denen Dank sagen, die
mitgearbeitet haben: den Sachverständigen, den Mitarbeitern im Büro der Enquete-Kommission, aber auch den
Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros und in den Fraktionsbüros. Ich glaube, wir haben auch durch die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit gezeigt, wie gut es ist,
dass man sich über diese Themen streitet. Der Nationale
Ethikrat, der von der Bundesregierung als Antwort auf die
Enquete-Kommission eingerichtet wurde, hat die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung gesteigert. Ich bin dem
Kanzler also ausdrücklich dankbar, dass er sich hier gewappnet und einen Ethikrat eingesetzt hat, was die Medien
dazu gebracht hat, diesem Thema die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Aufmerksamkeit brauchen wir für
eine breite Debatte.
Ich denke, wir haben gemeinsam viel geleistet. Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die
Zusammenarbeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir, die Mitglieder der Enquete-Kommission „Recht und
Ethik der modernen Medizin“, sind natürlich einerseits
sehr zufrieden, dass wir heute unseren Schlussbericht vorstellen können. Auf der anderen Seite - ich glaube, hier
kann ich für alle Mitglieder der Enquete-Kommission
sprechen - sind wir auch ein wenig unzufrieden, vor allem deswegen, weil wir noch viele andere Themen hätten
behandeln wollen, für die die Zeit einfach nicht ausreichte.
({0})
Ein Grund dafür war, dass wir unsere Arbeit als EnqueteKommission erst vor zwei Jahren aufnehmen konnten.
Dass unsere Enquete-Kommission zuletzt eingesetzt worden ist, lag auch daran, dass es maßgebliche Leute gab,
die eine öffentliche und demokratische Diskussion über
die Biotechnologie beim Menschen verhindern wollten.
({1})
Es ist letztendlich aber gerade diese öffentliche Diskussion, die es dazu kommen ließ, dass über alle Parteigrenzen hinweg die Einsicht wuchs, dass das Thema Bioethik
in der Gesellschaft und im Parlament diskutiert werden
muss.
Ein weiterer Grund, warum wir unser Pensum nicht so
leisten konnten, wie wir es wollten, war, dass wir mit immer neuen Themen konfrontiert wurden: mit der Biopatent-Richtlinie, den embryonalen und adulten Stammzellen, dem so genannten therapeutischen Klonen, dem
reproduktiven Klonen, mit Gentests, Keimbahninterventionen, mit der Präimplantationsdiagnostik und der Europäischen Grundrechte-Charta; um nur einige Themen zu
nennen.
Im Verlauf der zweijährigen Beratungen stießen wir
immer wieder auf ganz grundsätzliche Fragen: Wann
beginnt der Mensch? Wann ist er Träger der Menschenwürde? Und vielleicht noch viel schwieriger zu beantworten: Wann ist der Mensch tot? Dabei haben wir uns
nicht nur mit neuen Themen in Forschung und Medizin
beschäftigt, sondern auch neue Fragen zu alten Themen
gestellt. Wir haben nicht nur gefragt, ob man viele Schritte
nach vorne machen soll oder nicht, ob wir Grenzen und,
wenn ja, welche wir setzen sollen und was wir fördern
oder was wir nicht fördern sollten. Wir haben auch gefragt, ob wir nicht in manchen Bereichen, ohne darüber zu
diskutieren und ohne dass es uns aufgefallen wäre, schon
viel zu weit gegangen sind.
Ein Beispiel dafür ist die Pränataldiagnostik, zum
Beispiel der vorgeburtliche Gentest. Nirgendwo zeigt sich
deutlicher als bei der jetzigen Praxis der Pränataldiagnostik, wie diese Technik unser Leben verändert hat. Die
Schwangerschaft ist in den letzten 30 Jahren Schritt für
Schritt von einem natürlichen Ereignis zu einem total
kontrollierten, überwachten und technisierten Vorgang
geworden. Um zwei Zahlen zu nennen: 1970 gab es in
Deutschland sechs Fruchtwasseranalysen. 1995 - das
steht in dem Bericht des Technikfolgenabschätzungsbüros des Deutschen Bundestages - gab es allein in den
alten Ländern 61 794 Amniozentesen, also Fruchtwasseranalysen. Hatte man am Anfang behauptet, diese Tests
sollten nur in extremen und seltenen Fällen durchgeführt
werden, gelten heute 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften als Risikoschwangerschaft. Immer neue Tests
kommen auf den Markt. Das Fahndungsnetz nach krankem und behindertem Leben wird immer dichter.
Sogar Schadensersatzklagen kommen vor, weil ein behindertes Kind geboren worden ist.
({2})
Nicht, weil man einen Pränataltest verpasst hätte, mit dem
man dem Kind hätte helfen können! Nein, es gibt Schadensersatzklagen, weil dieses Kind nicht im Mutterleib
getötet worden ist. Ich denke, dass dies - auch wenn es alt
ist und wir uns damit vielleicht sogar schon abgefunden
hatten - ein ganz wichtiger Punkt ist, über den im neu gewählten Deutschen Bundestag unbedingt noch einmal
diskutiert werden muss.
({3})
Meine Damen und Herren, ich als Abgeordneter habe
noch kein parlamentarisches Gremium erlebt - das muss
ich wirklich sagen -, in dem die Parteizugehörigkeit der
Mitglieder so unwichtig war.
({4})
- Ja, es stimmt: Ich habe es genossen. Das gebe ich zu.
({5})
- Auch die Genossen; auch das gebe ich zu. Es war mal so
und mal so, wie das eben so ist.
Entscheidend waren stattdessen ethische Überzeugungen, die Einsicht in das Notwendige und Sachkenntnisse,
die wir als Abgeordnete den Sachverständigen in unseren
Anhörungen zu verdanken haben. Selten hat eine
Enquete-Kommission so viel Beachtung in den Medien
und in der Bevölkerung gefunden. Ich gebe zu: Das war
nicht nur so, weil sich Abgeordnete gerne im Fernsehen
oder in der Zeitung wiedererkennen. Das war so gewollt.
({6})
Wir haben von Anfang an Wert auf die Beteiligung der Öffentlichkeit und auf Transparenz gelegt. Neben öffentlichen Anhörungen und Dialogveranstaltungen haben wir
uns auch Diskussionen im Internet gestellt.
Mein Dank - da darf ich mich Wolfgang Wodarg anschließen - gilt nicht nur den Sachverständigen, von denen ich einige auf der Zuschauertribüne begrüßen darf.
Herzlich willkommen!
({7})
Sie haben mit enormem Engagement einen Großteil der
Arbeit geleistet. Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Enquete-Büros - ich gebe zu,
dass sie es nicht immer ganz leicht mit uns hatten ({8})
und natürlich der Fraktion und allen beteiligten Bundestagsabgeordneten.
Auch wenn wir heute über unseren Schlussbericht
diskutieren, wissen wir alle: Wir stehen nicht am Ende der
Debatte, sondern an deren Anfang. Wir sind uns einig
- ich hoffe, auch das kann ich für alle sagen -, dass die
Bio- und die Gentechnik für unsere Zukunft eine Schlüsselrolle spielen werden. Sie bieten enorme Chancen und
kein vernünftiger Mensch will Forschung und Fortschritt
verhindern.
Wir sehen aber auch Gefahren und Risiken: Kommt
der Mensch nach Maß? Ist die Präimplantationsdiagnostik, also die genetische Selektion im Reagenzglas, nicht
der nächste Schritt zu einer eugenischen Selektion? Schon
gibt es einen Gentest, der die Embryos auf Lernbehinderung testet. Einige träumen inzwischen von der völlig
kontrollierten Zeugung. Der Nobelpreisträger James
Watson will die Gesellschaft zu einer, wie er sagt, genetischen Weltsicht bringen und die Geburt erblich belasteter Kinder durch PID und Abtreibung verhindern.
Was heute wie Science-Fiction klingen mag, kann morgen Realität sein; schließlich ist heute schon Realität, was
vor zehn Jahren noch als Science-Fiction abgetan wurde.
Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass wir heute
darüber reden, durch das Klonen den eigenen genetischen
Zwilling zu produzieren, um ihn als Ersatzteillager zu
nutzen? Hätten wir uns damals vorstellen können, dass ein
Privatunternehmen die genetischen Daten und Krankenakten eines ganzen Volkes kauft, um sich Patente zu sichern? In Island ist das passiert. Hätten wir geglaubt, dass
sich eine über 60-jährige Frau von ihrer Tochter Eizellen
spenden lässt, um dann ihren eigenen genetischen Enkel
auszutragen? Oder hätten wir geglaubt, dass es Wissenschaftler gibt wie ein Forscherteam der University of
Bath, dem es gelungen ist, Frösche ohne Kopf zu produzieren, unter anderem mit der Begründung, wenn dies
auch beim Menschen gelänge, hätte man die idealen Ersatzteillager.
Sicher sind dies alles Extrembeispiele. Sie zeigen aber,
dass es, wenn man keine gesetzlichen Grenzen setzt,
keine Grenzen geben wird. Wir als Parlament müssen
diese Diskussion führen und gegebenenfalls auch die
Grenzen setzen.
({9})
Wir dürfen diese Fragen nicht allein den Fachzirkeln der
Wissenschaft überlassen und sie auch nicht an irgendwelche Ethikräte delegieren.
Ab und zu wurde der Mehrheit der Enquete-Kommission vorgeworfen - das konnte man in der Presse lesen -,
sie sei zu restriktiv und - auch das sind Worte, die gefallen sind - es gebe eine Inflation des Menschenwürdebegriffes. Außerdem - auch das nehmen wir zur Kenntnis würde im Ausland, vor allem in der EU, sowieso alles gemacht, was man machen könne.
Angesichts einiger Entwicklungen, die ich gerade dargestellt habe, glaube ich nicht, dass es gefährlich wird,
wenn wir den Begriff der Menschenwürde zu breit fassen. Ich glaube eher, es wird gefährlich, wenn wir ihn zu
eng fassen. In unserem Grundgesetz steht nicht ohne
Grund an erster Stelle, auch aufgrund der Erfahrungen,
die wir vor 1945 bei der Nazimedizin und der Nazieugenik gemacht haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es gibt hinter diesem Art. 1 im Grundgesetz
keine Klammerbemerkung, in der es heißt, „es sei denn,
im Ausland wird die Menschenwürde auch angetastet“
oder „es sei denn, unser Wirtschaftsstandort ist gefährdet“. Nein, meine Damen und Herren, es ist unsere
Pflicht, diesen Artikel zu schützen. Es ist unsere Pflicht,
die Menschenwürde für jeden Menschen durchzusetzen,
egal ob behindert oder nicht behindert, ob krank oder gesund, ob alt oder jung, ob geboren oder ungeboren.
Dass wir die Chancen des Fortschritts nutzen, die Risiken und Gefahren abwehren, dass wir das eine von dem
anderen unterscheiden und als Gesetzgeber unsere Pflicht
tun, gehört auch zukünftig zu unserer eigenen, ursprünglichen Verantwortung als Parlament.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Als eine Initiatorin der Enquete-Kommission kann ich sagen: Die Einsetzung war ein parlamentarischer Selbstbehauptungsakt, aber auch ein Erfolg.
Die Bildung des Nationalen Ethikrates als Konkurrenzgremium konnte ihrem Ansehen nichts anhaben. Die Enquete-Kommission hat die vorausschauende Erfassung
der zentralen Menschenrechtsfragen der Moderne, die immer nur der Souverän als erster Verfassungsinterpret beantworten kann, thematisiert und zukunftsweisende Antworten zur Wahrung der Werte gegeben.
Das Niveau, den Maßstab für die inhaltliche Befassung
mit der Menschenwürde im Zeitalter unübersehbarer Gefährdungen haben alle Mitglieder gemeinsam gesetzt.
Menschheitsgeschichtlich neu ist die Erzeugung - nicht
die Zeugung - eines Menschen. Darum ranken die Überlegungen zum Leiblichkeitskonzept der Menschenwürde.
Wenn es der Frau als Schwangeren und Gebärenden
nicht mehr bedarf, um einen Menschen in die Welt zu
bringen, dann sind die wirklich großen Unfreiheiten, ja
Fremdbestimmungen künftiger Generationen und Individuen in der gentechnischen Manipulation am Embryo in
vitro zu sehen. Wenn er von der Zugehörigkeit der Gattung Mensch ausgeschlossen wird, weil er als Zellgebilde
vorführbar, handhabbar geworden ist und sich bei manchen deshalb keine moralischen Skrupel regen, dann ist
das kein Argument für die Vernutzung. Wenn er kein Eigenrecht haben soll, dann wäre der weiteren Verzweckung
des Menschen nicht mehr prinzipiell, sondern höchstens
noch graduell etwas entgegenzusetzen. Um nichts weniger geht es.
({0})
Ich meine, die Etablierung des utilitaristischen
Menschenrechtskonzeptes findet bereits statt; denn der
Forschungszweig „Stammzellforschung“ basiert auf der
In-Dienst-Setzung des Embryos für fremdnützige Interessen. Aus ihm ist schon ein Produkt geworden. Damit ist
meiner Auffassung nach das Embryonenschutzgesetz in
diesem Feld praktisch und faktisch umgangen worden.
Die nächsten Aufweichungen und Gesetzesänderungen werden schon für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl angekündigt. Ich sage es noch einmal: Egal wie
die Akzeptanzrhetorik auch lauten wird, die PID ist Eugenik ohne Schwangerschaft und hat mit der Selbstbestimmung der Frau und reproduktiver Autonomie nichts
zu tun.
({1})
Sie ist Selektion und bietet den Einstieg in die Erzeugung
überzähliger Embryonen. Deshalb hat die deutsche Ärzteschaft letzte Woche ein eindeutiges Nein dazu gesagt.
Dafür möchte ich mich bedanken.
({2})
Als ein wohlfeiles Instrument für eine schleichende
Kommerzialisierung des frühmenschlichen Lebens und
die eigentumsrechtliche Aneignung des Phänomens des
Lebendigen, der Gene, hat sich die EU-Harmonisierung
erwiesen. Die Enquete-Kommission hat aufgezeigt, dass
das Stoffpatent prinzipiell untauglich ist, um auf dem Feld
biotechnologischer Erfindungen Patentschutz zu gewähren. Es kann nur Verfahrenspatente geben. Gene und
Gensequenzen sind Erfindungen der Natur, nicht des
Menschen; er hat sie lediglich entdeckt.
Das reduktionistische Verständnis von der Funktion
der Gene als der Bibel des Lebens ist widerlegt. Die Phänomene des Lebendigen sind eben nicht in Funktionspatente zu pressen.
Ja, ich konnte und wollte mit den mir zur Verfügung
stehenden politischen Mitteln das Patent auf Leben verhindern. Dank einer außerordentlich präsenten Öffentlichkeit ist es auch gelungen. Die EU-Biopatentierungsrichtlinie wird nicht umgesetzt.
({3})
Jetzt muss erreicht werden, dass die EU-Richtlinie zur
Arzneimittelzulassung verändert wird, da sich sonst ein
konzertiertes Verwertungsmonopol für einzelne weltweit
agierende Pharmakonzerne manifestieren könnte.
Auf der gesamten EU-Ebene zeigt sich: Mit der
Bioethikkonvention, der Biopatentierungsrichtlinie und
der Europäischen Grundrechte-Charta wird auf das angelsächsische Menschenrechtsverständnis Bezug genommen. Aufgrund der Grundrechtsrelevanz aller biopolitischen Entscheidungen und wegen des Supranationalisierungsprozesses, der sich im Verfassungskonvent widerspiegelt, ist es unverzichtbar, auf der universellen Gültigkeit des Art. 1 unseres Grundgesetzes zu bestehen,
keine biologistische Menschenrechtsdogmatik und kein
gestuftes Lebensschutzkonzept für den Embryo in vitro
zu akzeptieren und keine Spaltung in Mensch und Person
hinzunehmen. Dies dürfen wir weder am Anfang noch am
Ende des Lebens tun.
({4})
Mit diesen neuen Menschenrechtsfragen, die wir in der
Enquete-Kommission mehrheitlich so beantwortet haben,
wie Sie es kennen, sind wir in Deutschland nicht allein.
Unser fundamentales Werteverständnis steht im Gegensatz zu dem nützlichkeitsethischen Ansatz manch anderer
Staaten. Deshalb tauchen im Prozess der Europäisierung
immer wieder Differenzen von großer Brisanz auf.
Mitunter wird vorgegeben, dass wir bei den Entscheidungen, die wir in dieser Legislaturperiode getroffen haben, die Grundsatzfragen entschieden hätten. Ich bin der
Meinung, dass die Wertedebatte in der nächsten Legislaturperiode an Schärfe zunehmen wird, gerade weil die
Ethik der Interessen immer populärer wird. Mitunter wird
auch vorgegeben, dass der Embryonenschutz Bestand haben könnte, wenn Präimplantationsdiagnosik und Klonen
für therapeutische Zwecke erlaubt würden. Als Parlamentarier dürfen wir nicht so tun, als wäre mit dem Import embryonaler Stammzellen nicht bereits eine Werteentscheidung gegen das universelle Menschenwürdekonzept
gefällt worden. Ich betone nochmals: In Grundrechtsfragen gibt es keinen Kompromiss. Es gibt kein Sowohlals-auch, sondern nur ein Entweder-oder.
Ich bedaure, dass es nicht mehr zur Verabschiedung des
notwendigen Gentestgesetzes gekommen ist. Die Vorarbeiten liegen vor. Auch dies wird in der nächsten Legislaturperiode anstehen.
Wie alle Vorredner und alle Mitglieder der EnqueteKommission unterstreiche auch ich, dass Deutschland
spezifische Vorteile hat und unsere Debatten ein spezifisches Nachdenken auszeichnet, das auf den Erkenntnissen gegründet ist, die wir aus den Menschenrechtsverbrechen im Nationalsozialismus gezogen haben. Wir sind es
der historischen Verantwortung und der Verantwortung
gegenüber künftigen Generationen schuldig, die Menschenrechtsfragen der Moderne in der Intensität zu diskutieren, wie wir es getan haben.
Dem nächsten Bundestag bleibt vorbehalten, die parlamentarische Initiative für ein generelles völkerrechtliches
Verbot des Klonens menschlicher Embryonen zu ergreifen und ein Verbot des „Patents auf Leben“ als Erbe der
Menschheit zu erreichen. Das sind in der Tat Globalisierungsthemen von herausragender Qualität.
In meinem Sondervotum habe ich noch einmal eindringlich darauf abgehoben, dass durch die Herausnahme
der Fruchtbarkeit der Frau aus ihrer Leiblichkeit die Menschenrechtsfrage überhaupt erst aufgekommen ist. Den
philosophisch-feministischen Diskurs müssen die Öffentlichkeit und das Parlament fortführen, sollen Gewissensentscheidungen nicht unterhalb des Standes besten Wissens herbeigeführt werden. Frau Präsidentin, hier leuchtet
schon das rote Licht. Erlauben Sie mir zum Schluss meiner Rede dennoch eine persönliche Anmerkung: Auch
ich habe heute voraussichtlich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Ich danke all den unabhängig
denkenden und handelnden Abgeordneten anderer Parteien, die mit großer Emphase und Aufgeschlossenheit die
emanzipatorischen Werte in diesen Zukunftsfragen der
Menschheit gemeinsam mit mir verteidigt haben. Mit diesem Engagement konnte das Parlament als der Ort erfahren werden, an dem in angemessener Tiefe entschieden
wird. Ethik geht alle an; sie kann nirgendwohin delegiert
werden. Sie wurde hier als Gewissensfrage betrachtet und
das war richtig so. Ich hoffe, dass sich auch in der nächsten Legislaturperiode das Parlament in all dem als Souverän versteht.
Ich habe die Unverfügbarkeit des Menschen am Beginn und am Ende des Lebens als kulturelle Leitidee und
Basis meiner politischen Identität und meiner Arbeit unter Ausübung meines freien Mandates verstanden. Da ich
meine menschenrechtsphilosphischen Überlegungen wie
auch meine antimilitaristischen im konkreten Entscheidungsfall immer einer gewissenhaften Prüfung unterstellte, habe ich die Kraft gefunden, mich im Konflikt für
die Verteidigung dieser zivilisatorischen Werte zu entscheiden. Wenn Parteien auf die Repräsentanz dieser Positionen im Parlament verzichten und die Personen, die
diese Positionen entwickeln und vertreten, für verzichtbar
oder austauschbar halten, wird der Parlamentarismus mit
Sicherheit nicht gewinnen.
({5})
Ich bedanke mich für die Wertschätzung und das Vertrauen, das mir viele geschätzte Abgeordnete im Haus entgegengebracht haben. Wir konnten vieles, was wir mit unseren eigenen Fraktionen nicht hätten durchsetzen
können, durch Gruppenanträge leisten. Ich weiß, dass genau das in der Bevölkerung an uns Abgeordneten so sehr
geschätzt wurde. Wir konnten dies nur leisten, weil wir
den Mut hatten, unsichere Wege zu gehen. Wir stützten
uns nicht auf Funktionsmacht, sondern wir setzten auf die
Kraft unserer Argumente. In vielen Entscheidungen haben wir verloren.
Ich bin dankbar, wenn ich mit meiner Arbeit der Bevölkerung und dem Parlamentarismus etwas geben
konnte.
Danke.
({6})
Frau Kollegin
Knoche, Sie haben darauf verwiesen, dass das Ihre letzte
Rede im Hohen Hause war. Sie haben als Abgeordnete in
den letzten Jahren den bioethischen Diskurs in diesem
Hause entscheidend mit geprägt und frakionsübergreifend
dafür Respekt bekommen. Für Ihren neuen Lebens- und
Arbeitsabschnitt wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses und aller Kolleginnen und Kollegen alles,
alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Dr. Edzard Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich werde den
Versuchen einer Wertung nicht viel Neues hinzufügen
können, möchte es aber mit meinen Worten ausdrücken.
Ich habe die Formel gefunden, die beides, was hier zur
Sprache kam, zusammenfasst: Die Arbeit hat sich vollauf
gelohnt, aber es bleibt noch viel zu tun. Dies jedenfalls ergibt sich für mich eindrucksvoll aus dem vorliegenden
Schlussbericht, über den wir heute debattieren.
Aufgabe einer Enquete-Kommission ist es, ein schwieriges und komplexes Themenfeld umfassend aufzuarbeiten, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und so dem Parlament eine Grundlage für seine allfälligen Entscheidungen
zu geben. Wenn ich es richtig sehe, hat die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ diese
Aufgabe vollauf erfüllt. Dass man dieses Resümee ziehen
kann, liegt zum einen daran, dass die Arbeit der Kommission mit der Einsetzung autonom beratender Themengruppen und einer übergreifenden Obleuterunde bestens
organisiert war. Auch verfügte die Kommission - der Kollege Wodarg hat schon darauf hingewiesen - über einen
höchst fachkundigen, engagierten und immer auch überobligatorisch einsatzbereiten Helferstab. Ich will ausdrücklich hervorheben - ich glaube, es ist noch nicht hervorgehoben worden -: Die zielführende, feste, aber bei
allem Brennen für die einzelnen Sachfragen immer um
Objektivität bemühte Lenkung des Geschehens tat ein
Übriges. Deshalb möchte ich an dieser Stelle der Vorsitzenden, der Frau Kollegin von Renesse, herzlich danken.
({0})
Ohne Ihre Arbeit, Ihr Wirken, Ihr Herzblut in der Sache und
ohne im Übrigen die Hilfe der Mitarbeiter wäre diese Kommission nicht so erfolgreich und fruchtbar gewesen, wie
wir es heute feststellen können. Dafür herzlichen Dank.
({1})
Zum anderen hat sich als überaus hilfreich erwiesen
- auch das im Übrigen eine Frucht Ihrer Tätigkeit, liebe
Frau von Renesse -, dass die Kommission nach einem
gewissen Lernprozess weitgehend darauf verzichtet hat,
mit Mehrheit eine offizielle Meinung zu beschließen und
die Dissentierenden damit in ein Minderheitenvotum zu
treiben. Stattdessen wurden die verschiedenen Auffassungsvarianten jeweils sorgsam und ausführlich dargestellt und die betreffende Stimmenverteilung in der Kommission fand nur als Information Erwähnung. Diese
Vorgehensweise ermöglichte eine umfassende, offene
Sachinformation über alle Argumentationslinien, die man
dazu haben konnte, und sie setzte den Leser in die Lage,
sich auf diesem Raster eine eigene Meinung zu bilden. Es
sei deshalb durchaus auch angemerkt, dass in den wenigen Fragen, bei denen es zum parlamentarischen Schwur
gekommen ist, die Mehrheiten in Plenum und Kommission durchaus nicht parallel liefen.
Weite Teile des Abschlussberichts und auch der eine
Zwischenbericht harren aber noch ihrer parlamentarischen Umsetzung bzw. Entscheidung. Das gilt etwa für
die Aktualisierung des Biopatentrechts ebenso wie für die
Fragen der Präimplantationsdiagnostik oder des genetischen Datenschutzes. Hier hat die Enquete-Kommission
gewissermaßen vorgearbeitet und Parlament oder Bundesregierung liefen bisher den Entscheidungserwartungen hinterher. Zu den Biopatenten hatte schon die Debatte
des einschlägigen Zwischenberichts Nachbesserungsbedarf beim Entwurf erbracht, dem indessen bisher noch
nicht nachgekommen wurde oder nachgekommen werden
konnte. Für PID bzw. genetischen Datenschutz ist die gesetzgeberische Handlungsnotwendigkeit zwar hinreichend artikuliert worden - egal, ob eröffnend oder verhindernd -, die Mehrheit des Hauses fürchtete aber
offenbar im Vorfeld des Wahlkampfes eine emotionale
und kontroverse Debatte.
Alsdann: Dass noch viel zu tun übrig bleibt an enquetemäßiger Aufarbeitung in diesem Feld, ist schon vielfach
gesagt worden. Das bringt der Schlussbericht der Enquete-Kommission in seinem Teil E auch deutlich zum
Ausdruck. Hier werden verschiedene Themen aufgelistet,
zu denen das Parlament eine verbindliche Stellungnahme
abgeben sollte. Zuvor aber müsste der Problemkreis so
gründlich wie auch die bisherigen Fragen von einer Enquete-Kommission aufgearbeitet werden.
Das gilt etwa - der Bericht hat dem einen eigenen Unterabschnitt gewidmet - für die Bedingungen einer akzeptierbaren Forschung an einwilligungsunfähigen Personen. Hier drückt sich die Bundesrepublik immer noch um
eine verbindliche Positionierung zu den Regelungen der
Biomedizin-Konvention des Europarates von 1997.
({2})
Die Konvention ist mittlerweile ohne Deutschland in
Kraft getreten.
({3})
Verschiedene ihrer Normierungen, auch in den Zusatzprotokollen übrigens, wären für uns im Grunde
außerordentlich hilfreich und die vielleicht kritisch erscheinenden Festlegungen zur Forschung an einwilligungsunfähigen Personen könnte man durch Interpretations- oder Vorbehaltserklärungen bei der Unterzeichnung
begradigen. Das müsste dann im Ratifikationsprozess
entsprechend umgesetzt werden.
({4})
Versuche in dieser Richtung sind in der auslaufenden Legislaturperiode von den Mehrheitsfraktionen leider nicht
aufgegriffen worden. Der betreffende Handlungsauftrag
wartet nun auf Erfüllung durch das neu gewählte Parlament.
Auch zu Sterbehilfe und Sterbebegleitung - auch
hierzu ein eigener Unterabschnitt bei den Desideraten müsste, nachdem die europäischen Nachbarstaaten eigenwillige neue Regelungen geschaffen haben und die deutsche Rechtsprechung unsicher zu werden beginnt, der
Bundestag die Kraft finden, verbindlich Stellung zu nehmen.
