Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die
Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste
aufgeführt:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zur Finanzsituation beim
Fernstraßenbau
({0})
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({1})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem
Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäfti-
gung schwerbehinderter Menschen
- Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557, 15/2830 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfech-
tung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Be-
zugspersonen des Kindes und zur Einführung von Vor-
drucken für die Vergütung von Berufsbetreuern
- Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716, 15/2831 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({4}) zu dem
Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses ({5}) des
Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von
Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität ({6})
- Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717, 15/2832 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Finanzausschusses ({7}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie
des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im
Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen
auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom durch
bestimmte Mitgliedstaaten
KOM ({8}) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04
- Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({9})
Georg Fahrenschon
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
({10})
Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugelei-
teten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/2834 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
- Drucksache 15/2835 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
- Drucksache 15/2836 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
- Drucksache 15/2837 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
- Drucksache 15/2838 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
- Drucksache 15/2839 -
ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({16})
- Drucksache 15/2816 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verabschiedung eines Optionsgesetzes
- Drucksache 15/2817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Darüber hinaus sollen abgesetzt werden: Tagesordnungspunkt 17 - Alterseinkünftegesetz -, Tagesordnungspunkt 20 - Allokationsplan-Gesetz -, Tagesordnungspunkt 23 h - Sperrzeiten für Außengastronomie -,
Tagesordnungspunkt 23 i - Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte.
Des Weiteren sollen der Tagesordnungspunkt 5 - Reform des Sanktionsrechts - erst nach Tagesordnungspunkt 7 und der Tagesordnungspunkt 19 - ErneuerbareEnergien-Gesetz - vor Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung
- Drucksache 15/904 überwiesen:
Finanzausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 98. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Günter Nooke,
Dr. Friedbert Pflüger, Bernd Neumann ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken
- Drucksache 15/2647 überwiesen:
Ausschuss für Kultur und Medien ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung
und Förderung des Fachkräftenachwuchses und
der Berufsausbildungschancen der jungen Generation ({22})
- Drucksache 15/2820 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({23})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann ({24}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausbildungsplatzabgabe verhindern - Wirtschaft nicht weiter belasten - Berufsausbildung stärken
- Drucksache 15/2833 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({25})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort.
({26})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der mit Sicherheit zu den
bedeutenden Gesetzentwürfen gehört; schließlich geht es
um die Zukunft der jungen Generation.
({0})
Es wäre also wichtig, dass dieses Thema ernsthaft debattiert wird. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Diskussion um diesen Gesetzentwurf noch vor Vorlage des Textes in einem Maße von Propaganda, Desinformation,
falschen Zahlen und falschen Behauptungen begleitet
war, wie ich es selten erlebt habe. Ich hoffe, dass die Debatte am heutigen Tag dazu beiträgt, die Diskussion zu
versachlichen.
({1})
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Die „Financial
Times Deutschland“, ein Blatt, von dem man erwarten
könnte, dass die Redakteure die normale Multiplikation
mit der Zahl Tausend beherrschen, hat sich bei den ohnehin übertriebenen Verwaltungskosten, die ermittelt
wurden, um eine blanke Null getäuscht. Es wurde darin
geschrieben, die Kosten betrügen 730 Millionen Euro.
Das ist falsch. Es sind 73 Millionen Euro. Niemanden
hat das aber daran gehindert, die Zahl 730 Millionen
Euro weiter abzuschreiben. - So viel zum Thema Desinformation mit falschen Zahlen. Ich hoffe, dass sich hier
etwas ändert.
({2})
Wir haben diese Woche Interviews sehen können, in
denen Kleinunternehmer als vermeintlich Betroffene befragt wurden. Wie sich herausgestellt hat, bekämen die
Betriebe, die dort genannt wurden, nach unserem Gesetz
Geld. Auf die Frage, warum das so gesendet wurde,
wurde uns mitgeteilt, es handle sich um Funktionäre des
Arbeitgeberverbandes. Das ging aus den Berichten aber
nicht hervor. Ich habe also die herzliche Bitte an alle,
auch an diejenigen, die oben auf der Tribüne sitzen, um
über diese Debatte zu berichten, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
Wer nicht zu Wort kam, das waren die Jugendlichen
in diesem Land, das waren junge Menschen, die Ausbildungsplätze suchen und brauchen. Um diejenigen sollten
wir uns kümmern.
({3})
Wer bedauerlicherweise auch nicht zu Wort kam, das
waren jene Betriebe, die in diesem Lande ohne Gedöns
ausbilden und es als selbstverständlich ansehen. Ihnen
gilt unser Dank.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich war in
meinem Wahlkreis kürzlich in einem Unternehmen, das
sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Der Chef hat bei
seiner Ansprache gesagt, er erfülle sich nun einen Herzenswunsch, indem er eine Ausbildungswerkstatt einrichten werde. Das brauchen wir: Wir brauchen Unternehmer, deren Herzensanliegen es ist, der jungen
Generation eine Zukunft zu geben, und keine Unternehmer, die sich aus ihrer Verantwortung verabschieden.
({5})
Aus diesem Grunde bedanke ich mich nochmals ausdrücklich bei den 23 Prozent der Betriebe, die ausbilden
und ohne Entlastung heute allein die Verantwortung für
die Ausbildung der jungen Generation im dualen Bereich übernehmen.
Ich bedauere es sehr, dass sich nun auch Funktionäre
der Unternehmerverbände - damit meine ich durchaus
auch Herrn Hundt -, die in der Vergangenheit selbst einen Beitrag dazu geleistet haben, solche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, zum Sprachrohr derer
machen, die nicht ausbilden. Das ist eine verkehrte Welt.
Wir brauchen Unternehmerfunktionäre, die sich hinter
die Betriebe stellen, die ausbilden, und nicht hinter die,
die nicht ausbilden. Vor dieser gesellschaftlichen Herausforderung stehen wir.
({6})
Weil nur 23 Prozent der Betriebe ausbilden - ich sage
noch einmal: bei diesen bedanken wir uns herzlich -, hat
sich die Zahl der Ausbildungsplätze seit dem Jahr 2000
um weitere 11 Prozent reduziert. Wir haben fast wieder
die Situation des Jahres 1998, die Sie uns überlassen haben. Dieser Trend, der sich über viele Jahre fortgesetzt
hat, setzt sich auch weiterhin fort. Heute Morgen stand
in einer Tickermeldung, dass die Zahl der Ausbildungsanfänger auf ein Rekordtief gefallen ist. Im vergangenen
Jahr gab es 3 600 weniger neu besetzte Lehrstellen. Mit
diesen nackten Zahlen haben wir es trotz aller Anstrengungen vieler in der Wirtschaft und der Politik, die an
keiner Stelle gering geschätzt werden sollen, zu tun.
In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ausdrücklich bei Bundeswirtschaftsminister Clement und
Bundesministerin Edelgard Bulmahn, die alles getan haben, was möglich war, um dafür zu werben, dass die
Wirtschaft auf freiwilliger Basis genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. Herzlichen Dank allen in der
gesamten Bundesregierung und auch vielen Kolleginnen
und Kollegen hier, die sich hierum gekümmert haben!
({7})
- Frau Kollegin Flach, ich konnte Sie nicht verstehen, es
war zu leise. Sie haben irgendetwas angemerkt, soweit
ich das verstanden habe. Wir können uns aber gerne
noch einmal unterhalten.
Zum Ende des letzten Ausbildungsjahres waren
35 000 Jugendliche unversorgt. Das sind 11 000 mehr
als im Vorjahr. Das bedeutet ein Plus bei der Zahl der
Unversorgten um fast 50 Prozent. Diesen standen nur
15 000 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die
Lücke hat sich gegenüber dem Vorjahr also vervierfacht.
Dabei sind die Jugendlichen, die in Ersatzmaßnahmen
gehen, nicht mit eingerechnet. Ich meine damit insbesondere diejenigen, die in ein Berufsvorbereitungsjahr
gehen. 2003 waren das - das müssen wir hinzurechnen 46 700 Jugendliche.
Weil in diesem Zusammenhang immer gefragt wird,
was der Staat tue, sage ich Ihnen: Jeder neunte Ausbildungsplatz wird heute voll aus Steuern finanziert. Damit
dies möglich ist, haben wir 733 Millionen Euro aus
Steuermitteln aufgebracht. Daneben wenden wir
2,2 Milliarden Euro für die Berufsvorbereitung und
Qualifizierung auf. Dies zeigt deutlich: Der Staat zieht
sich aus seiner Verantwortung nicht zurück. Ganz im
Gegenteil: Wir nehmen unsere Verantwortung insbesondere auch für die Jugendlichen, die noch nicht berufsreif
sind - wir wissen, dass es welche gibt -, wahr.
Die teilweise erhobenen Vorwürfe der Wirtschaft, die
Umlage führe zu einer Verstaatlichung der Berufsausbildung, ist angesichts dieser Zahlen falsch.
({8})
Es gibt einen schleichenden Prozess der Verstaatlichung.
Diesen wollen wir stoppen, indem wir wieder stärker an
die Verantwortung der Wirtschaft appellieren.
({9})
Die Ausbildung in der Wirtschaft hat Priorität; dies ist
für uns klar. Deshalb führen wir mit diesem Gesetz ein
Umlagesystem ein, mit dem zusätzliche betriebliche
Ausbildungsplätze gefördert werden. Diesen Punkt
halte ich für wichtig. Wir haben ihn mit unserem Koalitionspartner ausdrücklich besprochen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die betriebliche Ausbildung stärken. Das hat absolute Priorität.
({10})
Umlagepflichtig werden alle Betriebe mit zehn und
mehr Beschäftigten sein. Selbstverständlich werden
Teilzeitbeschäftigte entsprechend einem Schlüssel angerechnet. Alle Betriebe - das ist die gute Nachricht für
diejenigen, die die Ausbildungsquote von 7 Prozent erfüllen - werden gefördert. Wer seine Ausbildungsleistung nachweislich steigert, wird ebenfalls gefördert.
Dies ist ein ganz wichtiges Signal. Außerdem ist es ein
wichtiges Signal, dass auch Betriebe gefördert werden,
die nicht umlagepflichtig sind, also kleinere Betriebe.
Sie können durch unser Gesetz von der Umlage profitieren.
({11})
Gelegentlich wird gefragt: Wie kommt es zu der
Quote von 7 Prozent? Interessanterweise sind es gerade
die kleinen und mittleren Betriebe, die ihrer Verantwortung nachkommen. Herr Brüderle, Sie sollten sich beim
Thema Mittelstand nicht vor den Karren der großen Betriebe spannen lassen. Die Großbetriebe mit 500 oder
mehr Beschäftigten sind es, die diese Quote von
7 Prozent nicht erfüllen. Aus diesem Grunde tun wir hier
wirklich etwas für kleine und mittlere Betriebe, die ihrer
Verantwortung nachkommen.
Alle anderen Betriebe wollen wir in der Tat an Kosten
und Lasten von Ausbildung beteiligen. Es kann, wie gesagt, nicht sein, dass wenige Betriebe für alle anderen
die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses übernehmen. Ich will nochmals festhalten: Ausbildung ist keine
Wohltätigkeitsveranstaltung und kein soziales Engagement. Es ist vielmehr eine Pflicht und liegt im Eigeninteresse der Wirtschaft zur Sicherung ihrer Zukunft. Dies
muss man einigen immer wieder deutlich machen.
({12})
Es geht um die Sicherung des Nachwuchses. Über Fachkräftemangel zu klagen und gleichzeitig nicht auszubilden ist nicht nur dreist, sondern ein teilweise sehr kurzsichtiges Verhalten.
Wir wollen - auch das möchte ich deutlich machen den öffentlichen Dienst nicht ausnehmen. Es gab solche
Forderungen. Ich kann mir aber nicht ernsthaft ein Gesetz vorstellen, das die Wirtschaft in die Pflicht nimmt
und den öffentlichen Dienst außen vor lässt. Das wollen
wir nicht. Wir werden prüfen, wie andere Ausbildungsleistungen, die bereits heute im Umlagesystem erbracht
werden, beispielsweise in der Krankenpflege, angerechnet werden können. Aber auf die Forderung, die Wirtschaft solle allein ausbilden und öffentliche Arbeitgeber
sollten ausgenommen werden, wollen wir nicht eingehen.
Reden wir einmal von den Belastungen, über die im
Moment so viel geschrieben und gejammert wird. Nach
unserem Gesetzentwurf würde ein Betrieb mit 100 Beschäftigten und ohne einen einzigen Auszubildenden
rund 23 000 Euro an Umlage für fehlende Ausbildungsplätze zahlen müssen. Ich habe mir gestern in ein paar
Katalogen der deutschen Automobilindustrie angesehen,
welche Autos ich für 23 000 Euro bekommen würde. Ich
habe nicht sehr viele Fahrzeuge gefunden, mit denen
man wirklich etwas anfangen kann. Die Aufwendungen
für die Umlage erreichen noch nicht einmal den Preis für
einen Mittelklassewagen. Ich glaube, einem Betrieb mit
100 Beschäftigten wäre es zumutbar, Aufwendungen zu
erbringen, die unter dem Preis für ein Auto liegen, um
etwas zur Zukunftssicherung beizutragen. Jeder zusätzliche Auszubildende reduziert diese Summe.
({13})
Zum Abschluss: Jahrelange Appelle und Absichtserklärungen haben nachweislich nicht zu dem erhofften
Ergebnis geführt. Wir wollen mit diesem Gesetz ein Signal setzen, damit sich die Tarifvertragsparteien, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften
und die Verbände, zusammensetzen, um Tarifverträge
zu diesem Thema abzuschließen, so wie das in einigen
Branchen schon getan wurde. Ich erinnere an die Bauund die Chemieindustrie, den Garten- und Landschaftsbau sowie die Metallindustrie. Wir begrüßen es sehr,
dass die Industriegewerkschaft Metall und die Metallarbeitgeberverbände zugesichert haben, zu prüfen, ob sie
in Tarifverhandlungen eintreten, um zu Lösungen im
Sinne der jungen Generation zu kommen. Genau das
wollen wir. Uns geht es nicht prinzipiell um ein Gesetz,
sondern uns geht es in diesem Zusammenhang um eine
Lösung des Problems.
({14})
Der Bundeskanzler hat am 14. März letzten Jahres in
seiner Rede zur Agenda 2010 ganz klar gesagt: Wenn
nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, müssen wir zu gesetzlichen Regelungen kommen.
Dies wollen wir jetzt tun. Ich will dies mit einem Hinweis auf die junge Generation verbinden, über die Franz
Müntefering völlig berechtigt mehrmals erklärt hat: Vielen Jugendlichen, die aus der Schule kommen, wird gesagt, ihr habt euch zwar angestrengt, aber ihr bekommt
keine Lehrstelle und damit auch keinen Job; es gibt nur
Stütze und mit 25 Jahren werdet ihr abgeschrieben. Aber
haltet den Mund und lasst uns in Ruhe! - Eine solche
Gesellschaft stellen wir uns nicht vor. Wir wollen eine
Gesellschaft, in der die Verantwortung für die junge Generation von allen übernommen wird: von der Wirtschaft, vom Staat und allen anderen Beteiligten.
({15})
Ich hoffe, das gilt ein Stück weit auch für die Opposition. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Beteiligen
Sie sich konstruktiv an diesem Prozess!
Ich bedanke mich.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer will bestreiten, dass wir allen Grund haben, uns
Sorgen um die Ausbildung der jungen Menschen in
Deutschland zu machen? Wer will bestreiten, dass dies
eine der wichtigsten Aufgaben ist, vor die Politik und
Gesellschaft in Deutschland gestellt sind, nämlich dafür
zu sorgen, dass unter schwierigsten wirtschaftlichen Bedingungen gerade junge Menschen - ich stimme Ihnen
hinsichtlich dessen, was Sie zum Schluss gesagt haben,
ausdrücklich zu, Herr Tauss - eine Perspektive haben?
Wenn sie aus dem Schulleben heraustreten und in die berufliche Bildung gehen wollen, muss ihnen diese Gesellschaft ein Angebot machen und sie müssen eine Chance
haben.
Aber die Lautstärke des Vortrages meines Vorredners
steht in auffallendem Widerspruch zur Überzeugung in
den eigenen Reihen.
({0})
Es ist doch ganz offenkundig so, Herr Tauss, dass das,
was Sie hier heute Morgen vorlegen - es hat etwas Tragikomisches, dass dies ausgerechnet am 1. April vorgelegt wird
({1})
- in auffallendem Gegensatz zu dem steht, was aus den
Reihen der Bundesregierung zu hören ist.
({2})
- Ihre Zwischenrufe zeigen nur, wie nervös Sie geworden sind, nachdem Ihr neuer Vorsitzender dies zu seinem
zentralen Projekt der nächsten Wochen gemacht hat.
Wenn eine SPD-Bundestagsfraktion tagt und nicht
einmal die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist und
anschließend ein Viertel der Abgeordneten gegen diesen
Gesetzentwurf stimmt, dann zeigt das, in welchem Zustand Ihre Fraktion ist und was Sie uns heute Morgen
vorgelegt haben. Es ist unglaublich, wie Sie arbeiten!
({3})
Sie können mit Ihren Zwischenrufen versuchen, mich zu
stören; aber das wird Ihnen nicht gelingen. Schauen Sie
einmal auf die Regierungsbank. Da sitzt nicht ein einziger der Minister, die eigentlich für diese Aufgabe zuständig wären.
({4})
Frau Bulmahn sitzt dort hinten. In der ersten Reihe fehlt
der Bundeswirtschaftsminister, der sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. In der ersten Reihe fehlt der
Bundesfinanzminister.
({5})
Es ist gerade Kernzeit des Deutschen Bundestages und
nicht irgendeine Nachtsitzung. In der Kernzeit fehlen die
beiden zuständigen Ressortminister, die sich ausdrücklich gegen dieses Gesetz ausgesprochen haben. Es ist
doch keine Überraschung, dass sie heute Morgen fehlen.
({6})
Nun müssen wir uns in der Tat fragen, welche Ursachen es hat, dass wir im Jahr 2004 erneut ein solches
Problem mit Ausbildungsplätzen haben. Ich kann Ihnen
nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass dies nach einer
solchen Insolvenzwelle - wir haben im letzten Jahr
40 000 Unternehmensinsolvenzen in Deutschland verzeichnet; im Jahr davor waren es 36 000 - nicht ausbleiben kann. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser
Bundesregierung und diese Insolvenzwelle sind wesentliche Ursachen dafür, dass in Deutschland nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden.
Es sind nicht die Unternehmer in Deutschland, denen es
an Patriotismus mangelt. Das ist der eigentliche Hintergrund.
({7})
Nun sind Sie sich über die Wirkung dessen, was Sie
heute Morgen vorgelegt haben, offensichtlich nur zum
Teil im Klaren. Ich will Sie auf zwei Sachverhalte hinweisen, die von erheblicher Bedeutung sein werden,
wenn dieses Gesetz jemals Wirklichkeit würde. Zum einen haben Sie das Stichwort selbst genannt: Wir steuern
mit einer solchen Entscheidung auf eine endgültige und
dauerhafte Verstaatlichung der beruflichen Bildung zu.
({8})
Wenn die Unternehmer in Deutschland wissen, dass sie
diese Abgabe zahlen müssen, dann werden sie jede Anstrengung, auch über den eigenen Bedarf hinaus auszubilden, einstellen und die Abgabe zahlen. Als Ergebnis
wird das duale System der beruflichen Bildung, das
auf der Welt noch immer als Vorbild gilt, endgültig zu
Grabe getragen. Die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie
heute Morgen vorgeschlagen haben, wird die Ursache
sein.
Sie sind sich offensichtlich über einen zweiten Sachverhalt nicht im Klaren, der noch dramatischer ist. Selbst
wenn Sie das Erste, was ich gesagt habe, bestreiten, können Sie das Zweite nicht bestreiten. Stellen Sie sich vor,
eine solche Abgabe würde eingeführt. Das hätte doch
zur Folge, dass sich diejenigen, die in besonders anspruchsvollen Berufen ausbilden, wodurch Kosten in
den Unternehmen verursacht werden, die über die
Summe dieser Ausbildungsplatzabgabe hinausreichen,
von ihren Ausbildungsverpflichtungen freikaufen werden, weil sie sich ausrechnen können, dass es betriebswirtschaftlich sinnvoller ist, die Abgabe zu zahlen als
auszubilden.
({9})
Von dieser Abgabe werden diejenigen profitieren, die in
relativ einfachen Berufsbildern ausbilden, mit der fatalen Folge, dass die Qualifikation in den Berufen, in denen der Ausbildungsbedarf am höchsten ist, in den Betrieben nicht mehr vermittelt wird und dass die weniger
gut qualifizierten Berufsbilder durch die Abgabe subventioniert werden. Das ist das Gegenteil von Qualifikation und wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, die wir gegenwärtig in Deutschland brauchen.
({10})
Welche Konsequenzen hat das auf die öffentlichen
Haushalte? Die Länder, die Gemeinden und auch der
Bund, die allesamt aus unterschiedlichen Gründen die
Verpflichtungen, die Sie im Gesetzentwurf vorsehen, nur
zum Teil oder gar nicht erfüllen, werden in Zukunft
selbstverständlich die Abgabe zahlen müssen. Das heißt,
Sie belasten die öffentlichen Kassen insbesondere der
Gemeinden und Länder - diese machen den größten Anteil des öffentlichen Dienstes aus, nicht der Bund -,
({11})
mit der Folge, dass die öffentlichen Kassen durch eine
solche Abgabe zusätzlich belastet werden. Der Finanzminister hat völlig Recht, dass eine zusätzliche Belastung dadurch entsteht, dass die Ausbildungsabgabe der
Betriebe als Betriebsausgabe und -aufwand abzugsfähig
ist und dass auf die öffentlichen Haushalte erhebliche
zusätzliche Steuerausfälle zukommen.
({12})
Das ist das Gegenteil dessen, was die öffentlichen Finanzen in diesen Tagen und Wochen brauchen.
({13})
Sie haben auf die freiwilligen Vereinbarungen
- besser: auf die Tarifvereinbarungen - Bezug genommen. Es hätte den Tarifvertragsparteien in Deutschland
aber nichts im Wege gestanden, schon in früheren Jahren
bessere Ausbildungstarifverträge zu verabschieden.
({14})
- Ich bedanke mich sehr für den Beifall. Ich habe das an
dieser Stelle auch schon bei anderer Gelegenheit festgestellt. Es hätte den Tarifvertragsparteien durchaus gut
angestanden, in ihren Ausbildungstarifverträgen die
Frage zu beantworten, ob nicht etwa die berufliche Bildung in den Betrieben mittlerweile ein wenig zu teuer
geworden ist
({15})
und ob nicht möglicherweise die Ausbildungsordnungen
dahin gehend überprüft werden müssen, ob es nicht besser wäre, wenn die Auszubildenden längere Zeiten in
den Betrieben und weniger in den Berufsschulen verweilten.
Alle diese Fragen hätten die Tarifvertragsparteien
längst beantworten können, wenn sie sich ihrer Verantwortung gestellt hätten. Sie haben das aber nicht getan,
weil sie auch von Ihrer Seite immer wieder ermuntert
worden sind, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten.
Durch die Ausbildungsplatzabgabe bekommen sie jetzt
die Bestätigung der Richtigkeit ihres Vorgehens in den
letzten Jahren, das aber - objektiv gesehen - auch schon
in diesem Zeitraum falsch gewesen ist.
({16})
- Herr Tauss, regen Sie sich nicht so auf! Wir sind langsam um Ihre Gesundheit besorgt.
({17})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch darauf hinweisen, dass die freiwilligen Vereinbarungen nur
dann erfolgreich sein können, wenn diese auch die regional unterschiedlichen Arbeitsmarktbedingungen ausreichend berücksichtigen. Solche freiwilligen Vereinbarungen oder Tarifvereinbarungen, die Sie heute Morgen zu
Recht als möglich und notwendig dargestellt haben, werden nicht zustande kommen, wenn mit dem von Ihnen
vorgelegten Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag und
möglicherweise im Bundesrat ein bundesweit einheitliches Gesetz verabschiedet wird. Denn Sie haben keine
Öffnungsklauseln vorgesehen, die regional unterschiedliche Antworten auf sehr unterschiedliche Arbeitsmarktund Ausbildungsplatzbedingungen zulassen. Das heißt,
was Sie heute Morgen als richtig anerkannt haben, ist in
Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Es sind keine regionalen Bündnisse für Ausbildung möglich, weil der
Gesetzentwurf keine entsprechende regionale Differenzierung zulässt.
Sie wissen im Übrigen selbst, warum Sie keine entsprechende Regelung in den Gesetzentwurf aufgenommen haben. Denn mit ziemlich großer Sicherheit wäre
ein solcher Gesetzentwurf zustimmungspflichtig. Dann
müsste der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen
und damit wäre richtigerweise das Ende dieses Gesetzes
endgültig besiegelt gewesen.
({18})
Abschließend erlaube ich mir, die Frage zu stellen,
auf welcher Rechtsgrundlage Sie eine solche Abgabe
staatlicherseits erheben zu können meinen.
({19})
Worum geht es in dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf eigentlich? Eine solche Abgabe erfordert nach unserem Grundgesetz eine entsprechende Grundlage.
({20})
Dafür brauchen Sie eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz.
Handelt es sich bei der Abgabe um eine Gebühr? Mit ziemlich großer Sicherheit nicht; denn es handelt
sich ja nicht um eine unmittelbare Gegenleistung für die
Inanspruchnahme eines staatlichen Angebots. Handelt es
sich möglicherweise um eine Steuer? Wenn die Abgabe
eine Steuer wäre, dann bin ich ziemlich sicher, dass Ihnen dafür die entsprechende verfassungsrechtliche
Grundlage fehlen würde. Es ist also kein Wunder, dass
nicht nur der Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister sowie der Bundesfinanzminister - der eine aus wirtschaftspolitischen, der andere aus finanzpolitischen Gründen ihre Bedenken gegen das Gesetz geäußert haben.
({21})
Ganz offensichtlich hat es auch in der ersten Ressortabstimmung der Bundesregierung erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches Gesetz gegeben. Es wäre gut, wenn heute Morgen der eine oder
andere von der Koalition, vielleicht sogar jemand von
der Bundesregierung,
({22})
zu der Frage Stellung nehmen würde, ob das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland es Ihnen überhaupt
erlaubt, eine solche Abgabe zu erheben.
({23})
Ich sage Ihnen das alles nicht, um formelle Einwendungen gegen ein in der Sache falsches Gesetz zu erheben,
sondern deshalb, weil Sie in diesem Staat nicht einfach
tun und lassen können, was Sie wollen, je nachdem wie
Ihre innerparteiliche Diskussionslage dies erfordert. Sie
haben sich an Regeln zu halten. Das gilt auch und insbesondere bei diesem Gesetz.
({24})
In diesem Sinne werden wir in den nächsten Wochen die
Debatte mit Ihnen über den Gesetzentwurf streitig führen.
Ich möchte zum Abschluss nur sehr deutlich sagen,
dass wir jeden konstruktiven Beitrag, selbst wenn er von
Ihnen kommt, unterstützen werden,
({25})
der dazu führt, dass am Ende des Jahres 2004 möglichst
alle Jugendlichen in Deutschland einen Ausbildungsplatz haben. Nur eines scheint mir bei Fortsetzung der
Wirtschafts-, der Finanz- und der Sozialpolitik der rotgrünen Koalition wirklich sicher zu sein: Im Verlauf des
Jahres 2004 wird es nicht besser, sondern weiter schlechter werden. Die Zahl der Insolvenzen in diesem Land
wird weiter steigen. Mit der Zunahme bei Insolvenzen
und Arbeitsplatzverlusten werden leider auch immer
mehr Ausbildungsplätze in Deutschland verloren gehen.
Dann können Sie so viele Abgaben - in welcher Höhe
auch immer - erheben, wie Sie wollen, Sie werden am
Ende des Jahres vor einem riesengroßen, zusätzlichen
Scherbenhaufen stehen. Dann wird dieses Gesetz bedeutungslos sein. Das Einzige, was man dem mit einigem
Zynismus abgewinnen könnte, wäre, dass dies den Niedergang der Bundesregierung weiter beschleunigen
würde. Aber es ist ein verdammt hoher Preis, den dieses
Land dafür zahlen muss.
({26})
Ich erteile das Wort Kollegin Dr. Thea Dückert, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Merz hat am Anfang etwas Richtiges angemerkt: Jeder Jugendliche, jede junge Frau und jeder
junge Mann, in diesem Land braucht ein Ausbildungsangebot - das ist völlig klar. Sie brauchen eine Perspektive.
Wir wissen schließlich, dass Jugendliche, die keinen
Ausbildungsabschluss haben, eine ganz schlechte
Erwerbsbiografie vor sich haben und dass in Zukunft
unsere Wirtschaft mit einem Fachkräftemangel kämpfen
wird. Deswegen ist die Anmerkung von Herrn Merz
richtig. Aber seine einzige Antwort auf die Frage, was
wir tun können, war: Wir sollen die Ausbildungsvergütungen senken. Lieber Herr Merz, ich finde, dass das der
Aprilscherz des heutigen Tages ist.
({0})
Ich sage Ihnen eines: Die von uns vorgeschlagene Umlage, die nichts anderes als ein Konzept des Handelns ist,
wird jedem Betrieb, der ausbildet, mehr bringen als das,
was Sie auf Kosten der Auszubildenden vorschlagen,
nämlich die Senkung der Ausbildungsvergütungen.
({1})
Ein weiterer Punkt: Herr Merz, Sie haben darauf hingewiesen, dass die hohe Zahl der Insolvenzen des letzten
Jahres zwangsläufig zu einem Rückgang der Zahl der
Ausbildungsplätze führe. Herr Merz, auch Sie leiden offenbar unter dem kollektiven Gedächtnisschwund Ihrer
Fraktion; das muss ich ganz klar sagen. Die Zahl der
Ausbildungsplätze geht nämlich bereits seit 1992 zurück. Heute gibt es in den Betrieben 100 000 Ausbildungsplätze weniger. Herr Merz, das Problem, mit dem
wir zu kämpfen haben, ist, dass sich die großen Betriebe
Stück für Stück aus der notwendigen Ausbildung zurückziehen. Es gab es in den vergangenen Jahren immer
Betriebe - es gibt sie auch jetzt -, die wirtschaftlich stark
waren und sich dennoch aus der dualen Ausbildung zurückzogen. Gleichzeitig gab es auch Betriebe, denen es
nicht so gut ging, die aber trotzdem ihrer Ausbildungsverpflichtung nachkommen.
({2})
Herr Merz, Sie haben hier davon gesprochen, wir
brächten mit unserem Gesetz eine Verstaatlichung auf
den Weg.
({3})
Eine schleichende Verstaatlichung findet durch den sukzessiven Attentismus jener Betriebe statt, die sich Jahr
für Jahr aus der Ausbildung heraushalten. Dagegen werden wir mit einem Gesetz ansteuern, das diejenigen Unternehmen stärken will, die die Aufgabe der betrieblichen Ausbildung noch wahrnehmen.
({4})
Ich weiß, dass es besser wäre, wenn die Wirtschaft
selbst handelte, und dass Eigeninitiative Vorfahrt haben
muss. Das werden wir in diesem Gesetz verankern. Aber
ich weiß auch, dass die heutige Situation für die jungen
Leute unerträglich ist. Wir Politikerinnen und Politiker
haben bisher die Hände in den Schoß gelegt, obwohl vielen jungen Leuten eine Perspektive fehlt. Ich weiß auch,
dass die heutige Situation gegenüber den Unternehmen
unverantwortlich ist, denen in der Zukunft ein Facharbeitermangel droht.
({5})
Nur noch 24 Prozent der Unternehmen bilden aus.
700 000 Unternehmen könnten ausbilden. Wenn nur jedes zehnte dieser Unternehmen einen Ausbildungsplatz
anböte, dann wäre dieses Problem schon gelöst. In den
letzten Jahren wurden uns gegenüber Versprechungen
gemacht und die Regierung ist aktiv geworden; aber am
Ende sind dies leere Versprechungen gewesen.
({6})
Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln. Das
Handeln der Wirtschaft wäre die beste Lösung. Es bleibt
allerdings aus. Wir können aber nicht die Augen verschließen und wir dürfen uns nicht abwenden.
Das Geschrei ist groß. Aber woher kommt es?
57,9 Prozent derjenigen Betriebe, die ausbilden, die sich
auf diesem Gebiet also wirklich anstrengen, sind für eine
Ausbildungsplatzumlage.
({7})
Daran sieht man doch ganz deutlich, worum es geht: Diese
Betriebe wollen Unterstützung und die anderen, also diejenigen Betriebe, die nicht ausbilden, machen gegen die
Ausbildungsplatzabgabe Front. Ich weiß, dass diese Diskussion sehr schwierig ist. Ich weiß auch, dass wir alles tun
müssen - in dem Gesetz haben wir diesen Gedanken aufgegriffen -, um die Eigeninitiative zu stärken.
In dieser Debatte wird aber auch ein politischer
Popanz aufgebaut.
({8})
Hier wird behauptet, wir führten eine Strafabgabe ein.
Ich weiß nicht genau, inwieweit PISA auf Ihre Reihen
zutrifft. Wenn Sie sich diese Vorlage anschauen, dann
werden Sie feststellen, dass es sich um eine Umlage handelt.
({9})
Durch diese Umlage unterstützen die Betriebe, die nicht
ausbilden, diejenigen, die ausbilden. Diese Umlage wird
in die betriebliche Ausbildung fließen. Das Geld der
Wirtschaft wird in der Wirtschaft bleiben. Es wird nicht
abkassiert.
({10})
Es gibt im Vorfeld dieser Debatte eine Initiative, die
darauf abzielt, Stimmung zu machen und dem Attentismus ein moralisches Gütesiegel aufzudrücken. Es ist
aber so: Die Betriebe tragen für sich selbst Verantwortung und müssen betriebswirtschaftlich rechnen. Wenn
sie das tun, wird sich zeigen, dass sich jeder Ausbildungsplatz, den sie anbieten, in ihrer Bilanz positiv darstellen wird: Wenn sie unter der Quote liegen, dann wird
das ihre Abgabenlast reduzieren; wenn sie über der
Quote liegen, dann werden sie eine Unterstützung bekommen. Es geht um die Unterstützung der betrieblichen Ausbildung.
({11})
Ich will noch eines sagen: Es gibt in diesem Gesetz sicherlich Punkte, die wir noch verändern müssen, um die
betriebliche Ausbildung stark zu machen. Von der Opposition habe ich hier aber kein einziges Wort über die Situation der Jugendlichen gehört. Stattdessen haben Sie
darüber philosophiert, ob das Gesetz zustimmungsbedürftig ist oder nicht. Das interessiert die Jugendlichen
nicht.
({12})
Sie brauchen Angebote.
({13})
- Ich sitze nicht auf den Ohren, Herr Merz. Ich habe
ganz genau gehört, was Sie gesagt haben. Ihr einziger
Vorschlag war, die Vergütung für Auszubildende zu senken. Keinen anderen Vorschlag haben Sie gemacht. Das
ist billig.
({14})
Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Unsere Jugendlichen brauchen ein Angebot. Unsere Jugendlichen
brauchen eine wirkliche Perspektive. Die Betriebe brauchen Facharbeitskräfte. Deswegen führen wir eine Umlage ein.
({0})
Ich erteile Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dückert, ob das nun Ausbildungsplatzabgabe oder
-umlage heißt, ist völlig egal.
({0})
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, wird Ausbildungsplätze in Deutschland vernichten und nicht neue
Ausbildungsplätze schaffen, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition.
({1})
Sie haben Recht: Der Mittelstand, das Handwerk
schafft 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland. Der Mittelstand ist in diesem Land das Rückgrat
der Wirtschaft. Aber Sie, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, treiben den Mittelstand in den
Ruin. Ökosteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer - und nun
kommt auch noch die Ausbildungsplatzsteuer.
({2})
Sie treiben die Steuerspirale in die Höhe. Die Abgaben
und Steuern steigen in Deutschland.
({3})
Sie belasten den Mittelstand und - da können Sie
schreien, wie Sie wollen - treiben die Kosten für die
Ausbildung in die Höhe. - Ich weiß, dass ich ins
Schwarze treffe; sonst würden Sie ja nicht so reagieren.
({4})
Es geht hier - auch das will ich einmal sagen - um die
Situation von jungen Menschen in diesem Land. Sie
schaffen für die jungen Menschen eine Situation, die sie
wirklich in die Verzweiflung treibt.
({5})
Das kann so nicht weitergehen.
({6})
Ihre Politik in Sachen Wirtschaft, Steuern, Ausbildung und Bildung ist gescheitert. Der Ifo-Index für das
Wirtschaftsklima ist erneut abgesackt. Das Institut der
deutschen Wirtschaft in Köln sagt ganz deutlich: Ausbildungsplätze werden geschaffen, wenn das Bruttoinlandsprodukt um 2 Prozent wächst. - Sie haben uns und den
jungen Menschen im letzten Jahr damit gedroht, dass Sie
die Folterwerkzeuge für die Wirtschaft herausholen werden. Sie setzen das nun mit einem Berufsausbildungssicherungsgesetz um. Dieses Gesetz, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, ist ein bürokratisches Monster und nichts anderes.
({7})
Eine neue Mammutbehörde mit 100 Beamten, in die
500 Beamte noch zusätzlich eingestellt werden müssen,
um diese Ausbildungsplatzabgabe einzukassieren,
({8})
ist ein fragwürdiger Beitrag zur Innovationsoffensive der
Bundesregierung, Herr Tauss.
({9})
Ein Markt lässt sich nun mal nicht per Gesetz regulieren. Da hat Herr Merz durchaus Recht: Sie betreiben die
schleichende Verstaatlichung der Berufsausbildung. Das
bewährte System der betrieblichen Ausbildung blutet
durch Ihre Politik aus. Der europäische Vergleich zeigt,
dass in einem staatlichen Ausbildungssystem die Jugendarbeitslosigkeit viel höher liegt. Deswegen setzen
wir auch weiterhin auf die betriebliche Ausbildung, auf
die duale Berufsausbildung in Deutschland. Sie machen
sie jedoch kaputt.
({10})
Sie haben selbst den Beweis dafür angetreten.
Schauen Sie sich das JUMP-Programm der Bundesregierung an!
({11})
Jeder dritte Jugendliche wird aus dem JUMP-Programm
in die Arbeitslosigkeit entlassen. Das ist keine Lösung.
({12})
Wie gesagt: Dieses neue Gesetz wird Ausbildungsplätze vernichten. Sie bestrafen die kleinen mittelständischen Unternehmen, die ausbilden wollen.
({13})
Auch die, die ausbilden wollen, aber nicht können, weil
es an Nachfrage fehlt, zum Beispiel bei den Berufen der
Elektrotechnik oder im Fleischerhandwerk, werden bestraft.
({14})
Selbst dann, wenn ein Lehrling seine Berufsausbildung
kurz vor dem Abschluss abbricht, wird der Betrieb zur
Kasse gebeten.
({15})
Was Sie hier vorgelegt haben, ist eine Katastrophe!
({16})
Die Spitze des Eisbergs, Herr Tauss, ist, dass Ihre eigene Regierung Ihren Gesetzentwurf nicht akzeptiert.
({17})
Das Justizministerium erhebt verfassungsrechtliche Bedenken. Nach der Idee der Strafandrohung bzw. Kontrolle der Putzfrauen durch Steuerfahnder in Bezug auf
Schwarzarbeit folgt nun der große Lauschangriff für den
Mittelstand und das Handwerk in Deutschland.
({18})
Finanzminister Eichel habe den Gesetzentwurf wegen zu
hoher Steuermindereinnahmen eigentlich abgelehnt,
heißt es. Sie haben in Ihrer eigenen Regierung und auch
in der Bevölkerung keine Mehrheit für diese Ausbildungsplatzabgabe.
({19})
Ich kann nur sagen: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf
zurück! Sie machen die Wirtschaft kaputt und verspielen
die Zukunft der jungen Menschen in diesem Land. Die
beste Mittelstandspolitik für dieses Land wäre es, wenn
diese Bundesregierung endlich zurückträte. Sie bringen
es einfach nicht!
({20})
Geben Sie den Jugendlichen eine Chance! SachsenAnhalt hat eine Bundesratsinitiative eingebracht. In der
Tat, Herr Tauss, wir schlagen eine flexiblere Ausbildungsvergütung vor.
({21})
Warum soll sich der Unternehmer mit den Lehrlingen
nicht auf eine andere Ausbildungsvergütung einigen?
({22})
Sie wollten doch Politik mit Herz machen! Ich sehe die
jungen Leute in Sachsen-Anhalt mit dem Handwerksmeister bei der Kammer stehen. Sie wollen einen Ausbildungsvertrag über 300 Euro abschließen und die
Kammer darf das nicht unterschreiben. Das ist eine unmenschliche Politik,
({23})
die verhindert, dass ein Ausbildungsplatz entsteht. Besser ein Ausbildungsplatz mit weniger Lehrgeld als gar
kein Ausbildungsplatz!
({24})
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich
überschritten.
({0})
Ja. - Greifen Sie unsere Vorschläge auf, auch zur Novellierung des Berufsausbildungsgesetzes, dann kommen Sie weiter!
({0})
Ich erteile das Wort der Bundesministerin Edelgard
Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Wenn es eine gesellschaftspolitische
Aufgabe gibt, die wir vor allen anderen zu lösen haben,
dann ist es die, für alle jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung zu gewährleisten.
({0})
Nur so gewinnen wir die jungen Menschen für unsere
Gesellschaft und nur so können wir auch sicherstellen,
dass wir in zehn, 20 Jahren Menschen haben, die bereit
sind, für dieses Land, für diese Gesellschaft zu arbeiten,
Wohlstand zu sichern und eine Zukunftsperspektive zu
schaffen.
({1})
Wir haben ein Ziel: Wir wollen erreichen, dass kein
junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit
geschickt wird,
({2})
dass keinem jungen Menschen die Türe vor der Nase zugeknallt wird, statt dass ihm Zukunftschancen eröffnet
werden. Herr Merz, dazu habe ich von Ihnen kein einziges Wort gehört.
({3})
Zu allem Nein zu sagen,
({4})
aber mit keinem einzigen Wort zu erläutern, wie Sie erreichen wollen, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung
erhalten, das ist zu billig.
({5})
Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist auch
deshalb eine der wichtigsten politischen Aufgaben, weil
sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Menschen
im internationalen Wettbewerb behaupten können. Das
ist unsere große Stärke, unser Vorteil gegenüber anderen
Volkswirtschaften.
({6})
Qualifizierte Menschen sind die Innovationskraft unseres Landes. Das muss man begreifen.
({7})
Es gibt in diesem Land viele Unternehmen - ich habe
viele besucht und kennen gelernt -, in denen Unternehmer mit ganz hohem persönlichem Engagement hervorragend ausbilden,
({8})
sich jedes Jahr einbringen, damit ausgebildet wird, damit
junge Leute eine Zukunftschance haben. Diese Unternehmen entziehen sich eben nicht ihrer Verantwortung.
({9})
Diese Unternehmen sollen für ihre Leistung Anerkennung erhalten, auch finanzielle Anerkennung.
({10})
Das halte ich für einen richtigen Weg. Diese Unternehmen kommen ihrer Verantwortung nach und erhalten
deswegen eine entsprechende Unterstützung.
({11})
Für das Ausbildungsjahr 2003 haben wir zum vierten
Mal in Folge einen Rückgang der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge feststellen müssen.
({12})
Wir sind wieder auf dem Stand des Jahres 1998. Sie haben damals die negative Entwicklung einfach hingenommen.
({13})
Ich sage ausdrücklich, dass ich diese Entwicklung für
problematisch halte. Inzwischen wird jede neunte Lehrstelle voll aus öffentlichen Mitteln finanziert.
({14})
Inzwischen gehen rund 10 Milliarden Euro aus Steuermitteln und aus Mitteln der BA in die berufliche Ausbildung. Offensichtlich ist das für Sie akzeptabel. Das ist
aber eine schleichende Verstaatlichung der beruflichen Bildung.
({15})
Diese schleichende Verstaatlichung halten wir für äußerst problematisch. Sie wollen sie ja offensichtlich;
dann müssen Sie aber auch Farbe bekennen:
({16})
Wollen Sie dies? - Dann muss man den Weg der Verstaatlichung der beruflichen Bildung mit allen Konsequenzen gehen. Ich habe aber dagegen größte Bedenken
und halte diesen Weg für falsch. Aber darüber kann man
streiten. Wenn Sie es wollen, dann müssen Sie es allerdings ehrlich sagen.
({17})
Eines geht nicht: zu allem Nein zu sagen und sich
nicht darum zu kümmern, wenn Tausende von Jugendlichen auf der Straße stehen und keine Perspektive haben.
({18})
Fast die Hälfte der Betriebe mit mehr als zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bildet nicht mehr aus.
({19})
- Herr Merz, Sie haben jederzeit die Möglichkeit, hier zu
sagen, was Sie wollen. Tun Sie es endlich!
({20})
Machen Sie konkrete Vorschläge und lehnen Sie nicht
alles ab! Ich habe bis jetzt keinen einzigen konkreten
Vorschlag gehört.
({21})
Was Sie hier leisten, ist billige Politik.
({22})
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Fast die Hälfte
der Betriebe mit mehr als zehn Mitarbeitern bildet nicht
aus.
({23})
Ich will aber auch ausdrücklich sagen, dass die andere
Hälfte - genau: 51 Prozent - hervorragend ausbildet und
in den allermeisten Fällen ihren Ausbildungsverpflichtungen nachkommt. Diese Leistung will ich ausdrücklich anerkennen.
({24})
Wenn sich in einem dualen System zu viele Unternehmen ihrer Ausbildungsverantwortung entziehen,
({25})
dann wird damit dem Ausbildungssystem die Existenzgrundlage entzogen. Dieses Problem kann man nicht
einfach ignorieren. Wir brauchen vielmehr Vorschläge,
wie wir es lösen können.
({26})
Die Koalitionsfraktionen haben heute den Entwurf für
ein Berufsausbildungssicherungsgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich will hier nicht in die
Details gehen. Ich will aber eine Anmerkung zu der
Frage der Rechtmäßigkeit machen. Herr Merz, man
sollte sich nicht auf Gerüchte verlassen, sondern man
sollte sich mit Fakten und Tatsachen auseinander setzen.
Das ist vernünftig.
({27})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von
1980 eindeutig bestätigt, dass der Bund die Kompetenz
für diesen Bereich hat.
({28})
Das ist im Übrigen auch die Auffassung des Bundesjustizministeriums.
({29})
Ich will noch auf zwei entscheidende Punkte in dem
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen hinweisen.
({30})
Erstens. Die Wirtschaft hat es selber in der Hand.
Die im Gesetzentwurf der Koalition vorgesehene Ausbildungsplatzumlage wird nicht ausgelöst und darf auch
nicht ausgelöst werden - das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt -, wenn es Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl gibt.
({31})
Wie gesagt: Die Wirtschaft hat es selber in der Hand.
Wenn sie ihrer Verantwortung nachkommt - ich hoffe
und wünsche mir dies - und Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl schafft, dann wird die Ausbildungsplatzumlage nicht ausgelöst. So sieht es der Gesetzentwurf
vor. Das ist auch richtig; denn die Verantwortung für die
berufliche Ausbildung liegt aufseiten der Wirtschaft. Da
gehört sie hin und da muss sie auch bleiben.
({32})
Zweitens. In dem Gesetzentwurf wird ausdrücklich
festgestellt, dass die Förderung zusätzlicher Ausbildungsplätze - ich sage: absoluten - Vorrang hat. Denn
wir wollen eben keine Verstaatlichung der beruflichen
Ausbildung. Es darf auch keine Verlagerung in außerbetriebliche Ausbildung geben. Diese gab es in den letzten
15 Jahren leider viel zu oft. Es geht also nicht, wie Sie es
sagen, um einen störenden Eingriff, sondern um eine
Stärkung des dualen Systems. Das ist die Zielsetzung.
({33})
Ich will ganz kurz auf einen weiteren Gesichtspunkt
eingehen, der mir selber ein wichtiges Anliegen ist. Ich
bin nämlich der Auffassung, dass wir vor dem Hintergrund dieser Diskussion nicht die strukturellen Reformen in der Berufsausbildung aus den Augen verlieren
dürfen.
({34})
Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass die duale
Berufsausbildung ein Markenzeichen, ein Aushängeschild des deutschen Bildungssystems bleibt.
In diesem Zusammenhang möchte ich kursorisch einige Punkte nennen: Die Bundesregierung unterstützt
die Anstrengungen der Wirtschaft, ein ausreichendes
Ausbildungsplatzangebot zur Verfügung zu stellen, auch
weiterhin durch verbesserte Rahmenbedingungen und
finanzielle Hilfen.
({35})
Wir haben in den vergangenen Jahren durch unsere Maßnahmen eine ganze Menge erreicht.
({36})
Ich nenne die Unterstützung beim Aufbau von Ausbildungsverbünden, die inzwischen besonders in den neuen
Bundesländern, aber auch in den alten eine große Rolle
spielen.
({37})
Ich nenne das Programm STARegio, das aufseiten der
Wirtschaft auf großes Interesse stößt. Auch den Einsatz
von Ausbildungsplatzentwicklern, der von der Wirtschaft gewollt wird, unterstützen wir. Ich nenne die Modernisierung der Berufe. Inzwischen haben wir mehr als
die Hälfte der gängigen Berufe modernisiert. Ich nenne
auch besondere Unterstützungsmaßnahmen für diejenigen Jugendlichen, die die Schulen mit sehr schlechten
schulischen Ergebnissen verlassen.
({38})
Da haben auch Sie in den von Ihrer Partei regierten Ländern eine Menge zu tun, um bessere Ergebnisse zu erreichen.
Ich nenne ausdrücklich die Novelle des BBiG, mit der
wir
({39})
auf der einen Seite mehr Freiräume für die Betriebe
schaffen und auf der anderen Seite eine bessere Abstimmung und Passgenauigkeit zwischen den Anteilen der
Ausbildung in der Berufsschule und denen in den Betrieben erzielen wollen.
Kurz gesagt, unser Ziel ist es, die berufliche Ausbildung als ein Markenzeichen unseres Bildungssystems
und unserer Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Darüber
lohnt es sich zu streiten. Aber man muss dann auch Argumente und Vorschläge auf den Tisch legen.
Vielen Dank.
({40})
Kollege Friedrich Merz hat eine Kurzintervention angemeldet. - Bitte schön.
Frau Bulmahn, wir können uns hier im Deutschen
Bundestag lange und streitig über die Frage unterhalten,
wie wir ein Problem lösen. Dabei kann man - auch in
der Bundesregierung - höchst unterschiedlicher Auffassung sein. Aber Sie haben es mit Bezug auf meinen Redebeitrag für richtig gehalten, mir und den Kollegen in
der Fraktion der CDU/CSU abzusprechen, dass wir an
der Lösung dieses Problems interessiert seien.
({0})
- Herr Tauss, wenn ich Sie höre, fühle ich mich an das
erinnert, was Ihnen Herr Schäuble einmal gesagt hat:
Seitdem Sie im Deutschen Bundestag sind, hat das Wort
„Morgengrauen“ eine ganz andere Bedeutung bekommen.
({1})
Frau Bulmahn, ich weise hier den Vorwurf, den Sie
hier erhoben haben, nämlich dass uns das Schicksal der
jungen Leute ohne Ausbildungsplätze gleichgültig sei,
entschieden zurück. Hier sitzen Abgeordnete, die sich in
ihren Wahlkreisen teilweise in mühevollster Kleinarbeit
bei Unternehmern darum bemühen, jungen Leuten zu
Ausbildungsplätzen zu verhelfen, und sich bemühen, im
Kleinen zu reparieren, was die Bundesregierung in
Deutschland im Großen kaputtgemacht hat.
({2})
Das, was Sie, Frau Bulmahn, hier gesagt haben, geht
weit über das hinaus, was eine parlamentarische Auseinandersetzung erlaubt. Das, was Sie hier an unsere
Adresse gerichtet gesagt haben, ist eine schiere Unverschämtheit gewesen.
({3})
Ich weise das mit Empörung zurück und fordere Sie auf,
das, was Sie hier gesagt haben, zurückzunehmen.
({4})
Frau Ministerin, Sie haben Gelegenheit zu antworten.
({0})
Herr Merz, ich habe Sie persönlich angesprochen. Ich
will ausdrücklich sagen: Ich habe nicht Ihre Kollegen
angesprochen. Wenn ich „Herr Merz“ sage, sind Sie,
Herr Merz, gemeint. Dass Ihre Kollegen, um Sie zu unterstützen, applaudieren, ist etwas anderes. Aber ich will
ausdrücklich sagen: Ich kenne aus dem Fachausschuss
einige Kollegen Ihrer Fraktion, die sich persönlich sehr
einsetzen. Ich spreche das auch niemandem ab.
Herr Merz, Ihre Redezeit betrug 16 Minuten. Sie haben in diesen 16 Minuten keinen einzigen konkreten
Vorschlag vorgelegt. Das halte ich für billige politische
Argumentation.
({0})
Sie haben keinen Vorschlag dazu auf den Tisch gelegt,
wie Sie es erreichen wollen, den Tausenden von Jugendlichen, die zurzeit auf der Straße stehen, weil sie keinen
Ausbildungsplatz gefunden haben - manche suchen zum
zweiten oder sogar zum dritten Mal einen Ausbildungsplatz -, eine Perspektive zu eröffnen. Sie haben den Jugendlichen kein einziges Angebot gemacht. Das erwarte
ich aber von Ihnen.
({1})
Herr Merz, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie hier
zu allem Nein gesagt, aber keinen einzigen konkreten
Vorschlag unterbreitet haben.
({2})
Das ist keine politische Kultur. Zur politischen Kultur
gehört es, sich über konkrete Vorschläge auseinander zu
setzen. Es liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch und
über diese müssen wir uns auseinander setzen.
Ich erwarte darüber hinaus aber von jeder Politikerin
und jedem Politiker, dass sie Gegenvorschläge machen.
Herr Merz, ich kritisiere, dass Sie keinen einzigen konkreten Gegenvorschlag gemacht haben. Die jungen
Leute in diesem Land erwarten zu Recht Ihre Gegenvorschläge; sie wollen sich nämlich zwischen Ihren und unseren Vorschlägen entscheiden können. Das ist politische
Kultur.
({3})
Nun hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie hatten gerade die Chance, Ihre
unverschämten Anschuldigungen gegenüber dem Kollegen Merz zurückzunehmen.
({0})
Sie haben diese Chance vertan und verschärfen damit die
Debatte in einer unzulässigen Art und Weise. Sie tun damit weder der Debatte noch den jungen Menschen in
Deutschland einen Gefallen.
({1})
Die Wirtschaft schaut mit Angst auf diese Koalition
und ihre eigene wirtschaftliche Situation. Die Lage am
Ausbildungsmarkt ist mehr als angespannt und Sie überziehen das Land mit neuen Regulierungen und Steuern.
Andere Vorschläge haben Sie in der Tat nicht. Tobinsteuer, Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und jetzt eine
Ausbildungsplatzsteuer:
({2})
Damit demotivieren Sie die Unternehmen und die Menschen in diesem Land. Sie glauben immer noch, dass
man mit Zentralismus und Bürokratie den Herausforderungen der Zukunft begegnen könnte. Ihre Politik bewältigt nichts, sie bringt zum Ausdruck, dass Ihr ordnungspolitisches Verständnis gleich null ist.
({3})
Bundeskanzler Schröder hat in der letzten Woche in
seiner Regierungserklärung gesagt: „Wir sind noch
längst nicht am Ende unseres Weges.“ Wenn ich mir den
Gesetzentwurf ansehe, dämmert mir, wohin dieser Weg
geht: schnurstracks in die Staatswirtschaft.
({4})
Es ist eine Unverschämtheit, wenn Herr Müntefering
behauptet, er sei der Interessenvertreter der jungen Generation. Herr Müntefering, Sie sind der Totengräber des
dualen Ausbildungssystems in Deutschland und Sie betreiben Politik auf Kosten der jungen Menschen.
({5})
Anfang März hat eine DIHK-Unternehmensbefragung offen gelegt: Eine Ausbildungsplatzabgabe
würde die Situation zusätzlich verschärfen. Wir müssten
dann sogar eine Verdoppelung der Ausbildungsplatzlücke gegenüber 2003 befürchten.
Seit dem 11. November des vergangenen Jahres - das
ist der Tag, an dem die SPD-Bundestagsfraktion Eckpunkte zur Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe
beschlossen hat - nimmt der Wahnsinn seinen Lauf.
({6})
Die Ministerpräsidenten - auch Ihre eigenen - haben es
Ihnen gesagt, der Bundeswirtschaftsminister hat es Ihnen gesagt, der Bundesfinanzminister warnt, das Bundesjustizministerium hat verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet wie übrigens auch Ihr eigener Gutachter,
Professor Däubler. Alle Experten und Studien, vom IfoInstitut bis zum Bundesinstitut für Berufsbildung, kommen zu dem Schluss: Mit einer Zwangsabgabe ist keinem geholfen, aber allen geschadet.
({7})
Ihre engsten Mitstreiter, die Gewerkschafter, verlassen Sie. Ich zitiere den Vorsitzenden der GdP, Konrad
Freiberg, der in der „FAZ“ vom 30. März 2004 gesagt
hat:
Wenn wir die Abgabe gegen die Wirtschaft, die
CDU, die SPD-Ministerpräsidenten und wichtige
Teile der Bundesregierung durchsetzen: Was bleibt
denn dann an Glaubwürdigkeit übrig?
Er spricht von „Gewürge“. - Recht hat der Mann.
Doch der Wahnsinn geht weiter. Erst hat das BMBF
eine Formulierungshilfe vorgelegt mit einer Formel, wie
sie komplizierter nicht hätte sein können, und nun haben
Sie noch einmal nachgebessert.
({8})
Das heißt im Klartext: Sie haben die Sache noch verschlimmert.
Nun wird die Ausbildungsplatzabgabe im Ergebnis
ein jährliches Volumen von bis zu 3,45 Milliarden Euro
statt wie bisher geplant 2,45 Milliarden Euro erreichen.
Erst wurden die Teilzeitbeschäftigten rausgerechnet,
jetzt werden sie wieder reingerechnet. Erst wurden Branchenausnahmen restriktiv behandelt, jetzt sind sie weit
gefasst. Ihre geniale Formel haben Sie mittlerweile pauschaliert und im Ergebnis weiß niemand, was Sache ist.
Keiner kennt die Anzahl der Betriebe, die aufgrund von
Branchenausnahmen herausgerechnet werden.
Woher nehmen Sie eigentlich das Geld für die Vorund Zwischenfinanzierung der Verwaltungskosten? Bundesfinanzminister Eichel hat schon abgewinkt. Er hat
keine Mittel dafür.
({9})
Er hat Frau Bulmahn aufgefordert, die entsprechenden
Ausgaben aus dem Forschungshaushalt zu nehmen. Im
Ergebnis heißt das, dass Ideologieprojekte durch Forschungskürzungen finanziert werden. Das nenne ich Innovation à la SPD!
({10})
Kaum ist der Gesetzentwurf auf dem Markt, werden
Ausnahmeregelungen in alle Richtungen gefordert,
Herr Tauss: Ausnahmen für Pflegeeinrichtungen, für
Krankenhäuser, für öffentliche Einrichtungen der Jugendhilfe; Ausnahmen für Existenzgründer und vor allen
Dingen für die Bundesressorts. Hier hinzuschauen ist besonders interessant. Ausbildungsquote im Kanzleramt:
2 Prozent; Bundesfinanzministerium: 0,8 Prozent; Verbraucherschutzministerium: 0,4 Prozent. Selbst das Bundesbildungsministerium kommt nur auf 2,8 Prozent,
({11})
weit entfernt von den von Ihnen geforderten 7 Prozent.
Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, es
gibt tatsächlich auch Klarheiten: Klar ist zum Beispiel
das Bußgeld. Wer fehlerhafte Angaben macht, dem werden drakonische Strafen von bis zu 50 000 Euro auferlegt. Klar sind auch die Steuerausfälle für Bund, Länder
und Kommunen. Bundesfinanzminister Eichel rechnet
mit mindestens 600 Millionen Euro. Hinzu kommt die
Abgabenlast, die sich die Kommunen angesichts der leeren Stadtkassen kaum leisten können. Ein paar Zahlen:
Die Stadt Leipzig hätte 5,4 Millionen Euro zu zahlen, für
München wären es 3,5 Millionen Euro und für Berlin sogar 48 Millionen Euro. Wenn Sie das beschließen, treiben Sie die Kommunen noch weiter in den Ruin.
Klar ist, dass die Zwangsabgabe die Bürokratie verschärft. Ihre internen Berechnungen gehen von ungefähr
1 000 Mitarbeitern aus.
({12})
Ihre eigene Formulierungshilfe gibt an, dass pro Person
Kosten von 72 000 Euro im Jahr verursacht werden.
Nach Adam Riese belaufen sich die Kosten für den Verwaltungsaufwand also auf mehr als 70 Millionen Euro;
und das noch bevor irgendetwas passiert.
Klar ist auch, dass die Ausbildungsplatzabgabe eine
Sondersteuer Ost ist, denn die Ausbildungsplatzlücke
ist gerade in den neuen Bundesländern besonders groß.
({13})
Zudem ist in den neuen Bundesländern die Verbeamtungsquote geringer. Die Beamten haben Sie in Ihrem
Gesetzentwurf jedoch bewusst nicht mitgerechnet. So
haben die ostdeutschen Kommunen dann noch weniger
Spielraum für Investitionen zum Beispiel in Kindergärten oder Schulen. Das ist ein wirklicher Skandal.
({14})
Die Ausbildungsplatzabgabe ist zudem wirkungslos.
Ein Lehrstellenangebot lässt sich nun einmal nicht gesetzlich festlegen. Sie aber legen willkürliche Quoten
fest. Die Quote von 7 Prozent ist willkürlich gewählt.
Danach sollen 15 Prozent mehr Ausbildungsplätze angeboten werden. Auch das ist eine willkürliche Quote. Das
Ausbildungsplatzangebot richtet sich vor allen Dingen
nach der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen
und ihren Zukunftserwartungen. Und die sind in
Deutschland dank Rot-Grün so schlecht wie nie. Der
Kollege Merz hat auf die hohe Zahl der Unternehmensinsolvenzen hingewiesen. Sie ruinieren den Mittelstand und rufen nun nach einer Ausbildungsplatzabgabe.