({5})
Wenn es nach mir ginge, sollte diese Positionierung
deutlich abschlägig erfolgen. Zuvor müsste der Problembereich sozialpolitisch, medizinisch, ethisch und rechtlich
aber erst einmal umfassend aufgefächert und diskutiert
werden. Auch dafür scheint die Neueinsetzung einer Enquete-Kommission in der 15. Wahlperiode höchst erwünscht.
Jedenfalls nach Auffassung der FDP kann die im jetzigen Schlussbericht bilanzierte Arbeit der Kommission
insgesamt nur als gelungen und hilfreich bezeichnet werden. Ich meine, sie hat uns vor allem viele Anregungen für
eine angemessene Beantwortung der noch ausstehenden
Entscheidungsfragen gegeben. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode daran weiterzuarbeiten haben.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Am Ende einer solchen gemeinsamen Arbeit in einer Enquete-Kommission ist es
allgemein üblich, Dank zu sagen. Ich möchte das auch
tun. Mein allergrößter Dank gilt den Damen und Herren
Sachverständigen, die in unserer Enquete-Kommission
eine ganz gewaltige Arbeit geleistet haben. Inhaltlich ging
es häufig bis oberhalb der Grenze, die man jemandem zumuten darf.
({0})
Diese Sachverständigen, von denen viele oben auf der
Tribüne sitzen, und eine kritisch engagierte Öffentlichkeit
haben es uns, dem Parlament, überhaupt erst ermöglicht,
die Meinungsführerschaft in der sehr dringenden und am
Ende auch sehr tiefen Debatte über die Biopolitik zu
übernehmen. Frau Knoche wies bereits darauf hin, dass es
ein vornehmes Recht und eine Pflicht des Parlaments
- des Souveräns, wie sie sich ausdrückte - ist, diese Aufgabe wahrzunehmen.
Dennoch: Wer sich den Bericht ansieht, wird feststellen, dass die wichtigsten Punkte, die wir benannt haben,
diejenigen sind, die wir nicht bearbeiten konnten, nämlich
die so genannten Desiderate. Das liegt nicht nur, aber unter anderem daran, dass die Enquete-Kommission nur gegen den sehr harten Widerstand innerhalb der Regierung
und vieler Fraktionen durchzusetzen war. Ich denke, dass
auch die PDS mit ihrem Antrag zur Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission dazu einen gewichtigen Beitrag geleistet hat, der, gepaart mit der Aufforderung der
Öffentlichkeit an das Parlament, diese Enquete-Kommission einzurichten, am Ende zum Erfolg führte.
Ich gebe zu, dass es mich schmerzt, dass wir es zum
Beispiel nicht geschafft haben - es ist eine der offenen
Fragen -, zu sagen, was in diesem Zusammenhang eigentlich Gesundheit, Krankheit und Behinderung sind.
Wir konnten uns als Mitglieder der Enquete-Kommission
in diesem Punkt nicht verständigen. Diese Aufgabe bleibt
zukünftigen ähnlichen Gremien vorbehalten; sie muss
gelöst werden. Es konnten aber auch Fragen nach dem Erhalt des solidarischen Gesundheitssystems, nach dem
Umgang mit erblichen und chronischen Krankheiten und
nach dem Beginn und dem Ende des Lebens - es geht in
einer Gesellschaft, deren Leitbild scheinbar immer mehr
der perfekte Mensch zu werden droht, um ein selbstbestimmtes Leben mit Behinderungen - nicht beantwortet
werden. Das sind hoch ethische Fragen, die klarer politischer Aussagen und klarer rechtlicher Regelungen bedürfen. Daran muss weiter gearbeitet werden. Dennoch haben wir neben den Punkten, die offen geblieben sind,
natürlich etliches erreicht. Ich denke, wir alle haben Anlass, darauf stolz zu sein.
Eines der wichtigsten Ergebnisse ist: Inzwischen ist allen in der Gesellschaft klar, dass es um eine Weichenstellung geht und dass man die Weichen zurzeit in manchen
Bereichen noch stellen kann. Die Frage ist, ob die genetische Vermarktung oder das solidarische Miteinander
von Menschen in informationeller Selbstbestimmung die
Zukunft sein wird. Noch ist beides möglich. Ich hoffe,
dass Letzteres erreicht wird und dass wir dazu die entsprechenden gesetzlichen und anderen Regelungen finden.
Da wir in verschiedenen Themengruppen gearbeitet
haben, erlaube ich mir, zum Schluss auf drei Schlussfolgerungen der Themengruppe zu verweisen, die sich mit
den genetischen Daten befasst. Die erste Schlussfolgerung kann man wie folgt zusammenfassen: Wer immer
sich mit den genetischen Dispositionen von Menschen befasst, muss dies in großer Sachkenntnis tun. Dilettantismus und die Einstellung, jeder könne ein Labor aufmachen, dürfen nicht gelten.
Die zweite Schlussfolgerung lautet: Genetische Dispositionen von Menschen sind weder patentierbar noch sollten sie vermarktbar werden. Auch das ist noch nicht entschieden, im Gegenteil: Es gibt starke Tendenzen, diese
genetischen Dispositionen zu vermarkten. Aber wir haben
es noch in der Hand. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Sie jetzt Abgeordnete sind, und die zukünftigen Abgeordneten, dies in einer Richtung zu entscheiden, die dem Grundsatz der Würde, wie er im Grundgesetz niedergelegt ist, Rechnung trägt.
Schließlich gibt es die klare Aufforderung an den Bundestag, den Schutz vor Diskriminierungen wegen genetischer Dispositionen in Art. 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Diese Möglichkeit haben wir und können dann
entsprechende einfachgesetzliche Regelungen schaffen.
Insofern lautet der Appell, der von der Enquete-Kommission ausgeht: Das Parlament muss die Debatte und die
Entscheidung in der Hand behalten und darf sie nicht an
andere Gremien delegieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf
weitere gute Zusammenarbeit.
({1})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Mitglieder der Enquete-Kommission! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich bin heute in dieser
Debatte die einzige Rednerin, die nicht Mitglied der Enquete-Kommission ist. Gerade das nehme ich jetzt zum
Anlass, um Ihnen für all diejenigen, die nicht Mitglied der
Enquete-Kommission sind, aber den Bericht mit großem
Interesse zur Kenntnis genommen haben, Dank zu sagen
und Sie - lassen Sie mich das hinzufügen - ausdrücklich
zu loben.
({0})
Dieses Lob haben Sie nicht nur für den Bericht verdient, der gut, gründlich und lesbar ist. Ich darf darüber hinaus noch anmerken: Er ist nach zwei Jahren intensiver
Arbeit sogar rechtzeitig erschienen. Dieser Dank und dieses Lob beziehen sich auch auf die Arbeit und die Arbeitsweise dieser Enquete-Kommission. Ich fand es
außerordentlich klug, dass Sie in den vergangenen zwei
Jahren nicht alle Probleme, die besprochen werden mussten, sofort und gleichzeitig aufgenommen haben, sondern
sie gesichtet und dann die Punkte herausgegriffen haben,
die Sie gründlich und verantwortungsvoll bearbeiten
konnten.
Ich fand die Diskussion und den Umgang zwischen
Sachverständigen und Mitgliedern, die Abgeordnete waren, in der Enquete-Kommission sehr erfreulich. Ich kann
das ein wenig beurteilen, weil Sie mich einmal eingeladen
haben. Ich habe die Diskussion mit Ihnen als außerordentlich reichhaltig in Erinnerung. Es war auch so, dass
jemand, der glaubte, sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt zu haben, bei Ihnen immer noch etwas lernen
konnte. Das fand ich sehr gut.
Insgesamt gesehen kann man sagen, dass Sie Fakten
aus allen Bereichen auf den Tisch gelegt haben. Diese finden wir in dem vorliegenden Bericht wieder.
Ich fand es besonders bemerkenswert, dass Sie auch
über die Art und Weise, wie man denn eigentlich mit
Neuem umgehen sollte, und über die Frage, welche Aufgabe das Parlament bei der Beantwortung der zur Diskussion stehenden Fragen hat, diskutiert haben. Ich meine,
dass es keinen Sinn machen kann, sich neuen Fragen nur
mit der Projektion der eigenen Ängste oder Unsicherheiten in die Zukunft zu stellen. Wir alle wissen zwar, dass
Ängste und Sorgen wichtige Indikatoren und Signale
sind. Aber sie sind eben nicht alles.
Sie haben durch Ihre Methodendiskussion auch deutlich gemacht, dass es unverantwortlich wäre, mit der
manchmal von Technokraten verinnerlichten Hybris zu
sagen: Warum eigentlich nicht? Lass es uns doch jetzt machen! - Sie haben sich stattdessen gefragt: Was wollen wir
eigentlich? Was können wir wollen? Was dürfen wir wollen? Wie sieht unsere Werteskala aus? Was wissen wir?
Was können wir beurteilen? Mir hat es auch sehr imponiert, dass Sie Mahnungen zur Bescheidenheit, zur Sorgfalt und zur Behutsamkeit, wie sie Hans Jonas allen, die
sich mit solchen Fragen verantwortlich befassen, auf den
Weg gegeben hat, sehr wohl beherzigt haben.
Sie haben auch die Prinzipien, von denen Sie ausgehen,
sehr deutlich gemacht. Auf die Menschenwürde ist schon
mehrfach hingewiesen worden. Jeder hat Sorge, dass dieser Begriff so inflationär gebraucht wird, dass man nicht
mehr weiß, worum es bei ihm eigentlich geht. Aber ich
finde es bemerkenswert, dass Sie in Ihrem Bericht herausgestellt haben, was Menschenwürde ist und was sie
sein soll. Deswegen möchte ich die entsprechende Stelle,
die ich für so wichtig halte, zitieren:
Die Menschenwürde und die aus ihr folgenden
Grund- und Menschenrechte bilden den grundlegenden Maßstab zur ethischen und rechtlichen Bewertung der modernen Medizin.
Genauso ist es.
Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Ich fand es
ebenfalls bemerkenswert, dass Sie bei der Bewertung der
gemeinsam ermittelten Fakten nichts verkleistert haben.
Natürlich gibt es Unterschiede in der Bewertung bestimmter Tatsachen. Das ist so. Nach meiner Auffassung
wäre es falsch gewesen, wenn man so lange formuliert
hätte, bis die Formulierungen eigentlich alles getragen
und nicht mehr deutlich gemacht hätten, was die einen
und was die anderen meinen. Man hätte aus einem solchen
Bericht nicht mehr herauslesen können, „was eigentlich
Sache ist“.
Mit all dem, was Sie geleistet haben, haben Sie, glaube
ich, dem Parlament nicht nur eine gute Vorlage, sondern
auch ein Vorbild dafür gegeben, wie eine demokratische
Institution wie der Bundestag mit neuen Fragen umgehen
sollte. Für mich ist es wichtig, dass Sie genau hingeschaut
haben, was eigentlich los ist. Auf der einen Seite steht die
Unsicherheit in der Bevölkerung. Auf der anderen Seite
steht das enorme Forschungsinteresse, das wir jeden Tag
und in vielen Fällen immer wieder aufs Neue feststellen.
Alles, die Hoffnungen und die Chancen auf der einen
Seite und die Sorgen und die Ängste vor den Risiken auf
der anderen Seite, lässt sich in dem vorliegenden Bericht
wiederfinden.
Weil Sie die zur Diskussion stehenden Fragen ernst genommen haben und weil Sie über sie mit Fairness und
Transparenz diskutiert haben, haben Sie, glaube ich, Vertrauen geschaffen und - das ist für mich in einer Zeit des
Umbruchs, in der man sich mit neuen Fragen auseinander
setzen muss, besonders entscheidend - einen wichtigen
Beitrag zur Findung eines Konsenses über wichtige
Grundfragen in unserer Gesellschaft geleistet. Aus Ihrem
Bericht geht hervor, dass die neuen Formen der Medizin
zum Heilen und Helfen und nicht zum Klonen und zur Selektion eingesetzt werden sollen und dass die Kommerzialisierung auf keinen Fall Eingang in diesen Bereich finden darf.
({1})
Mehr konnte man in diesen zwei Jahren nicht tun. Dass
Sie die Arbeit in der einen oder anderen Form fortsetzen
müssen, ist klar. Der Bericht und Ihre Arbeit müssen Folgen haben. Die Öffentlichkeit kann den Bericht und die
Fakten darin zur Kenntnis nehmen, um sich darauf zu berufen, um auch auf die Überlegungen und die Feststellungen über die Prinzipien immer wieder zurückzugreifen.
Der Bundestag wird das tun müssen. Das gilt für den Teil,
in dem Sie über die Erfahrungen berichten, die es mit der
Reproduktionsmedizin und mit der pränatalen Diagnostik
gegeben hat, und auch für den Teil, in dem Sie Folgerungen zur Präimplantationsdiagnostik ziehen. Die sind
wirklich wichtig und es wert, gewürdigt und auch akzeptiert zu werden.
Ich halte es für völlig richtig, dass Sie gesagt haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen: In zwei Bereichen müssen wir gesetzlich tätig werden, einmal im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin - ich teile die präzisen Forderungen, die Sie aufgestellt haben - und zum anderen im
Bereich der Gentests;
({2})
da können wir mit den Eckpunkten, die wir aufgestellt haben, aber auch mit den sehr viel präziseren und weiterführenden Überlegungen im Bericht der Enquete-Kommission eine Menge tun.
Ich teile auch die Auffassung, dass die Enquete-Kommission ein wichtiger Diskussionspartner nicht nur für
den Nationalen Ethikrat, sondern auch für Enquete-Kommissionen und vergleichbare Gremien der anderen europäischen Staaten war und ist. Da ist das Parlament vorbildlich. Auch dafür möchte ich danken. Sie haben eine
gute Arbeit geleistet und eine Grundlage gelegt, auf der
wir in der nächsten Legislaturperiode sehr gut weiterarbeiten können.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Werner Lensing für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir alle - ein
jeder in seiner unverwechselbaren Verantwortung, sei es
als Mediziner oder Philosoph, als Molekularbiologe, Jurist, Wirtschaftsmanager oder Politiker - tragen höchst individuell Verantwortung dafür, dass heute nach der weitgehenden Entzifferung des menschlichen Genoms ein
Taumel wachsender Übertreibungen, unerfüllbarer Hoffnungen und atemberaubender Visionen die Menschen erfasst hat.
({0})
Die Gemengelage drohte uns alle in den Strudel zu ziehen.
Wir haben darauf zu achten, dass sie uns auch zukünftig
nicht aus der Kontrolle gerät.
In dieser schwierigen Situation, in diesem Spannungsfeld von Politik, Naturwissenschaft und Ethik, hat unsere
Kommission europaweit - so darf ich sagen - Maßstäbe
gesetzt.
({1})
Das gilt für die Form der Berichte ebenso wie für die vorbildliche Streitkultur und die gründliche Abwägung der
Empfehlungen zu den heute schon angesprochenen Themen. Insofern hätte gerade dieses Thema heute noch mehr
Aufmerksamkeit verdient, als derzeit wahrnehmbar ist.
({2})
Umso mehr erfreut uns alle das Lob der Bundesjustizminsterin. Frau Dr. Däubler-Gmelin, ich darf Ihnen sagen,
und zwar ganz objektiv: Was Sie vorgetragen haben, war
objektiv.
({3})
Wir alle haben es begriffen, meine Damen und Herren:
Die moderne Medizin stellt die Gesellschaft und damit
gerade auch uns Parlamentarier als Gesetzgeber vor völlig neue Herausforderungen und damit vor schier unlösbare Probleme. Hierbei hatten wir eine Vielfalt von medizinischen, ethischen, verfassungsrechtlichen, sozialen
und politischen Aspekten zu betrachten, völlig neue Dimensionen zu eröffnen, die aktuelle Forschungspraxis zu
berücksichtigen und gleichzeitig bei der gebotenen Güterabwägung eigene Kriterien für klare Grenzen vor dem
Hintergrund der Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten zu kreieren.
Wir haben auch dies begriffen: Die Gentechnik erfordert von uns eine Ethik, die nicht nur auf die Werte der
Aufklärung baut, das heißt auf die Autonomie der Menschen und die kühle Beherrschung der Natur, sondern die
zugleich eine Erkenntnis benötigt, nach der wir uns nicht
zuletzt in unserer leider völlig säkularisierten Welt auf ein
verbindliches Menschenbild zu verständigen haben, das
wiederum von einer verlässlichen Hierarchie der Werte
geprägt ist und fürderhin bestimmt sein muss.
({4})
Ich frage Sie gerade auch in diesem Kontext: Ist man
eigentlich schon dann ein Fundamentalist, wenn man
Fundamente der Moral verteidigt? Dabei ist die Moral
keine Frage von Experten oder Fachgremien, vielmehr ist
die Unterscheidung zwischen Gut und Böse einem jeden
individuell zuzumuten. Ansonsten würden wir Gefahr
laufen, die Moral kurzerhand den Erfolgen der Forschung
anzupassen.
Im Übrigen haben wir schließlich auch noch dieses begriffen: Viele der Politiker, die auf der Hut sein müssen,
schlimmstenfalls nur wenig verhindern und kaum noch
etwas verändern zu können, finden bei ihrem schwierigen
Entscheidungsprozess Orientierung in der Präambel unseres Grundgesetzes, nach der wir in „Verantwortung vor
Gott und den Menschen“ zu handeln haben.
({5})
Schließlich hat Gott den Himmel für die Erde geöffnet
und wir wiederum haben den Auftrag, die Erde für diesen
Himmel offen zu halten.
Freilich muss man nicht unbedingt Christ sein, um in
dieser Welt verantwortlich handeln zu können, doch als
Christ erkennt man vermutlich besser den Zusammenhang von vernünftigem Handeln und christlichem Gebot.
Unbestritten war in unserer Enquete-Kommission von
Anfang an, dass die Menschenwürde im Bereich der
Bioethik, vor allem in Fragen von Leben und Tod des
Menschen, eine ausschlaggebende Rolle spielt. Auch
wenn ich persönlich fest zu den christlichen Wurzeln des
Menschenwürdeprinzips stehe, habe ich die Einsicht gewonnen, dass das Institut der Menschenwürde zu seiner
Begründung nicht zwingend ausschließlich einer christlichen Grundüberzeugung bedarf. Auch so genannte humanistische Ethiken halten an einer entsprechenden Begründbarkeit ihrer Moral fest.
({6})
Zuweilen gewinnt man allerdings den Eindruck, es
könnte zu einer Überstrapazierung der Menschenwürde
kommen, wenn alle menschlichen Aspekte und Bedürfnisse - von der karitativen Hilfe bis zur Euthanasie, von
der Verkürzung der Arbeitszeit bis hin zur Abtreibung als
Verfügungsrecht über den eigenen Leib - in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Menschenwürde gebracht werden. Daher warne ich vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ausdrücklich davor, sich allein schon
aufgrund des täglich zu vernehmenden Hinweises, die
Forschung würde selbstverständlich durch Wahrung der
Menschenwürde ihre natürliche Begrenzung erfahren, in
irgendeiner Weise vordergründig beruhigen zu lassen.
({7})
Gestatten Sie mir, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, noch drei aus meiner Sicht eminent wichtige Problemfelder in der gebotenen Kürze aufzuzeigen: Hierbei
geht es mir als Christdemokraten zum einen um die Einflussmöglichkeiten der Kirchen auf politische Entscheidungen und zum anderen um eine grundsätzliche, wenn
auch kurze Bewertung der Präimplantationsdiagnostik
- auf die Sie auch sehr deutlich abgehoben haben, Frau
Kollegin Knoche - und um einen knappen Hinweis auf
das verabschiedete Stammzellengesetz.
Zunächst zu den Kirchen: Im Gegensatz zur Politik
hat die Kirche bekanntlich den berechtigten Anspruch,
ihren Gläubigen eine geistig-moralische Grundlage für
die Gestaltung ihres Lebens und die Entscheidung in Problemlagen anzubieten. Da sie aber nicht der Gesetzgeber
für alle Menschen in Deutschland ist, kann sie von ihren
Mitgliedern durchaus die Berücksichtigung der von ihr
vorgegebenen Regeln verlangen.
Ganz anders ist die Ausgangslage beim Staat und damit
auch für uns, den Gesetzgeber: Wenngleich sich christliche
Politiker natürlich den Kirchen in besonderem Maße verbunden fühlen, sind sie jedoch all ihren Wählerinnen und
Wählern - dazu gehören eben auch die von den Kirchen
nicht mehr erreichbaren Bürgerinnen und Bürger - insgesamt verpflichtet. Darüber hinaus ist es auch schwierig,
wenn die Kirchen mitunter bei Politikern die Einhaltung
einer Linie einfordern, die von einer nicht unerheblichen
Zahl der Kirchenmitglieder gar nicht mehr unterstützt
wird. Ich denke in diesem Zusammenhang unter anderem
auch an deren Positionen zur Fortpflanzungsmedizin oder
zur Verhütung.
Nun ein Gedanke zur Präimplantationsdiagnostik:
Ausgehend von der Beurteilung, dass die PID nach der aktuellen deutschen Rechtslage verboten ist, bedarf es in der
Tat gewichtiger Gründe, um eine Zulassung der PID
selbst in sehr engen Grenzen rechtfertigen zu können,
wobei es freilich gleichzeitig gilt, die denkbaren Folgen
einer möglichen Zulassung zu berücksichtigen. Doch
stellt sich mir die Frage, warum man es einem Embryo zumuten darf, sich über seine frühesten Stadien fortzuentwickeln, um gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt
im Rahmen der Pränataldiagnostik abgetrieben zu werden. Gerade hier scheint mir der Hinweis auf die Menschenwürde besonders wichtig zu sein. So habe ich trotz
aller ernsten Diskussionen immer noch nicht begriffen,
weshalb insbesondere ein künstlich erzeugter Embryo
der Pränataldiagnostik unterzogen werden und unter
bestimmten Umständen sogar abgetrieben werden darf,
ohne dass dies angeblich seiner Menschenwürde widerspricht, wohingegen es allein durch ein anderes diagnostisches Verfahren, also die PID, zu einem Verstoß gegen
die Menschenwürde kommen soll.
({8})
Meine tiefen Zweifel richten sich allerdings gegen die Ansicht derer, die meinen, diesen Widerspruch verantwortungsvoll auf der Basis eines so genannten Kriterienkatalogs durch eine bedingte Zulassung der PID auflösen zu
dürfen und somit verbindlich regeln zu können.
Meine Damen und Herren, wir haben sehr um die Frage
eines Imports embryonaler pluripotenter Stammzellen
welcher Art auch immer gerungen. Es wäre zumindest aus
meiner subjektiven Sicht zu einem großen Wertungswiderspruch gekommen, wenn wir den Embryonenschutz
auch auf diejenigen ausgedehnt hätten, die wir ohnehin
nicht mehr retten können. Zudem hätten wir dann, nur um
einen verlockend einfachen Weg zu wählen, sämtliche entsprechenden Forschungsansätze in Deutschland vereitelt,
die letztlich auf die Förderung von Gesundheit und Leben
von Menschen gerichtet sind. Gerade dieser Wertungswiderspruch konnte durch das kürzlich verabschiedete
Stammzellgesetz verantwortlich vermieden werden.
({9})
Meine Damen und Herren, ich fasse das bisher Gesagte
in sechs Punkten zusammen:
Erstens. Die gesamte bioethische und genpolitische
Diskussion und alle in diesem Zusammenhang gebotenen
Entscheidungen wurden von unserer Enquete-Kommission und nicht etwa vom Nationalen Ethikrat bestimmt.
Das ist zugleich ein überzeugendes Bekenntnis zur lebendigen Demokratie und damit zu einer parlamentarischen
Legitimation.
({10})
Zweitens. Wie unter anderem von meinen Kollegen
Schmidt-Jortzig und Hüppe bereits erwähnt, werden in
der 15. Legislaturperiode Themen wie Stammzellforschung, Klontechnik, Keimbahnintervention, Präimplantationsdiagnostik ebenso wie die Problemfelder der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen und
Fragen der Sterbebegleitung und Sterbehilfe im Fokus
unserer Auseinandersetzungen stehen. Deswegen bedürfen wir baldmöglichst nach der Bundestagswahl einer
parlamentarischen Institution - ich schließe mich meinen
Kolleginnen und Kollegen, die Ähnliches formuliert haben, ausdrücklich an -, in der Abgeordnete und Wissenschaftler vertreten sind.
Drittens. Mit der heutigen Lesung übergibt die Enquete-Kommission nunmehr nicht nur die schriftlichen
Ergebnisse ihrer Tätigkeit, sondern sie vermittelt zugleich
Methoden, wie vor dem Hintergrund ethischer Kontroversen Konsenssuche stattfinden kann.
Viertens. Ich wiederhole das, was wir bereits zu Recht
gehört haben: Wir haben der lieben und verehrten Vorsitzenden, Frau von Renesse, allen Sachverständigen sowie
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für einen immensen Arbeitseinsatz und, was für mich noch viel wichtiger
ist, für eine überzeugende Redlichkeit in allem Bemühen
zu danken.
({11})
Fünftens. Uns bleibt über den heutigen Tag hinaus der
Spagat zwischen Ethik und Wirtschaftsinteresse, zwischen Forschungsfreiheit und Gewissen, zwischen dem
Wunsch nach Heilung und dem Recht auf Leben.
Sechstens. Dabei sollten wir uns - hierbei folge ich unserem Sachverständigen Professor Dr. Johannes Reiter
ganz bewusst - von der trügerischen Vision frei machen,
allein mit Wissenschaft und Gentechnik könne man ein
Paradies auf Erden schaffen und jede Lebensnot bewältigen. Eine von Krankheit und jeglichem Leid befreite
Menschheit bleibt - bei aller Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber hoffnungsvoll erwarteten Ergebnissen
der Medizin - leider oder vielleicht auch Gott sei Dank
eine Utopie.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr darüber, dass der ausführliche
Bericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ jetzt vorliegt. Viele Arbeitsstunden
sind in diesen Bericht investiert worden. Wie meine Vorredner möchte ich mich bei Ihnen, Frau von Renesse, ganz
herzlich bedanken. Sie werden uns und mir im nächsten
Bundestag fehlen. Ich möchte mich bei all den Sachverständigen und bei dem Sekretariat, ohne deren maßgebliche Arbeit dieser Bericht gar nicht zustande gekommen
wäre, ebenfalls bedanken. Ich bedanke mich darüber hinaus bei meiner Kollegin Monika Knoche. Auch von dieser Stelle aus wünsche ich ihr auf ihren weiteren Tätigkeitsfeldern alles Gute.
({0})
Wichtig ist, dass diese Enquete-Kommission es geschafft hat, Strukturen und Leitfäden für die ethische Bewertung hochsensibler Fragen in ganz unterschiedlicher
Form herauszuarbeiten. Ich möchte mehrere Bereiche
herausheben und dabei die Gelegenheit nutzen, mich dem
Mehrheitsurteil der Enquete-Kommission, an dem Verbot der Präimplantationsdiagnostik festzuhalten, anzuschließen.
Eines hat mir die Diskussion in der Enquete-Kommission ganz deutlich gezeigt: Bei der Präimplantationsdiagnostik sind Grenzen zu setzen; es muss verboten
bleiben, dass menschliche Embryonen in vitro unter dem
Vorbehalt gezeugt werden, vernichtet zu werden, wenn
eine Behinderung bzw. ungewollte genetische Disposition vorliegt. Da sind - auf jeden Fall für mich - die Grenzen gesetzt. Ich sehe, dass damit gegen das Grundgesetz,
gegen die Menschenwürde, gegen das Recht auf Leben
sowie gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen würde. Anders als am Anfang, als ich noch glaubte, es könne
eine Indikationslösung geben, glaube ich das nun nicht
mehr.