({15})
Was ist mit denen, die trotz intensiver Suche keine
Lehrlinge finden? Was ist mit den Bäckern, den Fleischern, den Dachdeckern und den Landwirten? All die
werden von Ihnen abgestraft.
Klar ist, dass die Ausbildungplatzabgabe das Ende
des dualen Systems ist. Sie wollen sich gegen Verstaatlichung wenden, betreiben aber genau den Prozess, gegen
den Sie sich angeblich wehren: Sie produzieren Ersatzmaßnahmen und Warteschleifen.
({16})
Sehen Sie sich die Wirkungen des JUMP-Programms an:
In Sachsen-Anhalt haben 30 000 junge Leute am JUMPProgramm teilgenommen. 22 000 von ihnen sind, nachdem sie JUMP durchlaufen hatten, wieder auf der Straße
gelandet. Die Wirkung war gleich null.
Klar ist, dass Arbeit in Deutschland durch Ihre
Zwangsabgabe noch teurer wird. Meine Damen und
Herren, die teuerste Auszubildende sitzt derzeit im Bundesbildungsministerium.
({17})
Klar ist, dass die Abgabe nicht den Mangel an geeigneten Bewerbern beseitigt. Viele junge Leute sind schlicht
nicht ausbildungsfähig. 90 000 von ihnen haben keinen
Schulabschluss. Diese Bemerkung richte ich auch an die
Adresse Ihrer Bildungsminister. Hier müssen die Schulen und auch die Elternhäuser besser werden.
({18})
Klar ist, dass diese Abgabe zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen lohn- und kapitalintensiven Unternehmen
führen wird. Die Ausbildungplatzabgabe ist und bleibt
ein Ideologieprojekt, eine Morgengabe für die Ewiggestrigen. Bei Ihnen herrscht Endzeitstimmung.
({19})
Sie sind bis aufs Messer zerstritten. Ein Drittel der Grünen ist gegen die Ausbildungsplatzabgabe. 25 Abgeordnete aus Ihrer Fraktion haben dagegen gestimmt. Würden Sie nicht ständig Druck auf Ihre Kolleginnen und
Kollegen ausüben, hätten Sie in diesem Haus keine
Mehrheit mehr.
({20})
Weder der Bundeskanzler noch der Wirtschafts- oder
der Finanzminister besitzen politische Gestaltungskraft.
Sie machen miserable Politik, entziehen den Unternehmen ihre wirtschaftliche Basis und bestrafen sie anschließend dafür.
({21})
Heute die Ausbildungsplatzabgabe, morgen der Emissionshandel, übermorgen das Gentechnik- und Chemikalienrecht - das nimmt kein gutes Ende.
({22})
Sie haben von uns konkrete Vorschläge gefordert.
Jetzt werde ich sie Ihnen nennen.
({23})
Entriegeln Sie zunächst den Arbeitsmarkt! Lassen Sie
nicht nur betriebliche Bündnisse für Arbeit, sondern
auch betriebliche Bündnisse für Ausbildung zu!
({24})
Bauen Sie die Bürokratie ab und reformieren Sie die berufliche Bildung! Frau Bulmahn, seit fünf Jahren kündigen Sie ein Berufsbildungsgesetz an. Bislang liegt aber
nichts auf dem Tisch.
({25})
Wir brauchen moderne Berufsbilder. Wir brauchen differenzierte Angebote für junge Menschen, die ihre unterschiedlichen Begabungen berücksichtigen.
({26})
Wir brauchen ein modernes Prüfungswesen und mehr
Flexibilität für Betriebe in Bezug auf Ausbildungsvergütung und Ausbildungsinhalte.
Meine Damen und Herren von der Koalition, in dieser
Woche haben wir in unserer Bundestagsfraktion ein modernes Berufsbildungsrecht beschlossen,
({27})
mit dem die duale Ausbildung in Deutschland ihren
Glanz zurückgewinnen kann. Wenn Sie selbst keine
Kraft zu guter Politik mehr haben - wir haben sie.
({28})
Ich erteile dem Kollegen Jörg Tauss zu einer Kurzintervention das Wort.
({0})
Frau Kollegin Reiche, ich lasse den polemischen Gehalt Ihrer Rede weg und sage Ihnen zu Ihrer sachlichen
Information: Niemand in diesem Lande ist daran gehindert, ein betriebliches oder regionales Bündnis für Ausbildung zu organisieren, es mit Leben zu füllen und jungen Menschen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu
stellen.
Was ich allerdings in aller Deutlichkeit zurückweise,
ist Ihre Behauptung, dass beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung seine Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllt und unterhalb der Quote ausbildet. Liebe Frau Reiche, die Ausbildungsquote des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung liegt bei
8,6 Prozent.
({0})
Das ist es, was ich vorhin gesagt habe: dass bewusst mit
falschen Zahlen argumentiert wird.
({1})
Das Gesundheitsministerium beispielsweise weist
eine Ausbildungsquote von 7 Prozent auf. Aber hier ist
die unterschiedliche Struktur der Ministerien zu berücksichtigen. Ich habe klar gesagt: Auch der öffentliche
Dienst und die Ministerien haben ihre Verpflichtung zu
erfüllen. Das ist selbstverständlich.
({2})
Abschließend sage ich Ihnen, liebe Frau Reiche:
Auch die SPD-Bundestagsfraktion bildet aus und erfüllt
die Ausbildungsquote. Sie gibt jungen Menschen eine
Chance. Aber die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bleibt
unterhalb der Quote. Das zeigt symbolisch Ihr Interesse
an der jungen Generation.
({3})
Kollegin Reiche, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Herr Kollege Tauss, ich weise Sie darauf hin, dass das
Bundesbildungsministerium nicht nur die Auszubildenden des Ministeriums in seine Ausbildungsplatzquote
einrechnet, sondern auch die der Ressortforschungseinrichtungen. Dass sich dann solche Quoten ergeben, ist
kein Wunder. Wenn das zeigen soll, dass Sie Forschung
verstaatlichen, sind wir in der Tat auf einem guten Weg.
({0})
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon so häufig haben wir das Problem sinkender
Ausbildungsplatzzahlen in diesem Hause diskutiert, das
uns seit so vielen Jahren begleitet. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe Opposition, suchen wir zumindest nach Lösungen; Sie haben außer Polemik und platten Sprüchen
absolut nichts beizutragen.
({0})
Und unter „Wahnsinn“, liebe Kollegin Reiche, verstehe ich wirklich etwas anderes:
({1})
Tausende junger Menschen stehen jedes Jahr nach ihrem
Schulabschluss ohne Ausbildungsvertrag auf der Straße.
Der Staat versucht alljährlich mit großen Kraftanstrengungen und viel Geld, kompensatorische Maßnahmen
anzubieten. Aber der Staat kann die Rolle der Betriebe
nicht ersetzen. Wir haben in Deutschland ein auch über
Deutschlands Grenzen hinaus viel gelobtes duales Ausbildungssystem, das gerade von der Ausbildung im Betrieb lebt. Eine Ausbildung mit großen praktischen Anteilen sichert den Unternehmen den stetigen Nachwuchs
von Fachkräften, den sie für die wirtschaftliche Weiterentwicklung brauchen.
Leider ist im letzten Ausbildungsjahr das Angebot an
betrieblichen Ausbildungsplätzen im Vergleich zum Vorjahr wieder um mehr als 2 Prozent gesunken. Auf freiwilliger Basis - das müssen auch Sie eingestehen konnte wieder kein Durchbruch erzielt werden, obwohl
viele junge Menschen sich enorm um einen Ausbildungsplatz bemüht haben: Für eine Lehrstelle würden
die meisten sogar weit von zu Hause wegziehen, und das
mit 16 oder 17 Jahren!
Vergleichbares Bemühen hätten wir uns von der Wirtschaft gewünscht. Ihr einziges Angebot lag darin, die
Ausbildungsvergütung zu senken. Sagen Sie mir einmal,
liebe Kollegin Pieper, wie Sie von 180 Euro im Monat
- im Westen - bzw. 150 Euro im Monat - im Osten - auf
eigenen Füßen stehen wollen!
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Ja.
Kollegin Bettin, Sie wissen ja, dass außerbetriebliche
Ausbildungsvergütungen weit unter den betrieblichen
Ausbildungsvergütungen liegen. Halten nicht auch Sie
es für vernünftiger, die Ausbildungsvergütungen - welche ja einem Tarifsystem unterliegen - zu flexibilisieren
und dadurch Ausbildungsplätze zu schaffen?
({0})
Sollten wir nicht versuchen, die Lehrlinge in Bezug auf
die Ausbildungsvergütung besser zu stellen, anstatt sie
von staatlich subventionierten Ausbildungsplätzen abhängig zu machen?
Liebe Kollegin Pieper, ich halte die Debatte über die
Ausbildungsvergütung für eine absolute Ablenkungsdebatte.
({0})
Das Problem liegt in einem ganz anderen Bereich, nämlich darin, dass die duale Ausbildung Stück für Stück
ausgehöhlt wird, indem immer mehr außerbetrieblich
ausgebildet wird. Entsprechend nimmt der praktische
Anteil der Ausbildungen - der Teil, den wir alle uns im
Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes wünschen - immer weiter ab. Hier müssen wir gegensteuern;
über die Ausbildungsvergütung können wir das Problem
sicherlich nicht lösen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die
Wirtschaft nicht mit einer pauschalen Kritik überziehen.
Mit der Ausbildungsplatzumlage wollen wir Unternehmen fördern, die ihre Ausbildungsverpflichtung ernst
nehmen und um eigenen Fachkräftenachwuchs bemüht
sind. Es geht uns darum, die Kosten der Ausbildung
gerecht zu verteilen; das haben wir den Arbeitgebern seit
fast einem Jahr zu vermitteln versucht. Es gab viele Initiativen, die für einzelne Regionen erfolgreich waren;
Schleswig-Holstein ist für mich ganz besonders hervorzuheben. Flächendeckend hat es aber nicht gereicht; das
müssen auch Sie eingestehen.
Deshalb legen wir heute einen Gesetzentwurf vor, der
diese vielfältigen Bemühungen nach unseren Vorstellungen entsprechend berücksichtigt. An dieser Stelle ist mir
wichtig, zu betonen, dass für die gesetzliche Lösung ein
Auslösemechanismus vorgesehen wurde - das wurde
auch von Frau Bulmahn schon angesprochen -: Ob es zu
der Umlage kommt, liegt jedes Jahr aufs Neue in der
Hand der Unternehmen.
({2})
Wir freuen uns - das können Sie mir glauben -, wenn
der Mechanismus nicht ausgelöst wird.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auch
noch ein paar Worte zu der von uns schon häufig vorgeschlagenen Stiftung Betriebliche Bildungschance. Wir
Grüne wollen damit über die bisher vorgeschlagene Lösung hinausgehen, um die gesellschaftspolitische Dimension der beruflichen Bildung besonders hervorzuheben. Wir wollen die Mittel einer solchen Stiftung vor
allem dazu nutzen, die dringend notwendige Modernisierung der beruflichen Bildung voranzubringen; sie ist
unabhängig von der Umlage notwendig. Dazu wollen
wir Modellprojekte fördern, in denen die Modularisierung und unser gemeinsames Ziel der Internationalisierung auch der beruflichen Bildung beispielhaft umgesetzt werden. Förderfähig im Sinne der Stiftung wären
nach unseren Wünschen betriebliche, aber auch außerbetriebliche Modellprojekte.
Im Rahmen der heute hier vorgelegten gesetzlichen
Lösung zielen wir aber ausdrücklich auf die Förderung
betrieblicher Ausbildungsplätze in einzelnen Unternehmen oder Ausbildungsverbünden. Wir Grüne wollen mit
diesem Mechanismus der Umlage einen Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben
schaffen. Geld aus der Wirtschaft soll in die Wirtschaft
zurückfließen.
Es gibt im Detail durchaus noch Präzisierungsbedarf. Beispielhaft sei hier der Fall eines Unternehmens
genannt, welches mehr als zehn Beschäftigte hat, aber in
einem Berufsfeld tätig ist, in dem keine anerkannte Ausbildung vorzuweisen ist. Zudem müssen noch spezifische
Härtefallregelungen ausgearbeitet werden. Das betrifft
aus unserer Sicht zum Beispiel Träger der Jugendhilfe,
der Behindertenintegration oder Ähnliches.
Insgesamt wollen wir zu einem Gesetz kommen, das
einerseits den Interessen der jungen Menschen in unserem Land gerecht wird und andererseits ausgewogen und
zielgenau einen gerechten Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben schafft, ohne
allzu viel Papierkram für Wirtschaft und Verwaltung zu
verursachen.
({3})
Dies ist zugegebenermaßen keine einfache, aber dennoch eine lohnenswerte Aufgabe. Liebe Opposition, allein zu sagen, was man alles nicht möchte, hilft den jungen Menschen und unserem dualen System absolut nicht
weiter.
Wir haben einen Großteil unserer Hausaufgaben gemacht. Wir werden aber zugegebenermaßen noch weiter
arbeiten müssen. Sie können sich, unter anderem im Anhörungsverfahren, konstruktiv an einer Verbesserung der
Ausbildungssituation beteiligen. Ich bin gespannt auf
Ihre Vorschläge.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat Kollege Christoph Hartmann, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In einem Punkt hat die Regierung Recht: Wir
müssen die Situation verbessern. Das ist aber der einzige
Punkt, in dem die Regierung Recht hat.
Sie monieren unter anderem, dass es keine Anträge
und keine konkreten Vorschläge gibt. Die FDP hat in
dieser Legislaturperiode in diesem Zusammenhang
schon vier Anträge eingebracht. Sie haben alle abgelehnt. Heute liegt wieder ein konkreter Antrag vor. Auch
diesen werden Sie ablehnen. Vor diesem Hintergrund
können Sie doch nicht guten Gewissens sagen, dass wir
nicht an Lösungen interessiert seien!
({0})
Sie belasten mit dem Gesetz den Steuerberater, der
keinen geeigneten Bewerber findet, und den Metzger mit
15 Angestellten, der überhaupt keinen Bewerber findet.
Sie wollen Unternehmen, die von Insolvenz bedroht
sind, eventuell von der Ausbildungsabgabe befreien.
({1})
- Ja, weil Sie eine Ausnahmegenehmigung schaffen
wollen, die Sie der Verwaltung aufoktroyieren. Das
heißt, die Verwaltung darf darüber entscheiden,
({2})
ihr obliegt es, darüber zu entscheiden, ob eine Ausbildungsplatzabgabe erhoben wird oder nicht.
Sie wollen Unternehmen belasten, die zwar ausbilden, aber nicht im Rahmen einer dualen Ausbildung,
zum Beispiel Medienunternehmen, die Volontäre ausbilden, und Firmen, die in Berufsakademien ausbilden. Sie
belasten Zeitarbeitsfirmen, deren Arbeitnehmer bei anderen Unternehmen beschäftigt sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz ist ein Ausbildungsplatzkiller und nicht ein Ausbildungsplatzschaffer.
({3})
Sie betreiben Gleichmacherei. Sie unterscheiden
nicht nach Branchen: Es ist Ihnen vollkommen gleich,
ob es um die IT-Branche oder um die Landwirtschaft
geht. Sie wollen, dass die deutsche Steinkohle ausbildet,
obwohl die Politik von ihr verlangt, dass Arbeitsplätze
abgebaut werden. Sie unterscheiden nicht nach Unternehmensgrößen: Es ist vollkommen irrelevant, ob es um
15 Arbeitsplätze oder um 15 000 Arbeitsplätze geht. Das
ist Planwirtschaft! Das ist der falsche Weg.
({4})
Es gibt einen Bereich, die Bauindustrie, in dem es
eine freiwillige Umlage gibt. Diese Umlage wird immer
wieder sehr gerne von Ihnen als Beispiel herangezogen.
Seit 1995 hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze in der
Bauindustrie - trotz der freiwilligen Umlage - von
55 000 auf 24 000 verringert.
({5})
An diesem Punkt kommen Sie immer mit Ihrer Argumentation, die Bauindustrie bilde über dem Durchschnitt
aus. Aber das ist doch nur deshalb der Fall, weil die Bauindustrie Teil des Handwerks ist und das Handwerk insgesamt überdurchschnittlich ausbildet. Die einzigen
Ausbildungsplätze, die Sie mit diesem Gesetz schaffen,
sind Ausbildungsplätze im Bundesverwaltungsamt, dem
Amt, das für die Verwaltung der Ausbildungsplatzabgabe nötig ist.
({6})
- Frau Kollegin Kressl, ich selbst bin Mitinhaber eines
kleinen Unternehmens. Ich weiß, wie ein solches Gesetz
auf diejenigen wirkt, die in einer ähnlichen Situation
sind wie ich. Es wird nicht dazu führen, dass auch nur
ein Ausbildungsplatz mehr geschaffen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz löst keine Probleme, dieses Gesetz schafft Probleme.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Berufsausbildungssicherungsgesetz - oder kurz, wie es
auf der Drucksache steht, das „BerASichG“ - ist allgemein unter „Ausbildungsumlage“ bekannt. Ihr Sinn ist
übersichtlich: Wer nicht ausbildet, obwohl er es könnte,
soll sich wenigstens finanziell an der Ausbildung beteiligen. Wer ausbildet, obwohl es ihm schwer fällt, soll finanziell entlastet werden. Eine solche Umlage ist nur
recht und billig. Die PDS im Bundestag fordert sie seit
langem. Rot-Grün steht im Wort.
Das zu lösende Problem wird deutlich, sobald man
die Fakten sprechen lässt. Seit Jahren ist die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze rückläufig. Nach Angaben des DGB bildet heute nur noch jeder vierte der
2,1 Millionen Betriebe in Deutschland aus. Zugleich
wächst die Zahl derjenigen, die vergebens eine Lehrstelle suchen. Nach Angaben der Bundesregierung waren es im Herbst 2003 circa 35 000 Jugendliche. Die
Zahlen des DGB sind wahrscheinlicher. Wenn man nämlich all diejenigen dazuzählt, die in Warteschleifen geparkt sind, kommt man auf über 200 000 Betroffene.
SPD und Grüne betonen das große Potenzial der Wirtschaft, das brachliegt, wenn nicht ausgebildet wird. Ich
betone das schlimme Signal für die Jugendlichen, die
sich wert- und nutzlos fühlen. Das kann in der Zukunft
nicht gutgehen.
Besonders dramatisch ist die Lage in den neuen
Bundesländern. Immer mehr Jugendliche bleiben ohne
Chance auf eine betriebliche Ausbildung. Sie werden in
Ersatzmaßnahmen geparkt oder werden außer Landes
gedrängt. Das hat Folgen für die Regionen. Ihnen kommt
nämlich die Jugend abhanden und damit auch die Zukunft. Der „Spiegel“ schrieb dazu sarkastisch: „Zurück
bleiben Alte, Kranke und Dumme“. Das ist ein zusätzliches Problem im Problembereich Ausbildungsplätze und
darf den neuen Bundesländern nicht alleine überlassen
werden.
Nun weht ein Sturm der Entrüstung durch das Land,
seitdem Rot-Grün mit der Ausbildungsabgabe ernst
macht. Ein Argument wird auf das nächste getürmt, um
das Berufsausbildungssicherungsgesetz, wie es amtlich
heißt, zu verhindern. Unternehmerverbände malen Horrorszenarien und drohen mit noch weniger Ausbildung.
Die FDP warnt vor einer Bußsteuer. Die CDU/CSU sieht
den Standort Deutschland bedroht. Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch nie aufgestoßen, dass andersherum ein Schuh daraus wird?
({0})
Hunderttausende Unternehmen bilden nicht aus, obwohl
sie es könnten. Diese gefährden den Standort Deutschland. Sie bürden den anderen Lasten auf, anstatt sie zu
teilen, und sie lassen immer mehr junge Menschen hängen. Dagegen muss etwas getan werden. Wir sind hier,
um politisch zu intervenieren.
({1})
Das viel gelobte duale Ausbildungssystem hinkt seit
langem. Immer weniger Jugendliche werden betrieblich
und immer mehr ersatzweise außerbetrieblich ausgebildet. Das ist weder im Sinne des Erfinders noch im Interesse der Jugendlichen. Hinzu kommt: Die Unternehmen, die nicht ausbilden, sparen Kosten. Stattdessen
müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die
Ersatzmaßnahmen aufkommen. Es ist dasselbe Trauerspiel, das wir auch auf anderen Gebieten erleben: Viele
Unternehmen entziehen sich ihrer Sozialpflicht. Die Opposition zur Rechten findet das gut, die Opposition zur
Linken findet das nicht gut.
Eine Ausbildungsumlage ist nicht nur ein Gebot der
Vernunft und der Moral - beides ist der Marktwirtschaft,
wie wir wissen, nicht naturgegeben -, sie ist auch rechtlich geboten, und zwar spätestens seit dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1980. In
diesem Urteil hat das Gericht allen Jugendlichen das
Recht auf eine praxisbezogene Ausbildung eingeräumt
und die Arbeitgeber verpflichtet, für die Verwirklichung
dieses Anspruchs zu sorgen. Daneben hat es dem Staat,
der Politik, bedeutet - ich zitiere aus dem Urteil -:
Das gilt auch, wenn das freie Spiel der Kräfte zur
Erfüllung dieser Aufgabe nicht mehr ausreichen
sollte.
Kurzum: Das Recht steht aufseiten von Rot-Grün, wenn
die Koalition die Umlage nun endlich einführt.
In der ganzen Debatte wird der Ball nun zurückgespielt, zum Beispiel mit dem Argument, viele Unternehmen seien zwar ausbildungswillig, aber immer mehr Jugendliche seien gar nicht ausbildungsfähig. Dem will ich
im Einzelfall gar nicht widersprechen. Die Klagen über
das Ausgangsniveau an deutschen Schulen sind nicht
neu und nicht erst seit der PISA-Studie im internationalen Vergleich belegt. Allerdings ist das eher ein gutes
Argument für eine gründliche Bildungsreform und ein
schlechtes Argument gegen eine Ausbildungsumlage.
Das heißt, die PDS im Bundestag ist grundsätzlich für
eine solche Umlage. Über die Details muss man im weiteren Verfahren miteinander reden.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Merz von der CDU ist hier ganz gewaltig und polemisch eingestiegen. Andere haben es ihm nachgemacht.
Ich möchte nur ganz nüchtern sagen: Mit Schaum vor
dem Mund lässt sich schlecht denken.
({0})
Mit Schaum vor dem Mund wird man zum Dogmatiker.
Vielleicht können wir uns auf eine solche Unterscheidung einigen: Wir sollten gemeinsam dogmatisch sein in
dem Ziel, dass alle jungen Menschen eine Ausbildungsund Qualifizierungschance erhalten.
({1})
Ihr Dogmatismus aber ist ein anderer: Sie wollen
über alles Mögliche diskutieren, aber eine Erweiterung
des Instrumentariums, mit dem wir uns in Deutschland
diesem Problem und dessen Bewältigung nähern können, unter keinen Umständen auch nur bedenken. Mit einem solchen Dogmatismus schließen Sie lediglich das
Instrument aus, konzentrieren sich aber nicht auf das,
worauf es eigentlich ankommt, nämlich darauf, in der
Gesellschaft, bei den Unternehmen und bei uns Politikern dafür zu werben, dass auch die letzten Chancen erörtert werden, die wir eröffnen können, damit junge
Menschen einen Ausbildungsplatz erhalten.
({2})
Deshalb muss selbst in Ihre Kreise hinein und bei der
Wirtschaft dafür geworben werden, sich ganz nüchtern
zu fragen, ob das Instrument der Ausbildungsplatzumlage, das in den Kasten der zur Verfügung stehenden Instrumente aufgenommen werden soll, nicht durchaus
modern ist.
Das Gesetz ist modern, weil es subsidiär ist. Von ihm
wird nur dann Gebrauch gemacht, wenn die in der Gesellschaft freiwillig entwickelten Lösungen nicht zur Erreichung der entsprechenden Ziele führen. Das ist klassisch, modern und subsidiär.
({3})
In Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern kann sich über dieses Instrument - hoffentlich mit
Ihrer Unterstützung - die Frage, weshalb nicht ausgebildet wird, zum Positiven wenden: Ja, weshalb bilden wir
denn eigentlich nicht aus? Welche Chancen liegen denn
in der Verbundausbildung, in Kooperationen mit Schulen, in neuen Ausbildungsordnungen, in ausbildungsbegleitenden Hilfen, die von der Regierung und der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt werden? So muss gedacht werden, wenn man die Zielvorgabe
Subsidiarität - was Sie von uns erwarten und was unser
Anspruch an ein modernes Gesetzesinstrumentarium
ist - ernst nimmt.
({4})
Das Gesetz ist modern, weil es dynamisch ist. Der
Entwurf bezieht offene, sich wandelnde Größen ein - sicher erschwert das die Sache -: Wie viele suchen einen
Ausbildungsplatz? Wie viele Ausbildungsplätze gibt es?
Wie ist das Verhältnis zu den Arbeitsplätzen? - Genau so
wünscht man sich die Gesetze ja eigentlich. Gesetze sollen nicht ein bestimmtes Maß dogmatisch setzen, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden, auch
beim Thema Beruf und Bildung.
({5})
Dieses Gesetz ist modern, weil es den Blick in die
Zukunft richtet. Relevant sind die Bedarfe der Zukunft,
zum Beispiel der Bedarf an Facharbeitern. Damit wird
reflektiert, dass es einen Alters- und Gruppenwandel
gibt. Deshalb ist die Geltungsdauer dieses Gesetzes zeitlich auch begrenzt. Sie fordern doch immer: Macht Gesetze, die nicht für die Ewigkeit gedacht sind, sondern
ein offenes Instrument darstellen und zeitlich befristet
sind!
Dieses Gesetz ist modern, weil es entstaatlicht. In
diesem Zusammenhang möchte ich mich gerne mit der
FDP auseinander setzen, da sie immer wieder die Verstaatlichung von Berufsausbildung beklagt. Wir stimmen sicherlich darin überein, dass eine vollzeitschulische Ausbildung Verstaatlichung bedeutet.
({6})
An dieser Stelle beobachten wir, dass es zu immer mehr
vollzeitschulischen Ausbildungen kommt, manchmal
aus guten Gründen, manchmal auch deshalb, weil im
dualen System nicht genug ausgebildet wird. Aus diesem Grund gehen zwischen 60 000 und 70 000 junge
Menschen in die Berufsfachschulen und andere vollstaatliche Ausbildungen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir gegensteuern. Es wird versucht,
innerhalb des dualen Systems zusätzliche Ausbildungsplätze rechtzeitig zu mobilisieren, damit die jungen Menschen nicht die Flucht in die Berufsfachschulen antreten.
({7})
Ein anderer Punkt. Zu der Zeit, als Herr Schäuble
noch Oppositionsführer war, schleuderte er uns, als wir
vom Instrument JUMP begeistert waren - in Teilen auch
noch sind -, entgegen, das sei ein Betrug an den Jugendlichen, weil es keine wirkliche Ausbildung im dualen
System sei. In diesem Punkt will ich ihm gerne Recht
geben. Vielleicht ist das Instrument der Ausbildungsplatzabgabe eine Teilantwort auf Erfahrungen, die wir
mit JUMP machen mussten. Es ist etwas anderes als
JUMP: Es nimmt die Wirtschaft, die Unternehmen in die
Pflicht. Es wirbt dafür, nicht an erster Stelle auf Ersatzmaßnahmen zu setzen, sondern den Lernort Betrieb besser zu organisieren, als das mit JUMP im Einzelfall
möglich war.
Ein weiterer Punkt - die differenzierte Betrachtung
werden wir sicherlich in der Ausschussanhörung vornehmen wollen -, mit dem ich mich auseinander setzen will,
ist der FDP-Vorschlag, die Ausbildungsvergütung in
den Betrieben an die Ausbildungsvergütung in den außerbetrieblichen Lernorten anzupassen. Nimmt dies das
auf, was duale Ausbildung kennzeichnet, nämlich Lernen und Arbeit zunehmend miteinander zu verbinden? In
der dualen Ausbildung wird akzeptiert, dass der Lernort
ein Betrieb ist, dass man vom ersten bis zum dritten
Lehrjahr zunehmend etwas leistet. Junge Menschen sollen lernen, dass sie dann, wenn sie sich anstrengen und
etwas leisten, dafür etwas bekommen, nämlich Anerkennung und eine tarifmäßige Bezahlung.
({8})
All das wollen Sie nivellieren. Sie wollen die von Ihnen
nicht gewollte außerbetriebliche Ausbildung zum Maßstab nehmen, nach dem Sie junge Menschen bezahlen
wollen.
An dieser Stelle komme ich auf meinen Ausgangspunkt zurück. Vielleicht gibt es einen Unterschied zwischen Dogmatismus und Engagement. Ich versuche, das
durch den Wunsch vorzuleben, dass wir all das, was Sie
aus den Fraktionen zu diesem Gesetzentwurf im Einzelnen an Fragen haben, im Ausschuss sachlich erörtern
können, dass Sie Vorschläge machen und wir diese Vorschläge aufnehmen, sodass es am Ende einen Gesetzentwurf gibt, der eine große Gemeinschaftsleistung von
Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt darstellt. Wenn es
nicht zur Anwendung dieses Gesetzes kommt, dann deshalb, weil es in dieser Gesellschaft ein klares Bekenntnis
dazu gibt, dogmatisch für junge Leute und ihre Ausbildungschancen zu streiten und bei der Wahl der Instrumente offen zu sein. Im Übrigen soll möglichst freiwillig
und rechtzeitig all das mobilisiert werden, was in unserer
Wirtschaft an Kraft für Ausbildung steckt.
Danke schön.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ausführungen der Redner von Rot-Grün in dieser Debatte sind deprimierend. Ich sage das so, wie ich es empfinde.
({0})
Ich glaube, ich bin von allen Rednern die Einzige, die
ausbildet. Mein Betrieb hat eine Ausbildungsquote von
11 Prozent.
({1})
Ich erwarte nicht, dass jeder ein Unternehmen hat und
die Praxis vor Ort miterlebt. Aber ich erwarte von Kollegen, die sich hier vorne hinstellen und große Reden
schwingen, dass sie in die Betriebe gehen, mit Jugendlichen und Betriebsinhabern sprechen und sich vor Ort erkundigen, wie die wirtschaftliche Lage momentan ist,
sodass sie wissen, wovon sie hier reden.
({2})
Das heutige Datum ist wirklich bezeichnend für diese
Debatte. Ihr Gesetzentwurf, den Sie auf den Tisch gelegt
haben, ist ein sehr missglückter Aprilscherz.
({3})
Sie müssen doch zugeben: Es gibt viele in Ihren Reihen,
die derselben Auffassung sind. Jeder, der einen klaren
Menschenverstand hat, sieht doch, dass das Unvernunft
hoch drei ist.
({4})
Wir wissen es, viele von Ihnen wissen es auch und die
meisten Menschen draußen vor Ort wissen es ebenfalls.
Ihr Gesetzentwurf ist nur ein Tribut an die SPD-Linken
und sonst nichts.
({5})
Sie treiben einen bitterernsten Schabernack mit den
jungen Menschen in unserem Land. Sie erwecken Hoffnungen, dass mit diesem Gesetz mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Sie wissen aber so gut wie
wir, dass dem nicht so sein wird. Im Gegenteil: Es wird
nicht besser, sondern es wird schlechter werden. Es werden weniger Ausbildungsplätze als vorher bereitgestellt
werden.
({6})
Warum sind denn inzwischen 16 Prozent aller Unternehmen in Wartehaltung und haben ihre Lehrstellenangebote auf Eis gelegt? Warum warten sie ab? Daran sieht
man, dass Ihr Gesetzentwurf eine ganz verheerende psychologische Wirkung hat.
Sie haben das in Ihren Reihen teilweise selbst erkannt. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass Ihr Wirtschaftsminister nicht da ist.
({7})
Er steht nicht dahinter; das wissen wir. Wir wissen auch,
dass Herr Eichel nicht dahinter steht. Daran sieht man,
dass er auch vernünftig sein kann;
({8})
denn nicht umsonst hat er seine Beamten aufschreiben
lassen, die Beschäftigungs- und Wachstumswirkung einer Ausbildungsplatzabgabe sei „fragwürdig“. Das ist
ein Zitat. „Fragwürdig“ hat er gesagt. Er rechnet mit Belastungen der Wirtschaft in Höhe von 1,2 Milliarden
Euro.
({9})
Sie bauen eine Mammutbehörde mit bis zu 1 000 Beamten auf. Die Vorhaltekosten betragen bis zu 70 Millionen
Euro per annum, unabhängig davon, ob Sie diese Ausbildungsplatzabgabe überhaupt erheben oder nicht.
({10})
Sie sammeln für die immense Bürokratie 2,4 Milliarden
Euro ein. Dann geben Sie an einige wenige wieder
1,4 Milliarden Euro.
({11})
Es verschwinden in dem bürokratischen Apparat
1,2 Milliarden Euro. Sie sind einfach perdu.
Das alles geschieht in einer Situation, die durch
80 000 Firmeninsolvenzen in den letzten zwei Jahren geprägt ist, was bedeutet, dass junge Menschen 80 000-mal
weniger die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu
bekommen, in einer Situation, in der in 20 Monaten
70 000 Jobs weggefallen sind, in der die Osterweiterung
mit einem immensen Wettbewerbsdruck und Kostendruck vor der Tür steht, und in der wir weniger Bürokratie und nicht mehr Bürokratie brauchen. Sie aber bauen
ein Riesenbürokratiemonster par excellence auf.
({12})
Ihr Minister Eichel sagt nicht umsonst, dass das
Ganze aus Haushaltssicht nicht akzeptabel sei. Er hat das
ganz genau berechnen lassen: Er erwartet Steuerausfälle
von 600 Millionen Euro.
({13})
Denn die Abgabe kann man gewinnmindernd abschreiben. Das sind Fakten, die man nicht negieren kann.
Lieber Kollege Tauss, ich frage mich, warum Sie die
Beamten ausgenommen haben. Sie sprechen nur von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Sie sprechen
nicht von den Beamten. Sie werden Ihre guten Gründe
haben und nach dem Motto verfahren: Wir Bundesbehörden nicht, macht ihr Länder und Kommunen das mal
schön, ihr habt die Angestellten. - Sie kennen doch die
Situation der Kommunen und der Länder: Denen steht
das Wasser bis zum Hals. Sie bürden ihnen noch mehr
Kosten auf. Allein die Stadt Berlin hat Zusatzkosten von
48 Millionen Euro. Wie soll denn das überhaupt noch finanziert werden?
Man fragt sich in diesem Zusammenhang, warum Sie
eigentlich nicht auf die Bund-Länder-Kommission hören. Ihre Beauftragten aus dem Bildungsbereich waren
sich einig, dass sie nicht erwarten, dass auch nur ein zusätzlicher Ausbildungsplatz mit der Ausbildungsplatzabgabe geschaffen wird.
Wir haben Sie letzte Woche gefragt, welche Kosten
auf Bund, Länder und Gemeinden zukommen und wie
viel zusätzliche Lehrstellen Sie im staatlichen Bereich
erwarten. Wir haben gefragt, wie hoch die maximale Belastung der Betriebe sein könne. Das sind doch elementare und wichtige Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor ein Gesetzentwurf erarbeitet wird. Wie aber
hat Ihr Staatssekretär Matschie diese Fragen beantwortet? Die Antwort lautete schlicht und ergreifend - wie
ich meine, auch erschreckend -: Hierzu ist eine konkrete
Abschätzung nicht möglich.
({14})
Daran sieht man, wie Sie Gesetze machen, nämlich
chaotisch, unüberlegt und ohne zu wissen, welche Auswirkungen auf viele Bereiche damit verbunden sind.
({15})
Das gesamte Vorhaben ist unkoordiniert. Der Gesetzentwurf beinhaltet verfassungsrechtliche Problemstellungen
en masse. Das wissen auch Sie.
Sie haben inzwischen die Anerkennung der Tarifverträge aufgenommen; stattdessen soll die Quote nicht anerkannt werden.
({16})
In diesem Zusammenhang frage ich mich, inwiefern ein
Ausgleich vorgesehen ist. Denn diejenigen, die zwar
eine tarifvertragliche Vereinbarung getroffen haben, deren Ausbildungsquote aber unter 7 Prozent liegt, müssen
keine Ausbildungsplatzabgabe zahlen, während ein anderer Betrieb, der nicht tarifvertraglich organisiert ist,
aber mehr Lehrstellen anbietet, die Abgabe zahlen muss.
Diese Regelung werden Sie aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht aufrechterhalten können.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können uns sicherlich nicht absprechen, dass wir uns - ebenso wie
Sie; das gestehe ich Ihnen zu - große Sorgen um die
jungen Menschen machen.
({18})
- Das ist nicht zum Lachen. - Wenn heute 16-Jährige auf
der Straße stehen und keinen Ausbildungsplatz bekommen, obwohl sie gerne einen hätten, dann ist das für sie
frustrierend und oft auch demoralisierend. Wenn das
Einzige, was sie in dieser Situation von unserer Gesellschaft noch zu erwarten haben, eine Ersatzmaßnahme
ist, dann wissen sie oft nicht mehr weiter.
Wir sind durchaus einer Meinung, dass man dagegen
etwas tun muss.
({19})
Aber man muss bei den Ursachen anfangen und die
Frage stellen, warum weniger ausgebildet wird. Es ist
doch die Grundlage für jede Lösung, erst einmal herauszufinden, warum weniger ausgebildet wird.
In der Regel sind es die großen Betriebe - diejenigen
mit betrieblicher Mitbestimmung -, die weniger ausbilden. Das muss ebenfalls berücksichtigt werden.
({20})
Wo bleibt denn in diesem Bereich die Verantwortung der
Gewerkschaften in den Großbetrieben, in denen sie vertreten sind, oder auch in den Gewerkschaften selbst? Bei
Verdi beträgt die Ausbildungsquote 0,28 Prozent, aber
nach außen wird - nach dem Motto „Immer bei den anderen, aber nie bei uns“ - laut eine Ausbildungsplatzabgabe gefordert. Das entspricht auch Ihrer Methode, Politik zu machen. Das aber ist der falsche Weg, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün.
({21})
Unsere Mittelständler wollen ausbilden - das wissen
wir -, aber sie können es oft nicht. Warum ist das so?
Zum einen finden sie keine geeigneten Bewerber. Obwohl diese Unternehmen Lehrstellen besetzen wollen,
aber keine geeigneten Lehrlinge finden, wollen Sie bei
ihnen zukünftig ebenfalls abkassieren. Zum anderen
können viele Betriebe nicht ausbilden, weil es ihnen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht gut
geht.
({22})
- Moment. - Wer jetzt einen Lehrling einstellt, unterliegt
der Verpflichtung, ihn in zwei bis drei Jahren zu übernehmen. Der Unternehmer weiß aber nicht, ob er ihn
dann wirklich übernehmen kann und ob die Auftragslage
das zulässt.
({23})
Diese Fragen muss man angehen.
Ein großes Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist
die Ausbildungsfähigkeit unserer jungen Menschen.
Pro anno verlassen 90 000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Das kann man nicht einfach negieren. Das können Sie auch nicht dadurch ändern, dass Sie den Betrieben eine Strafsteuer auferlegen.
({24})
Sie müssen vielmehr die Wurzel des Problems angehen.
Dabei sind wir als Politiker gefordert. Wir müssen das
duale Ausbildungssystem reformieren und Betriebe für
solche Jugendliche finden, die nicht hochqualifiziert
sind. Wir müssen einfachere Ausbildungswege finden.
Wir haben, wie Sie wissen, einen Gesetzentwurf zur
Modernisierung des Berufsbildungsrechtes vorgelegt, in
dem wir detailliert Maßnahme für Maßnahme, die wir
vorschlagen, aufgeführt haben. Wir haben in unserem
Antrag zur Beschäftigungspolitik auch Vorschläge zur
Verbesserung der Situation Jugendlicher formuliert, Vorschläge, die im Anschluss an diese Debatte diskutiert
werden müssen. Unsere Vorschläge liegen auf dem
Tisch, auch wenn Sie noch so oft sagen, dass das nicht
stimmt.
Lassen Sie uns die Diskussion über die Punkte beginnen, die den Jugendlichen wirklich helfen, statt über Gesetzentwürfe zu diskutieren, die nur als Placebo für die
linken Flügel Ihrer Partei dienen. Geben Sie den jungen
Menschen eine Chance! Sie brauchen sie wirklich. Vergessen Sie nicht: Die jungen Menschen sind unsere
Zukunft und auch die Zukunft vieler Betriebe. Die Mittelständler wissen das. Aber Sie geben den jungen Menschen keine Chance. Sie nehmen ihnen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vielmehr jede Chance. Deswegen
fordere ich Sie auf: Nehmen Sie den Gesetzentwurf zurück; denn die Leidtragenden würden die jungen Menschen sein, wenn dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit
werden sollte.
({25})
Ich erteile das Wort Kollegen Swen Schulz, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Eine Vorbemerkung
zu Herrn Merz: Er hat bei seinem polemischen Einstieg
großspurig gesagt, die Bundesregierung sei nicht angemessen vertreten. Das ist falsch; denn die Bundesregierung ist in der Spitze durch die hier anwesende Bildungsministerin Bulmahn vertreten. Aber wo ist jetzt
Herr Merz?
({0})
Herr Merz hat großartige Sprechblasen produziert und
hat sich dann verdrückt. So kann es nicht gehen.
({1})
Liebe Kollegin Wöhrl, ich möchte nicht im Einzelnen
auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Es ist am besten, wenn ich Ihnen unseren Gesetzentwurf zur Verfügung stelle, damit Sie sich über den aktuellen Stand informieren können.
({2})
Dann werden Sie vielleicht beim nächsten Mal keine falschen Dinge erzählen.
Ich möchte mit meiner Rede die Debatte wieder auf
eine sachliche Basis zurückführen.
({3})
Warum gibt es jetzt eine solche Gesetzesinitiative?
({4})
Die Antwort ist: weil die Situation auf dem Ausbildungsmarkt 2003 fast wieder so unbefriedigend war
wie 1997. Die Ausbildungsstellenlücke betrug noch unter der Regierung Kohl 21 557. Einige Zeit konnten wir
dann sogar ein Plus verzeichnen. Aber zuletzt belief sich
die Lücke auf 20 175. Auch bei der Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen drohen wir an die Zeiten der
Kohl-Ära anzuknüpfen.
Der Bund, die Länder und die Kommunen haben in
den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, Klinken geputzt, Bündnisse geschlossen, Ausbildungskonsense vereinbart und sehr viele Steuermittel
zur Verfügung gestellt. Damit haben wir vielen Jugendlichen zwar geholfen, aber das Grundproblem nicht aus
der Welt geschafft, nämlich die immer weiter sinkende
Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen. Obwohl
Swen Schulz ({5})
der staatliche Anteil, wie Ministerin Bulmahn das hier
dargelegt hat, schleichend immer weiter steigt, bleiben
immer mehr junge Menschen ohne Ausbildung, ohne
Perspektive. Das können und werden wir nicht hinnehmen.
({6})
Nun wirft uns die Opposition vor, wir verstaatlichten
die Ausbildung und wollten Betriebe bestrafen. Aber das
genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sorgen lediglich dafür,
dass die Betriebe, die ausbilden, Unterstützung erhalten,
und zwar von denjenigen, die nicht ausbilden.
({7})
Das ist ein sehr einfaches und gerechtes Prinzip, das jeder hier im Hause verstehen können sollte.
Übrigens, noch eine Bemerkung zum Thema Staat:
Die FDP hat vor knapp einem Jahr im Deutschen Bundestag allen Ernstes Subventionen für Ausbildungsplätze
vorgeschlagen.
({8})
Das ist sicherlich kein Beitrag zur Entstaatlichung der
Ausbildung.
({9})
Tatsächlich ist die Regierungskoalition die politische
Kraft, die den öffentlichen Anteil zurückfährt und der
Wirtschaft wieder Verantwortung gibt. Wir handeln, um
das duale System vom Kopf auf die Füße zu stellen und
es damit zu retten.
({10})
Mein „Lieblingsargument“ gegen die Umlage, das
unter anderem auch von Herrn Merz angeführt wurde,
ist, die Unternehmen würden sich dann freikaufen. Angesichts dessen muss ich die Frage stellen, für wie blöd
Sie eigentlich die Unternehmer halten.
({11})
Heute hat kein Unternehmen irgendwelche Sanktionen
zu erwarten, wenn es nicht ausbildet. Die Kosten für
Ausbildungsverweigerung sind also null. Andere Unternehmen bilden aus und tragen die entsprechenden Kosten. Durch die Umlage gibt es Geld für Ausbildung und
Nichtausbildung kostet Geld. Aber plötzlich wollen sich
alle freikaufen? Das ist blanker Unsinn.
({12})
Im Übrigen eine Anmerkung zu Ihrem Vorschlag,
meine Damen und Herren von der Opposition, die Ausbildungsvergütungen zu kürzen: Man könnte ja sagen,
dies wäre eine Art solidarische Handlung unter den Jugendlichen. Aber auf die Idee, dass sich auch einmal die
Unternehmer solidarisch verhalten könnten, kommen
Sie natürlich nicht.
({13})
Es ist wahr: Im Falle der Auslösung der Umlage müssen auch diejenigen Unternehmen zahlen, die nicht ausbilden können oder keine Auszubildenden finden. Ich
verstehe, dass das im Einzelfall ungerecht erscheinen
kann. Doch es ist im Interesse aller Unternehmen, dass
die Jugendlichen ausgebildet werden und später als
Fachkräfte zur Verfügung stehen. Es ist darum nur sachgerecht, wenn sich alle Unternehmen an der Finanzierung der Ausbildung beteiligen.
({14})
In diesem Zusammenhang will ich auf den Report des
Instituts der deutschen Wirtschaft vom 25. März 2004
- er ist also ganz aktuell - verweisen. Da ist unter der
Überschrift „Lücken in der Nachwuchsmannschaft“ klar
formuliert, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb einem Fachkräftemangel entgegensieht. Die
Wirtschaft ist dabei, den Ast, auf dem letztendlich wir
alle sitzen, abzusägen. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit
der Regierungskoalition, hier einzugreifen.
({15})
Wir müssen mit Sicherheit noch über Einzelaspekte
reden. Dafür gibt es das parlamentarische Verfahren mit
Anhörungen und Ausschussberatungen. Es gibt auch in
unseren Reihen einige Fragen. Auch ich habe Besprechungspunkte.
({16})
Schließlich handelt es sich hierbei nicht um ein Routinegesetz; dafür ist es viel zu wichtig.
Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist jedoch,
dass Sie, anstatt sinnvolle Vorschläge zu machen, Einzelaspekte herausgreifen, um das ganze Anliegen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, zu diskreditieren. Wir sprechen die Probleme an, um sie zu lösen. Wir
wollen für die Menschen etwas bewegen, anstatt zu verhindern.
({17})
Abschließend komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der nicht oft genug wiederholt werden kann. Es
gibt für die Wirtschaft einen ganz einfachen Weg, die
Auslösung der Umlage zu verhindern. Ich appelliere an
alle Unternehmer, diesen Weg einzuschlagen. Tun Sie
das, wozu Sie sich selbst unzählige Male verpflichtet haben! Tun Sie das, was Ihre Aufgabe ist - und zwar aus
sehr guten Gründen -: Bilden Sie die jungen Menschen
aus! Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Unternehmen,
die toll ausbilden! Wenn Sie das tun, dann wird das im
Gesetz vorgesehene Verfahren gar nicht erst ausgelöst.
Das wäre gleichzeitig der größte Erfolg, den wir mit diesem Gesetz erzielen könnten.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
Drucksachen 15/2820 und 15/2833 zu überweisen: zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss,
den Finanzausschuss sowie an die Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit, für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für Gesundheit und Soziale Sicherung, für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, für Tourismus, für Kultur und Medien sowie an den Haushaltsausschuss zur
Mitberatung und den Gesetzentwurf zusätzlich gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef
Laumann, Dagmar Wöhrl, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik - Wachstumsprogramm für
Deutschland
- Drucksache 15/2670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle erinnern uns sicherlich noch sehr gut
an den 16. August 2002 hier in Berlin. Nach Angaben
des Wetterdienstes waren damals 25 bis 26 Grad Celsius
und die Sonne schien. Es war ein sehr schöner Tag. Vor
allem wurde an diesem Tag am Gendarmenmarkt in Berlin das Hartz-Papier vorgestellt. Was gab es da nicht alles für schöne Begriffe! Wer hatte jemals zuvor etwas
von „Reformmodulen“, von „Profis der Nation“, von
„Personal-Service-Agenturen“, von „Ich-AGs“, von
„Jobfloatern“ und von „Bridgesystem“ gehört?
({0})
Das zentrale Versprechen des Hartz-Wahlkampfpapieres lautete damals: Innerhalb von 36 Monaten wird
die Arbeitslosigkeit von 4,018 Millionen auf 2 Millionen
gesenkt. Deutschland war beeindruckt. Peter Hartz
sprach von der „Bibel für den Arbeitsmarkt“, die in dieser Kommission geschrieben worden sei. Dies alles war
vor genau 593 Tagen.
Die Realität sieht anders aus als das, was in der HartzBibel steht. Seit der Hartz-Präsentation sind jeden Tag über
1 240 sozialversicherungspflichtige Jobs weggefallen. Insgesamt gibt es heute 730 000 sozialversicherungspflichtige
Jobs weniger als im August 2002. Jeden Tag ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, hat es über 1 050 Arbeitslose mehr gegeben. Jetzt sind es 4 641 000 Arbeitslose.
Zusätzlich haben seitdem jeden Tag 28 Jugendliche
unter 25 Jahren ihre Arbeit verloren. Mittlerweile sind
fast 529 000 Jugendliche arbeitslos.
Gleichzeitig mussten jeden Tag 94 Unternehmen ihre
Tore schließen. Insgesamt haben seit August 2002 fast
55 700 Betriebe Insolvenz angemeldet. Noch nicht eingerechnet sind die Insolvenzen aus dem ersten Quartal
2004, weil uns die Zahlen noch nicht vorliegen.
Das ganze Ausmaß wäre noch viel deutlicher, wenn
nicht die Arbeitslosenstatistik geändert worden wäre.
Würden heute die Statistikregeln von 1998 gelten, hätten
wir noch 300 000 Arbeitslose mehr, das heißt insgesamt
rund 5 Millionen Arbeitslose.
({1})
Angesichts dieser Fakten hat der Bundeskanzler in
der vergangenen Woche davon gesprochen, dass unser
Land heute besser dastehe als vor einem Jahr. Ich frage
mich: Wie kann man zu einem solchen Urteil kommen?
({2})
Es ist einfach an der Zeit, finde ich, dass wir uns auch
einmal mit den einzelnen Hartz-Modulen auseinander
setzen. Fangen wir doch mit der Personal-ServiceAgentur an.
({3})
Das war laut Hartz damals das Herzstück seiner Vorschläge.
({4})
Dieses Herzstück erweist sich als teurer Totalausfall.
({5})
Die Bundesregierung hatte versprochen - das ist hier
am Rednerpult gesagt worden -, dass allein durch dieses
Instrument 500 000 Menschen eine befristete Beschäftigung und jährlich bis zu 350 000 Arbeitslose eine dauerhafte sozialversicherungspflichtige Tätigkeit finden würden; das war der so genannte Klebeeffekt. Bis heute
haben gerade einmal 7 700 Vermittlungen in Beschäftigung stattgefunden, obwohl die Bundesagentur für ArKarl-Josef Laumann
beit diese Maßnahmen bislang mit gut 230 Millionen
Euro aus Beitragsmitteln subventioniert hat.
Mit der Insolvenz der Firma Maatwerk ist jetzt sogar
jede fünfte PSA in Deutschland pleite.
({6})
Das bedeutet, dass rund 10 000 in einer PSA Beschäftigte nicht mehr in einer PSA beschäftigt und damit wieder arbeitslos sind.
Die Maatwerk-Pleite hat uns ein Weiteres gelehrt,
nämlich dass es auch PSAs gibt, die sich gar nicht an der
Zeitarbeit beteiligt haben. Maatwerk hat überhaupt keine
Zeitarbeitsvermittlung betrieben, sondern hat die Fälle
übernommen, das Geld kassiert und darauf gesetzt, wie
ein privater Arbeitsvermittler die Leute zu vermitteln
und dann die Vermittlungsprovision, gestaffelt danach,
ob die Leute unter drei Monaten oder über drei Monate
arbeitslos waren, abzukassieren. Allerdings ist dieses
Modell so danebengegangen, dass die Firma jetzt pleite
ist. Da von Zeitarbeit zu sprechen ist verrückt.
Wenn Sie noch etwas Verstand haben, dann stampfen
Sie das PSA-Modell ein
({7})
und arbeiten mit der privaten Zeitarbeitsbranche zusammen, die regional sehr gut aufgestellt ist, mittlerweile
auch überregional sehr gut aufgestellt ist. Dann haben
Sie wenigstens Profis, die dieses Geschäft verstehen.
({8})
Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, den Ich-AGs.
500 000 Arbeitslose sollten nach den Hartz-Plänen mit
staatlichen Subventionen in Ich-AGs den Schritt in die
Selbstständigkeit wagen. Obwohl die Bundesregierung
für das erste Jahr sehr großzügig bemessene Staatsmittel
ohne jede Prüfung mit vollen Händen ausgibt, haben bislang lediglich rund 100 000 Arbeitslose davon Gebrauch
gemacht, also 400 000 weniger, als Hartz damals verkündet hat. Ab diesem Sommer - da bin ich mir sicher -,
wenn die Subventionen für die Ich-AGs erstmals reduziert werden, wird sich zeigen, wie viele von diesen
Kleinstgründern auf dem freien Markt überhaupt bestehen können.
Man kann doch heute in jedem Arbeitsamt deutlich
erkennen: Läuft das Arbeitslosengeld aus, ist die beste
Möglichkeit, an Staatsknete zu kommen, die Gründung
einer Ich-AG, weil dafür noch nicht einmal ein Geschäftsmodell vorgelegt werden muss. Es ist eine Einladung, sich Unternehmer zu nennen, ob man am Markt
operiert oder nicht, und an Zuschüsse von monatlich immerhin 600 Euro im ersten Jahr zu kommen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Förderung ausläuft, werden wir
bei den Ich-AGs eine Insolvenzentwicklung haben, die
sich gewaschen hat.
({9})
Das liegt daran, dass Sie schlicht und ergreifend folgendem Trugschluss unterliegen: Sie denken, dass man
in einer so modernen Volkswirtschaft, wie Deutschland
sie hat, mit Kleinstunternehmertum einen gigantischen
Arbeitsmarkt schaffen könnte. Das ist aber nicht möglich. Sie können unsere Volkswirtschaft, etwa den Einzelhandel, nicht mehr mit der von Spanien oder Portugal
vergleichen. Dadurch, dass in den Gemeinden Lidl, Aldi
und viele andere Einzug gehalten haben, hat sich der
Einzelhandel völlig umstrukturiert. In dem Dorf, aus
dem ich komme, konnten in meiner Kindheit fünf kleine
Einzelhändler bestehen. Von ihnen ist kein Einziger übrig geblieben. Heute gibt es dort zwei große Marktketten, die das Dorf genauso gut mit Lebensmitteln versorgen, sogar mit einer noch größeren Auswahl als früher.
Eine solche Einzelhandelsstruktur, wie es sie früher gab,
wird es nie wieder geben.
({10})
- Nein, das hat mit SPD und Grünen nichts zu tun. Aber
glauben Sie doch nicht, dass Sie die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes mit Ich-AGs lösen könnten!
({11})
Wenn Sie zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen,
müssen Sie die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft,
für die industriellen Arbeitsplätze, für neue Bereiche,
etwa den Bereich der privaten Haushalte, verbessern;
auf dem von Ihnen gewählten Weg wird Ihnen das nicht
gelingen.
Dann gab es das Instrument des Jobfloaters. Können
Sie sich daran noch erinnern?
({12})
Der Jobfloater ist am 1. November 2002 unter dem Titel
„Kapital für Arbeit“ von der KfW auf den Weg gebracht
und im März 2003 auf die Einrichtung von Ausbildungsplätzen ausgeweitet worden. Anstatt der von der HartzKommission versprochenen durchschnittlich 120 000
neuen Arbeitsplätze pro Jahr hat die KfW bis heute lediglich knapp 11 500 Vollzeitarbeitsplätze und rund
1 100 Ausbildungsplätze mit einem Mittelvolumen von
837,4 Millionen Euro subventioniert. Das ist weniger als
10 Prozent des versprochenen Beschäftigungseffektes
und bedeutet einen skandalösen Umfang von Subventionen pro Arbeitsplatz von rund 73 000 Euro.
Hinzu kommt, dass sich der Bundesminister für den
Aufbau Ost, Manfred Stolpe, vom Jobfloater einen großen Beitrag zur spürbaren Senkung der Arbeitslosenzahl
in Ostdeutschland versprochen hatte. Bislang sind in die
neuen Bundesländer lediglich rund 10 Prozent der KfWMittel geflossen; das sind ganze 83 Millionen Euro.
({13})
Ein ganz wichtiger Ansatz der Hartz-Kommission
war die Reform der Bundesanstalt für Arbeit. Durch
verbesserte Vermittlung und ein modernes IT-System
sollte der Nachschub von Arbeitslosen nach Nürnberg
gestoppt werden. Alleine durch die Reform der Bundesanstalt für Arbeit sollten bis zu 250 000 Arbeitslose im
Jahresschnitt weniger gezählt und gut 100 000 neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Anstatt der
erhofften Erfolge und einer Entlastung der Beitragszahler aber erweist sich insbesondere der virtuelle Arbeitsmarkt als Millionengrab. Nach der ersten Ausschreibung
wurde noch mit Kosten von 35 Millionen Euro für den
virtuellen Arbeitsmarkt gerechnet. Mittlerweile geht die
neue Führung der Bundesagentur, wie wir alle wissen,
von Gesamtkosten von 163 Millionen Euro aus. Hinzu
kommt, dass auch die Beitragsmittel, die der ehemalige
BA-Vorsitzende Gerster für Kommunikationsberatungen
unter Verstoß gegen das Vergaberecht vergeben hat, in
den Sand gesetzt worden sind.
Vor ein paar Tagen lese ich, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der SPD-Fraktion und den Grünen
und vor allen Dingen vom Ministerium für Wirtschaft
und Arbeit, dass das Wirtschaftsministerium vor
14 Tagen eine Studie - aus den Mitteln des Steuerzahlers - über das Image der Bundesagentur für Arbeit in
Auftrag gegeben hat.
({14})
Man hat mit dieser Studie ein Bonner Institut beauftragt
und zahlt dafür 830 000 Euro.
({15})
Ich möchte einmal wissen, wer in Ihrem Haus die Vergabe dieses Auftrags unterschrieben hat. Sie brauchen
zurzeit keine Untersuchung über das Image der Bundesagentur für Arbeit durchzuführen. Sie müssen nur
einmal Straßenbahn fahren. Da hören Sie genug über das
Image der Bundesagentur.
({16})
Diejenigen, die solche Untersuchungen für notwendig
halten, sind wahrscheinlich schon lange nicht mehr Straßenbahn gefahren. Es wird Zeit, dass sie ihren Fahrer
verlieren und wieder mehr Straßenbahn fahren müssen.
Dann erfahren sie, wie das Image der Bundesagentur
aussieht, auf deren Unterstützung Millionen von Menschen in diesem Land angewiesen sind.
({17})
Die Vergabe dieser Studie ist zwar für das Institut in
Bonn sehr schön. Aber wenn ich mir anschaue, wie verzweifelt die finanzielle Situation in vielen Bereichen in
Deutschland ist, dann kann ich nur den Kopf darüber
schütteln - das zeugt von Unsensibilität -, dass man eine
solche Studie in der jetzigen Zeit vergibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie sollten einfach Abschied nehmen von dem HartzWahlkampfmanöver. Damals haben einige eitle Herren,
die Herrn Schröder helfen wollten, in einer Kommission
zusammengesessen und haben alte Tatsachen mit neuen
Begriffen bezeichnet. Sie haben sich Zahlen ausgedacht,
die - wenn man daran glaubt - zeigen, wie schön die
Welt sein kann. Aber mittlerweile wissen wir ganz genau, dass die Hartz-Reformen und die entsprechenden
Instrumente nicht die Renner in der Arbeitsmarktpolitik
sind. Deswegen sollten wir, was die Finanzierung dieser
Instrumente, über die ich geredet habe, angeht, mit der
Geldvernichtung aufhören.
({18})
Der Ansatz bei der Bundesagentur für Arbeit und in
der Arbeitsmarktpolitik muss viel stärker im grundsätzlichen Bereich liegen. Ich bin zutiefst davon überzeugt,
dass wir gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen,
um in Deutschland im Bereich der Industrie eine gewisse
Tiefe bei der Fertigung erhalten zu können. Es nützt uns
nichts, wenn bei uns am Ende Güter zwar zusammenmontiert werden, aber die Tiefe der Fertigung in einem
atemberaubenden Tempo abnimmt.
Diese Entwicklung hat natürlich etwas mit der Kostensituation zu tun. Wir sollten uns in der Öffentlichkeit
und im Parlament über ein paar Punkte unterhalten, die
man am leichtesten und am zumutbarsten verändern
kann. Ich bin der Meinung, dass wir zu flexibleren und
längeren Arbeitszeiten kommen müssen, um unsere
Fertigungstiefe zu erhalten. Ich glaube, dass kein Weg
daran vorbeiführt. Das geeignete Instrument wird nicht
die stumpfe 40-Stunden-Woche sein. Aber ich bin davon
überzeugt, dass wir über das Jahr gesehen 41 oder
42 Stunden - abhängig von Jahreszeit und Branche - relativ flexibel arbeiten müssen.
({19})
Das wäre der humanste und zumutbarste Beitrag, um
zu einer Kostenentlastung zu kommen. Davon bin ich
zutiefst überzeugt.
({20})
Ich will Ihnen einen weiteren Punkt nennen, auf den
wir uns verständigen müssen. Wir müssen in allen staatlichen Bereichen schauen, welche Auflagen im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen entbehrlich sind. Ich würde
in Deutschland das Arbeitszeitgesetz abschaffen. An
dessen Stelle sollte die entsprechende EU-Richtlinie treten. Darin ist die wöchentliche Arbeitszeit festgehalten.
Die Entwicklung geht also hin zu einem Abschied von
der täglichen Arbeitszeit als Richtgröße, die noch Bestandteil - das ist bei uns Tradition - der deutschen Gesetzgebung ist. Diese Maßnahme kostet kein Geld und
ist relativ einfach. Ein Federstrich genügt.
({21})
Ich würde vorschlagen, dass man die Arbeitsstättenverordnung auf den Gesundheitsschutz konzentriert.
Alles andere muss uns nicht interessieren. Das können
vernünftige Leute selber regeln. Vorschriften zum Gesundheitsschutz würde ich vorgeben. Dann wäre aber
Schluss.
Man müsste einmal nachprüfen, wozu die Zahlen, die
die statistischen Ämter auf Bundes- und Landesebene erheben, gebraucht werden. Mich ärgert nicht nur, dass der
Mittelständler sonntagmorgens diese Formulare ausfülKarl-Josef Laumann
len muss. Mich ärgert auch, dass sich wahrscheinlich
irgendein gut bezahlter BAT-Mensch damit beschäftigt.
({22})
Wir müssen uns einmal fragen, ob wir diese Zahlen
wirklich brauchen. Was geschieht mit diesen Zahlen?
Sind diese Informationen für das Handeln des Staates
notwendig? Für die Bereiche, in denen wir diese Zahlen
nicht benötigen, sollte man sie nicht mehr erheben.
({23})
Das wäre ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Entbürokratisierung.
Wenn ein Handwerksmeister feststellen würde, dass
es weniger Bürokratie gibt, dann hätte er vielleicht mehr
Spaß an seinem Job und würde allein schon deswegen
mehr junge Menschen einstellen. Aber wenn er die Bürokratie im Zusammenhang mit Ihrer Ausbildungsplatzabgabe sieht, dann wird er sich wahrscheinlich
überlegen, wie er unter die Grenze von zehn Mitarbeitern kommt, um damit nichts zu tun zu haben.
Wir werden - das sage ich Ihnen voraus - nächstes
Jahr weniger Betriebe mit 13 Anstreichern haben als dieses Jahr. Denn alle Betriebe werden versuchen, unter
zehn Beschäftigte zu kommen, damit sie mit diesem
Thema nichts zu tun haben. So läuft das praktisch ab.
Ich weiß, dass das für jeden, der eine Bindung zur Gewerkschaftsbewegung in Deutschland hat, ein schwieriges Thema ist. Aber wenn wir wollen, dass der Flächentarifvertrag seine Bindungswirkung behält, wird der
Weg, den die IG Bergbau, Chemie, Energie und andere
eingeschlagen haben, nämlich die Tarifvereinbarungen
flexibler auf Betriebsstrukturen zuzuschneiden, unvermeidlich sein. Wenn dieser Weg unvermeidlich ist, warum können wir dann im Bundestag das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertragsgesetz nicht so klarstellen, dass
Gerichte es nicht verbieten können, wenn sich Belegschaften und Geschäftsleitungen im Rahmen von Investitionen für die Zukunft auf eine andere Auslegung des
Günstigkeitsprinzips verständigen?
({24})
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit!
Ich hoffe, dass es früh genug ist, wenn Sie umkehren.
Ich habe praktische Beispiele genannt, die nicht Millionen in Agenturen kosten. Dafür brauchen Sie auch nicht
die Profis der Nation; dafür brauchen Sie nur ein Parlament mit einer gutwilligen Mehrheit. Wenn Sie diese
nicht herstellen, werden wir das bald tun.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Im Dezember 2003 haben sich die
Oppositions- und die Regierungsparteien im Vermittlungsausschuss zusammengesetzt, um die größten Arbeitsmarktreformen der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland zu besprechen. Sie sind dabei zu einem einvernehmlichen Ergebnis gekommen und haben hier im
Bundestag den überwiegenden Teil sehr einvernehmlich
beschlossen.
Heute erleben wir einen Oppositionsantrag, der mit
dem Satz beginnt:
Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Linie gescheitert.
({0})
So machen Sie sich einen schlanken Fuß; so ziehen Sie
sich aus der Verantwortung bzw. aus einer Angelegenheit, die Sie gemeinsam mit uns auf den Weg gebracht
haben. Ich sage es einmal freundlich: Sie haben ein
wirklich hocherotisches Verhältnis zum Negativen. Daran - und nicht an Inhalten und praktischen Hilfen für
die Menschen in diesem Land - ziehen Sie sich anscheinend hoch. Sie suchen nach Misserfolgen. Das ist Ihr Erfolgsrezept und das lassen wir nicht durchgehen.
({1})
Mir zeigt das: Sie haben die Agenda 2010 weder gelesen noch verstanden. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist nämlich nicht gescheitert. Sie ist sehr erfolgreich.
({2})
100 000 Gründungen von Ich-AGs im letzten Jahr sind
eben kein Misserfolg, wie es Kollege Laumann hier vorgetragen hat. Die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gingen davon aus, dass sich in einem Jahr aus der Arbeitslosigkeit
im höchsten Fall bis zu 200 000 Existenzgründungen
rekrutieren lassen. 250 000 sind es geworden. Sie aber
reden dies schlecht, machen es negativ und nehmen jungen Menschen, die den Mut haben, Existenzgründungen
aufzubauen, den Mut, diesen Weg weiterhin zu beschreiten. Das ist skandalös!
({3})
Auch die Anzahl der Minijobs ist dank unserer unbürokratischen Regelung
({4})
ganz erheblich gestiegen.
({5})
- Stehen Sie nicht mehr zu diesem Ergebnis?
({6})
- Setzen Sie keine falschen Dinge in die Welt! Wir haben uns im Vermittlungsausschuss auf ein einfaches Verfahren verständigt. Stehen Sie zumindest dazu, dass das
ein gemeinsames Ergebnis ist!
({7})
Wenn es ein gemeinsames Ergebnis ist, dann ist die rotgrüne Arbeitsmarktpolitik eben nicht gescheitert. Sagen
Sie: Das ist ein Erfolg, zu dem auch wir ein Stück weit
unseren Beitrag geleistet haben.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Bitte.
Herr Kollege Brandner, erinnern Sie sich daran, dass
die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen im Jahre 1998 die Minijobs abgeschafft haben, die Sie jetzt als einen der größten Erfolge Ihrer Politik schildern, und würden Sie mir zustimmen, dass wir
diesen großen Erfolg auch in den dazwischenliegenden
fünf Jahren hätten haben können, wenn Sie nicht ideologisch gehandelt hätten?
({0})
Erstens hat die rot-grüne Regierung die Minijobs
nicht abgeschafft, sondern sozialpolitisch anders geordnet.
({0})
Zweitens. Wir wären mit Sicherheit bei den Arbeitsmarktreformen schon erheblich weiter, wenn Sie in der
Vergangenheit nicht so stark blockiert hätten. Wir hätten
die notwendigen Reformen schneller durch das Parlament bringen können. Vor dieser Problematik stehen wir.
({1})
Die Zahl der Existenzgründungen - sie ist ein Beleg
für das, was sich in der Gesellschaft tut - entwickelt sich
positiv. 2003 gab es 12 Prozent mehr Gewerbeanmeldungen als im Vorjahr. Die Zahl der Unternehmensneugründungen ist seit 1998 um 39 Prozent gestiegen.
Ein Beleg dafür, dass Sie Ihren Antrag mit flinker
Hand geschrieben haben, ist, dass Sie von skandalösen
Subventionen auf der Grundlage des Programms „Kapital für Arbeit“ berichten. Es heißt bei Ihnen, ein Arbeitsplatz werde mit 73 000 Euro subventioniert. Sie haben
das Programm nicht verstanden. Es handelt sich dabei
um ein Kreditprogramm. Die Subvention besteht darin,
dass der Kredit verbilligt wird. Ein Arbeitsplatz kann
höchstens mit 1 460 Euro bezuschusst werden. Durch
das Programm sind immerhin 11 500 neue Arbeitsplätze
und 1 100 Ausbildungsplätze entstanden.
({2})
Die Art, in der Sie diese sinnvollen Elemente, mit deren
Hilfe Unternehmen, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen, Beschäftigungsaufbau organisieren können, zerreden, ist ein Skandal.
({3})
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Sie sind darin
geübt, die wirtschaftliche Lage und den Standort ständig
schlechtzureden, es ist aber so, dass die realwirtschaftlichen Indikatoren eine positive Tendenz aufweisen. Der
Umfang der Exporte hat zugenommen, die Industrieproduktion zieht an und gestern erst meldeten die Maschinenbauer ein Auftragseingangsplus von 5 Prozent.
({4})
Es sind auch mehr Auslandsinvestitionen in Deutschland
getätigt worden.
Die Arbeitslosenzahl für den Monat März wird unter
dem Vorjahresniveau liegen, und das nach einer langen
Stagnationsphase. Wir sind in der Vergangenheit immer
davon ausgegangen, dass wir nach einer Phase ohne
Wachstum von einer deutlich erhöhten Arbeitslosenbilanz ausgehen müssen. Es ist ein Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik, dass die Arbeitslosigkeit real nicht gestiegen ist.
({5})
Ob man es wahrhaben will oder nicht: Die Daten sprechen eine deutliche Sprache.
({6})
Ich bin aber davon überzeugt, dass wir in der Sache
viel weiter wären, wenn Sie nicht immer blockiert und
schlechtgeredet hätten. Sie haben das auch jetzt wieder
bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe angekündigt. Jahrelang haben Sie an diesem
Rednerpult gefordert, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zu einer Leistung zusammenzufügen. Sie haben im Zusammenhang mit dem Job-AQTIV-Gesetz gedrängt, in
die Puschen zu kommen, um es innerhalb von drei Monaten umsetzen zu können. Heute ziehen Sie durch die
Lande und reden davon, dass wir noch anderthalb Jahre
brauchen werden,
({7})
bis wir überhaupt in der Lage sind, die Zusammenlegung
praktisch umzusetzen. Das zeigt, wie widersprüchlich
Sie argumentieren. Es geht Ihnen nicht um die Menschen in diesem Land, sondern um Ihren politischen ErKlaus Brandner
folg. Das muss an dieser Stelle offen und deutlich gesagt
werden.
({8})
Sie fordern das Voranschreiten der Deregulierung des
Arbeitsrechts. Mit einer Zangenbewegung wollen Sie
normale Arbeitsverhältnisse dadurch unter Druck setzen,
dass Sie den Kündigungsschutz fast völlig aufgeben.
Das zeigt nur, dass die soziale Markwirtschaft nicht
mehr in Ihrer Grundphilosophie enthalten ist. In den
ersten vier Jahren einer Beschäftigung soll es ebenso
wie in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten
überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr geben. Auch
über 50-Jährige sollen überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr haben.
Dabei haben wir im letzten Jahr im Vermittlungsausschuss ein Ergebnis erzielt, dem Sie zugestimmt haben.
Wie lange halten Ihre programmatischen Vorgaben? Wie
lang ist die Halbwertszeit Ihrer Zusagen? Nicht einmal
drei Monate sind ins Land gegangen und schon werfen
Sie alles über Bord und bezeichnen alles als Quatsch, zu
dem Sie vorher Ja gesagt haben. Mit dieser Widersprüchlichkeit müssen Sie fertig werden. Das ist nicht
unser Problem.
Wir jedenfalls stehen dafür, dass Kündigungsschutz
Sicherheit und Planbarkeit für die Menschen in diesem
Land bedeutet. Wir können uns nicht vorstellen, dass
junge Menschen Familien gründen, wenn sie überhaupt
keine Sicherheit in ihren Arbeitsverhältnissen spüren.
Wenn Sie die Menschen wie Ware, wie Handys oder Autos, behandeln, werden wir keine positive wirtschaftliche
Entwicklung erfahren. Nicht allein der Preis darf zählen.
Marktwirtschaft pur kann nicht unser Programm sein.
Das Soziale in der Marktwirtschaft muss erhalten bleiben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin einen sozialen
Kündigungsschutz.
({9})
Ganz verrückt ist Ihr Antrag bezüglich der betrieblichen Mitbestimmung. Auf der einen Seite sagen Sie,
dass die Anzahl der Betriebsratsmitglieder reduziert
werden muss, dass die Freistellungen reduziert und die
Rechte der Betriebsräte beschnitten werden müssen. Auf
der anderen Seite stellt sich Kollege Laumann hier hin
und sagt: Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit, die verantwortlich über Lohnreduzierungen, Urlaubsreduzierungen und Jahressonderzahlungsreduzierungen reden, verhandeln und entscheiden können. Die
Drecksarbeit sollen sie also machen, aber ihre Rechtsstellung wollen Sie drastisch beschneiden, sodass sie
überhaupt nicht dazu in der Lage sind. Das ist die Wahrheit und das muss man Ihnen deutlich sagen.
({10})
Genauso deutlich sind die Widersprüche in Ihrer Arbeitsmarktpolitik: Sie fordern hier im Parlament, die
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung zu senken.
Das ist gut und wir würden das auch gerne tun. Sobald
die Arbeitslosigkeit sinkt, werden wir das auch tun.
({11})
Aber Sie gehen doppelzüngig über Land. Sie gehen auf der
einen Seite zu den karitativen Einrichtungen wie Kolping
und Caritas und sagen denen: Ihr leistet tolle Arbeit und
müsst eure betrieblichen Berufsausbildungsergänzungsmaßnahmen ausdehnen. Auf euch kann man nicht verzichten. Auf der anderen Seite jedoch fordern Sie hier,
dass die Mittel für genau diese Aufgaben gekürzt oder
faktisch ganz gestrichen werden. Sie sagen: Die aktive
Arbeitsmarktpolitik ist gescheitert. Es sollen lieber die
Beiträge gesenkt werden. Darin zeigt sich Ihre Widersprüchlichkeit.
Bei den Arbeitnehmern und Arbeitgebern machen Sie
sich mit Ihrer Forderung nach Beitragssatzsenkungen
beliebt. Den Konsumenten sagen Sie: Wir brauchen
mehr Geld. Den Kommunen sagen Sie: Wir brauchen
mehr Geld für Investitionsmaßnahmen. Wir wollen sicherstellen, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wird.
Den Bürgern sagen Sie: Wir wollen die Steuern senken.
Sie versprechen allen alles, wollen zugleich aber hier
den vernünftigen Weg nicht mitgehen, damit die Arbeitsmarktpolitik effizienter wird und die Maßnahmen gestützt werden. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({12})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Laumann?
Ja, bitte schön.
Kollege Brandner, Sie haben gerade gesagt, wir würden den Einrichtungen, die sich um die benachteiligten
Jugendlichen kümmern, sagen: Dehnt eure Arbeit aus.
Gleichzeitig würden wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag senken wollen. Darin sehen Sie einen Widerspruch.
Sind Sie denn nicht mit mir der Meinung, dass es gute
und weniger erfolgreiche Arbeitsmarktinstrumente gibt?
Dazu, dass wir uns angesichts der derzeitigen Situation
am Arbeitsmarkt um benachteiligte Jugendliche kümmern, bestand immer Konsens über die Fraktionsgrenzen hinaus.
Ich bin schon der Meinung - können Sie mir darin
nicht Recht geben? -, dass zum Beispiel die Förderung
der PSAs in Höhe von 280 Millionen Euro, dass die Förderung der Ich-AGs und ABM im Westen Arbeitsmarktinstrumente sind, die teuer, aber nicht erfolgreich sind.
Sollten wir uns nicht davon verabschieden, um dann die
erfolgreichen Modelle weiterfahren zu können?
({0})
Nun, Kollege Laumann, Sie wissen, dass gerade die
rot-grüne Regierung dafür steht, die Effizienz der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht nur zu überprüfen,
({0})
sondern auch dafür zu sorgen, dass sie bezüglich der Integration in den Arbeitsmarkt und auch unter finanziellen Gesichtspunkten vorliegt. Von manchen, die nicht effizient sind, bekommen wir großen Ärger. Diesbezüglich
würden wir gern Ihre Unterstützung in Anspruch nehmen und sagen: Wer die Leistung hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt nicht bringt, wird nicht mehr
bedacht. Dafür hätten wir gern die Unterstützung von allen in diesem Land, auch von der FDP. Das tritt leider
nicht ein. Das ist die eine Erfahrung, die wir machen.
Schauen Sie sich - zum Zweiten - einmal die Datenlage in diesem Land an. Die Menschen müssen das wissen. Sie fordern, den Beitragsatz von 6,5 auf 5,5 Prozent
zu senken. Das bedeutet einen Einnahmeverlust von
12 Milliarden Euro. Für die aktive Arbeitsmarktpolitik
werden etwa 20 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Dann blieben nur noch 8 Milliarden Euro übrig. Für die
aktive Arbeitsmarktpolitik stünden damit praktisch keine
Mittel mehr zur Verfügung. Man muss Ihnen ganz drastisch sagen, was Sie mit Ihrem Antrag auslösen.
({1})
- Moment, meine Antwort auf Ihre Frage ist noch nicht
zu Ende.
({2})
- Nein, nein. Die Uhr läuft ohnehin die ganze Zeit weiter, Frau Präsidentin.
Ich habe die Uhr vorhin nicht gestoppt. Deswegen
muss ich sie weiterlaufen lassen. Ich glaube aber, die
Frage ist ausführlich beantwortet.
Lassen Sie mich ein klares Argument zu dem anführen, was Sie ansonsten vorgetragen haben. Der niedersächsische Ministerpräsident zum Beispiel sagt, dass er
für die aktiven Integrationsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose dreieinhalb Milliarden Euro mehr haben
möchte. Der Bund will für die ganze Bundesrepublik
Deutschland sechs Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Sie müssen sich einmal vorstellen, wie widersprüchlich diese Situation ist: Sie fordern unendlich hohe Summen für die kommunale Ebene, aber hier im Parlament
sagen Sie im Grunde genommen, dass diese Arbeitsmarktpolitik Quatsch ist, dass sie gescheitert ist und dass
wir diese Maßnahmen überhaupt nicht brauchen. Diese
Widersprüchlichkeit lassen wir Ihnen nicht einfach
durchgehen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
noch etwas zum Stichwort Teilzeitarbeit sagen. Auch
das ist bei Ihnen ein beliebtes Thema. Die Teilzeitquote
ist in den letzten fünf Jahren von 22,5 auf 27,3 Prozent
gestiegen. Das zeigt, welche Bedarfe und Wünsche vorhanden waren. Das zeigt aber auch, dass durch Teilzeit
ein Stück weit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden
kann. Das zeigt auch, dass Teilzeitansprüche gesellschaftliche Ansprüche beinhalten können, nämlich die
partnerschaftliche Arbeit im Betrieb zu ermöglichen.
Das steht im krassen Widerspruch zu Ihrer Politik der
pauschalen Arbeitszeitverlängerung, die im Ergebnis
nichts anderes als Lohndrückerei und höhere Arbeitslosigkeit bringen würde. Dafür gibt es politisch keinen
Raum.
({1})
Wir setzen auf Differenzierung und Flexibilität. Sie
sind in der Arbeitszeitpolitik notwendiger denn je. Alle
Maßnahmen in dieser Richtung unterstützen wir. Aber
Ihr pauschaler Ansatz, einfach die Arbeitszeit generell
auf 42 Stunden zu verlängern, ist ein Programm gegen
die Beschäftigten und für höhere Arbeitslosigkeit. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({2})
Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag haben
Sie sich hinsichtlich der Einseitigkeit geoutet, mit der
Sie die sozialen Rechte auf dem Rücken insbesondere
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abbauen wollen. Wir fragen uns: Wo bleiben Ihre Forderungen an
die Manager, ihre Gehaltsstrukturen zu überprüfen? Wo
schauen Sie, inwiefern gerade die Klientel, für die Sie
sich sonst ins Zeug werfen, noch leistungsgerecht Gehaltsforderungen in Millionenhöhe erheben kann?
({3})
Wie Sie wissen, lautet unser Programm „Fördern und
fordern“. Sie fordern nur von den Arbeitnehmern. Das
belegt Ihr Antrag, in dem Sie das deutlich machen. Ihnen
fehlt das Augenmaß. Wir sind Ihnen für Ihren Antrag insofern dankbar, als er Ihre politische Richtung zeigt. Unsere Grundstrategie bleibt eine Politik, die auf Angebot
und Nachfrage reagiert und die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen berücksichtigt. Ihr Antrag hat in seinem Kern nur die Interessen der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände zum Inhalt. Wir wissen,
dass wir mit Hartz begonnen haben, einen erfolgreichen
Reform- und Umstrukturierungsprozess einzuleiten, der
auch an harten Zahlen sichtbar wird,
({4})
mit dem neue Beschäftigung erschlossen wird, mit dem
die Qualität und auch die Geschwindigkeit der Vermittlung verbessert wird und der die Neuausrichtung der aktiven Arbeitsförderung sicherstellt. Wir bauen darauf,
dass die Tarifvertragsparteien diesen Prozess unterstützen.
Deshalb geht auch von dieser Stelle ein aktives und
deutliches Zeichen für den Erhalt der Tarifautonomie
aus. Die Tarifvertragsparteien in Deutschland haben gerade erst wieder bewiesen, dass sie in der Lage sind, auf
neue Herausforderungen flexibel zu reagieren. Ihr Ansatz, den Tarifvertragsparteien - im Kern meinen Sie ja:
den Gewerkschaften - den Boden unter den Füßen zu
entziehen und damit einseitig die Arbeitnehmerseite zu
schwächen, ist eine Angelegenheit, die wir nicht hinnehmen werden.
({5})
Meine Damen und Herren, wir werden deutlich sagen: Wir sind für gleichgewichtige Partner. Beide Partner werden mit unserer Unterstützung - je gemeinsamer,
desto besser - dafür sorgen, dass sie auch neue Herausforderungen aufgreifen, zum Beispiel die Frage der Ausbildungsplätze. Das wäre doch ein Thema, bei dem Bedarfe bestehen. Wir könnten sie ermuntern, dieses
Thema zu behandeln. Das ist eine Wertefrage, die sie gemeinsam aufgreifen könnten, was auch uns mit Sicherheit ermöglichen würde, von mancher komplizierten Regelung eher Abstand zu nehmen.
Aber wir müssen doch Fragen, die sich in diesem
Land stellen, auch sachgerecht beantworten. Deshalb
sollten Sie nicht einseitig die Gewerkschaften und die
Arbeitnehmer als Sündenböcke für die Problemlagen in
dieser Gesellschaft darstellen. Wir bauen auf eine gute
Zusammenarbeit. Insofern sind wir mit unserem Programm „Fördern und fordern“ auf einem richtigen Weg.
Ich denke, das haben unsere Erfolge deutlich gemacht.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über das Wachstumsprogramm der Union. Sie,
Herr Brandner, haben nur draufgehauen. Ich hätte mir in
dem Wachstumsprogramm der Union mehr Konkretes
zum Aufbrechen des Tarifkartells gewünscht, auch zur
Steuerpolitik manches Konkretere, aber die Richtung
stimmt.
({0})
Grundsätzlich hat Herr Laumann völlig Recht: Wir
müssen uns mit den Ursachen beschäftigen, warum wir
heute - am Vorabend der Erweiterung der Europäischen
Union um zehn neue Mitgliedsländer - in der Situation
sind, dass Deutschland, das früher das reichste Land der
Europäischen Union war, unter dem Durchschnitt liegt,
dass die leichte Belebung der Konjunktur schon wieder
gefährdet ist: Der Ifo-Index geht zum zweiten Mal herunter; Herr Eichel spricht von der Wachstumsbremse
des Konsums, von der Achillesferse. Auch die Beurteilung draußen ist nicht positiv.
Wir werden mit der Erweiterung der Union Niedrigsteuergebiete in unserem Gemeinsamen Markt haben.
Die baltischen Staaten oder auch Slowenien haben FlatTax-Einheitssteuersätze: Existenzminimum frei, maximale Besteuerung unter 20 Prozent. Relativ bald wird es
egal sein, wo sich der Hauptsitz eines Unternehmens befindet, in Essen oder in Riga. Der Unterschied wird nur
sein: In Riga zahlen sie unter 20 Prozent, in Essen
50 Prozent Steuern.
({1})
Das wird Konsequenzen haben. Schon jetzt beobachten wir eine Abwanderung von Talenten, von Wissenschaftlern, von Unternehmen, von Investitionen aus
Deutschland. Diese Neuorientierung in Europa wird sich
verstärken. Wir müssen uns deshalb grundsätzlich damit
beschäftigen, was wir falsch machen, und zwar über
viele Jahre. Die Obergrenze des Wachstumspotenzials
der deutschen Wirtschaft liegt seit Jahren bei 1 bis
1,5 Prozent. Das ist zu wenig. Für einen Beschäftigungszuwachs brauchen wir gegen 2 Prozent reales Wachstum.
Die Weichen sind nicht gestellt. Was ist die Antwort
auf die Niedrigsteuergebiete in der Europäischen Union?
Sie muss doch sein, dass wir auch bei uns Anpassungen
vornehmen, drastisch vereinfachen, andere Strukturen
entwickeln. Nur ein bisschen Reparatur wird nicht helfen. In ganzen Bereichen werden wir einen Systemwechsel brauchen.
Weshalb gelingt es der Regierung nicht, die Menschen im Land bei den Veränderungen mitzunehmen?
Das hat zwei Ursachen. Zum Ersten, weil sie ständig
zickzack macht: Da wird etwas angepackt, dann verändert; keiner kann sich orientieren, die Verunsicherung
ist groß. Zum Zweiten setzt sie auf eine insgesamt schon
sehr hohe Regulierungsdichte weitere Regelungen drauf.
Die Bürger stehen vor einer babylonischen Wand. Sie
verstehen die Strukturen nicht mehr, sie können nicht
mehr Teil des Systems sein, sie können nicht mehr mitentscheiden und es nicht mehr bewerten, weil das System so kompliziert geworden ist, dass keiner mehr mitkommt.
({2})
Im Grunde brauchen wir eine Redemokratisierung
durch wieder überschaubare Strukturen, die den Bürgern
Möglichkeiten zur Partizipation, zur Mitwirkung, zur
Mitentscheidung einräumen. So, wie wir die Strukturen
- die sozialen Sicherungssysteme, das Steuersystem gestaltet haben, kommen die Bürger nicht mehr mit; deshalb sind sie nicht dabei. So meinen heute zwischen
60 und 70 Prozent der Bevölkerung: Alle Parteien sind
Mist, sie sind nicht in der Lage, die Probleme zu lösen.
Die innere Zustimmung der Bürger zum parlamentarischen System schwindet insgesamt.
Deswegen müssen wir die Grundachsen der Politik
ändern. Die Ordnungspolitik verfällt in diesem Land.
Nicht nur der legendäre Holzmann-Interventionismus, es
geht ja weiter: Das Postmonopol wurde verlängert. Im
Telekommunikationsgesetz wird - das hat noch keine
Regierung Deutschlands gewagt - ein Weisungsrecht
des Ministers in Wettbewerbsfragen gegenüber der Regulierungsbehörde festgelegt. Eine neue Dimension!
Oder im Pressefusionsrecht: Verbietet das Kartellrecht
eine Fusion, führt man einen Sonderstatus ein. Was machen wir denn, wenn morgen etwa die Banken in weitere
Schwierigkeiten geraten? Etwa ein eigenes Bankenfusionsrecht, ein Sonderrecht für Banken? Nein, die Kartellordnung, das Wettbewerbsrecht ist die Magna Charta,
die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft.
({3})
Dort wird permanent interveniert, fehlgesteuert. Und
dann wundert man sich, wenn die Ergebnisse schlecht
ausfallen.
Eon, Ruhrgas, 85 Prozent Marktanteil. Als Belohnung
bekommt der Wirtschaftsminister dann noch den Vorstandsvorsitz bei der Ruhrkohle AG. Welche Einstellungen und Verhaltensweisen sind das! Wie will man dann
noch dem Pförtner, der abends Papier für sein Faxgerät
mit nach Hause nimmt, eine Abmahnung schicken, wenn
sich Führungspersonen in Politik und Gesellschaft, auch
wenn es rechtlich nicht angreifbar ist, so verhalten, wie
Herr Müller sich verhält?
({4})
Das sind die Ursachen einer Fehlentwicklung und
Fehlsteuerung, die in vielen Bereichen zu falschen Ergebnissen führen. Wenn wir keine Rückbesinnung auf
mehr Charakter in der Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik erreichen, werden wir es nicht schaffen.
Ich nehme als Beispiel den Arbeitsmarkt. Weshalb
dürfen die betroffenen Mitarbeiter im Betrieb - in geheimer Abstimmung mit einer Mehrheit von 75 Prozent;
das ist mehr als eine verfassungsändernde Mehrheit keine eigenen Regelungen treffen, wenn sie es wollen?
Es geht um ihren Job und um ihre Lebensperspektive.
({5})
Ich will Mitbestimmung für die Mitarbeiter und weniger
Mitbestimmung für Funktionäre, die vielfach nicht wissen, wie die Situation vor Ort ist.
Dies betrifft übrigens beide Seiten. Es gibt auch bei
Arbeitgeberverbänden viele, die nicht in modernen
Strukturen angekommen sind. Aber Sie haben auch
nicht den Mut, bei der Bundesagentur für Arbeit das
Kartell aufzubrechen. Wer sitzt denn dort im Verwaltungsrat? Es sind doch dieselben wie vorher: zu einem
Drittel die Arbeitgeberverbände, zu einem Drittel die
Gewerkschaften und zu einem Drittel der Staat. Wenn
Sie diejenigen, die bewiesen haben, dass sie mit der Flexibilisierung nicht umgehen können, zu Reformatoren
ernennen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir
nichts hinbekommen.
({6})
Die Strukturen aufzubrechen heißt, Chancen und
Freiheiten zu geben, das Richtige zu entscheiden. Wir
sind in Deutschland nicht blöder und auch nicht fauler
als früher. Wir haben es nur nicht geschafft, die Strukturen so zu ändern, dass die Tüchtigen und Anständigen
im Lande mit Fleiß und Engagement auch erfolgreich
sein können. Vielmehr wird auf Beziehungen gesetzt,
wie es früher der Fall war, als die Pompadour die Kakaoausschankrechte von Ludwig XIV. bekam. Ein großer
Konzern, der im Ministerium oder in der Politik jemanden kennt, bekommt Unterstützung; wenn ein Mittelständler oder Handwerker kaputtgeht, interessiert es keinen Menschen.
({7})
Diese Schieflage wirkt sich jenseits des einzelnen Unternehmens auf das Klima im Lande aus. Viele haben
das Gefühl, dass dies nicht fair, nicht anständig ist. Dies
ist auch ein Grund dafür, dass sich viele innerlich abmelden. Es findet nicht nur eine objektive Auswanderung
von Talenten, Forschern, Begabung und Kapital statt,
sondern auch eine innere Auswanderung. Es fehlt die
moralisch-ethische Grundlage eines solchen Systems:
Freiheit und Verantwortung. Wir müssen mehr Freiheiten geben und dann Verantwortung einfordern.
({8})
Wir haben sie über Jahre reduziert. Ich will gar keine
einseitige Zurechnung vornehmen. Das Ergebnis ist
aber, dass Deutschland heute als der kranke Mann Europas gilt.
({9})
- Es ist doch so, Frau Kollegin! Wenn ein Land, das die
Nummer eins war, heute unter dem Durchschnitt der
Europäischen Union angekommen ist, dann müssen wir
doch etwas falsch gemacht haben. Wir haben in Wahrheit doch 6 Millionen Arbeitslose. Es sind nicht nur die
4,5 Millionen, die in der Statistik auftauchen. 1,5 Millionen Menschen sind in Ersatzmaßnahmen wie ABM; sie
sind faktisch geparkt und hängen am Tropf von Sozialtransfers, haben aber keine durch Marktmechanismen
gesicherte Arbeitsplätze. Es muss doch bei uns etwas
falsch sein, wenn die Arbeitslosigkeit in Großbritannien
halb so hoch und in den Niederlanden und in Schweden
weniger als halb so hoch wie in Deutschland ist. Dies
zeigt doch, dass die Menschen dort besser als wir gehandelt haben.
({10})
Hier werden aber diejenigen, die auf Schwachstellen
hinweisen und sagen, dass bei uns die Grundachsen
nicht stimmen und sich hier etwas ändern muss, jetzt als
unpatriotisch und als vaterlandslose Gesellen beschimpft. Wenn diese unsinnige Debatte überhaupt einen
Sinn hat, dann muss es doch der sein, dass derjenige ein
Patriot ist, der den Mut hat, Veränderungen vorzunehmen. Die Menschen draußen im Lande wissen, dass es
ohne Veränderungen nicht weitergeht, dass wir Veränderungen vornehmen müssen. Es genügt nicht, ein bisschen zu ändern oder zaghaft nachzusteuern. Das Unsozialste ist, keinen Arbeitsplatz und keine Chance auf
einen Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu haben, weil
wir nicht den Mut haben, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Sie brauchen mir das alles gar nicht zu glauben; das
können Sie in jedem Gutachten des Sachverständigenrats, in den Monatsberichten der Bundesbank sowie in
den Veröffentlichungen der OECD und des Währungsfonds nachlesen. Die Europäische Kommission mahnt
Deutschland, endlich die Dinge zu verändern. Wenn wir
in Deutschland nicht die Kraft haben, im Rahmen unseres parlamentarischen Systems die Veränderungen vorzunehmen - die Menetekel können Sie in Italien und
Frankreich in vielen Bereichen sehen -, werden sich die
Probleme andere Lösungswege, vorbei an heute bestehenden Strukturen, suchen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, mein letzter Satz: Es ist unsere patriotische Pflicht, Veränderungen vorzunehmen. Deshalb
sollten wir hier eine Debatte darüber führen, wie wir
wieder Wachstum und Beschäftigung schaffen, und
keine Punkt-, Komma- und Strichdiskussion. Denn das
schreckt die Menschen in Deutschland noch mehr von
unserer Politik ab.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Brüderle, natürlich muss man, wenn
man die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, viel verändern.
Das ist doch logisch. Man muss Reformen in allen Bereichen der Wirtschaft durchführen, auch auf dem Arbeitsmarkt.
Ich bin aber sehr darüber erstaunt, was hier abläuft.
Wir stecken mit der Umsetzung des Gesamtpakets der
Hartz-Reformen gerade mitten in einer der größten Reformen des deutschen Arbeitsmarktes. Damit sind wir
noch nicht fertig.
({0})
Hartz IV - dazu werde ich später noch etwas sagen - ist
noch nicht umgesetzt
({1})
und Sie verkünden wortreich, so wie eben Herr
Laumann, das Ganze sei gescheitert und werde nichts
bringen.
({2})
Dabei stehen wir gerade am Beginn der entscheidenden
Arbeitsmarktreform. Die ausländischen Medien dagegen
berichten, Deutschland fange endlich an, seinen Arbeitsmarkt zu reformieren.
({3})
Herr Laumann, Sie müssen sich gefallen lassen, dass
man Ihnen folgende Frage stellt: Hunderttausende Menschen haben eine Ich-AG gegründet, weil sie der Aufforderung, die in den letzten Jahren verbreitet worden
ist, geglaubt haben, deren Tenor hieß: Werdet selbstständig und nehmt euer Schicksal in die eigene Hand. Was
sollen diese Menschen nun denken, wenn Sie, Herr
Laumann, hier fröhlich erklären, die Ich-AGs seien
Schwindel, es gebe keinen Markt für die neuen Dienstleistungen, die von ihnen aufgrund sehr unbürokratischer Unterstützung angeboten werden?
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass Sie zynisch mit
den Reformen umgehen.
({4})
Sie haben offenkundig ein Interesse daran - das werde
ich Ihnen im Einzelnen belegen -, dass alles, auch der
Umbau der Bundesagentur für Arbeit, schlechtgeredet
wird. Denn Sie glauben - das ist Ihr Kalkül -, dass es,
wenn vor Ort in den Arbeitsämtern Chaos herrscht, für
die Bundesregierung schlecht und demnach für die Opposition gut ist. Mit dieser Methode nehmen Sie, Herr
Laumann, den einzelnen Arbeitslosen in Geiselhaft einer
billigen Oppositionspolitik.
({5})
Ich nenne Ihnen hierfür einige Beispiele. Erstens. Es
ist doch klar, dass die PSAs, die Personal-ServiceAgenturen, in Zeiten einer massiven Konjunkturkrise
nicht optimal funktionieren können. Das Instrument der
PSAs ist dann geeignet, wenn die Konjunktur wieder anzieht, weil man dann Menschen in Leiharbeitsfirmen
vermitteln kann; das ist doch logisch.
({6})
Dieses Instrument ist kein Instrument für die Konjunkturkrise. Wir brauchen es trotzdem.
({7})
Ein zweites Beispiel. Alle Welt weiß, dass in
Deutschland zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe
aufgrund der Finanzierung aus den Gemeindehaushalten
und aus dem Bundeshaushalt seit Jahren - von Ihrer Regierung damals gewollt - ein Verschiebebahnhof besteht. Die Gemeinden haben ein Interesse daran, dass die
Sozialhilfeempfänger Arbeitslosengeld und später Arbeitslosenhilfe beziehen können. Der Bund hat das entgegengesetzte Interesse.
Nun gehen wir hin - viele von Ihnen fordern diese
Reform seit Jahren - und legen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammen,
({8})
damit die Menschen schneller und leichter vermittelt
werden können und damit wir Bürokratie sparen. Wenn
Sie nun aber wie in dieser Woche blockieren, dass die
Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengelegt
werden kann, dann ist das nichts anderes als destruktive
Politik
({9})
hinsichtlich eines zentralen Reformprojekts, das wir in
Deutschland brauchen.
({10})
Herr Kauder, ich will Ihnen das im Detail darlegen.
Herr Koch ist der Meinung, die Gemeinden sollten das
in Zukunft machen, obwohl das außer dem Landkreistag
kaum eine Gemeinde wirklich will. Denn die Gemeinden wissen, dass ihre Kompetenzen bei der Schuldnerberatung, bei der Drogenberatung
({11})
und bei solchen Dingen liegen und nicht bei der Arbeitsmarktvermittlung. Diese Kompetenz hat die Arbeitsverwaltung.
({12})
Dann hat man sich auf ein Optionsmodell geeinigt. Aber
plötzlich fordern Sie nach den Beratungen im Vermittlungsausschuss eine Verfassungsänderung. Bringen Sie
einmal in die Föderalismuskommission ein, dass Sie für
diesen Einzelfall eine Verfassungsänderung durchführen
wollen, sodass die Gelder vom Bund über die Länder zu
den Gemeinden fließen; so lautete Kochs Konzept. Dabei weiß doch jeder Landespolitiker, dass die klebrigen
Finger der Länder einen Teil dieser Gelder abgreifen
werden.
({13})
Erklären Sie das einmal Ihren schwarzen Ministerpräsidenten! Jeder hier weiß doch, dass alle, auch die Union,
diese Verfassungsänderung nicht wollen.
({14})
Der Wirtschaftsminister hat einen Vorschlag gemacht:
Durch die Organleihe soll bei dieser Aufgabe die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und der Bundesagentur für Arbeit möglich werden. Wir alle wollen
doch, dass die Gemeinden diese Aufgabe mit wahrnehmen. Sie sagen trotzdem, dass Sie die Verfassungsänderung wollen, obwohl die Union in den Ländern dagegen
ist. Das ist destruktive Politik. Sie wollen die Reform
nicht, stattdessen wollen Sie Chaos in den Arbeitsämtern
im nächsten Jahr. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen an dieser Stelle einfach nicht ersparen.
({15})
Herr Laumann hat bestimmte Punkte des Antrags, den
Sie heute vorlegen, sicherheitshalber gar nicht erst angesprochen.
({16})
- Ja, Sie haben Ihre Zeit gut eingeteilt; das können Sie. ({17})
Ihr Antrag beinhaltet eine Inkonsequenz nach der anderen.
({18})
Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel vor Augen
führen. Wir haben die größte Steuerreform durchgeführt, die es in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Ich will Ihnen das noch einmal in Erinnerung rufen: 1998 betrug der Eingangssteuersatz
25,9 Prozent und der Spitzensteuersatz betrug 53 Prozent. 2005 wird der Eingangssteuersatz 15 Prozent und
der Spitzensteuersatz 42 Prozent betragen.
Die größte Steuerreform aller Zeiten
({19})
haben wir durchgeführt. Sie haben sie bekämpft, solange
es ging.
Jetzt haben Sie fröhlich in Ihren Antrag geschrieben,
dass die Steuern viel zu hoch sind und sinken müssen. In
diesem Zusammenhang kommen Sie auf Ihre 12 und
36 Prozent.
({20})
Selbst wenn man zu Ihren Gunsten rechnet, haben Sie
dafür eine Deckungslücke von 10 Milliarden Euro; diese
geben Sie zu. In der Krankenversicherung wollen Sie
eine Kopfprämie einführen. Die selbst erklärte Deckungslücke beträgt dort 20 Milliarden Euro. Ihrem
fröhlichen Wachstums- und Belebungskonzept für die
deutsche Wirtschaft fehlen nüchtern gerechnet also
30 Milliarden Euro.
Daneben schreiben Sie in Ihrem Antrag fröhlich, dass
mehr für Forschung und Bildung ausgegeben werden
muss. Entsprechend der Lissabon-Ziele sollen wir das
3,0-Ziel im Forschungsbereich verwirklichen. Das
würde uns Jahr für Jahr 600 Millionen Euro zusätzlich
kosten. Für das, was Sie hier zusätzlich fordern, haben
Sie keinerlei Finanzdeckung, sondern ein Deckungsdefizit von insgesamt 30 Milliarden Euro. Trotzdem wollen
Sie der staunenden Öffentlichkeit erklären, dass die von
Ihnen präsentierte Milchmädchenrechnung in irgendeiner Weise ein Wachstumskonzept sein soll. Herr
Laumann, ich kann Ihnen nur sagen: Wer so schlecht
rechnet
({21})
und derart auf Desinformation und Chaos wie Sie setzt,
der sollte nicht den Anspruch stellen, die Kompetenz dafür zu haben, die Arbeitslosigkeit in Deutschland ernsthaft bekämpfen zu können.
({22})
Ich komme nun zum Subventionsabbau. Sie schreiben fröhlich - wie es Ihre Art ist -, dass Sie Subventionen abbauen wollen. Es liegen konkrete Vorschläge der
Regierung für den Subventionsabbau auf dem Tisch.
Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung jüngst die Abschaffung der Eigenheimzulage angesprochen. Die dadurch frei werdenden Mittel sollen für
die Bildung in den Gemeinden, Ländern und im Bund
verwendet werden. Dazu habe ich von der CDU/CSU,
die den vorliegenden Antrag gestellt hat, noch kein einziges konstruktives Wort gehört.
({23})
Sie reden von mehr Bildung. Wenn es aber um die Finanzierung geht, dann ducken Sie sich weg. Herr Kauder
geht dann auf die Toilette und schaut, dass er sich verdrückt. So einfach ist das Spiel, das Sie hier veranstalten,
Herr Kauder.
({24})
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie in Deutschland
politisch etwas werden wollen, dann müssen Sie in den
nächsten Jahren Vorschläge für die Finanzierung dessen,
worüber sie reden, machen. Ansonsten bleibt es bloßes
Gerede und nichts anderes.
Herr Laumann, Sie haben einige Vorschläge gemacht,
auf die ich eingehen will.
({25})
Selbstverständlich können wir darüber reden, welche
Anfragen an die Statistischen Bundes- und Landesämter
wirklich notwendig sind. Reden wir dann aber auch ehrlich darüber!
({26})
Sie wissen, dass die Wirtschafts- und die Handwerksverbände von der Bundesregierung und den Landesregierungen sehr viel von dem, was dort abgefragt wird und
was den Mittelständler am Sonntagvormittag tatsächlich
belastet - da haben Sie völlig Recht -, wissen wollen.
Das heißt, man muss sich wirklich an einen Tisch setzen
und Commitments bezüglich dieser Frage einholen.
Dann ist aber auch Schluss damit, dass die Opposition
mit ihren Anträgen jeden Punkt und jedes Komma von
der Regierung erklärt haben will.
Sie kennen doch das Geschäft. Viele Daten, die statistisch erhoben werden, werden deshalb erhoben, weil
Verbände und auch das Parlament insgesamt bzw. die
Opposition diese Zahlen abfragen. Wenn wir die Antwort nicht geben können, wird das hier skandalisiert.
Das ist ein Punkt.
({27})
Auch bei der Arbeitsstättenverordnung können wir jederzeit über die Frage reden, was notwendig ist und was
nicht. Ich selber kenne aus Diskussionen mit Unternehmern eine Reihe von Punkten, die nicht plausibel sind
und die Überregulierung zum Ausdruck bringen.
Wenn Sie den Masterplan von Herrn Clement konstruktiv begleiten würden - Sie machen ihn nur
schlecht -,
({28})
wenn Sie konkrete Vorschläge einbringen oder ein Vieroder Achtaugengespräch darüber führen würden, was
möglich ist und was nicht, dann könnten Sie vieles von
dem erreichen, was Sie angesprochen haben. So weit
sind wir nämlich gar nicht auseinander.
Ich komme zu einem anderen Punkt in Ihrem Antrag,
bei dem man ganz einfach sagen muss: Sie haben ein anderes Konzept der sozialen Marktwirtschaft als wir. In
Ihrem Antrag fordern Sie, dass der Kündigungsschutz
erst bei Betrieben mit 20 Personen gelten und in den ersten vier Jahren der Beschäftigung keine Anwendung finden soll. Da 7 Millionen Menschen in Deutschland Jahr
für Jahr den Job wechseln, bedeutet Ihr Vorschlag praktisch, dass die große Mehrheit der Beschäftigten in
Deutschland nicht mehr unter die Kündigungsschutzgesetzgebung fallen soll. Das halten wir für falsch. Man
muss es ganz klar sagen: Sie wollen für die Mehrzahl der
Beschäftigten in Deutschland keinen Kündigungsschutz.
Wir hingegen wollen ihn für die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland, weil der Schutz vor Kündigung
ein elementares Recht der sozialen Marktwirtschaft ist.
Das ist ein wichtiger Punkt. Da haben Sie sich in Ihrem
Antrag vielleicht verrannt. Darüber sollten Sie meines
Erachtens noch einmal in Ruhe nachdenken.
Ich will zum Abschluss einen anderen wichtigen
Punkt zu Ihrem Vorgehen ansprechen. Sie setzen darauf,
dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe nicht, wie vorgesehen, zum 1. Januar 2005
eingeführt wird. Übrigens wird dieser Vorschlag von der
Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Selbstverwaltung,
die auch Sie wollen, selbst sabotiert. Die Kollegen vom
Wirtschaftsausschuss saßen in Essen mit den entsprechenden Kollegen zusammen und haben darüber diskutiert, was geht und was nicht. Kaum waren sie aus der
Tür, hat der Vertreter der Arbeitgeberverbände, Herr
Clever, öffentlich erklärt, dass der Termin verschoben
werden muss, weil er nicht einzuhalten ist. In der Sitzung aber hat er das Maul nicht aufgemacht, obwohl er
mit am Tisch saß. Daran können Sie sehen, welches
Doppelspiel an dieser Stelle gespielt wird.
({29})
Ich sage Ihnen: Wir werden Ihnen nicht durchgehen
lassen, dass Sie das taktische Oppositionsspiel einer Verelendungsstrategie der Bundesrepublik Deutschland zulasten der Arbeitslosen spielen und dadurch die Arbeitslosen, die hoffen, schnell vermittelt zu werden, an den
Rand drücken. Diese Taktik wird nicht aufgehen. Da
können Sie noch so laut schreien und triumphieren, wie
Sie es gerade getan haben.
Wir werden es in der Auseinandersetzung der nächsten zweieinhalb Jahre schaffen, deutlich zu machen, dass
diese Opposition bislang keinerlei Konzepte vorgelegt
hat, wie wir in Deutschland zu mehr Wachstum und Beschäftigung kommen werden. Vielmehr chaotisieren und
destabilisieren Sie systematisch auf hohem Niveau. Wir
werden das offen legen. Am Schluss werden wir sehen,
wer Recht bekommt.
Ich danke.
({30})
Zwei Kollegen haben eine Kurzintervention angemeldet: der Kollege Niebel und der Kollege Kauder. Herr
Kuhn, Sie können danach auf beide zusammen antworten.
Bitte sehr, Herr Niebel.
Sehr verehrter Herr Kollege Kuhn, Sie können am
Pult noch so sehr schreien, aber das ändert nichts daran,
dass Sie das Haus anzünden und dann rufen: Haltet den
Brandstifter! Nicht die Opposition ist für die schlechte
Situation am Arbeitsmarkt und das Stocken von Reformen verantwortlich, sondern die die Regierung tragenden Fraktionen von Rot und Grün.
({0})
Sie regieren seit fünf Jahren. Auch vorherige Regierungen haben Fehler gemacht. Wer aber fünf Jahre lang das
Steuer in der Hand hat und ständig nur in den Rückspiegel schaut, muss den Wagen gegen die Wand fahren; das
ist ganz klar.
Sie haben die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe angesprochen. Nun waren Sie im Vermittlungsverfahren Ende letzten Jahres nicht dabei. Deswegen wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass wir vereinbart und im Bundestag und im Bundesrat über alle
Fraktionsgrenzen hinweg auch beschlossen haben, den
Kommunen eine faire und gleichberechtigte Optionschance einzuräumen. Das Gesetz aber, das Sie morgen
einbringen werden, hat entgegen dem überfraktionellen
Beschluss des Bundestages und des Bundesrates einen
anderen Zweck.
({1})
Sie werden einen Gesetzentwurf zur Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der in
der Konsequenz zum Chaos in der Bundesagentur für
Arbeit führen wird. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik
und resultiert nicht daraus, dass die Opposition den
Kommunen eine faire Mitwirkungsmöglichkeit geben
wollte.
Sie werden morgen die Organleihe vorschlagen. Das
heißt, dass die kommunalen Träger der Sozialhilfe, die
diese Aufgabe übernehmen, als Organ der Bundesagentur für Arbeit handeln, also auch ihren Weisungen unterliegen. Kein kommunalpolitischer Entscheidungsträger
mit einem bisschen Hirn im Kopf wird so etwas tun.
({2})
Sie wissen aus der Medizin, dass Organleihe nicht funktionieren kann. Das ist bei der Bundesagentur für Arbeit
genauso.
Das Ergebnis wird sein: Wenn wir hinterher kein Optionsgesetz haben werden, weil es keines gibt, dem der
Bundesrat zustimmt, wird das SGB II, das wir Ende letzten Jahres beschlossen haben, gelten. Nach dem SGB II
liegt die grundsätzliche Zuständigkeit bei der Bundesagentur für Arbeit. Es können Arbeitsgemeinschaften
gebildet werden. Jetzt lernt man im Grundstudium eines
Verwaltungsstudiums, dass man zuerst die Zuständigkeit
prüfen muss. Wenn die Kommunen vor dem Hintergrund
ihrer kommunalen Haushalte sehen, welche Aufgaben
sie auszuführen haben und welche nicht, dann werden
sie nach Prüfung der Zuständigkeit feststellen, dass die
Bundesagentur für Arbeit zuständig ist. Dann hat diese
große Behörde mit ihren über 4,6 Millionen Arbeitslosen, mit denen sie nicht fertig wird, auch noch die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger und deren Familien
zu versorgen. Die Kompetenzen dafür hat sie nicht erworben, weil sie sie nie gebraucht hat.
Dann werden Sie alles vergessen können, was Sie jemals über Dosenpfand und Maut gehört haben. Wir werden am 1. Januar 2005 aufgrund Ihrer schlechten Politik
- nicht aufgrund der Politik der Opposition - eine „Dosenmaut“ in den sozialen Sicherungssystemen erleben
und die existenzielle Grundlage von Millionen von Menschen wird dadurch gefährdet werden.
({3})
Herr Kollege Kauder.
Herr Kollege Kuhn, Sie haben vorhin behauptet, dass
wir uns aus dem Programm der Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verabschiedet hätten.
Entweder Sie wissen es nicht, weil Sie nicht Mitglied im
Vermittlungsausschuss sind, oder Sie sagen bewusst die
Unwahrheit. Wir haben von Anfang an beantragt, dass
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem Hilfesystem
zusammengelegt werden. Wir haben im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf, das EGG, vorgelegt.
Es ist auch wahrheitswidrig, wenn behauptet wird, wir
hätten nachträglich eine Grundgesetzänderung geforVolker Kauder
dert. Wenn Sie den Gesetzentwurf gelesen hätten, dann
wüssten Sie, dass wir schon damals die Grundgesetzänderung gefordert haben, und zwar weil wir wollten, dass
sich die Kommunen darauf verlassen können, dass das
Geld bei ihnen ankommt.
Das, was in dieser Woche geschehen ist, wird Konsequenzen haben. Zum dritten Mal hintereinander hat die
Regierungskoalition bzw. die Bundesregierung das nicht
eingehalten, was sie im Vermittlungsausschuss versprochen hat.
({0})
Das ist der entscheidende Punkt.
({1})
Ich nenne Ihnen die Punkte.
Erstens. Es ist uns versprochen worden, dass die Einnahmen, die aus der Maut kommen sollen - bis jetzt
sind sie nicht da -, zusätzlich für Verkehrsinvestitionen
im Haushalt zur Verfügung gestellt werden sollen und
dass die Einnahmen nicht mit den Haushaltsmitteln verrechnet werden sollen. Das steht im Gesetz. Prompt hat
die Bundesregierung den Haushalt so zurückgefahren,
dass jetzt überhaupt keine Investitionen mehr im Verkehrssektor stattfinden können. Das geschieht in einer
Situation, in der Wachstum notwendig wäre.
Zweitens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie
sich an das hält, was im Vermittlungsausschluss zum so
genannten Koch/Steinbrück-Subventionsabbau beschlossen worden ist. Schauen Sie sich einmal an, was
im Haushaltsplan passiert ist. Es werden Dinge gemacht,
die mit den Koch/Steinbrück-Beschlüssen nicht zu vereinbaren sind.
Drittens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie
ein Optionsgesetz als Zustimmungsgesetz vorlegen
wird, das genau das erfüllt, was wir verabredet haben,
nämlich die Kommunen als Träger der Maßnahmen nach
Hartz IV zu bestimmen. Jetzt aber sollen die Kommunen
Lakaien der Bundesagentur für Arbeit werden.
({2})
Sie haben dreimal hintereinander nicht gehalten, was
Sie versprochen haben. Deswegen werden wir im Vermittlungsausschuss mit Ihnen nur noch Gesetze vereinbaren können, die bis auf Punkt und Komma ausformuliert sind, keine Protokollerklärungen mehr und keine
Absichtserklärungen. Auf diese Regierungskoalition ist
kein Verlass.
Jetzt muss ich Ihnen sagen:
Nein, Herr Kollege Kauder. Sie hatten drei Minuten.
- Bei der Maut, die gescheitert ist, ging es um Lastwagen.
Herr Kollege Kauder!
Hier aber geht es um 4 Millionen Menschen, die Sie
mit dem Optionsgesetz hin- und herschieben.
({0})
Bitte, Herr Kuhn.
Herr Kollege Kauder, so wie Sie aussehen, sind Sie
Mitglied des Ältestenrates.
({0})
Das heißt, Sie könnten doch Redezeit beantragen. Insofern kann man leicht Abhilfe schaffen.
({1})
- Ganz ruhig!
({2})
- Herr Kollege, auch für Ihr Leiden gibt es eine Problemlösung, und zwar in der Apotheke; da gibt es nämlich Beruhigungszäpfchen.
({3})
- Die Argumente kommen noch. - Herr Kauder, im Vermittlungsausschuss ist nicht verabredet worden - weder
protokollarisch noch mündlich -,
({4})
dass das Optionsmodell mithilfe einer Verfassungsänderung umgesetzt werden soll. Ich habe mich nach dem
Grund dafür erkundigt. Es hat einen systematischen
Grund: Die Unionsländer hätten dem niemals zugestimmt.
({5})
Deshalb hat man zugunsten eines Optionsmodells argumentiert und hat dessen konkrete Ausgestaltung im Unklaren gelassen.
Lassen Sie mich eine konstruktive Bemerkung machen. Bei einer nüchternen Betrachtung - statt sich zu
ereifern - wird man feststellen, dass die Arbeitsverwaltung bestimmte Kompetenzen hat, über die die Gemeinden nicht verfügen, und dass die Gemeinden bestimmte
Kompetenzen haben, über die die Bundesagentur für Arbeit nicht verfügt. Wenn Sie im Interesse der Arbeitslosen eine wirklich konstruktive Lösung wollen ({6})
- ja, die Gemeinden und die Landkreise -,
({7})
- dann wird man ein Modell finden,
({8})
das die Fähigkeiten der einen Seite mit denen der anderen Seite zusammenbringt.
Herr Laumann, wenn Sie sich konstruktiv auf den
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung einlassen würden und über die Frage diskutieren würden,
wie die Selbstständigkeit der Gemeinden
({9})
- der Kreise - in diesem Prozess gestärkt werden kann,
dann würden wir eine Lösung finden, die dies in der Praxis ermöglichen würde.
Was uns nicht gefällt, ist, dass Sie eine Länder-Lösung vorschlagen,
({10})
von der wir wissen, dass sie nicht funktioniert. Ich muss
den Kollegen, die sich so ereifern, noch einmal erklären,
dass das eine Verfassungsänderung erfordern würde, die
- Kochs Vorstellungen entsprechend - dazu führen
würde, dass der Bund den Ländern Mittel zuweist, die
diese an die Gemeinden weitergeben sollen.
({11})
Wer sich einigermaßen in der Landespolitik auskennt
und weiß, wie beim kommunalen Finanzausgleich in allen Bundesländern mit den Gemeinden Schindluder getrieben wird, der weiß auch, dass die Gemeinden diese
Lösung nicht wollen können. Das ist ganz einfach.
({12})
Wenn Sie konstruktiv an die Fragen herangehen würden,
dann würden Sie auch eine Lösung herbeiführen. Aber
das wollen Sie nicht.
({13})
In einem gebe ich Ihnen Recht, Herr Kauder. Es ist
notwendig, bestimmte Punkte konkreter zu vereinbaren,
als es in den langen Sitzungen des Vermittlungsausschusses bis in den späten Abend hinein geschieht. Damit haben Sie völlig Recht. Das Vermittlungsausschussverfahren - alle stehen ja auf diese Highnoon-Situation führt dazu, dass am Schluss - Hauptsache schnell - Vorschläge in den Raum gestellt werden, deren rechtliche
und praktische Konsequenzen nicht im Einzelnen durchbuchstabiert worden sind.
({14})
- Herr Kollege, machen Sie jetzt nicht den Pöbel! Dafür
gibt es Fußball- oder Eishockeystadien. Das müssen Sie
doch nicht im Bundestag machen.
({15})
Irgendwie kommen Sie mir vor, als hätten Sie noch
Restalkohol im Blut, so wie Sie sich hier aufpunken.
Damit bin ich am Schluss. Ich danke Ihnen.
({16})
Wir brauchen zwar lebhafte Debatten - auch in der
Kernzeit -, aber ich bitte alle, sich etwas zu mäßigen,
und zwar wirklich in jeder Richtung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes
Singhammer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kuhn, angesichts der mehr als
4,5 Millionen Arbeitslosen, die Sie zu verantworten haben,
({0})
kann ich verstehen, dass das schmerzt.
({1})
Deshalb kann ich auch verstehen, warum Sie hier so laut
schreien müssen.
({2})
Die Lage ist aber ernst. Rot-Grün hat - das ist der Grund
für die heutige Debatte - Deutschland und die Menschen
in unserem Land in eine tiefe Depression gestürzt. Wir
wollen zeigen, wie man aus dieser Krise wieder herauskommt.
({3})
Vom Beginn bis zum Ende dieser knapp eineinhalbstündigen Debatte werden 70 Menschen in Deutschland
ihren Arbeitsplatz verloren haben. Das bedeutet, dass es
im Monat 25 000 und in diesem Jahr wohl erneut
300 000 Menschen sein werden, die ihren Arbeitsplatz
verlieren. Deutschland hat einen gefährlichen Spitzenplatz erklommen, nämlich den eines Exportweltmeisters
bei den Arbeitsplätzen. Mit über 40 000 Firmenpleiten
im vergangenen Jahr ist ein neuer Negativrekord erreicht
worden.
Die von Ihnen als Heilsbringer angekündigten HartzKonzepte haben nichts bewirkt. Die Beschäftigungslosigkeit - hier sind nicht nur die 4,5 Millionen Arbeitslose zu berücksichtigen - ist auf deutlich über 6,5 Millionen Menschen angewachsen. Deshalb können Sie
nicht von einem Erfolg sprechen, den Sie eingeleitet haben. Im Gegenteil: Das ist ein Misserfolg.
({4})
Immer mehr Menschen in unserem Land sehen mit
Sorge und Düsternis in die Zukunft. Das ist auch der
Grund, warum nicht mehr konsumiert wird, warum beispielsweise auch beim PKW-Absatz in diesem Frühjahr
- das ist normalerweise eine Zeit, in der er in die Höhe
geht - kaum Belebung feststellbar ist. Um zu verdeutlichen, dass nicht nur wir, sondern auch gerade die Wähler, die Sie gewählt haben, insbesondere die Wähler der
SPD, das so sehen und dass sie sich massiv getäuscht
fühlen, möchte ich Ihnen ein Zitat von Herrn Klaus
Ernst, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Schweinfurt und Mitbegründer der regierungskritischen „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, vorlesen:
Wir haben links geblinkt und sind rechts abgebogen
und jetzt sind wir irgendwie auf der Geisterbahn.
({5})
Ich stelle ohne jegliche Häme fest: Wut und Enttäuschung über die Wirtschaftspolitik der Regierung bedrohen das Vertrauen und das Zutrauen in das gesamte politische System. Die rot-grüne Wirtschaftskrise ist bereits
in eine höchst gefährliche System- und Demokratiekrise ausgefranst. Man hört immer öfter den Satz: Die in
der Politik sind doch alle gleich! - Diese Anklage, die
zunächst an die Regierung gerichtet ist, kann uns als Opposition natürlich nicht gleichgültig lassen; denn das
Vertrauen in die politische Klasse ist derzeit nicht nur einem Schwelbrand ausgesetzt; vielmehr brennt es lichterloh.
({6})
Was ist zu tun? Die Aufgabe der politisch Verantwortlichen ist, zuerst den Menschen in unserem Land reinen
Wein einzuschenken und ihnen die ungeschminkte
Wahrheit über den bedrohlichen Substanzverlust zu sagen, dem unser Land seit vielen Jahren ausgesetzt ist.
Wir könnten es uns als Opposition leicht machen und
Pralinen und andere Süßigkeiten verteilen. Aber wir sagen: Bittere Arznei ist leider notwendig - das entspricht
der Wahrheit -, um auf den Wachstumspfad zurückzukehren.