Ich glaube, dass die Enquete-Kommission große Verdienste im Bereich der Stammzellforschung und des Imports embryonaler Stammzellen hat. Ohne die EnqueteKommission wäre die besonnene Entscheidung des
Bundestages nicht zustande gekommen. Die wichtigste
Grundlage zur Entscheidungsfindung der Abgeordneten
war die Diskussion in der Enquete-Kommission und damit in der Öffentlichkeit.
({1})
In der Frage der Biopatentierung waren wir uns trotz
Differenzen in einem wesentlichen Punkt einig. Wir alle
haben die Auffassung vertreten, dass das heutige Stoffpatent zum Schutz des geistigen Eigentums belebter Materie nicht geeignet ist. Ich bin inzwischen überzeugt, dass
es eines guten Umsetzungsgesetzes bedarf. Ich bedauere
es ausdrücklich, dass es uns nicht gelungen ist, eine optimale Lösung zu entwickeln.
Eine Aussage von Professor Dr. Wolfrum hat in der
Debatte zwar keine besondere Rolle gespielt, war aber für
die Bewertung von großer Bedeutung. Professor
Dr. Wolfrum sagt:
Aber auch die verfassungsrechtliche Dimension ist
mir wichtig, weil nach meinem Eindruck bisher zu wenig deutlich wird, dass man nicht übersehen darf, dass
dem wichtigen Recht am geistigen Eigentum und
seinem grundrechtlichen Schutz durchaus Grundrechtspositionen Dritter auf Forschungsfreiheit und
freie wirtschaftliche Betätigung gegenüberstehen.
Hier und im Bereich der Gendiagnostik haben die Enquete-Kommission und übrigens auch die Fraktionen erheblich vorgearbeitet. Ich bin zuversichtlich, dass wir im
Verlaufe der nächsten Legislaturperiode diese Arbeit nutzen können, um hier zu Lösungen zu kommen.
Gleichermaßen wie meine Kolleginnen und Kollegen
bin ich der Auffassung, dass wir die weitere Arbeit der Enquete-Kommission in diesem wichtigen Bereich brauchen
und diese Arbeit fortführen sollten.
Vielen Dank.
({2})
Das war eine minutiöse Punktlandung, Frau Kollegin.
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Keine Angst, ich werde
jetzt nicht die Berichte der Enquete-Kommission vorlesen. Aber wir haben uns in den letzten beiden Jahren mit
viel Zeit und auf vielen Seiten Papier mit einem Gegenstand befasst, der auf einem der winzigen i-Punkte in dieWerner Lensing
sem Bericht viel Platz fände, nämlich mit dem menschlichen Embryo in seinen frühesten Phasen.
Wir haben uns mit folgenden Fragen befasst: Woher
kommt dieser Embryo? Was ist er? Wohin geht er? Was
kann man mit ihm machen? Was darf man mit ihm machen? Was darf man nicht mit ihm machen?
Die erste Frage - „Woher kommt der Embryo?“ - haben wir relativ schnell und einfach beantworten können:
Er ist entstanden aus der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Es bestand überwiegende Einigkeit in der Enquete-Kommission, dass das der einzige Weg ist, auf dem
ein Embryo hergestellt werden darf. Das reproduktive
oder das therapeutische Klonen ist - so meint es zumindest die überwiegende Mehrheit in der Enquete-Kommission - ein Tabu, das nicht gebrochen werden darf, weder
in Deutschland noch in der Welt.
({0})
Die Frage „Was ist der Embryo?“ war schon etwas
schwieriger. Aber wir haben gesehen: Er ist von Anfang
an menschliches Leben; er ist von Anfang an Mensch.
Schwierig und kontrovers wurde es bei der dritten
Frage: Wohin geht der Embryo? Was kann man mit ihm
machen? Was darf man mit ihm machen? Wir haben zwei
Beispiele gehabt, nämlich auf der einen Seite den Embryo
als Lieferanten für Stammzellen und auf der anderen Seite
den Embryo als Objekt einer Präimplantationsdiagnostik,
also einer Untersuchung auf mögliche Schäden.
Zu der Frage „Wohin geht der Embryo als Stammzellenlieferant?“ haben wir unter großem Zeitdruck unseren
Bericht verfasst, der dem Bundestag zum 30. Januar vorlag, als dieser eine grundsätzliche Entscheidung traf und
sich für den Import embryonaler Stammzellen aussprach,
obwohl sich die Enquete-Kommission mit einer Mehrheit
dagegen ausgesprochen hatte.
Zu dem zweiten Thema - der Embryo als Objekt einer
Präimplantationsdiagnostik - gibt es ebenfalls einen
fundierten Bericht. Anders als bei den Stammzellen wird
dieser Bericht Grundlage für eine sehr umfassende Diskussion in der nächsten Legislaturperiode sein können.
Viele Kollegen haben schon gesagt: Es wird zu diskutieren sein, ob die Präimplantationsdiagnostik zugelassen
werden kann oder nicht. Ich hoffe, dass der Bundestag
dann der überwiegenden Mehrheit der Enquete-Kommission folgt und die Präimplantationsdiagnostik nicht zulassen wird.
({1})
Es sind viele Fragen offen geblieben. Sie sind schon
genannt worden: Welches Bild von Behinderung gibt es in
dieser Gesellschaft? Wie geht man mit Behinderung um?
Was ist überhaupt Behinderung, Krankheit, Gesundheit?
Wie sieht das Gesundheitssystem der Zukunft aus? Diese
Fragen müssen in der nächsten Legislaturperiode diskutiert werden.
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode auch diskutieren müssen, in welcher Form dies geschieht: in Form
einer Enquete-Kommission oder in Form eines Ethikforums. Diese Vorschläge gibt es. Wichtig aber ist mir: Die
Zusammensetzung der Enquete-Kommission hat sich
bewährt. Die Nobelpreisträgerin Christiane NüssleinVolhard hat am 29.April in der „Mitteldeutschen Zeitung“
die Enquete-Kommission kritisiert, weil sie nicht unabhängig sei, weil sie nur aus Politikern bestehe. Ich sage
dazu: Das ist grundlegend falsch. Die Enquete hat sich
gleichermaßen aus Politikern und Sachverständigen zusammengesetzt. Genau das war und ist ihre Stärke.
({2})
Sie ist nicht neutral, aber sie ist eben unabhängig. Keiner
der Beteiligten hatte Interesse daran, bestimmte Entscheidungen zu treffen oder einen Vorteil aus ihnen zu ziehen.
Wir haben den menschlichen Embryo aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet: aus naturwissenschaftlicher, aus medizinischer, aus politikwissenschaftlicher
Sicht. Wir hatten Psychologinnen, Volkswirtinnen, Theologen und Philosophen dabei; viele der Politiker hatten
einen dieser Berufe. Das war eine faszinierende Arbeit.
Erlauben Sie mir abschließend eine persönliche Bemerkung: Ich habe in dieser Enquete eben durch diese unterschiedlichen Sichtweisen sehr viel gelernt.
Mein herzlicher Dank dafür, dass ich habe lernen können, und für die verrichtete Arbeit gilt nicht nur den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, sondern vor
allem den Sachverständigen - sie sitzen auf der Tribüne -,
die ich herzlich begrüße,
({3})
und den Mitarbeitern des Sekretariats, die häufig genug
unter uns gelitten haben. Das darf man an dieser Stelle sagen.
Trotzdem herrschte eine sehr gute Atmosphäre. Auch
dafür gilt mein besonderer Dank der Vorsitzenden Margot
von Renesse. Es ist gut, wenn Politik in einer solchen Atmosphäre gemacht werden kann.
Vielen Dank.
({4})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Margot
von Renesse.
Die gewesene Vorsitzende der gewesenen
Enquete-Kommission.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Als letzte Rednerin in meiner letzten Rede will auch ich
betrachten, was die Enquete meiner Meinung nach für
mich, für das Parlament und für sich selbst gewesen ist.
Als wir anfingen, war klar, dass wir den riesigen Sack
von Aufgaben, der in dem Einsetzungsbeschluss stand,
nicht würden erledigen können. Ich glaube auch, dass neben den - inzwischen auch von Fachleuten sehr gelobten - Fachberichten die Arbeitsmethode, die Art und
Weise, wie wir Probleme bewältigt haben, ein ganz wesentlicher Teil dessen ist, was wir getan haben und womit
wir, wie ich glaube, dem Parlament gedient haben.
Als wir anfingen, war die Atmosphäre vergiftet und
sie drohte zusätzlich vergiftet zu werden. Zwischen den
verschiedenen Fronten gab es keine Brücken. Die Kontrahenten beschimpften oder bezichtigten sich wechselseitig entweder des Fundamentalismus und der Forschungsblockade oder der Verachtung und Missachtung
der Menschenwürde und der heiligsten Güter der Nation.
Wenn die Scheiterhaufen nicht loderten, so wurden sie zumindest aufgestapelt, um bald lodern zu können, Ketzerverbrennung überall. Ich hatte Sorge, ob wir damit fertig
werden würden, denn, so fürchtete ich, die Konstellation
in der Enquete war gerade ihrer Geschichte wegen nicht
dazu angetan, einen Weg aus dieser Situation zu finden.
Es gab am Anfang - Herr Schmidt-Jortzig hat es angedeutet - entsprechende Schwierigkeiten. Ich will es nicht
verhehlen: Nicht nur die quergestrickte Vorsitzende, die
immer die Minderheit war, hatte ihre liebe Mühe und Not
mit der Enquete; die Enquete hatte auch ihre liebe Mühe
und Not mit ihr.
({0})
Aber genau das waren der Trick und das Geheimnis, denn
ich glaube, das Wesentliche, was wir getan haben, bestand
darin, zumindest in Etlichem nicht nur einen Weg zu finden, einander zu tolerieren und zu respektieren, sondern
auch, einander mit Neugier wirklich zu begegnen.
Ich habe neulich den Vortrag eines Professors der Jurisprudenz, jung an Jahren und gescheit von grauen Gehirnzellen, gehört, der wunderbar logisch stringent ableitete
- schön, das zu hören -, dass der Embryo eben keine
Rechtspersönlichkeit sei und dass die gesetzgeberischen
Spielräume groß seien. Darauf habe ich gesagt - das habe
ich gar nicht kränkend gemeint, aber es drängte sich mir
auf -, dieser Vortrag erreiche meine Seele nicht; damit
könne man nur Studenten überzeugen. Das meinte ich
nicht abwertend. Vielmehr gibt es eine Art, über Letztes,
über wirklich Tiefgreifendes zu reden - dabei geht es
nicht um die Straßenverkehrsordnung -, die sich in
Scheinrationalität erschöpft,
({1})
bei der in Wirklichkeit keine Begegnung stattfindet, sondern wo genau derselbe Gegenstand von dem jeweiligen
Gegner genauso logisch mit anderem Ergebnis dargestellt
werden kann, bei der man sich aber nicht überzeugt und
einander nicht näher kommt.
Wenn man versucht, die wirklichen Motive aufzudecken, aufgrund deren man selber zu bestimmten Wünschen kommt - denen der Verstand selbstverständlich
folgt -, dann wird es spannend - und auch schmerzhaft.
Wir scheuen in einer Gesellschaft, in der der Religionsunterricht uns nicht mehr die Sprache der Kommunikation mit dem jeweils anderen beibringt, offensichtlich das
Gespräch über letzte Fragen, obgleich letzte Fragen - das
haben die Enquete und die Debatte im Bundestag gezeigt - von gemeinschaftsstiftender, aber auch gemeinschaftsspaltender Qualität sein können.
Wir müssen es wieder lernen, einander so zu begegnen,
dass wir wissen: Die Wahrheit, die wir sehen, ist Wahrheit; leidenschaftlicher Kampf dafür, leidenschaftlicher
Streit darum ist angesagt. Aber auch die Wahrheit, die der
andere sieht, ist Wahrheit.
({2})
Wir sind keine Eulen, die ihren Kopf um 360 Grad drehen
können, sondern wir sehen immer nur Sektoren. Das sage
ich auch im Hinblick auf den Wahlkampf, an dem ich
mich nur noch begrenzt beteiligen werde.
Die Wahrheit des anderen wirklich wissen zu wollen
bedeutet - deswegen ist es so schmerzhaft -, dass man
seine eigene Wahrheit auch der Korrektur, der Ergänzung
und der Veränderung wirklich aussetzt. Man streitet nicht
nur dafür, dass man gewinnt oder siegt, sondern auch,
weil man auf diese Weise - insoweit ist der Streit der Vater aller Dinge - tatsächlich einander näher kommt.
Ich denke, für diese Dinge ist das Parlament der richtige Ort, nicht nur wegen der verfassungsrechtlichen Stellung, die es hat, sondern weil es die Agora ist, der öffentliche Ort, wo jedes Argument gewogen und geprüft wird,
sodass die Bevölkerung sieht, dass man das, was sie
denkt, in allen Einzelheiten ernst nimmt, wie wir das, wie
ich finde, am 30. Januar entsprechend Art. 38 des Grundgesetzes getan haben.
({3})
Mögen wir das weiter so tun!
Wir bleiben in Widersprüchen. Wir werden Widersprüche nicht endgültig auflösen können, auch nicht zu
anderen Ländern, die ebenfalls nicht alle immer nur die
Menschenwürde verletzen, Herr Hüppe. Wir sind nicht
der Maßstab aller Dinge. Auch darin ist unsere Wahrheit
nicht endgültig und vollständig. Entscheidend ist, dass
wir versuchen, einander auf die Pelle zu rücken, im Streit,
im Versuch, zu überzeugen, aber in dem gleichzeitigen
Bewusstsein, dass auch wir überzeugt werden könnten.
Wenn wir das schaffen, sind wir ein Stück weiter; denn
dann kann Gesetzgebung erfolgen, ohne dass es Sieger
und Verlierer gibt. Das Parlament entscheidet nie letzte
Fragen. Man muss einfach wissen, dass hier im Reichstag
mit 51-prozentiger Mehrheit nicht entschieden werden
kann, wann - was die Menschheit seit Aristoteles beschäftigt - das Leben anfängt. Wir können nur als Gesetzgeber sagen, was wir ab wann wie schützen. Die Frage
des Vorkerns, lieber Herr Hüppe, lösen Sie auch nicht.
Es gibt Widersprüche, in denen wir bleiben. Einer davon ist zum Beispiel der Beschluss der Ärzteschaft, den
ich genau wie Sie mit Verwunderung gelesen habe. Die
Ärzteschaft lehnt PID aus zwei Gründen ab: erstens weil
frühes menschliches Leben dabei draufgehen könne und
zweitens weil es Selektion sei. Im letzten Absatz verweist
die Ärzteschaft die Frauen auf die Möglichkeit der PND;
denn dann könne sich die Frau nach der Feststellung einer
Behinderung gegen das kranke zukünftige Leben entscheiden. Wir bleiben in Widersprüchen.
({4})
Aber diese Widersprüche in einem Beschluss so nebeneinander zu stellen, das ist schon gekonnt.
({5})
Auch das, was wir, Frau Schuchardt, gemeinsam überlegt haben, nämlich die Biomedizinkonvention mit einer
Interpretationserklärung erträglicher, verträglicher zu machen, bleibt in Widersprüchen. Der Versuch ist sehr ehrenhaft; man muss ihm weiter nachgehen. Aber wir sollten uns nicht vormachen, wir könnten die Probleme dieser
Welt lösen. Weil wir dafür bezahlt werden, es für die Menschen leichter zu machen, dürfen wir es uns nicht leicht
machen und sagen: Wir waschen unsere Hände in Unschuld, wir sind es nicht gewesen, wir haben damit nichts
zu tun, während wir rings um uns herum, und zwar in
Deutschland, die Probleme den Leuten überlassen. Wir
werden dafür bezahlt, Probleme zu lösen und sie auf uns
zu nehmen, und nicht dafür, andere mit dem fertig werden
zu lassen, mit dem wir nicht fertig werden.
({6})
Ich denke, dass wir ein Stück weitergekommen sind,
wenn wir - wie wir das beim Stammzellgesetz versuchsweise getan haben, wie schlecht und recht auch immer Wege finden, Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen,
ohne letzte Fragen zu entscheiden. Vieles von dem, was
wir entscheiden, ist nur scheinbar prinzipiell. Viel von unseren Erfahrungen, Einschätzungen, Sorgen und Ängsten
kommt hinzu. Ich denke, das alles gehört mit zur Realität.
Wir sind aber seit Anbeginn der Menschheit dazu verurteilt, dass wir, die wir Mangelwesen sind, versuchen,
Herr und Herrinnen der Natur zu werden, indem wir sie
analysieren und sie für uns einsetzen. Wir können nicht
schnell laufen. Unsere Körperkraft ist begrenzt. Unsere
Augen sind nicht besonders gut im Verhältnis zu dem, was
wir brauchen würden. Unsere Krallen sind auch nicht das,
was man braucht, um Beute zu schlagen. Das Einzige, was
wir haben, ist unser Spieltrieb - hier agieren wir mit unseren grauen Gehirnzellen -, Wiederholbares bzw. Gesetzmäßiges zu finden und daraus für uns eine neue Welt
zu bauen.
Dagegen hilft nicht, dass wir uns selbst beschränken,
jedenfalls nicht im Wege eines Gesetzes. Dagegen hilft,
dass wir immer mehr über die Natur wissen, sodass wir
wissen, was uns dient und was uns nicht dient. Denn in allem, was wir tun, ist eine tragische Dialektik angelegt. Es
gibt nichts, was man nur zum Guten nutzen kann.
({7})
Man kann das Wissen immer auch für gigantische Irrtümer und Massenverbrechen benutzen. Unsere Geschichte
lehrt uns das.
Wir sind wie Kolumbus auf hoher See. Zurück nach
Spanien geht es nicht. Viele Leute warnen, dass er, wenn
er weiterfährt, von der Erde in einen Strudel hinunterkippt, den keiner kennt. Er hofft auf den Seeweg nach Indien und findet die Amerika vorgelagerten Inseln. Das
Einzige, was wir tun können - das muss das Parlament
auch in Zukunft tun -, ist: Die Seekarten prüfen, sie mit
den Sternen vergleichen und den richtigen Steuermann
einsetzen.
Vielen Dank.
({8})
Liebe Kollegin Frau
von Renesse, nicht nur, aber vor allem als Vorsitzende der
Enquete-Kommission haben Sie in der letzten Dekade
den rechts- und biopolitischen Debatten eine ganz besondere Qualität verliehen. Ich füge hinzu: Allen Kolleginnen
und Kollegen in diesem Hause, aber ganz besonders uns
jungen Abgeordneten haben Sie wichtige Impulse gegeben. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Arbeit der Enquete-Kommission ein großes Ansehen genießt. Dafür
herzlichen Dank, Frau Kollegin!
({0})
Einige Rednerinnen und Redner in dieser Debatte haben
es schon deutlich gemacht: Wir werden Ihre Stimme vermissen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass wir Ihre Stimme
weiter hören werden, und zwar als unsere Beraterin bei den
Debatten nach der Bundestagswahl. Ich wünsche Ihnen,
Frau von Renesse, alles Gute und viel Gesundheit.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache und möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei allen Mitgliedern und vor allem
bei allen Sachverständigen der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ für ihre Arbeit
zu bedanken. Ich denke, sie hat tatsächlich Maßstäbe gesetzt, was zum einen die Qualität der Debatte betrifft und
zum anderen den fraktionsübergreifenden Dialog angeht.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben damit ein
gutes, wichtiges Stück Parlamentsgeschichte geschrieben.
({2})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Karl-Josef Laumann, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Wiedereinstieg in den Beruf für Frauen erleichtern - Frauenarbeitslosigkeit in Deutschland bekämpfen
- Drucksache 14/8786 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Renate Diemers.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauen sind anscheinend seltsame Wesen. Sie stellen die Mehrheit der Bevölkerung. Sie haben Unvergleichliches geleistet. Sie haben
die Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut - ohne sie
gäbe es das deutsche Wirtschaftswunder nicht - und sie
haben fast immer die Mehrfachbelastung von Familie und
Beruf allein zu tragen. Außerdem sind Frauen in der Regel belastbarer als Männer. Trotzdem sind Frauen stärker
von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer. Darüber hinaus werden Frauen, ihre Leistungen und ihre Probleme
auch heute noch immer nicht richtig ernst genommen.
Selbst der jetzige Bundeskanzler spricht im Rahmen der
Familien- und Frauenpolitik nur von „Gedöns“.
({0})
Diese Aussage war für uns Frauen wenig hilfreich, ja sogar schädlich.
({1})
Oft finden frauenpolitische Debatten im Bundestag
erst statt - fast so wie heute -, wenn es draußen bereits
ziemlich dunkel ist.
({2})
- Ich habe gesagt: ziemlich dunkel. - Dunkel im wahrsten
Sinne des Wortes sieht es auch aus, wenn es um Erfolgsberichte bei der Bekämpfung von Frauenarbeitslosigkeit geht. Es geht nämlich bei Weitem nicht um marginale
Verbesserungen in der Statistik. Es geht nicht darum, ein
kleines Pflänzchen „Sonderprogramme für Frauen“ liebevoll in die Sonne zu stellen und mit den Resten aus der Finanzgießkanne zu beträufeln. Es geht auch nicht darum,
immer wieder zu Weltfrauenkonferenzen zu pilgern, um
dann die dort verabschiedeten Ziele nur für andere Länder
gelten zu lassen. Es geht darum, dass alle Frauen die ihnen zustehenden Rechte einsetzen, sie nutzen können.
({3})
Die Probleme der erwerbstätigen Frauen und der
Frauen, die erwerbstätig sein möchten, sind vielschichtig.
Hier liegt der Knackpunkt. Frauen haben unterschiedliche
Lebensentwürfe und somit unterschiedliche Ziele, und
sie haben unterschiedliche Ansprüche.
Es gibt Arbeitnehmerinnen und Unternehmerinnen, die
ohne jegliche Unterstützung Karriere gemacht haben.
Leider aber sprechen viele dieser Frauen den anderen
Frauen die Notwendigkeit einer Unterstützung, zum Beispiel mittels einer Quote, ab. Dies ist genauso falsch, wie
allen Frauen prinzipiell zu unterstellen, sie wollten und
müssten unbedingt Karriere machen. Denn es gibt auch
erwerbstätige Frauen, die nicht darunter leiden, dass sie
keine Karriere machen. Sie identifizieren sich auch ohne
Karrierewunsch vollauf mit ihrem Unternehmen. Diese
Frauen sind glücklich in ihrem Beruf. Er sichert ihr Einkommen und dient ihrer sozialen Sicherheit.
Viele Frauen wollen die Familien- und Erwerbstätigkeit kombinieren, zum Beispiel mit Elternzeit - oder
ohne. Allerdings muss uns allen auch klar sein, dass eine
große Zahl von Frauen, die auf Elternzeit verzichten, dies
tun müssen, weil sie zum Beispiel allein erziehend sind
und bzw. oder das Familieneinkommen nicht ausreicht.
Von Karriere können diese Frauen nur träumen.
Dann gibt es auch Frauen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, insbesondere junge Frauen, die beabsichtigen, nach der Geburt ihres Kindes erst einmal
ganz auf den Beruf zu verzichten. Ich habe diesen Wunsch
schon oft in Gesprächen in Schulen und in Betrieben
gehört. Diese jungen Frauen beabsichtigen eben nicht, unmittelbar nach der Geburt ihr Kind in die außerhäusliche
Betreuung zu geben. Diese Frauen wollen sich ganz intensiv ihren Kindern widmen und fühlen sich als Familienfrauen sehr wohl.
Dies wird von Ihnen aber nicht akzeptiert. Sie und Ihr
Kanzler zementieren gerade ein neues Frauenleitbild,
nämlich ausschließlich das der erwerbstätigen Frau.
({4})
Unser Ziel, das Ziel der CDU/CSU, ist die Wahlfreiheit.
({5})
Ein Hauptschwerpunkt unseres Programmes ist die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar für
Mütter und Väter.
({6})
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Rahmenbedingungen für die notwendigen Wahlmöglichkeiten zu schaffen.
Ich denke da an eine aktive Umsetzung und natürlich auch
Fortschreibung der bereits beschlossenen Maßnahmen im
Hinblick auf die Chancengleichheit von Frauen und Männern, an die Übereinstimmung von Arbeitszeiterfordernis
und Kinderbetreuungszeit, an unterschiedliche Teilzeitmodelle oder an die Schaffung von alternierenden Telearbeitsplätzen.
Eine große Hilfe ist auch unser geplantes Familiengeld.
({7})
Im Sinne einer echten Wahlfreiheit ist allerdings, liebe
Kolleginnen und Kollegen, von uns allen die freie Entscheidung der Eltern, zugunsten der Kindererziehung
ganz, teilweise oder zeitweise auf Erwerbsarbeit zu verzichten, zu respektieren. Ich betone noch einmal: Die
Wahlfreiheit gilt für Mütter und Väter. Daher fordern wir
Vizepräsidentin Petra Bläss
die Männer auf, ihrer Verantwortung für die Familie gerecht zu werden.
({8})
Wenn auch die Väter von den Möglichkeiten, Familienzeit zu nehmen, mehr Gebrauch machen würden, hätten
es die Frauen im Arbeitsleben und beim Wiedereinstieg
entsprechend leichter.
({9})
Wenn allerdings die Rahmenbedingungen weiterhin so
schlecht sind - ich nenne beispielhaft die unterschiedliche
Einkommenssituation von Frauen und Männern
({10})
oder die gesellschaftliche Akzeptanz von Elternzeit -,
wird sich weder in der Mentalität der Unternehmer noch
der Väter Gravierendes ändern.
Manche Arbeitgeber lassen unterschwellig, andere
leider sogar ganz offen durchblicken, wie sie Frauen in
Betrieben und Unternehmen einschätzen. Sie fürchten die
jederzeit mögliche Schwangerschaft, die offenbar ein
ganz schreckliches Übel in unserer Gesellschaft ist, und
die prinzipiell unterqualifizierte Mitarbeiterin, die irgendwie durchgeschleppt werden muss; daneben sind Gleichstellungsbeauftragte für viele Arbeitgeber ein rotes Tuch.
Die vielen familienfreundlichen Betriebe, die es Gott
sei Dank bereits gibt, beweisen, dass andere Wege möglich sind, und zwar nicht zum Nachteil der Betriebe. Es
reicht allerdings nicht aus, ein Gesetz über Teilzeit auf den
Weg zu bringen, wenn dies zu einer Blockade der Unternehmer führt, Frauen einzustellen.
({11})
Es reicht auf der anderen Seite nicht aus, den Frauen
den Anspruch auf Teilzeit mitzuteilen, ohne klarzustellen,
dass das für Frauen zum Beispiel auch heißt, unbeliebte
Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen. Frauen haben das Recht
auf Teilzeit, aber selbstverständlich nicht das Recht auf
die Filetzeiten von 9 bis 13 Uhr.
Der Wiedereinstieg nach einer Pause muss Frauen
und - ich sage das bewusst - auch Männern erleichtert
werden. Dabei ist es außerordentlich wichtig, während
der Pause, sei es Elternzeit oder Arbeitslosigkeit, in irgendeiner Form den Anschluss an den Betrieb zu halten.
Dies kann über soziale Kontakte laufen, die übrigens
während der Elternzeit auch für die Psyche der Eltern
wichtig sein können.