({7})
Wir als Opposition versprechen - das haben wir in unserem Antrag exakt aufgelistet - nicht nur Wohltaten, sondern wir sagen auch, dass Anstrengungen und Schweiß
notwendig sind. Wir versprechen - um ganz konkret zu
werden - nicht ständig kürzere Arbeitszeiten und mehr
Freizeit, sondern wir sagen: Die Arbeitsplätze in
Deutschland können nur dann dauerhaft gesichert werden, wenn es in unserem Land auch wieder längere
Arbeitszeiten gibt.
({8})
Nun wird das von Ihnen auf das Heftigste kritisiert.
Aber auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass allein
aufgrund der von den Arbeitnehmern als ungünstig empfundenen diesjährigen Feiertagsregelung - im Vergleich zum Vorjahr fallen in diesem Jahr vier Feiertage
weniger auf einen Werktag - ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent prognostiziert wird.
Darauf geht im Übrigen der größte Teil des Wirtschaftswachstums zurück, das Sie sich auf die Fahne geschrieben haben. Bei nur einer Stunde Mehrarbeit pro Woche
könnte die deutsche Wirtschaft einen Wertzuwachs von
50 Milliarden Euro verzeichnen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze wäre entsprechend größer.
Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung. Die
Menschen in unserem Land spüren das. Ich möchte die
Jahresarbeitsstunden in einigen anderen Ländern ansprechen. Die Anzahl der Jahresarbeitsstunden in den
Vereinigten Staaten ist um 350 höher als in Deutschland - und die Amerikaner arbeiten auch nicht schlecht.
In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, also in vier
Wochen, findet die EU-Osterweiterung statt. Damit
kommt ein weiteres Stück Globalisierung direkt vor unsere Haustür. Ein Vergleich: Die jährliche Arbeitszeit
liegt in Deutschland bei 1 444 Stunden, in Belgien bei
1 559 Stunden, in Spanien bei 1 807 Stunden und in
Tschechien bei 1 980 Stunden. Die Wochenarbeitszeit
liegt in Deutschland bei 39,9 Stunden, in Tschechien bei
42,4 Stunden, in Ungarn bei 42,9 Stunden und in Polen
bei 45,2 Stunden.
Hinzu kommt eine wesentlich niedrigere Unternehmensbesteuerung in diesen Ländern. In Deutschland
liegt sie nominal bei 38,7 Prozent, in Polen und in der
Slowakei bei 19 Prozent, in Litauen und in Zypern bei
nur 15 Prozent. Machen wir uns doch nichts vor! Wir
wissen, was das bedeutet. Auf der anderen Seite wollen
wir doch nicht das Lohnniveau der Beitrittsstaaten erreichen. In Tschechien liegt es bei knapp über 3 Euro,
während es bei uns im Schnitt bei annähernd 30 Euro
liegt. Wir können die Verlagerung der Arbeitsplätze in
andere Länder nur durch flexible Arbeitszeiten verhindern.
Der Bundeskanzler hat auf die patriotische Pflicht der
Unternehmen hingewiesen. Dazu sage ich: Diese Bundesregierung hat die patriotische Pflicht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die gewährleisten, dass die Unternehmen bei uns bleiben.
({9})
Dazu gehört, dass wir einen nationalen Solidarpakt
für längere Arbeitszeiten und für Beschäftigungsgarantien vereinbaren. Dem werden auf der lokalen Ebene die
- von uns verlangten - betrieblichen Bündnisse gerecht. Diese betrieblichen Bündnisse sind vielfach Praxis. Sie haben sich bewährt. Es gibt eine Vielzahl von
großen Firmen, die diese Bündnisse erfolgreich praktiziert haben, beispielsweise die Firmen Siemens und
Deutsche Post AG.
Wir wollen, dass der gesetzliche Spielraum erweitert
wird. Der Bundeskanzler hat vor drei Monaten im Anschluss an das Bemühen des Vermittlungsausschusses,
Deutschland gemeinsam fit zu machen, angekündigt, die
Möglichkeiten zu erweitern. Seither ist nichts geschehen. Wir befürchten, dass auch in den nächsten Monaten
aufgrund der Schwäche dieser Regierung nichts passiert.
Das ist das Allerschlimmste für unser Land. Abwarten,
Attentismus, Verdrängen, Nichtstun, das braucht
Deutschland nicht. Wir brauchen vielmehr neuen
Schwung. Die deutschen Arbeitnehmer und die deutschen Unternehmer sind nicht schlechter geworden; allerdings haben sich die Rahmenbedingungen verschlechtert. Deshalb müssen wir an dieser Stelle ansetzen.
({10})
Herr Kollege Singhammer, Sehen Sie, dass Ihre Redezeit zu Ende ist?
Ja.
Es gibt eine merkwürdige Gemeinsamkeit zwischen
der Bundesregierung, insbesondere dem Wirtschaftsminister, und der Konjunktur: Beide schwächeln. Wir
brauchen wieder eine starke Konjunktur und eine starke
Regierung. Dazu muss es eine neue Regierung geben.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Kramme.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die CDU/CSU hat in diesem Antrag eine einfache Gleichung aufgestellt: Arbeitnehmer - plus Arbeitsrecht gleich schlechte Konjunktur. Aber: Anders als
für den Satz des Pythagoras - a2 + b2 = c2 - gibt es für
diese Formel keinerlei wissenschaftlichen Nachweis.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine aktuelle Untersuchung verweisen, nämlich vom IAB vom
12. Dezember 2003. Darin heißt es: Empirische Untersuchungen zu den Arbeitsmarktwirkungen des Kündigungsschutzes zeigen ein differenziertes Bild. So gibt es
kaum Hinweise, dass die Regelungsdichte auf das Niveau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Einfluss
hat.
({0})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben für Ihren Antrag einen hübschen Titel gewählt, nämlich „Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik“. Nur, mit dem Stellen von Weichen hat das
lediglich in einer bestimmten Richtung zu tun. Ihr Zug
landet auf dem Abstellgleis. Sie wollen Marktwirtschaft
pur. „Sozial“ wird bei Ihnen klitzeklein geschrieben.
Zwar wurden einige Ihrer Positionen durch den Bundesvorstand in letzter Sekunde noch abgeschwächt, weil die
Ministerpräsidenten vor dem Hintergrund der Wahlen
des Jahres 2004 schlichtweg kalte Füße bekommen haben.
({1})
Aber eines ist klar: Die Union tritt für drei Sachen ein:
Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten, Abbau des
Kündigungsschutzes, Kampf gegen die Tarifautonomie
und damit Kampf gegen die Gewerkschaften. Dass Sie
ein Wolf im Schafspelz sind, kann man Ihnen wahrlich
nicht vorwerfen.
({2})
Auch beim Minimalkonsens in Sachen Steuern ist
klar, wer die Zeche zahlt: Weshalb fällt die Absenkung
des Spitzensteuersatzes doppelt so hoch aus wie die Absenkung des Eingangsteuersatzes? Weshalb wird zur Gegenfinanzierung die Steuerfreiheit für Nacht-, Schicht-,
Sonn- und Feiertagszuschläge angegriffen? Weshalb soll
der Sparerfreibetrag abgeschafft werden? Fazit: Wer hat,
dem wird bei Ihnen gegeben.
({3})
Sie versuchen, mit Ihrem Antrag eine Bilanz des
Hartz-Konzepts zu ziehen. Aber Ihr Versuch, Bilanz zu
ziehen, ist wissenschaftlich unseriös und destruktiv.
({4})
Sie sind die Letzten, die es sich erlauben dürfen, mit
dem Finger auf andere zu zeigen. Sie sind nach wie vor
der Rekordhalter, was die Arbeitslosigkeit angeht. „Miesepeter“ sagt man da.
({5})
Ich will meinerseits Bilanz ziehen, und zwar beispielsweise betreffend die Ich-AG. Die Daten, die da zu
nennen sind, sind positiv. Jede zweite Existenzgründung
erfolgt mittlerweile aus der Arbeitslosigkeit heraus.
({6})
100 000 Ich-AGs gibt es mittlerweile. 157 000 Anträge
zum Überbrückungsgeld sind im Jahr 2003 gestellt worden. Die Zahl der Förderanträge hat sich verdoppelt. Insgesamt ist noch zu beobachten, dass es beim Überbrückungsgeld eine 27-prozentige Zunahme gegeben hat.
Wir sind da also positiv gestimmt. Wir rechnen damit,
dass binnen zwei Jahren jeder dieser Existenzgründer einen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen haben wird.
({7})
Das ist das, was uns wissenschaftliche Institute sagen.
({8})
Zur Bilanz betreffend die Personal-Service-Agenturen: Erst Mitte des Jahres 2003 war die flächendeckende
Einführung. Im Februar 2004 hat es 993 Personal-Service-Agenturen gegeben mit 44 000 Plätzen, einer Besetzungsquote von 74,4 Prozent und 32 700 Teilnehmern.
({9})
Ohne weiteres gilt: Wir haben uns für 2003 mehr davon versprochen. Aber auch dazu gibt es eine Untersuchung. In einer Veröffentlichung des IAB vom 15. Januar 2004 heißt es: „Um diese PSAen einer fundierten
Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
Aber sicher doch.
Herr Niebel, Sie haben in dieser Debatte, glaube ich,
zwei Zwischenfragen gestellt und eine Kurzintervention
gemacht. Das ist jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich
Ihnen in dieser Debatte erlaube.
Der Stoff für Fragen, Frau Präsidentin, ist unerschöpflich.
Frau Kollegin Kramme, können Sie mir die Zahl bestätigen, die dem Wirtschaftsausschuss vorgelegt wurde,
dass durch die Personal-Service-Agenturen zum damaligen Zeitpunkt - das muss Mitte letzten Monats gewesen
sein; da haben wir das diskutiert - insgesamt 6 357 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt worden sind? Bestätigen Sie
mir dann, wenn Sie mir diese Zahl bestätigen können,
auch, dass bei 250 Millionen Euro, die im Haushalt für
die Ich-AGs vorgesehen sind, pro Arbeitnehmer rein
rechnerisch gut 35 000 Euro eingesetzt worden sind, was
eine Dimension ähnlich wie bei der Steinkohlesubvention wäre?
Herr Niebel, wenn ich Zahlen auswendig repetiere,
dann lüge ich immer.
({0})
Fragen Sie mich von daher nicht nach Zahlen, die irgendwann in einer Ausschusssitzung genannt worden
sind. Ich kann Ihnen nur die Zahl nennen, die ich mir aktuell aus dem Wirtschaftsministerium habe geben lassen.
Danach haben 7 700 Arbeitnehmer mittlerweile in Personal-Service-Agenturen gewechselt. Das ist Punkt eins.
({1})
Punkt zwei. Sie haben offensichtlich Herrn Kuhn
nicht zugehört.
({2})
- Nein, das haben Sie offensichtlich nicht. - Wie Sie
wissen, ist die Leiharbeit sehr wohl konjunkturabhängig. Mit dem Anspringen der Konjunktur wird es selbstverständlich auch dazu kommen, dass wir in stärkerem
Maße von dem Klebeeffekt profitieren werden. Noch
einmal das IAB zitiert: „Um diese PSAen einer fundierten Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“ Das
sollten Sie akzeptieren.
({3})
Die Zahl der Arbeitslosen ist zweifellos viel zu hoch,
aber Ihre Instrumente, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, weisen schlichtweg in die falsche Richtung.
Erster Punkt: betriebliche Bündnisse. Was Sie wollen,
ist klar und deutlich: Sie wollen Tarifverträge zu unverbindlichen Meinungsäußerungen erklären.
({4})
- Das geht auch ganz leise.
({5})
- Aber umso eindringlicher, damit Sie auch zuhören. Außerdem wollen Sie das Erpressungspotenzial vor Ort
nutzen.
({6})
Sie wollen, dass Arbeitgeber erklären können: Wenn der
Betriebsrat und die Belegschaft nicht zustimmen, dann
gibt es Kündigungen. - Dann ist niemand da, der verifiziert.
({7})
Es geht darum, eine unabhängige Instanz zu haben. Das
sind die Gewerkschaften. Wenn Sie ehrlich wären, dann
würden Sie auf das Instrument der Sanierungstarifverträge verweisen.
({8})
- Ich bin Fachanwältin für Arbeitsrecht. Mein Hauptgeschäft in der Kanzlei ist, Interessenausgleiche herzustellen und Sozialpläne zu machen, was beinhaltet, dass ich
ständig mit Betrieben zu tun habe, die sich in der Situation der Insolvenz befinden oder kurz davor sind. Ich
weiß also sehr wohl, was es heißt, auf individuelle Situationen einzugehen.
({9})
- Nein, ich rede nicht wider besseres Wissen. Ich habe
bereits unzählige Sanierungstarifverträge abgeschlossen
und ich weiß, dass die Gewerkschaften in solch einer Situation fast alles zugestehen.
({10})
Zweiter Punkt: Kündigungsschutzgesetz. Wir haben
mit dem Entwurf, der durch den Vermittlungsausschuss
gegangen ist, beschlossen, dass es 2007 eine Evaluierung geben wird. Aber offensichtlich wollen Sie diese
Evaluierung gar nicht, obwohl Sie wissen müssten, dass
der Abbau des Kündigungsschutzes überhaupt nichts
bringen wird. Sie wollen, dass 90 Prozent der Betriebe
aus dem Kündigungsschutz herausgenommen werden
und dass 28 Prozent der Arbeitnehmer keinerlei Kündigungsschutz mehr haben. Sie betreiben eine Politik der
Angst in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich sage Ihnen eines: Das, was Sie wollen, wird niemals Gesetz werden, denn das Bundesverfassungsgericht würde dem schlichtweg einen Riegel vorschieben.
Anknüpfungspunkte zum Betriebsinhaber gibt es dabei
nämlich keine mehr. Sie wollen ermöglichen, dass bis zu
80 Arbeitnehmer in einem Betrieb ohne Kündigungsschutz arbeiten. Das hat mit dem Betriebsinhaber nichts
mehr zu tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, den wirtschaftlichen Wandel können wir nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern nur mit ihnen gestalten.
({11})
Die Zukunftschancen Deutschlands liegen vor allem in
hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Dafür brauchen wir
motivierte und sozial abgesicherte Arbeitnehmer. Mit
Ihrem Entwurf werden wir das nicht erreichen.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann
Kues.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte gerne auf eine Situation zurückkommen, die
wir eben erlebt haben, als der Kollege Kuhn hier vorne
am Rednerpult stand. Ich kann verstehen, dass man sich
in einer hitzigen Debatte kräftig ausdrückt und auch einmal emotional reagiert. Wenn man aber auf das Aussehen von Herrn Kauder abhebt und eine Verbindung zum
Ältestenrat herstellt und wenn man dem Kollegen
Grindel mit dem Hinweis „Pöbel“ antwortet, dann muss
ich schon sagen, dass das ein ganz mieser Stil ist, den Sie
hier an den Tag legen.
({0})
Sie sollten sich dafür entschuldigen. Da Sie aber ganz
offenkundig auf einem sehr hohen Ross sitzen, werden
wir das von Ihnen nicht erwarten. Ich finde es schäbig,
wie Sie sich hier präsentieren. Sie sollten sich dafür
schämen.
({1})
Ich gebe zu, dass es sehr schwierig ist, die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung schönzureden. Der
erste Satz in unserem Antrag trifft zu:
Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Linie gescheitert.
Es ist eher unwichtig, was wir im Plenum über Ihre Politik denken. Es ist viel wichtiger, was die Menschen draußen im Lande von Ihrer Politik halten. Sie sehen, dass
die Personal-Service-Agenturen teilweise Pleite gehen
bzw. dass Agenturen Aufträge erhalten haben, die sich in
der betreffenden Region überhaupt nicht auskennen. Der
Erfolg auf dem Gebiet der Zeitarbeit hängt natürlich von
der konjunkturellen Situation ab, er wird aber auch dadurch beeinflusst, wie Sie die Sache angehen.
Ihr Kernproblem ist - das hat sich auch daran gezeigt,
wie Sie mit dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses
umgehen -: Sie trauen den Menschen nicht über den
Weg. Sie trauen auch den Kommunen nicht über den
Weg.
({2})
Letztendlich trauen Sie den Betriebsräten ebenfalls nicht
über den Weg.
Bei uns gibt es eine eher unterentwickelte Veränderungsbereitschaft; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Das hat etwas mit der Mentalität in Deutschland zu
tun. Viele meinen nämlich, das Heil würde angesichts
der zahlreichen Herausforderungen insbesondere vom
Staat abhängen. Dieses Hoffen auf eine zentrale Macht,
wie sie der Staat repräsentiert, ist ein großer Irrglaube,
dem Sie nach wie vor unterliegen.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Brandner?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Kues, Sie haben gerade festgestellt, dass
die SPD-Fraktion den Betriebsräten nicht über den Weg
traut. Wie erklären Sie sich dann, dass in Ihrem Antrag
gefordert wird, dass die Rechte der Betriebsräte deutlich eingeschränkt werden, dass die Anzahl der Betriebsräte deutlich minimiert wird und dass die Freistellungsmöglichkeiten begrenzt werden? Damit wollen Sie den
Handlungsspielraum der Betriebsräte ganz erheblich einengen. Meine Frage lautet: Wie erklären Sie sich diesen
Widerspruch?
Weiterhin haben Sie festgestellt, wir würden den Gemeinden nicht über den Weg trauen. Wie erklären Sie
dann, dass Sie den hessischen Gesetzentwurf unterstützen, den Sie in der Arbeitsgruppe, die sich mit der Arbeitslosen- und Sozialhilfe beschäftigt, vorgelegt haben
und nach dem nicht der Bund, sondern das Land für die
Weiterleitung der Mittel an die Kommunen für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher zuständig sein soll? Wie verträgt sich dieses Vertrauen in die Länder - Sie wollen
das Land statt den Bund als Zuständigkeitsträger einsetzen - mit dem, was Sie gerade vorgetragen haben?
Zu Ihrer ersten Frage. Herr Kollege Brandner, ich
gehe davon aus, dass Sie hin und wieder in die Betriebe
gehen. Wenn Sie dort einmal nachfragen, wie viele Betriebsräte freigestellt werden, dann können Sie feststellen - das berichten Betriebsräte und Arbeitnehmer -,
dass teilweise keine Mitarbeiter gefunden werden, die
diese Aufgabe übernehmen. Sie wollen nämlich nicht
freigestellt werden, sondern sie wollen in ihrer eigentlichen Funktion verbleiben und parallel Betriebsratsfunktionen wahrnehmen. Wir wollen, dass das Betriebsverfassungsgesetz effektiv gestaltet wird und dass es
tatsächlich den Interessen der Betriebsräte entspricht.
Zu Ihrer zweiten Frage, was die Länder und die Kommunen angeht. Wir sind uns mit dem Landkreistag völlig
einig gewesen; auch er ist gegen diese Lösung. Sie wissen das ganz genau; denn Sie kommen ebenfalls aus einer ländlichen Region. Ich vermute sogar, dass Sie hier
eine Position vertreten, von der Sie gar nicht überzeugt
sind. Sie wissen ebenfalls ganz genau, dass die Kommunen vor Ort - es sind die Landkreise, nicht die Gemeinden; Herr Kuhn hat sich mit diesem Thema anscheinend
nicht so intensiv beschäftigt - große Erfahrungen auf
diesem Gebiet haben und dass sie ihre Ideen, die sie in
den vergangenen Jahren entwickelt haben, einbringen
würden, wenn es vernünftige Rahmenbedingungen gäbe.
Sie sind also sehr wohl dafür, dass die Landkreise entsprechende Zuständigkeiten erhalten.
({0})
Ich möchte etwas zu der Mentalität sagen, den Menschen zu wenig zuzutrauen. Diese zieht sich wie ein
roter Faden - das kann man auf andere Gebiete übertragen - durch Ihre Lösungsansätze; denn Ihre Lösungsansätze sind von Zentralismus statt kommunaler Selbstverwaltung, von Bürokratie statt Flexibilität und von
Ineffizienz statt Wirksamkeit geprägt.
({1})
Herr Kollege Kuhn, ich hoffe ja, dass die Leute Ihrer
Rede nicht so genau zugehört haben. Aber ich hoffe,
dass sie einen Satz gehört haben. Sie haben eben gesagt,
die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik fange erst an.
({2})
Eine schlimmere Drohung gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Unternehmern in
Deutschland können Sie nicht aussprechen.
({3})
Das Ergebnis, das wir jetzt vorliegen haben, ist
schlimm genug; Kollege Laumann hat die entsprechenden Zahlen genannt. Herr Hartz hat damals davon
gesprochen - auch er dachte in den Kategorien eines
Vertreters eines Großunternehmens mit Mitbestimmung;
denn er nahm an, die gesamte Volkswirtschaft werde
so -, man könne die Arbeitslosenzahl halbieren. Das Ergebnis kennen Sie: Das Projekt der PSA ist völlig gescheitert. Die Minijobs sind nicht gescheitert; das ist völlig richtig. Aber hinsichtlich der Reform Hartz III
betreffend die Bundesagentur für Arbeit sollten wir erst
einmal abwarten. Was wir bislang gehört haben, ist - das
sage ich ausdrücklich - eher besorgniserregend. Auch
Hartz IV ist faktisch gescheitert, weil Sie ein richtiges
Instrument, die Zusammenfassung von Arbeitslosenund Sozialhilfe, wieder einmal zentralisieren, bürokratisieren und inflexibel angehen. Vermutlich wird das zu
Beginn des nächsten Jahres zu einer Katastrophe führen.
({4})
Sie regieren schon etwas länger. Sie hätten es ganz
leicht gehabt - das ist heute schon einmal angesprochen
worden -: Mitte und Ende der 90er-Jahre gab es in den
Kommunen erfolgreiche Modellversuche, die wir damals angeschoben und auf den Weg gebracht haben. Die
Kommunen haben dabei glänzende Erfahrungen gesammelt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner Region, aus
dem Emsland, nennen. Ich habe einen Jahresbericht der
ESBA aus dem Jahre 1999 vorliegen. Er ist damals sogar
vom Bundesrechnungshof geprüft worden. Aus einem
Pool von 750 Personen sind 605 Langzeitarbeitslose in
den ersten Arbeitsmarkt integriert worden, davon 416
- das alles wurde vom Rechnungshof überprüft - auf
Dauer. Jetzt kommt es: Staatliche Leistungen von mehr
als 3 Millionen DM konnten eingespart werden. Das
heißt, mit einer klugen, dezentralen Arbeitsmarktpolitik,
bei der Sie die Menschen einbinden und ihnen nicht nur
Geld geben - es ist typisch Wohlfahrtsstaat, dass man
den Menschen Geld gibt und sich nicht um sie kümmert -, können Sie etwas für die Menschen tun und sogar noch Geld sparen. Um diese Lösungen geht es uns.
({5})
Ich sage Ihnen auch, was die Kommunen jetzt tun
werden. Ich habe mich nach dem, was gestern und vorgestern hier abgelaufen ist, ein bisschen erkundigt. Mir
wurde gesagt, die Tendenz gehe zur Variante „gesetzliche Mindestleistung“. Man tut das, was man gesetzlich in jedem Fall tun muss. Darüber hinaus steht man
den in Aussicht genommenen Arbeitsgemeinschaften
skeptisch gegenüber, weil man natürlich gesehen hat,
wie auf einer ganz anderen Ebene mit Ergebnissen des
Vermittlungsausschusses umgegangen wird. So entsteht
kein Vertrauen.
({6})
Sie brauchen ein Minimum an Vertrauen zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, wenn Sie etwas
wirksam für die Arbeitslosen erzielen wollen.
({7})
- Die kommunalen Spitzenverbände sind gelegentlich
sehr bunt; das weiß ich wohl, Herr Brandner.
({8})
Es ist gut, wenn man sich gelegentlich von außen betrachtet. Es gibt eine Studie der EU-Kommission, die
die Beschäftigungsentwicklung in den Mitgliedsländern
unter die Lupe genommen hat. Der Zusammenhang zwischen Produktivität, Lohnstruktur und Beschäftigungsdynamik wurde analysiert. Daraus ergeben sich für uns
in Deutschland wichtige Schlussfolgerungen. Jetzt wird
gesagt, das schlechte Abschneiden Deutschlands im
Hinblick auf den Arbeitsplatzabbau, der 2003 per saldo
400 000 betrug, liege an dem Tempo wirtschaftlicher
Reformen. Es wird ehrlicherweise auch gesagt, dass das
etwas mit den Folgelasten der deutschen Teilung zu tun
habe.
In diesem europäischen Vergleich kommen aber zwei
weitere Faktoren ans Licht. Der eine Faktor betrifft den
Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsproduktivität. In der Studie heißt es dazu: Arbeitslosigkeit entsteht in der Regel dort, wo die Produktivitätsentwicklung hinter der Lohnentwicklung zurückbleibt. Eine
weitere Ursache dafür, dass die Beschäftigungsdynamik
in Deutschland hinter der europäischen zurückbleibt, ist
die spezielle Situation niedrig qualifizierter Erwerbspersonen. Man kommt zu dem Ergebnis, dass niedrig qualifizierte Erwerbspersonen in Deutschland im Grunde
genommen nur auf dem so genannten zweiten Arbeitsmarkt eine Chance haben.
Dabei gibt es Unterschiede. In den Niederlanden, in
Finnland und in Italien müssen weniger als 30 Prozent aller
gering Qualifizierten mit nicht regulären Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigem Lohn und hohem Arbeitsplatzrisiko klarkommen - das sind keine positiven Faktoren -, in Deutschland sind es mehr als 50 Prozent. Das
heißt, Ihre Politik, durch die es den niedrig Qualifizierten
nicht ermöglicht wird, flexibel vom ersten in den zweiten
Arbeitsmarkt zu wechseln, führt dazu, dass sich die gering
Qualifizierten in Deutschland in einer deutlich schlechteren Situation befinden als in den Nachbarländern.
({9})
Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Das ist alles andere
als sozial, das ist unsozial.
({10})
Wenn man ausschließlich auf das Anziehen der Konjunktur und damit auf größeres Wirtschaftswachstum
setzt, werden die strukturellen Probleme nicht gelöst.
Diese müssen Sie angehen. Wir haben dazu Vorschläge
unterbreitet. Ich will sie hier nicht wiederholen; sie stehen in unserem Antrag.
Ich möchte noch ein paar Worte über den Kündigungsschutz verlieren. Ich weiß, dass dieses Thema sehr
viel Potenzial für Polemik enthält. Wir müssen uns in die
Situation eines Arbeitslosen versetzen, wenn wir Lösungsansätze suchen. Ein Arbeitsloser fragt nicht zuerst
nach dem Kündigungsschutz, sondern danach, wie er
wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen und sein
Geld verdienen kann. Deswegen sollten Sie die Polemik
lassen.
({11})
Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass wir uns in einer Umbruchsituation befinden. In einer solchen Situation kommt es darauf an, die Weichen richtig zu stellen.
Ihr Problem ist, dass Sie in die falsche Richtung laufen.
Deswegen kommen wir in Deutschland nicht voran.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ortwin Runde.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Brüderle hat gesagt, es handele sich um das
Wachstumsprogramm der Union.
({0})
Die Union hat es fälschlicherweise etwas anders formuliert. Sie spricht in ihrem Antrag vom Wachstumsprogramm für Deutschland. Herr Brüderle hat die Absicht
dieses Programms gut erkannt. Das ist meines Erachtens
ein ganz richtiger Ansatz.
({1})
Herr Brüderle, es ist immer spannend zu untersuchen,
was in einem Antrag enthalten ist und was fehlt.
Sie selbst haben auf den sich verschärfenden innereuropäischen Wettbewerb hingewiesen und ausgeführt,
dass wir bezüglich unserer Wettbewerbsfähigkeit vor
schwierigen Anpassungsprozessen stehen. Wenn man
sich über ein Wachstumsprogramm für Deutschland unterhält, muss man auch die Weltwirtschaft im Blick haben. Ich schätze, dass alle Wirtschaftsfachleute und auch
die Wirtschaftspresse sehr viel gespannter nach Frankfurt schauen als auf unsere Diskussion in Berlin.
({2})
Die Wirtschaftsfachleute interessieren sich vor dem
Hintergrund einer leichten konjunkturellen Erholung der
Weltwirtschaft
({3})
für andere Fragen: Wie entwickeln sich die Rohölpreise?
Wie wirkt sich die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus auf die konjunkturelle Entwicklung aus?
Wie kann die europaweite Stagnationsphase, die wir in
Frankreich, Spanien, Italien und auch in den von Ihnen
gerühmten Niederlanden beobachten, überwunden werden? Es kommt darauf an, diesen Zusammenhang zu sehen.
Ich hoffe, dass wir heute von der Europäischen Zentralbank ein positives Signal erhalten werden. Vor dem
Hintergrund der Preisstabilität, die wir in der Europäischen Union und vor allem in Deutschland seit Jahren
haben, ist die Europäische Zentralbank gut beraten, den
Leitzins in einem größeren Umfang zu senken und somit
die Konjunktur zu stabilisieren. Das ist angesagt.
({4})
Natürlich geht es in Europa darum, neben Konjunkturpolitik auch Strukturpolitik zu machen. Dazu muss
man feststellen: So viele Reformen wie in den letzten
zwei oder drei Jahren hat es - mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind - in Deutschland und auch
in Europa noch nie gegeben. Diejenigen, die 16 Jahre
lang Reformen nicht durchgeführt haben, sollten daher
in ihren Bewertungen ein bisschen vorsichtig sein.
({5})
Diesen Reformmut hätte ich von Ihnen jedoch erwartet.
Wenn wir das richtig sehen, stehen in Gesamteuropa
der Umbau der Sozialsysteme, aber auch notwendige
Steuerstrukturdebatten und Debatten über Innovationen
an. Ich nenne nur die Lissabon-Strategie: Wie erreichen
wir diese 3 Prozent für Forschung und Entwicklung und
den Bildungsbereich?
Natürlich ist auch die CDU/CSU gefordert, bei solchen strukturellen Richtungsentscheidungen Farbe zu
bekennen und zu sagen, wie sie zu dem Vorschlag des
Kanzlers steht, die Eigenheimzulage, also Investitionen
in Beton und Steine, durch Investitionen in die Köpfe zu
ersetzen. Wie lauten die konkreten Finanzierungsvorschläge, um das Dreiprozentziel zu erreichen und die
6 Milliarden Euro aufzubringen? Darauf erwarten wir
Antworten.
Ich halte konkrete Aussagen dazu, wie man mehr Investitionen in diesen Bereichen finanzieren will, für
wichtig und begrüße kreative Vorschläge wie den seitens
der Bundesbank, über die Goldreserven zusätzliche
Potenziale für die Finanzierung zu erschließen.
({6})
Wenn man sich den Antrag der CDU/CSU ansieht,
muss man feststellen,
({7})
dass es sich um ein Sammelsurium von Vorschlägen
handelt, das in einer Kneipe entstanden sein muss. Zu einem Konzept verbunden ist das Ganze jedenfalls nicht.
Ich habe den Eindruck, dass die CDU/CSU auf unser
schlechtes Kurzzeitgedächtnis, auch das der Wähler,
spekuliert. Ich erinnere mich genau an die Vermittlungsausschusssitzungen im Dezember des letzten Jahres. Damals gab es ein Wehklagen über die 1 Milliarde Euro,
um die man sich verrechnet hatte und mit der dann die
Länder, die Gemeinden und der Bund, also die öffentlichen Kassen, belastet wurden. Damals wurde gesagt:
Das ist eine Katastrophe für die öffentlichen Finanzen.
({8})
Es ist angesichts der fehlenden Finanzierung nicht hinnehmbar, dass wir den Bürgern im Rahmen einer Steuerreform Steuerentlastungen in diesem Umfang zugute
kommen lassen.
Jetzt sehe ich unter Punkt 4 Ihres Antrags, dass die
alte Bierdeckelstrategie von Merz wieder recycelt wird.
Inzwischen sind die Brauereien dazu übergegangen, die
entsprechenden Vorlagen für diese Bierdeckelstrategie
zu liefern.
({9})
Wie kann man innerhalb von nur drei Monaten einen
solchen Richtungswechsel vornehmen? Gemäß Punkt 4
Ihres Antrages sollen nun plötzlich für eine Einkommensteuerreform 15 oder 25 Milliarden Euro zur Verfügung
stehen. Haben Sie das mit Ihren Ministerpräsidenten abgeklärt oder ist der Vorschlag nicht so ernst gemeint? Ist
das übrigens der Vorschlag von Merz oder wessen Vorschlag verbirgt sich hinter diesen kargen Zeilen?
({10})
Man muss sagen: Alles in Ihrem „klaren“ Konzept ist
zutiefst interpretationsbedürftig. Auch die wirtschaftspolitischen Wirkungen Ihrer Vorschläge muss man etwas genauer untersuchen. Sie wollen die Einnahmesituation von Spitzenverdienern stärken, indem Sie den
Spitzensteuersatz noch einmal um 6 Prozentpunkte von
42 auf 36 Prozent senken. Der Steuersatz für die Bezieher unterer Einkommen soll ab 2005 von 15 auf 12 Prozent gesenkt werden. Es ist logisch, wer dann die Zeche
zahlt: Diejenigen im unteren Einkommenssektor müssen
die Entlastung der Spitzenverdiener bezahlen.
({11})
Das ist eine Gerechtigkeitsfrage. Sie sagen: Die Gerechtigkeitsfrage kümmert uns nicht; das ist eine Neiddiskussion. Aber die wirtschaftspolitischen Auswirkungen sind
sehr wohl von Interesse; denn so kommt es nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Schwächung der Binnennachfrage. Eine Stärkung wäre aber wirtschaftspolitisch
angezeigt.
Sie müssen Folgendes sehen: Die Leiter der Steuerabteilungen der Finanzministerien, die ja keine Heißsporne
sind, haben deutlich gesagt, welche Auswirkungen die
Umsetzung dieses Konzepts auf den Arbeitsmarkt haben
würde.
Herr Kollege, achten auch Sie bitte auf die Zeit?
Ja. - Sie sagen, dass sich der Anreiz zur Arbeitsaufnahme im Bereich der Bezieher niedriger Einkommen
stark verringern wird. Bringen Sie das einmal mit der
Debatte, die wir hier führen, in Zusammenhang und berücksichtigen Sie auch das, was Herr Kues vorhin über
die Hauptbetroffenen der strukturellen Veränderungen
gesagt hat!
Ich rate der Union, innerhalb ihrer eigenen Fraktion
mehr zu koordinieren. Dann könnten Sie vielleicht etwas
klarere und schlüssigere Konzepte als bisher vorlegen;
denn das war keine Weichenstellung in die richtige Richtung. Dieser Zug fährt ins Nirgendwo.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Grotthaus.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich in Erinnerung rufen, wie der
Titel des Antrags der CDU/CSU lautet: „Weichen stellen
für eine bessere Beschäftigungspolitik - Wachstumsprogramm für Deutschland“.
({0})
Wer diese Diskussion aufmerksam verfolgt hat, müsste
eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die Überschrift
heißen müsste: „Abbau von Arbeitnehmerrechten - Reduzierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes - Differenzierung der Anwendung des Arbeitsstättenrechtes in
Klein- und Großbetrieben“. In einer Summe ausgedrückt: „Schaffung von Möglichkeiten zur inneren Kündigung der Arbeitnehmer - zum Standort Deutschland“.
({1})
Ihre Vorschläge haben nichts mit einem Wachstumsprogramm zu tun. Es geht um knallharte Politik, die zulasten der in den Betrieben Beschäftigten gehen soll.
Spätestens seit dem 7. März steht fest - das ist auch
nachzulesen -, dass die CDU/CSU mit ihren Beschlüssen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik endgültig die
Katze aus dem Sack gelassen hat. Die Union will eine
andere Republik. Die Union will Marktwirtschaft pur.
Die breite gesellschaftliche Kritik an Ihren Vorschlägen
ist zu Recht groß. Der Begriff „sozial“ wird in den Vorschlägen der Union klitzeklein geschrieben.
({2})
- Herr Dr. Kues, darauf komme ich noch zu sprechen.
({3})
Der heute von Ihnen vorgelegte Antrag ist nur ein
Spiegelbild dieser Beschlüsse. Ihn hier zur Debatte zu
stellen weist schon Züge von - ich sage das bewusst politischer Unverfrorenheit und Uneinsichtigkeit gegenüber Ihrem Arbeitnehmerflügel auf. Mich würde interessieren, wie Kollege Arentz, der sich ja eindeutig zu den
Vorschlägen Ihrer beiden Generalsekretäre geäußert hat,
auf diesen Antrag reagieren wird. Ich bin gespannt, ob er
den Vorschlägen Ihrer Fraktion zustimmen wird.
({4})
- Herr Laumann, wenn das abgesprochen ist, dann sagt
er jetzt nicht mehr die Wahrheit bzw. steht er jetzt nicht
mehr hinter seiner Argumentation oder hat er vorher in
den Betrieben nur eine Beruhigungspille verteilen wollen.
({5})
Sie, meine Damen und Herren von der Union, treten
mit diesem Antrag zum wiederholten Male für die Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten
({6})
und den Abbau des Kündigungsschutzes ein und bekämpfen offen die Tarifautonomie. Alle, die bisher die
Politik der Regierungskoalition kritisieren, sollten sich
ganz genau ansehen, was Sie von der Union an dieser
Stelle vorschlagen. Ich kann Ihnen nur den Vorschlag
machen: Legen Sie diese Anträge in den Betrieben aus,
sodass sich jeder Mensch in diesem Land, der abhängig
beschäftigt ist, ein Bild davon machen kann, wohin der
Weg Ihrer Meinung nach gehen soll!
({7})
Ihr Ziel ist es nicht, den Staat für die Zukunftsaufgaben
neu aufzustellen. Ihr Ziel ist eine Deregulierung, die den
Menschen nicht nur ihre bisherigen Arbeitnehmerrechte
nimmt; sie sollen obendrein auch noch dafür zahlen. Der
Kollege Runde hat dies bereits im Rahmen der Steuerpolitik dargestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl der Antrag
meines Erachtens nicht das Papier wert ist, auf dem er
gedruckt ist, will ich einige Punkte daraus aufgreifen
und sie ein bisschen näher betrachten.
Bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung in den
neuen Bundesländern
({8})
machen Sie uns dafür verantwortlich - Herr Kollege
Schauerte, hören Sie einmal zu! -, dass das Versprechen
von den „blühenden Landschaften“ nicht gehalten
wurde. Vorhin wurde über Betriebe geredet. Ich habe
36 Jahre in der Industrie gearbeitet und miterlebt, wie
der Konzern, dem ich angehörte, sich in Ostdeutschland
bereichert hat, indem er Betriebe aufgekauft und die Produktion nach Westdeutschland verlagert hat. Dies wurde
über die Treuhandanstalt abgewickelt und konnte so geschehen, weil nirgendwo in den Verträgen stand, dass
der Industriestandort Ostdeutschland aufrechterhalten
werden solle. Nirgendwo stand, dass eine Verlagerung
von Produktionsstätten nicht stattfinden dürfe. Nein, Ihre
damalige Regierung hat dies sogar noch forciert. Sie hätten die Entindustrialisierung von Ostdeutschland aufhalten müssen, Sie hätten gleich bei der Vereinigung beider
deutscher Staaten den Standort Ostdeutschland stärken
müssen. Stattdessen haben Sie Ostdeutschland ausbluten
lassen.
Wir werden die Stabilisierung und Weiterentwicklung
der Wachstumszentren, die sich in Ostdeutschland herausgebildet haben, vorantreiben.
({9})
- Ich empfange um 13 Uhr eine Besuchergruppe. Ich
bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die Zwischenfrage nicht erlauben kann.
Wir wollen den Solidarpakt II, den wir gemeinsam
beschlossen haben und nach dem in den Jahren 2005 bis
2019 105 Milliarden Euro für die ostdeutschen Länder
zur Verfügung stehen, nicht nur fortführen, sondern wir
haben ihn seitens des Bundes um zusätzliche 51 Milliarden Euro für überproportionale Leistungen zugunsten
der ostdeutschen Länder ergänzt. Hier nützt es nichts, zu
klagen. Hier nützt es nur, konstruktiv mitzuarbeiten.
Eine solche konstruktive Mitarbeit habe ich bei Ihnen
bisher nicht feststellen können.
Bei Ihren Aussagen zum Arbeitsschutz und zur
Arbeitsstättenverordnung ist es auffällig, dass Sie eine
Festlegung auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten
als Richtschnur wählen. Ich habe mich gefragt: Was
steckt dahinter? Nach Ihren Vorstellungen genössen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinen Betrieben eine
andere, eine mindere gesundheitliche Vorsorge als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Großbetrieben. Ich weiß
nicht, ob dies politisch gewollt ist, aber es ist das Ergebnis. Dies beträfe immerhin mehr als 80 Prozent aller Betriebe in Deutschland. Das Gleichheitsprinzip bliebe auf
der Strecke; aus meiner Sicht ist das auch EU-rechtlich
überhaupt nicht umsetzbar.
Ihre Forderung, das Jugendarbeitsschutzgesetz sei
anzupassen,
({10})
damit Anreize zur Einstellung geschaffen würden, ist
völlig nichtssagend. Was meinen Sie damit? Hier hätten
Sie eine Aussage machen müssen: weniger Gehalt? Drei
Azubis teilen sich zwei reguläre Stellen? - Auch hier,
meine Damen und Herren von der Opposition, sprechen
die Fakten gegen Sie: Trotz geltendem Jugendarbeitsschutzgesetz, Herr Niebel, sind in den letzten zehn Jahren 10 Prozent mehr Ausbildungsstellen im gastronomischen Bereich entstanden.
Unsere Ausbildungsplatzumlage wird für mehr Ausbildungsplätze sorgen. Statt Gesetze zum Schutz der jungen Menschen zum Schlechteren zu verändern, sollten
Sie mit uns gemeinsam auf die einwirken, die sich in den
letzten Jahren der gesellschaftlichen Aufgabe, junge
Leute auszubilden, verschlossen haben.
({11})
Zu den Betriebsräten ist schon einiges gesagt worden. - Ich sehe, die Zeit läuft mir davon.
Noch eine Anmerkung zum Kündigungsschutz:
Dieser Begriff soll nach Ihren Vorstellungen für Ältere
und Arbeitslose ein Fremdwort werden. Statt Kündigungsschutz wollen Sie das Aushandeln von Abfindungen in den Vordergrund stellen.
({12})
Wer mag da wohl am längeren Hebel sitzen und das Verfahren bestimmen: derjenige, der sich um einen Arbeitsplatz bewirbt, oder derjenige, der diesen Arbeitsplatz als
Ware anbietet und auf das bestmögliche Gebot wartet?
Sie propagieren die freie Marktwirtschaft. Dann wissen
Sie auch genau, wie man in diesem Falle am Arbeitsmarkt mit den Menschen umgehen wird.
Meine Damen und Herren, während wir die Gleichrangigkeit von Human- und Finanzkapital als Zukunftsperspektive ansehen - wir wollen, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber auf einer
Augenhöhe begegnen -, wollen Sie die Abschaffung von
Arbeitnehmerrechten auf breiter Flur. Wir wollen
Deutschland zukunftssicher machen; Sie wollen eine andere Republik: eine Republik, in der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zur Manövriermasse des Kapitals
werden. Dies lassen wir nicht durchgehen. Wir sagen
Nein zu Ihren Plänen, weil wir der Auffassung sind, dass
wir auch weiterhin selbstständige, gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Republik benötigen. In
diesem System sind als Interessenvertreter nicht Bittsteller, sondern gleichberechtigte Partner gefragt.
({13})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2670 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von Verkehrsleistungen ({0})
- Drucksache 15/2769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. März 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Türkei über die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von
Straftaten mit erheblicher Bedeutung, insbesondere des Terrorismus und der organisierten Kriminalität
- Drucksache 15/2724 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
setzes über Ordnungswidrigkeiten
- Drucksache 15/780 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 15/2252 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Haftungsregeln als eigenständiges Instrument
europäischer Umweltpolitik
- Drucksache 15/2011 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({5}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa
- Drucksache 15/2424 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Jörg Tauss, Ulrike Mehl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck
({7}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Aktionsplan zur UN-Weltdekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“
- Drucksache 15/2758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird geschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g
sowie 23 j bis 23 o sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu der in Rom am 17. November 1997 angenommenen Fassung des Internationalen Pflanzenschutzübereinkommens
- Drucksache 15/2544 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10})
- Drucksache 15/2754 Berichterstattung:
Abgeordnete Gustav Herzog
Dr. Peter Jahr
Friedrich Ostendorff
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2754, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt
es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Zusatzabkommen vom
15. Oktober 2003 zu dem Abkommen vom
4. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Österreich zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Erbschaftsteuern
- Drucksache 15/2721 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12})
- Drucksache 15/2847 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2847, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 13. Mai 2002 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und Kanada
über die Rechtshilfe in Strafsachen
- Drucksache 15/2598 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14})
- Drucksache 15/2840 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({15})
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2840, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzvertrag vom
13. Mai 2002 zu dem Vertrag vom 11. Juli 1977
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Kanada über die Auslieferung
- Drucksache 15/2599 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({17})
- Drucksache 15/2841 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({18})
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2841, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll betreffend die Verringerung
von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon ({19})
vom 30. November 1999 im Rahmen des Übereinkommens von 1979 über weiträumige
grenzüberschreitende Luftverunreinigung
- Drucksache 15/2410 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({21})
- Drucksache 15/2846 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/2846, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter
Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Beschlusses des Rates
({22}) vom 2. Oktober 2003 zur Änderung von Art. 40 Abs. 1 und 7 des Übereinkommens zur Durchführung des Schengener
Übereinkommens vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen
an den gemeinsamen Grenzen
- Drucksache 15/2546 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24})
- Drucksache 15/2842 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Wolfgang Zeitlmann
Sibylle Laurischk
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2842, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 13 vom
3. Mai 2002 zur Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten über die
vollständige Abschaffung der Todesstrafe
- Drucksache 15/2549 ({25})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({26})
- Drucksache 15/2844 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Ute Granold
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2844, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 j:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({28})
- Drucksachen 15/2596, 15/2630 Nr. 2.1,
15/2802 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 15/2596 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 103 zu Petitionen
- Drucksache 15/2763 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 103 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 104 zu Petitionen
- Drucksache 15/2764 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 104 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 105 zu Petitionen
- Drucksache 15/2765 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 105 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
- Drucksache 15/2766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 106 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
- Drucksache 15/2767 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 107 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 2 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({34}) zu dem Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung
schwerbehinderter Menschen
- Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557,
15/2830 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch
- Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({35})
Georg Fahrenschon
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden
Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses zu
den Zusatzpunkten 2 b und 2 c.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, Drucksache 15/2830? - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
({36})
Zusatzpunkt 2 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung
der Vaterschaft und das Umgangsrecht von
Bezugspersonen des Kindes und zur Einführung von Vordrucken für die Vergütung von
Berufsbetreuern
- Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716,
15/2831 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses ({2}) des Rates
vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von
Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung
der schweren Kriminalität ({3})
- Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717,
15/2832 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen auf Energieerzeugnisse und
elektrischen Strom durch bestimmte Mitgliedstaaten
KOM ({5}) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04
- Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({6})
Georg Fahrenschon
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({7})
Übersicht 6
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/2834 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 2 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
- Drucksache 15/2835 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 108 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
- Drucksache 15/2836 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 109 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
- Drucksache 15/2837 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 110 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
- Drucksache 15/2838 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 111 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 2 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
- Drucksache 15/2839 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 112 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik
- Drucksachen 15/2553, 15/2770 ({13})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({14})
- Drucksache 15/2843 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({15})
Peter H. Carstensen ({16})
Friedrich Ostendorff
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({17})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/2851 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Ernst Bahr ({18})
Bartholomäus Kalb
Franziska Eichstädt-Bohlig
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP vor. Ich weise darauf hin,
dass zur Annahme des Gesetzentwurfs, über den wir
später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87
Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit - das
sind 302 Stimmen - erforderlich ist.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Jella
Teuchner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Seit
Juni 2003 diskutieren wir die nationale Umsetzung der
Agrarreform. Heute werden wir eine Diskussion abschließen, die hier im Bundestag, die zwischen dem
Bund und den Ländern und mit den Landwirten meistens
sehr konstruktiv geführt wurde. Ich sage „meistens“,
weil es doch einige gibt, die die EU-Agrarreform nicht
haben wollen und deswegen alles versuchen, um die nationale Umsetzung zum Scheitern zu bringen. Da wärmt
man sich an einer Früher-war-alles-besser-Ideologie,
sitzt in der Ecke und schmollt. Den Landwirten hilft man
damit allerdings überhaupt nicht.
({0})
Wir alle wissen, dass es in der Förderung der Landwirtschaft zu einem Umbruch kommen wird, unabhängig davon welches Modell wir wählen. Jetzt tun die
Union und vor allem der bayerische Landwirtschaftsminister aber so, als sei das Betriebsmodell der Königsweg und würde alle glücklich machen. Wir alle wissen:
In dieser Frage gibt es keinen Königsweg.
({1})
Ich kann nur alle auffordern: Machen Sie endlich die
Augen auf! Fangen Sie endlich an, mit uns hierüber ehrlich zu diskutieren!
Sprechen Sie einmal mit den bayerischen Bauern. Sie
werden feststellen, dass vielen sehr wohl bewusst ist,
dass sich die Bayerische Staatsregierung in der Agrarpolitik isoliert hat. Die Bauern wissen: In dieser Position
kann sich Bayern nicht mehr für die Bauern einsetzen.
Wer einfach nur verhindern will, der kann auch nicht
mehr gestalten.
({2})
Sie konnten die Agenda 2000 nicht verhindern. Auch die
EU-Agrarreform wird kommen. Sie sollten sich doch
eher die Frage stellen: Wollen wir gestalten oder wollen
wir zuschauen, wie gestaltet wird? Wir wollen klar und
eindeutig gestalten.
({3})
Es ist geradezu absurd, wenn - wie in Ihrem Entschließungsantrag - gleichzeitig mehr Betriebsprämien
und weniger nationale Reserve gefordert werden. Die
nationale Reserve dient dem Ausgleich von Härtefällen.
Die Union will damit offensichtlich deutlich mehr Härtefälle; denn genau das bedeutet die Ausweitung der Betriebsprämie.
({4})
Sie will aber keine Mittel, diese auszugleichen. Dies
steht so in Ihrem Antrag. Die Frage ist: Sagen Sie das
auch so den Landwirten, wenn Sie mit ihnen sprechen?
({5})
Sie machen es sich sehr einfach. Sie sammeln alle populistischen Forderungen, ohne ein eigenes schlüssiges
Konzept vorzulegen.
({6})
Die Landwirte haben schon längst gemerkt, wer hier
ernsthaft diskutiert. Hören Sie doch einfach auf, hier nur
herumzupoltern!
({7})
- Mehr als genug, und zwar auch in Freising.
Hören Sie bitte auf, den Teufel Cross Compliance an
die Wand zu malen. Cross Compliance bedeutet, dass
Prämien dann gezahlt werden, wenn bestimmte EURichtlinien eingehalten werden. Es geht also um die Einhaltung eines bereits bestehenden, gültigen Rechts. Dabei gibt es keinen Spielraum nach oben. Dies war im
Agrarrat übrigens nie umstritten. Diese anderweitigen
Verpflichtungen sind für die Akzeptanz der Agrarpolitik
notwendig.
Wir wollen die Landwirte auch in Zukunft bei ihren
vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft unterstützen
können. Dafür ist diese Akzeptanz notwendig. Ich höre
von Ihnen aber nur, dass wir nicht kontrollieren dürfen.
Da werden Feldbeobachter beim Pflanzenschutz zu Ermittlern, Bauernspionen und Stasimitarbeitern.
({8})
Bei den Cross-Compliance-Regelungen sollen wir, wenn
es nach der Union geht, nicht zu viel kontrollieren, damit
es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Ich frage
Sie: Rechtsbruch als Standortvorteil?
({9})
Halten Sie solche Aussagen für eine Vertrauensoffensive
für die deutsche Landwirtschaft? Wollen Sie so die Akzeptanz für die Förderung der Landwirtschaft sichern?
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie zu einem
Kommunikationsrisiko für alle deutschen Bauern.
({10})
Die EU-Agrarreform ist beschlossen. Sie bietet eine
gute Grundlage für die zukünftige Agrarpolitik. Sie stellt
sicher, dass unsere Politik in der WTO durchsetzbar ist,
von den Menschen akzeptiert wird und auch in Zukunft
finanzierbar ist.
Wir wissen, dass es Härten geben wird. In der Auseinandersetzung haben wir diese soweit wie möglich verhindert. Es gibt keinen Königsweg. Was aber geschafft
wurde: Es ist ein Weg aufgezeigt worden, der den Landwirten die Möglichkeit gibt, in Zukunft für den Markt
und nicht mehr für die Prämie zu produzieren. Das haben wir erreicht und damit haben wir viel erreicht.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Bleser von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder Versuch, einem Branchenfremden die EU-Agrarpolitik und
die letzte Reform zu erklären, ist von vornherein zum
Scheitern verurteilt. Ich habe auch erhebliche Zweifel,
nachdem ich Sie, Frau Teuchner, gehört habe, ob es gelungen ist, zumindest den Fachpolitikern in diesem Haus
diese Reform nahe zu bringen.
({0})
Ich bleibe deswegen bei meiner Bewertung vom letzten
Jahr, dass diese bis 2013 angelegte Reform ein Vorstoß
in eine neue Dimension staatlicher Bevormundung ist,
eine Verschwendung von Steuergeldern und ein bürokratischer Exzess, der seinesgleichen sucht.
({1})
Wer geglaubt hat, dass bei der nationalen Umsetzung
dieser Reform eine Steigerung dieser Vorwürfe nicht
mehr möglich ist, der muss sich leider getäuscht sehen.
Seit September letzten Jahres analysieren unsere Bauern,
die Verbände, die Bundesländer und die Abgeordneten
in diesem Haus die Auswirkungen dieser Reform auf die
landwirtschaftlichen Betriebe. Niemand kann voraussagen, wie die Bewirtschaftung unserer Flächen in den
nächsten Jahren aussehen wird. Werden sie brach fallen?
Denn auch in Zukunft wird die Prämiengewährung ohne
Lebensmittelproduktion möglich sein. Die Flächen
müssen lediglich gemulcht werden. Oder wird die Handelbarkeit von Prämienrechten, das Verkaufen von Prämienrechten, dazu führen, dass die gewollten Unterstützungen nicht den weiter wirtschaftenden Betrieben, den
Zukunftsbetrieben, zukommen, sondern denen, die aussteigen wollen oder die schon ausgestiegen sind?
Was die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf
vorhat, nämlich ab 2007 die Prämien zum Beispiel der
Milcherzeuger und der Bullenmäster auf die Flächen
umzulegen, führt dazu, dass diese Betriebe in eine arge
wirtschaftliche Existenznot getrieben werden.
({2})
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf, den Sie heute eingebracht haben, beschließen werden - dessen bin ich mir
sicher -, werden Sie die Vernichtung von Tausenden von
landwirtschaftlichen Existenzen zu verantworten haben.
Das ist die Konsequenz Ihres Tuns.
({3})
In den Schlachtereien, in den Molkereien, in den Landmaschinenwerken oder im Landhandel wird der
Arbeitsplatzabbau massiv beschleunigt werden.
({4})
In der Anhörung am 23. März hier in Berlin hat Professor Isermeier auf meine Frage hin geantwortet, dass
der Produktionsrückgang allein in der Rindermast mehr
als 20 Prozent betragen werde und dass er damit rechne,
dass allein in diesem Bereich mehr als 10 000 Arbeitsplätze verloren gingen. Frau Ministerin, Sie sind Ihrer
grünen Ideologie so sehr verfallen, dass Ihnen das
Schicksal dieser Menschen völlig gleichgültig ist.
({5})
Noch dramatischer wird die Senkung der Interventionspreise bei der Milchproduktion, die einer Abschaffung
der Intervention gleichkommt, ausfallen. Schon im Vorgriff auf diese Reform befindet sich der Milchpreis im
freien Fall.
({6})
Erlauben Sie mir deshalb, dass ich an dieser Stelle an die
Verantwortlichen im Lebensmitteleinzelhandel appelliere: Berücksichtigen Sie bei Ihren Preisverhandlungen
doch die bittere Not vieler landwirtschaftlicher Milcherzeuger!
({7})
Nach den EU-Ratsbeschlüssen sollen die Milchpreise
um 7 bis 8 Cent pro Liter zurückgehen und die Landwirte sollen einen Ausgleich von 3,5 Cent dafür erhalten.
Die Bauern wollen das übrigens nicht. Ich frage mich, ob
diese Preissenkungen letztlich den Verbraucher erreichen. Da haben wir in der Vergangenheit leider negative
Erfahrungen gemacht.
({8})
Sie wollen aber diesen Ausgleich für die Betriebe, der
ohnehin nicht ausreichend ist, schon nach zwei Jahren
wieder senken. Das können diese Betriebe, die in den
vergangenen Jahren hohe Investitionen in moderne, tiergerechte Stallungen getätigt haben, nicht überleben.
Wenn wir uns vor Augen führen, dass in der Milchproduktion und in der Rindermast 11 Milliarden Euro
umgesetzt werden - das ist ein Drittel aller landwirtschaftlichen Erlöse -, dann müssen wir davon ausgehen,
dass weitere Markteinbrüche zu erwarten sind. Deutschland ist schon jetzt der größte Lebensmittelimporteur der
Welt. Sie, Frau Künast, können dann von sich behaupten, dass Sie alles Mögliche dazu beigetragen haben,
diese fragliche Spitzenposition auch in Zukunft zu halten.
Jeder Fachmann weiß: Wenn die Milchproduktion aus
den Mittelgebirgsregionen weggeht, dann stirbt das
Grünland. Damit wird sich auch unsere Kulturlandschaft
nachhaltig verändern. Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Tourismusbranche hat, brauche ich
nicht zu erläutern. Ich denke, das wissen Sie alle genauso gut wie ich.
Wir wollen das alles nicht.
({9})
Deswegen haben wir heute unseren Entschließungsantrag vorgelegt. Wir wollen, dass die Hilfen der EU den
Milcherzeugern über die gesamte Laufzeit der Reform
zukommen, dass die Rindermäster längere Übergangszeiten bekommen und dass bei der Umsetzung der so genannten Cross-Compliance-Regelungen jede Sonderbelastung von den deutschen Landwirten ferngehalten
wird.
Ich fasse zusammen und ziehe das Fazit:
Erstens. Die von Frau Künast gelobte und mitbeschlossene EU-Agrarreform ist eine nicht honorierte
Vorleistung im WTO-Prozess und in der grundsätzlichen
Anlage falsch.
Zweitens. Die von der Bundesregierung beabsichtigte
Umsetzung der Reform führt zum Verlust von Marktanteilen und zur Vernichtung von Zehntausenden Arbeitsplätzen in der Ernährungswirtschaft.
Drittens. Ich fordere den Bundeskanzler auf, angesichts von 4,5 Millionen Arbeitslosen das Vorgehen der
Frau Ministerin Künast in dieser Frage zu stoppen.
Viertens. Die Bundesregierung hat kein Konzept, um
die deutsche Landwirtschaft in einem Europa der
27 Staaten und bei einer weiteren Globalisierung wettbewerbsfähiger zu machen.
({10})
Herr Bleser, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident. - Mit
der Schwerpunktsetzung auf Ökobetriebe werden wir
gnadenlos untergehen. Deswegen hoffen nicht nur die
deutschen Bauern, sondern auch die Beschäftigten im
ländlichen Raum auf die CDU/CSU-geführten Bundesländer.
({0})
Aus diesem Grunde müssen wir den Wählern dafür danken, dass wir dieses Korrektiv haben.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn der Kollege Bleser schon auf die durchgeführte Anhörung zurückgreift, dann sollte er korrekt
zitieren. Professor Isermeier zum Beispiel hat auch vorgerechnet, dass durch die Gesetzesreformen der Bundesregierung im Rindfleischbereich Preissteigerungen von
17 Prozent zu erwarten sind.
({0})
Das ist sehr leicht nachzuvollziehen, wenn es zu den entsprechenden Umstrukturierungen kommt.
Sie wissen, dass der heutige Rindfleischpreis bzw. der
Bullenpreis zu einem hohen Prozentsatz - und zwar zum
überwiegenden Teil - durch staatliche Mittel gestützt
wird. Diese Entwicklung, die durch die Marktferne hervorgebracht wurde, will aber niemand.
({1})
Von der CDU/CSU wird nun aus ideologischen Gründen auch der bislang im Konsens verlaufene Diskussionsprozess um die Agrarreformen in den politischen
Teppichhandel des Vermittlungsausschusses gezogen.
({2})
Damit wird das Parlament weitgehend um seine inhaltlichen Mitwirkungsmöglichkeiten gebracht. Ein Aufgreifen der verschiedenen Vorschläge aus der Anhörung, von
den Verbänden oder den Ländern vonseiten der Koalitionsfraktionen hier und heute ist damit völlig unsinnig
geworden.
Die CDU/CSU-Fraktion legt stattdessen als Tischvorlage einen Entschließungsantrag vor, mit dessen Beratung sie gerade fertig geworden ist. Dieser entspricht
eins zu eins den Vorschlägen des Deutschen Bauernverbandes. Es ist ja in Ordnung, wenn ein Interessenverband seine Interessen vertritt. Aber die CDU/CSU
entzieht sich damit wieder einmal ihrer politischen Verantwortung, indem sie Populismus betreibt und allen
Wohl und keinem Wehe verspricht, und zwar wider besseres Wissen. Aber hierüber hat Peter Bleser kein einziges Wort verloren.
({3})
Diese Politik hat in der Vergangenheit der deutschen
Landwirtschaft nur marktferne Überschussproduktion,
miserable Erzeugerpreise, hohe Abhängigkeit von
Staatsknete und überbordende Bürokratie, aber keine
Zukunftsperspektive gebracht.
({4})
Ich möchte noch auf den Kern der Vorschläge eingehen, die die CDU/CSU in ihrem Entschließungsantrag
macht. Diese Vorschläge würden, wenn sie umgesetzt
würden, gerade in der Anfangszeit, in der Übergänge
notwendig sind, zu einer stärkeren Belastung der tierhaltenden Betriebe - mit Ausnahme der Milchbauern;
das ist die Folge des 65/35-Modells - zugunsten der
Ackerbauern und zu einer Verschiebung der endgültigen
Entkopplung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag führen.
Was wäre das Ergebnis einer solchen Politik? Von den
Restprämien kann niemand mehr leben. Die Schafhalter,
die flächenarm wirtschaften, und die Ziegenhalter, die
Kulturlandschaftspflege betreiben
({5})
- gut, dass Sie mich daran erinnern -, arbeiten schon
heute mit der Mutterschafprämie am Existenzminimum.
Flächenarme Betriebe müssen also nach Ihrem Modell
aufgeben. Gleichzeitig werden aber die Marktorientierung und damit die Bildung realistischer Marktpreise
- das gilt auch im Hinblick auf mögliche Anstiege im
Rindfleischsektor - aktiv behindert. Die Mitnahmeeffekte, also das Beziehen von Prämien, obwohl die Produktion schon längst aufgegeben wurde, und die überlangen Übergangszeiten, die die CDU/CSU in ihrem
Entschließungsantrag vorsieht, würden die gesellschaftliche Akzeptanz massiv gefährden - worauf Jella
Teuchner schon hingewiesen hat.
Mit Ihren Vorschlägen ist außerdem eine enorme Bürokratisierung verbunden. Wenn jemand die EU in Sachen Bürokratie noch toppt, dann ist es die CDU/CSUFraktion mit ihren Vorschlägen.
({6})
Es wird unrealistischerweise die Illusion genährt, dass
die Reformen wieder zurückgenommen werden können.
Das verhindert Planungssicherheit sowie einen Modernisierungs- und Neuausrichtungsprozess in der Landwirtschaft. Zudem wird eine massive Instrumentalisierung
der Bauern betrieben - das erlebe ich immer wieder vor
Ort -, indem man mit gezielten Falschinformationen
über angeblich von der Bundesregierung geplante zusätzliche Auflagen, die die bisherigen Umweltprogramme gefährden würden, Widerstände schürt und die
Menschen auf die Palme treibt.
({7})
- Das ist überhaupt nicht so! Es gibt keine einzige Vorlage. Das ist reine Propaganda im übelsten Sinne.
({8})
Die Grünen unterstützen die Vorschläge der Bundesregierung, die auf eine rasche und möglichst vollständige Entkopplung, auf eine Verringerung der bisherigen
Benachteiligung von Regionen und Betriebsformen, auf
Marktorientierung und Honorierung der gesellschaftlichen Leistungen zum Beispiel im Hinblick auf Umwelt,
tiergerechte Produktion, Qualität und Lebensmittelsicherheit zielen. Uns ist natürlich klar, dass bestimmte
Produktionsbereiche besonderer Lösungen bedürfen,
zum Beispiel die Milchproduktion und die extensiven
Erzeugungsformen, und dass ein Gleitprozess notwendig
ist. Hier sind wir mit den Ländern einer Meinung.
Wir fordern die Bundesländer und die CDU/CSU auf,
die Agrarreform nicht länger für eine parteipolitische
Auseinandersetzung zu instrumentalisieren, die Landwirtschaft in Deutschland mit notwendigen Reformen
auf die Osterweiterung und die WTO-Ergebnisse vorzubereiten sowie die Marktorientierung zu unterstützen,
umwelt- und tiergerechte Produktion, Grünlandbewirtschaftung und Weidewirtschaft zu stärken - das ist auch
im Rahmen der Umsetzungsbeschlüsse möglich, die Ministerin Künast vorgelegt hat;
({9})
nicht nur mulchen, sondern auch abfahren -,
Frau Kollegin Höfken, kommen Sie bitte zum
Schluss.
- die zweite Säule und die Modulation voll auszuschöpfen sowie das EEG zu unterstützen; denn dieses
Gesetz bietet der Landwirtschaft und den ländlichen
Räumen Einkommensperspektiven, die sie unbedingt
brauchen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Matthias, da du mich so freundlich begrüßt hast, will ich die Atmosphäre hier durchaus ein
bisschen danach ausrichten. Ich freue mich darüber, dass
wir über die Reform der Agrarmärkte ganz grundsätzlich
sprechen; denn ich halte sie für reformbedürftig. Ich
halte das, was die Bundesregierung gesetzgeberisch auf
den Weg gebracht hat, von der Grundausrichtung her für
richtig und notwendig. Ich begrüße es, dass ein Modell
aufgegriffen wird, das die FDP schon vor Jahren entwickelt hat, nämlich das Modell der so genannten Kulturlandschaftsprämie, also ein Modell der gesellschaftlichen Leistung für Menschen, die unseren Kulturraum
und unseren ländlichen Raum insgesamt erhalten.
({0})
Nur unter diesem Gesichtspunkt ist eine Bereitstellung
dieser Mittel dauerhaft gerechtfertigt.
({1})
Liebe Kollegen, insbesondere du, Albert Deß, wir
sollten uns wirklich besinnen und uns fragen, ob es nicht
besser ist, den Streit hier nicht fortzusetzen, sondern uns
darüber zu unterhalten, wie wir diesen Paradigmenwechsel ausgestalten.
Lieber Peter Bleser, du bist zu dem Ergebnis gekommen, dass das nicht zu verstehen ist. Ich finde das nicht
richtig. Das ist ganz einfach: Bis jetzt bekommt man
Geld dafür, dass man etwas produziert, was auf dem
Markt nicht unbedingt nachgefragt wird. Das ist unsinnig. Das sehen sehr viele Bauern genauso wie ich.
({2})
Zukünftig bekommt man Geld dafür, dass man etwas
macht, was von der Gesellschaft insgesamt akzeptiert
wird. Das führt zu mehr Markt und dazu, dass der Bauer
eine größere Chance erhält, am Markt Preise zu erzielen,
die ein vernünftiges Einkommen für seine Leistungen ermöglichen. Im Endeffekt bedeutet das wesentlich weniger Bürokratie und wirkt der momentan vorhandenen
Fehlsteuerung entgegen.
({3})
Ich finde es deswegen schade, wenn man sagt: Das
kann keiner verstehen. - Damit tun wir uns keinen Gefallen. Die Gesellschaft muss verstehen, was wir hier
machen. Die Gesellschaft versteht sehr wohl, dass wir
hier eine besondere Leistung für die Landwirte und den
ländlichen Raum erbringen. Ich meine, wir können gemeinsam die Entwicklung in die richtige Richtung lenken.
({4})
Lieber Peter Bleser, du sagst, dass ihr das alles nicht
wollt. Dazu muss ich ehrlich sagen: Das trifft mich. Unsere Fraktionen, die beide in der Opposition sind, müssen vieles gemeinsam - der entsprechende Gesetzentwurf wird sicherlich im Vermittlungsausschuss landen auf den Weg bringen. Ich bitte deswegen sehr nachdrücklich darum, die Gemeinsamkeiten herauszustellen
und den Finger nicht immer wieder in - sicherlich vorhandene - Wunden zu legen. Es gibt Punkte, bei denen
wir unterschiedlicher Auffassung sind. Das kommt auch
in unserem Entschließungsantrag zum Ausdruck.
Wir sollten aber auch einmal gemeinsam hervorheben, dass wir die Anliegen der Milchbauern und der Rindermäster sehr ernst nehmen.
({5})
Ihre und unsere Fraktion kommen doch zu dem Ergebnis, dass es hier Veränderungen geben muss. Ich meine,
dass 2010 eine gute Marke ist. Diese Auffassung teilen
sowohl der Bundesrat als auch sehr viele CDU-Agrarminister. Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist, am
Jahr 2013 festzuhalten und dann einen abrupten Bruch
zu vollziehen. Ich glaube, dass der Entschließungsantrag
der CDU/CSU an dieser Stelle ein Riesenproblem enthält.
({6})
Wir sind uns einig, dass wir bei den Modulationsmitteln ansetzen müssen. Niederländer haben mir einmal
den schönen Satz „Bauerngeld ist Bauerngeld“ gesagt.
Auch ich bin dafür, dass dieses Geld wieder bei den Bauern ankommt und nicht in den ländlichen Regionen ausgegeben wird. Es sollte genutzt werden, um Belastungen
der Milchwirtschaft und derjenigen, die ihr Einkommen
bis jetzt durch Tierprämien erzielt haben, zu verringern.
Wir sind in der Frage des Dauergrünlandes einer Meinung. Lasst uns das doch gemeinsam auf den Weg bringen! Wir sind auch einer Meinung, dass wir im Bereich
von Cross Compliance eine Änderung anstreben sollten.
Wir wollen nicht, dass der Umweltminister in diesen Bereich hineinregiert. Wir wollen vielmehr, dass dieser Bereich von denjenigen ausgestaltet wird, die besondere
Beziehungen zur Agrarpolitik und zur Verbraucherpolitik haben.
({7})
Deswegen ein ganz klares Ja zu diesem Konzept, im
Grundsatz jedenfalls, verbunden mit dem dringlichen
Anliegen, dass noch deutliche Verbesserungen erreicht
werden.
Liebe Frau Teuchner, Sie haben vorhin etwas angesprochen. Ich will das mit den Bauernspionen nicht
übertreiben. Aber jemand, der über Jahre mit der Agrarwirtschaft politisch so umgegangen ist wie Sie, darf sich
nun nicht darüber wundern, dass er mit seiner Politik bei
den Bauern im Moment kein Vertrauen gewinnt. Sie haben doch die europäischen Vorgaben nicht eins zu eins
umgesetzt, sondern haben immer wieder überzogen und
damit im Grunde genommen die unternehmerischen
Landwirte in die Ecke gedrängt.
({8})
Sie haben heute einen guten Ansatz gehabt. Ich kann
Ihnen nur empfehlen: Machen Sie einen Clement! Setzen Sie sich gegenüber den Grünen durch! Behalten Sie
die Arbeitsplätze in diesem Bereich im Auge! Dann können wir uns in dieser Frage auf viel Gemeinsamkeit einstellen und eine gute Lösung entwickeln.
({9})
Ich will noch etwas betonen, liebe Freunde von der
CDU/CSU.
({10})
- Wir sind fachlich gern zur Zusammenarbeit bereit. Peter Harry Carstensen, die marktwirtschaftliche Linie,
Ihre Husumer Beschlüsse, das - das will ich noch einmal
sagen - war eine gute Linie. Wenn Sie davon jetzt abrücken und so handeln, wie es Kollege Deß immer wieder
tut
({11})
- ich sage das jetzt einmal in der Agrarsprache:
MacSharry 1992 war Mist, 2000 war Mist, die Halbzeitbewertung war Mist; das ist eine völlig falsche Agrarpolitik -, wenn das die Position der CDU/CSU ist, dann
gibt es in dieser Frage keine Gemeinsamkeit mit der
FDP.
Wir wollen eine Reform, die den unternehmerischen
Landwirt stärkt. Wir wollen eine Reform, die gesellschaftliche Akzeptanz erhält.
({12})
Wir wollen eine Reform, die den Agrarbereich, einen absoluten Hochleistungsbereich, einen - das muss man
auch einmal betonen - wunderbaren Bereich mit riesigen
Exportchancen, WTO-kompatibel macht, die die Chancen der EU-Osterweiterung für unsere Landwirte nutzt.
Von daher werden wir uns heute bei der Abstimmung
über den Entschließungsantrag der CDU/CSU der
Stimme enthalten. Die Regierungsvorstellungen lehnen
wir ab, weil wir noch dringend Verbesserungen erreichen müssen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zu Beginn möchte ich Ihnen, Herr Kollege Goldmann, meine Hochachtung zollen. Sie haben eine fantastische Rede gehalten. Besser
hätte auch ich mit der CDU/CSU nicht umgehen können,
aber zum Schluss hat leider die Konsequenz gefehlt.
({0})
Aber dahin kommen wir vielleicht auch noch.
({1})
Zur Wiederholung: Was von der CDU/CSU noch vor
zwei Jahren als Spinnerei verschrien und verlacht wurde,
was als nicht umsetzbar galt, machen wir heute. Wir beschließen heute die Reform zur Gemeinsamen Agrarpolitik. Es gibt keinen notwendigeren Schritt auf dem
Weg zur Sicherung des Agrarstandorts Deutschland und
Europa insgesamt. Mit dieser Reform machen wir unsere
Landwirte
({2})
fit für die Zukunft und wettbewerbsfähig - in Europa
und auf dem globalisierten Weltmarkt.
Genau wie Herr Goldmann gesagt hat, folgen wir nur
der Entwicklung seit 1992. Ich habe schon bei der ersten
Lesung dieses Gesetzentwurfs gesagt: Ich war auf großen Bauernveranstaltungen; ich weiß nicht, wo Sie unterwegs waren. Unsere Bauern haben gesagt: Wir haben
MacSharry geschafft. Wir haben die Agenda 2000 geschafft. Wir schaffen auch die EU-Agrarreform.
({3})
Die Umstrukturierung der Förderung durch die GAP
war dringend notwendig; denn die Landwirtschaft - das
wissen wir alle - wird auch künftig nicht ohne Zuwendungen produzieren können. Die Bauern müssen in einer
liberalisierten globalen Marktwirtschaft bestehen können. Die umwelt- und tierschutzrechtlichen Anforderungen werden immer höher; das will der Verbraucher so.
Nebenbei gesagt: Die bisherige Art der Fördermittelvergabe kann man der Bevölkerung auch einfach nicht
mehr erklären. Das kann man nicht mehr vermitteln.
Die Bauern werden sich also am Markt orientieren
müssen. An der Nachfrage wird ihre Produktion ausgerichtet sein. Die Direktzahlungen der EU werden sich
künftig an den Leistungen ausrichten, die die Landwirte
für die Gesellschaft erbringen.
({4})
Von diesem Platz aus, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich endlich einmal loswerden, wie schändlich
ich das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion auch im Nachgang finde. Sie haben bis zum Abschluss der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 gesagt: Entkopplung? Modulation? Das brauchen wir nicht, liebe Bauern, alles
Quatsch, wir machen weiter wie gehabt.
({5})
Das war nicht nur vorsätzlich falsch, sondern es ist auch
eine sträfliche Art von Verunsicherungstaktik, die Sie bis
zum heutigen Tag fortgesetzt haben.
({6})
Verunsichert haben Sie den Berufsstand, dem Sie sich
doch angeblich so verbunden fühlen. Ich finde, Ihr
Chaos ist einfach nicht mehr nachzuvollziehen: Erst fordern Sie unternehmerische Freiheit und wenn sie dann
kommen könnte, wollen Sie plötzlich die alte Prämienzahlung beibehalten. Wenn es dann auch noch um die
Erschließung neuer Einkommenspotenziale geht,
({7})
wenn wir für die Erschließung neuer Einkommensquellen sind und für die Landwirte sorgen, machen Sie nicht
mit.
Waltraud Wolff ({8})
Ich muss hier öffentlich sagen, dass die Opposition
die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gestern
im Ausschuss geschlossen abgelehnt hat, obwohl gerade
im Bereich der Biomasse ein Quantensprung gelungen
ist
({9})
und die Bauern in der Zukunft die Möglichkeit haben,
sich ein neues Standbein zu schaffen.
({10})
Wir werden diese Novelle morgen hier beraten und beschließen. Ich sage: ein guter Tag!
Aber wessen Interessen vertreten Sie denn eigentlich
noch? Ich glaube, seit Sie Oppositionsarbeit machen,
drehen Sie sich nur noch um sich selbst und wissen nicht
mehr, auf welchen Veranstaltungen Sie wie reden sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern ist also das
große Wunder geschehen: Die CDU/CSU hat ihren
Entschließungsantrag angekündigt. Meine Kollegin
Teuchner und auch Herr Goldmann haben dazu schon etwas gesagt, sodass ich mich inhaltlich nicht mehr dazu
äußern muss. Aber Sie haben ihn wohlgemerkt für die
heutige Debatte eingebracht, nicht für eine Debatte vor
Wochen oder zur gestrigen Beratung im Ausschuss,
nein, heute. Da kann man nur sagen: Zu spät, liebe
Freunde, der Zug rollt, und zwar ohne euch. In den Bauernversammlungen sind die Parolen, die ihr ständig dort
gebracht habt, endlich verstummt. Ich denke, das ist
auch gut so.
({11})
Ich bin froh, dass wir einen anderen Weg gewählt haben. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern einen Weg
finden, und zwar über ein Kombinationsmodell, das zum
einen aus einer Betriebsprämie und zum anderen aus einer Flächenprämie besteht.
({12})
Wenn wir uns für die Betriebsprämie entschieden hätten,
dann hätten wir die Ungerechtigkeiten, die es bei der jetzigen Förderung gibt, festgeschrieben. Das wollten wir
nicht. Deshalb bin ich froh, dass wir einen anderen Weg
gewählt haben. Denn in zehn Jahren ist niemandem
mehr zu erklären, welche historischen Umstände zur
Vergabe der Prämie geführt haben. Der Fakt der ungleichen Verteilung wird trotzdem manifestiert. Das wäre
auch für die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes
ein Debakel.
({13})
Deshalb ist die wesentliche deutsche Forderung, regional einheitliche Flächenprämien zu gewährleisten, letztes Jahr von Frau Künast bei der Kommission durchgesetzt worden. Auf diese Weise können wir, im Gegensatz
zur Betriebsprämie, zwischen Ackerland und Grünland
unterscheiden. Es kommt real zu Umverteilungen zwischen den Höfen.
({14})
Natürlich wird es bei einer solchen Reform - auch das
haben wir bereits bei der Einbringung gesagt - Gewinner
und Verlierer geben.
({15})
Wir müssen natürlich schauen, wie wir das abmildern.
Wir haben eine nationale Reserve eingeführt, die Sie
nicht in der Höhe wollen, wie wir sie brauchen. Aber wir
brauchen auch eine bäuerliche Solidarität, damit in allen
Regionen landwirtschaftliche Kulturlandschaften erhalten werden können. Deshalb ist die Mehrheit der Bundesländer auf unserer Seite und spricht sich mit uns für
das Kombinationsmodell aus.
Dieser Weg bedeutet Flexibilität für Produktionsentscheidungen und neue Einkommensalternativen. Die
neuen Forderungen, die in jüngster Zeit vor der zweiten
und dritten Lesung von den Bundesländern erhoben worden sind, halte ich für nicht so günstig. Gut und gern hätten wir ausnahmsweise einmal auf ein Vermittlungsverfahren verzichten können. Wir hätten nicht nur die
Positionen noch rechtzeitig angleichen können; wir hätten möglicherweise auch ein positives Signal für die
Bauern im Lande aussenden können.
({16})
Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung gestattet.
Frau Künast hat die vom Bundesrat geforderte Verschiebung des Abschmelzungsprozesses als richtig anerkannt.
Sie hat auch Verständnis für die Forderungen der Länder
bei den Cross-Compliance-Regelungen gezeigt. Ich
wünsche mir, dass das ein gutes Omen für das Vermittlungsverfahren ist, das Sie ins Auge gefasst haben.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Harry Carstensen
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass Frau Teuchner, Herr
Goldmann und auch Frau Wolff darauf aufmerksam
machen, dass sie über diese Agrarreform gerne noch so
lange diskutiert hätten, bis es zu einer Einigung
Peter H. Carstensen ({0})
gekommen wäre. Ich muss mich daher fragen, warum
Sie dann eine solche Eile an den Tag gelegt haben. Wir
haben Zeit bis August, das Gesetzgebungsverfahren zum
Abschluss zu bringen.
Ich frage mich auch, ob es akzeptabel ist, die Antworten auf die während der Anhörung am 22. März gestellten Fragen nicht einmal abzuwarten. Es wurde nach der
Anhörung eine Ausschusssitzung abgehalten und darauf
folgt heute holterdiepolter die zweite und dritte Lesung.
Wenn es Sie stört, dass unser Entschließungsantrag
noch nicht im Ausschuss behandelt wurde, liebe Frau
Kollegin Wolff, dann sollten Sie sich einmal die Geschäftsordnung ansehen. Alles andere, was wir hätten
einbringen können, wäre eine Selbstbefassung gewesen,
weil wir es nicht in der ersten Lesung eingebracht haben
und es daher keine Überweisung an den Ausschuss gegeben hat. Es ist hier im Hause üblich, Entschließungsanträge zur zweiten und dritten Lesung einzubringen.
({1})
Das haben wir getan.
Wie ernsthaft die Bundesregierung mit den Problemen in der Landwirtschaft umgeht, das konnten wir an
dem Abend feststellen, an dem uns die Sozialversicherungsträger zu einem parlamentarischen Abend eingeladen hatten. Es waren drei Parlamentarische Staatssekretäre der Bundesregierung zugegen.
({2})
- Vier? Wer war der Vierte?
({3})
- Ihren Namen habe ich als ersten auf der Liste.
({4})
Ich habe Sie nicht vergessen. Sie saßen neben mir und
ich weiß, wie Sie diesen Abend genossen haben, Herr
Hartenbach. Anwesend waren noch Herr Thalheim und
Herr Thönnes. Wer war denn der vierte Staatssekretär,
Herr Hartenbach?
({5})
- Nein, Sie sind der Erste auf meiner Liste.
({6})
Sie sind nicht der Vierte. Auch wenn Sie es gerne hätten:
Ich nenne Ihren Namen nicht zweimal. Das hat etwas
mit Rechnen zu tun und Rechnen war Gegenstand der
PISA-Studie. Deswegen sage ich noch einmal: Es waren
drei Parlamentarische Staatssekretäre anwesend.
Die Vertreter der Koalition haben die Forderung nach
Eigenständigkeit der Sozialversicherungsträger unterstützt. Aber am nächsten Morgen, an dem die meisten
Gäste kein Frühstück zu sich zu nehmen brauchten, weil
sie am Abend zuvor gut versorgt gewesen sind, kam die
Meldung aus dem Ministerium, dass es Kürzungen bei
der Sozialversicherung in Millionenhöhe gibt. Es ist unanständig, so mit den Menschen umzugehen.
({7})
Um einige Punkte richtig zu stellen, möchte ich sagen: Wir stehen hinter der Entkoppelung, Frau Wolff,
Frau Teuchner und Herr Goldmann.
({8})
Wir wissen auch, dass die Entkoppelung positive Effekte
für den Markt haben wird. Wir stehen zu der Entkoppelung, weil sie zu einer Orientierung am Markt führen
wird.
({9})
Wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten, dann wüssten
Sie - es steht dort eindeutig geschrieben -, dass unser
Ziel eine regional einheitliche Flächenprämie ist, die bis
2013 eingeführt werden soll. Das heißt, wir sind uns in
der Zielsetzung einig, aber es bestehen Unterschiede,
was den Übergang angeht.
Es besteht ein tiefer Dissens - der Kollege Goldmann
hat ihn schon angesprochen -, was die Regelung in
Art. 2 § 5 bezüglich des Einvernehmens mit dem Umweltminister angeht. Meine Damen und Herren, der
Umweltminister hat auf unseren Äckern nichts zu suchen.
({10})
Die Leute wissen schon, wie sie sich im Rahmen der guten fachlichen Praxis zu verhalten haben. Sie haben ihre
Äcker gepflegt. Wir wissen, dass es in diesem Bereich
keine Verschärfungen auf nationaler Ebene geben darf.
Aber wir wissen auch, dass es richtig ist, was der Kollege Zöllmer gestern gesagt hat. Er sprach von einem Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik. Die jetzt anstehenden Beschlüsse sind ein Paradigmenwechsel. Da dies so
ist, ist es angebracht, die einzelnen Fälle möglichst sorgfältig durchzuspielen und zu überlegen, was auf die
Landwirte zukommt. Schon aufgrund der Wortwahl begreifen wir manchmal nicht mehr - ich gebe zu, dass
auch ich dem zum Teil verfalle -, dass es hier um einzelne Betriebe, um einzelne Schicksale, um Familien,
um Betriebsleiter und um Arbeitnehmer geht.
Es wird von einer Umverteilung zwischen den Ländern gesprochen. Aber es kommt im Hinblick auf die
35 Prozent der Direktzahlungen zu keiner Umverteilung
zwischen den Ländern. Dabei handelt es sich vielmehr
um einen Solidarbeitrag, der von Bauern aus einigen
Ländern an Bauern in anderen Ländern abgeführt wird.
Dieser kommt nicht aus Landeshaushalten, er wird bei
den Landwirten abgezogen.
Eine Umverteilung ist sicherlich notwendig. Aber ich
habe meine Probleme damit - dazu stehe ich -, in meinem Bundesland die Notwendigkeit eines Betrages von
35 Prozent der Direktzahlungen zu erklären. Ich staune,
wie offen und wie schnell der Landwirtschaftsminister
aus meinem Land dies zugestanden hat. Die Summe beträgt fast 5 Prozent der Prämien in Schleswig-Holstein.
Peter H. Carstensen ({11})
Dass das für die landwirtschaftlichen Betriebe eine Rolle
spielt, ist doch wohl selbstverständlich.
({12})
Wenn dies ein Paradigmenwechsel ist, dann erwarte
ich, dass man darauf achtet, was in den Betrieben passiert. Ich erwarte, dass beobachtet wird, was um uns herum passiert. Es geht nicht nur um die Akzeptanz, sondern auch um - lieber Kollege Goldmann, ich wundere
mich, dass du das vergessen hast - die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte.
({13})
Es reicht nicht aus, Akzeptanz für ein bestimmtes System zu haben. Wenn unsere Landwirte nicht mehr wettbewerbsfähig sind, dann brauchen wir auch keine Akzeptanz mehr; denn dann sind sie nämlich gar nicht mehr
da.
({14})
Deswegen streiten wir über den Weg. Dies hat mit
Umverteilung zu tun. Hier geht es um Wettbewerbsfähigkeit, um Marktanteile, um den ländlichen Raum und
natürlich auch um das Landschaftsbild. Deswegen ist
Sorgfalt angebracht.
Ich gebe gerne zu, dass ich persönlich mich gewandelt habe, dass ich meine Meinung geändert habe und
dass ich die strikte Linie, die wir in Husum festgelegt
haben - allerdings ohne Einzelheiten zum Beispiel über
den Milchbereich zu wissen -, nicht mehr einhalten
kann, da ich weiß, dass wir bei dieser strikten Linie insbesondere im Rindfleischbereich zu Strukturbrüchen
kommen würden, die enorm sind.
Liebe Uli Höfken, ich staune ein bisschen.
({15})
- Gemach, das erzähle ich dir gleich. - Du hast unsere
Verbindungen zum Bauernverband angesprochen. Wir
fragen uns manchmal, von wem wir gute Informationen
bekommen können. Es ist richtig, wenn Abgeordnete die
Verbände mit einschalten. Man kann da aber nicht zwischen dem „bösen“ Bauernverband und den „guten“ Gewerkschaften und dem „guten“ NABU unterscheiden.
({16})
Es gibt auch andere, die sich dort Informationen besorgen. Wenn du in diesem Zusammenhang vom Bauernverband sprichst, dann solltest du den Leuten auch einmal sagen, dass es bei dir offensichtlich so manche
Verbindung zu Verbänden gibt, die mit Ziegen und Schafen zu tun haben, liebe Kollegin Höfken. Man sollte zumindest in diesem Zusammenhang nicht in dieser Art für
die eigenen Leute reden und eigene Betroffenheit nicht
mitteilen.
({17})
Es geht doch darum, wie wir mit den Betrieben umgehen. Da stellt sich die Frage: Wie können wir es schaffen, dass man in die Strukturveränderung quasi hineingleitet
({18})
und dass nicht gleich am Anfang die größten Brüche auftreten? Wir wissen, dass wir die Betriebsprämie abschmelzen müssen,
({19})
um zu diesem Ziel zu kommen.
({20})
- Doch, dort steht etwas dazu. Wir haben gesagt: möglichst spät. Bei euch steht: 2010. Das ist möglichst spät.
Lies doch einmal die beiden Entschließungsanträge und
dann wirst du kaum Unterschiede sehen. Du möchtest
doch nur gerne Unterschiede hineininterpretieren. Stell
eine Zwischenfrage, dann habe ich noch etwas mehr Zeit
zu reden!
Meine Damen und Herren, bei der Betrachtung des
Milchbereiches bestehen Unterschiede. Bei den Bullen
und beim Rindfleisch sieht das anders aus als bei der
Milch; denn durch die Milchbeschlüsse ist von vornherein eine Preissenkung eingebaut. Lasst euch doch von einigen Betriebswirten erzählen, wie es letztendlich in diesen Betrieben aussieht.
Uli Höfken hat von Planungssicherheit gesprochen.
Diejenigen, die 1999 an diesem Pult gesagt haben: „Jetzt
haben die Bauern Planungssicherheit, weil wir eine
Agenda bis zum Jahr 2007 festgeschrieben haben“ und
der Landwirtschaft im Jahr 2003 eine neue Agrarreform,
die zu schnellen Veränderungen führte, überstülpten,
können nicht den Anspruch erheben, Planungssicherheit
für die Landwirte zu gewährleisten.
({21})
Die Halbwertszeit politischer Beschlüsse ist immer
kürzer geworden. Ich glaube, es hätte uns gut angestanden, über den Weg zu unserem gemeinsamen Ziel, über
den Zeitrahmen, den wir zur Erlangung dieses Ziels
brauchen, und die Veränderungen in der Landwirtschaft
und für die einzelnen Bauern noch ein wenig länger zu
diskutieren. Wenn wir das getan hätten, dann wäre die
Frontstellung, die ihr aufgebaut habt, vermeidbar gewesen.
({22})
Ich bedanke mich.
({23})
Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Agrarreform, über die wir jetzt in zweiter und dritter Lesung debattieren, ist ein wichtiger Schritt für die Landwirtschaft. Wir zeigen den Bäuerinnen und Bauern damit, wie der Weg in die Zukunft aussehen kann. Ich
freue mich, dass die Agrarministerkonferenz in Osnabrück in der letzten Woche die gemeinsame Position von
Bund und der großen Mehrheit der Länder, also der Aund B-Länder, bekräftigt hat.
Die deutliche Mehrheit für das Flächenmodell, das
wir vorschlagen und über das wir hier diskutieren, freut
mich besonders, weil es in der letzten Woche eine kleine
Irritation gegeben hat. Es wurde die Position einiger aus
dem Bauernverband laut, die ein anderes Modell bevorzugt hätten. Ich habe mich gefreut, dass die CDU/CSU
bei diesem Modell anerkennt, dass es einen Paradigmenwechsel gibt. Vor ungefähr drei Jahren, als wir die Diskussion angestoßen und nach einem neuen Modell gesucht haben, hat die CDU noch Nein gesagt. Ich habe
von Ihnen Sätze wie „Frau Künast, Sie werden das sowieso nicht durchsetzen, da sind unsere französischen
Freunde vor“ gehört. Irgendwann in einer Sommernacht
im letzten Jahr haben Sie gemerkt, dass man mit den
Franzosen gemeinsam eine Agrarreform machen kann.
Jetzt freue ich mich, dass Herr Carstensen halbwegs zu
uns gefunden hat.
({0})
Sie, Herr Carstensen, haben gesagt: Wir müssen sorgfältig darüber diskutieren. Herr Carstensen, wir diskutieren darüber schon seit Januar 2001 und wir können nicht
jedes Mal darauf warten, dass Sie mit vierjähriger Verspätung merken, dass sich Reformen im Umsetzungsprozess befinden.
Wir haben einen ganz anderen Ansatzpunkt; deshalb
kommen wir zu dem Flächenmodell. Aus dem gleichen
Grund ist wahrscheinlich auch die FDP zu diesem Modell gekommen. Es ermöglicht mehr Wettbewerb und
mehr Markt und, Herr Carstensen, es bedeutet ein wenig
mehr Solidarität unter den Landwirten. Ich sage ganz
klar: In der Vergangenheit bekamen diejenigen, die die
besten Böden besaßen, das meiste Geld.
({1})
Nun ging es dabei aber nicht um Ihr Geld, sondern um
Steuergelder. Natürlich geben wir auch das gern für die
Landwirtschaft, aber wir müssen in Zeiten knapper Kassen und im Zuge von Neuausrichtungen die Verteilung
von Steuermitteln verändern. Es geht also um Solidarität
beim Verteilen von Steuergeldern und nicht um etwas,
auf das man einen Rechtsanspruch hat.
({2})
Herr Carstensen und andere haben von Bürokratieabbau geredet. Ihr Modell aber, das Sie in Ihrem Entschließungsantrag vorstellen, würde einen nachgerade gigantischen Bürokratieaufwand nach sich ziehen. Deshalb
findet dieses Modell, genau wie das einiger Vertreter des
Bauernverbandes, nicht die Unterstützung der A-Länder
und auch nicht der B-Länder.
Als ich letzte Woche in Osnabrück ankam, habe ich
gefragt: Gibt es ein neues Papier, denn darüber würde
ich gern diskutieren? Daraufhin bekam ich die Antwort:
Vergessen Sie es. Das haben wir bereits gestern Abend
diskutiert und es lohnt sich nicht. - Es hieß: Die Zahlen
sind falsch, denn - das ist auch in Ihrem Antrag enthalten - die nationale Reserve, die eigentlich verringert
werden soll, wird faktisch erhöht. Insgesamt ist das Modell weder durchdacht noch besonders überzeugend. Sie
schaffen im Ergebnis immer mehr Härtefälle, die Sie mit
der nationalen Reserve am Ende finanziell ausgleichen
müssten. Insofern können Sie sie gar nicht senken.
Jetzt geht es darum, zukunftstauglich zu organisieren.
Zu Cross Compliance sage ich Ihnen: Sie malen zwar
den Teufel an die Wand, Tatsache ist jedoch, dass es sich
um ein Instrument zur wirksamen Kontrolle von Mindeststandards handelt. Ich möchte an dieser Stelle eines
klarstellen: Die Landwirte haben überhaupt nichts zu befürchten.
({3})
Ich gehe nämlich davon aus - vielleicht habe ich mehr
Vertrauen in die Landwirtschaft als Sie -, dass die Landwirte ordnungsgemäß wirtschaften.
({4})
Wer ordnungsgemäß wirtschaftet, hat eben nichts zu befürchten. Ich frage mich, woher Ihr Misstrauen eigentlich kommt.
({5})
Wir beschließen Umweltstandards, die nachvollziehbar sind. Diese sind auch gesellschaftlich richtig, denn
wenn man Steuergelder ausgibt, darf man auch einige
Forderungen stellen.
({6})
Wir wollen Regeln, die die Landwirte nicht über Gebühr
belasten und die die jetzigen Förderprogramme der Bundesländer für besondere Gebiete möglichst wenig tangieren.
Wir sind an dieser Stelle - dies spiegelt sich auch in
der Beschlusslage der Agrarministerkonferenz von OsBundesministerin Renate Künast
nabrück - auf einem sehr konstruktiven Weg. Wir werden auch bei den Cross-Compliance-Regelungen, also
bei den Standards für Umwelt und Tierschutz, einen gemeinsamen, für Bund und Länder gleichermaßen gangbaren Weg finden.
Auch die Erhaltung von Grünland
({7})
- zur Milch komme ich noch - war ein Thema. Ich habe
in dieser Angelegenheit mit dem zuständigen Kommissar gesprochen und ihm klar gemacht, dass wir eine gut
umsetzbare Regelung brauchen. Wir haben uns jetzt auf
eine vernünftige Lösung geeinigt, die nicht Individualzuweisungen vorsieht, sondern diese Aufgabe den Bundesländern zuweist. Dadurch sind zum Beispiel auch die
Grünlandprogramme geschützt.
({8})
Außerdem befinden wir uns im Einklang mit der EU-Regelung. Was wollen Sie mehr?
({9})
Auf der AMK haben wir auch über die Probleme bei
Milch gesprochen. Wir wissen alle um die sehr schwierige Situation. Wir appellieren nicht nur an die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch an die Wirtschaft, sich für faire Preise einzusetzen. Wir nehmen zur
Kenntnis, dass auch der Bauernverband über eine Preisreduzierung redet. Eines wissen wir: Überproduktionen
sind auch ein Werkzeug des Preisdrucks,
({10})
allerdings von den Landwirten und denen, die überproduzieren, selbst gemacht.
Der Bauernverband hat eine Reduzierung der Milchproduktion um 70 000 Tonnen zur Diskussion gestellt.
Alle Fachleute sagen mir: Diese 70 000 Tonnen sind angesichts einer Überproduktion in einer Größenordnung
von ungefähr 1 Million Tonnen ein Nichts. Wir haben
ein Optionenpapier vorgelegt und gefragt: Was können
wir tun? Darüber will ich reden: mit Ihnen, mit den Ländern, mit den Verbänden. Von all denen möchte ich wissen, was sie wollen, dass ich es tue. Es geht darum, bis
zu 1 Million Tonnen nicht mehr in die Saldierung zu
nehmen - was bedeuten würde, dass 380 Millionen Euro
von Landwirten gezahlt werden müssen, die wettbewerbsfähige, zukunftsfähige Betriebe haben, um die
nächsten Jahre zu überstehen. Wir müssen darüber diskutieren, ob wir das wollen oder nicht. Ansonsten müssen die Landwirte ihre Produktion selber reduzieren.
Hinsichtlich der Werkzeuge muss man die Wahrheit aussprechen.
({11})
Herr Goldmann hat vorhin schön gesagt: Das alte
System hat die Landwirte dazu animiert, zu fragen, wofür es Geld gibt, egal wonach der Markt fragt. Das neue
System orientiert sich am Markt und daran, gesellschaftliche Leistungen zu honorieren. Das ist die richtige
Richtung.
Ich hoffe, eines ist klar - zuletzt hat es Frau Wolff
gesagt -: Wir werden im Bundesrat zufrieden stellende
Regelungen zur Milchproduktion finden müssen, denn
bis jetzt ist das noch nicht gelungen. Wir werden auch
noch über die eine oder andere Jahreszahl reden. Das
sage ich zu. Sie können mir alle glauben. Sie wissen, wie
oft ich Ihnen schon etwas zugesagt habe, das kommen
wird, so zum Beispiel diese Reform. Sie haben nicht daran geglaubt, ich aber habe Wort gehalten. Ich werde
auch mein Wort halten, hier noch über die Zahlen und
das Thema Milch zu reden und eine akzeptable Regelung zu finden. Insgesamt wird diese Reform unseren
Landwirten helfen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, wenn Sie ernsthaft Wort halten
wollten, hätten Sie das gerade in den Beratungen der
letzten Wochen zum Thema Milch unter Beweis stellen
können. Sie sind aber nicht auf die Vorschläge der Bundesratsmehrheit eingegangen.
({0})
Auch haben Sie, gerade in Bezug auf die Milch, schlecht
verhandelt. Das für uns schwierige Ergebnis in diesem
Bereich haben wir Ihnen und Ihrer schlechten Verhandlung zu verdanken.
({1})
Meine Damen und Herren, für die Bewertung dieser
Reform, die eine der einschneidendsten Reformen in der
Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik ist, sind meines Erachtens die Antworten auf folgende zentrale Fragen ausschlaggebend: Erstens. Ist diese Reform geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte
zu verbessern?
({2})
Zweitens. Ist sie geeignet, die landwirtschaftliche
Produktion und die Produktion der ihr nachgelagerten
Bereiche - und damit die Arbeitsplätze - in Deutschland
zu halten?
({3})
Drittens. Ist die Reform geeignet, die leistungsfähigen
und leistungsstarken Betriebe, also gerade die, die in der
Vergangenheit viel investiert haben, zu stärken?
({4})
Auf diese drei zentralen Fragen würden Sie gerne mit
Ja antworten. Aber wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie sagen: Genau diese Anforderungen erfüllt diese Reform
nicht.
({5})
Wenn Sie den Landwirten ehrlich sagen, was ihnen diese
Reform bringen wird, dann werden Sie sehr schnell zu
folgenden Ergebnissen kommen: Diese Reform führt
wieder zu Preissenkungen, zu Prämienkürzungen, zu
neuen Bewirtschaftungsauflagen mit zusätzlicher Bürokratie und - damit verbunden - einer schlechteren Wettbewerbssituation innerhalb der Europäischen Union
({6})
sowie zu einer massiven und schnellen Umverteilung innerhalb der Landwirtschaft zulasten der leistungsstarken
und intensiv wirtschaftenden Betriebe.
({7})
Gelegentlich sagen Sie dann, dass diese Entscheidung
auf EU-Ebene getroffen worden sei und dass wir damit
nichts zu tun hätten.
({8})
Diese Entscheidung ist aber von der zuständigen deutschen Ministerin mitverhandelt und mitgetragen worden.
Daher wäre es schön, wenn wir wenigstens in einigen
Bereichen eine deutsche Handschrift erkennen könnten.
Das wäre beispielsweise im Bereich der Milchwirtschaft notwendig. Wir verfügen in Deutschland über
etwa 25 Prozent der gesamten Milchproduktion innerhalb der EU.
({9})
Unsere Milchbauern erleiden aufgrund dieser Reform
Einkommenseinbußen von fast 1 Milliarde Euro.
({10})
Meine Damen und Herren, das müssen wir uns vergegenwärtigen; denn genau das ist das Ergebnis der Verhandlungen innerhalb der Europäischen Union, das jetzt
umgesetzt wird.
({11})
Deshalb müssen wir die Situation der Milchbauern verbessern. Das, was im Rahmen der nationalen Umsetzung
noch korrigiert werden kann, muss korrigiert werden.
({12})
Frau Kollegin Hasselfeldt, einen Augenblick bitte.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der gleich stattfindenden namentlichen Abstimmung bitte ich um etwas
mehr Ruhe und Gehör für die Rednerin. - Bitte schön,
fahren Sie fort.
Danke. - Es gibt ja durchaus Spielraum auf nationaler
Ebene. Das heißt, wir sind nicht gehalten, das Verhandlungsergebnis genau umzusetzen. Andere Länder, beispielsweise Frankreich und Österreich, nutzen diesen
Spielraum zugunsten ihrer leistungsstarken Betriebe aus.
Bei uns hingegen wird diese Reform unter der großen
Überschrift „Agrarwende“ umgesetzt, obwohl sich dahinter nichts anderes verbirgt als eine massive und
schnelle Umverteilung zulasten der leistungsstarken Betriebe.
({0})
Damit wir uns hier nichts vormachen, sage ich Ihnen:
Das hat nicht nur Auswirkungen für die Landwirte, sondern das hat auch für die nachgelagerten Bereiche massive Auswirkungen,
({1})
beispielsweise - um nur ein Stichwort zu nennen - im
Bullenmastbereich. In dem Moment, in dem die Landwirte verstärkt aus dieser Produktion aussteigen, was sie
aufgrund dieser Reform tun werden, werden sich Auswirkungen auf die regionalen Schlachthöfe und die gesamte Verarbeitungsindustrie ergeben, die eine Fülle von
Arbeitsplätzen in Gefahr bringen werden, ganz zu
schweigen davon, dass die Kälber verkauft werden müssen.Wenn sie nicht mehr in Deutschland produziert werden, dann werden sie eben von anderen Ländern verkauft - dort, wo die Maßnahme anders umgesetzt wird.
Das ist für uns ein Wettbewerbsnachteil.
({2})
Neben dieser Prämienregelung ist bei dieser Umsetzung das Stichwort Cross Compliance ganz wichtig.
Meine Damen und Herren, wer soll denn glauben, was
die Ministerin gesagt hat - dass die Landwirte nichts zu
befürchten haben -, wenn er sich bloß einmal anzuschauen braucht, was diese Regierung in der Vergangenheit bereits bei der Umsetzung europäischen Rechts in
nationales Recht gemacht hat: Bei jeder möglichen Gelegenheit wurden die deutschen Landwirte stärker zur
Kasse gebeten, wurden die Auflagen verstärkt.
({3})
- Beispielsweise bei der Düngeverordnung; es gibt aber
auch jede Menge anderer Beispiele!
Mit den vorgesehenen Regelungen für Cross Compliance ist im Übrigen eine zusätzliche Gefahr verbunden,
nämlich dass die guten Länderprogramme im AgrarGerda Hasselfeldt
umweltbereich nicht mehr aufgelegt werden können.
Dies werden wir genauso wenig mitmachen wie das Vorhaben, dass das Bundesumweltministerium die Einvernehmensbehörde für die Durchführungsvorschriften im
landwirtschaftlichen Bereich sein soll.
({4})
Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Vorstellungen entwickelt. Ich will nur die wesentlichen nennen:
Erstens. Cross Compliance darf nur eins zu eins umgesetzt werden. Die deutsche Landwirtschaft kann keine
zusätzlichen Wettbewerbsnachteile verkraften.
({5})
Zweitens. Die laufenden Agrarumweltprogramme der
Bundesländer müssen auch weiterhin möglich sein, denn
damit werden zusätzliche Umweltmaßnahmen der Landwirte in den Regionen, die das schätzen, ermöglicht.
({6})
Drittens. Eine Einvernehmensregelung zugunsten des
Bundesumweltministers werden wir auf keinen Fall akzeptieren.
({7})
Viertens. Die Milchprämie muss bis zum Ende der
Laufzeit betriebsbezogen gewährt werden, denn gerade
die Milchbauern haben nicht nur durch die aktuelle
Preissituation, sondern auch durch die EU-Beschlüsse
ganz gravierende Einbußen.
({8})
Bei allen Forderungen, die ich jetzt genannt habe, befinden wir uns in guter Gesellschaft mit den unionsgeführten Bundesländern.
({9})
Alle Vorschläge - zu Cross Compliance genauso wie zur
Milchwirtschaft - sind durch Bundesratsbeschlüsse in
den einzelnen Ausschüssen gedeckt.
Wir haben noch das Problem zu lösen, wie das übrige
Prämienvolumen verteilt wird. Auch dafür gibt es einen
konkreten Vorschlag: Ein fester Anteil von 35 Prozent
wird flächenbezogen gewährt, die anderen 65 Prozent
betriebsbezogen, und zwar für einen möglichst langen
Zeitraum, um auch denen entgegenzukommen, die im
Vertrauen auf die Politik gerade in den letzten Jahren Investitionen vorgenommen haben. Dies sorgt für Glaubwürdigkeit und dient der Planungssicherheit der Landwirte und Betriebsinhaber.
({10})
Nach diesem Vorschlag wird die Umverteilung bei
weitem nicht so schnell und bei weitem nicht so krass
vorgenommen, werden die leistungsstarken Betriebe gestärkt, vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jahren investiert haben. Im Grundgedanken, die leistungsstarken Betriebe zu stärken und die Umverteilung so
gering wie möglich zu gestalten, befinden wir uns wiederum in guter Gesellschaft mit den unionsregierten
Ländern.
Meine Damen und Herren, Kant hat einmal gesagt:
Aus einem krummen Holz kann man keinen geraden
Stab schnitzen. - Entsprechend ist unser Vorschlag ein
Versuch, aus dem verkorksten, schlecht verhandelten Ergebnis des EU-Beschlusses doch noch ein gutes, tragfähiges Ergebnis für die deutschen Bauern und die deutsche Bevölkerung insgesamt zu erreichen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Michael Müller von der
SPD-Fraktion. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
bitte noch einmal um ein wenig Ruhe, damit der letzte
Redner in dieser Debatte noch Gehör finden kann. Bitte schön, Herr Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde
mehrfach gesagt, dass es richtig sei, einen Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik einzuleiten. Wenn man Ihnen von der Union zuhört - Herr Goldmann, Ihre Rede
empfand ich bis auf den Schluss als sehr wohltuend -,
dann kann ich nur sagen: Seit 20 Jahren reden Sie über
Reformen; wenn es darauf ankommt, knicken Sie ein.
Nichts anderes ist hier von Ihnen rübergekommen.
({0})
Ihr Kernsatz lautet: Eigentlich wollen wir, dass alles so
bleibt. Angesichts der Probleme in der Landwirtschaft
ist dieser Satz unverantwortlich; denn Sie wissen, dass
dies nicht geht. Sie sind Repräsentanten der deutschen
Krankheit, über Reformen zu reden, aber keine zu wollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.
({1})
Man muss eines hinzufügen: Die Mehrheit dieser Reformen wurde noch zu Ihrer Regierungszeit geplant.
Schauen Sie sich einmal an, was Frau Künast seitdem
verbessert hat. Natürlich nutzen wir den nationalen
Spielraum aus - das tun wir wie alle anderen -; aber wir
tun dies erstens in Übereinstimmung mit den nationalen
Bedingungen und zweitens so, dass sich in Europa etwas
bewegen kann. Was nützt es, wenn wir etwas fordern,
sich aber in Europa nichts bewegt? Genau diese Verbindung hat Renate Künast aus meiner Sicht gut hinbekommen; dafür danken wir ihr.
({2})
Meine Damen und Herren, die GAP-Reformen sind
keine Willkür, sondern notwendige Voraussetzung, weil
wir mehr Markt, mehr Effizienz und mehr gesellschaftliche Verpflichtungen brauchen. Sie sind Voraussetzung
für eine nachhaltigere Landbewirtschaftung und eine
stärkere Orientierung der Landwirtschaft am Markt, um
die subventionierte Überschussproduktion zu verringern
und eine bessere Ausrichtung auf die Wünsche der
Michael Müller ({3})
Verbraucher sowie mehr Lebensmittelsicherheit zu erreichen.
Ich verstehe auch nicht, wenn ein Widerspruch zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft konstruiert
wird. Die Zukunft unserer Landwirtschaft - dies war
auch in der Vergangenheit oft schon so - liegt doch gerade in der Qualität. Glaubt jemand im Ernst, diese Qualität ließe sich bei einem Widerspruch zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft erreichen? Das wäre ein
völlig falscher Weg. Die Landwirte müssen gute Vertreter des Umweltschutzes sein; sie sind es überwiegend
auch. Deshalb empfinde ich es als schlicht falsch, wenn
man von einem solchen Gegensatz redet.
({4})
Wichtig ist schließlich auch, dass wir mit diesem Ansatz den ländlichen Raum stärken. Deshalb ist es gut,
dass wir die beiden Säulen der GAP in den Mittelpunkt
stellen und nicht nur über ein Regulierungssystem reden.
Wir erweitern die Landwirtschaftspolitik. Genau dies ist
künftig die Chance auf mehr Qualität.
({5})
Meine Damen und Herren, eine Reform der alten
Agrarpolitik ist längst überfällig. Sie ist durch ihre undurchschaubaren, komplizierten Geflechte aus Quoten,
Interventionspreisen und Regulierungen schon lange
nicht mehr haltbar. Es ist gut, dass wir mit diesen Ungleichgewichten endlich Schluss machen. Herr
Goldmann hat Recht: Man kann über so etwas nicht immer nur reden, sondern man muss auch einmal springen.
Natürlich sind wir bereit, über Einzelheiten zu reden.
Aber wenn wir den Eindruck haben, dass nur auf Konfrontation gesetzt und versucht wird, alles zu verhindern,
dann ist es auch schwierig, konstruktiv über Verbesserungen zu reden.
({6})
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Wir sind bereit, über
Verbesserungen zu reden, weil wir wissen, dass es in einzelnen Punkten durchaus noch Verbesserungen geben
kann. Aber das geht nur, wenn man an die Grundfrage
der Reformen konstruktiv herangeht und nicht versucht,
alles zu blockieren, zu erschweren und zu verhindern.
Meine Damen und Herren, wenn Sie an diesem Kurs
festhalten, müssen Sie auch sehen, welche unverantwortliche Position Sie vertreten. Wir stehen vor der nächsten
WTO-Runde, wir stehen vor der EU-Osterweiterung. Es
ist eine Illusion, zu glauben, man könne diese Herausforderungen ohne Reformen bestehen. Deshalb muss heute
gehandelt werden. Genau dies tun wir. Wir haben nun
lange genug über das Thema geredet. Nun machen wir
den richtigen Schritt.
Wir danken Renate Künast. Wir danken übrigens
auch einem großen Teil der Bauernverbände. Diese haben sich in der Diskussion von der anfänglich totalen
Ablehnung konstruktiv auf die Reform zu bewegt. Sie
sind Ihnen von der Union voraus; die Wahrheit ist, dass
Sie in der Zwischenzeit sogar hinter die Positionen des
Bauernverbandes zurückgefallen sind, von Ihren Ländern, die überwiegend die GAP unterstützen, gar nicht
zu reden.
({7})
Meine Damen und Herren, das Kombimodell der
Bundesregierung ist unserer Meinung nach der richtige
Ansatz. Wir sind bereit, über Einzelheiten zu sprechen,
sind aber nicht bereit, einen Konfrontationskurs mitzumachen. Nein, wir können jetzt den notwendigen Schritt
in Richtung auf eine moderne Landwirtschaftspolitik
machen und so den ländlichen Raum stärken. Das ist der
Weg, den wir gehen werden. Darin lassen wir uns nicht
beirren.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen
bekannt, dass es eine Erklärung zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung der Kolleginnen Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau gibt. Wir nehmen diese Erklärung
zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, Druck-
sachen 15/2553 und 15/2770.
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2843, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak-
tion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
absolute Mehrheit - das sind 302 Stimmen - erforder-
lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben
die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Plätze
eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die
Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Ich schließe die
Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
1) Anlage 2
2) siehe Seite 9219 C
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen, da wir nun mit den Abstimmungen fortfahren und ich nur so Ihr Abstimmungsverhalten überblicken kann.
Ich komme zu den Entschließungsanträgen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2856? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2857? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/
CSU.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
zu den Ergebnissen des Frühjahrsgipfels der
Europäischen Union am 25./26. März 2004
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gipfel in Brüssel war in zweifacher Weise
durch die Ereignisse in Madrid geprägt: Die furchtbaren
Terroranschläge haben dazu beigetragen, dass Europa
enger zusammenrückt, und die neue spanische Regierungspartei hatte bereits vor dem Gipfel deutlich gemacht, dass sie ihr Land zurück ins Zentrum Europas
führen möchte. Es bietet sich nun die Chance einer Einigung über die zukünftige europäische Verfassung. Wir
sollten diese Chance ergreifen.
({0})
Was hat uns die Opposition in diesem Haus in den
vergangenen Jahren nicht alles vorgeworfen: die Spaltung der EU, die Zerstörung der NATO. Nichts davon
war richtig. Die Realität zeigt: Gerade Deutschland hat
zur Einigung Europas entscheidend beigetragen. Die
Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum
60. Jahrestag der Landung der alliierten Streitkräfte in
der Normandie ebenso wie die Einladung zum
60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes zeigen, welches Vertrauen hier gewachsen ist. Auch die transatlantische Partnerschaft ist stabil. Gerade die internationale
Afghanistan-Konferenz, die gestern und heute hier in
Berlin stattfindet, zeigt, welche Fortschritte wir gemeinsam erzielen können. Sie zeigt aber auch, vor welchen
Herausforderungen wir stehen.
Der Europäische Rat hat beschlossen, Art. 42 des Verfassungsentwurfs bereits heute anzuwenden, wenn einer
der Mitgliedstaaten Opfer eines Terroranschlages wird.
Durch diese Solidaritätsklausel wird sichergestellt, dass
in einem solchen Fall alle Mitgliedstaaten die ihnen zur
Verfügung stehenden Mittel mobilisieren und den betreffenden Staat unterstützen. Diese Klausel war in der Diskussion des Verfassungsentwurfs in der Regierungskonferenz noch umstritten. Nun zeigt die EU die
erforderliche Solidarität und Entschlossenheit.
({1})
Ein Antiterrorismuskoordinator der EU wird dazu beitragen, Informationen besser und schneller zusammenzuführen und die Arbeit der Sicherheitsbehörden enger zu
koordinieren.
Wir müssen und werden die Zusammenarbeit insbesondere in drei Bereichen verbessern: Bei der polizeilichen Zusammenarbeit werden die Mitgliedstaaten die
vorhandenen Informationen über Straftäter besser vernetzen und miteinander austauschen. Die justizielle Zusammenarbeit muss insbesondere durch die schnelle
Einführung des europäischen Haftbefehls verbessert
werden. In Europa wird nicht verstanden, warum dieses
wichtige Projekt im Bundesrat blockiert werden soll.
({2})
Die Arbeit der Nachrichtendienste wird durch eine neue
Schnittstelle im Ratssekretariat verknüpft. Damit soll sichergestellt werden, dass Terrorismusinformationen von
nationalen Polizei- und Nachrichtendiensten an einer
Stelle zusammenlaufen, miteinander abgeglichen und effektiver als heute genutzt werden.
Auch wenn die aktuellen Ereignisse den eigentlichen
Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels ein wenig in den Hintergrund gedrängt haben, ist es doch gelungen, den Fokus der Lissabon-Strategie noch stärker auf mehr
Wachstum und mehr Beschäftigung zu richten. Zu diesem Zweck sollen vor allem die strukturellen Voraussetzungen verbessert werden. Das erfordert eine Konzentration auf Innovation, Bildung, Forschung, Entwicklung
und neue Technologien.
Dabei richtet sich die Lissabon-Strategie nicht nur an
die Institutionen der EU. Konkrete Reformen müssen
vor allem in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Wir
modernisieren den Arbeitsmarkt, stellen die sozialen
Sicherungssysteme auf eine tragfähige Grundlage, haben Steuern gesenkt und stabilisieren die Lohnnebenkosten. Die Agenda 2010 stellt sich den Herausforderungen der Gegenwart und eröffnet so Spielräume für
die Zukunft.
Neue Technologien und Verfahren, Dienstleistungen
und Investitionen in Forschung und Entwicklung sind
Elemente einer mehr und mehr wissensbasierten Wirtschaft. Das Fundament jedoch ist noch immer eine
starke industrielle Basis. Deshalb treten wir Gefahren
der Deindustrialisierung entschlossen entgegen.
({3})
Wir wollen, dass eine aktive, wachstumsfördernde Industriepolitik wieder in den Mittelpunkt des Handelns
der EU rückt; denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europas und insbesondere die seiner industriellen
Kernländer Deutschland, Frankreich und Großbritannien
ist entscheidend dafür, dass wir auch zukünftig Wohlstand und das hohe soziale Niveau in Europa sichern
können.
({4})
Es war uns deshalb wichtig, dass die Kommission die
Auswirkungen europäischer Gesetzgebung auf die Wettbewerbsfähigkeit und den Verwaltungsaufwand für Unternehmen in Zukunft bereits im Vorfeld neuer Regelungen untersucht und in ihre Entscheidungen einbezieht.
Aber machen wir uns nichts vor. Die Umsetzung der
Lissabon-Strategie auf europäischer Ebene muss mit höherem Tempo und vor allem mit mehr Kohärenz vorangetrieben werden, wenn wir die anvisierten ambitionierten Ziele erreichen wollen. Eine Gruppe unter Leitung
von Wim Kok wird bis November eine Halbzeitbilanz
des Lissabon-Prozesses vorlegen. Die Konsequenz der
bereits heute erkennbaren Defizite lautet aus meiner
Sicht: Wir sollten nicht die Ziele revidieren, sondern die
Anstrengungen erhöhen, um die ambitionierten und richtigen Ziele zu erreichen.
({5})
Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien haben wir angeregt, die Kohärenz der Kommissionsarbeit
durch die Einrichtung eines für Fragen der Wettbewerbsfähigkeit zuständigen Vizepräsidenten zu stärken. Diese
Frage wird der neue Kommissionspräsident zu entscheiden haben. Aber es ist auf dem Europäischen Rat deutlich geworden: Es zeichnet sich hier eine sehr breite
Übereinstimmung unter den Mitgliedstaaten ab.
Die Staats- und Regierungschefs haben in Brüssel
auch den Weg für einen Abschluss der Verfassungsverhandlungen geebnet. Unstreitig ist nun, dass das Prinzip
der doppelten Mehrheit Grundlage für Entscheidungen
des Rates werden soll.
({6})
Das bedeutet nicht weniger als: Europa wagt mehr Demokratie. Das ist die Botschaft des Europäischen Rates.
Die EU muss handlungsfähiger und transparenter werden, die Bürgerinnen und Bürger müssen nachvollziehen
können, wie Entscheidungen zustande kommen. Die Bildung von Gestaltungsmehrheiten muss erleichtert, die
von Blockademinderheiten zukünftig erschwert werden.
Deshalb - da sind wir uns einig, Herr Kollege Altmaier werden wir sehr sorgfältig auf die noch zu leistende Ausgestaltung des Prinzips zu achten haben.
Auch das Verständnis für die Notwendigkeit einer
kleineren und damit effizienteren und handlungsfähigeren Kommission wächst. Wir haben die Zeit genutzt, um
auch hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Unmittelbar
nach der Erweiterung gibt es ein nachvollziehbares Interesse gerade der neuen Mitgliedstaaten, mit einem eigenen Kommissar in Brüssel sichtbar zu sein. Aber im
Zeitablauf deutet sich eine Lösung für die Verkleinerung
der Kommission an.
Es gilt nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die
Integrationsfortschritte im Bereich der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Justiz- und Innenpolitik zu sichern. Der Entwurf des Konvents wird
Europa demokratischer, handlungsfähiger und bürgernäher machen.
({7})
Wir alle haben zu diesem Entwurf beigetragen. Lassen
Sie uns den gemeinsamen Kompromissvorschlag jetzt
nicht durch Nachforderungen gefährden.
Noch hat die irische Präsidentschaft, der ich an dieser
Stelle für ihre hervorragende Arbeit schon heute Dank
und Anerkennung aussprechen möchte, nicht über das
weitere Verfahren entschieden. Die Bundesregierung
wird - das hat sich während des Konvents und der Regierungskonferenz bewährt - Bundestag und Bundesrat
weiterhin umfassend über den Fortgang informieren.
({8})
Mit Fortschritten bei der Verfassung erfüllen wir nicht
nur die berechtigten Erwartungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger; eine gute Verfassung ist auch die
Voraussetzung für das Gelingen der Erweiterung. Heute
in einem Monat erleben wir die Vereinigung Europas.
Die Einigkeit des Europäischen Rates, die Geschlossenheit und Entschlossenheit der europäischen Staats- und
Regierungschefs auf dem Frühjahrsgipfel sind eine gute
Grundlage für das Gelingen der großen Aufgaben, die
vor uns liegen, für die erfolgreiche Verknüpfung von Erweiterung und Vertiefung, für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger.
({9})
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat heute zum ersten Mal
Gelegenheit, über zentrale Grundfragen nach dem europäischen Gipfel in Brüssel zu sprechen. Was bietet uns
zu diesen zentralen Grundfragen die Bundesregierung?
Die halbe Bundesregierung war beim Gipfel in Brüssel
und lässt heute einen Staatsminister zu uns sprechen, der
von den Beratungen ausgeschlossen war.
({0})
Damit wird die Tradition fortgesetzt, die wir im Europaausschuss schon länger zu beklagen haben, nämlich dass
die Regierung versucht, das Parlament in den entscheidenden Fragen Europas aus den Beratungen herauszuhalten. Unser Verständnis von Demokratie ist ein anderes. Danach gehört das Parlament mitten in diese
Beratungen hinein.