Besondere Bedeutung müssen zum Beispiel Weiterbildungsmaßnahmen während der Elternzeit haben. Wir
sollten ebenfalls darüber nachdenken, ob nicht auch arbeitslose Frauen in ihrem alten Betrieb Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen können. Dies zu koordinieren und zu finanzieren sollte eigentlich nicht das
Problem sein.
Im vergangenen Jahrhundert und erst recht in der Zeit
davor, lautete die Devise: Die Familien müssen sich an
der Arbeitswelt orientieren. Die Union kämpft für die
neue Devise: Die Arbeitswelt muss sich auch an den Familien orientieren.
({12})
Wenn wir gemeinsam für neue Ideen und die Anliegen
der Frauen offen sind, bin ich sicher, dass wir den Lösungen etwas näher kommen. Aber eines, liebe Kolleginnen
und Kollegen, müssen wir auf jeden Fall verhindern: die
soziale Ausgrenzung der Frauen, die kein oder nur ein geringes eigenes Einkommen haben und somit im Alter
nicht abgesichert sind.
({13})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist heute das
letzte Mal, dass ich hier am Rednerpult stehen darf. Darum möchte ich zum Schluss ganz herzlich und besonders
eindringlich an alle Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Ausschüssen, an die Finanzminister im Bund
und in den Ländern und an alle politisch Verantwortlichen
appellieren: Vernachlässigen Sie die Frauen- und Familienpolitik nicht!
({14})
Räumen Sie der Kinder-, der Jugend- und auch der Politik für ältere Mitmenschen nicht nur auf dem Papier oder
in Wahlprogrammen, sondern auch in der Umsetzung einen höheren Stellenwert ein.
({15})
Fehler und Versäumnisse, die in der Familienpolitik gemacht werden, haben dramatische Auswirkungen auf unser
gesellschaftliches Miteinander, auf die Arbeitswelt, aber
auch auf die Wirtschaft bzw. auf wirtschaftliche Erfolge.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
viel Kraft bei Ihrer Arbeit, aber auch: Vergessen Sie die
Freude nicht!
({16})
Liebe
Kollegin Renate Diemers, im Namen des Hauses danke
ich Ihnen für Ihre letze Rede und Ihre langjährige Mitarbeit in diesem Hause. Wir wünschen Ihnen für die Zukunft
alles Gute, Gesundheit und Spaß. Sie werden feststellen,
dass es auch ein Leben nach der Politik gibt.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Jäger
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Renate Diemers, ich
kann Ihrem Antrag leider nicht so viel Positives abgewinnen wie Sie und sage Ihnen auch gleich, warum. In der
Einleitung des Antrages wird deutlich gemacht, dass
Frauen deutlich weniger als Männer verdienten, was darauf zurückzuführen sei, „dass Frauen häufiger ... mit
weniger anspruchsvollen und deswegen geringer entlohnten Arbeiten beschäftigt werden, die oft unter ihrem Qualifikationsniveau liegen“. Nun würde man ja erwarten,
dass die CDU/CSU diese Misere mit ihrem Antrag zu ändern versucht, zumal sie in einem anderen Punkt von der
Bundesregierung fordert, „gemeinsam mit den Unternehmen ... auf eine Angleichung der Frauen- an die Männerverdienste hinzuarbeiten“. Das scheint für meine Begriffe
aber nicht ganz ehrlich gemeint zu sein, da die CDU/CSU
den Niedriglohnbereich insbesondere für Frauen ausbauen will. Damit Sie mir das auch glauben, zitiere ich
aus dem Antrag weiter. Es heißt dort, „im Niedriglohnbereich ... Anreize zur Aufnahme von niedrig entlohnter Arbeit zu geben und Arbeitgeber durch Deregulierung zu
motivieren, Arbeitsplätze in diesem Bereich zu schaffen“.
An anderer Stelle ist davon die Rede, „der Aktivierung der
Beschäftigungspotenziale im Niedriglohnbereich umfassend nachzukommen“.
({0})
Dieser Widerspruch entlarvt das wahre frauenpolitische
Zielfeld der CDU/CSU.
({1})
Den Wiedereinstieg für Frauen in den Beruf zu erleichtern, war in den letzten vier Jahren unser Ziel und
wird es auch in Zukunft bleiben. Allerdings diskriminieren unsere Maßnahmen nicht, sondern sie machen die
wahren Potenziale der Frauen für sie selbst und für die
Gesellschaft nutzbar.
({2})
Ich räume gern ein, dass auch Sie Forderungen stellen,
die man vom Grunde her gutheißen kann, wenn sie nicht
schon durch die von uns geschaffene Realität obsolet geworden wären.
({3})
Wir haben die Beauftragten für Chancengleichheit am
Arbeitsmarkt in den Arbeitsämtern installiert. Sie sagen
natürlich, diese Unterstützung sei noch nicht ausreichend.
Doch zu Ihrer Zeit hat es diese Unterstützung überhaupt
nicht gegeben. Wir haben damit begonnen - jeder Anfänger ist nun einmal noch kein Meister - und werden die Arbeit unter Mitwirkung der Beauftragten weiter effektivieren.
({4})
Mit dem Profiling im Job-AQTIV-Gesetz ist längst in
Kraft, was Sie mit den Vermittlungsagenturen wollen: auf
die individuelle Situation von Frauen, insbesondere von
Frauen mit Kindern und Alleinerziehenden, einzugehen.
Auch die von Ihnen geforderten Eingliederungsvereinbarungen sind längst beschlossene Sache.
Nur eines habe ich in diesem Zusammenhang in Ihrem
Antrag nicht verstanden: Sie fordern Sanktionen für den
Fall der Arbeitsverweigerung, wenn für Kinder unter drei
Jahren - ich betone: für Kinder unter drei Jahren - die
Betreuung gesichert ist. Heißt das, dass Sie auch Müttern
mit Kindern unter drei Jahren, also auch zwischen null
und einem Jahr, keine Wahlfreiheit mehr erlauben wollen? Frau Diemers sprach aber von Wahlfreiheit.
({5})
Wir haben im Job-AQTIV-Gesetz die Erziehungszeiten des Kindes sowie Zeiten des Mutterschutzes in die Arbeitslosenversicherung einbezogen
({6})
und die Kindererziehungszeiten bei den Rentenanwartschaften aufgewertet.
({7})
Wir haben es ermöglicht, dass Frauen und Männer
Elternzeit nehmen können, während Sie allein bei den
Frauen geblieben sind.
({8})
Sie fordern des Weiteren eine bessere Qualifizierung
für den Wiedereinstieg in das Berufsleben. Das ist auch
okay. Aber wir haben bereits einen Anspruch auf Unterhaltsgeld geschaffen, wenn ein Elternteil die Berufstätigkeit für die Betreuung eines Kindes unterbricht und sich
in dieser Zeit weiterbildet. Wir haben für beide Elternteile
zum Zweck der Erziehung von Kindern einen Rechtsanspruch auf Teilzeit geschaffen und selbst Qualifizierung
in Teilzeit möglich und förderfähig gemacht. Wir haben
ermöglicht, dass die Kosten für Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen auch dann übernommen werden,
wenn weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe bezogen wurde und bezogen wird.
({9})
Für Frauen in Qualifizierungsmaßnahmen haben wir die
zu erstattenden Kinderbetreuungskosten auf 130 Euro erhöht. So viel zur Qualifizierung.
Wir haben für die nach dem Mainzer Modell möglichen Kombilöhne,
({10})
die gering verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten, einen Zuschlag zum Kindergeld zwischen 25 und 75 Euro pro Kind geschaffen.
Auch wenn Ihnen die Vergleiche langsam peinlich
werden: Die von Ihnen geforderte Förderung von Existenzgründungen für Frauen wird zum Beispiel mit dem
Kreditprogramm „Startgeld“ längst erfolgreich praktiziert. Die Zahl der Gründungsvorhaben ist allein von 1999
bis 2000 von 4390 auf über 7 000 gestiegen. Mit der Gemeinschaftsinitiative „Change/Chance“ haben wir ein
Programm aufgelegt, mit dem Frauen besser als zu Ihrer
Zeit für die Unternehmensnachfolge in Klein- und Mittelbetrieben gefördert werden.
({11})
Im Zusammenhang mit der von Ihnen geforderten besseren Kooperation mit Unternehmen nehmen Sie zwar die
Vereinbarung zwischen der Regierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Kenntnis, aber
nicht den vollen Inhalt.
({12})
Da geht es nämlich bereits um die Punkte, die Sie fordern.
Da geht es um Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als
Aufgabe für Leitungsverantwortliche. Da geht es um die
Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen.
Da geht es auch bereits um die Verbindlichkeit dieser
Zielsetzungen innerhalb der Unternehmen, um das, was
Sie ja eigentlich wollen.
Ich kann abschließend nur sagen: Wir brauchen uns
nicht zu verstecken. Wir haben eine erfolgreiche Politik
auf diesem Feld aufzuweisen
({13})
und wir werden diese Politik auch weiterführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Situationsanalyse der CDU/CSU zu ihrem
Antrag „Wiedereinstieg in den Beruf für Frauen erleichtern - Frauenarbeitslosigkeit in Deutschland bekämpfen“
stimme ich voll zu.
({0})
Im internationalen Vergleich ist die Erwerbsquote von
Frauen in Deutschland gering. Wir Frauen wissen das,
aber wir können es hier im Bundestag auch noch einmal
ganz deutlich sagen: Nur 62 Prozent der Frauen im
erwerbsfähigen Alter sind in Deutschland berufstätig, bei
Müttern, die in Paarhaushalten leben, nur 51 Prozent und
bei Alleinerziehenden knapp 50 Prozent.
Wir wissen, das hat seine Ursachen. Nach aktuellen
Studien wollen Mütter sogar kleiner Kinder erwerbstätig
sein. Wir sollten gar nicht fragen, warum, sondern müssen
das als Fakt sehen.
({1})
Sie wollen verstärkt Vollzeit und nicht nur Teilzeit arbeiten. Sie wollen an Qualifizierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen auch nach der Elternzeit teilnehmen.
Der Haupthinderungsgrund - liebe Kollegen, das wissen
wir - ist das mangelhafte Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
({2})
Da haben wir - das muss man hier ganz deutlich aussprechen - auch nach 1998 noch einen enormen Handlungsbedarf. Ich meine, gerade wir Frauen müssen diese berechtigten Forderungen der Bürgerinnen und Bürger
parteiübergreifend aufnehmen und uns in den Kommunen, in den Ländern und hier auf Bundesebene für mehr
Kinderbetreuung einsetzen.
({3})
Dabei geht es nicht nur um die Subventionierung kommunaler, sondern auch um die Finanzierung privater Kindergärten sowie um ordentliche Rahmenbedingungen für
Tagesmütter. Da haben wir noch eine Menge zu tun.
({4})
Meine Damen und Herren, die Integration von Frauen
in den Arbeitsmarkt - das wissen wir alle - ist auch aufgrund der demographischen Entwicklung wirtschaftlich
zunehmend erforderlich. Sowohl aus Familiensicht als
auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es wünschenswert, dass die vielen qualifiziert ausgebildeten Frauen
Rahmenbedingungen vorfinden, die ihnen die Entscheidung für Kinder erleichtern.
Ich will auf Frankreich zu sprechen kommen. Ich
finde es erstaunlich und ganz toll, was unser Nachbarland
macht. Warum sind in Frankreich 80 Prozent der Frauen
berufstätig und haben mehr Kinder? Eine Frau in Frankreich, die Kinder hat, überlegt erst ab dem dritten Kind, ob
sie ihre Berufstätigkeit für einige Zeit einstellt. Wir wissen, auch in Frankreich sind nicht alle Frauen Rabenmütter. Sie bekommen das alles einfach besser unter einen
Hut, natürlich auch, weil in Frankreich mehr Möglichkeiten der Kinderbetreuung bestehen. Die höhere Ausschöpfung des Beschäftigungspotenzials von Frauen erfordert
also eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Handlungsbedarf bei der Kinderbetreuung hat natürlich auch unser Kanzler festgestellt. Am 18. April - ich
kann es mir so genau merken, weil ich da Geburtstag
hatte -,
({5})
also vor zwei Monaten, versprach er in einer Regierungserklärung wieder einmal mehr Ganztagsbetreuung.
1998 hat er das auch versprochen, O-Ton:
Ein ausreichendes Angebot an Kitaplätzen und
Ganztagsbetreuung ist zu gewährleisten.
Meine Damen und Herren, seien wir doch einmal ganz
ehrlich: Was hat sich denn an der Betreuungslandschaft in
der Bundesrepublik geändert? Es hat sich nichts geändert.
Und wenn der Bundeskanzler das 1998 versprochen hat,
dann muss er jetzt, im Jahr 2002, verdammt noch mal sagen, was er geleistet hat. Diese Leistungsbilanz im Betreuungsbereich kann er nicht vorlegen; das sagen alle Zahlen.
({6})
Wenn man etwas auf Bundesebene verspricht, kann man
nicht wie Frau Bergmann sagen, die Länder und die Kommunen müssten das umsetzen. Das geht mir langsam
- ganz allgemein, nichts gegen eine Person - gegen den
Strich. Sie haben in der Betreuungslandschaft nichts getan, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in dieser
Legislaturperiode zu verbessern. Frauen wollen einfach
nicht mehr mit Versprechen abgespeist werden. Sie wollen, dass Politik endlich handelt.
Die geringe Erwerbsbeteiligung von Frauen hat natürlich nicht nur mit der Vereinbarkeitsproblematik zu tun,
sondern auch mit der schlechten Arbeitsmarktlage. Damit kommen wir zu den Rahmenbedingungen, die es
Frauen schwer machen, berufstätig zu sein. Frauen werden aus dem Erwerbsleben angesichts des Überangebots
an Arbeitskräften nicht nur zurückgedrängt, sie geben
zum Teil schon vorher auf und bemühen sich gar nicht darum, einen Arbeitsplatz zu bekommen, weil sie keine
Hoffnung mehr haben, und verbleiben in ihrer Familienrolle.
Ich erkenne vollständig an, dass, wie die CDU sagt, die
Hausarbeit eine anstrengende, sehr qualifizierte Arbeit
ist. Frauen- und Männerarbeit im Haushalt sollten wir wesentlich mehr anerkennen. Das könnten einmal einige
Männer mehr versuchen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik versagt. Es sind ganz besonders Frauen, die davon betroffen sind. Die Bundesregierung wird in diesem Antrag von der CDU/CSU zum
Handeln aufgefordert. Meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, es ist ja fast zu spät; wir müssen jetzt den
22. September abwarten.
Diese Ihre Forderungen sind CDU/CSU-Forderungen;
wir haben andere Forderungen. Sie wissen, dass wir sehr
viele Initiativen in Bezug auf Arbeitsmarktpolitik, auf die
Rahmenbedingungen, die wir dazu setzen können, ergriffen haben. Das sind ganz andere Konzepte als die von der
SPD, das sind andere Konzepte als die von der CDU. Deshalb zeigt sich auch ganz deutlich, dass die FDP eine sehr
eigenständige Rolle in diesem Parlament spielt
({7})
und dass wir zugegebenermaßen - das hören wir auch von
anderen - gute Konzepte haben. Die Vorstellungen der
FDP sind liberale Forderungen für Reformen des Arbeitsmarktes, für Reformen bei der Tarifordnung sowie für
eine durchgreifende Steuerreform. Das alles ist bei uns
konsequenter und weitreichender.
Meine Damen und Herren, ohne substanzielle Reformen gibt es keinen wirklichen Fortschritt auf dem Arbeitsmarkt. Gerade für Frauen wollen wir etwas tun. Dazu
müssen wir die Rahmenbedingungen ändern.
Ich meine, wir sollten am 23. September damit beginnen, anders als es in den letzten vier Jahren geschehen ist.
({8})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert von Bündnis 90/
Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Diemers, ich finde es ehrenwert, die
Männer hier aufzufordern, sich für die Gleichberechtigung einzusetzen. Ich denke, das ist sicherlich hilfreich.
Wir haben allerdings ein noch schärferes Schwert, nämlich das Grundgesetz, in dem die Gleichberechtigung
zwischen Frauen und Männern verbrieft ist.
Obwohl es dieses gibt, ist die Gleichberechtigung in
der Realität des Alltags in diesem Lande noch immer nicht
erreicht. Auf vielen Gebieten, gerade im Bereich der Erwerbsarbeit, feiert die Diskriminierung noch fröhliche
Urstände.
({0})
Ich glaube, dass es deswegen nicht ausreicht, diese Aufforderung hier zu unterstreichen. Wir müssen das tun, womit wir als rot-grüne Koalition sehr ernsthaft und konzentriert angefangen haben, nämlich Gesetze erlassen, die
den Frauen helfen, in den Arbeitsmarkt zu kommen.
({1})
Beispielsweise haben wir die Elternteilzeit und den
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, den Sie bekämpfen,
längst eingeführt und
({2})
wir haben die Frauenrechte in den Betrieben durch ein
verbessertes Betriebsverfassungsgesetz gestärkt. Auch
dieses haben Sie bekämpft.
Ich finde es sehr wichtig - es lohnt sich in der Tat -,
sich hier immer wieder ernsthaft über verbesserte Wiedereingliederungs- und Ersteinstiegsmöglichkeiten von
Frauen in den Arbeitsmarkt zu unterhalten, weil - das
sprach ich schon an - die Diskriminierungen wirklich
augenscheinlich sind. Mädchen sind besser in den Schulen; sie haben die besseren Notendurchschnitte. Frau Kollegin Diemers, Sie haben hier schon angeführt, dass
Frauen auf dem Arbeitsmarkt trotzdem vergleichsweise
schlechter entlohnt werden. Sie haben aber auch darauf
hingewiesen, dass das hauptsächlich eigen- bzw. selbstverschuldet ist, weil Frauen gerne Tätigkeiten übernehmen, für die nur ein niedriger Lohn bezahlt wird.
({3})
Das ist solch ein absoluter Quatsch. Schauen Sie sich einmal an, wie Tarifverträge zustande kommen
({4})
und wie die Arbeitsplatzbewertungen aussehen, die vielen
Tarifverträgen und tariflichen Einordnungen zugrunde
liegen. Dort ist es systematisch so.
({5})
Es ist übrigens auch wissenschaftlich nachgewiesen,
dass spezifische Frauenqualifikationen in der Regel niedriger bewertet werden und dass deswegen in den Bereichen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, tendenziell
niedrigere Durchschnittslöhne gezahlt werden. Hieran
müssen wir arbeiten. Allerdings sind dazu insbesondere
auch die Tarifvertragsparteien aufgefordert.
Ich komme zu einem anderen Punkt: Frauen arbeiten
seltener in Führungsjobs. Auch hierfür gibt es ein Beispiel aus der Realität, über das ich berichten kann; denn
ich habe als wissenschaftliche Assistentin an der Universität gearbeitet. Wenn man sich die Hierarchieleiter bei
den Hochschullehrern anschaut und sieht, wie die Präsenz
von Frauen ausgedünnt wird - es sind nur 9 Prozent Hochschullehrerinnen vertreten -, dann muss man bedenken,
dass das auch viel mit der Struktur der Berufungs- und Besetzungskommissionen zu tun hat. Männerseilschaften
funktionieren eben gut.
({6})
Frau Lenke, Sie hatten Recht, als Sie eben gesagt haben, dass Frauen nicht nur Teilzeit, sondern auch Vollzeit
arbeiten wollen. 87 Prozent der Teilzeitarbeit werden
heute allerdings von Frauen ausgeführt. Nur 5 Prozent der
Männer arbeiten Teilzeit, während es 38 Prozent der
Frauen sind. Häufig ergibt sich für Frauen auch heute
noch immer nur dann die Möglichkeit, eine Vollzeitbeschäftigung aufzunehmen, wenn der Partner Teilzeit arbeiten kann. Das ist beispielsweise einer der Gründe, weshalb der Rechtsanspruch auf Teilzeit für Männer und
Frauen gleichermaßen durchgesetzt werden musste; wir
haben ihn durchgesetzt. Ich sage Ihnen auch: Wir werden
ihn gegen das verteidigen, was Sie vorhaben, nämlich genau diesen Fortschritt für eine bessere Arbeitsteilung von
Frauen und Männern wieder abzuschaffen.
({7})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben hier davon gesprochen, dass Sie die Wahlfreiheit für
Frauen herstellen wollen. Gleichzeitig plädieren Sie für
die stoibersche Herdprämie.
({8})
Welche Frau, die Kinder erziehen und gleichzeitig arbeiten will, hat die Möglichkeit, in den Beruf zu gehen, wenn
die Kinderbetreuung nicht sichergestellt ist? Gehen Sie
nach Bayern. Dort gibt es gerade für kleine Kinder die wenigsten Betreuungsmöglichkeiten. Hier haben wir noch
viel zu tun, von der Krippenbetreuung für Kleinkinder
über die Ganztagsschule, die Sie heute Morgen wieder
abgelehnt haben, bis hin zur Hortbetreuung. Solche Angebote brauchen wir, wenn wir den Frauen die Wahlfreiheit geben wollen, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
({9})
Wir brauchen noch etwas anderes - das fordern Sie in
Ihrem Antrag zu Recht -: Wir brauchen für Frauen
Brücken in den Arbeitsmarkt. Sie aber haben in den letzten Jahren offenbar ein wenig geschlafen; denn wir haben - das hat meine Kollegin schon vorgetragen - im JobAQTIV-Gesetz vieles von dem verankert, was Sie in
Ihrem Antrag fordern.
({10})
- Sie rufen „Um Gottes willen“. Wir haben im JobAQTIV-Gesetz beispielsweise im Zusammenhang mit der
Arbeitsförderung festgelegt, dass die Frauenförderung
eine Querschnittsaufgabe ist. Wir haben die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Frauen so lange
überproportional gefördert werden können, bis Gleichberechtigung erreicht ist. Wenn Frauen Qualifizierungsmaßnahmen wahrnehmen, werden die Kosten für die Betreuung
übernommen, deren Höhe wir mehr als verdoppelt haben.
Wir haben das Teilzeitunterhaltsgeld eingeführt. Wir
haben Eingliederungsvereinbarungen für Frauen möglich
gemacht, die keinen Leistungsanspruch haben. Ich
nenne als Beispiel die Frauen, die keine Arbeitslosenhilfe
bekommen, weil ihre Männer zu viel verdienen. Sie haben uns die absurde gesetzliche Regelung hinterlassen,
dass Frauen keinen Anspruch auf Qualifizierungsmaßnahmen oder ABM haben, wenn ihre Männer ein zu hohes Einkommen haben. Das haben wir im Job-AQTIVGesetz geändert.
({11})
Die Quote derjenigen, die bisher keinen Leistungsanspruch auf Qualifizierungsmaßnahmen und ABM hatten,
liegt nun doppelt so hoch wie vorher. Das wird diesen
Frauen helfen.
Wir haben eine weitere grobe Ungerechtigkeit abgeschafft. Sie haben das eben ein bisschen lächerlich gemacht. Wir haben endlich dafür gesorgt, dass Frauen, die
durch Berufstätigkeit einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben haben, diesen Anspruch während der Kindererziehungszeiten nicht verlieren. Es war in hohem
Maße ungerecht, dass Frauen, die während ihrer Erwerbstätigkeit in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt
haben, diesen Anspruch während der Erziehung ihrer
Kinder verloren. Diesem Anspruch haben wir im JobAQTIV-Gesetz Rechnung getragen.
({12})
Ich komme zum Schluss. Was Sie vorschlagen, ist nicht
sehr zukunftsweisend. Manche Forderungen in Ihrem Antrag stellen für die Frauen sogar eine Verschlechterung dar,
zum Beispiel die zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Ich kann das hier nicht alles vortragen.
({13})
Wir haben noch viel zu tun. Wir müssen noch sehr viel
mehr erreichen, weil die Gleichberechtigung noch lange
nicht erreicht ist. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Schönen Dank.
({14})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Petra Bläss von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Frauen wesentlich mehr von Erwerbslosigkeit und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt betroffen sind, dürfte in diesem Hohen Hause wohl
Konsens sein. Die Fakten sprechen für sich. Frau Kollegin Lenke hat schon über die erschreckend niedrige Erwerbstätigenquote bei Frauen in der Bundesrepublik gesprochen. Sie hat auch zum Ausdruck gebracht, dass die
Ursache dieser Quote nicht die freiwillige Entscheidung
der Frauen war.
({0})
Frauen sind deutlich häufiger als Männer in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen. Frauen stellen nach wie vor
über 85 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten in diesem Lande. Nicht zuletzt ist der
Frauenanteil bei den IT-Ausbildungsberufen trotz aller
PR- und Fördermaßnahmen erschreckend gering. Der Anteil stagniert bei 14 Prozent. Gleiches gilt für den Frauenanteil bei Führungskräften in der Wirtschaft. Er liegt
nach wie vor bei nur 11 Prozent.
Nicht vergessen sollten wir bei einer solchen Debatte
den Unterschied zwischen Ost und West, der nach wie
vor besteht. Mit einem Anteil von 19 Prozent sind im
Osten doppelt so viele Frauen arbeitslos gemeldet wie im
Westen des Landes. In Ostdeutschland sind Frauen erschreckenderweise in wesentlich stärkerem Maße mit
Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert als in Westdeutschland. Begrüßenswert ist, dass sich die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Antrag dieses Missstandes annimmt. Er
enthält auch Forderungen, die gewiss die Unterstützung
des ganzen Hauses finden können. Ich nenne nur die
Stichworte flächendeckende Kinderbetreuung, finanzielle
Gerechtigkeit für Erziehende, die Angleichung der Löhne
von Frauen und Männern und flexible Arbeitszeitmodelle.
So weit, so gut.
Nur leider sind in Ihrem Antrag vor allem unsoziale
Forderungen zu finden, die an den wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Realitäten vorbeigehen. Diese können
wir nur strikt ablehnen. Es gibt zwei zentrale Kritikpunkte. Der erste Kritikpunkt ist Ihre Forderung nach
Zusammenlegung der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe. De facto läuft das auf eine Streichung der Arbeitslosenhilfe hinaus. Das ist unumstritten eine Armutsfalle.
Die Fragen nach Möglichkeiten zur Integration in den Arbeitsmarkt und nach der Inanspruchnahme arbeitsmarktpolitischer Instrumente bleiben auf der Strecke.
Unser zweiter Kritikpunkt ist Ihre Forderung nach
Ausbau des Niedriglohnsektors. Das ist eine falsche
Strategie. Statt Armut zu vermeiden, setzen Sie auf „working poor“, das heißt arbeitende Arme. Das, was Frauen
in diesem Land brauchen, ist ein eigenständiges existenzsicherndes Einkommen mit ausreichender Absicherung
durch die Sozialversicherungen. Nicht der Ausbau der
Billigjobs, sondern die Einführung eines existenzsichernden Mindestlohnes ist vonnöten. Um die Armut arbeitender Frauen zu verhindern, sollte das Motto heißen: Mindestlohn statt Niedriglohn.
({1})
Gestatten Sie mir noch vier kurze Anmerkungen. Erstens. Gute Absichtserklärungen haben uns nicht weitergebracht. Der letzte Beweis ist die Vereinbarung der Spitzenverbände der Wirtschaft mit der Bundesregierung zur
Förderung der Frauenbeschäftigung vom Juli letzten Jahres. Seither ist so gut wie nichts geschehen. Ohne verbindliche gesetzliche Regelungen wird sich nichts tun.
Deshalb brauchen wir Quotierungen, Sanktionen, ein Verbandsklagerecht und auch ein Gleichstellungsgesetz für
die Privatwirtschaft.
Zweitens. Erziehungs- und Pflegezeiten dürfen nicht
zum Ausschluss von Frauen aus dem Arbeitsmarkt führen
und nicht zur Armutsfalle werden. Stattdessen müssen Erziehung und Pflege einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt werden und Ansprüche auf
Lohnersatzleistungen begründen.