({1})
Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, denken Sie bitte daran, dass die europäische Verfassung nicht nur das Wohlwollen und die Zustimmung
der Bundesregierung braucht, sondern dass die europäische Verfassung auch die Zustimmung des Deutschen
Bundestages und des Bundesrates braucht. Gehen Sie
bitte mit diesen Verfassungsorganen so pfleglich um,
wie es unsere Verfassung vorsieht.
({2})
Nie zuvor stand die Europäische Union vor so großen
Herausforderungen wie heute. Der Beitritt von zehn
neuen Staaten am 1. Mai wird der Europäischen Union
ein neues Gesicht verleihen. Ich möchte für die CDU/
CSU-Fraktion sagen: Wir empfinden den Beitritt dieser
zehn Staaten als einen politischen und kulturellen Gewinn für die Europäische Union.
({3})
Wenige Wochen nach der endgültigen Vollendung der
europäischen Einigung werden wir hoffentlich die Geburtsstunde der europäischen Verfassung feiern können.
Zum Jahresende haben wir die Frage zu beantworten, ob
die Europäische Union den Beitritt der Türkei verkraften
kann.
Schließlich müssen wir alles daransetzen, um der Geißel des Terrorismus in Europa Herr zu werden. Mein
Wunsch ist, dass die Europäische Union den Mut und die
Kraft hat, die richtigen Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen.
Was die Verfassung angeht, wünsche ich mir, dass
die Staats- und Regierungschefs die Gunst der Stunde
nutzen und die noch offenen Fragen so schnell wie möglich klären. Dabei wäre es gut, wenn die Bundesregierung ihre Hände nicht selbstzufrieden in den Schoß legen würde. Statt tatenlos am Verhandlungstisch zu
sitzen, sollte sie sich aktiv um einen möglichst optimalen
Verhandlungserfolg bemühen.
({4})
Dazu gehört für die CDU/CSU-Fraktion der klare
Verweis auf das christliche Erbe Europas in der Präambel als Ausdruck unserer Wertgrundlagen. Wer das gering schätzt, der versteht die geistigen Herausforderungen der Zeit völlig falsch.
({5})
Was die Politik der Europäischen Union angeht, ist
seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957
im EG-Vertrag das starke Dreieck der Wirtschaftspolitik,
bestehend aus den Eckpunkten Wachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität, verankert. Die Preisstabilität
ist zwischenzeitlich leider herausgebrochen worden. Wir
wollen, dass sie neben dem Wachstum und der Vollbeschäftigung wieder als Ziel mit aufgenommen wird.
({6})
Wir setzen uns auch dafür ein, dass im Rahmen der
Ratifizierung der europäischen Verfassung die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages gestärkt werden. Schließlich werden immer mehr Politikbereiche
und Lebensbereiche der Bürger durch die Gesetzgebung
auf europäischer Ebene bestimmt. An dieser Gesetzgebung ist zwar die Bundesregierung stark beteiligt - das
ist auch gut so im Sinne der europäischen Verträge -,
aber wir wollen auch, dass das deutsche Parlament, der
Bundestag, an diesen Beratungen beteiligt wird. Über
die Beteiligung des Deutschen Bundestages wollen wir
eine deutsche und europäische Öffentlichkeit für wichtige Gesetzgebungsvorhaben in Brüssel schaffen.
({7})
Die europäische Verfassung wird eine grundlegend
neue Architektur im innerstaatlichen Umgang mit europapolitischen Vorhaben und in der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen staatlichen Akteuren erfordern.
Dies schließt eine Überprüfung und Neubewertung des
Art. 23 unseres Grundgesetzes und der darin vorgeschriebenen Verfahren sowie des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein weiterer
Punkt ist mir sehr wichtig. Zu den Schicksalsfragen
Europas gehört die Frage, wer in Zukunft noch zur
Union der 25, die es ab dem 1. Mai 2004 geben wird,
hinzustoßen wird. Hier wollen wir durch eine Änderung
der gesetzlichen Grundlagen in Deutschland erreichen,
dass wir als Deutscher Bundestag bei der Eröffnung
von Beitrittsverhandlungen genauso unser Votum abgeben können wie die Kammer der Länder, der Bundesrat.
Denn das Tor zum Beitritt wird nicht mit dem Abschluss
der Beitrittsverhandlungen aufgestoßen, sondern mit ihrer Eröffnung. Wir wollen, dass die Repräsentanten der
Bürgerinnen und Bürger - und damit unseres Volkes im Deutschen Bundestag in diesem entscheidenden Moment um ihr Votum gefragt werden.
({8})
Gleiches gilt für die Zustimmung der Bundesregierung zu möglichen Entscheidungen des Europäischen
Rates, durch einstimmigen Beschluss von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung überzugehen. Das
verändert das deutsche Gewicht in Europa erheblich.
Das kann im Einzelfall richtig und förderlich sein - das
ist es auch in den meisten Fällen -, aber auch diese gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung wollen wir
parlamentarisch begleiten. Wir wollen, dass die Bundesregierung dem deutschen Parlament über ihre Position in
diesen Verhandlungen Rechenschaft ablegt.
({9})
Es schleicht sich leider mehr und mehr ein, dass interessante außenpolitische und europapolitische Kurswechsel und Positionsbestimmungen der Bundesregierung in der Presse und im Fernsehen abgehandelt, aber
nicht im Plenum des Deutschen Bundestages beraten
werden. Der Bundesaußenminister hakelt zurzeit mit
dem Bundeskanzler um den zukünftigen Kurs in der
Europapolitik. Herr Fischer hat sich eine Abkehr von seiner Humboldt-Rede vorgenommen und verspottet die
Gründerstaaten der Europäischen Union als Kleineuropa.
({10})
Der Bundeskanzler hat ihm darin widersprochen. Das
möchte ich hier positiv erwähnen. Aber negativ ist, dass
wir bis jetzt keine Gelegenheit hatten, im Plenum des
Deutschen Bundestages mit dem Herrn Bundeskanzler
und dem Herrn Bundesaußenminister über die Grundfragen der deutschen Europapolitik zu sprechen, weil sie
sich bisher einer solchen Aussprache konsequent verweigert haben.
({11})
Das eine ist die Hakelei zwischen dem Bundesaußenminister und dem Bundeskanzler in der Frage, wer eigentlich die Zuständigkeit in der Europapolitik hat.
Unter dieser Fragmentierung in der Europapolitik leidet
übrigens die Position Deutschlands in Europa massiv;
denn die entscheidende Rolle, die wir von Konrad
Adenauer bis Helmut Kohl gespielt haben, nämlich als
größter und einflussreichster Staat Europas die Mittlerrolle wahrzunehmen, was von allen Staaten Europas als
positiv und förderlich anerkannt wurde, haben wir unter
Rot-Grün zugunsten einer Streiterrolle aufgegeben. Das
ist der schwerste Fehler der Europapolitik der Bundesregierung.
({12})
Ich finde es schon merkwürdig, dass wir in einer Zeit,
in der wir zu Recht nach unseren geistigen Grundlagen
fragen, auf einmal von der Vorstellung, dass Europa einen inneren Zusammenhalt, ein Wirgefühl und gemeinsame Werte braucht, sowie von der Idee der politischen
Union und deren Vertiefung Abschied nehmen und von
einem Kontinentaleuropa träumen sollen, eine Vorstellung, die in Deutschland als Begründung dienen soll, den
Beitritt der Türkei praktisch zu erzwingen.
({13})
- Übrigens, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, in Sachen Türkei so vehement dazwischenrufen, dann darf ich Ihnen empfehlen, nicht nur die
Ausführungen von Helmut Schmidt und von unserem
Bundespräsidenten Johannes Rau, sondern vielleicht
auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof
Huber, gesagt hat und was er uns ins Stammbuch geschrieben hat.
({14})
Bischof Huber hat nicht nur vor einem übereilten Beitritt
der Türkei sehr gewarnt, sondern er hat auch klar gesagt,
dass die Diffamierung der Europäischen Union als
christlichen Klub völlig die Tatsache verdunkelt, dass es
das Christentum war, das die Werte von Freiheit und
Menschenwürde sowie von Toleranz, sozialer Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in Europa hervorgebracht
hat, und dass das die entscheidenden Werte sind, die
auch in Zukunft für unsere Vorstellung von Europa von
Bedeutung sind. Wir sollten also das Erbe des Christentums ernst nehmen.
({15})
- Sie sollten nicht so viel dazwischenbrüllen. Wenn Sie
schon nicht auf Ihren Bundespräsidenten und Ihren Altkanzler hören, dann hören Sie wenigstens auf eine solch
wichtige Stimme aus dem kirchlichen Raum.
({16})
Zum Schluss zu den wirtschaftlichen Fragen. Hinsichtlich der Lissabon-Strategie ist das Bild gemischt.
Während viele Staaten in Europa die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich für die Zukunft rüsten, ist Deutschland im Jahre 2003 zum ersten Mal in seiner Geschichte
unter den EU-Durchschnitt gerutscht. Dass das Land der
sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders
einmal zum ärmeren Teil Europas gehören würde,
({17})
hätten selbst Pessimisten beim Amtsantritt von Rot-Grün
nicht für möglich gehalten.
({18})
Der Bundeskanzler hat das geschafft und Herr Trittin hat
das Seine dazu beigetragen.
Es täte der deutschen Europapolitik gut, wenn die
deutsche Bundesregierung zu einem doppelten Ausgleich zurückfinden würde: zu einem fairen Ausgleich in
Europa und zu einem fairen Ausgleich zwischen den politischen Kräften hier im Parlament. Die Europäische
Union ist auf die breite Unterstützung aller politischen
Kräfte angewiesen. Wir fordern die Bundesregierung
auf, zu diesem Grundsatz, der von allen Regierungen in
den letzten Jahrzehnten beherzigt wurde, zurückzukehren.
({19})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik bekannt. Abgegebene Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein
haben gestimmt 281, Enthaltungen eine. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
({0})
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 589;
davon
ja: 305
nein: 283
enthalten: 1
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({1})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({2})
Klaus Barthel ({3})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({4})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({5})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({6})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({8})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Karl-Hermann Haack
({9})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({10})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({11})
Walter Hoffmann
({12})
Iris Hoffmann ({13})
Frank Hofmann ({14})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({15})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({16})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({17})
Christian Müller ({18})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({19})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({20})
Michael Roth ({21})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
({22})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({23})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({24})
Ulla Schmidt ({25})
Silvia Schmidt ({26})
Dagmar Schmidt ({27})
Wilhelm Schmidt ({28})
Heinz Schmitt ({29})
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Brigitte Schulte ({30})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Reinhard Schultz
({31})
Swen Schulz ({32})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Jörg Tauss
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({33})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({34})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
Gert Weisskirchen
({35})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({36})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({37})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
({38})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({39})
Volker Beck ({40})
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({41})
Katrin Göring-Eckardt
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Renate Künast
Undine Kurth ({42})
Markus Kurth
Dr. Reinhard Loske
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({43})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({44})
Krista Sager
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({45})
Werner Schulz ({46})
Petra Selg
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({47})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({48})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({49})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({50})
Peter H. Carstensen
({51})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Albert Deß
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({52})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({53})
Dirk Fischer ({54})
Axel E. Fischer ({55})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({56})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({57})
Gerlinde Kaupa
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({58})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({59})
Dr. Karl A. Lamers
({60})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({61})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({62})
Stephan Mayer ({63})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Conny Mayer
({64})
Dr. Martin Mayer
({65})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({66})
Doris Meyer ({67})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({68})
Bernward Müller ({69})
Hildegard Müller
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({70})
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({71})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({72})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({73})
Andreas Schmidt ({74})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({75})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({76})
Gerald Weiß ({77})
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({78})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Daniel Bahr ({79})
Angelika Brunkhorst
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich ({80})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({81})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Christoph Hartmann
({82})
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
({83})
Eberhard Otto ({84})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Enthalten
Fraktionslose Abgeordnete
Jetzt erteile ich der Kollegin Anna Lührmann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es war ein guter Gipfel für Europa. Es war
ein Gipfel, der Europa wieder auf den richtigen Weg gebracht hat; denn auf diesem Gipfel wurde klar, dass Europa eine neue Verfassung bekommen wird, und das
spätestens im Juni. Die EU hat gezeigt, dass sie wieder
bereit ist, nach vorne zu blicken. Das sind gute Nachrichten für Europa.
Nach all den Unwägbarkeiten der vergangenen drei
Monate, nach dem unwürdigen Gezerre um den Verfassungsentwurf des Konventes bin ich nun froh und erleichtert, dass sich die europäischen Regierungen endlich besonnen haben. Es ist offensichtlich, dass die
Europäische Union nur mit dieser Verfassung die globalen und die europäischen Aufgaben angemessen lösen
können wird.
Es wurde auch höchste Eisenbahn: In genau einem
Monat werden die zehn neuen Mitgliedstaaten der EU
beitreten und die EU braucht neue vertragliche Grundlagen, um handlungsfähig zu sein. Auch die Bürgerinnen
und Bürger sollten wissen, was die Grundlage der europäischen Geschäfte ist, wenn sie im Juni zur Europawahl
gehen. Deshalb ist der Abschluss der Verfassung und der
Regierungskonferenz noch vor den Wahlen so wünschenswert.
Ich persönlich will an dieser Stelle auch den Vorschlag von Pat Cox begrüßen: Der 9. Mai, der Europatag, markiert den Beginn der europäischen Kooperation;
er ist Symbol für europäischen Fortschritt. Deshalb ist
dies der optimale Tag für die Annahme der europäischen
Verfassung.
Wie eben wieder einmal deutlich wurde, haben Teile
der Opposition die Zeichen der Zeit aber noch immer
nicht erkannt.
({0})
Die CSU muss jetzt resigniert feststellen, dass sich Europa schneller als die Opposition einigt. Die CSU droht
zum Trotz, der neuen Verfassung eventuell gar nicht zuzustimmen. Anders sehen das die CDU-Kollegen. Ich
würde sagen: Damit folgt die CDU/CSU zur Abwechslung einmal eindeutig den neuen Vorgaben von Frau
Merkel; denn sie demonstriert hier vorbildlich die neue
Zerstrittenheit der Opposition.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren der CSU, ich finde es
beinahe gruselig, wie Sie argumentieren. Ihre Forderungen sind nicht nur überzogen, sondern sie zeigen vor allen Dingen auch, dass Sie überhaupt kein Gespür für die
Art und Weise haben, wie europäische Politik funktioniert.
({2})
Europa lebt nämlich vom Kompromiss. Diese Verfassung ist kein Kompromiss auf der Basis des kleinsten
gemeinsamen Nenners; sie ist vielmehr ein großer
Schritt vorwärts für Europa. Es wäre fatal, wegen Einzelforderungen wie die nach dem Gottesbezug den gesamten Verfassungsprozess scheitern zu lassen. Noch ist
die Verfassung nicht in trockenen Tüchern. Deswegen ist
die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung, keine
neuen Forderungen aufzustellen und am Entwurf des
Konvents festzuhalten, nach wie vor richtig.
({3})
Nicht nur beim Thema Verfassung wird erst im Nachhinein wirklich klar sein, ob dieser Frühjahrsgipfel ein
Erfolg war. Auch wenn dieses Mal aus traurigem Anlass
die Bekämpfung des Terrorismus im Vordergrund stand,
so befasst sich der Frühjahrsgipfel traditionell mit der
europäischen Wirtschaft und der Lissabon-Agenda. Der
Lissaboner Fahrplan ist ein ehrgeiziges Projekt, und das
zu Recht. Die EU hat das Potenzial, sich zum weltweit
wettbewerbsstärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum
zu entwickeln.
({4})
Diese Agenda ist gut. Aber den Worten müssen jetzt
auch Taten folgen: zum einen in der EU und zum anderen in den Mitgliedstaaten.
({5})
Wichtige Impulse, die von der europäischen Ebene ausgehen könnten, etwa das Gemeinschaftspatent oder die
Dienstleistungsrichtlinie, sind längst überfällig. Der gemeinsame Binnenmarkt ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil Europas. Es ist die entscheidende Aufgabe, die
Potenziale des gemeinsamen Marktes wirklich umfassend auszuschöpfen. Nur so kann Europa im globalen
Wettbewerb bestehen. Nur so können wir unsere hohen
Sozial- und Umweltstandards hier verteidigen.
({6})
An dieser Stelle will ich noch auf etwas Wichtiges
hinweisen. Die EU - das ist in den europäischen Verträgen verankert; das steht auch noch einmal in den
Schlussfolgerungen dieses Gipfels - will nachhaltiges
Wachstum schaffen. Die Göteborg-Strategie, der europäische Nachhaltigkeitsplan, ist Bestandteil der LissabonAgenda; denn Europa hat verstanden, dass Wachstum
auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen nicht
trägt.
Frau Kollegin Lührmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Das tue ich. - Deshalb gilt für die EU genauso wie für
Deutschland, dass die ökologische Modernisierung der
Volkswirtschaft kein Hemmschuh für die wirtschaftliche
Entwicklung ist; sie ist vielmehr Impuls und Chance für
neue Arbeitsplätze. Wirtschaftliche Entwicklung und
ökologische Modernisierung sind nicht zu trennen, wenn
wir den Auftrag von Lissabon ernst nehmen wollen und
Europa zukunftsfähig machen wollen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die schrecklichen Anschläge in Madrid haben Europa geschockt, aber nicht gelähmt. Sie haben eines bewirkt: Das Gefühl der europäischen Verbundenheit und Solidarität wächst wieder. Die Widerstände
gegen die europäische Verfassung schwinden; denn auch
den integrationsskeptischen europäischen Staats- und
Regierungschefs wird zunehmend bewusst, dass die
Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen lauten muss: mehr Europa, mehr Demokratie, mehr Handlungsfähigkeit, mehr gemeinsame Außenpolitik und
mehr gemeinsame Rechtsstandards.
({0})
Die Chance für eine Verabschiedung der europäischen
Verfassung noch unter irischer Ratspräsidentschaft hat
sich mit dem Gipfel vergrößert, auch wenn einige Kompromisslinien noch sehr unklar sind.
Wir von der FDP-Fraktion erwarten von der Bundesregierung, dass sie in der jetzt entscheidenden Verhandlungsphase das Parlament bzw. - wo es nicht anders
geht - den Europaausschuss über den jeweiligen Verhandlungsstand zeitnah und umfassend informiert.
({1})
Das Parlament hat einen Anspruch darauf, in einer so
grundlegenden Frage wie der Verabschiedung der europäischen Verfassung nicht nur mit den Ergebnissen konfrontiert zu werden, sondern auch an den entscheidenden
Schritten zum Ergebnis hin beteiligt zu werden. Ohne
Zustimmung des Parlaments kann keine europäische
Verfassung in Kraft treten.
Für die FDP gibt es folgende Schwerpunkte für einen
Konsens: Ausgestaltung der doppelten Mehrheit, Verkleinerung der Kommission, mehr Entscheidungen mit
qualifizierter Mehrheit und, verstärkt durch die jüngsten
Debatten im Europäischen Parlament, ganz besonders
die Stärkung des Europäischen Parlaments.
({2})
Europa ist den Bürgern nur näher zu bringen, wenn
das Demokratiedefizit, das besonders im sensiblen Bereich der Innen- und Justizpolitik besteht, abgebaut wird
und wenn es nicht zunehmend zu unheilvollen Allianzen
zwischen der Kommission und dem Rat kommt,
({3})
so wie das derzeit zum Beispiel bei der Weitergabe von
Passagierdaten von der Europäischen Union an die USA
der Fall ist.
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie die
Entscheidung des Europäischen Parlaments von gestern ernst nimmt.
({4})
Das Europäische Parlament hat die derzeitige Fassung
des Übereinkommens und der Entscheidung über die
Angemessenheit mit Mehrheit abgelehnt. Es hat gefordert, dass es zu Verhandlungen kommt. Die Kommission
ist anscheinend nicht aufgeschlossen und nicht bereit,
das aufzugreifen. Aber der Rat hat es in der Hand. Wenn
Sie von der Bundesregierung Ihr Gewicht im Rat einbringen, dann können Sie bewirken, dass darüber in Einzelpunkten noch einmal verhandelt wird. Es geht nicht
um irgendeine exekutive Entscheidung, sondern um eine
ganz grundlegende Frage der Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger beim Vorgehen gegen Terrorismus, aber
auch um wichtige Fragen des Datenschutzes.
({5})
Dieses Beispiel zeigt: Wenn das Parlament nicht gestärkt wird, dann wird es künftig noch mehr Entscheidungen geben, die wir Parlamentarier zur Kenntnis nehmen müssen, die wir dann vielleicht auch noch vertreten
sollen, an denen aber kein Parlamentarier in der Sache
konstitutiv beteiligt gewesen ist. Das darf nicht die Zukunft Europas sein.
({6})
Die FDP hält den Entwurf des EU-Konvents für ein
akzeptables Ergebnis. Natürlich können wir uns an einigen Stellen Verbesserungen vorstellen. Wir haben das
auch hier im Parlament häufig und deutlich zum Ausdruck gebracht. Nicht nur eine Stärkung des Europäischen Parlaments, sondern auch eine Verbesserung der
Handlungsfähigkeit im Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind dringend geboten. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger
nach den Anschlägen in Madrid, aber auch nach den
ganzen Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg. Sie erwarten gemeinsame inhaltliche Positionierungen der Europäischen Union in diesen für sie lebenswichtigen Fragen und sie erwarten, dass dafür auch die
Strukturen geschaffen werden, damit das besser als derzeit geschehen kann. Deshalb würden wir uns sehr wünschen, dass in den dafür entscheidenden Verhandlungen
jetzt deutliche Verbesserungen beschlossen werden.
Aber eines halte ich, sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU, schon für falsch: jetzt mit
einem Neun-Punkte-Katalog
({7})
eine Art Conditio sine qua non aufzustellen, der erfüllt
werden müsse, damit zugestimmt werden könne. In diesem Punkt setze ich ausnahmsweise auf Ministerpräsident Stoiber, der signalisiert hat, dass er, auch wenn er in
einzelnen Punkten Bauchweh habe, letztendlich der europäischen Verfassung zustimmen wolle. Denn es ist,
wenn man den Anspruch erhebt, auf Bundesebene eine
wichtige Stimme zu haben, unverzichtbar, dass man
nicht Blockierer der europäischen Verfassung ist.
({8})
Die FDP begrüßt deshalb die Absichtserklärung, den
Verfassungsentwurf möglichst bald, im Juni - je früher,
desto besser -, zu verabschieden.
Aber lassen Sie mich ein Wort zu dem Thema sagen,
das dank der Vorbereitung durch die Innenminister im
Mittelpunkt des Gipfels stand, nämlich die Terrorismusbekämpfung, die in der Europäischen Union hohe
Priorität hat. Wie war das Ergebnis dessen, was beschlossen wurde? Typisch für Europa: Zu 90 Prozent
wurde gesagt, was man vor drei Jahren beschlossen
habe, müsse man jetzt endlich umsetzen. Drei Jahre danach! Auch dort, wo man neue Wege gesucht hat, hat
man einen Beschluss gefasst, der typisch für Europa ist:
eine neue Stelle einzurichten, das Amt eines Antiterrorismuskoordinators. Dessen Kompetenzen und Aufgaben sind allerdings vollkommen unklar, ebenso die Abgrenzung zum zuständigen Kommissar.
Ich glaube, es wäre besser, sich auf die wichtigen
Dinge zu konzentrieren, auf den Informationsaustausch
unter Achtung des Trennungsgrundsatzes, wie wir ihn
aus der Verfassung kennen, statt mit neuen Stellen eine
neue Unübersichtlichkeit zu schaffen, auch wenn der Inhaber dieser Stelle ein sehr kompetenter, hervorragender
Liberaler ist.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Jahr 2004 ist für die Europäische Union
von historischer Bedeutung, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es geht um nichts Geringeres als die Identität und Perspektive Europas, die Handlungsfähigkeit
der EU und ihre Legitimation durch die Bürgerinnen und
Bürger.
Eines steht fest: Am Ende des Jahres wird das europäische Haus anders aussehen als zu Beginn. Mit der Erweiterung um zehn Staaten zum 1. Mai wird eine unnatürliche Trennmauer in Europa endgültig beseitigt. Die
EU-Osterweiterung bietet große Chancen für eine
friedliche und wirtschaftlich positive Entwicklung des
Kontinents, bei allen Herausforderungen, die damit
ebenfalls verbunden sind.
({0})
Am 13. Juni geben die Europawahlen dem europäischen Haus einen neuen Anstrich und dem Parlament
eine neue demokratische Basis. Ich denke, wir hoffen
alle, dass die Regierungskonferenz Mitte Juni endlich
die europäische Verfassung als neues Dach für die EU
beschließen wird.
Die Staats- und Regierungschefs haben sich hierzu
beim Frühjahrsgipfel in Brüssel ausdrücklich selbst verpflichtet. Die Chancen stehen also gut. Eine Einigung
auf die Verfassung ist aber auch dringend notwendig;
denn nur sie kann gewährleisten, dass die größer gewordene Europäische Union handlungsfähig bleibt und der
Integrationsprozess fortschreitet.
({1})
Vor allem wird die Verfassung dazu beitragen, die
Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Europa
zu festigen und noch zu steigern. Noch immer wird die
EU leider von zu vielen als ferne Bürokratie wahrgenommen und in ihrer politischen wie wirtschaftlichen
Bedeutung eher unterschätzt. Durch die Verfassung wird
Europa demokratischer, transparenter und effizienter.
Es ist deshalb ermutigend, dass in der wichtigen, bisher umstrittenen Frage der doppelten Mehrheit bei
Ratsentscheidungen ein Durchbruch gelungen ist. Alle
sind nun bereit, dieses Prinzip mitzutragen. Die irische
Ratspräsidentschaft hat hier ganz hervorragend gearbeitet. Es ist aber sicher auch der klaren Verhandlungsstrategie und der Überzeugungsarbeit der Bundesregierung
und des Bundeskanzlers zu verdanken, wenn dieser entscheidende Schritt in Richtung Verfassung gegangen
werden kann.
({2})
In diesem Zusammenhang ein Wort an den Kollegen
Hintze. Herr Hintze, was Sie heute vorgetragen haben,
war nicht nur von der Art, sondern auch was den Inhalt
betrifft, der Sache in keiner Weise angemessen.
({3})
Sie haben ein Zerrbild von der Politik der Bundesregierung gezeichnet. Ich muss mich schon fragen, ob Sie
wirklich die Verfassung, also den Termin Mitte Juni,
oder ob Sie nicht vielmehr den 13. Juni im Blick haben.
Die emotionale Welle, die Sie zu Wahlkampfzwecken
aufbauen wollen, wird ganz schnell wie ein Kartenhaus
zusammenbrechen.
({4})
Am Ende - das sage ich Ihnen voraus - werden auch Sie
dieser vernünftigen Verfassung zustimmen. Ich kann der
Union nur raten, diese historische Chance nicht zu verpassen.
Auch und gerade im Bereich der inneren Sicherheit
ist ein einiges Europa notwendiger denn je. Das haben
die verbrecherischen und menschenverachtenden Terroranschläge im März uns allen in erschreckender Weise in
Erinnerung gerufen. Die Bekämpfung des Terrorismus
und die Verhinderung weiterer Anschläge ist eine der
ganz zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren. Die Attentate von Madrid haben allen bewusst gemacht, dass es
auch in Europa keinen wirklich sicheren Ort mehr gibt,
in einer freien Gesellschaft wohl auch nicht geben kann.
Umso wichtiger ist es, alles Erforderliche zu tun, damit
das Risiko für die Bevölkerung minimiert wird.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union stehen
hier in einer besonderen Verantwortung für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die gemeinsame Bedrohung durch den Terrorismus hat die Europäer enger
zusammenrücken lassen. Doch wir dürfen nicht bei dem
Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit stehen bleiben.
Es muss auch gehandelt werden.
({5})
Es ist deshalb wichtig und notwendig, dass sich die
Innenminister und Regierungschefs der Mitgliedstaaten
schnell auf zusätzliche Maßnahmen geeinigt haben, um
der Bedrohungslage gerecht zu werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb nachdrücklich die Erklärung für eine stärkere Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung, die vom europäischen Gipfel
beschlossen wurde.
({6})
Der bereits verabredete Aktionsplan muss jetzt zügig
umgesetzt und ergänzt werden.
Die Informationswege werden weiter verbessert. Informationen der Geheimdienste und der Polizei der Mitgliedstaaten sollen zukünftig miteinander verknüpft werden. Die Geheimdienste sollen nicht mehr eher
nebeneinander, sondern stärker miteinander arbeiten.
Die Einsetzung des Niederländers de Vries als EUKoordinator für die Terrorismusbekämpfung darf dabei
aber nicht nur eine symbolische Geste sein. In der gegenwärtigen Situation kommt es darauf an, dass alle reMartin Dörmann
levanten Erkenntnisse und Aktionen auf EU-Ebene zusammengeführt werden.
Als wichtigen Schritt sehen wir dabei an, dass die im
Verfassungsentwurf vorgesehene EU-Solidaritätsklausel mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt wurde.
Sie sieht unter anderem eine Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand im Falle eines Terrorangriffs vor. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass das europäische Haus so sicher wie möglich gemacht wird. Sie
hätten kein Verständnis dafür, wenn bestehende Sicherheitsmängel nicht beseitigt würden. Grenzüberschreitende Bedrohungen sind nur durch grenzüberschreitende
Maßnahmen effektiv zu bekämpfen.
({7})
Die Bundesregierung und die rot-grüne Regierungskoalition haben sich von Anfang an auf europäischer
Ebene für eine stärkere Zusammenarbeit und für gemeinsame Institutionen und Handlungsmöglichkeiten
eingesetzt, gerade im Bereich der inneren Sicherheit und
der Justiz. Anfang März haben wir beispielsweise im
Bundestag den europäischen Haftbefehl in Deutschland auf den Weg gebracht, der allerdings - man höre noch immer durch den Widerstand der Union im Bundesrat blockiert wird.
({8})
Wir könnten in manchem einen Schritt weiter sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn Sie mit
Ihrer Mehrheit im Bundesrat Maßnahmen, die für die
Bürgerinnen und Bürger wichtig sind, nicht aus kleinlichen und nicht nachvollziehbaren Gründen, wie oftmals
geschehen, blockieren würden.
({9})
Die Bekämpfung des Terrorismus ist jedoch nicht nur
eine Sache der Polizei und der Nachrichtendienste. Maßnahmen der inneren Sicherheit mögen Anschläge verhindern. Sie beseitigen jedoch nicht ohne weiteres die Basis
des Terrorismus. Richtig ist deshalb die verabredete Verbesserung der Terrorismusprävention. Darüber hinaus
geht es aber auch darum, die gemeinsame Sicherheitsund Außenpolitik der Union weiter nach vorne zu bringen.
({10})
Es gibt leider zu viele politische Probleme und Konflikte, durch die die Terroristen einen gefährlichen Nährboden für ihre Aktivitäten gewinnen können, der ihr
Agieren erst möglich macht. Deshalb muss die Europäische Union noch stärker als bisher als politischer Akteur
handlungsfähig werden, um erfolgreich an der Vorbeugung und Lösung von Konflikten mitwirken zu können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Dörmann, Sie haben uns die Aktionen dargelegt, die beschlossen worden sind, um gegen
den Terrorismus vorzugehen, was sehr interessant ist.
Meine Frage lautet: Sind Ihnen die Wörter „Datenschutz“ und „Rechte des Einzelnen“ bekannt
({0})
und welchen Stellenwert nehmen sie in diesem Kontext
Ihrer Meinung nach ein?
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich bin sehr dankbar für diese Frage. Denn ich glaube, wir sollten ehrlich
miteinander umgehen. Wir alle wissen, dass im Bereich
der inneren Sicherheit bei allen Maßnahmen, die wir
dort zu treffen haben, insbesondere bei Maßnahmen, die
dem Informationsaustausch dienen, zwei Dinge abzuwägen sind: die Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger
und die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese Gefährdungen zu minimieren, auf der einen Seite und auf
der anderen Seite die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern im Bereich des Datenschutzes. Wir, die SPD-Fraktion, nehmen beides gleichermaßen ernst. Wir werden
uns vorbehalten, in jedem Einzelfall jede einzelne Maßnahme daraufhin zu überprüfen, ob das eine dem anderen gegenüber gleichwertig ist oder überwiegt. Da, wo
wir ein klares Überwiegen feststellen, werden wir uns
für diesen Weg entscheiden. Es kann sein, dass wir uns
für den Datenschutz entscheiden. Es kann aber auch
sein, dass wir uns im Einzelfall für größere Informationsmöglichkeiten entscheiden.
({0})
- wenn ich es sofort gesagt hätte, wäre es von meiner
Redezeit abgegangen.
Das europäische Haus hat bereits starke Fundamente. Doch noch sind nicht alle Mauern und Zimmer
fertig gestellt; manches ist noch im Bau und im Werden.
Gerade die letzten Wochen haben aber zusätzliche Hoffnung geweckt, dass ein stabiles Gebäude entsteht, in
dem sich die Bewohner sicher und wohl fühlen können.
Wenn es gelingt, sich in den nächsten Monaten auf eine
europäische Verfassung zu einigen, wird endlich das gemeinsame Dach fertig gestellt. Lassen Sie uns alle - ich
betone: alle - daran mitwirken, den Menschen mehr Sicherheit und Rechte für eine gute und friedliche Zukunft
in Deutschland und in Europa zu geben!
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
freuen uns, dass die Regierungsfraktionen aufwachen,
wenn auch die Regierungsbank verwaist ist. Weil ich
Bundesminister Eichel auf der Regierungsbank sehe,
möchte ich an den Europäischen Rat anknüpfen. In den
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates steht der bemerkenswerte Satz:
Die wirtschaftliche Erholung, die im zweiten Halbjahr 2003 in Europa eingesetzt hat, schreitet voran.
Europa schreitet wirtschaftlich voran, aber nicht
Deutschland. Herr Eichel, wie fühlt man sich, wenn man
von der Lokomotive zum Wachstumsbremser der Gemeinschaft wird? Es ist beschämend, dass Deutschland
innerhalb der EU von Platz drei auf Platz 13 zurückgefallen ist.
({0})
Im UN-Ranking sind wir zwischenzeitlich von Platz 8
auf Platz 18 abgestiegen. Rot-Grün hat dieses Land in
die Abstiegszone geführt.
({1})
Das Problem dabei ist: Die Menschen zahlen dafür die
Zeche.
Wir stehen kurz vor der Osterweiterung; dies ist eine
der letzten Europadebatten des Bundestages vor diesem
Termin. Es ist kläglich, in welch geringem Maße die Regierungsbank besetzt ist.
({2})
Wir blicken mit Freude auf die Osterweiterung. Der
vergangene Europäische Rat war - abgesehen vom formellen Vollzug und vom Feiern der Osterweiterung vermutlich der letzte vor der Osterweiterung.
Wir sehen mit Sorge auf die damit verbundenen Probleme. Große Sorge bereitet uns die Verlagerung der Betriebe, insbesondere in den Grenzregionen. Auf der Besuchertribüne sitzen Freunde aus Leuchtenberg und
Weiden - das sind Orte im bayerisch-tschechischen
Grenzgebiet. Ich denke an die Weidener Erklärung von
Bundeskanzler Schröder, in der er vor einem Jahr ausgeführt hat, wie er die Osterweiterung im thüringischen
und bayerischen Grenzgebiet managen will. Nichts davon ist eingehalten worden. Diese Bundesregierung hat
kein Konzept, sie weiß nicht, wie sie die Probleme der
Osterweiterung im Grenzbereich managen soll.
Wir haben ein hohes Steuer-, Förder- und Lohngefälle. Wo sind die Vorschläge, wie wir den Menschen
und Betrieben in diesen Regionen in den nächsten Wochen helfen?
Der Außenminister glänzt durch Abwesenheit.
({3})
Der Gipfel
({4})
hat sich auch mit dem Kosovo, mit Afghanistan und
Russland beschäftigt. Aus aktuellem Anlass möchte ich
kurz darauf Bezug nehmen. Wir sind nicht der Meinung,
dass die Antwort auf die Frage nach der Zukunft Afghanistans nur lauten kann: mehr Geld und mehr Soldaten.
Wir fragen nach dem politischen Konzept, aber der Außenminister hat keines.
Bezüglich des Kosovos müssen wir nach fünf Jahren
fragen: Herr Minister Struck, liegt die Lösung der dortigen Probleme in der Verdoppelung oder gar in der Verdreifachung des Kontingents der eingesetzten Soldaten,
die Sie jetzt angeordnet haben? Kann der Einsatz von
immer mehr Geld die Antwort sein? Dass dies der richtige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Müssen wir uns
nach fünf Jahren nicht eher die Frage stellen, wie wir die
Hilfsorganisationen besser koordinieren können? Sollten
wir nicht eher der Frage der Multiethnizität im Kosovo
auf den Grund gehen?
Auch die Russlandstrategie der Europäischen Union
stand auf der Tagesordnung. Es lohnt sich wirklich einmal, ein solches Dokument zu lesen. Vermutlich hat das
kein Regierungschef getan.
({5})
Das Paradoxe dieser Gipfel ist, dass die Dokumente zur
Schlusserklärung Wochen vorher von Beamten vorbereitet und den Regierungschefs zugeleitet werden. Darin
steht tatsächlich - zynisch - der Glückwunsch des Europäischen Rates an Präsident Putin zu seiner Wiederwahl.
Der Rat gratuliert dem Präsidenten nicht nur zur Wiederwahl, sondern begrüßt den Aufbau eines Mehrparteiensystems in Russland und die Anstrengungen, die Pressefreiheit zu gewährleisten.
Meine Damen und Herren, wer weiß, unter welchen
Umständen die Wahl in Russland stattgefunden hat, der
weiß auch, dass das der blanke Zynismus ist. Wir hätten
ein kritisches Wort zur Gefährdung der Demokratie, der
Pressefreiheit und der Menschenrechte in Russland erwartet.
({6})
Ich komme nun auf den Terrorismus in Europa zu
sprechen. Es gab viele Bekundungen, und Aktionen und
Programme wurden beschlossen, aber wir haben bis
heute keine operativen integrierten Strukturen. Auch dieser Europäische Rat ist darüber nicht hinausgekommen.
Es hat mich sehr beeindruckt, als Bundesinnenminister Schily darauf hinwies, dass es inzwischen in Deutschland sage und schreibe 160 Gremien gibt, in denen die inDr. Gerd Müller
nere Sicherheit koordiniert wird. Mit der Einsetzung des
europäischen Terrorismusbeauftragten haben wir das
161. Gremium geschaffen, das wir beschicken können.
Aber auch damit schaffen wir nicht mehr Sicherheit.
Zum Verfassungsvertrag: Wir wollen den Verfassungsvertrag, aber wir wollen ihn nicht um jeden Preis.
Der Kollege Hintze hat unsere Kernpunkte bereits angesprochen. Wir fordern, dass die Bundesregierung unsere
Position in den nächsten Wochen in die Verhandlungen
einbringt. Die Bundesregierung braucht die Opposition
zur Ratifizierung und deshalb erwarten wir, dass unsere
Forderungen ernst genommen und eingebracht werden.
Erstens. Wir wollen mehr Föderalismus statt Zentralismus. Natürlich stehen wir der vorgesehenen Kompetenzausweitung in Politikfeldern, in denen wir eigentlich
national handeln müssten, kritisch gegenüber.
Der Kollege Hintze hat einen zweiten zentralen Punkt
herausgestellt. Wir unterstützen die Bundesbank in ihrer Forderung, am Verfassungsziel der Preisstabilität und
der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank festzuhalten. Das sind die zwei Kernpunkte der MaastrichtStabilitätsordnung. Unter diesen Bedingungen haben wir
die D-Mark in den Euro überführt. Wenn Sie diese zwei
Punkte jetzt mit dem Verfassungsvertrag auflösen, ist
das ein Anschlag auf die Stabilitätsordnung in Europa.
({7})
Sie können die Forderungen der Bundesbank und der
Opposition an diesem Punkt nicht einfach beiseite schieben und zur Tagesordnung übergehen.
Das Streben nach einer Entparlamentarisierung der
europäischen Politik zeigt sich in dieser Verfassungsdebatte. Deshalb fordern wir - der Kollege Hintze hat dies
bereits angesprochen; wir werden dies in der Föderalismuskommission und an anderer Stelle einbringen - in
Zukunft ein maßgebliches Mitwirkungsrecht für den
Deutschen Bundestag in der europäischen Sekundärrechtsetzung. Es kann nicht sein, dass Brüssel an den nationalen Parlamenten vorbei Recht setzt, das unsere Bürger vor Ort beschwert, und wir nur noch ein
Feuerwehrparlament sind, das die Dinge im Nachhinein
zur Kenntnis nimmt.
Blickt man nach Spanien, Skandinavien, Polen oder
Portugal, merkt man: Diese Europäische Union ist im
Umbruch und im Aufbruch. Lethargie, Problemstau und
miese Stimmung herrschen nur in Deutschland. Dafür
gibt es nur eine Lösung: Ihre Ablösung.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts der historischen Dimension der Inhalte dieser Debatte frage ich mich schon, welche strategischen
Implikationen die Beiträge der Opposition heute haben.
Ich kann nur sagen: Wie gut, dass Sie in diesem Lande
keine Verantwortung tragen.
({0})
Schauen wir uns an, was Sie heute hier geboten haben: In der Debatte über die europäische Verfassung
werden einfach Punkte aneinander gereiht. Wir sind uns
doch darin einig, dass die Erweiterung der EU und die
Vertiefung der europäischen Beziehungen die zentralen
Aufgaben sind, die wir gemeinsam lösen müssen. Wir
befinden uns jetzt in der entscheidenden Phase der Gestaltung der Verfassung. Dann mit einem Neun-PunkteKatalog zu kommen und die ganze Debatte noch einmal
aufnehmen zu wollen zeugt von Parteipolitik bezogen
auf den EU-Wahlkampf. Das zeugt aber nicht von der
Wahrnehmung deutscher Interessen für Europa in diesem Prozess. Sie machen Parteipolitik, wir gestalten
Europa. Das ist der Unterschied.
({1})
Sie haben die ganze Latte vom christlichen Abendland bis zum Türkeibeitritt noch einmal runtergebetet.
Lieber Kollege Hintze, Sie wissen ganz genau, dass die
Frage des Türkeibeitritts in Ihrer Fraktion nicht so eindeutig beantwortet wird, wie Sie das heute dargestellt
haben; sicherlich auch mit Blick auf die CSU, um sie mit
im Boot zu haben. Sie wissen, dass Herr Rühe, Herr
Polenz und andere aus Ihrer Fraktion sehr vernünftige
Vorstellungen dazu entwickelt haben.
Gerade die Türkeiproblematik zu benutzen, um sich
von der Vertiefungsdebatte zu verabschieden, halte ich
nicht nur hinsichtlich Ihrer Verantwortung für schwierig.
Vielmehr deckt sich das auch in der Sache nicht mit
dem, was ansteht. Sie wissen das ganz genau. Die Sicherheitspolitik der EU ist ein zentrales Thema, das vertieft werden muss. Die GASP wird eine entscheidende
Rolle spielen. Die Sicherheitspolitik der EU mit der Türkei vertiefend zu gestalten ist angesichts der globalen
Herausforderungen, vor denen wir gerade in Europa stehen, natürlich eine Chance. Damit könnten wir insbesondere eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen geben, vor die uns der Terrorismus stellt. Der
Türkeibeitritt bietet die Chance, die europäische Außenund Sicherheitspolitik zu vertiefen. Wir wollen die Rahmenbedingungen streng formulieren. Das haben wir immer gesagt. Aber wir sehen in diesem Prozess Chancen.
Für diese Chancen engagieren wir uns.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne
noch mit einem anderen Vorurteil aufräumen, das heute
wieder angesprochen wurde. Ich meine die Ausführungen zum Thema christliches Abendland. Ich weiß, dass
man sich in diesen Debatten sehr schnell verzettelt. Aber
wenn es vor dem Hintergrund all der ideologischen Auseinandersetzungen, die heute - auch im Bezug auf den
Islam - geführt werden, um den Wert der Toleranz geht,
dann plädiere ich dafür, das nicht auf das christliche
Abendland zu begrenzen.
Unsere europäische Kultur - damit haben die Griechen angefangen - ist durch den Wert demokratischer
Entscheidungsstrukturen gekennzeichnet, was auch mit
Toleranz und Akzeptanz von Unterschiedlichkeit verbunden ist. Wäre es nicht das Morgenland gewesen, das
die griechische Kultur wieder nach Europa gebracht
hätte, wüsste ich nicht, wo wir mit unseren Kulturbegriffen heute stehen würden.
({3})
Deshalb plädiere ich sehr dafür, die Debatte über Toleranz tolerant und aufgrund von Wissen um die Geschichte Europas zu führen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir leben in der Europäischen Union. Die EU wird am
1. Mai dieses Jahres um zehn neue auf insgesamt
25 Staaten erweitert. Allein dies sind gute Gründe, die
EU modern zu verfassen. Allerdings wird die künftige
EU-Verfassung nur dann eine gemeinsame sein, wenn
auch alle EU-Bürgerinnen und -Bürger darüber abstimmen. In vielen Ländern wird das so sein, ausgerechnet in
Deutschland nicht. CDU und CSU waren immer dagegen. SPD und Grüne sprachen sich lange dafür aus. Inzwischen ist Rot-Grün in das Unionslager gewechselt.
Ich finde, das schwächt die Demokratie, anstatt sie zu
stärken. Die PDS im Bundestag bleibt bei ihrer Forderung: Volksabstimmung über die EU-Verfassung!
Die Verfassung selbst ist ein Kompromiss, ein umstrittener zudem. Vor einem Vierteljahr kam der Prozess
ins Stocken. Ein EU-Gipfel scheiterte. Nun, nach dem
Regierungswechsel in Spanien und dem Einlenken Polens, ist die Debatte wieder offener. Aber viele Probleme
bleiben. Ich habe hier schon vor einer Woche gesagt,
dass Sie meine grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisierung der Politik kennen. In der künftigen Verfassung wurde sie sogar als Pflicht festgeschrieben. Als Reaktion auf diesen Satz rief der Abgeordnete
Joseph Fischer dazwischen: „Genau so ist es!“. Herr
Fischer ist im Ehrenamt Grüner und im Nebenberuf
Außenminister. Er muss es also wissen. Die PDS lehnt
eine Militarisierung der EU nach wie vor ab.
Mit ähnlichen Sorgen sehen wir aktuelle Entwicklungen in der künftigen EU-Innenpolitik. Unter der Überschrift „Terrorbekämpfung“ werden Bürgerrechte abund Geheimdienste ausgebaut. Der Datenschutz wird
preisgegeben und die Rolle des Parlaments geschwächt.
Das alles steht im Widerspruch zum Verfassungsprozess.
Er ging mit mehr Transparenz und Demokratie schwanger. Nun droht uns dort eine Fehlgeburt. Umso mehr begrüße ich es, dass das EU-Parlament gestern den Handel
persönlicher Passagierdaten mit den USA moniert hat.
Ich finde, wir sollten heute Abend die Chance ergreifen,
der Bundesregierung mit dem FDP-Antrag auch einen
entsprechenden Verhandlungsauftrag zu geben, um diesen Fehler zu korrigieren und ihre Zustimmung zur
Übermittlung sensibler Daten zurückzuziehen.
Die deutschen Unionsparteien wollen der Europäischen Union noch immer einen Gottesbezug verordnen.
Die PDS will das nicht. Im Übrigen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, frage ich mich: Was würde ein Gottesbezug an der sozialen Schieflage ändern, die mit der so genannten Lissabon-Strategie verfolgt wird? Überhaupt:
Es klingt ja mächtig und gewaltig, wenn die EU bis 2010
zur stärksten Wirtschaftsregion der Welt entwickelt werden soll. Es nützt nur wenig, wenn dabei immer mehr
Bürgerinnen und Bürger verarmen.
Aus all diesen Gründen teile ich den Optimismus, der
auch heute gelegentlich unter dieser Kuppel schwebte,
nicht. Auch außerhalb dieses Hauses herrscht Skepsis.
Schauen wir also mal: Am 13. Juni wird ein neues EUParlament gewählt. Die PDS tritt als proeuropäische Partei für soziale Gerechtigkeit und gegen eine Militärunion
an. Das ist unsere Linke, eine wählbare Alternative.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Schwanholz,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf der Tagung des Europäischen Rates im
März 2000 in Lissabon haben sich die europäischen
Staats- und Regierungschefs das fürwahr ehrgeizige Ziel
gesetzt, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt zu machen. Vier Jahre später fällt die Bilanz des
bisher Erreichten jedoch eher ambivalent aus.
Die vor dem Frühjahrsgipfel von der Kommission
vorgelegten Strukturindikatoren machen deutlich, dass
das Reformtempo der Europäischen Union - Herr
Staatsminister Bury hat es schon erwähnt - vehement
beschleunigt werden muss, wenn die Lissabon-Ziele bis
2010 tatsächlich erreicht werden sollen. Deshalb haben
die Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Woche in Brüssel deutliche Prioritäten gesetzt, nämlich erstens die Schaffung von Arbeitsplätzen und zweitens die
stärkere Förderung eines umweltverträglichen Wirtschaftswachstums. Diese beiden Bereiche sollen bis zur
Halbzeitevaluierung der Lissabon-Strategie auf dem
Frühjahrsgipfel 2005 im Fokus der Kraftanstrengungen
der Mitgliedstaaten stehen.
Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Schwerpunktsetzung ausdrücklich; sie bestärkt uns darin, unsere Reformpolitik fortzusetzen. Mit der Agenda 2010 haben
wir nämlich schon im vergangenen Jahr die Weichen in
die richtige Richtung gestellt.
({0})
Die Europäische Kommission nennt in diesem Zusammenhang die Gesetze Hartz I bis Hartz IV: so zum Beispiel die Einrichtung von Jobzentren zur Verbesserung
der Arbeitsvermittlung sowie die Arbeitsplatzschaffung
durch niedrige Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge bei den Minijobs. Die Botschaft, die von diesem
Frühjahrsgipfel ausgeht, ist auch die Botschaft der Politik dieser Regierungskoalition und der sie tragenden
Fraktionen.
Im Bereich der Beschäftigungspolitik haben die
Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Brüssel vier Herausforderungen hervorgehoben: erstens den
Abbau von Lohnnebenkosten, zweitens die Steigerung
der Attraktivität des Arbeitsmarktes für mehr Menschen,
drittens die Erhöhung der Qualität der Beschäftigung
und viertens die Ausweitung der Investitionen in Humankapital. Wir sind in Deutschland bereits einen wichtigen Schritt weiter. Wir haben viele Schritte unternommen, um die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung
zu erhöhen, allerdings ohne dabei das hohe Sozialschutzniveau in unserem Land aufzugeben - wie ich
finde, eine bemerkenswerte Leistung.
({1})
Wir haben mit der Reform des Gesundheitssystems
den Abbau der Lohnnebenkosten eingeleitet und wir
nehmen es ernst mit der Vision einer europäischen Wissensgesellschaft, wie sie in der Lissabon-Strategie verankert ist. Deshalb haben wir in den vergangenen fünf Jahren die Ausgaben für Bildung und Forschung um mehr
als 25 Prozent auf über 9 Milliarden Euro im Jahr 2003
erhöht. Wir werden diese wichtigen Ausgaben weiter erhöhen. Denn eines ist klar: Der europäische Wirtschaftsraum ist nur dann langfristig konkurrenzfähig, wenn wir
unseren Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, sich auf einem hohen Niveau zu qualifizieren und
sich ein Leben lang fortzubilden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Deutschland
haben unsere Hausaufgaben gemacht; das bestätigt uns
auch die Kommission in ihrem „Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts 2003/2004“. Durch die Politik der Bundesregierung wurden beispielsweise - ich
zitiere aus dem „Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts 2003/2004“ - „neue Arbeitsanreize geschaffen für ältere Arbeitskräfte und für Arbeitskräfte
am unteren Ende der Lohnskala“. Das ist eines der wesentlichen Probleme, die wir in Deutschland haben. Die
Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer ist bei
uns bisher auf immerhin 38,4 Prozent angewachsen und
wird weiter anwachsen, wenn unsere Reformen erst einmal ihre volle Wirkung entfalten.
Die Beschäftigungsquote der Frauen blieb 2002 konstant bei 58,8 Prozent und liegt damit über dem EU-15Durchschnitt von 55,6 Prozent. Das reicht uns aber noch
nicht. Deshalb haben wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die Ganztagsbetreuung in Deutschland
zu verbessern. Das wird viel mehr Frauen die Möglichkeit eröffnen, am Berufsleben teilzunehmen; das ist für
uns eine wichtige Maßnahme.
({2})
Alles in allem erreichen wir in Deutschland schon
heute eine Gesamtbeschäftigungsquote von annähernd
66 Prozent. Würden wir die auf europäischer Ebene festgelegten Kriterien zur Messung der Beschäftigungsquote
heranziehen, erreichten wir mit über 69 Prozent schon
heute fast das Lissabon-Ziel von 70 Prozent. Damit bewegen wir uns also auf einer Linie mit den zentralen Zielen der europäischen Beschäftigungspolitik im Rahmen
der Lissabon-Strategie. Für Deutschland als wichtigstes
Industrieland der Europäischen Union ein starkes Stück
Deutschland um es einmal so zu auszudrücken.
({3})
Allerdings reichen die Anstrengungen in den Mitgliedstaaten nicht aus, um die Lissabon-Ziele zu erreichen; wir alleine können das nicht. Auch auf europäischer Ebene müssen sich die Rahmenbedingungen für
mehr Beschäftigung und Wachstum ändern. So darf es
nicht mehr sein, dass bestimmte Gesetze für europäische
Unternehmen einen solchen bürokratischen Mehraufwand verursachen, dass Kosten in einer Höhe entstehen,
die ihre Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Welt
beeinträchtigen. Damit muss endlich Schluss sein, meine
Damen und Herren.
Daher ist es zu begrüßen, dass der Europäische Rat
der Kommission auf diesem Frühjahrsgipfel ins Stammbuch geschrieben hat, wie wichtig die Weiterentwicklung des Instruments der Gesetzesfolgenabschätzung
ist. Nur wenn in Zukunft genau evaluiert wird, welche
Auswirkungen ein Gesetzesvorhaben auf die europäische Industrie und Wirtschaft hat, wird die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa gewährleistet und dem
Risiko einer Deindustrialisierung entgegengewirkt werden können. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Im
Jahr 2003 wurden circa 20 Prozent der Gesetzesvorlagen, die unter diese Gesetzesfolgenabschätzung fielen,
einer Überprüfung unterzogen; im Jahr 2004 werden es
über 50 Prozent sein. Auf diesem Gebiet werden wir also
einen Schritt vorankommen.
Neben einer besseren Rechtsetzung müssen jedoch
auch die Rahmenbedingungen für die europäische Industrie insgesamt überprüft werden. Unser Bundeskanzler Gerhard Schröder, Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair haben dies schon mehrfach gefordert.
Erfreulicherweise hat der Europäische Rat die Anregungen der drei Staats- bzw. Regierungschefs berücksichtigt
und bekräftigt in seinen Schlussfolgerungen, „dass Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und die Förderung einer
Kultur des Unternehmertums maßgebliche Voraussetzungen für Wachstum sind“. Vor diesem Hintergrund
wird die Kommission - auch auf Wunsch der Bundesregierung - bis April einen Bericht vorlegen, der konkrete
Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der
europäischen Industrie nennt.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass ein hohes
europäisches Beschäftigungsniveau sowie der Erhalt des
europäischen Sozialmodells nur dann erreichbar sind,
wenn es uns gelingt, sowohl durch eine bessere Rechtsetzung auf europäischer Ebene - dies klang heute schon
an - als auch durch die Förderung unternehmerischer Innovationen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität in
der Europäischen Union zu steigern.
Wir sind uns bewusst, dass die europäischen Staaten
heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vor großen Herausforderungen im wirtschaftlichen, aber auch im außen- und, wie eben gehört, sicherheitspolitischen Bereich stehen. Dasselbe gilt für das Projekt einer
europäischen Verfassung. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Europäische Union immer nur dann einen
großen Schritt vorangekommen ist, wenn alle an einem
Strang gezogen haben.
Ich fasse zusammen: Die Europäische Union braucht
Schwung, keine Frage. Wir Sozialdemokraten haben den
Schwung. Wir machen das gemeinsam mit unseren europäischen Partnern.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis des Europäischen Rates vom letzten Wochenende bestätigt einen deprimierenden Befund: Zweieinhalb Jahre nach dem verheerenden Anschlag des 11. September und drei Wochen
nach dem schrecklichen Anschlag von Madrid verfügen
weder die Europäische Union noch die Bundesregierung
über eine nachvollziehbare, adäquate und wirksame
Strategie gegenüber der wachsenden Bedrohung durch
den Terrorismus.
({0})
Die eigentliche Spaltung der EU begann am
12. September 2001. Wir stellten fest, dass die europäischen Nationen entsprechend ihren alten nationalen Reflexen handelten.
... dass die Europäer sich nach einem Angriff auf ihren wichtigsten Partner sofort zusammengesetzt
und eine strategische Analyse angestellt hätten, das
ist nicht geschehen. Wir waren nicht dialogfähig,
wo wir es hätten sein müssen, als die Konflikte aufbrachen, was dann definitiv in der Irakkrise der Fall
war. Das mangelnde strategische Bewusstsein bei
uns führte zur mangelnden strategischen Dialogfähigkeit mit dem Partner Amerika.
({1})
Dieses vernichtende Urteil stammt nicht von irgendeinem böswilligen Kommentator. Es stammt von niemand
anderem als dem Außenminister, dem für Außenpolitik
zuständigen Mitglied dieser Bundesregierung, in einem
Interview mit der „FAZ“ vom 6. März dieses Jahres, genau fünf Tage vor dem verheerenden Anschlag von
Madrid.
({2})
Herr Staatsminister Bury, mich interessiert, ob der Bundesaußenminister mit dieser Aussage die offizielle Position der Bundesregierung wiedergegeben hat oder ob es,
wie üblich, die Privatmeinung des Bundesaußenministers war.
Darüber hinaus würde mich, wenn die Analyse von
Herrn Fischer stimmt, interessieren, was sich in der Zwischenzeit geändert hat. Welche Schlussfolgerungen haben wir aus dem Anschlag von Madrid denn gezogen?
Die Antwort ist ernüchternd, aber eindeutig: eigentlich
nichts. Darüber täuschen auch der kurzzeitige Aktionismus, das Sondertreffen der Innenminister und der Europäische Rat vom letzten Wochenende nicht hinweg.
Auf diesem Europäischen Rat wurde eine Solidaritätsklausel beschlossen. Wir haben in den vergangenen
Tagen die Bundesregierung mehrfach gefragt, was denn
die konkrete politische, juristische und praktische Bedeutung dieser Solidaritätsklausel ist. Nichts gegen Solidarität, aber ich frage mich schon, was nach dem Anschlag von Madrid anders gewesen wäre, wenn wir diese
Klausel zu dem Zeitpunkt schon gehabt hätten. Ich habe
keinen Vertreter der Bundesregierung gefunden, der imstande gewesen ist, diese einfache Frage zu beantworten.
Herr Staatssekretär Körper, Frau Ministerin Zypries,
wenn Sie diese Frage beantworten können, würde ich
mich sehr freuen, wenn Sie das dem Deutschen Bundestag erklären könnten.
({3})
Auf diesem europäischen Gipfel wurde auch ein europäischer Koordinator für die Terrorismusbekämpfung bestellt. Das ist löblich. Ich kenne den Kollegen de
Vries aus dem Konvent. Er ist persönlich und fachlich
hervorragend geeignet. Aber wenn Sie die großartigen
Ankündigungen hören, dann müssen Sie sich doch fragen, was dieser Koordinator für Terrorismusbekämpfung
eigentlich bewirken wird.
({4})
Ich zitiere aus den Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes:
Der Koordinator koordiniert die Arbeiten des Rates
zur Terrorismusbekämpfung und behält unter gebührender Berücksichtigung der Befugnisse der
Kommission alle der Union zur Verfügung stehenden Instrumente im Auge, damit er dem Rat regelmäßig Bericht erstatten und ein wirksames Vorgehen aufgrund von Ratsbeschlüssen gewährleisten
kann.
({5})
Ich bin davon überzeugt, dass der internationale Terrorismus nicht gerade erschüttert sein wird angesichts der
Entschlossenheit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten bei ihrem Vorgehen.
({6})
Ich glaube, mit Worthülsen alleine werden wir den
Kampf gegen den Terrorismus nicht gewinnen. Die Bürger erwarten von Europa zu Recht nicht nur ein Mehr an
Papier, sondern einen echten Mehrwert.
Wir werden den Kampf auch nicht gewinnen - das ist
ein Appell an das Bundesinnenministerium -, indem wir
versuchen, mit den veralteten Mitteln des Intergouvernementalismus vorzugehen. Ich verhehle nicht, dass ich
persönlich Bedenken bekommen habe, als ich gelesen
habe, dass die fünf großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Deutschland, Frankreich, Großbritannien,
Italien und Spanien - eine Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus eingerichtet haben. Ich bin der
Meinung, dass sich der Terrorismus nicht per definitionem auf diese fünf Staaten begrenzen lassen wird. Was
tun Sie denn, wenn Terroristen die Beneluxstaaten, Portugal oder Irland als Ausgangsbasis wählen und von dort
aus operieren?
In diesem Fall kommt es zum ersten Mal dazu, dass es
einen exklusiven Kreis von Staaten gibt - das haben wir
alle immer abgelehnt -, die eine Zusammenarbeit organisieren, die für die anderen Staaten nicht offen steht. Sie
haben die anderen Staaten wie die Beneluxstaaten nicht
einmal gefragt, ob sie bereit sind mitzumachen. Das haben Sie noch nicht einmal bei dem berühmten „Pralinengipfel“ getan. Eine solche Strategie wird in der Europäischen Union Misstrauen und Spannungen erzeugen.
Die Alternative ist, wie ich glaube, klar: Wir müssen
im Rahmen der Gemeinschaftsstrukturen dafür sorgen,
dass wir auch im Bereich der Innen- und Justizpolitik
vernünftige föderale Strukturen aufbauen mit einer starken Europäischen Kommission und einem Europäischen
Parlament, das die Kommission kontrolliert und die
Union damit nach außen handlungsfähig macht.