Drittens. Hausfrauen muss die Rückkehr in den Beruf,
der Erwerb eines eigenen Einkommens erleichtert werden. Das ist nur durch die Öffnung der Arbeitslosenversicherung und durch den Zugang zu Leistungen nach
SGB III möglich. Dadurch könnte langfristig die nacheheliche Unterhaltsverpflichtung wegfallen. Das wäre ein
wichtiger Beitrag zum Aufbau einer eigenständigen Existenzsicherung.
Viertens. Die alte Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ hat an Aktualität nichts, aber auch gar nichts
eingebüßt; denn hier beginnt die geschlechtsspezifische
Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Um
diese abzubauen sowie Frauen und Männer im Erwerbsleben tatsächlich gleichzustellen, bedarf es des Eingreifens der Politik durch gesetzliche Regelungen. Sonst
bleibt alles bei den berühmt-berüchtigten Good-will-Aktionen.
Ich danke.
({2})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Doris Barnett von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich: Nach
16 Jahren in der Regierung
({0})
und vier Jahren in der Opposition entdeckt die CDU/CSU
immerhin, dass Frauen, auch wenn sie Familie haben, arbeiten, Geld verdienen, ein eigenes Auskommen haben
und im Alter finanziell abgesichert sein wollen. Während
Ihrer Regierungszeit haben Sie dafür nicht allzu viel getan. Oder fällt Ihnen irgendeine Großtat ein? Mir fällt jedenfalls keine ein.
({1})
Die CDU/CSU hat die Entwicklung verschlafen oder
vorsätzlich missachtet. Beides ist politisch gesehen gleich
schlimm. Vieles von dem, was Sie jetzt fordern - Ihr Antrag enthält 19 Forderungen -, haben Sie doch auf dem
Gewissen. Sie haben zum Beispiel die ganzen Betreuungsstrukturen im Osten zuerst als sozialistischen Klimbim abgetan und dann abgeschafft. Jetzt beginnen wir
mühsam, diese dort wieder einzuführen.
({2})
Es gibt tatsächlich ein Problem mit der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. 1998 - es wurde schon darauf
hingewiesen - war bei Familien mit Kindern unter sechs
Jahren in 42,3 Prozent der Fälle nur der Mann erwerbstätig; da konnte die Frau gar nicht arbeiten. Viele Frauen
hätten aber gern gearbeitet und wären gern in den Beruf
zurückgegangen. An die Lösung dieses Problems sind wir
nach Regierungsübernahme sofort herangegangen. Das
verschweigen Sie. Sie haben sogar Verbesserungen abgelehnt, die wir eingeführt haben. Jetzt fordern Sie plötzlich
Verbesserungen, als hätten Sie etwas Neues entdeckt.
({3})
Ich darf einmal Folgendes aufzählen: 1999 hat unsere
Ministerin das Programm „Frau und Familie“ aufgelegt.
Wir arbeiten es systematisch ab. Wir haben die Neufassung des Bundeserziehungsgeldgesetzes durchgesetzt.
({4})
Wir haben das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete
Arbeitsverhältnisse, das den Frauen ebenfalls nützt, gegen Sie durchgesetzt. Wir haben familienpolitisch relevante Maßnahmen im Job-AQTIV-Gesetz verankert; das
hat die Kollegin Dückert gerade vorgetragen. Die Bundesregierung hat mit den Spitzenverbänden der deutschen
Wirtschaft Vereinbarungen getroffen, die Sie jetzt plötzlich auch einfordern.
({5})
- Was heißt „Da ist nichts herausgekommen!“? Machen
Sie doch einmal etwas vor! Sie kriegen nichts auf die
Reihe!
({6})
Wir haben einen Beschluss des Bündnisses von Arbeit
zur Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem
Arbeitsmarkt erreicht. Wir setzen 4 Milliarden für Betreuung ein usw. Ich könnte die Liste fortsetzen. All das
hat den Frauen geholfen. Viele konnten wieder aus der
stillen Reserve in den Arbeitsmarkt kommen. Deswegen
haben wir ja auch den Aufwuchs in unserer Beschäftigungsbilanz.
({7})
Wir haben das Problem erkannt und zu großen Teilen
schon gelöst.
Die CDU/CSU hat nach 16 Jahren Regierung und vier
Jahren Opposition nicht viel herzuzeigen. Aber doch, ein
neues Plakat haben Sie! Darauf steht: „Zeit für Taten“.
Dann fangen wir einmal mit den Taten an. Gehen wir einmal nach Bayern! Sie fordern zum Beispiel ein qualitativ
hochwertiges Angebot für die Betreuung von Kindern von
12 bis 14 Jahren. Wie sieht es da in Bayern aus? Für
115 000 Gymnasiasten stehen immerhin ganze 100 Plätze
in Ganztagsschulen zur Verfügung. Das sind etwa 0,1 Prozent. Da wollen Sie uns was erzählen! Gehen Sie mal nach
Rheinland-Pfalz, woher ich komme!
({8})
Da wird das jetzt sukzessive flächendeckend eingeführt.
({9})
Das ist eine Sache der Länder. Die von uns regierten Länder haben verstanden, was sie zu tun haben, die von Ihnen
regierten Länder noch lange nicht.
({10})
Frau Lenke hat vorhin gesagt, dass der Bund Geld zur
Verfügung stellen muss, damit die Länder und die Kommunen die Aufgaben, die sie eigentlich leisten müssen,
auch erfüllen können.
({11})
Wer hat denn seinerzeit im Bundestag den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind ab
dem dritten Lebensjahr beschlossen? Das war doch Ihre
Bank.
({12})
Haben Sie einen Pfennig an die Kommunen gegeben? Ich
wüßte nicht, dass das geschehen ist. Die Kommunen in
meiner Region leiden noch heute darunter.
({13})
Frau Kollegin Barnett, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Albowitz?
({0})
Nein, ich möchte gern im Zusammenhang vortragen.
({0})
- Nicht der Wahrheit wegen.
({1})
Es gibt einen Rechtsanspruch für Kinder bis zum dritten Lebensjahr, ohne dass ein Pfennig vom Bund an die
Länder geflossen ist.
({2})
Außerdem fordern Sie jetzt auch ganz groß, den Niedriglohnbereich für Frauen attraktiv zu machen.
({3})
- Sie fordern, den Niedriglohnbereich für Frauen attraktiv zu machen. Da frage ich mich: Was für ein Frauenbild
hat diese Partei?
({4})
Offensichtlich wollen Sie schon, dass Frauen etwas lernen, aber sie sollen den Männern bitte schön nicht die Arbeit wegnehmen. Sie sollen im Niedriglohnbereich, am
besten im Bereich zwischen 325 Euro und 800 Euro, bleiben, weil sie dann nichts in die Sozialversicherung einzahlen müssen. Hinten in Ihrem Antrag fordern Sie aber
plötzlich wieder eine eigenständige Alterssicherung der
Frauen. Da bin ich wirklich auf Ihre Erklärung dazu gespannt, wie das zusammenpasst.
({5})
Wenn Sie immer mehr Frauen in den Niedriglohnbereich drängen, weil Sie sagen, sie sollten keine Sozialversicherung zahlen müssen oder beitragsfrei sein, dann
müssen Sie sich überlegen, welche Auswirkungen das auf
die Sozialversicherungen hat. Die Männer, die dann die
Vollzeitarbeitsplätze haben, müssen von daher natürlich
höhere Beiträge zahlen.
({6})
Wie Sie vor diesem Hintergrund dann die Lohnnebenkosten senken wollen, ist für mich - das muss ich Ihnen ehrlich sagen - bisher ein Geheimnis geblieben. Darüber
werden Sie uns gleich, nehme ich an, aufklären.
Sie fordern Qualifizierung für Tätigkeiten durch Training on the job. Das ist ja ganz was Neues. Heißt das, dass
Frauen zukünftig keine dreijährige Ausbildung mehr bekommen sollen? Sie blockieren ja auch das Gesetz über
die Ausbildung in der Altenpflege. Am besten sollen sie
Arbeitskräfte werden, die in zwei Jahren angelernt werden, weil das dann wieder mit dem Niedriglohnbereich
zusammenpasst. Denn wenn sie nicht ordentlich ausgebildet sind, müssen ihnen wohl die entsprechenden Löhne
nicht gezahlt werden.
Tatsächlich ist Ihr Frauenbild völlig antiquiert. Sie
wollen die Frauen lieber zu Hause halten und sie mit dem
Familiengeld alimentieren. Damit meinen Sie, eine große
Tat vollbracht zu haben.
Leider bin ich schon am Ende meiner Redezeit angelangt. Deswegen kann ich Ihnen nur versichern: Ihr Antrag ist nicht frauenfreundlich und deshalb noch nicht einmal wahlkampftauglich. Denn so blöd sind die Frauen
nicht, dass sie das nicht merken. Er ist nicht umsetzbar und
sollte deswegen - den guten Rat darf ich Ihnen geben - so
schnell wie möglich zurückgezogen werden.
({7})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ina Albowitz
das Wort.
Frau Kollegin Barnett, ich
möchte Sie nur gerne schnell über einen Vorgang aufklären, der Ihnen offensichtlich nicht bekannt ist. Als wir
Anfang der 90er-Jahre das Gesetz zum § 218 beraten haben, ist es vom Bundesverfassungsgericht zur Nachbesserung zu uns zurückgekommen. Einer der wesentlichen
Punkte war, dass wir einen Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze und eine entsprechende Finanzausstattung
einplanen und dass wir uns auch an der finanziellen Ausstattung der Länder beteiligen mussten. Das war ein Bestandteil des Urteils. Das sollten Sie vielleicht einmal
nachlesen, damit Ihnen diese Informationen künftig nicht
mehr fehlen. Ich formuliere das bewusst so vorsichtig.
Ich war damals an den Verhandlungen zum Finanzteil
des Gesetzes mit beteiligt. Bei Ihnen war Frau WettigDanielmeier Verhandlungspartnerin. Es gab eine große
Koalition dieses Hauses zu § 218, zu § 219, zu allen Begleitgesetzen und zum Finanzteil. Das Gesetzesvorhaben
ist damals nicht nur von dieser Seite, sondern vom ganzen
Haus verhandelt und mitgetragen worden.
({0})
Wir haben den Ländern über drei Jahre aus dem Länderfinanzausgleich Finanzmittel eingeräumt mit dem ausdrücklichen Auftrag, einen Teil der Mittel an die Kommunen weiterzugeben.
Das nur zur Wahrheitsfindung.
({1})
Frau Kollegin Barnett zur Erwiderung, bitte schön.
Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass mich mein Sozialdezernent immer wieder
darauf hinweist, dass dies eben nicht der Fall ist, dass
nämlich bei den Kommunen nichts ankommt.
({0})
Sie können deshalb hundertmal wiederholen, dass es
so gewesen sein soll. Auf jeden Fall haben die KommuDoris Barnett
nen nach wie vor sehr darunter zu leiden. Das läuft noch
längst nicht nach dem Motto „Wer bestellt, zahlt“.
Nehmen Sie sich bitte ein Beispiel an unserer sozialen
Grundsicherung. Wir haben sie sogar in das Gesetz aufgenommen.
({1})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette WidmannMauz das Wort.
Ich nutze die Gelegenheit, um der Kollegin zu ihrem
heutigen Geburtstag zu gratulieren. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Herr Präsident, herzlichen Dank für die Glückwünsche.
Meine Damen! Meine Herren! Wir Frauen in der
Unionsfraktion haben gemeinsam mit den arbeits- und
sozialpolitischen Experten unserer Fraktion den Antrag
„Wiedereinstieg in den Beruf für Frauen erleichtern Frauenarbeitslosigkeit in Deutschland bekämpfen“ eingebracht. Wir machen damit deutlich, dass die verfehlte
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gravierende Auswirkungen hat, und zwar nicht zuletzt für die
Frauen.
Im Sinne des Gender Mainstreaming bildet eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik die Grundlage seriöser Frauenpolitik und umgekehrt. Hierbei hapert es aber bei Ihnen,
meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, gewaltig. Die Arbeitsmarktzahlen sprechen eine deutliche
Sprache. Der Maitrend ist besorgniserregend: Saisonbereinigt stieg die Arbeitslosenzahl um 60 000 weiter auf
mehr als 4 Millionen. Das ist der höchste Wert seit November 1999. Knapp 2 Millionen der Arbeitslosen sind
Frauen. Das nennen Sie „Aufwuchs der Beschäftigungsentwicklung“, Frau Barnett. Das klingt für die arbeitslosen Frauen wie Hohn.
({0})
Frauenarbeitslosigkeit zu beseitigen ist unser gemeinsames Ziel. Das will ich Ihnen nicht absprechen. Doch unsere Wege dorthin sind grundverschieden und die erschreckend hohen Arbeitslosenzahlen attestieren Ihnen:
Sie sind auf dem Weg zum Ziel in eine Sackgasse eingebogen.
Während Sie glauben, mit Ihrem Programm „Frau und
Beruf“ den großen Coup gelandet zu haben, liefern Sie
nichts als Phrasen und Ankündigungen. Wir sind Ihnen
mit unserem heute vorliegenden Antrag und unseren arbeitsmarktpolitischen Konzepten ein großes Stück voraus. Das wissen Sie auch.
Es wiegt sehr schwer, dass Sie in Ihren Regierungsjahren am laufenden Band Gesetze produziert haben, die die
Zukunftschancen von Frauen aufs Gröbste beschnitten
haben. Bei Frauen, die tatsächlich Arbeit haben oder anderen Frauen Arbeit bieten, wirken Ihre Gesetze nämlich
kontraproduktiv. Schauen wir uns doch nur die gravierenden Versäumnisse bei der Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie an. Wer ein
bedarfsgerechtes, flexibles, qualitativ hochwertiges Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen gewährleisten
will, der muss die Länder und Gemeinden dazu auch finanziell in die Lage versetzen. Mit Ihrer Steuerreform,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, haben Sie die Kommunen an den Rand einer
finanziellen Katastrophe gebracht. Das ist Ihr Verschulden.
({1})
Wir können gleich fortfahren: Mit Ihrem Teilzeitgesetz
haben Sie das Gegenteil des Gewünschten erreicht. Es
wirkt gerade für Frauen beschäftigungshemmend. Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Unternehmerinnen
und Unternehmern vor Ort!
({2})
Das neue Betriebsverfassungsgesetz belastet die Unternehmen, ohne für die Beschäftigten greifbare Vorteile
zu bringen.
({3})
- Da ist nichts lachhaft. Sie können Wahrheiten nicht ertragen, lieber Kollege Dreßen.
({4})
Machen wir einmal weiter: Die Maßnahmen Ihres so
genannten Job-AQTIV-Gesetzes bleiben doch wirkungslos. Sie verpuffen und sind insgesamt sogar kontraproduktiv. Das JUMP-Programm floppt. Sage und schreibe
nur 16,8 Prozent der Frauen, die an entsprechenden Maßnahmen teilgenommen haben, finden nach deren Abschluss überhaupt eine Arbeit. Das nennen Sie erfolgreiche Beschäftigungspolitik für Frauen!
({5})
Im Job-AQTIV-Gesetz tritt die verfehlte Politik ja
ganz besonders deutlich zutage. Dieses Gesetz greift nämlich nicht. Die als Wunderwaffen gepriesenen neuen Instrumente werden, wenn überhaupt, nur vereinzelt eingesetzt. Die neu festgelegten Förderquoten - Sie haben es
schon erwähnt - können sich bei strikter Anwendung Ihres Gesetzes sogar nachteilig für Frauen auswirken.
53 Arbeitsämter müssten nach Ihrem Gesetz weniger
Frauenförderung als bisher betreiben. Das betrifft zum
Beispiel Arbeitsmarktregionen wie Hamburg, die strukturell eine niedrige Frauenarbeitslosigkeit vorweisen. Ich
kann Ihnen nur sagen: Es bleibt zu hoffen - da bin ich
ganz zuversichtlich -, dass diejenigen, die vor Ort Sachverstand in den Arbeitsämtern besitzen, solche unsinnigen
Regelungen erst gar nicht umsetzen werden.
({6})
Die Liste Ihrer Versäumnisse ließe sich beliebig weiterführen. Besonders das Thema Wiedereinstieg in den
Beruf zeigt beispielhaft Ihre ideologischen Scheuklappen.
({7})
Die Diskussion heute hat es ja wieder einmal bestätigt.
Uns ist es wichtig, dass Frauen und Männer, die sich für
eine gewisse Zeit - durchaus auch ausschließlich - der Familienarbeit gewidmet haben, einen erfolgreichen Wiedereinstieg in den Beruf schaffen können. Aber dieser Lebenslauf kommt ja in Ihrem Leitbild, das ausschließlich
auf die durchgängige Erwerbstätigkeit beider Elternteile
baut, überhaupt nicht vor.
({8})
Wir werden eine umfassende Reform der Arbeitsmarktpolitik in Angriff nehmen. Diese soll die Anreize zur
Aufnahme von Arbeit durchgehend verbessern und die
Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen entscheidend erhöhen.
({9})
Meine Damen und Herren, unser Offensiv-Gesetz bietet Perspektiven, vor allen Dingen für Frauen. Wir müssen
auch Neues wagen, um überhaupt mehr erreichen zu können. Für uns steht im Vordergrund, die Erwerbstätigkeit
des Einzelnen gezielt zu fördern und nicht seine Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wie Sie das anscheinend lieber tun.
({10})
Dabei wird der Zusammenführung von Betreuung, Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung in der
Hand von Vermittlungsagenturen eine zentrale Bedeutung
zukommen. Mit solchen Job-Centern wird nämlich stärker als bislang gewährleistet werden, dass bei der Arbeitsvermittlung auch auf die individuelle Situation von
Frauen mit Kindern eingegangen wird, insbesondere auf
die von Alleinerziehenden.
Machen wir uns doch nichts vor: Arbeit muss sich wieder lohnen, auch für Frauen.
({11})
Es müssen Anreize geschaffen werden, damit der so genannte Niedriglohnbereich für Frauen und Männer wieder
attraktiver wird.
({12})
Sonst entwickelt sich die Sozialhilfe zu einem Lebensstil.
Dies darf und kann nicht sein, vor allem nicht bei Frauen.
Viele Frauen erhoffen sich trotz dieser schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt einen Neuanfang. Diesen
Neuanfang erhoffen sich Frauen in Deutschland mit der
Union. Es ist Zeit für Taten.
Herzlichen Dank.
({13})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die
Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den wir heute Abend
beraten, fügt sich in das, was die Union in letzter Zeit vorgelegt hat, nämlich lauter Bausteine für eine Zweiklassengesellschaft, nahtlos ein.
({0})
Nichts anderes als ein solcher Baustein ist es.
Ich nehme an, dass Sie im Hinblick auf die PISA-Studie repräsentativ sind: Sie haben weder rechnen noch lesen gelernt;
({1})
Sie haben einen Antrag verfasst, aus dem offensichtlich
hervorgeht, was Sie wollen. Eigentlich müsste Ihr Antrag
nicht heißen „Wiedereinstieg in den Beruf für Frauen erleichtern ...“, sondern: Wiedereinstieg in den Beruf für
eine bestimmte Gruppe - Nichtqualifizierte, Sozialhilfeempfängerinnen - von Frauen erleichtern. Nichtqualifizierte und Sozialhilfeempfängerinnen wollen Sie mit allen Mitteln in Arbeit bringen, unabhängig davon, ob das
möglich ist oder nicht.
({2})
Ich nehme nicht an, dass Sie sich mit dem Großteil der
Frauen in der Bundesrepublik anlegen wollen. Wenn Sie
ihnen das, was Sie in diesem Antrag geschrieben haben,
dass sie nämlich nicht qualifiziert sind, erzählen, dann
werden Ihnen diese Frauen den Antrag um die Ohren
hauen. Wenn Sie die Statistiken über die Anzahl der Abiturientinnen und Abiturienten sowie über die Anzahl der
männlichen und weiblichen Hochschulabsolventen lesen
könnten, dann kämen Sie nicht auf die Idee, zu behaupten,
dass Frauen nicht qualifiziert sind. Unsere jungen Frauen
und unsere jungen Mütter sind qualifiziert. Für deren
Qualifikation müssen Sie nicht sorgen. Oder zielt Ihr Antrag etwa gar nicht auf diese Frauen ab? Das vermute ich
stark.
({3})
Ihr zweites Vorhaben ist die Subventionierung mit
600 Euro pro Monat und Kind. Das kann nur auf eine
Subventionierung der gut Verdienenden hinauslaufen;
denn eine Frau mit einem normalen, durchschnittlichen
Einkommen kann mit diesem Geld keine Kinderbetreuung bezahlen.
({4})
Verraten Sie mir bitte, wie das funktionieren soll! Ich halte
nichts von Ihrem Angebot von 600 Euro pro Kind und
Monat. Vorher haben Sie davon gesprochen, dass Frauen
unabhängig von der Anzahl ihrer Kinder drei Jahre lang
denselben Betrag bekommen sollen. Jetzt ist nur noch von
einem Kind und von einer einjährigen Bezugsdauer die
Rede.
({5})
Diese Geschichte haben Sie sich doch nur für die gut Verdienenden ausgedacht, die Sie auch in der Steuerpolitik
durch die Absenkung des Spitzensteuersatzes bevorzugen
wollen.
Sie zielen mit diesem Antrag auf nichts anderes als auf
die Schaffung einer Zweiklassengesellschaft, wie Sie sie
auch im Gesundheitswesen wollen.
({6})
Auch dort propagieren Sie, dass die Bezieher unterer und
mittlerer Einkommen mehr Eigenverantwortung übernehmen sollen, schließlich können sich die Bezieher der
höheren Einkommen dank Ihrer Alimentierung mehr
Eigenverantwortung problemlos leisten. Ich muss Ihnen
sagen: 90 Prozent der Beiträge zur Sozialversicherung
werden von den Beziehern unterer und mittlerer Einkommen erbracht.
Die Leute sind nicht so blöd, dass sie nicht merken,
was Sie mit Ihrem Wahlprogramm eigentlich vorhaben.
({7})
Nicht alle haben in der Schule nicht aufgepasst und das
Rechnen nicht gelernt; denn sonst würden sie diese Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts nicht anders
als Sie interpretieren. Sie beherrschen noch nicht einmal
die vier Grundrechenarten.
({8})
Ich muss Ihnen sagen: Wenn Sie einen Wiedereinstieg
der Frauen tatsächlich wollten, dann würden Sie alle
Frauen berücksichtigen und nicht nur diejenigen, die Sie
dadurch beglücken wollen, dass sie ihnen einen Zugang
zum unteren Lohnsektor verschaffen. Im Hinblick auf
diese Frauen gehen Sie von einem Familienbild aus, das
im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Wahlfreiheit gewähren
Sie ihnen nämlich nicht, wenn Sie sie in Arbeit zwingen
wollen, obwohl keine Kinderbetreuung vorhanden ist.
Mit diesem Antrag haben Sie wirklich eine Bruchlandung
hingelegt. Mit unserer Steuerreform und unserer
Kindergelderhöhung haben wir Familien besser gestellt,
was Sie jahrelang nicht getan haben.
({9})
Ich komme aus Bayern. Die CSU hat den Familien dort
nicht die Chance gegeben, dass ihre Kinder betreut werden.
({10})
Nachdem Sie nichts getan haben, hat der Kanzler gesagt
- das sagen auch wir -: Wir nehmen in den nächsten
vier Jahren 4 Milliarden Euro in die Hand, damit etwas
initiiert werden kann, wenn die Länder schon selber nicht
in die Gänge kommen.
({11})
Wir tun das nicht, weil wir etwas staatlich verordnen wollten, sondern weil in unserem Familienbild alle Platz haben und nicht nur eine ganz bestimmte Klientel.
Mit Ihrer Klientel gewinnen Sie übrigens keine Wahl.
Sie macht einen viel zu kleinen Teil der Bevölkerung aus.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht Ihrer Ansicht. Das
werden Sie am 22. September erleben. Wir werden unsere
Reformpolitik für Familien und Frauen fortsetzen. Ich
werde Ihnen erhalten bleiben. Ich habe nicht meine Abschiedsrede gehalten.
Gute Nacht.
({12})
Ich schlie-
ße die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8786 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatz-
punkte 8 und 9 auf:
9. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu
dem Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Elfter Bericht zur Entwicklungspolitik der
Bundesregierung
- Drucksachen 14/6496, 14/8493, 14/9324 Berichterstattung:
Abgeordnete Adelheid Tröscher
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Adler,
Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, HansChristian Ströbele, Kerstin Müller ({3}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reformprozess der internationalen Agrarforschung vorantreiben
- Drucksachen 14/8000, 14/8973 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Adler
Marlies Pretzlaff
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({4})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner
Schuster, Reinhold Hemker, Horst Kubatschka,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({6}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sonderprogramm zur breitenwirksamen Nut-
zung angepasster, erneuerbarer Energien in
den Entwicklungsländern
- Drucksachen 14/5486, 14/9307 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Dr. Christian Ruck
Dr. Angelika Köster-Loßack
Carsten Hübner
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner
Schuster, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Antje Hermenau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Zivilgesellschaft im Norden und
im Süden - eine Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksachen 14/5789, 14/9308 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({8})
Peter Weiß ({9})
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({10})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Schmidt
({12}), Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({13}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung
von Wasser in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksachen 14/7484, 14/9310 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({14})
Dr. Christian Ruck
Dr. Angelika Köster-Loßack
Carsten Hübner
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({15}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker,
Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Afrikas neues Denken unterstützen
- Drucksachen 14/8859, 14/9311 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({16})
g) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Sicherung der öffentlichen Entwicklungshilfe
des Bundes
({17})
- Drucksache 14/8338 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({19})
- Drucksache 14/9312 Berichterstattung:
Abgeordnete Detlef Dzembritzki
Dr. Angelika Köster-Loßack
Carsten Hübner
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({20})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther
({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Informationstechnologie in den Mittelpunkt
der Entwicklungszusammenarbeit stellen
- Drucksachen 14/5578, 14/9314 Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Marlies Pretzlaff
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({22})
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({23})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun
({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umsetzung der von Deutschland beim Millenniumsgipfel übernommenen Verpflichtungen
- Drucksachen 14/9055, 14/9419 Berichterstattung:
Abgeordnete Adelheid Tröscher
Dr. Angelika Köster-Loßack
Carsten Hübner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Adelheid Tröscher von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch schön, zu so später Stunde über Entwicklungspolitik zu sprechen.
({0})
Dass so viele da sind, finde ich ganz besonders gut.
({1})
Wir können uns sehr darüber freuen, dass dieses Thema
uns alle so begeistert. Die heutige Debatte bietet eine gute
Gelegenheit, über Bilanz und Perspektive der deutschen
Entwicklungspolitik zu reden.
({2})
Das Ende des Ost-West-Konfliktes, der in den letzten
Jahren beschleunigt voranschreitende Globalisierungsprozess und nicht zuletzt der 11. September haben die Rahmenbedingungen für Entwicklungspolitik entscheidend verändert. Daher muss Entwicklungspolitik für das
21. Jahrhundert als Teil globaler Struktur- und Friedenspolitik verstanden und in enger Zusammenarbeit mit Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet werden. Wir haben dies
seit 1998 konsequent umgesetzt und können nun zu Recht
behaupten, dass sich unsere Politik an den Zielsetzungen
von sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, politischer Stabilität und ökologischem Gleichgewicht orientiert.
({3})
- Es ist doch auch so.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir bei unserer
Regierungsübernahme 1998 vorgefunden haben, sah jedoch anders aus. Die Entwicklungspolitik war zu einem
Nischenbereich der Politik in Deutschland geraten.
({5})
Der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe war von
0,48 Prozent im Jahre 1982 - hören Sie gut zu! - auf
0,26 Prozent im Jahre 1998 gefallen, also fast um die
Hälfte.
Reformen der nationalen wie internationalen Entwicklungszusammenarbeit wurden jahrelang blockiert. Vorhandene Kräfte wurden nicht zielgerichtet eingesetzt und
konzentriert. Konfliktprävention und die aktive Gestaltung globaler Strukturen waren Randthemen. Verbesserte
Entschuldungsmöglichkeiten der ärmsten Entwicklungsländer waren nicht vorgesehen.
({6})
Die Politik unserer Vorgängerregierung verzettelte sich in
zahllosen Einzelprojekten und unzusammenhängenden
Sektoren und war geprägt von Perspektivlosigkeit und leider Gottes - ich muss es sagen - auch von Ideenarmut.
({7})
Dies darf sich natürlich nicht wiederholen. Deshalb ist
es gut so, dass wir über den 22. September hinaus globale
Struktur- und Friedenspolitik gestalten werden - mit
klaren inhaltlichen und organisatorischen Reformen und
mit mehr Mitteln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir heute auch
über den Elften Bericht zur Entwicklungspolitik reden, ist
es wichtig, das noch einmal darzustellen, was wir in den
letzten Jahren erreicht haben, und zwar - dies füge ich
ausdrücklich und lobend hinzu - in Zusammenarbeit mit
den Nichtregierungsorganisationen, mit den Stiftungen,
mit den Kirchen und auch mit der Zivilgesellschaft und
der Wirtschaft. Als ich das alles noch einmal durchlas, war
ich richtig stolz darauf, was wir in diesen letzten Jahren
alles gemacht haben.
({8})
- Ich bitte Sie, jetzt gut zuzuhören.
Wie von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem
Millenniumsgipfel angekündigt, haben wir ein nationales
Aktionsprogramm zur Halbierung der weltweiten Armut
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
erarbeitet und beschlossen, in dem festgelegt wird, dass
die Politik der Bundesregierung der Armutsbekämpfung
verpflichtet ist.
({9})
Wir haben auf dem Kölner G-8-Gipfel eine Entschuldungsinitiative angestoßen, mit der es gelungen ist, erweiterte und an das Ziel der Armutsbekämpfung gekoppelte Entschuldungsmöglichkeiten für die ärmsten, hoch
verschuldeten Entwicklungsländer zu finden und eine auf
die Armutsbekämpfung orientierte Kooperationspolitik
von IWF und Weltbank durchzusetzen.
Wir haben unser Engagement und die Mobilisierung
von Mitteln bei der internationalen Bekämpfung von
HIV/Aids verstärkt - und dies nicht nur unter dem Dach
der Vereinten Nationen, sondern in Zusammenarbeit mit
anderen Partner- und Geberländern wie auch im Rahmen
der Kooperation mit der privaten Wirtschaft.
({10})
Wir haben ein Gesamtkonzept erarbeitet, in dem Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung im Kontext eines erweiterten Sicherheitsbegriffs
verstanden werden. Dabei kommt der Entwicklungspolitik und ihrem Beitrag zu politischer, ökonomischer, ökologischer und sozialer Stabilität eine tragende Rolle zu.
Wir haben uns für eine gerechte, sozial und ökologisch
orientierte Welthandelsordnung eingesetzt, die auch die
Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt, etwa
bei der „Everything But Arms“-Initiative der Europäischen Union.
Wir haben den zivilen Friedensdienst als friedenspolitisches Instrument gestärkt, das den gewaltfreien Umgang
mit Konflikten unterstützt. Wir haben uns besonders für einen erfolgreichen Abschluss des Cotonou-Abkommens
eingesetzt. Wir haben neue Initiativen für Klimaschutz, für
die Bekämpfung der Wüstenbildung, für biologische Sicherheit sowie für die Entschärfung von Konflikten um
Wasserressourcen auf den Weg gebracht. Über all diese
Punkte hinaus haben wir zahlreiche Maßnahmen ergriffen,
die das Ziel haben, Frauenrechte zu stärken, die Menschenrechte zu achten und die zunehmende Spaltung der
Welt in Arm und Reich zu verhindern.
({11})
Ich meine, das ist eine exzellente Bilanz für die ersten vier
Jahre unserer Entwicklungspolitik.
An dieser Stelle danke ich dem Ministerium und der
Ministerin, die das Thema Entwicklungspolitik unermüdlich in den Kontext der Politik der Bundesregierung gestellt hat. Sie hat Überzeugungsarbeit geleistet und ist
auch Konflikten nicht aus dem Weg gegangen, sondern
hat sich aktiv um deren Lösung bemüht.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilanz bedeutet zugleich Perspektive. Deshalb sagen wir den Menschen
auch klar, was wir wollen, was machbar ist und wie wir
Zukunft gestalten werden. Denn eines ist klar: Die Globalisierung wird sich weiter beschleunigen; sie wird immer weitere Bereiche erfassen. Ihre Auswirkungen werden für immer mehr Menschen spürbar. Aber wenn sich
schon in den Industrieländern, die immerhin auf der Gewinnerseite der Globalisierung stehen, Angst und Unmut
breit machen: Wie muss es dann erst den Menschen in den
Entwicklungsländern gehen, die Globalisierung eher als
Bedrohung empfinden?
Johannes Rau sagte in seiner Berliner Rede am
13. Mai 2002:
Die Globalisierung fordert uns heraus. Wir müssen
und wir können sie politisch gestalten. Das erfordert
viel, aber nicht mehr, als wir leisten können.
Das müssen wir dann eben auch tun.
({13})
Wir müssen und wollen Armut und Hunger weltweit
mindern und durch eine gerechte und solidarische Entwicklung Frieden sichern. Nur so können Krieg, Armutswanderungen und internationaler Terrorismus langfristig
und effektiv bekämpft werden.
({14})
Wir setzen uns für die Schaffung einer sozial gerechten
Weltwirtschaftsordnung und ihre Umsetzung in den Partnerländern ein, damit die soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung gelingen kann. Die Länder des
Südens und des Ostens brauchen eine faire Integration
in den Welthandel. Durch eine bessere Beteiligung an
den WTO-Strukturen müssen ihre Interessen im Welthandelssystem stärker berücksichtigt werden. Darin werden
wir sie unterstützen.
({15})
Die Europäische Union ist für viele dieser Länder der
wichtigste Handelspartner. Deshalb muss sie für die ärmsten Entwicklungsländer den freien Zugang zu ihren Märkten sicherstellen. Die von der EU beschlossene Marktöffnung für die 48 ärmsten Entwicklungsländer ist ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Im Rahmen der
WTO müssen Zölle und Handelsbarrieren für weiter zu
verarbeitende Produkte zurückgeführt und gleichzeitig
soziale und ökologische Mindeststandards im Welthandel
stärker verankert werden.
({16})
Das internationale Ziel, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes jedes Landes für die Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen, gilt nach wie vor. Dieses Ziel werden
wir stufenweise umsetzen. Wir werden, wie auf dem EUGipfel in Barcelona verabredet, in Deutschland unseren
Beitrag dazu leisten und unseren Anteil bis zum Jahr 2006
auf 0,33 Prozent des Bruttosozialproduktes steigern.
({17})
Wir brauchen Fortschritte bei den globalen Umweltzielen wie der Verminderung des CO2-Ausstoßes und
der Sicherung der globalen natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Reform der internationalen Finanzarchitektur
liegt mir sehr am Herzen. Sie ist eine aktuelle Aufgabe der
Politik. Auch wegen der ungelösten Verschuldungskrisen
vieler Länder muss das internationale Finanzsystem weiterentwickelt werden. Hierzu gehört auch, dass in einem
breiten Ansatz alle Instrumente zur Erreichung stabiler
und nachhaltig funktionierender internationaler Finanzmärkte geprüft werden. Auch neue Finanzierungsinstrumente müssen wir in die Prüfung einbeziehen. Hierzu
gehört für mich die Tobin-Tax. Sie ist sinnvoll für die Finanzmärkte, machbar auf unterschiedlichen Ebenen und
erstrebenswert für die Finanzierung von Umwelt und
Entwicklung.
({18})
Das Ministerium ist da schon einen sehr guten Weg gegangen, indem es ein Gutachten erarbeitet hat, das so genannte Spahn-Gutachten, das die Einführung einer solchen Steuer als machbar ansieht.
({19})
Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen leisten eine wichtige Arbeit. Mit ihren Fähigkeiten
und Kenntnissen sind sie unsere wichtigsten Partner bei
der Gestaltung der Globalisierung, bei der Bekämpfung
von Armut und bei der Friedenssicherung. In enger Kooperation mit diesen Organisationen werden wir das Ziel
der einen Welt weiter verfolgen.
({20})
Dabei ist unser entwicklungspolitischer Ansatz von
dem Bewusstsein und der Notwendigkeit der sozialen und
ökologischen Gestaltung geprägt. Ziel unserer Politik ist
es, zur Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse
aller Menschen beizutragen. Das bedeutet für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Wir treten ein für
soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,
Frieden und Menschenrechte sowie für den Erhalt natürlicher Ressourcen. Die Armutsbekämpfung selbst bleibt
überwölbendes Ziel unserer Politik.
({21})
Am 22. September wird auch die Entscheidung getroffen, wie es mit unserer Entwicklungspolitik weitergeht.
Die CDU/CSU hat die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, wie gesagt, in der Zeit von 1982 bis
1998 fast halbiert - ich will nicht sagen: heruntergewirtschaftet; das wäre ein sehr starkes Wort. Dies darf sich
nicht wiederholen. Statt mit der Gießkanne zu arbeiten,
brauchen wir eine effiziente und zielgenaue Verwendung
der uns zur Verfügung stehenden Mittel.
Und die FDP? Sie will das BMZ abschaffen.
({22})
So wird man den globalen Herausforderungen in der einen Welt nicht gerecht.
({23})
Deshalb sagen wir mit aller Deutlichkeit: Mit einer Politik von gestern und einem Personal aus der Vergangenheit kann man Zukunft nicht gestalten.
({24})
Wir halten an der Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik fest, die in den letzten vier Jahren so erfolgreich war. Sie ist Baustein der globalen Struktur- und
Friedenspolitik.
({25})
- Ich glaube alles, was ich sage, und darüber hinaus noch
viel mehr, auch das, was ich nicht aufgeschrieben habe.
({26})
Wir werden mit unserer Politik der globalen Verantwortung auch in den nächsten Jahren fortfahren. Dies bedeutet: Wir werden Armut bekämpfen, Frieden sichern
und die Globalisierung sozial gerecht und ökologisch gestalten - mit einem starken BMZ und einer zukunftsorientierten, ideenreichen Politik, Frau Albowitz.
({27})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute von
der Regierungskoalition initiierte entwicklungspolitische
Debatte will einen neuen Weltrekord in Oberflächlichkeit
und Beliebigkeit aufstellen. Acht wichtige politische Themenstellungen von der Armutsbekämpfung über Agrarforschung, Energie und Wasser bis hin zu Afrika möchte
Rot-Grün innerhalb einer Debattenstunde herunterspulen.
Aber Ihnen ist das wohl selbst aufgefallen, da Sie einen
Debattenpunkt zurückgezogen haben.
Diese Vorgehensweise ermöglicht keine seriöse Behandlung dieser so wichtigen Themenstellungen und würdigt
diese für Millionen Menschen in den Entwicklungsländern lebensentscheidenden Fragen zu einer minutenweise
abzuhakenden Strichliste herab.
({0})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich aus diesem
Grunde geweigert, der ohnehin völlig überladenen Tagesordnung eigene Initiativen hinzuzufügen. Wir werden bei
anderer Gelegenheit darüber diskutieren.
Die Strukturierung der Debatte durch die Regierungskoalition ist geradezu typisch für die vergangenen vier
Jahre rot-grüner Entwicklungspolitik. Themen werden
völlig willkürlich bzw. je nach dem, worauf sich gerade
tagesaktuell das Medien- und Öffentlichkeitsinteresse
richtet, ausgewählt und zusammengewürfelt. Die Administration des Ministeriums verkommt zu einem Bürokratisierungsdschungel immer neuer Sonderprgramme, Sonderstäbe und Sonderbeauftragter. Aber Hauptsache, die
Ministerin kann sich damit das Interesse einiger Journalisten erhaschen!
({1})
Fernsehkameras und Talkshows ziehen die Leitungsmitglieder des BMZ an wie das Licht die Motten.
Wen wundert es, dass immer mehr Beobachter auch
aus dem Lager der Nichtregierungsorganisationen und der
Kirchen der Ministerin vorwerfen, eine zielgerichtete
Entwicklungspolitik sei PR-strategischer Beliebigkeit gewichen und medienwirksames Geklappere genieße Priorität vor konstruktiver Sacharbeit?
({2})
Wen wundert es dann, dass nun sogar in der aktuellen
Ausgabe des BMZ-Hofblättchen „E+Z“ ein renommierter
Autor für die Abschaffung eines unabhängigen Entwicklungsministeriums und für dessen Integrierung in das
Auswärtige Amt plädiert?
({3})
Die Lektüre schmerzt einen umso mehr, wenn man in
Rechnung stellt, dass der Autor der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im BMZ, Volkmar Köhler, ist, und
wenn man weiß, wie schwer es ihm gefallen sein dürfte,
sich angesichts der frustrierenden rot-grünen Entwicklungsrealität zu dieser Konsequenz durchzuringen.
({4})
Die Realität ist wahrlich bedrückend. Zentrales Thema
ist sicherlich die mangelnde Mittelausstattung des
BMZ. Während im Regierungsprogramm von RotGrün - Frau Tröscher, darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen - noch von einem Stopp und dem Umkehr des
Abwärtstrends die Rede war, heißt es nun kleinlaut, der
Abwärtstrend solle gestoppt werden.
({5})
Faktisch wurde er aber beschleunigt. Noch nie ist der Etat
des BMZ so stark prozentual beschnitten worden wie von
dieser rot-grünen Bundesregierung. Im aktuellen Wahljahr wird dies zwar teilweise durch Antiterror- und Armutbekämpfungsmittel kaschiert. Diese werden allerdings nur ausnahmsweise, nämlich nur 2002, zur
Verfügung stehen.
({6})
Der Kernetat ist jedoch weiter deutlich reduziert worden und droht auch im nächsten Jahr unter die Räder zu
geraten. Es verdichten sich die Anzeichen dafür, dass
Finanzminister Eichel beim Entwicklungsetat 2003 wieder kräftig den Rotstift tanzen lassen wird. Wenn dies so
sein sollte, wäre dies in der langen Kette von Rot-Grün
gebrochenen Versprechen ein neuer negativer Höhepunkt.
Die Glaubwürdigkeit Deutschlands wäre kurz nach den
finanziellen Zusagen auf der Konferenz in Monterrey und
kurz vor dem wegweisenden Weltgipfel für nachhaltige
Entwicklung in Johannesburg, Rio + 10, völlig beschädigt. Angesichts der sich andeutenden Kürzungsentscheidung warne ich die rot-grüne Bundesregierung davor, aus
dem internationalen Konsens hinsichtlich unserer Verantwortung für eine globale, nachhaltige Entwicklung auszuscheren und hiermit das Ansehen unseres Landes gravierend zu beschädigen.
({7})
Frau Staatssekretärin, da Sie die nächste Rednerin sind,
möchte ich Sie hiermit ganz offiziell auffordern, dem
Hause heute Abend zu erklären, dass es im Entwicklungsetat keine Kürzungen geben wird. Heute sollten Sie es eigentlich wissen.
({8})
Wenn Sie sich heute weigern, zu erklären, dass der Entwicklungsetat nicht gekürzt wird, dann werden wir selbstverständlich von einer solchen Kürzung ausgehen. Sie können es jetzt und nicht irgendwann später korrigieren.
({9})
Hinzu kommt, dass die reduzierten Mittel immer
schlechter verwaltet werden. Trotz sinkender Mitarbeiterzahlen werden die Gelder ständig auf neue, zusätzliche
Töpfe und auf Sonderprogramme verteilt, was einen hohen koordinatorischen Aufwand und eine Abnahme der
Flexibilität bei der Programmdurchführung nach sich
zieht.
Betrachten wir beispielsweise die Antiterrormittel, die
Afghanistansondermittel oder die Sondermittel für Armutsbekämpfung: Diese Zersplitterung ist teilweise hausgemacht. Teilweise beruht sie auch auf mangelndem Widerstand gegen den auf internationaler Ebene zu
verzeichnenden Sondertopfaktionismus. Wie oft war
uns doch nun von der Ministeriumsleitung angekündigt
worden, man würde sich auf internationaler Ebene konsequent für mehr Koordinierung, Straffung und Reform der
multilateralen EZ einsetzen! Was ist davon übrig geblieben? - Nichts dergleichen. Hinzu kommt nämlich ein völlig zerrüttetes Verhältnis zwischen AA- und BMZ-Leitung, mit der Konsequenz mangelnder gegenseitiger
Unterstützung bei Intervention auf supra- und multilateraler Ebene.
({10})
Übrigens muss ich hier die Leitung des BMZ sogar etwas in Schutz nehmen. Anscheinend ist es so, dass die Leitung des Auswärtigen Amtes Angst vor einer gewissen InKlaus-Jürgen Hedrich
ternationalisierung mehrerer Politikbereiche als der klassischen Diplomatie hat. Man hat Angst um seine eigenen
Pfründe. Aber das kann nicht im Interesse der Außenvertretung Deutschlands liegen. Hier geht es darum, eine
kohärente Politik zu machen. Die findet nicht statt.
Ich möchte Ihnen aber auch noch ein paar Punkte vortragen, bei denen man feststellen kann, dass Ankündigung
und Umsetzung ziemlich auseinander klaffen. Ich nenne
am Anfang das harmloseste Beispiel. Das Paradeprojekt
am Anfang dieser Legislaturperiode war der zivile Friedensdienst. Es ist geradezu auffällig - ich bedanke mich
bei Frau Kollegin Tröscher, dass das überhaupt noch erwähnt wurde -, dass das völlig aus dem Blickpunkt der
eigenen Regierung verschwunden ist. Aber wie sieht dieser Dienst zum Beispiel für ein Land wie Indonesien mit
über 200 Millionen Einwohnern aus? Da schickt man einen so genannten Friedensdienstler hin. Man kann sich
durchaus über das Instrument unterhalten. Sie haben doch
immer von Konzentration geredet. Hier wäre es wirklich
angebracht, konzentriert Kräfte einzusetzen, um zur Krisenprävention und Krisenvorsorge beizutragen. Sie
streuen aber sozusagen die 60 Mitarbeiter, die es heute
gibt, nur über die ganze Welt.
Ein zweites Beispiel. Ich nenne nur das Stichwort
Kuba: Mit großer Show wurde ein Beitrag zur Öffnung
des Systems angekündigt. Meine sehr verehrten Damen
und Herren, haben Sie von der Bundesregierung und von
der Leitung des BMZ in den letzten Wochen und Monaten überhaupt einmal wieder etwas über Kuba gehört? Bis
heute ist nicht eine einzige Programmvereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kuba unterzeichnet worden,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sind Sie dafür?
und zwar schlicht und ergreifend deshalb, weil das System nicht willig ist, zu einer solchen Vereinbarung zu
kommen.
Ich nenne auch noch ein drittes Beispiel; das ist ein besonders eklatanter Fall. Die Ministerin hat - ebenfalls mit
großem Aufwand - ein so genanntes Konzentrationspapier vorgelegt. Die Entwicklungszusammenarbeit sollte
auf 70 Entwicklungsländer begrenzt werden. Heute
ist von diesem Vorhaben nichts übrig geblieben: Es sind
102 Länder; die Zahl ist immer weiter erhöht worden. Damit das aber nicht so auffällt, hat man zum Beispiel ein
Entwicklungsland namens Zentralasien erfunden. Dabei
wird nicht erwähnt, dass es sich um 5 Länder handelt; das
würde die Zahl möglicherweise noch problematischer erscheinen lassen. Manche Partnerländer tauchen in der
Liste gar nicht auf; dafür stehen sie aber in der Fußnote.
Das wird schlicht und ergreifend übersehen.
Ich kann nur sagen: Herr Minister Spranger hatte
86 Prozent seiner Mittel für die Entwicklungshilfe auf
40 Länder konzentriert. Das wurde diplomatisch geschickt und sensibel gehandhabt und nicht nach Klassifizierung von Ländern, die außenpolitisch gesehen nur
Schaden angerichtet hat. Wir können heute nur feststellen:
Dieses Konzept ist gescheitert. Wir fordern die Bundesregierung auf, es zurückzuziehen. Es ist aber eigentlich
nicht mehr notwendig, dass das geschieht, da wir das nach
dem 22. September schon entsprechend erledigen werden.
({11})
Dann das letzte Beispiel. Es gehört schon ein bisschen
Mut von der Kollegin Tröscher dazu, hier ausgerechnet
noch das Aktionsprogramm 2015 zu erwähnen, das mit
großer Show angekündigt wurde. Dazu wurden alle möglichen Punkte aufgelistet, über die man sich unterhalten
kann, die aber nichts Neues enthalten. Am Textende steht
lapidar der Satz, dass das Ganze durch einen Umsetzungsplan verwirklicht wird. Das war vor eineinhalb Jahren. Der Umsetzungsplan sollte nach drei Monaten vorliegen; aber bis heute hat das Ministerium ihn nicht
vorgelegt. Auch hier zeigt sich wieder: Es gab Ankündigungen und Shows, aber keine Umsetzungen.
Ich möchte deshalb zum Schluss noch bemerken: Ich
bin durchaus der Auffassung, dass wir auch andere Politikbereiche in die Aufgabenstellung des BMZ integrieren
müssen. Aber die Bundesregierung muss sich darauf verständigen, wie und wo sie ankündigt, was sie will.
So fährt Frau Künast zur FAO nach Rom und sagt: Wir
konditionieren; nur wer den Hunger bekämpft, erhält Unterstützung. In der EU setzten die Deutschen durch - das
ist wenig genug -, dass diejenigen, die korrupt sind, kein
Geld erhalten. Im Konzept des BMZ heißt es: Nur wer die
Armut bekämpft, bekommt Geld. Dass diese grundsätzlichen Aspekte alle einen inneren Zusammenhang haben,
({12})
wird zumindest in der Politik der Bundesregierung nicht
deutlich. Das ist ein entscheidendes Problem.
Die Frage, wer eigentlich noch Geld bekommt, ist in
der Tat berechtigt.
({13})
Deshalb möchte ich noch einen Punkt aufgreifen. Sehr
verehrte, geliebte Kollegin Frau Tröscher,
({14})
selbst die Ministerin war in der letzten Ausschusssitzung
bereit, einzuräumen, dass es seit 1979 Entschuldungen
gibt. Schuldenerlasse gab es schon unter der Regierung
Schmidt
({15})
und zogen sich bis zur heutigen Regierung durch. Das ist
völlig unstrittig.
Was wir Ihnen vorwerfen, ist die Tatsache, dass Sie mit
Showeffekten durch die Welt ziehen, ein Land wie
Uganda als Beispiel nehmen und sagen, es habe eine positive Bilanz, weil es 35 Millionen in den offiziellen Haushalt zur Armutsbekämpfung eingesetzt hat. Nur wenige
machen sich wirklich darüber Gedanken, dass Herr
Museveni, der Präsident dieses Landes, gleichzeitig durch
die Ausplünderung von Rohstoffreserven im Ostkongo
sein Militär finanziert, das in keinem Haushalt auftaucht.
Solange wir solche Länder unterstützen oder zumindest
die Dinge nicht beim Namen nennen, sollten wir uns davor hüten, ein Land wie Uganda als ein besonders positives Beispiel für die Entschuldungspolitik zu nennen. Darüber sollten wir uns wenigstens einig sein.
Herzlichen Dank.
({16})
Frau Kollegin Tröscher, mir ist soeben erst signalisiert worden,
dass Ihre vorhin gehaltene Rede Ihre letzte Rede in diesem Hause war. Ich möchte mich daher auch bei Ihnen im
Namen der Mitglieder des Hauses für die gute Zusammenarbeit herzlich bedanken und Ihnen alles Gute für die
Zukunft wünschen.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Uschi Eid.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg, Herr Kollege Hedrich: Sie brauchen nicht
aufgeregt zu sein; denn diese Bundesregierung setzt den
Trend, den Sie begonnen haben, nicht fort. Wir werden
den Trend vielmehr umkehren und den Einzelplan 23
nicht kürzen, sondern aufstocken.
({0})
Weil wir vor dem G-8-Gipfel stehen, möchte ich zu einem anderen Thema sprechen und darauf hinweisen, dass
ich heute auf einer ARD-Videotexttafel über das G-8Außenministertreffen zur Vorbereitung des Gipfels in
Kanada folgende Meldung gelesen habe: „Im Mittelpunkt
der zweitägigen Konferenz steht unter anderem eine neue
Hilfsinitiative für Afrika.“ Ich dachte, ich traue meinen
Augen nicht! Denn wir haben im letzten Dreivierteljahr
versucht, die Öffentlichkeit systematisch über Charakter
und Ziel des Afrika-Aktionsplans zu informieren, den wir
am 27. Juni in Kanada beschließen werden. Gleich zu Beginn dieser Debatte stelle ich klar, dass wir keine neue
Hilfsinitiative für Afrika vorbereiten, sondern einen
Afrika-Aktionsplan, der eine neue Partnerschaft mit
dem afrikanischen Kontinent begründen will. Das ist etwas völlig anderes.
({1})
Mit dieser neuen Partnerschaft wollen wir Anstrengungen afrikanischer Politiker unterstützen, dass Afrika
gleichberechtigter Akteur auf der weltpolitischen Bühne
wird, dass Afrika von internationaler Hilfe unabhängig
wird und sich eigenständig ökonomisch entwickeln kann
und dass Afrika mit seinen traditionellen Wurzeln Anschluss an die Moderne findet und die Globalisierung zum
Vorteil der Menschen auf unserem Nachbarkontinent mitgestaltet. Es muss mit einer Politik Schluss sein, die im
Wesentlichen postkoloniale Interessenssphären absteckt.
Es muss Schluss sein mit einer Politik, deren gemeinsame
Anstrengungen sich hauptsächlich in Hilfsprogrammen
erschöpfen und die Afrika immer nur als Opfer und damit
schwaches Objekt betrachtet.
({2})
Es muss auch Schluss mit einer Politik sein, die immer
erst dann eingreift, wenn die Fernsehbilder die Schreckensnachrichten in die Wohnzimmer tragen.
({3})
Unsere Afrikapolitik muss mehr sein und ist mehr als
eine Kombination aus humanitärer Hilfe, Konfliktlösungsbemühungen und Forderungen nach dem Ende der Armut
und des Hungers. Deswegen ist es richtig und wichtig,
dass die wichtigsten Industriestaaten mit dem Weltwirtschaftsgipfel in Genua im letzten Jahr damit begonnen haben, unsere Afrikapolitik zu koordinieren, unsere Anstrengungen zu bündeln und unsere Ziele gemeinsam zu
formulieren. Ebenso wichtig ist, dass die Europäisierung
der Afrikapolitik fortschreitet, wie wir es bei der letzten
Ratstagung im Hinblick auf den Rio-plus-Zehn-Gipfel in
Johannesburg beschlossen haben. Afrika wird auch bei
diesem Gipfel in Johannesburg eine wichtige Rolle spielen.
Die großen afrikanischen Wälder sind öffentliche
Güter, an deren Erhalt wir ein großes Interesse haben.