({7})
Meine Damen und Herren, wir alle hoffen, dass wir
bis zum Ende der irischen Präsidentschaft den Verfassungsvertrag verabschieden werden. Wir haben gemeinsam mit Ihnen an vernünftigen Lösungen gearbeitet. Aber ich sehe mit Sorge - das verhehle ich nicht -,
dass seit dem Beginn der Regierungskonferenz über den
Verfassungsvertrag in vielen einzelnen Punkten nachverhandelt worden ist. Dadurch ist er nicht besser, sondern
schlechter geworden, auch unter dem Gesichtspunkt,
was wir für das europäische Interesse, die Handlungsfähigkeit und die Demokratie in Europa erreichen können.
Die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung ist
daran nicht ganz unschuldig. Sie haben gesagt: Wir stellen keine Forderungen, wir wollen nicht nachverhandeln
und wir wollen das Paket beieinander halten. Die Absicht ist ja löblich. Das Ergebnis ist aber, dass alle anderen - die Briten, die Franzosen und die Spanier - ihre
Forderungen formuliert haben und dass wir inzwischen
absehen können, dass es 20 bis 30 Änderungen im Entwurf des Konvents geben wird. Die Bundesregierung
war nicht imstande, diese negativen Änderungen zu verhindern, weil sie in diesem Verhandlungsprozess nicht
aktiv mit einem eigenen Konzept vorgegangen ist.
({8})
Der wahrscheinlich kläglichste Teil des Gipfels - deshalb ist darüber öffentlich auch nur wenig gesprochen
worden - war die Debatte zur Lissabon-Strategie. Der
Kollege Schwanholz hat auf das Problem hingewiesen.
Zur Halbzeit des gemäß der Lissabon-Strategie vorgesehenen Zeitplans sind wir dem Ziel, das wir uns gesetzt
haben, nicht näher gekommen. Die Lücke zu den erfolgreichsten Regionen der Welt hat sich weiter vergrößert.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zu meinen letzten Sätzen.
Dafür gibt es einen Grund, nämlich die Politikunfähigkeit der Bundesregierung und ihre Schwäche beim
Versuch, im innenpolitischen Bereich, also in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Soziales, für Wachstum
zu sorgen. Mit jedem Tag, den wir durch Sie unseren eigenen Wachstumszielen nicht näher kommen und den es
Ihnen nicht gelingt, einen Aufschwung herbeizuführen,
machen wir es der Europäischen Union schwerer, ihre
ursprünglichen Ziele zu erreichen. Deshalb wäre ein Politikwechsel hier bei uns auch eine gute Entscheidung für
die gesamte Europäische Union.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Sanktionenrechts
- Drucksache 15/2725 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem heute zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts setzen wir ein
weiteres Zeichen für eine vernünftige und sachorientierte Kriminalpolitik.
({0})
Seit Mitte der 80er-Jahre hat es schon viele Initiativen
zur Umgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems gegeben. Bereits in der 10. Legislaturperiode gab
es erste Initiativen dazu. Der Juristentag 1992 hat sich
sodann damit befasst und Beschlüsse gefasst. In der
12. und 13. Legislaturperiode legte die SPD-Fraktion
entsprechende Gesetzentwürfe in diesem Hause vor.
Schließlich hat das Bundesjustizministerium zur Zeit der
Regierung Kohl eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems eingesetzt. Diese legte
im März 2000 ihren Abschlussbericht vor. Teile davon
sind bereits in der letzten Legislaturperiode in einen erneuten Gesetzentwurf eingegangen, der allerdings nicht
zu Ende beraten werden konnte.
Mit dem Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir im Wesentlichen die Vorschläge in dem Gesetzentwurf der letzten Legislaturperiode auf. Darüber hinaus sehen wir darin Möglichkeiten zur Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit vor.
Nun wissen wir alle, dass auch der heute zu beratende
Gesetzentwurf auf erhebliche Vorbehalte im Bundesrat
gestoßen ist und dass wir bezüglich der Vielfältigkeit der
Sanktionsmöglichkeiten im Vergleich zu den anderen
europäischen Ländern ganz hinten liegen. Deshalb sei
die Frage gestattet, ob sich Deutschland einer Reform
des Sanktionenrechts wirklich grundsätzlich verschließen darf.
({1})
Ich meine, das wäre angesichts der Tatsache, dass die
Bundesländer immer wieder über überfüllte Haftanstalten klagen, kaum verständlich.
({2})
Ich denke, dass wir den Spielraum der Gerichte erweitern müssen, um im Bereich der Kleinkriminalität
und der mittelschweren Kriminalität auch anders auf die
Straftäter einwirken zu können. Deshalb ermöglicht es
unser Entwurf der Justiz, auf Straftaten künftig flexibler
und effektiver zu reagieren. Das ist dringend erforderlich; denn die Zahl der Gefangenen steigt ständig. 1993
waren es noch rund 37 000 Personen, die zur Verbüßung
von Freiheitsstrafen inhaftiert waren. Zehn Jahre später,
im Jahre 2003, waren es schon 55 000 Personen, also
18 000 Gefangene mehr.
In unseren Gefängnissen verbüßen außerdem von
Jahr zu Jahr mehr Menschen eine so genannte Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Hier stiegen die Zahlen in dem genannten Zehnjahreszeitraum von knapp 1 800 auf rund 3 500 Gefangene.
Es kann also aus diesen, aber auch aus anderen Gründen
durchaus sinnvoll sein, einen Täter nicht aus seinem sozialen Umfeld und Arbeitsumfeld herauszureißen, sondern nach anderen Lösungen zu suchen.
({3})
Das gilt auch und gerade für solche Gefangene, die
eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, die also eine
Geldbuße nicht bezahlen können. Sie sitzen ja nicht deshalb ein, weil die Richterin oder der Richter meinte, dass
unter Schuld- und Präventionsgesichtspunkten eine Verurteilung, ein Einsitzen erforderlich ist. Gerade bei diesen Gefangenen stellt sich die Frage: Warum können sie
ihre Schuld nicht abarbeiten und damit innerhalb der Gesellschaft einen Beitrag leisten, statt auf Kosten der Länder ihre Strafe im Gefängnis abzusitzen?
({4})
Aus diesen Erwägungen heraus wollen wir die in
mehreren Bundesländern bereits bestehende Möglichkeit
zum - schlagwortartig formuliert - „Schwitzen statt Sitzen“ einheitlich im Bundesrecht verankern und als primäre Ersatzstrafe ausbauen. Ich meine, dass man über
einen sinnvollen Einsatz gemeinnütziger Arbeit bei den
Personen nachdenken kann, die zu einer kurzen Freiheitsstrafe bereits verurteilt worden sind; denn bei Wiederholungstaten der geringeren Kriminalität kann eine
unabwendbare Freiheitsstrafe gleichwohl noch zu scharf
sein. Damit fände genau das nicht statt, was ich mit einem gestuften Sanktionensystem gemeint habe. Hier
wollen wir die Möglichkeit eröffnen, eine unbedingte
Freiheitsstrafe quasi als Warnung zu verhängen, dem Täter aber gleichwohl die Chance geben, durch gemeinnützige Arbeit ebendiese Freiheitsstrafe abzuwenden.
Neben diesem Gesichtspunkt wollen wir den Gerichten mehr Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Sanktionen eröffnen und deshalb das Fahrverbot zu einer
Hauptstrafe ausbauen und es von jetzt drei Monaten auf
dann sechs Monate verlängern. Das Fahrverbot - das
wissen wir alle - trifft so manchen Täter härter als eine
Geldstrafe, insbesondere dann, wenn er über ein erkleckliches Einkommen oder Vermögen verfügt. Wir werden
außerdem aus der bisherigen Verwarnung mit Strafvorbehalt in § 59 StGB eine Verurteilung mit Strafvorbehalt
machen und auch diese Sanktionen ausbauen. Diese Verurteilung muss mit Auflagen oder Weisungen verbunden
werden, die der Tat und dem Täter entsprechen. Wir ermöglichen so, wie wir meinen, eine bessere Resozialisierung.
({5})
Das weitere Ziel dieses Gesetzentwurfes ist, noch
mehr für die Opfer von Kriminalität zu tun. Wir haben
im Bundestag bereits verschiedene Gesetze verabschiedet, die die Stellung der Opfer insgesamt stärken, und
auch kürzlich das Opferrechtsreformgesetz auf den Weg
gebracht. Wir wollen jetzt auch im Sanktionenrecht den
Gedanken der Wiedergutmachung der Schäden stärker in
den Vordergrund rücken. Deswegen ist vorgesehen, dass
der Staat von seinem Anspruch auf Eintreibung einer
Geldstrafe zurücktritt, wenn das Opfer ansonsten keinen
Ersatz durch den Täter erhalten würde. Auf gut Deutsch:
Wenn die Mittel des Täters zu gering sind, erhält zunächst einmal das Opfer sein Geld. Erst dann kann der
Staat seine Forderung nach einer Geldstrafe erheben.
Wir meinen, dass die Interessen der Opfer wichtiger als
die des Staates und seiner Gerichtsbarkeit sind.
({6})
Zur Wahrung von Opferinteressen gehört auch, dass
die Einrichtungen, die sich speziell um Opfer kümmern,
finanziell besser ausgestattet werden. Vereine der Opferhilfe - das ist hier schon häufig betont worden - leisten
einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft und insbesondere für die betroffenen Opfer.
({7})
- Das ist wahr, Herr Kauder, und Sie ganz besonders.
Unser Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig
5 Prozent einer Geldstrafe einer Einrichtung der Opferhilfe zugewiesen werden sollen. Damit sind wir der Kritik des Bundesrates bereits entgegengekommen. Sie wissen, dass der Entwurf in der letzten Legislaturperiode
noch 10 Prozent für die Opferhilfe vorsah. Die Länder
lehnen aber aus rein fiskalischen Erwägungen auch diese
5 Prozent ab, weil ihnen dann die Einnahmen aus der
Geldstrafe entgehen.
Ich habe bei der Beratung im Bundesrat signalisiert,
dass wir bereit sind, über andere Lösungsformen nachzudenken, um zu vermeiden, dass die Opferverbände
gänzlich leer ausgehen. Denn es kann nicht sein, dass
diese entweder 5 Prozent oder gar nichts bekommen.
Wir müssen kreativ an eine Lösung herangehen und
überlegen, wie man das sonst regeln kann. Insofern bitte
ich Sie herzlich, auch durch Ihre Beratungen im Rechtsausschuss mitzuhelfen, im Interesse der von uns allen
gewollten verbesserten Situation der Opfer zu Lösungen
zu kommen.
Ich will nicht verhehlen, dass ich die Einwände des
Bundesrates hinsichtlich der Kosten der gemeinnützigen Arbeit nicht nachvollziehen kann.
({8})
Kürzlich hat Sachsen-Anhalt dargetan, dass mehr als
96 000 Hafttage allein in Sachsen-Anhalt durch Ableistung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit eingespart wurden.
({9})
Das wurde unter Zugrundelegung des reinen Verpflegungsgeldes auf 200 000 Euro und unter Zugrundelegung der realen Haftkosten auf 7,2 Millionen Euro hochgerechnet.
Ich habe aus dieser Presseerklärung den Eindruck gewonnen, dass vielleicht viele Länder Sorge haben, wir
wollten in ihr bestehendes System der Organisation von
Haftstrafen eingreifen. Das wollen wir natürlich gar
nicht. Das ist nicht das Bestreben der Bundesregierung.
Im Gegenteil: Sie wissen, dass wir all das unterstützen,
was sachgerechte und gute Ergebnisse bringt. Uns geht
es lediglich darum, zum einen diejenigen Länder zu ermuntern, auch solche Verfahren einzuführen, die das bisher noch nicht oder nur in einem sehr geringen Maße
tun. Zum anderen geht es uns auch darum, Richterinnen
und Richtern deutlich zu machen, dass es einen Spielraum gibt, um Sanktionen zu finden, die der jeweiligen
Täterpersönlichkeit angemessen sind.
({10})
Denn die Zielgruppe unserer Reform sind - ich möchte
nicht, dass darüber ein Irrtum entsteht - die kleineren
Straftäter, die kleineren Wiederholungstäter wie Ladendiebe oder mehrfache Schwarzfahrer, aber keine
Schwerverbrecher. Wir wollen nicht, dass Schwerverbrecher „schwitzen statt sitzen“.
Ich meine, dass unsere Reform ein ausgewogenes
Konzept bietet, damit Richterinnen und Richter bei der
Wahl der Sanktionen besser als bisher auf den Einzelfall
eingehen können. Das sollten wir alle im Sinne einer
vernünftigen Strafrechtspflege wollen.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Justizministerin! Der Gesetzentwurf
ist eine Sammlung aus dem Kuriositätenkabinett.
({0})
Nicht nur, dass das Sanktionensystem, das aus einem
fein abgestuften Gebäude besteht, aufgebrochen wird, es
wird regelrecht verkehrt und auf den Kopf gestellt.
({1})
- Beifall, wo Beifall angemessen ist. Mehr als einmal
klatschen war bei dieser Vorstellung nicht drin.
({2})
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Die
Brüder A und B fahren nach einem geselligen Zusammensein jeder in seinem Fahrzeug betrunken nach
Hause. Sie fahren in eine Fußgängergruppe hinein. Bei
Bruder A hat das schlimme Folgen; er fährt einen Menschen tot. Bei Bruder B wird ein Mensch nur verletzt.
Siegfried Kauder ({3})
({4})
Der Richter reagiert maßvoll. Bruder B, der einen
Menschen nur verletzt hat, erhält eine Freiheitsstrafe von
drei Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Er
muss 150 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten, was
er auch tut.
Bei Bruder A sieht es anders aus. Er hat einen Menschen zu Tode gebracht. Zur Verteidigung der Rechtsordnung hält es der Richter für geboten, dass dieser Bruder eine Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne
Bewährung bekommt.
({5})
Nun sollte man vermuten, dass Bruder A die Haftstrafe verbüßen muss. Das muss er aber nicht. Wenn es
nach den Vorstellungen von Rot-Grün geht, kann er
nämlich, weil er Ersttäter ist, diese Haftstrafe abarbeiten,
und zwar in Form von gemeinnütziger Arbeit, die er
auch leistet.
({6})
- Ich möchte erst mein Beispiel zu Ende führen, Herr
Kollege Montag.
Jetzt ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bruder A, der
eine Freiheitsstrafe hätte absitzen müssen, ist nach dem
Ableisten der gemeinnützigen Arbeit lastenfrei; denn die
Strafe ist verbraucht.
Bei Bruder B sieht es anders aus. Er hat zwar auch gemeinnützige Arbeit geleistet, aber er nimmt eine Bürde
in Form einer Freiheitsstrafe von drei Monaten zur Bewährung mit in die Zukunft.
Beide Brüder haben darüber hinaus das gleiche Problem: Sie haben wegen ihrer Verurteilung keinen Führerschein mehr. Sie fahren aber ohne Fahrerlaubnis weiter.
Bruder B wird dabei erwischt. Der Richter sagt: Das
kann doch nicht wahr sein; er hat wohl nichts dazugelernt. - Nun bekommt Bruder B eine Freiheitsstrafe von
zwei Monaten ohne Bewährung zur Einwirkung auf ihn
und zur Verteidigung der Rechtsordnung.
Wie es der Teufel will,
({7})
fährt auch Bruder A weiterhin ohne Führerschein. Diesmal fährt er einen Fußgänger an, der zum Glück nicht
stirbt, sondern nur verletzt wird. Welche Folgen hat das
für Bruder A?
({8})
Er hatte die erste Freiheitsstrafe abgearbeitet; sie ist verbraucht. Damals waren es drei Monate ohne Bewährung.
Jetzt müssen es fünf Monate ohne Bewährung sein. Nun
wird Bruder A sicherlich endlich einmal seine Strafe
verbüßen müssen. - Nein! Denn Bruder A - durch einen
Verteidiger gut beraten, Herr Kollege Ströbele - sagt
dem Richter: Ich bin gerne bereit, den Schaden wiedergutzumachen, und biete ein Schmerzensgeld an. Die
erste Rate habe ich schon überwiesen. - Nach dem Willen von Rot-Grün würde der Richter darauf erwidern: Na
schön, die Schadenswiedergutmachung geht vor. Deswegen kannst du den Schaden wiedergutmachen und gemeinnützige Arbeit leisten; du musst nicht ins Gefängnis
gehen.
Wie geht es aber dem anderen Bruder, der weit weniger kriminelle Energie aufgebracht hat? Bei ihm ist nur
ein Mensch verletzt worden. Bei Bruder A ist ein
Mensch tot und einer verletzt. Wissen Sie, was mit
Bruder B passiert? - Er fährt vier Monate ins Gefängnis
ein, und zwar aus folgendem Grund: Die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe von zwei Monaten kann er nicht in
Form von gemeinnütziger Arbeit ableisten, weil er ein
Wiederholungstäter ist und keinen Schaden wiedergutmachen kann. Er verbüßt die zwei Monate auch voll,
weil nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch bei einer
Freiheitsstrafe von zwei Monaten keine Aussetzung des
Strafrestes nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe möglich ist. Bei seiner ersten Strafe, die
zur Bewährung ausgesetzt wurde, wird die Bewährung
widerrufen. Davon sitzt er zwei Drittel ab. Zwei Drittel
von drei Monaten sind - das kann jeder schnell nachrechnen - zwei Monate.
Derjenige, der eine geringere kriminelle Energie aufgebracht hat, sitzt also insgesamt vier Monate ab, ohne
dies abwenden zu können, während derjenige, der die
höhere kriminelle Energie an den Tag gelegt hat, davonkommt, ohne die Strafe verbüßen zu müssen. Frau Ministerin, da halte ich es mit Frau Dr. Merkel: Was sinnvoll ist, machen wir mit. Was nicht sinnvoll ist, tragen
wir nicht mit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
({0})
Bitte schön.
Kollege Kauder, das ist ein Beispiel aus Absurdistan.
Ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass der Letzte, der
angeklagt war, weil er betrunken Auto gefahren ist und
dabei einen Menschen totgefahren hat und mit einer kleinen Freiheitsstrafe davonkam, der bayerische CSU-Minister Wiesheu war und dass danach in der Bundesrepublik Deutschland keine Freiheitsstrafen von drei
Monaten mehr ausgesprochen worden sind, wenn jemand im Straßenverkehr alkoholisiert einen Menschen
totgefahren hat?
Herr Kollege Montag, ich bin dankbar für Ihre Zwischenfrage. Sie dokumentiert nämlich, dass Sie dem Problem nicht auf den Grund gehen, sondern versuchen, mit
Einzelfallbeispielen rechtliche Grundsätze auszuhebeln.
({0})
Wenn Sie mir die grundsätzliche Problematik erläutern
können, höre ich Ihnen im Ausschuss gerne zu. Aber
das, was Rot-Grün vorgelegt hat, ist Absurdistan. Hierfür könnte ich Ihnen noch weitere Beispiele nennen. Vielen Dank.
({1})
Nun komme ich auf das zu sprechen, bei dem ich der
Justizministerin Beifall gezollt habe. Es ist gut - das soll
im Übrigen auch europäischer Standard werden -, dass
ein Teil der Geldstrafen den Opferschutzorganisationen zur Verfügung gestellt werden soll. Aber, Frau Justizministerin, Sie wissen genau, dass das eine Luftnummer ist; denn die Länder werden nicht zustimmen.
({2})
Ich hätte mir gewünscht, dass die Ministerin strategisch
vorgegangen wäre. Wenn man mit leerem Tornister zu
armen Ländern reist, deren Kassen leer sind, dann wird
man mit einer Maßnahme, die den Ländern einen Einnahmeausfall von 20 Millionen Euro beschert, wohl
kaum auf offene Ohren stoßen. Sie haben einen Trumpf
im Ärmel gehabt, den Sie aber verspielt haben. Das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz spült nicht zulasten des
Bundes, sondern zulasten der Kostenschuldner bei Gerichtsverfahren 111 Millionen Euro in die Kassen der
Länder. Ich hätte erwartet, dass eine kluge Ministerin
dies als Manövriermasse in ihrem Tornister mitnimmt
und den Ländern sagt: Wir stimmen dem Entwurf
eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, das euch
111 Millionen Euro einbringt, zu, wenn ihr wenigstens
20 Millionen Euro für die Entschädigung der Opfer von
Straftaten zur Verfügung stellt. Aber diese Chance haben
Sie verspielt.
({3})
Im Übrigen instrumentalisieren Sie in der Debatte
über den vorliegenden Entwurf die Opferinteressen.
({4})
Sie wollen, dass ein Straftäter, der die gegen ihn verhängte Geldstrafe nicht bezahlen kann, ohne den Anspruch des Opfers auf Schadenswiedergutmachung zu
gefährden, einen Bonus bekommt. Eine ähnliche gesetzliche Vorschrift gibt es bereits. Nach § 459 a der Strafprozessordnung können Opfer vor Gericht die Zurückstellung der Eintreibung der Geldstrafe beantragen, bis
Schadenersatz geleistet ist. Von dieser Möglichkeit
wurde auch Gebrauch gemacht. Aber Sie wollen diese
Vorschrift ersatzlos streichen. Dafür soll der Täter einen
Bonus bekommen. Er darf den Schaden wiedergutmachen, was auf die Geldstrafe angerechnet wird. Damit
privilegieren Sie Straftäter gegenüber jedem anderen
Schuldner. Das wollen und werden wir nicht mitmachen.
({5})
Frau Ministerin, Sie reden so locker und lässig von
„schwitzen statt sitzen“ und weisen darauf hin, dass die
Gefängnisse voll seien. Sie vertreten hier auf einmal
Landesinteressen; denn der Vollzug der Strafe ist Ländersache und nicht Bundessache. Es kann doch wohl
nicht sein, dass man der Bevölkerung sagt: Wir können
Straftäter ihre Strafe nicht verbüßen lassen, weil die Gefängnisse voll sind. Dann muss man dort etwas regeln.
({6})
Frau Ministerin, Sie weichen aus. Statt „sitzen“ soll
gemeinnützige Arbeit geleistet werden. So viele Vereine,
wie Sie dafür brauchen, können Sie gar nicht gründen.
Nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch viele von Ihnen sind Vorsitzende von gemeinnützigen Vereinen und
kennen die Last für die Vereine, wenn sie gemeinnützige
Arbeit ableisten lassen. Das ist ein riesengroßer Verwaltungsaufwand, der von ehrenamtlich Tätigen erwartet
wird. Diese sind aber nicht verpflichtet, den staatlichen
Strafanspruch durchzusetzen. Sie müssen mir einmal erklären, wie ein Verein mit einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe, die durch gemeinnützige Arbeit abgeleistet werden soll, umgehen soll. Ein Tag Freiheitsstrafe sind
sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. Bei fünf Monaten
sind das 900 Stunden gemeinnützige Arbeit, von denen
zwei Drittel binnen 18 Monaten abgeleistet werden müssen. Erklären Sie mir bitte einmal, welcher Verein das
leisten soll!
Zusammenfassend: Der Gesetzentwurf hat nur wenige vernünftige Ansätze. Wir sind zwar bereit, diese
mitzutragen. Aber Sie können von uns nicht verlangen,
Unsinn zu unterstützen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Reform des Sanktionenrechts ist dringend
notwendig. Frau Bundesjustizministerin hat darauf hingewiesen, wie viele Jahre in diesem Hause über eine
solche Reform nachgedacht worden ist und dass es der
Vorgängerregierung, die viele Jahre regiert hat, nicht gelungen ist, mehr als nur Reden zu halten, zu einem
schlüssigen Konzept zu kommen und den Entwurf eines
Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts vorzulegen.
Der jetzt vorliegende Entwurf ist Ausdruck unserer
fortschrittlichen, in die Zukunft gerichteten Rechtspolitik.
({0})
Sie bedauern ja fortwährend, Sie hätten nichts zu tun und
es rege sich in der Rechtspolitik wenig. Jetzt haben Sie
etwas Konkretes auf dem Schreibtisch liegen; daran können Sie sich abarbeiten. Es ist ein Beispiel für das, was
wir unter einer fortschrittlichen Reform in der Rechtspolitik verstehen.
({1})
Das Erwachsenenstrafrecht im Bereich der kleinen
und der mittleren Kriminalität ist einfach zu unflexibel.
Es ist notwendig, dass wir dieses Instrument in den Händen der Strafrichterinnen und Strafrichter flexibler machen. Warum ist das so? Die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland wächst nicht. Auch die
Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland wächst
nicht. Nur die Anzahl der Strafgefangenen wächst dramatisch.
({2})
Das hängt nicht mit der Quote der Aufklärung durch die
Polizei zusammen, sondern damit, dass wir das Strafrecht fortwährend verschärfen und keine Möglichkeiten
haben, in einer anderen Art und Weise auf diejenigen tatsächlich einzuwirken, die eine Verfehlung begangen haben und deswegen auch eine Ahndung vonseiten des
Staates zu spüren bekommen sollen.
Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten sollte eigentlich eine Ausnahme sein.
({3})
Sie ist es aber nicht. Die Bundesjustizministerin
sagte hier in einer Fragestunde zu diesem Thema - ich
zitiere -:
Im letzten Jahr gab es beispielsweise 144 Fälle, in
denen die Bestraften wegen Beleidigung zu einer
Freiheitsstrafe von knapp sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt worden sind.
Das bisherige Muster ist zu kleinmaschig. Es sieht
folgendermaßen aus: Geldstrafe, bei Unmöglichkeit der
Zahlung sofort Ersatzfreiheitsstrafe. Dadurch werden
Tausende von Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafen in
den Strafvollzug geschickt. Dorthin kämen sie nicht,
wenn wir den Richtern ein vernünftiges Instrument gäben, das diesen Schritt verhindert.
Es gibt in diesem Fall für die Länder eine Öffnungsklausel. Wir meinen, dass diese Öffnungsklausel das
nicht erreicht hat, was sie erreichen sollte. Erst vor einigen Tagen habe ich davon gehört, wie in BadenWürttemberg auf der Grundlage dieser Öffnungsklausel
angeblich vorgegangen wird: Derjenige, der eine Geldstrafe nicht zahlt und gegen den eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wird, rückt ein; wenn er am ersten Tag
des Vollzugs der Ersatzfreiheitsstrafe die Hälfte der
Strafe bezahlt, dann wird ihm die andere Hälfte erlassen.
Ich muss Ihnen sagen: Das ist allerdings keine moderne
Form des Umgangs mit diesem Thema.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Gerne.
Herr Kollege Montag, sind Sie mit mir einig, dass
sich aus Ihren Ausführungen ein Wertungswiderspruch
zu Ihrer Zwischenfrage ergibt? Haben Sie mir nicht vorhin vorgehalten, es gebe in Deutschland heutzutage keinen Richter mehr, der für eine Trunkenheitsfahrt drei
Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhänge? Gerade haben Sie mir erzählt, dass es in Deutschland sogar
bei Beleidigungen kurzfristige Freiheitsstrafen geben
soll.
({0})
Herr Kollege Kauder, Sie haben meine Zwischenfrage
offensichtlich nicht verstanden
({0})
und Sie haben das, was ich eben gesagt habe, nicht verstanden. Mir fehlt die Zeit, Ihnen das noch einmal ausführlichst zu erklären. Nur so viel: Wenn Sie Tötungen
im Straßenverkehr, seien sie auch fahrlässig begangen,
mit Beleidigungen auf eine Stufe stellen
({1})
und sich dann darüber mokieren, dass das - angeblich gleich bzw. ungleich bestraft wird, dann geht das wirklich haarscharf an der Sache vorbei, lieber Herr Kollege
Kauder.
({2})
- Ich habe Ihre Frage beantwortet.
({3})
Herr Kollege Kauder, ich will Ihnen Folgendes sagen:
Weder Ihre Kritik von heute, die sich auf die Darstellung
eines tatsächlich absurden Falles beschränkt, noch die
Kritik, die der rechtspolitische Sprecher Ihrer Bundestagsfraktion zum Gesetzesvorschlag zur Reform des
Sanktionenrechts geäußert hat, setzt sich sachlich mit
dem auseinander, was konkret vorgeschlagen wird. Herr
Dr. Röttgen, Ihr rechtspolitischer Sprecher, hat zu diesem Gesetzentwurf gesagt - ich darf zitieren -:
Inhalt dieses Gesetzentwurfs ist eine Verharmlosung und Aufweichung staatlicher Sanktionierung
kriminellen Verhaltens.
Jetzt dürfen Sie pflichtgemäß klatschen,
({4})
aber ich sage Ihnen: Eine inhaltsleerere Kritik als die,
die sich Ihr rechtspolitischer Sprecher da geleistet hat,
kann es angesichts eines Entwurfs mit vielen ganz konkreten Änderungsvorschlägen zum bisher begrenzten
Sanktionensystem überhaupt nicht geben.
({5})
Wir schauen nach dem, was Sie eigentlich konkret
vorschlagen, und finden null Komma null. Seit Jahren
schlagen Sie Folgendes vor: höhere Strafen, immer mehr
Repression, Strafe als Zerstörung und nicht als Reintegrationsmöglichkeit und als Hilfe für ein zukünftig straffreies Leben.
({6})
Der letzte Vorschlag von Ihnen lautete: Erhöhung der Jugendhöchstfreiheitsstrafe von zehn auf 15 Jahre. Alles,
was Sie uns anbieten, ist von gestern, ist keine moderne
Rechtspolitik.
({7})
Zu der Länderkritik an unseren Vorschlägen, die den
Opfern und den Opferhilfeverbänden zugute kommen
sollen, will ich in allem Ernst nur Folgendes sagen - das
hat die Bundesregierung auch wortwörtlich in ihrer Gegenäußerung geschrieben -: Die Länder, der Staat, haben keinen Anspruch auf Geldstrafen. - Im Sinne eines
modernen Blicks auf die Haushalte darf man nicht nur
darauf schauen, dass man die 5 Prozent, die von den
Geldstrafen an die Opferhilfeverbände gehen sollen,
nicht bekommt. Man darf auch nicht nur darauf schauen,
was es kostet, die Organisation aufzubauen, damit
„schwitzen statt sitzen“ wirklich in dem erwarteten Maß
möglich wird. Man muss doch auch gegenrechnen, dass
jeder Tag Vollzug 75 bis 95 Euro kostet. Da kann man
sparen.
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr.
Ich komme zum Schluss. - Man muss ferner gegenrechnen, dass der Staat die Opferhilfeverbände auch
sonst subventionieren und unterstützen müsste. Das alles
müssen Sie in Ruhe gegenrechnen. Wenn Sie das tun,
dann können wir mit den Ländern in ein konstruktives
Gespräch treten und dann werden wir die Länder davon
überzeugen können, dass dieser Entwurf auch ihnen
nützt und außerdem für eine moderne Strafrechtspflege
und für eine moderne Kriminalitätspolitik genau das
Richtige ist.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP begrüßt eine Reform unseres strafrechtlichen
Sanktionensystems. Die Frage ist nur: Wie soll diese Reform aussehen? Angesichts der langjährigen Diskussion,
die über dieses Thema geführt worden ist, ist der vorgelegte Regierungsentwurf mehr als enttäuschend.
({0})
Sie wollen es Straftätern ermöglichen, Geldstrafen
durch gemeinnützige Arbeit abzuarbeiten. Dagegen ist
nichts einzuwenden. „Schwitzen statt sitzen“ ist eine
gute Idee. Die Länder haben solche Modelle längst eingeführt. Sie werden dort erfolgreich praktiziert und haben sich bewährt. Das alles ist nichts Neues, Frau Bundesjustizministerin.
({1})
Trotzdem ist Ihr Entwurf einmalig.
({2})
Sie führen nämlich den Dreistundenarbeitstag in
Deutschland ein. Sie wollen, dass ein Tagessatz Geldstrafe künftig mit drei Stunden Arbeit abgegolten ist.
Das kann die FDP weder nachvollziehen noch mittragen.
({3})
Ihr Gesetzentwurf geht damit an den gesellschaftlichen Realitäten in unserem Land vorbei. Im öffentlichen
Dienst diskutieren wir eine Erhöhung der Arbeitszeit auf
42 Stunden,
({4})
eine Arbeitszeit, die für Selbstständige eine reine
Wunschvorstellung ist,
({5})
und Sie wollen ausgerechnet für Straftäter die 15-Stunden-Woche einführen. Diese Idee hätte ich allenfalls der
IG Metall zugetraut.
({6})
Ihre Rechtspolitik ist an dieser Stelle abgehoben. Sie
wird der Sache nicht gerecht und sie ist auch den Menschen in Deutschland nicht mehr zu vermitteln. Ihr Gesetzentwurf lässt ganz entscheidende Fragen unbeantwortet. Es ist nicht klar, ob es überhaupt möglich sein
wird, genügend geeignete Arbeitsplätze anzubieten.
Ebenso ist nicht klar, was die Betreuung, Begleitung und
Überwachung der gemeinnützigen Arbeit kosten wird.
Hier, Frau Ministerin, liegen doch in der Praxis die Probleme.
({7})
Sie belasten die Länder mit zusätzlichen Kosten, deren
Höhe Sie überhaupt nicht einschätzen können.
Solange diese wesentlichen Punkte nicht geklärt sind,
lehnen wir die Reform ab. Ihr Gesetz wird erhebliche
Kosten mit sich bringen. Die ohnehin schon knappe Personaldecke der Strafverfolgungsbehörden wird dadurch
weiter belastet. Ich warne davor; Sie werden der Strafrechtspflege damit einen Bärendienst erweisen.
({8})
Ich habe den Eindruck, mit jeder verlorenen Landtagswahl verliert die SPD mehr und mehr Praxis- und
Realitätsbezug. Sie scheinen sich von der Verantwortung
auf Landesebene schleichend zu verabschieden.
({9})
- Wir regieren auf Landesebene verantwortlich mit. Ein Beleg dafür ist Ihr Vorschlag, künftig 5 Prozent jeder
Geldstrafe zwingend an Opferschutzeinrichtungen zu
überweisen. Sie greifen damit in fremde Taschen, Frau
Bundesjustizministerin, um rot-grüne Träume zu finanzieren.
({10})
Wir können nicht widerspruchslos hinnehmen, dass der
Bund das Geld der Länder großzügig an gemeinnützige
Organisationen verteilt. Sie zahlen ja auch nicht
5 Prozent der Einnahmen aus der Ökosteuer an Umweltverbände.
Der Opferschutz in Deutschland muss nicht neu erfunden werden. Es gibt genügend Opferschutzstiftungen
und gemeinnützige Organisationen, die hervorragende
Arbeit leisten und auch in Zukunft in der Lage sind,
diese Aufgabe zu erfüllen. Ihre Vorgängerin, Frau Bundesjustizministerin, hatte vorgeschlagen, 10 Prozent der
Geldstrafen an Opferhilfeeinrichtungen zu geben, Sie
kommen uns mit 5 Prozent. Mein Vorschlag lautet: Gehen Sie noch einmal 5 Prozent runter, dann sind wir miteinander im Geschäft.
({11})
Sie drehen hier an den falschen Schrauben. Die Opfer
von Straftaten würden es mehr begrüßen, wenn Sie dafür
sorgten, dass eine Strafe in Deutschland eine Strafe
bleibt. Die Opfer von Straftaten erwarten vor allen Dingen eine konsequente Strafvollstreckung und eine effiziente Strafverfolgung.
({12})
Es macht doch keinen Sinn, immer härtere Strafen in unsere Gesetzbücher hineinzuschreiben und Verfahren mit
erheblichem Aufwand zu betreiben, wenn am Ende die
Vollstreckung der Strafe zur Farce verkommt.
({13})
Bei Ihrem Gesetzentwurf gewinnt man den Eindruck,
Sie wollten die Strafvollstreckung mit möglichst geringem Aufwand und möglichst wenigen Belastungen für
die Verurteilten auf dem kleinen Dienstweg erledigen.
Ich sage Ihnen ganz klar: Diesen Weg gehen wir nicht
mit.
Wir akzeptieren auch nicht die von Ihnen vorgeschlagene Entwertung der Geldstrafe. Es ist rechtspolitisch
verfehlt, dass zwei Tagessätze künftig nur noch einem
Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen sollen. Es kann
doch nicht sein, dass jemand, der zur Zahlung von zehn
Tagessätzen verurteilt wurde und diese weder bezahlt
noch abarbeitet, am Ende nur fünf Tage Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen muss. Im Klartext bedeutet Ihre Rechnung doch, dass man seine Strafe halbieren kann, indem
man sich weigert, sie zu bezahlen.
({14})
Ihr Vorschlag wird - das prophezeie ich Ihnen - dazu
führen, dass die Gerichte bei der Festsetzung von Geldstrafen künftig das Doppelte wie bisher festsetzen.
({15})
Sie bringen ein funktionierendes System durcheinander,
ohne dass Sie eine durchdachte Alternative bieten könnten.
({16})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, es gehe Ihnen um eine bessere Berücksichtigung der Opferinteressen. Wie müssen
sich die Opfer von Straftaten fühlen, wenn sie Ihren Katalog der Annehmlichkeiten für Straftäter lesen?
Frau Bundesjustizministerin, Ihr Gesetzentwurf ist
unausgegoren. Die FDP sieht hier noch erheblichen
Nachbesserungsbedarf. Ich bin sicher, dass dafür mehr
als drei Stunden am Tag gearbeitet werden muss.
Ich danke Ihnen.
({17})
Herr Kollege Wissing, Sie sind am 23. Januar dieses
Jahres in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Es war
Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere
Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen für die Zukunft
alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit
des Bundesrates und die CDU/CSU-Fraktion in diesem
Hause haben in der Tat äußerst kritische Stellungnahmen
zu dem vorliegenden Gesetzentwurf abgegeben. Bei der
FDP war das bisher anders. Ich hoffe, dass das, was wir
gerade gehört haben, nicht die neue liberale Rechtspolitik der FDP darstellt.
({0})
In den Stellungnahmen der Länder heißt es, dass die
wesentlichen Punkte der Regierungsvorlage kriminalpolitisch verfehlt seien. Die Vorschläge zur gemeinnützigen Arbeit und zur Verwarnung mit Strafvorbehalt würden die strafrechtliche Praxis vor kaum überwindbare
Probleme stellen. Man versteigt sich sogar zu der Behauptung, das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung werde dadurch verletzt. Weiter heißt
es, die Spezial- und die Generalprävention des Strafrechts würden geschwächt und die Strafvollstreckung
werde in beträchtlichem Maße verzögert. Das ist in der
Tat starker Tobak. Wenn dem so wäre, hätten wir einen
solchen Entwurf nicht vorgelegt. Das Gegenteil ist aber
der Fall.
({1})
Wer so dicke Backen macht wie Sie mit Ihren Formulierungen, der muss einen Grund dafür haben.
({2})
- Ja, ich meine die Wangen.
Das ist - im Chor mit der CDU/CSU - die Stellungnahme genau der Länder, die sich in dieser Legislaturperiode ansonsten ausschließlich dadurch hervorgetan haben, im Bereich der Kriminalpolitik immer mehr, immer
schärfere und immer höhere Strafen zu fordern. Eine
Fülle von Gesetzesinitiativen belegen diese Linie. Ich
habe diese Initiativen einmal heraussuchen lassen. Es
gibt in der kurzen Zeit dieser Legislaturperiode schon
30 entsprechende Vorstöße aus den Reihen der Union.
Der letzte Vorstoß ist schon genannt worden, nämlich
dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht endgültig den Garaus zu machen. Das war die letzte Initiative,
die uns auf den Tisch gelegt wurde.
({3})
Andererseits wird die Überfüllung der Strafvollzugsanstalten beklagt. Welch Wunder, kann ich nur sagen.
Die Rechts- und Kriminalpolitik der CDU/CSU kulminiert in einer Bundesratsinitiative - auch die liegt uns
vor - mit der letztendlichen Zielrichtung, das Strafvollzugsgesetz zu ändern und den allgemeinen Anspruch auf
Einzelunterbringung der Häftlinge während der Ruhezeit
einzuschränken oder sogar - das ist eine weitere Initiative aus Hessen - das Vollzugsziel zu ändern. Das heißt,
das Ziel der Resozialisierung steht danach nicht mehr
im Mittelpunkt. Damit entfernen Sie sich meilenweit
von der Verfassungsrechtsprechung in diesem Land.
({4})
Damit entfernen Sie sich meilenweit von einer vertretbaren Kriminalpolitik.
({5})
Da stellt sich wirklich die Frage: Erkennen Sie den
Teufelskreis dieser Spirale, die Sie auslösen, wirklich
nicht? Wollen Sie wirklich das, was Sie da sagen? Oder
sagen Sie das nur aus populistischen Überlegungen? Ist
das wirklich Ihr Gesellschaftsbild? Ist das wirklich Ihre
Vorstellung von Kriminalpolitik? Ich sage Ihnen ganz
deutlich: Unsere Vorstellung ist das nicht.
({6})
Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs ist,
eine eindeutige Alternative in der Kriminalpolitik zu
bieten. Er ist aus diesem Grunde aus unserer Sicht voll
unterstützungswürdig. Es macht kriminalpolitisch Sinn,
das strafrechtliche Sanktionensystem zu erweitern und
zu flexibilisieren sowie die Interessen von Opfern von
Straftaten bei der Gestaltung der Sanktionen einzubeziehen.
Der Gesetzentwurf sieht insoweit sinn- und maßvolle
Änderungen im Sanktionenrecht vor. Schon seit Jahren
werden in Wissenschaft, Praxis und Politik als Ergänzung zu den traditionellen Geld- und Freiheitsstrafen,
wie wir sie kennen, neue, kreativere Freiheitsbeschränkungsstrafen bei kleinen und mittleren Straftaten gefordert. Genau darüber reden wir. Wir reden nicht über
Schwerstkriminalität und über organisierte Kriminalität.
Wenn man Sie hört, Herr Kauder, dann könnte man fast
meinen, der Untergang des Abendlandes stünde bevor,
weil wir diesen Gesetzentwurf eingebracht haben.
({7})
Es geht hier um den breiten Bereich der kleinen und
mittleren Kriminalität.
Der Vorschlag, der jetzt zur Diskussion auf dem Tisch
liegt, ist das Ergebnis der Reformdiskussion der Vergangenheit. Ich sage Ihnen: In der Praxis ist man sich, das
heißt Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Gerichtshilfe, Bewährungshilfe und wer alles in diesem Bereich
arbeitet, also alle diejenigen, die im Strafrecht tätig sind,
schon seit Jahren darin einig, dass das geltende Sanktionensystem, das die Geld- und die Freiheitsstrafe als
Hauptstrafen vorsieht, den Gerichten zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten bietet, um gerade im Bereich kleiner
und mittlerer Kriminalität in geeigneter Weise spezialpräventiv tätig werden zu können.
({8})
Der vorliegende Gesetzentwurf wird daher in der Praxis
ganz überwiegend begrüßt, Herr Kollege Kauder.
({9})
Mit Ihrer ablehnenden Haltung werden Sie den Anforderungen an eine moderne Kriminalpolitik nicht mehr gerecht; das sage ich Ihnen auch heute.
({10})
Aus meiner Sicht noch ein letztes Wort zu der von Ihnen so sehr bekämpften gemeinnützigen Arbeit als primäre Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe oder als Ersatz für die Verhängung von kurzen
Freiheitsstrafen.
({11})
Das betrifft die in § 59 StGB vorgesehene Neuregelung
einschließlich des Strafvorbehalts.
Ich darf darauf hinweisen, dass bereits nach geltendem Recht, nämlich nach Art. 293 des Einführungsgesetzes zum StGB, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe
durch Erbringung von Arbeitsleistungen abgewendet
werden kann. Dies ist geltendes Recht.
({12})
Allerdings bedarf es hierzu jeweils der Rechtsverordnung durch eine Landesregierung.
Darum frage ich mich: Weshalb wehren Sie sich
eigentlich so vehement gegen die Implementierung der
gemeinnützigen Arbeit in das geltende Strafgesetzbuch?
Das ist für mich einfach nicht nachvollziehbar. Oder ist
es Ihnen lieber, die Anordnung der gemeinnützigen Arbeit nicht durch ein Gericht im Zusammenhang mit dem
Urteil vornehmen zu lassen, sondern durch die Exekutive, das heißt je nach Bedarf oder Kassenlage, Herr Kollege Kauder? Das kann es im Ergebnis nicht gewesen
sein.
({13})
Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Nein, Frau Präsidentin. Die Beiträge von Herrn
Kauder werden durch Zwischenfragen nicht besser.
({0})
Ich möchte noch einmal auf das eingehen, worauf die
Ministerin, aber auch der Kollege Montag hingewiesen
haben. Im Zusammenhang mit den Kosten, die an den
Gerichten entstehen, geht es auch darum, dass 5 Prozent
der gezahlten Geldstrafen Opferverbänden und -einrichtungen zugeführt werden sollen. Gerade mit einer Erweiterung der Möglichkeit der Anordnung gemeinnütziger
Arbeit können die Kosten im Vollzug - das wurde nachgewiesen; die Länder haben da erhebliche Kosten - in
großem Umfang eingespart werden. Das Land Bayern
hat bekannt gegeben, im Jahre 2002 durch gemeinnützige Arbeit 65 226 Hafttage eingespart zu haben. Bei
Haftkosten von täglich rund 80 Euro bedeutet dies rund
5,2 Millionen Euro. Der Justizminister aus Hessen hat
für das Jahr 2002 eine Summe von 4,7 Millionen Euro
bekannt gegeben und Niedersachsen kommt auf 7,5 Millionen Euro. Mecklenburg-Vorpommern hat im Jahre
2002 einen Modellversuch durchgeführt, um einmal die
Kosten zu berechnen, die entstehen, wenn gemeinnützige Arbeit abgeleistet wird. Dadurch entstehen natürlich auch Kosten; das ist klar.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Ende. - Man kam dort netto auf
1 Million Euro.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn all die Diskussionen
der letzten Wochen und Monate in diesem Hause über
verstärkten Opferschutz und über die Implementierung
von Opferrechten in die Strafprozessordnung ernst gemeint gewesen sind, dann sollten wir uns dem Gedanken, den ich eben vorgetragen habe, nicht verschließen.
Schönen Dank.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sie werden meinen Eindruck nicht ganz
teilen; aber lassen Sie ihn mich trotzdem schildern. Man
möchte fast meinen, die heutige Sitzung ist eine Sonderveranstaltung zum 1. April. Das begann heute Morgen
mit der Debatte über Ihre geplante Ausbildungsplatzabgabe. Das war kein Aprilscherz. Das Lachen bleibt
einem schier im Halse stecken; denn Sie meinen es tatsächlich ernst.
Da Sie gerade beim Reformieren sind, haben Sie sich
jetzt überlegt, auch gleich das Sanktionenrecht anzugehen. Das ist sozusagen der nächste lang ersehnte rechtspolitische Wurf Ihrerseits.
({0})
Das Sanktionenrecht eignet sich allerdings nicht für
einen Aprilscherz. Wir sind heute nicht wirklich zum
Scherzen aufgelegt.
({1})
Deswegen fordere ich Sie auf, sich ein paar Gedanken zu
Ihrem Gesetzentwurf zu machen.
Unser bisher geltendes Sanktionenrecht, in dem Geldstrafen und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen angewandt
werden, bedarf meiner Ansicht nach keiner so grundlegenden Reform, wie sie jetzt von Ihnen angedacht
wurde. Die Praktiker werden mir wahrscheinlich Recht
geben, wenn ich sage, dass unser ohnehin schon schwer
überlastetes Justizsystem diese so genannte Reform definitiv nicht braucht. Vorhin war von aufgeblasenen Backen oder Wangen - man kann sich darüber streiten - die
Rede. Ich sehe schon, dass die verfassungsrechtlich gebotene effektive Strafverfolgung durch Ihren Entwurf
unnötig verzögert wird.
({2})
Einige konkrete Beispiele: Es ist unserer Ansicht
nach absolut nicht zu verantworten, dass es Straftätern
erlaubt wird, eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten lediglich abzuarbeiten.
Freiheitsstrafen werden nicht ohne weiteres verhängt. Es
wird auch nicht ohne weiteres von den Gerichten auf
eine Aussetzung zur Bewährung verzichtet. In vielen
Fällen ist nun einmal die Verhängung einer Freiheitsstrafe unumgänglich, sozusagen die Ultima Ratio. Dies
gilt gerade für die Täter, die eine kurze Freiheitsstrafe
absitzen sollen. Es dreht sich hier in aller Regel um Wiederholungstäter, von denen die Richter wohl nicht ohne
Grund annehmen, dass sie rückfällig werden könnten.
Deswegen hat der Richter durch sein Strafmaß zum Ausdruck gebracht, dass eine Haftstrafe unumgänglich und
angemessen ist. In solchen Fällen eine reine Abarbeitung der Strafe durch den Täter zu ermöglichen, ist
grob verharmlosend und hilft uns in keiner Weise weiter.
Selbstverständlich - auch wenn Sie uns das nicht
glauben - verkennen wir nicht die präventive Wirkung
gemeinnütziger Arbeit. Bei Wiederholungstätern aber,
um die es uns in diesem speziellen Fall geht, ist das alleinige Abstellen auf Prävention völlig verfehlt und läuft
ins Leere.
({3})
Ein weiterer Punkt, der die spezialpräventive Wirkung, die ein Urteil auf den Täter haben soll, außer Kraft
setzt, ist die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt gibt es
bereits in § 59 StGB, allerdings als Kannregelung. Das
reicht in meinen Augen völlig aus. Wir lehnen die Mussregelung, die Sie einführen wollen, ab.
({4})
Ich komme zu Ihrer neuen Geldstrafenregelung, die
zu massiven Einnahmeausfällen bei den Ländern führen
wird. Der Kollege Kauder hat sie bereits auf
20 Millionen Euro beziffert. Sie sagen, die Länder hätten
keinen Anspruch auf eine Geldstrafe. Ich muss Ihnen
entgegenhalten: Bei Ihrer Politik müssen die Länder einfach schauen, woher sie das Geld bekommen. Dazu ist
auch die Geldstrafe geeignet.
({5})
- Das finde ich nicht unmöglich. Die armen Länder!
Es ist sicherlich kein schlechter Ansatz,
({6})
dass 5 Prozent der Geldstrafe an eine gemeinnützige
Einrichtung zum Opferschutz gehen sollen. Das finde
ich grundsätzlich nicht verkehrt. Sie haben uns nur nicht
gesagt, wer das organisieren soll.
({7})
Wollen Sie wieder eine neue Behörde gründen?
({8})
Wollen Sie die Beamten nehmen, die seit der MautSchlappe arbeitslos sind? Es steht nichts im Gesetz. Den
organisatorischen Mehraufwand hat auch keiner berechnet. Bürokratieaufbau der reinsten Sorte! Etwas anderes
sind wir von Ihnen auch nicht gewöhnt.
({9})
Die Opfer sind schon angesprochen worden - mehr
von uns und weniger von Ihnen.
({10})
Wie wirkt es auf ein Opfer, wenn der Täter seiner gerechten Strafe einfach durch minimales Abarbeiten entgehen kann? Ich glaube nicht, dass die Opfer das unterstützen und dass die Opferverbände hier Zustimmung
signalisieren werden. „Schwitzen statt sitzen“ ist einer
Ihrer tollen Slogans. Er klingt nicht schlecht. Die Idee ist
vom Grundsatz her bestimmt nicht falsch. Aber der
staatliche Strafanspruch darf nicht ausgehöhlt werden.
Angemessenes Strafübel darf nicht abgemildert werden.
Sie haben hier den falschen Weg eingeschlagen.
Aber Sie gehen diesen Weg konsequent weiter, indem
Sie die gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe
für nicht eintreibbare Geldstrafen einführen. Den Bedarf
für eine solche Regelung kann ich leider nicht sehen.
({11})
Wir sind nach wie vor der Meinung: Kann eine Geldstrafe nicht bezahlt werden, muss weiterhin die Ersatzfreiheitsstrafe greifen. Strafe hat schließlich auch das
Ziel, unsere Rechtsordnung zu wahren, das Unrechtsbewusstsein des Täters zu schärfen und auf die Schuld des
Täters angemessen zu reagieren.
Hinzu kommt die in meinen Augen absurde Umrechnungsweise, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen: Ein Tagessatz nicht eingetriebener, nicht bezahlter
Geldstrafe entspricht drei Stunden gemeinnütziger Arbeit. Der Kollege von der FDP hat dazu bereits - durchaus nicht unzutreffend - angemerkt: Was sind schon drei
Arbeitsstunden in den Augen eines durchschnittlichen
Arbeitnehmers? - Hübsch wenig, würde ich sagen.
({12})
Immer schlechter wird das Verhältnis, wenn man Ihre
geplante Lösung bei der Ersatzfreiheitsstrafe betrachtet,
frei nach dem Motto, dass Rabatte ja derzeit in sind.
Auch hier wird plötzlich die Umrechnung geändert. Momentan gilt noch die Formel: Ein Tagessatz nicht gezahlter Geldstrafe entspricht einem Tag Freiheitsstrafe. Sie
ändern das in das Verhältnis 2 : 1; zwei Tagessätze nicht
gezahlter Geldstrafe entsprechen also einem Tag Freiheitsstrafe. Den Grund für diese Wohltaten am Täter erkenne ich nicht.
({13})
Einiges leuchtet mir nicht ein, einige Ansätze sind sicherlich nicht schlecht. Dennoch können wir diesem
Entwurf so, wie er jetzt vorliegt, nicht zustimmen.
Danke.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2725 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP
Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer
Ebene festigen - Verstärkte Förderung von
Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter
Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Deutsch als dritte Arbeitssprache auf europäischer Ebene - Verstärkte Förderung von
Deutsch als lernbare Sprache im Ausland
- Drucksachen 15/1574, 15/468, 15/1951 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({2})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Mit unserem heutigen Antrag, den wir
voraussichtlich einstimmig beschließen können, erfüllen wir zwei wichtige Aufgaben: zum Ersten, Deutsch in
der Europäischen Union zu stärken, und zum Zweiten,
Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland zu fördern.
Zur Stärkung von Deutsch in der Europäischen Union
ist bei der letzten Beratung ein ganzer Katalog von Notwendigkeiten vorgetragen worden. Ich möchte bei dieser
Gelegenheit die Bitte an die Bundesregierung richten,
Herr Staatsminister Bury, dass die Bundesregierung auch
die Forderung prüft, dass jeder neu eingestellte europäische Spitzenbeamte oder zumindest jeder Beamte oder
Angestellte des höheren Dienstes als Einstellungsvoraussetzung - wie es früher war - zwei Fremdsprachen
können muss. Denn die Reduktion auf eine Fremdsprache führt logischerweise zu einer Präferenz für Englisch
und Französisch. Wir glauben, dass dieses Verlangen
den Beamten absolut zumutbar ist.
({0})
Das Goethe-Institut hat im Rahmen einer großen
Kampagne bezüglich des zweiten Teils unseres Antrags,
nämlich das Lernen von Deutsch in Europa und im Ausland zu fördern, einen Katalog von zehn Gründen vorgelegt. Ich kann Ihnen aus Zeitgründen nicht alle zehn vortragen, aber die wichtigsten sind sehr einprägsam:
Deutschland ist das wichtigste Exportland der Welt.
Deutsch ist die meistgesprochene Sprache in der EuroDr. Peter Gauweiler
päischen Union. 18 Prozent aller Bücher weltweit erscheinen in Deutschland. Viele internationale Unternehmen haben ihren Sitz in Deutschland. Deutsch ist die
zweithäufigste Sprache in der Wissenschaft auf der Welt.
Wer Deutsch spricht und versteht, lernt die Kultur besser
kennen und verbessert seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Deutschen sind in vielen Ländern die wichtigsten Touristen.
Ich glaube, dass in den Forderungskatalog aufgenommen werden muss, Deutsch als Einstellungsvoraussetzung im Ausland mehr zu fördern. Bei der Reise des
Kulturausschusses nach Prag ist vor den Mitgliedern des
Kulturausschusses von tschechischen jungen Germanisten und Germanistikstudenten beklagt worden, dass
deutsche Firmen im Ausland nicht mehr - wie früher
ganz selbstverständlich - deutsche Sprachkenntnisse als
zusätzliche Einstellungsvoraussetzung präferieren, sondern dass deutsche Sprachkenntnisse der ausländischen
Bewerber unserer Wirtschaft wegen angeblicher Dominanz des Englischen gleichgültig geworden sind.
({1})
Ich habe heute zur Vorbereitung auf diese Sitzung
noch einmal beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag nachfragen lassen. Dort wurde uns mitgeteilt: Englisch ist bei der Einstellung für uns die wichtigste Sprache am Markt. Daran orientieren wir uns. Das ist eine ungute Entwicklung. Es ist die Aufgabe
eines Parlaments, das sich als Interessenvertretung des
eigenen Landes versteht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken.
({2})
In unserem Antrag sehe ich, wenn Sie so wollen, eine
Einladung an die Verantwortlichen, sich um dieses
Thema in seiner Gesamtheit zu kümmern. Das gilt auch
für die ungute Entwicklung, dass ganz bestimmte Großinstitutionen meinen, sie müssten sich von Deutsch als
Firmensprache verabschieden. Das ist nicht nur ein
sprachliches Problem, sondern letzten Endes auch ein
Problem der Gesetzeskontrolle und des Gesetzesvollzugs. Als Beispiel nenne ich eines der auf der ganzen
Welt berühmtesten deutschen Unternehmen bzw. Bankinstitute, die Deutsche Bank.
Der Unverdächtigkeit halber sei auf den „Spiegel“
verwiesen, der vor wenigen Wochen in einer großen Dokumentation berichtet hat, dass es immer mehr gelingt,
sich der deutschen Bankenaufsicht durch Verlagerung
ins Ausland, durch fremdsprachigen Schriftverkehr,
durch fremdsprachige Aktenführung und Ähnliches zu
entziehen. Ich glaube, dass wir, so wie wir es auch hinsichtlich des Schutzbereichs anderer Gesetze tun, eine
Vernetzung herstellen müssen, um das in diesem Antrag
formulierte Anliegen der Förderung der deutschen Sprache durchzusetzen.
Wir verlangen ein Weiteres. Herr Staatsminister, in
Ihrem Vortrag bei der letzten Debatte, den ich mir durchgelesen habe, haben Sie - mit einer kleinen Spitze an
Ihre Vorgängerregierung - darauf hingewiesen, dass bestimmte Positionen schon früher aufgegeben wurden.
Das ist wahr. Wir brauchen uns hier wechselseitig nichts
zu schenken. Aber es ist ja nicht verboten, zu versuchen,
verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen. Ich
glaube, die Forderung ist richtig, dass auch im Bereich
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der
Europäischen Union auf das bewährte, Dreisprachenregime - Englisch, Französisch und Deutsch - zurückgegriffen und nicht mehr nur Englisch und Französisch gesprochen werden soll.
({3})
Ein letzter Gesichtspunkt. Aus Gründen der Unverdächtigkeit verweise ich auf eine Aussage der Staatsministerin Weiss,
({4})
die bei der Eröffnung eines Generalsekretariats des
Deutschen Musikrats in Berlin mehr deutsche Musikproduktionen in deutschen Rundfunksendern forderte.
({5})
Auch das gehört letzten Endes zu diesem Thema.
({6})
Kein geringerer als Herr Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse hat die Rundfunksender vor wenigen
Tagen, am 29. März 2004, aufgefordert, mehr deutsche
Musik zu spielen.
({7})
Sollte dies nicht freiwillig geschehen, müsse über eine
Quotenregelung diskutiert werden.
({8})
Die deutsche bzw. europäische Kultur müsse sich gegen
die Allmacht des amerikanischen Kulturimperialismus
durchsetzen. Ich möchte den Herrn Bundestagspräsidenten hier gegen jede Art respektloser Zwischenrufe in
Schutz nehmen.
({9})
In diesem Zusammenhang erinnere ich an die bemerkenswerte Protokollerklärung aller Ministerpräsidenten
zum Siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag, in der
es heißt:
Die Länder erwarten von den Hörfunkveranstaltern,
insbesondere von den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten und dem Deutschlandradio, eine stärkere Berücksichtigung von
deutschsprachiger Musik und deshalb eine Förderung auch neuerer deutschsprachiger Musikangebote durch ausreichende Sendeplätze in den Programmen.
({10})
- Dieses Thema ist zweigleisig.
({11})
Herr Kollege Gauweiler, Sie müssen zum Ende kommen. Deswegen kann ich auch nicht mehr die Zwischenfrage des Kollegen Ströbele zulassen.
({0})
Herr Kollege Gauweiler, Sie dürfen zum Ende kommen.
({1})
Herr Kollege, ich hätte Ihnen gerne zugehört. - Aber
lassen Sie uns dieses Thema nicht zerreden. Wir verfolgen doch ein gemeinsames Interesse.
({0})
Die „Los Angeles Times“ hat vor nicht allzu langer
Zeit geschrieben
({1})
- ja, auf Englisch -, warum die Deutschen ihre eigene
Sprache zu wenig benutzen. Die Amerikaner hoffen,
dass die Deutschen ihre Stimme wiederfinden, wenn sie
dazu ermutigt werden. Dieser Ermutigung dient unser
heutiger Antrag.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Eckhardt Barthel, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
werde jetzt im Unterschied zu Herrn Gauweiler etwas
ganz Revolutionäres machen. Ich werde nämlich zu dem
Antrag reden, der hier zur Abstimmung steht.
({0})
Auch mir fallen dazu Quoten ein. Das Schöne an diesem Thema ist ja, dass man eigentlich über alles reden
kann, weil es um Sprache geht. Wir haben aber einen
Antrag vorliegen. Insofern finde ich es ein bisschen bedauerlich, Herr Gauweiler, dass Sie nicht auf den Antrag
und seine Folgen eingegangen sind.
({1})
Dass wir, also alle vier Fraktionen gemeinsam, diesen
Antrag gezimmert haben, ist schon eine gute Sache. Das
Zweite, was ich etwas bedauere, ist, dass Sie nicht darauf eingegangen sind, dass wir hier die angenehm
merkwürdige Situation haben, vor dem Beschluss eines
Antrages zu stehen, dessen Forderungen zum großen
Teil bereits erfüllt sind.
({2})
- Ich werde es Ihnen gleich vortragen. - Das ist, wie ich
finde, eigentlich eine gute Sache.
Ich glaube, zwei Drittel unser Forderungen, die
Punkte 1 und 2 dieses Antrages, sind bereits in unserem
Sinne erfüllt. Wir haben gefordert, das so genannte
Marktmodell im europäischen Sprachenregime zu verankern. - Ich bitte, eine Fußnote machen zu dürfen: Vielleicht sollte man einmal überlegen, ob der Begriff „Sprachenregime“ richtig ist. Mit „Regime“ assoziiere ich
eigentlich etwas Negatives; ich weiß nicht, woran das
liegt. Aber das ist jetzt nicht das Thema.