({4})
Sie werden zum Beispiel durch den Raubbau an Holz oder
an Rohstoffen wie Gold, Diamanten und Coltan bedroht.
Diese schrankenlose Ausbeutung, die die letzten afrikanischen Urwälder bedroht, muss in unserem eigenen Interesse beendet werden.
({5})
Wir stehen bislang nicht untätig daneben; aber unsere
Anstrengungen müssen sich vervielfältigen. Meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmt mit Greenpeace überein, dass wir eine internationale Initiative für den afrikanischen Wald brauchen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum ersten Mal ist
Afrika offizielles Thema eines G-8-Wirtschaftsgipfels.
Die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industriestaaten unterstützen damit eine Initiative reformorientierter afrikanischer Politiker, die Afrikas Entwicklung
vorantreiben wollen, die Eigenverantwortung übernehmen, die eine klare Fehleranalyse afrikanischer Politik auf
den Tisch legen, die aber auch bereit sind, sich einem gegenseitigen Beurteilungsverfahren zu unterwerfen, um
die eigenen Fehler und Schwächen zu identifizieren und
selber zu korrigieren. Wenn es die Regierungen Afrikas
mit dieser neuen Partnerschaft ernst meinen - abgekürzt
NEPAD, New Partnership for Africa’s Development -,
dann werden wir dies auch unterstützen.
({7})
Die Voraussetzungen dafür sind klar: verantwortungsvolle Regierungspolitik, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten.
Denn nur die Beteiligung der Menschen an den politischen Entscheidungen, die Verteilung politischer und
wirtschaftlicher Macht auf vielen Schultern sowie freie
Meinungsäußerung und Organisationsfreiheit beseitigen
Korruption und Klientelwirtschaft und bringen Eigeninitiative hervor, die für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes notwendig ist.
({8})
Ich begrüße deshalb sehr, dass gute Regierungsführung
an oberster Stelle der afrikanischen Entwicklungsinitiative steht. Die Initiative von Nichtregierungsorganisationen und des bekannten Unternehmers George Soros zur
Bekämpfung der Korruption in Afrika passt haargenau
in dieses neue afrikanische Denken. Unternehmen wie
Bergbau- und Erdölgesellschaften, die am Abbau von
Bodenschätzen beteiligt sind, sollen die Höhe ihrer Zahlungen an nationale Regierungen offen legen, damit die
Bürgerinnen und Bürger sowie die Parlamente ihre Regierungen kontrollieren können. Nur so kann garantiert
werden, dass der Reichtum eines Landes auch gerecht
verteilt wird.
({9})
Wir wollen und brauchen ein starkes Afrika. Ich bin
überzeugt: Afrika kann stark werden. Voraussetzungen
sind, dass Frieden und Stabilität hergestellt werden, dass
Afrika sein riesiges wirtschaftliches und kulturelles
Potenzial ausschöpft, dass die Menschen ihre Kreativität
freiheitlich entfalten können und dass Rahmenbedingungen für eine ökologische und soziale Marktwirtschaft
geschaffen werden.
In der Juni-Ausgabe der „Kunstzeitung“ las ich heute,
dass der afrikanische Kontinent mit der Documenta 11 unter der Leitung des Nigerianers Okwui Enwezor in eine
neue Phase kultureller Bewusstwerdung eintritt. Mit der
neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung hat der Kontinent eine weitere Chance, nämlich die, in eine neue
Phase politischer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sowie in unabhängige ökonomische Entwicklung einzutreten. Wir, die G-8-Staaten, unterstützen mit
unserem Afrika-Aktionsplan die Reformkräfte Afrikas bei
diesem Unterfangen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Als nächste
Rednerin hat das Wort die Kollegin Ina Albowitz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Hause sind in den
letzten vier Jahren viele Reden gehalten und viele Versprechungen zur Entwicklungspolitik abgegeben worden.
({0})
Es wurde damit der Eindruck erweckt, als sei die entwicklungspolitische Zusammenarbeit das zentrale Anliegen dieser Regierung. Doch wie sieht die Bilanz nach vier
Jahren rot-grüner Entwicklungspolitik tatsächlich aus?
({1})
Erinnern wir uns an die erste Ausschusssitzung, in der
die Ministerin ausführlich ihre Vorhaben der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit und der deutschen Entwicklungspolitik insgesamt vortrug. Es ging um eine Bündelung der Aufgaben, also von der Federführung für
Lomé beim BMZ bis hin zum gesamten Bereich der
Transformationsprogramme für Osteuropa. Auch Teilbereiche, die verstreut in anderen Ministerien angesiedelt
waren, sollten in ihr Haus zurückkehren. Entwicklungspolitik sollte dadurch, so der Koalitionsvertrag, eine Aufwertung und Erweiterung zu einer globalen Strukturpolitik erfahren.
Gemessen an diesen Ankündigungen ist das Ergebnis
mager und die Entwicklungspolitik hat nicht nur an Substanz, sondern auch an Glaubwürdigkeit verloren.
({2})
Nach wie vor müssen 1,2 Milliarden Menschen in den
Entwicklungsländern, ein Viertel der Weltbevölkerung,
mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Das
reicht häufig nicht einmal zur persönlichen Ernährung,
geschweige denn zur Ernährung einer ganzen Familie aus.
Hunger und Armut sind die traurigen Folgen. Weltweit
hungern täglich 800 Millionen Menschen. Dieses Schicksal, meine Kollegen, darf uns nicht egal sein.
({3})
Um diese Zahl deutlich zu reduzieren, müssen bis zum
Jahr 2015 jährlich 20 Millionen Menschen mehr ausreichend ernährt werden. Deshalb will die UN-Organisation
für Ernährung und Landwirtschaft ihre Mitgliedsländer in
Rom noch einmal auf dieses Ziel verpflichten. Nach Ansicht der FAO kann dies jedoch nicht erreicht werden,
sollte die Entwicklung in der Landwirtschaft und in der
Welternährung so weiterlaufen wie bisher.
Hunger und Unterernährung erzeugen weitere Probleme, die zusammen einen scheinbar nicht zu durchbrechenden Teufelskreis ergeben. Absolute Armut und
steigende Bevölkerungszahlen auf voraussichtlich 7 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2015 bedrohen den Frieden und die Sicherheit, verursachen weltweite Flüchtlingsströme, belasten die Umwelt und beeinträchtigen den
Aufbau rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen in den Entwicklungsländern. Der weltweite Kampf
gegen den Terror hat den hohen politischen Stellenwert
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit besonders deutlich
gemacht.
In diesem Zusammenhang muss sich auch Entwicklungspolitik strategisch erneuern und einen maßgeblichen
Beitrag zur Beseitigung von sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Missständen leisten. Dies bedeutet im
Übrigen neben zusätzlichen finanziellen Leistungen eine
Zusammenführung der politischen Verantwortung für die
Außen- und die Entwicklungspolitik, Frau Ministerin,
eine strukturelle Neuausrichtung auf effiziente multilaterale Zusammenarbeit, aber auch eine an der Armutsbekämpfung orientierte Schwerpunktsetzung. Diese
Kombination führt auf der einen Seite zu einer Strategie
der Krisenprävention, auf der anderen Seite hilft sie dort,
wo Hilfe wirklich benötigt wird.
Lassen Sie mich anhand einiger Beispiele kurz schildern, wie die Bundesregierung ihre entwicklungspolitischen Vorhaben umgesetzt hat; der Kollege Hedrich ist
eben auch schon darauf eingegangen. Auf dem Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen im September 2000
in New York haben sich 146 Staats- und Regierungschefs
darauf geeinigt, die extreme Armut dieser Welt bis 2015
zu halbieren. Gerhard Schröder, der noch amtierende
deutsche Bundeskanzler
({4})
- ich kann auch sagen: der noch kurz amtierende Bundeskanzler -,
({5})
hat sich dieser Initiative mit großen Worten angeschlossen. Im April 2001 folgte das „Aktionsprogramm 2015“,
der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten Halbierung extremer Armut. In diesem Programm verpflichtete
sich die Bundesregierung unter anderem dazu, mehr Mittel für die Armutsbekämpfung zu mobilisieren, die Finanzsysteme in den Entwicklungsländern verstärkt zu unterstützen und die wirtschaftliche Dynamik in den
betroffenen Ländern zu erhöhen. Die Liste dieser guten
Vorsätze, bei denen wir mit vielen von Ihnen einig sind,
ließe sich um weitere 72 Aufzählungen fortsetzen. Das erspare ich Ihnen allerdings hier.
Wichtig ist, dass alle diese Maßnahmen anhand eines
„Umsetzungsplanes“ realisiert werden sollten. Doch damit nicht genug: Neben den konkreten Schritten sollten
sogar die jeweiligen Verantwortlichen benannt werden.
Klingt, meine Damen und Herren, sehr nach „Chefsache“.
Und tatsächlich zeigen sich hier einige Parallelen zu anderen Vorgängen der Bundesregierung. Denn bis heute liegt
ein derartiger Umsetzungsplan mit konkreten Angaben
unter anderem über die Finanzierung nicht vor; die OECD
mahnt das in dem heute vorgelegten Bericht auch deutlich
an. Große Worte, denen leider keine Taten folgten!
({6})
Deshalb fordere ich Sie jetzt nachdrücklich von hier aus
noch einmal auf, umgehend einen Finanzierungs- und
Umsetzungsplan vorzulegen.
Ein weiteres Beispiel ist der Global Aids and Health
Fund, eine große Initiative von Kofi Annan aus dem Jahre
2000. Der Bundeskanzler hat wieder einmal versprochen,
eine erhebliche Summe, rund 150 Millionen Euro, in diesen Fonds einzuzahlen. Doch bis heute ist diese Summe
nicht in den Haushaltsplan 23 eingestellt. Wie war das mit
den Versprechen, meine Damen und Herren, vor vier Jahren?
In diese traurige Tradition von nicht gehaltenen Zusagen reiht sich die Entwicklung der zur Verfügung stehenden Mittel für Entwicklungshilfe nahtlos ein: Entgegen
den während des Millenniumsgipfels übernommenen
Verpflichtungen, die Mittel für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit zu erhöhen, ist das Haushaltsvolumen gesunken. Ungeachtet der Sonderzuweisungen für
die Aufbauhilfe in Afghanistan und für die Terrorismusbekämpfung belaufen sich die Kürzungen in diesem Jahr
auf 5,3 Prozent. Deutschland liegt mit einer ODA-Quote
von 0,27 Prozent erheblich unter dem von der Europäischen Union mittelfristig angestrebten Durchschnittswert von 0,33 Prozent. Auch hier wäre wohl ein blauer
Brief angebracht. Zum Glück für die amtierende Regierung ist diese Vereinbarung auf EU-Ebene nicht vertraglich bindend.
Frau Ministerin, wenn es stimmt, was heute in der
„Berliner Zeitung“ verkündet wurde, nämlich dass aus Ihrer Fraktion gegenüber Herrn Eichel geäußert wird, nirgendwo sei festgeschrieben, dass der Entwicklungsetat
schon 2003 steigen müsse, kann ich nur sagen: Wahrscheinlich haben Sie in der Opposition mehr Freunde als
in Ihrer eigenen Partei.
({7})
Meine Damen und Herren, Steuererhöhungen oder gar
das Einführen neuer Steuern, wodurch sich die Bundesregierung zur Abwechslung einmal auszeichnet, können
hier auch keine Abhilfe schaffen. Frau Wieczorek-Zeul,
die von Ihnen wieder angestoßene Debatte über die
Tobin-Tax ist ein solches Beispiel. Aber mit solchen
Entlastungsmodellen wird den leidgeprüften Menschen in
den Entwicklungsländern in keiner Weise geholfen.
({8})
Vielmehr dienen sie nur zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen: der Unfähigkeit der Bundesregierung,
sinnvolle Programme und Initiativen umzusetzen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich würde gern einen Punkt
ansprechen, an dem wir alle gemeinsam beteiligt sind,
nämlich die Aneinanderreihung von Debatten und Gipfeln: WTO-Konferenz in Doha, VN-Konferenz in Monterrey, jetzt die Konferenz in Rom und im September die
in Johannesburg - um nur die großen Gipfel zu nennen.
Der Nutzen dieses Konferenztourismus steht leider in
keinem Verhältnis zum Aufwand.
({10})
Immer wieder werden den Entwicklungsländern Hoffnungen gemacht, gute Absichten bekundet und Initiativen
versprochen, allerdings nur in der Theorie; denn praktisch
sind so gut wie keine Fortschritte zu verzeichnen. Manchmal wäre weniger mehr. Die Ärmsten auf dieser Welt
brauchen weder Endloskonferenzen mit gut gemeinten
Deklarationen noch die Ankündigung von neuen Steuern.
Sie brauchen Chancengleichheit und unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass der Haushalt die in Zahlen gegossene Politik
ist, war eines der ersten Dinge, die ich gelernt habe, als ich
im Bundestag anfing. Sie werden es mir deswegen nachsehen, dass ich mich heute im Wesentlichen auf die Finanzierung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit beziehen werde, zumal dies einer der wenigen Punkte
in der Koalitionsvereinbarung war, zu denen eine deutliche Aussage seitens der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen getroffen wurde: Nicht zuletzt weil die
Entwicklungszusammenarbeit ein wesentliches Element
der globalen Strukturpolitik sei, werde es zu einer deutlichen Trendwende kommen, die finanziell untersetzt werden müsse.
Es ist schwer zu beschreiben, mit welcher Stimmung
man ans Rednerpult geht, wenn man zu diesem Thema
spricht. Denn auch mit Blick auf die internationalen Konferenzen weiß man eigentlich nur von Rückschlägen zu berichten: Die Finanzierungskonferenz in Monterrey ist im
Wesentlichen in die Hose gegangen und der Welternährungsgipfel, der heute in Rom zu Ende gegangen ist,
wird allseits als Niederlage eines zukunftsfähigen Entwicklungsmodells für alle Menschen charakterisiert und
entsprechend kommentiert. Wir ziehen heute Bilanz und
können insbesondere dann, wenn man es an den blanken
Zahlen misst, eben nicht feststellen, dass die versprochenen
Ankündigungen auch nur im Ansatz wahr gemacht wurden.
International gesehen - die Bundesrepublik macht dabei keine Ausnahme - ist die Finazierung der Entwicklungszusammenarbeit auf einem historischen Tiefststand. Am besten lässt sich das durch die Angabe
charakterisieren, dass in den entwickelten Staaten zehnmal mehr für Rüstung als für Entwicklung ausgegeben
wird. Geredet wird natürlich viel: über die Wichtigkeit der
Entwicklung, die Notwendigkeit einer friedlichen Gestaltung der Welt und Ähnliches. Sobald es aber daran geht,
diese Worte in Zahlen zu gießen, mangelt es an Taten und
konkreten Umsetzungen.
Es ist wahr: 1998 betrug der Anteil des Entwicklungsetats am Bruttosozialprodukt 0,26 Prozent. Die Trendumkehr, die hier beschrieben worden ist, hat dazu geführt,
dass er nach vier Jahren auf genau 0,27 Prozent - das sind
0,01 Prozent mehr - angewachsen ist. Bereinigt um das,
was in den Haushalt transferiert worden ist, inklusive der
zu erfüllenden Aufgaben, nämlich zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Transformprogramm für die GUSStaaten und der Hilfe für Südosteuropa, liegt der Etat
deutlich unter dem des letzten Haushalts der Kohl-Regierung.
({0})
Das muss man, weil es wahr ist, hier einfach sagen.
({1})
Das Trauerspiel setzt sich fort: Die Ankündigung, die
Entwicklungsleistungen der öffentlichen Hand bis 2006
auf 0,33 Prozent zu erhöhen, bedeutet zunächst einmal
nichts anderes, als immer noch 0,06 Prozent unter dem zu
bleiben, was die EU insgesamt vereinbart hat. Das heißt,
diese Erhöhung, die minimale Schritte beinhaltet, bleibt
noch um 0,06 Prozent hinter der Ankündigung und den
Verpflichtungen der anderen EU-Staaten zurück.
Ich habe es des Öfteren vorgerechnet und bereits in der
letzten Sitzung gesagt, muss es Ihnen aber auch dieses
Mal wieder vorhalten: Eine gleichbleibende Steigerungsrate vorausgesetzt, bedeutete dies, dass wir die vor 30 Jahren international vereinbarte Verpflichtung von 0,7 Prozent genau in weiteren 30 Jahren umgesetzt haben
werden. Das heißt, als eines der reichsten Länder hätten
wir trotz Massenarmut und Elend überall in der Welt - das
bestreitet ja niemand - 60 Jahre gebraucht, um dieser Verpflichtung nachzukommen.
Ich habe noch ein zweites Bedenken bezüglich dieser
0,33 Prozent. Ich gehe nämlich davon aus, dass es tatsächlich keine zusätzlichen Mittel sind,
({2})
sondern dass umgerechnet wird: Mittel und Leistungen,
die von der Bundeswehr in Auslandseinsätzen aufgewendet und erbracht werden, werden auf Entwicklungshilfeleistungen angerechnet.
({3})
Das tun andere Länder ungerechtfertigterweise auch. Auf
eine Nachfrage im Ausschuss ist mir geantwortet worden,
dass das international durchaus nichts Neues ist. Ich befürchte, dass auch die Bundesregierung diesem Modell
nacheifern wird. Ich habe nicht gehört, dass bei Finanzminister Eichel in den letzten Monaten ein entwicklungspolitisches Umdenken oder generell eine besondere
Milde eingekehrt wäre. Ich gehe davon aus, dass solche
Rechentricks stattfinden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist meine letzte
Rede zur Entwicklungspolitik in diesem Hohen Haus. Einige mag dies freuen. Ich jedenfalls möchte deutlich machen, dass mir die Zusammenarbeit mit den allermeisten
Kollegen ziemlich gut gefallen hat und ich viel habe lernen können. Ich sage es einmal so: Ich möchte euch allen
für die letzten vier Jahre danken. Ich bin sicher, dass wir
uns wiedersehen.
Danke schön.
({4})
Herr Kollege Hübner, ich danke auch Ihnen im Namen des Hauses
für Ihre Mitarbeit in diesem Hohen Hause und wünsche
Ihnen für die Zukunft alles Gute.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Schmidt von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Hedrich, ich will auf Ihre Tiraden nicht groß eingehen, sondern dazu nur so viel sagen: Ich habe das Heft,
aus dem Sie zitiert haben, anders gelesen. Ich denke, ich
liege mit meiner Beurteilung, dass Sie eine selektive
Wahrnehmung haben, richtig. Hoffentlich heißt dies
nicht, dass Sie das Buch, das ich Ihnen gleich empfehle,
gleichfalls selektiv lesen.
Ich will zitieren: „Die deutsche Entwicklungspolitik
muss weg von der kurzatmigen Beschreibung einer Fülle
von Projekten.“ - Das waren die Worte Winfried Pingers
am Ende der Ära Kohl. Damit fand der damalige entwicklungspolitische Sprecher der CDU/CSU ebenso wenig Gehör wie die zahlreichen Klagen von Fachleuten
über Inkohärenzen in der Entwicklungspolitik. Deshalb
empfehle ich Ihnen, die Ausgabe der „E+Z“ noch einmal
zu lesen.
Sie werden dann mit mir übereinstimmen, dass die Bilanz nach vier Jahren rot-grüner Entwicklungspolitik
mehr Effizienz, mehr Kompetenz und vor allem mehr
Kohärenz - im Sinne von globaler Struktur- und Friedenspolitik - aufweist. Das ist für uns kein hohler Begriff,
sondern ein holistischer Ansatz, der sich durch unsere vorliegenden Anträge zieht.
({0})
Die systematische Förderung der Zivilgesellschaften
hat neue Potenziale für die wirtschaftliche Zusammenarbeit erschlossen: Aufbau des zivilen Friedensdienstes,
Einrichtung der Servicestelle für kommunale Entwicklungszusammenarbeit, bessere Zusammenarbeit zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Ebene durch die Arbeitskreise Krisenprävention und Armutsbekämpfung.
Wir beachten den frauenspezifischen Aspekt; denn
Frauen halten den Schlüssel für die nachhaltige Entwicklung in ihren Händen.
({1})
Rund 700 Millionen Euro zusätzlich haben wir in Kooperation mit der Wirtschaft mobilisiert. Durch das Engagement unserer Ministerin bei den letzten WTO-Verhandlungen dürfen wir endlich eine Sensibilisierung für die
Belange der Entwicklungsländer konstatieren: gerechterer Marktzugang sowie differenzierte Liberalisierung, die
sich am Nachhaltigkeitsprinzip und am Entwicklungsstand der jeweiligen Länder orientiert. Globale Verantwortung heißt für uns nachhaltige Ressourcennutzung
und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und fruchtbarem Boden
gibt es weder Entwicklung noch politische Stabilität.
Durch die vernetzte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Ressorts sind wir für den Rio-plus-Zehn-Gipfel gut
vorbereitet. In Monterrey haben die Länder des Südens
ihre eigene Verantwortung anerkannt, die, auf eine kurze
Formel gebracht, heißt: Ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gibt es keine Entwicklung. Wir haben die Instrumente der Konfliktbewältigung ausgebaut, mehrere
institutionelle Schritte für eine bessere Vernetzung und
mehr Einflussnahme unternommen und durch Präsenz in
den Enquete-Kommissionen und dem Ausschuss für
Menschenrechte unser Politikfeld endlich als Querschnittsaufgabe manifestiert - und das in vier Jahren!
({2})
Vier Jahre sind ein überschaubarer Zeitraum. Aber Entwicklungspolitik muss in größeren Zusammenhängen
denken. Bis 2015 wollen wir die Zahl der Menschen halbieren, die weltweit in extremer Armut leben und keinen
Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Wir werden die
Entwicklungspolitik weiterhin konsequent als Krisenprävention nutzen. Was die Finanzen angeht: Wir haben
uns auf eine ODA-Quote von 0,33 Prozent bis 2006 verpflichtet. Wir halten an dem Weg fest, zusätzliche öffentliche und private Mittel für eine nachhaltige Entwicklung
und die Sicherung globaler Güter zu mobilisieren.
Das alles ist insgesamt ein verantwortungsvolles, strategisches Programm. Sie dagegen, meine Damen und
Herren von der Opposition, reiten lediglich auf den haushaltspolitische Ansätzen herum.
({3})
Hätten Sie das doch ab 1982 getan und schon damals, in
wirtschaftlich weit besseren Zeiten, die ODA-Quote von
seinerzeit 0,48 Prozent konsequent verteidigt und ausgebaut! Wir haben trotz knapper Kassen das Instrumentarium der Entwicklungspolitik als unverzichtbar in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Hat jemals ein Kanzler
von Ihrer Seite eine Regierungserklärung zur Entwicklungspolitik abgegeben?
({4})
Wir haben bereits in Nürnberg unsere Vorstellung für
eine gerechte Gestaltung der Globalisierung konkretisiert:
Globalisierung ist kein Naturereignis. Sie ist von
Menschen gewollt und gemacht. Darum können
Menschen sie auch verändern, gestalten und in gute
Bahnen lenken.
Ich kann diese Worte des Bundespräsidenten nur unterstreichen.
({5})
Eine Globalisierung, die den Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft zerstört, wird es mit Sozialdemokraten nicht geben. Ihre blinde Markteuphorie, meine
Damen und Herren von der Opposition, ist kein wirksames Rezept.
({6})
Im Gegenteil: Das heißt Abdankung der Politik und
Zurückweichen vor den Aufgaben der Globalisierung.
Die digitale Kluft beispielsweise - darauf zielen zwei
Ihrer Anträge ab, meine Damen und Herren von der FDP Carsten Hübner
muss sicherlich überwunden werden. Aber einmal ernsthaft: Bedienen Sie mit Ihrer Setzung von Schwerpunkten
im IT-Bereich wirklich die vordringlichen Bedürfnisse
der Partnerländer, in denen Wasser fehlt und die Nahrung
knapp ist?
Ein Punkt ist mir noch wichtig. Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, haben deutlich gemacht, dass
Sie die Entwicklungspolitik zu einem Appendix der
Außenpolitik degradieren wollen. Nicht mit uns!
({7})
Eine Entwicklungspolitik, wie wir sie verstehen, nämlich
als präventive Friedenspolitik, als Mittel zur Armutsbekämpfung und als Hilfe zur Selbsthilfe, ist nur mit einem eigenständigen, selbstbewussten Ministerium zu verwirklichen. Das haben wir und daran halten wir fest, auch
nach dem 22. September.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau
Kollegin Schmidt, meines Wissens waren in dieser Legislaturperiode neben der FDP ausgerechnet der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herr Pleuger, und der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Volmer, diejenigen,
die die Existenz des BMZ infrage gestellt haben. Es war
nicht die CDU/CSU.
Das, was Sie hier vorgetragen haben, zeigt erneut: Die
laufende Legislaturperiode ist für die Entwicklungszusammenarbeit eine in jeder Hinsicht verhunzte Legislaturperiode gewesen.
({0})
Sie können Zahlenspiele vorwärts und rückwärts machen.
Der entscheidende Punkt ist: Sie haben es geschafft, den
Anteil des Entwicklungsetats am Bundeshaushalt auf die
historische Tiefstmarke von nur noch 1,49 Prozent herunterzuwirtschaften. Das können Sie auch mit den kurzfristig angelegten Sonderprogrammen für Südosteuropa oder
für die Terrorismusbekämpfung nur schlecht kaschieren.
Deswegen wird es, wenn uns die Wählerinnen und
Wähler am 22. September das Mandat zur Regierungsbildung geben, unsere Aufgabe sein, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wieder auf verlässliche und kalkulierbare Finanzgrundlagen zu stellen.
Das dramatischere Problem, das Sie uns hinterlassen,
ist allerdings die entwicklungspolitische Konzeptionslosigkeit der rot-grünen Bundesregierung.
({1})
Ich muss wiederholen, was schon gesagt worden ist: Ihr
Konzept zur Schwerpunktsetzung wurde von Ihnen selbst
zur Makulatur gemacht. Wir werden die diskriminierenden Eingruppierungsraster für Entwicklungsländer wieder abschaffen.
({2})
Ihr Aktionsprogramm, das nur leeres Stroh drischt,
weil es kein Umsetzungsprogramm gibt, und Ihre Erklärung, dass Sie sich nun stärker in multilateralen Organisationen engagieren wollen und dass Sie sich in der europäischen Entwicklungspolitik stärker positionieren
wollen, stehen in krassem Widerspruch zu dem, was
tatsächlich erreicht wurde. Wir reden über Armutsorientierung. Realität der EU-Entwicklungszusammenarbeit
ist, dass sie immer weniger für die armen und ärmsten
Länder tut. Für uns ist die Frage, ob wir das Geld der deutschen Steuerzahler mehr den internationalen Organisationen und der EU zur Verfügung stellen oder ob wir es stärker für die eigene deutsche Entwicklungszusammenarbeit
nutzen, nicht eine quasi ideologische Frage wie für RotGrün, sondern ausschließlich eine Frage des effizienten
Mitteleinsatzes in den Empfängerländern.
({3})
Entwicklungszusammenarbeit ist vor allem auf langfristige Wirkungen und auf verlässliche Rahmenbedingungen angewiesen. Dagegen hat Rot-Grün Kurzatmigkeit und Schnelllebigkeit zum negativen Markenzeichen
deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht.
({4})
Das kommt insbesondere bei der Kurzatmigkeit des
entwicklungspolitischen Engagements in Krisenregionen zum Ausdruck. Seit dem 11. September ist Zentralasien in. Dafür gehen die Ansätze für Südosteuropa oder
für problematische Gebiete in Afrika zurück. Hier wird
Politik ohne jede Weitsicht gemacht, allein nach tagesaktuellen Schlagzeilen ausgerichtet.
({5})
Deswegen werden wir dafür sorgen müssen, dass die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit wieder eine realistische und auf langfristige Wirkungen abzielende Perspektive erhält.
({6})
Nachhaltige Entwicklung bedarf des Engagements
aktiver Zivilgesellschaften sowohl bei uns im Norden als
auch im Süden.
({7})
Dagmar Schmidt ({8})
Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen sind für
uns selbstständige und autonome Partner in der Entwicklungszusammenarbeit, deren Bedeutung in den kommenden Jahren noch zunehmen wird; denn nur über deren
Partnerstrukturen können der Aufbau und die Förderung
aktiver Zivilgesellschaften in den Ländern des Südens gelingen.
({9})
Dazu bedürfen sie aber auch einer stetig steigenden Unterstützung. Doch Rot-Grün macht genau das Gegenteil.
Sie von Rot-Grün kürzen den Kirchen und Nichtregierungsorganisationen die Mittel für ihre Arbeit in Osteuropa und in Südosteuropa und schreiben ihnen: Falls Sie
sich auf unserem Kontinent noch engagieren wollen, sollten Sie sich die Mittel dadurch besorgen, dass Sie Ihre Arbeit in den ärmsten Ländern des Südens kürzen. - Das
finde ich mehr als schäbig.
({10})
Meine Damen und Herren, man kann eine entwicklungspolitische Debatte am heutigen Abend kurz nach
23 Uhr nicht führen, ohne den stummen Aufschrei der
13 Millionen Menschen im südlichen Afrika zur Kenntnis
zu nehmen, deren Leben aktuell durch eine neue Hungerkatastrophe bedroht ist.
({11})
Diese neue Hungersnot macht überdeutlich, dass nicht die
Natureinflüsse die eigentliche Ursache sind. Die Ursache
ist vielmehr die politische Misswirtschaft. FAO-Vizedirektor de Haen hat Recht, wenn er erklärt, die Hauptverantwortung liege bei den Regierenden der Hungerländer.
Es ist für mich schockierend, dass einer der Hauptverantwortlichen für diese Hungerkatastrophe, nämlich der
simbabwische Präsident Robert Mugabe, in dieser Woche
ausgerechnet bei der Tagung der Welternährungsorganisation in Rom ein Podium für seine absurden Thesen bekommen hat. Mugabe hat sein Volk und ebenso die Nachbarländer in den Hunger getrieben, indem er mit seiner
Landreform dafür gesorgt hat, dass binnen eines Jahres
die Maisproduktion um 77 Prozent abgesackt ist.
({12})
Das zeigt, dass der Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung und den Erfolg entwicklungspolitischer Bemühungen in den Ländern des Süden selbst liegt. Unsere Politik muss deshalb dazu beitragen, dass die oftmals unter
despotischen Regimen leidende Bevölkerung diesen
Schlüssel zur eigenen Entwicklung in die Hand bekommt.
Vor Heidemarie Wieczorek-Zeul gab es einen Entwicklungsminister, der weniger auf PR setzte oder irgendwelchen Modethemen hinterherrannte, aber nicht
weniger als eine Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik durchgesetzt hat.
({13})
Fünf Kriterien sind seit Carl-Dietrich Spranger Bedingungen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit:
Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und
Rechtssicherheit, Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess, Schaffung einer marktfreundlichen und
sozialorientierten Wirtschaftsordnung und Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns.
({14})
Wir werden nach dem 22. September dafür sorgen,
dass diese fünf Kriterien wieder mit aller Stringenz Leitlinien einer verlässlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden.
({15})
Vielen Dank.
({16})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Reinhold Hemker von der SPD-Fraktion das
Wort.
Reinhold Hemker ({0}) ({1}): Keine
Angst, ich werde am 22. September wahrscheinlich wiedergewählt und deswegen sowohl Peter Weiß als auch
Klaus-Jürgen Hedrich erhalten bleiben.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
wundere mich schon, lieber Peter Weiß und lieber KlausJürgen Hedrich, wie man uns in einer solchen Debatte
auch angesichts der Situation wie wir sie zurzeit in Afghanistan erleben - ich könnte noch andere Länder nennen -, den Vorwurf der Oberflächlichkeit bzw. Tagesaktualität machen kann,
({3})
obwohl die Bundesregierung und die Bündnispartner und
Konzepte im internationalen Antiterrorismus-Kampf entwickeln.
({4})
Ich finde das ein bisschen bedauerlich.
({5})
Hinzu kommt, dass für diese Debatte eine Reihe von
Ideen, in Anträgen formuliert, vorgelegt worden sind, die
im Grunde bereits in vielfältiger Art und Weise in dem Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung verankert sind. Es ist doch gut - wir können froh darüber sein -,
dass wir über ein solches Konzept und dessen Umsetzung
in den nächsten Jahren sprechen können, auch im Dialog
mit jenen, die in der Fachdebatte kritische Gedanken für
ein Buch der Stiftung Entwicklung und Frieden und in eiPeter Weiß ({6})
ner Fachzeitschrift formulieren, wie es Volkmar Köhler
getan hat. Einen einzigen Satz herauszugreifen, KlausJürgen Hedrich, der aus einem bestimmten Gedankengebäude abgeleitet ist, stellt eine starke Verkürzung dar und
zeigt eine Oberflächlichkeit, die wir bei entwicklungspolitischen Debatten nicht brauchen.
({7})
Rufen wir uns doch einmal in Erinnerung, worüber wir
bereits diskutiert haben und was die Kollegin Uschi Eid,
unsere Afrika-Beauftragte, heute noch einmal vorgetragen hat. Mit dem Antrag und der Debatte, die wir zum
Thema Afrika führen, ist bei unseren Partnern - nicht nur
in den fünf Ländern, von denen die Initiative ausgegangen
ist, sondern insgesamt - so etwas wie eine Veränderung
eingetreten. Man sucht die Gründe nämlich nicht mehr
nur im Kolonialismus und in der Zeit danach oder in der
falschen Politik des Westens, sondern richtet einen genauen Blick nach innen und fragt sich, welche Grundlagen für „good governance“ bestehen und wie man sich an
solchen Prozessen beteiligen kann, um Systeme des „global governance“ weiterentwickeln zu können. Das ist das
eigentlich Neue.
Dass die G-7- bzw. G-8-Staaten darauf so reagieren,
wie sie es getan haben, und hochkarätige Mitglieder - bis
auf Italien - zugesagt haben, diesen Prozess zu begleiten
und auch mit finanziellen Konzepten zu unterstützen, ist
doch zu begrüßen. Wir haben daraufhin unserer Regierung einen Ideen-Katalog vorgetragen, über den bereits
mit der Mehrheit der Koalition beschlossen wurde.
({8})
Dieses Vorgehen ist doch nicht oberflächlich oder konzeptionslos, sondern zeigt, dass sich die Parlamentarier in
Partnerschaft mit der Regierung Gedanken machen.
Ein zweites Beispiel: Ich weiß noch, wie ich mit dem
leider zu früh verstorbenen Kollegen Werner Schuster zusammengesessen habe und wir nachgedacht und aufgeschrieben haben, was im Nachfolgeprozess zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung vor zehn Jahren zum
Themenbereich „erneuerbare Energien“ gemacht werden
müsste. Das hat dann auch im letzten Bericht der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik Niederschlag gefunden. Vor diesem Hintergrund passt der Vorwurf der
Oberflächlichkeit oder Tagesaktualität nun überhaupt
nicht mehr.
({9})
Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss sind diesen Gedanken gefolgt und haben einen
neuen Antrag, für den sie selber verantwortlich zeichnen,
formuliert.
Der eine Antrag sagt, dass ein Sektorschwerpunkt im
Bereich erneuerbarer Energien gesetzt werden soll. Zur
Umsetzung dessen wurden Programme vonseiten des
BMZ auf den Weg gebracht. Wer ein wenig die Interna der
Arbeit der GTZ kennt, weiß, dass da natürlich auch, lieber Kollege Hedrich, teilweise das weiter verfolgt wird,
was schon die frühere Regierung angestoßen hat, aber
nunmehr mit einer anderen Schwerpunktsetzung. Der Antrag zur Markterschließung für deutsche Produkte im Bereich der Wind- und Solarenergie und zur Nutzung von
Biomasse zeigt, dass wir auch da auf dem richtigen Weg
sind.
({10})
Dadurch werden nun - ich sage das ganz bewusst auch in
Richtung derjenigen, die für die Union gesprochen haben gewisse Schwerpunkte gesetzt, die wir in Zukunft weiterentwickeln können. Ich kann Ihnen nach meinen Fachgesprächen mit den Vertretern draußen nur sagen, dass sie
mehr erneuerbare Energie einsetzen, mehr im Bereich
Landreform tun und eine Agrarforschung stärken wollen,
die als Anwendungsforschung die heutigen wissenschaftlichen Ergebnisse schon umsetzt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch der Kollegin Brigitte Adler noch einmal dafür danken, dass sie sich
für unseren Antrag stark gemacht und in vielfältiger Art
und Weise mit den Fachinstituten zusammengearbeitet
hat.
({11})
All diese Punkte zeigen, dass wir in dieser Legislaturperiode im manchmal auch schwierigen kritischen Dialog
und Diskurs mit denjenigen, die draußen in Nichtregierungsorganisationen arbeiten, einiges nach vorne gebracht haben.
Ich möchte, dass das Duo, das auf der Regierungsbank
sitzt, weitermacht, nicht nur im Sinne Afrikas,
({12})
sondern auch im Hinblick auf die wichtigen Bereiche, die
morgen früh hier im Parlament diskutiert werden. Ich
weiß, dass die Ministerin morgen in der Debatte, die vorwiegend von den Umweltpolitikern bestritten wird, sprechen wird. Ich wünsche Ihnen, Frau Ministerin, nicht nur
für den Rio-Nachfolgeprozess, ein Prozess, der leider
häufig nur unter dem Aspekt des Klimas diskutiert wird,
sondern auch für die weiteren Punkte viel Erfolg. Es geht
darum, dass wir begreifen, dass nachhaltige Entwicklung
nur im Dreiklang zwischen ökonomischer, ökologischer
und sozialer Orientierung möglich ist. Ich hoffe, dass die
Debatte morgen Signale setzt. Nach langen und schwierigen Abstimmungen haben wir ja einen entsprechenden
Antrag vorgelegt. Ich hoffe, dass das, was wir heute
Abend hier besprochen haben, und das, was morgen früh
noch kommt, wirklich neue Akzente für die deutsche Entwicklungspolitik setzt.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich
schließe die Aussprache.
Reinhold Hemker
Ich freue mich über die rege Beteiligung der SPDFraktion
({0})
und hoffe, dass die Beteiligung morgen genauso rege sein
wird.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache
14/9324 zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum Elften Bericht zur
Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksa-
che 14/8493 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und FDP und Enthaltung der PDS angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/8973 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Reformprozess der Internationalen Agrar-
forschung vorantreiben“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/8000 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/9307 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Sonderprogramm zur breitenwirksamen
Nutzung angepasster, erneuerbarer Energien in den Ent-
wicklungsländern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/5486 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und FDP und Enthaltung der PDS angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 9 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/9308 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Förderung der Zivilgesellschaft im Norden
und im Süden - eine Herausforderung für die Entwick-
lungszusammenarbeit“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/5789 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/9310 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Wasser als öffentliches Gut und die Be-
deutung von Wasser in der deutschen Entwicklungszu-
sammenarbeit“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/7484 anzunehmen. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der PDS bei Enthaltung von CDU/CSU
und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 14/9311 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Afrikas neues Denken unterstützen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8859
anzunehmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen von CDU/CSU und FDP und Enthaltung der
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 g: Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8338
zur Sicherung der öffentlichen Entwicklungshilfe des Bun-
des. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/9312, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP bei Zustimmung
der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Zusatzpunkt 8: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf
Drucksache 14/9314 zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Informationstechnologie in den Mittel-
punkt der Entwicklungszusammenarbeit stellen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5578
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 9: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf
Drucksache 14/9419 zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Umsetzung der von Deutschland beim
Millenniumgipfel übernommenen Verpflichtungen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/9055
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und
bei Enthaltung von CDU/CSU und PDS angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkte auf, zu denen die
Reden - mit Ausnahme des Punktes 18, zu dem eine Red-
nerin der PDS sprechen wird - zu Protokoll gegeben wor-
den sind1). Ich darf zunächst fragen, ob Sie mit diesem
Verfahren einverstanden sind. - Das ist der Fall.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlagen 14 bis 25
Ich bitte aber trotzdem noch um Aufmerksamkeit, weil
wir die entsprechenden Entscheidungen treffen bzw.
Überweisungen feststellen müssen. Es handelt sich
eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Klaus Kinkel, Dr. Helmut Haussmann,
Günther Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten
Hans-Dirk Bierling, Dr. Wolfgang Bötsch, Monika
Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Landminen ohne integrierte Selbstneutralisie-
rungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen
ächten - Minenräum- und Minenopferhilfe
deutlich erhöhen
- Drucksachen 14/8654, 14/9439 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Ernstberger
Ruprecht Polenz
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Wolfgang Gehrcke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra
Ernstberger, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Angelika Beer, Rita Grießhaber,
Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Für eine Weiterentwicklung der humanitären
Rüstungskontrolle bei Landminen
- Drucksachen 14/8858, 14/9438 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Ruprecht Polenz
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Wolfgang Gehrcke
Tagesordnungspunkt 10 a. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 14/9439 zu dem Antrag der Fraktionen der
FDP und der CDU/CSU mit dem Titel „Landminen ohne
integrierte Selbstneutralisierungs- oder Selbstzer-
störungsmechanismen ächten - Minenräum- und Minen-
opferhilfe deutlich erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/8654 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/9438 zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die
Grünen mit dem Titel „Für eine Weiterentwicklung der
humanitären Rüstungskontrolle bei Landminen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8858
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Ent-
haltung von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg
Tauss, Monika Griefahn, Eckhardt Barthel ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin,
Dr. Antje Vollmer, Kerstin Müller ({4}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Reform der Medien- und Kommunikationsordnung für die Wissens- und Informationsgesellschaft verwirklichen
- Drucksache 14/8649 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Forschung und Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({6}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Neue Medien und Kultur
Bisherige und zukünftige Auswirkungen
der Entwicklung neuer Medien auf den
Kulturbegriff, die Kulturpolitik, die Kulturwirtschaft und den Kulturbetrieb
- Drucksache 14/8434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Monika Griefahn, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Kerstin
Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Digitale Spaltung der Gesellschaft überwinden Eine Informationsgesellschaft für alle schaffen
- Drucksachen 14/6374, 14/8151 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Bernd Neumann ({10})
Grietje Bettin
Hans-Joachim Otto ({11})
Angela Marquardt
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Angela Marquardt, Maritta Böttcher, Dr. Heinrich
Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Zensur im Internet verhindern - Kein Einsatz
von Filtern an öffentlichen Terminals - Für eine
Kennzeichnungspflicht beim Einsatz von Filtertechnologien
- Drucksachen 14/6128, 14/9406 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Bernd Neumann
Grietje Bettin
Hans-Joachim Otto ({13})
Angela Marquardt
Zunächst zu den Tagesordnungspunkten 11 a und b. In-
terfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/8649 und 14/8434 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 c. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Me-
dien auf Drucksache 14/8151 zu dem Antrag der Fraktio-
nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Titel „Digitale Spaltung der Gesellschaft überwinden -
Eine Informationsgesellschaft für alle schaffen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6374
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU und
FDP Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksa-
che 14/9406 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Zensur im Internet verhindern - Kein Einsatz von
Filtern an öffentlichen Terminals - Für eine Kennzeich-
nungspflicht beim Einsatz von Filtertechnologien“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6128
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstim-
men der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und 12 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski
({14}), Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor
angedrohten und vorgetäuschten Straftaten
- Drucksache 14/7616 ({15})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Öffentlichkeit vor angedrohten und vorgetäuschten Straftaten ({16})
- Drucksache 14/8201 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({18})
- Drucksache 14/9328 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Jürgen Gehb
Volker Beck ({19})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({20})
- Drucksache 14/2444 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({22})
- Drucksache 14/4089 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Joachim Stünker
Norbert Geis
Ronald Pofalla
Volker Beck ({23})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor angedrohten
und vorgetäuschten Straftaten, Drucksache 14/7616. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9328, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zum verbesserten Schutz
der Öffentlichkeit vor angedrohten und vorgetäuschten
Straftaten, Drucksache 14/8201. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
auf Drucksache 14/9328, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS bei Zustimmung der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt die weitere
Beratung.
Tagesordnungspunkt 12 b: Abstimmung über den vom
Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der
Strafgesetzordnung, Drucksache 14/2444. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4089, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt. Damit entfällt die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Dr. Gerhard Friedrich
({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland
- Drucksache 14/9102 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({25})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9102 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Bekämpfung der Finanzierung des
Terrorismus ({26})
- Drucksachen 14/8739, 14/9043 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({28})
- Drucksache 14/9263 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Erwin Marschewski ({29})
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Es liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten
Ströbele vor, der darüber hinaus eine persönliche Er-
klärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll
gegeben hat.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse-
rung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Bekämp-
fung der Finanzierung des Terrorismus, Drucksachen
14/8739 und 14/9043. Der Innenausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9263,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten
Ströbele vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/9326? Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Wir haben ein in-
teressantes Abstimmungsverhalten: Der Änderungsantrag
ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, eines Teils der
Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen eines
Teils der Grünen, der FDP-Fraktion und der PDS-Frak-
tion abgelehnt.2)
({30})
- Es würde viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen einiges an Zeit kosten, wenn ich das jetzt machte.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU bei Gegenstimmen von FDP und PDS sowie bei Enthaltung von
Herrn Kollegen Ströbele und einer weiteren Enthaltung
aus den Reihen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Dietrich Austermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Keine Vorzugsbehandlung der Deutschen Post
AG bei der Umsatzsteuer
- Drucksache 14/9101 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({31})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 11
2) Anlage 12
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9101 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 11 auf:
16. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({32}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Günter Nooke, Dr. Norbert Lammert, Ulrich
Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gesamtkonzeption für Berliner Gedenkstätten
für die Opfer der SED-Diktatur notwendig
- Drucksachen 14/4641, 14/7014 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
Margarete Späte
Hans-Joachim Otto ({33})
Dr. Heinrich Fink
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({34}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Ina Albowitz, Dr. Günter Rexrodt, Hans-Joachim
Otto ({35}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen als Gedenkstätte erhalten und ausbauen
- Drucksachen 14/7110, 14/9318 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
Margarete Späte
Hans-Joachim Otto ({36})
Dr. Heinrich Fink
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 14/7014 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Gesamtkonzeption für Berliner
Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur notwendig“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/4641 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU und
FDP und bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 11: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 14/9318 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „StasiUntersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen als Gedenkstätte erhalten und ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7110 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen von CDU/CSU, FDP und PDS und zwei
Enthaltungen aus der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr. Gerhard Friedrich ({37}), Norbert Hauser ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Situation und Perspektiven der Ingenieurinnen
und Ingenieure in Deutschland
- Drucksachen 14/6506, 14/7999 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/9396. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS bei Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert,
Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Behandlung von Petitionen
und über die Aufgaben und Befugnisse
des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages - Petitionsgesetz - ({39})
- Drucksache 14/5762 ({40})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert,
Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ...
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({41})
- Drucksache 14/5763 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({43})
- Drucksache 14/8576 Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier
Meinrad Belle
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Es sollen alle Reden zu Protokoll genommen werden,
mit Ausnahme der Rede des Antragstellers, der PDSFraktion. Die Rede soll die Kollegin Heidemarie Lüth halten. Bitte schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand sollte sich so ernst nehmen, wie man das manchmal für sich persönlich in Anspruch nimmt, auch wir Parlamentarier nicht. Aber ich
denke, die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sollten
wir schon ernst nehmen. Darum kann ich Ihnen meinen
Debattenbeitrag zu unserem Gesetzentwurf heute nicht
ersparen.
In dieser Zeit, in der angeblich alle die große Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger beklagen,
können wir im Parlament eigentlich ein positives Zeichen konstatieren; denn wir haben gegenwärtig jährlich
etwa 20 000 Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern,
die sich in ihrem eigenen Interesse, dem Interesse anderer, aber auch dem Interesse der Gemeinschaft an uns,
die Parlamentarier, wenden. Diese Petitionen sind häufig noch einmal durch mehr als 100 000 Zuschriften
bestätigt worden. Das muss ich als Vorsitzende des Petitionsausschusses an dieser Stelle ganz besonders konstatieren. Ich frage mich, ob wir mit dem Gesetz von
1975 noch in der Lage sind, all diese Anfragen der Bürgerinnen und Bürger intensiv und kompetent zu beantworten.
Meine Fraktion hat sich die Mühe gemacht - denn wir
sind der Meinung, dass dies nicht mehr der Fall ist -, ein
Petitionsgesetz zu formulieren, das den Anforderungen
einer demokratischen Informationsgesellschaft entspricht. Wir sind insbesondere von vier Punkten ausgegangen:
Erstens. Es geht uns um mehr Transparenz und um ein
Mehr an demokratischer Öffentlichkeit.
Zweitens. Wir wollen die Informationsrechte und den
politischen Einfluss des Parlaments gegenüber der Exekutive stärken.
({0})
Drittens. Wir wollen der Aushöhlung der parlamentarischen Kontrolle durch die Privatisierung der Daseinsvorsorge Einhalt gebieten.
Viertens. Wir wollen die demokratisierenden Chancen
neuer Informations- und Kommunikationstechniken nicht
ungenutzt lassen und wollen sie für unser Petitionsrecht,
das wir Ihnen vorgestellt haben, nutzen.
Zu diesen und anderen Fragen bei der Bearbeitung
der Petitionen haben wir Vorschläge gemacht. Ich darf
Ihnen sagen: Wir sind zwar, wie in der ersten Lesung
deutlich wurde, nicht kritiklos geblieben, aber konkurrenzlos. Nicht einmal zu einer Einzelfrage wurde von
den anderen Fraktionen dieses Parlaments ein Vorschlag gemacht, obwohl der Kollege Scholz von der
CDU/CSU in der vergangenen Woche konstatiert hat,
dass es zwar nicht unbedingt Volksbegehren oder
Volksentscheide geben müsse, dass aber die Behandlung von Massenpetitionen vernünftig geregelt werden
müsse. Bisher hat die Fraktion der CDU/CSU aber keinen Antrag vorgelegt.
Bei der SPD kann man das Gleiche konstatieren. Ihr
Generalsekretär hat im Januar 2002 unter der Überschrift
„Die Politik der Mitte in Deutschland“ angekündigt:
Die Bürgerbeteiligung soll ausgeweitet und das Petitionsrecht effektiver gestaltet werden.
Man muss sich natürlich fragen, wo, wenn solch vollmundige Versprechen gemacht werden, die Umsetzung in
eine parlamentarische Vorlage geblieben ist.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, und auch ich können beobachten, mit welcher Hast und Hektik die großen
Fraktionen noch in den letzten Sitzungswochen Gesetzgebungsprojekte einbringen und mit welch heißer Nadel
sie gestrickt sind.
Dabei wissen wir genau, dass uns diese gesetzestechnischen, aber auch inhaltlichen Fragen demnächst wieder
auf die Füße fallen und sie dem Petitionsausschuss in Bezug auf die Gesetzesfolgenabschätzung und die Legislativpetitionen wieder Arbeit machen werden.
Deshalb ist es nicht zu verstehen, dass die anderen
Fraktionen trotz der herausragenden Vorarbeiten der
PDS-Fraktion nicht gefolgt sind und hier keinen entsprechenden Entwurf vorgelegt haben.
({1})
Im Beschluss des 1. Ausschusses hierzu heißt es:
Die Fraktion der SPD hat grundsätzlich Initiativen
zur Reform des Petitionsrechts begrüßt und in diesem Zusammenhang beispielhaft auch den Vorschlag
zur Einführung einer Massenpetition als bedenkenswert bezeichnet.
Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion gaben in diesem Ausschuss zur Kenntnis:
Unabhängig von der Beratung und Beschlussfassung
zu den vorliegenden Entwürfen sollte in der nächsten
Wahlperiode interfraktionell über mögliche Änderungen zum Petitionsrecht ... beraten werden.
Diese Zustimmung ist auch vonseiten der Kollegen der
FDP-Fraktion erfolgt. Die Bündnisgrünen hatten leider
keine Zeit, sich zu diesem Thema zu äußern. Sie haben
wohl mehr mit dem Regieren als mit Regelungen hinsichtlich der Bürgerrechte zu tun.
Wenn es so ist, dass zumindest in der nächsten Wahlperiode die Bemühungen der PDS, die Reform des Petitionsrechtes auf den Weg zu bringen, Erfolg haben, dann
haben wir einen Teil unserer Arbeit erfüllt. Aber das Hinausschieben in die neue Wahlperiode - das wissen Sie
selber - ist immer fragwürdig. Wenn es darum geht, Wahlversprechen einzulösen, liegt man manchmal weit zurück.
Die PDS-Fraktion jedenfalls wird in der nächsten
Wahlperiode - da wir davon ausgehen, dass Sie heute unserem Entwurf leider noch nicht zustimmen können wieder einen Entwurf einbringen. Wir werden hierbei insbesondere die Kriterien und Mechanismen einer Gesetzesfolgenabschätzung, die die Wissenschaft und auch die
Politik gegenwärtig entwickeln, in das Petitionsrecht mit
einbeziehen, damit auch unser Petitionsausschuss die Gesetzesfolgenabschätzung bei der Behandlung von Legislativpetitionen leisten kann.
({2})
Wir, die PDS-Fraktion, werden unserem Antrag zustimmen. Wir werden auch in der kommenden Wahlperiode unser Wort halten; denn auf uns ist in diesen Fragen
Verlass.
Danke.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurf eines Petitionsgesetzes, Drucksache 14/5762. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8576, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die den Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung der FDP. Damit entfällt die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Grundgesetzes,
Art. 45 c, auf Drucksache 14/5763. Der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/8576, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung
der FDP. Damit entfällt die weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Entsorgung von gewerblichen Siedlungsabfällen und von bestimmten
Bau- und Abbruchabfällen
- Drucksachen 14/9107, 14/9133 Nr. 2.1, 14/9351 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({1})
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP
vor.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung über die Entsorgung
von gewerblichen Siedlungsabfällen und von bestimmten
Bau- und Abbruchabfällen, Drucksache 14/9351. Der
Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/9107 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der
FDP-Fraktion.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der FDP
auf Drucksache 14/9394. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und FDP.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über die
Überstellung verurteilter Personen
- Drucksache 14/8995 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausführung des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über die
Überstellung verurteilter Personen
- Drucksache 14/8996 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 14/9354 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Wolfgang Götzer
Volker Beck ({5})
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Zum Gesetzentwurf zur Ausführung des Zusatzproto-
kolls liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Zu-
satzprotokoll vom 18. Dezember 1997 zum Übereinkom-
men über die Überstellung verurteilter Personen,
Drucksache 14/8995. Der Rechtsausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/9354, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegen-
stimmen der CDU/CSU und der PDS.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aus-
führung des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997
zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter
Personen; das ist die Drucksache 14/8996. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 14/9354, den Gesetzentwurf
anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf der Drucksache 14/9367 vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan-
trag der CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men aller Fraktionen bei Zustimmung der CDU/CSU-
Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Frak-
tion und Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.1)
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksachen 14/9195, 14/9236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- Drucksache 14/9427 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes; das sind die Drucksachen 14/9195 und 14/9236. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 14/9427, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({7})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Juni 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.