Es ist gelungen, auf europäischer Ebene - ich freue
mich, dass Herr Bury hier ist - dieses Marktmodell einzuführen; die Forderung in unserem Antrag ist damit erfüllt. Nun weiß ich, dass vielen der Begriff „Marktmodell“ noch nichts sagt. Deswegen will ich es in
Erinnerung rufen: Mit dem Marktmodell - damit wäre
auch die politische Bewertung vorgenommen - ist die
Gleichwertigkeit aller Sprachen anerkannt. Jeder Mitgliedstaat kann selbst entscheiden, welche Sprache benutzt werden soll. - Das ist wichtig; wir reden schließlich von der Vielfalt der Kulturen in Europa als Teil
unserer europäischen Identität.
({3})
- Wenn er vernünftig ist und niemand verdrängt wird,
immer.
Ich schildere jetzt die Erfolgsbilanz der Bundesregierung: Sie hat sofort für alle 94 Gruppen, die dem Marktmodell unterliegen, die Deutsch-Dolmetschung angemeldet; somit ist auch dieses festgelegt, Herr Gauweiler.
Das Zweite zu diesem Marktmodell: Es ist flexibel und
spart übrigens eine Menge Kosten. Wenn ich das
richtig gelesen habe, spart die EU jedes Jahr
100 Millionen Euro. Ich wäre froh, wenn wir das im
Kulturetat hätten. Das wäre eine tolle Sache.
({4})
Die Vielfalt der genutzten Sprachen hat also auch diesen
positiven Effekt.
Ich möchte diese beiden, wie ich glaube, wichtigsten
Entscheidungen zusammenfassen, Herr Gauweiler, und
komme damit zu unserem Antrag; über Quoten können
Eckhardt Barthel ({5})
wir immer noch reden. Es ist also gelungen, dieses von
uns geforderte Marktmodell in der EU einzuführen. Das
ist das Erste. Das Zweite ist - man sollte es nicht gering
schätzen -: Es gab ja bisher für den AStV, den Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, dieses Dreisprachenregime. - Hier taucht schon wieder
der Begriff Regime auf. - Diese drei Sprachen - Englisch, Französisch und Deutsch - sind jetzt zum ersten
Mal festgeschrieben worden.
Ich glaube, mit der Umsetzung unseres noch nicht beschlossenen Antrages werden wir einen großen Schritt
vorankommen, wenn wir auch noch nicht am Ende stehen. Auch mir ist natürlich klar: Alleine mit Regeln werden wir das eigentliche Ziel, nämlich die Verbreitung
und die Pflege der deutschen Sprache im Ausland, nicht
erreichen. Dies bildet ja die Überschrift von dem, worüber wir jetzt reden; was im Antrag steht, ist lediglich ein
wichtiger Teil davon. Deswegen bin ich froh, heute nicht
nur einen gemeinsamen Antrag verabschieden zu können, sondern gleichzeitig auch noch eine Erfolgsmeldung bezüglich der Ziele dieses Antrags vortragen zu
können. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Auftrag
der Pflege und der Verbreitung der deutschen Sprache im
Ausland im Inneren beginnt; das habe ich schon mehrfach gesagt und wir haben in der letzten Debatte hier
eine breite Diskussion dazu geführt.
Lassen Sich mich daher ein bisschen selbstkritisch
darauf hinweisen, wie wir im Parlament mit unserer
Sprache umgehen, die dann vielleicht auch nach außen
getragen wird. In letzter Zeit habe ich mir im Hinblick
darauf einige Gesetzestexte angeschaut. Das meine ich
jetzt nicht beckmesserisch; jede Fraktion kann sich unter
diesem Gesichtspunkt angesprochen fühlen.
({6})
- Ja, es wimmelt von Begriffen wie Jobfloater.
({7})
- Ich habe bewusst ein Beispiel aus einem Gesetz von
uns gewählt. Aber Sie müssen nicht mit dem Finger auf
uns zeigen; diese Sprache geht quer durch alle Fraktionen. Wir haben in diesem Bereich also auch als Parlament eine Vorbildfunktion nach innen wie nach außen.
Eine letzte Bemerkung: Der dritte Punkt unseres Antrags betrifft etwas, was zurzeit unser täglich Brot im
Kulturausschuss ist, die auswärtige Kulturpolitik. In
diesem Zusammenhang steht auch das Thema Deutsche
Welle an. Der Kulturausschuss nimmt diese Themen
sehr ernst. Wir alle sind froh, dass es uns in einer gemeinsamen Anstrengung gelungen ist, dass die Sprachvermittlung im Ausland nicht darunter leidet, dass Kultur unter die Subventionen fällt und somit reduziert wird.
Darauf werden wir wohl auch in Zukunft achten müssen.
Herr Otto, weil ich Sie hier so fröhlich sehe, sage ich
noch ein Wort zu Ihrem Änderungsantrag.
({8})
Sie haben sinngemäß beantragt, dass Kultur nicht unter
Subventionen fallen dürfe. Von meiner Seite kann ich Ihnen nur sagen, dass ich dies für in Ordnung halte. Das
sollten wir beschließen, weil wir nicht nur bei diesem
Haushalt, sondern auch in Zukunft häufig darum kämpfen werden, wie Kultur einzuordnen ist. Wenn wir nach
dem wichtigen Etappenziel, das wir heute erreicht haben, auch dies erreichen, dann können wir sagen: Auch
der Deutsche Bundestag bemüht sich gleichermaßen um
die Verbreitung der deutschen Sprache nach außen und
um ihre Pflege im Inneren.
Ich bedanke mich.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Barthel, es gibt ein chinesisches
Sprichwort, das besagt, auch die längste Reise beginne
mit dem ersten Schritt. Ich begrüße es sehr, dass wir hier
den ersten Schritt getan haben, indem wir uns über alle
Fraktionen hinweg gemeinsam auf diesen Antrag verständigt haben. Aber zu meinen, zwei Drittel dieses Antrags seien bereits erfüllt, ist, freundlich formuliert, blauäugig. Wir sind weit davon entfernt, dass zwei Drittel
dieses Antrags erfüllt seien. Das Marktmodell und das
Sprachenregime gibt es bisher lediglich auf dem Papier.
Aber wenn man in die europäischen Institutionen nach
Brüssel und Straßburg schaut, wird man feststellen, dass
sich in der Praxis überhaupt noch nichts verändert hat.
Nachdem wir uns im Deutschen Bundestag über die
Fraktionen hinweg verständigt haben, bestärken wir die
Bundesregierung in ihrem Ziel, dafür zu sorgen, dass
die deutsche Sprache mehr zur Anwendung kommt. Hier
ist allerdings noch viel zu tun. Nur rund 1 Prozent aller
EU-Bediensteten sprechen Deutsch als Muttersprache.
Dies muss sich ändern. Wir verlangen - Herr Kollege
Gauweiler hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass jeder
höhere EU-Bedienstete in der Lage ist, zwei Fremdsprachen zu sprechen. Das ist nicht zu viel verlangt und muss
durchgesetzt werden. Dies trüge entscheidend dazu bei,
dass deutsche Bewerber französischen und englischen
Bewerbern gleichgestellt werden.
({0})
Diesem Marktmodell - ich freue mich, dass auch Kollege Barthel beim Markt angekommen ist - müssen wir
in der Tat zum Durchbruch verhelfen. Bisher steht dieses
Modell nur auf dem Papier; in die Praxis wird es noch
nicht richtig umgesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Teil dieses Antrags ist von uns selbst noch nicht richtig umgesetzt. Wenn es im Antrag heißt, Deutsch sei als Fremdsprache im Ausland zu fördern, dann müssen wir als
Parlamentarier dazu beitragen, dass die Mittel im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik nicht nur gegen
Steinbrück/Koch, sondern generell verteidigt werden. Wir
wissen, dass der Anteil der auswärtigen Kulturpolitik im
Hans-Joachim Otto ({1})
Etat des Auswärtigen Amtes in den letzten Jahren kontinuierlich auf rund 23 Prozent gesunken ist.
({2})
Wenn wir es mit dem dritten Teil des Antrages ernst meinen, dann müssen wir als Parlamentarier in den Haushaltsberatungen dazu beitragen, dass dieser Anteil wieder gestärkt wird. Wir sind nicht glaubwürdig, wenn wir
fordern, dass Deutsch verstärkt in den EU-Gremien gesprochen wird, während wir selber die Mittel für den
Deutschunterricht im Ausland immer weiter zurückfahren und die Position der Goethe-Institute und der
Sprachmittler schwächen.
Wir haben einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan, was ich sehr begrüße. Ebenso begrüße ich es,
dass wir den Antrag heute über alle Fraktionsgrenzen
hinweg annehmen. Aber zu glauben, wir hätten jetzt unsere Arbeit getan und wir könnten uns getrost zurücklehnen, wäre ein großer Fehler.
({3})
Wir haben, lieber Kollege Barthel, beileibe noch nicht
zwei Drittel dessen, was im Antrag vorgesehen ist, verwirklicht. Die Bemühungen beginnen jetzt erst.
Herr Kollege Otto, die Arbeit ist noch nicht getan,
aber die Redezeit ist vorbei.
Frau Präsidentin, meine Arbeit ist getan. Ich habe uns
alle ermahnt, am Ball zu bleiben, nachdem wir einen ersten Schritt gemacht haben. Wir müssen das Ganze jetzt
umsetzen. Ich bitte insbesondere die Bundesregierung,
gestärkt durch diesen Beschluss darauf hinzuwirken,
dass in der Praxis Erfolge erzielt werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich war am letzten Wochenende und die Tage davor als
Wahlbeobachter des Europarates in Georgien. Es ist erhebend und bewegend, wenn man durch die Dörfer des
Kaukasus fährt und in fast jedem Ort jemandem begegnet, der Deutsch spricht und einem sozusagen um den
Hals fällt, und man die Akzeptanz dieser Sprache und
der Kultur, die dahinter steht, erlebt.
Genau diese Verpflichtung haben wir hier aufgenommen. Wir müssen uns dafür einsetzen, diese nationale
Aufgabe umfassend zu erfüllen. Die Bedeutung der Kulturförderung in diesem Land, die aus meiner Sicht äußerst wichtig ist, wird leider aufgrund der monetären Aspekte von der Politik nicht richtig wahrgenommen. Ich
glaube, dass auswärtige Kulturpolitik nicht nur die Stärkung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland,
sondern auch gerade die ökonomische Dimension von
Politik unterstützt und vorbereiten hilft. Dies sollten wir
gemeinsam tun. Das steht uns allen gut an.
({0})
Aber es geht auch um die europäische Dimension.
Europa lebt von der Vielfalt, von der kulturellen und von
der sprachlichen Vielfalt. Diese Vielfalt wird mit dem
Beitritt der zehn neuen Länder, den wir sehr begrüßen,
noch größer. Er macht das Sprachenregime in Europa
komplizierter. Aber ich bin der Meinung: Wir sind in der
EU auf einem guten Wege. Wir haben im Europäischen
Rat, im Europäischen Parlament und im Ministerrat die
Volldolmetschung ab dem 1. Mai 2004 in 20 Amtssprachen.
Wir haben im Ausschuss der Ständigen Vertreter - das
ist schon angesprochen worden, aber ich möchte es wiederholen - die Gleichberechtigung von Französisch und
Deutsch. Sobald auf EU-Kosten ins Französische gedolmetscht wird, wird automatisch auch ins Deutsche gedolmetscht. Dieser Fortschritt wurde schon erreicht. In
den ratsvorbereitenden Gruppen - das Marktmodell ist
festgesetzt, es funktioniert und ist beschlossen - tritt ab
1. Mai 2004 eine Reform des Sprachregimes in Kraft.
Das heißt, jedes Land bekommt einen Basisbetrag und
alles, was darüber hinaus gefordert wird - sei es die
Dolmetschung ins Englische, Französische, Deutsche,
Litauische oder in eine andere Sprache -, wird von den
einzelnen Ländern bezahlt. Dieses Sprachregime ist gültig und vernünftig.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal, weil wir
uns in vielen Punkten einig sind, auf einen Aspekt, der
deutlich gemacht worden ist, hinweisen: Neben diesen
Sprachstrukturen, die wir politisch verabreden - wir sind
dort auf einem guten Weg -, brauchen wir in der Kommission auf der Arbeitsebene, auf der Ebene der Beamtinnen und Beamten, Personen, die die deutsche Sprache
nicht nur sprechen können, weil sie schön, wichtig und
wertvoll ist, sondern wir brauchen - ein Antrag dazu ist
in Vorbereitung - deutsche Beamtinnen und Beamte,
Vertreter der Bundesregierung, die unser Land zahlenmäßig tatsächlich repräsentieren.
Bei der Durchsetzung dieser Interessen sind wir nicht
in allen internationalen Gremien auf allen Ebenen der
EU, UN und wo auch immer so weit, wie wir gerne sein
würden. Deshalb muss die Politik Anstrengungen unternehmen, damit diese Gremien stärker als bisher mit
deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt
werden; das hielte ich für richtig.
Es wurde vorhin moniert, dass wir hier noch nicht
mehr erreicht haben. Bezüglich der Beamten sind wir
aber schon deutlich weiter. Vielleicht ist das auch zu aktuell, weshalb ich das hier noch einmal sagen will: In der
letzten Woche wurde das EU-Beamtenstatut geändert
und in unserem Sinne verbessert; denn von nun an muss
ein Beamter oder eine Beamtin vor seiner oder ihrer ersten Beförderung nach der Einstellung nachweisen, dass
er oder sie in einer dritten Sprache der Gemeinschaft arbeiten kann.
({1})
- Ja, das hat aber mit dem Dienstrecht zu tun. Das wird
vor den Beförderungen geprüft.
Das ist bereits ein Fortschritt. Ich finde, wir sollten an
dieser Stelle nicht immer das, was noch nicht erreicht
wurde, in den Vordergrund stellen. Wir sollten betonen,
dass wir gemeinsam dabei sind, das, was in der Vergangenheit versäumt worden ist, Schritt für Schritt zu erreichen. Ich glaube, dass wir hier auf einem guten Weg
sind.
({2})
Ich hoffe, dass die Sensibilität in diesem Hohen
Hause und in der Bundesregierung auf einem hohen Niveau bleibt, damit diese Interessen durchgesetzt werden
können. Man muss natürlich aufpassen, dass man sich in
der Begrifflichkeit nicht vergreift. Ich glaube aber, wir
alle zusammen haben ein Interesse daran, Deutsch zur
Durchsetzung von ökonomischen Interessen und politischen Strategien in dieser Welt - das sage ich jetzt tatsächlich einmal etwas überspitzt - zu stärken. Das sollten wir selbstbewusst und ohne falsche Zwischen- und
Misstöne tun. Dieses Selbstbewusstsein sollten wir haben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete HeinrichWilhelm Ronsöhr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht kann man die unterschiedlichen Enden, die hier zum Ausdruck gekommen sind, zusammenführen. Es geht ja um eine Gemeinsamkeit. Ich glaube,
es geht nicht nur um einen gemeinsamen Antrag, sondern es geht um die Gemeinsamkeit der deutschen Politik. Das möchte ich bewusst herausstellen.
Eckhardt, nun mag es ja sein, dass zwei Drittel der
Beschlüsse bisher erfüllt wurden. Herr Otto hat auf der
anderen Seite aber auch Recht, da von diesen Beschlüssen noch nicht alles so umgesetzt wurde, wie es umgesetzt werden sollte. Ich will mich nun nicht darüber streiten, wie weit wir den Weg bisher gegangen sind. Ich
glaube, dass wir uns alle darüber einig sein sollten, dass
wir uns auf dem richtigen Weg befinden.
Die Einlassung von Herrn Gauweiler ist ganz wichtig;
denn es geht auch ein Stück weit darum, mit welchem
Selbstverständnis wir die deutsche Sprache nach innen
verwenden. Manchmal hat man hier den Eindruck, dass
dort, wo Anglizismen draufstehen, schon Modernität
enthalten ist. Dadurch spiegelt man sich etwas Falsches
vor. Um das ganz deutlich zu sagen: Damit macht man
die Sprache zum Teil kaputt.
({0})
Sie müssen sich nur einmal Toll Collect anschauen.
Auf den Apparaturen stehen irgendwelche Anglizismen.
Hier war keine Modernität drin. Es lag nichts Funktionstüchtiges vor. Dort war nichts, aber auch gar nichts drin.
Man lässt sich dadurch etwas vortäuschen. Vielen ist
dies so ergangen.
Ich glaube, hier gilt es umzudenken. Wir müssen ein
anderes Selbstverständnis entwickeln. Dieses Selbstverständnis muss nicht nur die EU, sondern auch die Unternehmen erreichen. Für deutsche Unternehmen im Ausland muss es selbstverständlich sein, dass sie sich auch
der deutschen Sprache bedienen.
({1})
Auch ich war mit dem Kulturausschuss unterwegs.
Herr Otto, Sie waren dabei: Wir haben in Südafrika gehört, dass die deutsche Sprache manchmal als Nachteil
empfunden wird, wenn sie von jemandem gesprochen
wird, der sich bei deutschen Unternehmen bewirbt. Das
darf nicht sein. Es geht schließlich um Chancen für
Deutsche und Deutschsprechende. Herr Steenblock, Sie
haben eben deutlich gemacht, dass der Osten wie ein offenes Buch vor uns liegt und in diesem Buch das Deutsche sehr häufig vorkommt. Das heißt, wenn es um
Chancen für das Deutsche geht, dann sind dies nicht nur
Chancen für Deutsche, sondern auch Chancen für Osteuropäer. Dies gilt auch für Leute innerhalb der EU, die
weiter östlich wohnen als wir.
Ich habe vorhin eine junge und sehr hübsche slowenische Praktikantin empfangen.
({2})
- Das kann man doch einmal sagen. Politik hat schon so
manches Schöne mit sich gebracht und wird auch weiterhin sehr viel Schönes mit sich bringen. Die Kultur, damit
auch die deutsche Sprache, ist etwas sehr Schönes, das
möchte ich klar Ausdruck zu bringen. - Diese junge
Praktikantin hat erklärt, das Deutsche sollte sich in der
EU stärker durchsetzen, als das bisher der Fall gewesen
ist. Das heißt, es ist auch im Interesse vieler junger Menschen, die zur EU gestoßen sind oder noch stoßen werden, dass wir den Gebrauch des Deutschen weiter forcieren.
Wenn wir uns dieser Aufgabe gemeinsam widmen,
wie das letztlich in diesem Antrag zum Ausdruck
kommt, dann bin ich mir sicher, dass das Deutsche die
Bedeutung erhält, die auch in Zukunft von möglichst
vielen - nicht nur in der EU, sondern auch darüber
hinaus - anerkannt werden sollte.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hedi Wegener.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste auf der Tribüne, Sie erleben heute ein seltenes Ereignis in diesem Haus. Wir beraten einen von allen Fraktionen gemeinsam eingebrachten Antrag. Das ist nicht
oft der Fall. Die Diskussionen, die bisher geführt wurden, hörten sich zwar kontrovers an, waren es aber nicht.
({0})
Dieser Antrag ist einstimmig eingebracht worden,
weil alle erkannt haben, dass auf europäischer Ebene die
Tendenz vorherrscht, englisch und französisch zu sprechen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich Deutsch
mehr als bisher etabliert. Wir begrüßen daher ausdrücklich den Einsatz der Bundesregierung, die deutsche
Sprache auf europäischer Ebene zu stärken, und fordern,
diesen Einsatz fortzusetzen.
({1})
Vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung findet eine
Neuregelung des Sprachenregimes statt. Bei 4 000 Arbeitsgruppensitzungen und 20 Amtssprachen gibt es
380 denkbare Sprachkombinationen. Dabei stößt man
auf logistische und finanzielle Grenzen. Das Marktmodell - es ist ein komischer Begriff für ein ganz einfaches
System - ist schon häufig erwähnt worden. Es bedeutet:
Wer die Musik bestellt, der bezahlt sie auch. Der Kerngedanke ist, dass es einen Grundtopf gibt und diejenigen,
die eine weitere Versprachlichung fordern, diese extra
bezahlen müssen.
Die deutsche Sprache erhält eine eindeutige Aufwertung, weil gleichzeitig für alle 94 Arbeitsgruppen, die
dem Marktmodell unterliegen, eine Vollverdolmetschung ins Deutsche beantragt wurde. Damit wird
Deutsch als Arbeitssprache in der Europäischen Union
weiterhin gestärkt. Herr Steenblock hat schon darauf
hingewiesen: Bei der Verabschiedung des neuen EU-Beamtenstatus am 22. März dieses Jahres ist entschieden
worden, dass eine dritte EU-Sprache für eine Beförderung Pflicht ist.
({2})
Ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates. Da erlebe ich häufig, dass Vertreterinnen
und Vertreter aus anderen Ländern, in deren Sprache nicht
übersetzt wird, den deutschen Kanal hören. Diesen Schatz
müssen wir uns erhalten. Das sehe ich als Erfolg an.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in dem Antrag.
Das ist die Pflege der deutschen Sprache im Ausland,
und das nicht nur im Hinblick auf unsere europäischen
Nachbarn. Die Goethe-Institute leisten wirklich eine
unschätzbare wertvolle Arbeit.
({3})
Ich betone noch einmal - das ist in der Debatte zur Kulturpolitik schon gesagt worden -, dass wir in den letzten
Jahren keine Goethe-Institute geschlossen haben. Das ist
in den Vorjahren übrigens anders gewesen. Im Gegenteil: Es sind neue Goethe-Institute geplant. Wir haben eines in Kabul eröffnet,
({4})
eines ist in Algier geplant und in diesem Jahr soll noch
eines in Laibach eröffnet werden.
Ich habe Anfang des Jahres eine Mädchenschule in
Taschkent besucht und dort erfahren, dass Deutsch von
den Kindern geradezu aufgesogen wird. In Turkmenistan
lernen die Kinder im hintersten Dorf Deutsch. Die deutschen Auslandsschulen und Lehrerprogramme werden vom Auswärtigen Amt unterstützt. Dadurch werden
weltweit 250 000 Schüler erreicht. Es ist nicht nur so,
dass die Jugendlichen die deutsche Sprache lernen, sondern sie lernen sie aus deutschen Schulbüchern. Damit
lernen sie deutsche Kultur und das Menschenbild, das
wir ihnen vermitteln wollen. Was ich zu den Schulbüchern gesagt habe, gilt im Übrigen auch für die Lesesäle.
Es gibt 55 Lesesäle, die unterstützt werden und in denen
deutsche Zeitungen, Broschüren und Hefte ausliegen.
Das ist von unschätzbarem Wert, weil damit deutsche
Demokratie vermittelt wird.
({5})
- In Pjöngjang ist jetzt gerade ein Lesesaal hinzugekommen. Das ist unglaublich wichtig für eine Region, in der
es keine Pressefreiheit gibt. Die jungen Generationen
saugen das wie ein Schwamm auf.
Ich mache auch immer auf www.deutschland.de aufmerksam. Da präsentieren wir uns in fünf Sprachen. Es
ist eine Chance nicht nur für junge Leute, wenn sie Interesse an Deutschland haben, auf diese Seite zuzugreifen
und mehr über Deutschland zu erfahren. Die Deutsche
Welle wäre auch ein Thema, das wir noch erwähnen
könnten.
Zum Schluss möchte ich aus der Begründung des Antrags zitieren:
Die Verbreitung von Deutsch als Fremdsprache im
Ausland ist von ganz zentraler Bedeutung. Durch
die Sprache wird eine Beschäftigung mit dem Land,
den Menschen und der Kultur erreicht.
Ich hätte es nicht besser als der gemeinsame Antrag sagen können.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/1951. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der FDP auf Drucksache 15/1574 mit dem
Titel „Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer
Ebene festigen - Verstärkte Förderung von Deutsch als
erlernbare Sprache im Ausland“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An-
trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/468
mit dem Titel „Deutsch als dritte Arbeitssprache auf eu-
ropäischer Ebene - Verstärkte Förderung von Deutsch
als lernbare Sprache im Ausland“ für erledigt zu erklä-
ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Michael Bürsch, Ludwig Stiegler, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Werner Schulz ({2}), Katrin
Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Öffentlich-private Partnerschaften
- Drucksachen 15/1400, 15/2663 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({3})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto
Fricke, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Privatisierung und öffentlich-private Partnerschaften
- Drucksache 15/2601 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Michael Bürsch.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir jetzt sprechen, könnte
ähnlich wie das vorige Thema „Deutsch als Arbeitssprache auf EU-Ebene“ fraktionsübergreifende Zustimmung
finden. Betrachtet man die Infrastrukturmaßnahmen
als Ausgangspunkt, dann zeigt sich, dass zum Beispiel
bei Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen,
Krankenhäusern und Straßen sowie im Personennahverkehr, in der Wasserversorgung, bei der Kommunikationstechnik und in vielen anderen Bereichen ein gewaltiger Bedarf besteht.
Für die Kommunen beläuft sich der Investitionsbedarf für Infrastrukturmaßnahmen bis 2009 auf eine
Summe von fast 700 Milliarden Euro, sei es für die
Energieversorgung, den Wohnungsbau, die Telekommunikation und Ähnliches. Allein bei den Schulen beläuft
sich der Investitionsbedarf - zum Beispiel für den Bau
und die Sanierung von Schulen - auf 80 Milliarden
Euro. Die Kommunen bzw. die öffentliche Hand können
diese Summen nicht mehr aufbringen.
({0})
Nun fragen wir uns, wie wir diesem Problem beikommen können. Warum ist die Situation so schwierig geworden? Die Gründe dafür aufzuzählen würde sicherlich
eine abendfüllende Veranstaltung: die Verschuldung der
öffentlichen Hand, die Vorbelastungen aus den 16 Regierungsjahren von Helmut Kohl - der Kollege hat nach
den Gründen gefragt, also bekommt er auch die entsprechende Antwort -,
({1})
das hohe Leistungsniveau des Staates und nicht zuletzt
auch die deutsche Einheit. Sie ist uns zwar lieb und
teuer, aber wir müssen dafür wahrscheinlich noch über
sehr viele Jahre mehr als 100 Milliarden Euro allein von
staatlicher Seite aufbringen. Das ist aber berechtigt;
denn in den neuen Ländern gibt es einen gewaltigen Infrastrukturbedarf.
Wir können nun den klassischen Weg weiterbeschreiten und die Verschuldung erhöhen, indem wir versuchen,
die notwendigen Mittel weiterhin aus öffentlicher Hand
aufzubringen, oder wir können - was die FDP als Königsweg ansieht - alle Bereiche privatisieren.
({2})
Das wird von den Sozialdemokraten anders gesehen.
Wir sehen in der Privatisierung keine Daueraufgabe für
die soziale Marktwirtschaft, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wir sehen durchaus auch die Gefahren der Privatisierung. Ein Blick nach England zeigt,
dass die in den 16 Jahren unter Maggie Thatcher durchgeführten Maßnahmen noch heute ihre Spuren hinterlassen. Das britische Gesundheitswesen ist nicht unbedingt
beispielhaft. Auch andere Bereiche, die umfassend privatisiert worden sind, zeigen, dass dieser Weg nicht der
beste ist.
Insofern plädieren wir - das ist die Zielrichtung unseres Antrags - für einen dritten Weg, nämlich mit öffentlich-privaten Partnerschaften eine neue Verantwortungs- und Risikoaufteilung zwischen öffentlicher und
privater Hand zu suchen. Es geht um eine Kooperation,
wohlgemerkt auf derselben Augenhöhe, bei der die Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen sind und die Risiken
- darum geht es bei solchen Partnerschaften immer wie auch die dabei erzielten Gewinne gerecht verteilt
werden.
Sie von der FDP haben das viel zitierte Beispiel der
Maut aufgegriffen. Bei der Maut, wie sie bis vor zwei
oder drei Monaten gehandhabt worden ist, gab es aber
keine öffentlich-private Partnerschaft; vielmehr wurde
im Zusammenhang mit der Einführung eines Mautsystems ein Auftrag vergeben. Es gab einen Auftraggeber
- die öffentliche Seite - und einen Auftragnehmer. Der
Auftrag ist auf vielen Seiten schriftlich festgehalten worden.
Bei der Maut hat es keine öffentlich-private Partnerschaft gegeben, bei der eine solche ausführliche Auftragsbeschreibung im Übrigen nicht nötig ist, weil diese
Partnerschaft auf etwas anderem basiert, nämlich auf
Vertrauen. In gegenseitigem Vertrauen müssen unerwartete Risiken gemeinsam verantwortet und getragen werden.
Die Maut ist jetzt auf gutem Wege. Ich bin der Überzeugung, dass wir ein so riesiges Projekt auch als Vorzeigeprojekt brauchen, um zu zeigen, dass es der bessere
Weg ist, wenn sich die öffentliche Seite mit der privaten
Seite zusammentut. Wir können einerseits die Vorteile
der privaten Seite und die damit verbundenen Effizienzgewinne, die vorsichtig geschätzt 10 bis 20 Prozent ausmachen, nutzen.
({3})
Andererseits haben wir aber auch weiterhin die Möglichkeit, steuernd einzugreifen und die Aufgabe wahrzunehmen, die die öffentliche Hand wahrnehmen muss,
nämlich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vor
dem Gesetz zu sorgen.
({4})
- Auch für Chancengleichheit. - Die öffentlich-private
Partnerschaft nutzt also die Möglichkeiten der privaten
Seite, insbesondere die bessere Qualität, die man durch
private Aufgabenwahrnehmung erreichen kann. Aber sie
lässt auch die Möglichkeiten zu, Einfluss zu nehmen,
wie das im Interesse der Öffentlichkeit tatsächlich notwendig ist.
Diese vertraglich geregelte Kooperation wird bislang
bei uns leider fast nur unter dem Gesichtspunkt der Investition betrieben. Wenn man sich andere Länder, insbesondere England, anschaut, dann stellt man fest, dass
diese schon wesentlich weiter sind. Der Charme einer
öffentlich-privaten Partnerschaft entfaltet sich erst richtig - dies nutzen wir noch gar nicht -, wenn man eine
solche Partnerschaft über den gesamten Lebenszyklus
einer Infrastruktur zum Gegenstand eines Vertrages
macht, das heißt, wenn man die Effizienzgewinne und
die damit verbundene Qualität über den gesamten Lebenszyklus nutzt.
Nehmen wir ein Beispiel aus England - so etwas gibt
es in Anfängen auch schon in Deutschland -: Die Aufgabe, ein Gefängnis zu errichten und zu betreiben, wird
an eine öffentlich-private Partnerschaft vergeben. Natürlich wird die öffentliche Hand immer darauf achten müssen, dass die Sicherheitsbelange gewahrt bleiben. Selbstverständlich müssen bestimmte Aufgaben weiterhin im
Sinne des Staates erfüllt werden. Aber es steht nirgendwo geschrieben, dass die Aufgabenwahrnehmung
nicht auch durch private Dienste erfolgen kann.
Die Engländer haben einen wunderbaren Vergleich
angestellt, als ich vor kurzem über ein solches Projekt,
also das Errichten und Betreiben eines Gefängnisses, gesprochen habe - er macht vielleicht auch beispielhaft
den Unterschied zwischen England und Deutschland
deutlich, wo es bereits eine vergleichbare Ausschreibung
gibt -: Die Deutschen werden in einem solchen Falle mit
deutscher Gründlichkeit alles bis in das kleinste Detail
- die Höhe der Mauern, der Fenster und der Türen - beschreiben. Die Engländer dagegen legen als Aufgabenstellung bzw. Rahmenbedingung einfach vertraglich fest,
dass niemand aus dem Gefängnis entkommen darf. Das
ist alles; das ist schließlich die Zielstellung. Wenn jemand entkommt, muss dafür natürlich Verantwortung
übernommen und müssen Konsequenzen gezogen werden. Ich wünsche mir, dass wir Deutschen uns an solchen Beispielen orientieren. Das wäre nämlich ein wunderbarer Beitrag zur Entbürokratisierung und zur
Vereinfachung. Zudem entspräche es dem, was ich unter
öffentlich-privater Partnerschaft verstehe, nämlich eine
Kooperation auf gleicher Augenhöhe und mit gegenseitigem Vertrauen, in der die Risiken und die Chancen
gerecht verteilt werden.
Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, dass der
Investitionsbedarf bis 2009 auf kommunaler Seite bei
fast 700 Milliarden Euro liegt. Davon entfallen allein
80 Milliarden Euro auf den Bau und die Ausstattung unserer Schulen. Nach Schätzungen von Fachleuten könnte
etwa ein Drittel der Aufgaben in diesem Bereich in Form
von öffentlich-privaten Partnerschaften erledigt werden.
Das wäre allein im Bereich der Schulsanierung ein Auftragsvolumen von rund 26 Milliarden Euro. Wohlgemerkt, niemand sollte glauben, dass damit die Finanznot der öffentlichen Hand in irgendeiner Weise
behoben werden kann. Öffentlich-private Partnerschaften sind kein Allheilmittel und dürfen erst recht nicht zur
Bildung von Schattenhaushalten führen. Sie sind lediglich ein modernes Instrument des Zusammengehens und
der Kooperation von öffentlicher und privater Seite zum
beiderseitigen Nutzen. Insofern werbe ich für dieses Instrument.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, lassen
Sie uns das gemeinsam machen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, das ist kein Konfliktthema,
sondern ein Instrument der Modernisierung von Staat
und Gesellschaft, das uns allesamt voranbringen wird.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael
Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrter
Herr Kollege Bürsch, „Es gibt nichts Gutes, außer man
tut es“, sagte schon Erich Kästner. All das, was Sie uns
gerade mit viel Feuer und Pathos vorgetragen haben,
können Sie tun. Niemand hält Sie auf, das öffentliche
Vergaberecht so zu verändern, wie Sie sich das vorgestellt haben.
({0})
Wir wünschen uns das Ganze. Eine Partnerschaft, wie
Sie sie gefordert haben, hat ihren Nutzen darin, dass man
Dinge zu zweit besser als allein bewältigen kann.
({1})
Dies trifft auf das Thema der heutigen Debatte bestens zu. Es ist richtig, sich mit dem Thema „Public Private Partnership“ oder - eben hat die Debatte über
Deutsch als Arbeitssprache auf EU-Ebene stattgefunden - „ÖPP“, also öffentlich-private Partnerschaften, zu
beschäftigen. Es geht um die Frage, was der Staat allein
zu bewerkstelligen hat und in welchen Bereichen privates Unternehmertum besser wäre. Von Bereichen, in denen dies der Fall ist, brauchen wir einfach mehr.
Meiner Meinung nach ist der Staat beispielsweise
nicht dafür zuständig - Sie haben das in der Debatte
heute Morgen gefordert -, eine neue Behörde zur Erhebung der Ausbildungsplatzabgabe zu gründen. Dort
müssten zusätzlich 1 000 Mitarbeiter eingestellt werden.
Das würde uns in der Zukunft mit 72 Millionen Euro pro
Jahr belasten.
({2})
Die angestrebten Investitionsmöglichkeiten haben wir
dann wieder nicht, Herr Kollege Bürsch.
Der heutige Sozialstaat interveniert meiner Meinung
nach in viel zu vielen Bereichen, vor allen Dingen in den
Bereichen der Daseinsvorsorge. Er hat den Höhepunkt
seiner Leistungsfähigkeit absolut überschritten. Er
krankt daran, dass im Prinzip nur noch - ich denke, darin
sind wir uns fast alle einig - umverteilt wird. Der Staat
sollte aber nur dort eingreifen, wo es allen zum Nutzen
gereicht und wo es um hoheitliche Aufgaben geht. Alle
anderen Dinge sollte er Privaten überlassen.
Subsidiarität - ein Wort, das wir alle in Sonntagsreden von jedem Politiker immer wieder hören - ist in
vieler Hinsicht nur noch eine Worthülse; dennoch
müsste es wieder zum zentralen Thema in der Politik
werden. Daher begrüßt es die Union, dass der Privatisierung im FDP-Antrag Vorrang vor öffentlich-privaten
Partnerschaften einräumt wird.
({3})
Wir sollten erst einmal nachdenken. Am Anfang
müsste eine Aufgabenkritik des Staates stehen. Was der
Staat nicht machen muss, das darf er auch nicht machen.
Er sollte sich da also zurückhalten. Sie benennen große
Bereiche in Bezug auf PPP, zum Beispiel die sozialen
Dienste. Ich bin der Meinung, dass wir gerade hierbei
auf mehr Eigenverantwortlichkeit der Bürger setzen sollten. Dem Subsidiaritätsgedanken folgend sollten wir
möglichst viele Dinge nach unten delegieren. Die Arbeit
der Privaten ist sicherlich nicht nur kostengünstiger, sondern auch besser für die Bürger.
({4})
Neben der Aufgabenkritik muss der Staat allerdings
zuallererst seine Hausaufgaben machen. Unsere Staatsquote liegt mittlerweile bei 50 Prozent. Ist das noch soziale Marktwirtschaft?
({5})
- Frau Kollegin Kopp, Sie haben vollkommen Recht:
Unsere Staatsquote ist schon höher als 50 Prozent, Tendenz ständig steigend. Wenn das stimmt, was in den Debatten heute Morgen gesagt worden ist, dann sind wir
mittlerweile in Richtung 55 Prozent unterwegs.
Von sozialer Marktwirtschaft kann keine Rede mehr
sein. Wir sollten ÖPP deswegen nicht als ein Ausweichmanöver betrachten, um die grundlegenden Probleme
erst einmal zu umgehen.
({6})
Die zugrunde liegenden Fakten, Herr Kollege Bürsch,
sind nämlich erdrückend: Unsere Steuereinnahmen sinken ständig, die Ausgaben für Sozialleistungen steigen
ständig und auch die Investitionen gehen immer weiter
zurück. In der gestrigen Verkehrsdebatte wurde deutlich,
dass in diesem Jahr kaum noch Investitionen im Verkehrsbereich, und zwar auf allen Ebenen - Straße,
Schiene etc. -, vorgenommen werden. Ich sage Ihnen
schon jetzt voraus: Die Arbeitslosigkeit im Tiefbausektor wird dieses Jahr erheblich steigen. Das ist eine Folge
Ihrer Politik.
Es kann nicht angehen, dass wir zwei Haushaltsjahre
hintereinander das verfassungsrechtlich verankerte Ziel,
für eine bestimmte Investitionshöhe zu sorgen, nicht erreicht haben. Wir werden dieses Ziel auch dieses Jahr
nicht erreichen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden die
40-Milliarden-Euro-Grenze im Haushalt dieses Jahres
wieder überschreiten; die Investitionen werden wieder
wesentlich niedriger als die konsumtiven Ausgaben sein.
({7})
Das hat eben katastrophale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die Wirtschaft insgesamt. Sichtbare
Folgen sind die Staus auf den Autobahnen und die
Raumnot in den Hochschulen. Wir hören von Ihnen immer Diverses über Bildungsprogramme, aber über Kürzungen bei den Investitionen müssen wir auch etwas vernehmen. In vielen Bereichen Deutschlands gibt es
Straßen, die man bald nur noch mit Geländewagen
befahren kann. Die Schwimmbäder in den Kommunen
werden geschlossen. Na gut, wir haben ja Mosel, Rhein,
Spree etc. da können unsere Kinder dann schwimmen
gehen. In vielen Schulen und Kindergärten sieht es so
aus, dass die Kinder nur noch mit Schutzhelmen hineingehen können.
Das alles sind Folgen einer Politik, die die Kommunen an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Das hat
dazu geführt, dass wir bei der Reform im Gemeindefinanzbereich nichts vernünftig hinbekommen haben.
Ich will Ihnen das aus meiner Heimatstadt Koblenz
schildern. Im letzten Jahr hatten wir bei einem Etat von
247 Millionen Euro eine Neuverschuldung von 51 Millionen Euro, davon allein 12 Millionen Euro zusätzlich
für die Jugendhilfe. So etwas kann keine Kommune
mehr bewältigen. Es müssen Gesetze her, die die Kommunen wieder handlungsfähig machen, die die Kommunen wieder in die Lage versetzen zu investieren.
({8})
Auch dazu eine Zahl. 1992 war das Investitionsvolumen
der Kommunen 10 Milliarden Euro höher als heute.
({9})
Daher fordere ich Sie auf: Überlassen Sie viele Bereiche dem privaten Sektor und den natürlichen Regeln des
Wettbewerbs! Erst in einem zweiten Schritt sind dann
ÖPP anzugehen. So sinnvoll diese ÖPP-Maßnahmen
sind: Ich warne davor, sie zu überschätzen. Ich halte sie
für eine Second-best-Lösung. Meiner Meinung nach
sollte in vielen öffentlichen Bereichen zunächst einmal
die Privatisierung Vorrang haben.
({10})
Selbstverständlich begrüßen wir ÖPP. Aber das kann
nur nach den Prinzipien des Wettbewerbs gehen. Es
muss unbürokratisch sein. Moderne Maßnahmen sollte
man heute natürlich IT-stützen. Großbritannien, der
große Vorreiter in Sachen ÖPP, hat bewiesen, dass privatwirtschaftlich durchgeführte Projekte - Sie haben
eben das Beispiel mit den Gefängnissen genannt - um
20 Prozent günstiger realisiert werden als staatlich
durchgeführte.
Aber hierzulande fehlt der Mut.
({11})
Ihr Antrag
({12})
zeigt mir, Herr Kollege Bürsch, dass Ihnen der Mut fehlt.
Es wird eine ganze Menge von Vorschlägen gemacht,
über die man nachdenken kann. Aber ich halte zum Beispiel nichts davon, jetzt wieder neue Kommissionen
oder Arbeitsgruppen beim Bauministerium zu bilden,
länderübergreifende Zusatzarbeitsgruppen einzurichten
etc. Das alles hilft uns nicht weiter.
Wir sollten möglichst unbürokratisch arbeiten. Ich
warte schon lange auf die Vorschläge des Ankündigungsministers Clement zum Bürokratieabbau. Da sind
wir bis jetzt keinen Zentimeter weitergekommen.
({13})
Herr Kollege Bürsch, ich bin nicht mit Ihnen der Meinung, dass die Maut kein Beispiel von ÖPP ist. Es ist
doch so, dass der Staat einem privaten Konsortium eine
Aufgabe übertragen hat, und zwar die Aufgabe, für ihn
Maut-Gelder zu erheben. Das ist ein klassisches Beispiel
einer ÖPP.
Was ist dabei herausgekommen? Es ist ein Versagen
Ihres Ministers Bodewig gewesen, der - Entschuldigung - lausige Verträge gemacht hat,
({14})
die er zwei Tage vor der Wahl - und damit seiner Abwahl durch den Bundeskanzler sozusagen - noch schnell
unterschrieben hat. „Honi soit qui mal y pense!“, sagt
der halbgebildete Franzose.
({15})
- Ich kann es Ihnen gern übersetzen, Herr Staffelt; keine
Sorge. Das mache ich dann aber nachher. - Das zeigt
doch, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Einen
solch komplizierten Vertrag unterschreibt man nicht
zwei Tage vor einer Wahl. Die Folgen haben wir jetzt zu
tragen.
Es gibt aber auch noch eine ganze Reihe anderer Beispiele dafür, dass das nicht klappt. Ich nenne den Verteidigungsbereich. Nehmen wir doch einmal die GEBB!
Herr Kollege Bürsch, ich empfehle Ihnen, sich das einmal anzuschauen. Ich bin ja Koblenzer und habe mit
dem BWB viel zu tun. Gehen Sie dahin und hören sich
an, was bei der GEBB läuft! Es ist ein Desaster. Das gilt
genauso für die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft oder auch für die Fuhrpark-Service GmbH. Ich
habe das Gefühl: Alle diese Dinge sind eigentlich nur
dazu da, dass man Posten schafft, Aufsichtsrats- und
Vorstandsposten, auf die man Leute entsorgt.
({16})
Das verschlingt Geld. Geld hat das bisher nicht gebracht. Fragen Sie bitte den ehemaligen Verteidigungsminister, was er damals zur GEBB angekündigt hat und
dazu, was wir in Koblenz denn an Privatisierung erwarten dürften, wie schnell die Objekte verkauft würden!
Nichts ist verkauft! Gucken Sie bitte nach, was von der
GEBB im letzten Jahr verkauft wurde! - Nichts!
So kann man das nicht machen. So werden wir bei
ÖPP-Projekten mit Sicherheit keine Chance haben. Wir
brauchen deswegen keine Taskforce im Verkehrsministerium und keinen zusätzlichen Behördenapparat. Das
widerspricht ja dem Gedanken, den Sie und ich für richtig halten.
Deutschland wird zu Recht als Trockenschwimmerrepublik bezeichnet. Es wurde ein 1 500 Seiten starkes
Gutachten angefertigt, aber nichts passiert. Wir brauchen
Leuchtturmprojekte, die die Leute anregen, solche Projekte durchzuführen, und nicht zusätzliche Bürokratie in
Form von weiteren Kommissionen. Da sind Sie auf dem
falschen Wege. Deswegen müssen wir Ihren Antrag leider ablehnen. Er ist vom Grundgedanken her in Ordnung, aber von der Organisation her falsch.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alex Bonde.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Mit den öffentlich-privaten Partnerschaften, ÖPP - ich
gebe zu, PPP ist gebräuchlicher, aber der Hinweis auf
die letzte Debatte ist ja bereits erfolgt -, beschreiten wir
neue Wege, um die Modernisierung des Staates voranzubringen, die Bürokratie zu verschlanken und mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit in öffentliche Verwaltungen zu bringen. Angesichts der derzeitigen Probleme ist
ÖPP ein Instrument, dessen Möglichkeiten wir bei weitem noch nicht ausschöpfen. Gerade als Haushaltspolitiker - durch die Berichterstattung für Bildung und Forschung sowie Verteidigung bin ich außerdem in zwei
Bereichen mit ersten ÖPP-Projekten tätig - möchte ich
für die weitere Nutzung dieser Möglichkeiten werben.
Herr Kollege Dr. Fuchs, weil Sie die GEBB, die Fuhrpark-Service GmbH und die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft angesprochen haben: Ich will gar
nicht bestreiten, dass es bei ÖPP-Projekten nicht auch
Schwierigkeiten gibt. Aber wenn Sie sich auf den Standpunkt stellen, dass Sport gut für die Gesundheit ist, dann
können Sie nicht beim ersten Seitenstechen mit dem Joggen aufhören, sondern dann stellt sich die Frage, ob Sie
bereit sind, das auch durchzuziehen.
({0})
Ich bin mir sicher - da sind wir uns auch einig -, dass
durch ÖPP nicht überall finanzielle Einsparungen möglich sind, wohl aber die effizientere Nutzung von Ressourcen und häufig mehr oder bessere Leistung pro
Steuer-Euro. Wenn wir dabei auch noch die Kluft zwischen öffentlichem Raum und privater Wirtschaft reduzieren, ist das umso besser. Wir alle wissen, dass die
Leistungen der öffentlichen Hand bisher in Eigenregie,
nach eigenen Regeln, organisiert und durchgeführt wurden. Mit ÖPP ergibt sich nun die Möglichkeit, alte, eingefahrene Abläufe zu hinterfragen und moderne Technologien verstärkt zu nutzen. Für diese Organisationsform
schafft der Antrag von SPD und Grünen, den wir hier lesen, die Voraussetzungen.
Wir müssen uns in diesem Kontext natürlich auch mit
übergeordneten Fragen beschäftigen. Wir müssen die
Debatte darüber führen, was wir uns als Staat heute leisten können und wo wir Staatsaufgaben entrümpeln müssen. Privatisierung wie ÖPP sind dabei an unterschiedlichen Stellen wichtige Instrumente. Sich aber nur auf
reine Privatisierung zu verlassen oder gar einen Automatismus einzuräumen, wie der FDP-Antrag es formuliert,
wäre weit über das Ziel hinausgeschossen.
({1})
Wichtig ist, dass Wirtschaft und öffentliche Hand
gemeinsam Lösungen für die Erbringung öffentlicher
Dienstleistungen suchen. Mit dem Antrag soll ein guter
Ordnungsrahmen geschaffen werden, der sichere Investitionen ermöglicht und für Vertrauen sorgt. Durch ÖPP
soll ermöglicht werden, dass Kooperationspartner zunächst voneinander lernen und im nächsten Schritt die
Erfahrungen nutzen und die Kooperation umsetzen. Auf
kommunaler Ebene sind wir da zugegebenermaßen weiter. Mit dem vorliegenden Antrag tragen wir dieser Tatsache Rechnung, indem wir eine ebenso häufige Anwendung dieser Organisationsform auf Länderebene und
Bundesebene ermöglichen. Dafür müssen wir aus den
gemachten Erfahrungen lernen. Es bedarf der Überprüfung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die durch
unseren Antrag angeschoben werden. Bedeutsam ist beispielsweise die Anpassung des Haushaltsrechts und der
BHO, unter anderem um einen einheitlichen Maßstab für
Wirtschaftlichkeitsvergleiche zu schaffen. Genauso
wichtig sind die Überprüfung des Vergaberechts und die
steuerliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Modelle.
Wir reden über eine Vielzahl von politischen Bereichen, in denen wir mit ÖPP vorankommen können. Mit
der Wirtschaft haben wir im Bereich Bildung und Forschung erfolgreiche Kooperationen für den flächendeckenden Anschluss von Schulen an das Internet abschließen können. Im Bereich des Einzelplans 14, der
Verteidigung, gibt es Gebiete, die nicht gut vorankommen, wie Sie beschrieben haben. Ebenso gibt es aber Gebiete, die deutlich machen, wie wichtig ÖPP in den
nächsten Jahren sein wird.
Ich nenne beispielsweise das Projekt „Herkules“. Mit
diesem Projekt sind wichtige Fragen verbunden. Die
Frage, wie die gesamte IT-Struktur der Bundeswehr
modernisiert werden kann, schreit geradezu danach,
neue Wege zu gehen. Über eine Anschubfinanzierung
für die Modernisierung könnte man dieses Pilotprojekt
so vorantreiben, wie es die Bundeswehr allein mit den
ihr zur Verfügung stehenden IT-Mitteln nicht schaffen
könnte.
Wir alle können zu Recht Zweifel daran anmelden, ob
die Bundeswehr in Eigenregie die Modernisierung der
IT, die Einführung von SAP und das Betreiben von Rechenzentren - das alles sind Prozesse, die in der Wirtschaft tagtäglich ablaufen und für die in der Wirtschaft
Erfahrungen vorliegen - wirtschaftlicher durchführen
kann. Wir müssen uns vielmehr fragen, ob es an dieser
Stelle nicht angebracht ist, von der Erfahrung der Wirtschaft zu profitieren.
Die Tatsache, dass Projekte dieser Art auch in der
Wirtschaft von keinem Konzern mehr selbstständig
durchgeführt werden, spricht dafür, in diesem Bereich
neue Wege zu beschreiten. Komplexer werdende Anforderungen und neue Technologien erfordern von der Politik zwingend neue Wege, Kooperationen und Finanzierungsmechanismen.
Ich glaube, wir wären an dieser Stelle gut beraten, gemeinsam voranzugehen. Wir alle wissen, wo die Defizite
in der öffentlichen Verwaltung liegen. Wir alle wissen
auch, dass es insbesondere in Zeiten knapper Kassen für
den Staat schwierig ist, zu handeln. Insofern hoffe ich,
dass wir es jenseits allen Parteienstreits und jenseits der
verschiedenen ideologischen Ansätze, die auch in diese
Debatte eingeflossen sind, hinbekommen, unseren Staat
moderner zu gestalten und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Erste Erfahrungen liegen vor. Lassen Sie uns gemeinsam daraus lernen!
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Jawohl, jetzt kommt die blanke Privatisierung. - Lassen
Sie mich zunächst einmal zur Ausgangslage zurückkehren. Wir alle wissen, dass die Staatskassen leer sind und
dass es immer noch starre Strukturen und eine riesige
Bürokratie gibt. Unterm Strich kann man sagen: Der
Staat ist seit langem überfordert mit der großen Anzahl
von Aufgaben und Lasten. Es ist dringend notwendig,
dass er sich davon befreit.
An welcher Stelle soll man anfangen? Es ist natürlich
völlig klar, dass wir eine umfassende Steuerreform und
auch eine Gemeindefinanzreform brauchen.
({0})
Dazu hat die FDP-Bundestagsfraktion ein ausgearbeitetes Konzept vorgelegt. Damit würde die Grundlage dafür
geschaffen, dass der Staat in den Bereichen, die staatlich
geregelt werden müssen, handeln kann.
Wir müssen damit anfangen, die vorhandenen Strukturen zu evaluieren und neue Strukturen zu schaffen.
Neue Strukturen können wir durch die öffentlich-privaten Partnerschaften aufbauen. Die FDP steht diesem
Vorhaben positiv gegenüber. Ein solches Instrument
kann durchaus sinnvoll sein, wenn es effizient eingesetzt
wird. Dann trägt es dazu bei, Leistungen, die im öffentlichen Interesse liegen, kostengünstig zu erbringen. Man
muss aber beachten, dass nicht alle Leistungen komplett
von privater Seite erbracht werden können. In diesem
Fall ist ÖPP ein sehr sinnvolles Instrument.
Lieber Herr Kollege Bürsch, Sie haben in Ihrem Antrag gute Beispiele für ÖPP genannt. Wir sind uns grundsätzlich einig, dass dies ein sinnvoller Ansatz ist. Aber
Sie haben in Ihrem Antrag nicht an einer einzigen Stelle
die Privatisierung erwähnt.
({1})
Sie sprechen immer nur von ÖPP. Ich finde es sehr interessant, dass Sie die vorhin von dem Kollegen Fuchs genannten Beispiele in Ihrem Antrag erwähnen. Sie sprechen von dem Lenkungsausschuss, den Sie eingerichtet
haben, und von der Gesellschaft zur Finanzierung von
Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen. Von der GEBB war
ebenfalls die Rede. Das alles sind aber Beispiele für kostenträchtige Flops und nicht etwa Beispiele, die zeigen,
wie man ÖPP so nach vorn bringen kann, wie wir uns
das vorstellen.
({2})
Sie schreiben in Ihrem Antrag sehr richtig, dass es nötig ist, im Zusammenhang mit ÖPP-Modellen Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, um auf diesem Gebiet erfolgreich
zu sein. Aber an all dem, was Sie sich selber verschrieben haben, fehlt es. Den Antrag haben Sie im vergangenen Jahr eingebracht. Inzwischen hat uns alle das Mautdesaster - das kann man ja nur als „Desaster“
bezeichnen - überrollt. Dies zeigt, dass es Ihnen nicht
gelungen ist, in diesen Bereichen Erkenntnisse zu erwerben, Schlussfolgerungen zu ziehen und dies dann auch
tatsächlich umzusetzen.
({3})
Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen hingegen
einen Antrag vor, in dem die vollständige Privatisierung
vor ein ÖPP-Modell gesetzt wird. Wir haben die Vorrangstellung der Privatisierung klar herausgestellt. Wir
sagen: Wenn trotzdem ÖPP-Projekte eingerichtet werden sollen, dann knüpfen wir das an bestimmte Bedingungen. Ich nenne ein paar: Zum einen sind parlamentarische Kontrollmöglichkeiten ganz wichtig, mit denen
ÖPP-Auswirkungen auf öffentliche Haushalte dargestellt werden können.
({4})
Zum anderen brauchen wir dringend eine Prüfung der
gesetzlichen Regelungen, und zwar im Hinblick auf die
Verteilung des Risikos zwischen den Vertragsparteien,
auf Haftungsfragen, Vergaben - das haben Sie selber
eben angesprochen - und die Durchführung sowie Beendigung von ÖPP-Projekten. Auch das sind wichtige
Merkmale, die berücksichtigt werden müssen.
({5})
Zum letzten muss man dafür sorgen, dass bei ÖPPVorhaben des Bundes auch mittelständische Unternehmen und nicht immer nur Großunternehmen eine
Chance haben, im Zusammenhang mit solchen Projekten
öffentlich-private Partnerschaften einzugehen. Das kann
man zum Beispiel sehr gut mit Landestestaten machen,
die schon sehr erfolgreich in einem Bundesland ausgegeben wurden und die eine Firma unter zinsgünstigen Bedingungen an Banken verkaufen kann. Unter solchen
Voraussetzungen haben auch kleine und mittelständische
Unternehmen die Chance, hieran teilzunehmen.
({6})
Dies ist also sehr wichtig. Dies sind Voraussetzungen,
die wir vorher festsetzen müssen.
Das Beispiel England wurde sehr häufig genannt.
Dazu sage ich Ihnen: Der britische Rechnungshof hat
vor kurzem eine Evaluierung vorgenommen und mitgeteilt, dass 75 Prozent aller ÖPPs rechtzeitig und budgetgerecht fertig gestellt werden konnten und dass enorme
Kosteneinsparungen zu erzielen waren. Auch in Großbritannien hat sich sehr viel zum Positiven entwickelt.
({7})
Privatisierungen sind also als vorrangig anzusehen;
ÖPPs sind als Zwischenschritt durchaus akzeptabel. Ich
glaube, wenn es gelingt, beides miteinander zu verbinden, dann wird es auch gelingen, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu revitalisieren. Ich bitte Sie: Überprüfen Sie Ihren Antrag und stimmen Sie unserem
letztendlich zu!
Vielen Dank.
({8})
Der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt
hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner kurzen Ausführungen darauf hinweisen, dass ich glaube, dass es
nicht der Sache dient, wenn wir alle Probleme dieser
Welt in das Thema „öffentlich-private Partnerschaften“
packen. Ich glaube, dass wir in diesem Lande die Ressourcen, die dieses Thema bietet, bisher nicht ausgeschöpft haben. Darum sollten wir uns in der Hauptsache
kümmern.
Niemand von den Antragstellern hat je behauptet,
dass mit solchen Partnerschaften alle Probleme, die wir
in diesem Lande haben, gelöst werden könnten. Aber
dies ist als Ergänzung des Instrumentariums, das uns zur
Verfügung steht, interessant genug und es ist deshalb
meines Erachtens auch wert, dass man dem nachgeht.
Nur darum wird in diesem Antrag gebeten. Er ist - ohne
jede Verurteilung der Vergangenheit und nur nach vorne
gerichtet - absolut sachlich gehalten.
Deshalb ist es umso enttäuschender, wenn vonseiten
der CDU/CSU auch bei diesem späten Tagesordnungspunkt heute wieder nur herumgeeiert wird. Das fing
heute Morgen an und setzte sich den ganzen Tag über
fort.
Im Übrigen haben wir viele der hier angesprochenen
Aspekte berücksichtigt. Ich will am Anfang auf das eingehen, was die Kollegin Kopp hier eben bezüglich der
Mittelständler sagte. Es gibt beispielsweise ein ganz explizit mittelständisches Projekt in Monheim in Nordrhein-Westfalen zur Unterhaltung von Schulen. Auch
wir denken natürlich daran; die Länder denken daran.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Bitte.
Herr Kollege Staffelt, Sie haben eben ausgeführt, das
sei ein netter, freundlicher - ich will nicht sagen: harmloser - Antrag. Ich möchte Ihnen die Kernfrage stellen:
Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Antrag nicht
sagt, dass Privatisierung vor Public Private Partnership
geht?
({0})
Das kann ich Ihnen gerne beantworten. Das trifft
meine tiefe Überzeugung.
({0})
Eine solche Haltung wäre gegen das Haushaltsrecht gerichtet. Jeder, der über eine öffentliche Investition zu
entscheiden hat, hat die Möglichkeit zu suchen, die für
die jeweilige Gebietskörperschaft die wirtschaftlich
beste ist. Das kann eine private Lösung sein; das kann
eine öffentliche Lösung sein. Das kann aber auch - das
wollen wir ausdrücklich ergänzen - eine öffentlich-private Partnerschaft sein. Nur darum geht es.
Ich bin dagegen zu präjudizieren. Ich bin sehr dafür,
dass der öffentliche Sektor privatisiert. Der Bund tut das
in vielfältiger Weise. Beispielsweise haben wir Anteile
an staatlichen Unternehmen an Private veräußert.
({1})
Wir müssen aber - ich sage es noch einmal - unser Instrumentarium erweitern.
An dieser Stelle sei auf einige Maßnahmen verwiesen, die wir eingeleitet haben. Wir haben im Fernstraßenbau einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen. Wir sind dabei, Konzepte abzustimmen, wie
öffentlich-private Partnerschaften im Autobahnbau realisiert werden können. Denken Sie an die Feste Warnowquerung, aber auch an den Landes- und den kommunalen Bereich!
Im Dialog mit Ländern und Gemeinden müssen wir
die zentrale Frage beantworten, wie wir öffentlich-private Partnerschaften hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit
mit anderen Lösungen vergleichen können. Ein Problem
sind Ängste im Umgang mit solchen Neuerungen. Da
wollen wir helfen. Wir haben gemeinsam mit den Banken und der Bauwirtschaft ein Gutachten zum Thema
„Public Private Partnership im öffentlichen Hochbau“ in
Auftrag gegeben. Die Taskforce „Öffentlich-private
Partnerschaften“ bietet eine hervorragende Basis für ein
Kompetenznetzwerk, das wir dringend benötigen.
({2})
Es geht darum, wie wir private Leistungsfähigkeit
und private Qualitäten mit öffentlicher Leistungsfähigkeit und öffentlichen Qualitäten verbinden können, wo
es Sinn macht. Ich sage ganz ausdrücklich: Das ist kein
Modell, das jetzt zwingend für jedermann vorgeschrieben wird.
Im Übrigen ist dieses Modell nicht aus der Not geboren. Es ist der Versuch, verschiedene Denkweisen miteinander zu verbinden: die notgedrungen kameralistische Denkweise, die im öffentlichen Bereich herrscht,
die betriebswirtschaftliche Denkweise; die öffentliche
Verantwortung auf der einen Seite und die technische
Leistungsfähigkeit, das Know-how auf der anderen
Seite.
Wir sollten nur jenen unsere ausdrückliche Unterstützung zusagen, die sich auf den Weg gemacht haben. Es
ist unglaublich schwierig, bei der Gegenüberstellung
jeweils die steuerliche und die finanzielle Seite zu betrachten und in diesem Konstrukt noch die Wirkung von
privater Finanzierung und Kommunalkrediten auseinander zu halten. Hinzu kommt - Sie wissen das alles -,
dass auch der Wertverfall einer Investition vernünftig in
die Kameralistik einzubauen ist, will man das Ganze
vergleichbar machen.
Wir sind angetreten, hier als Bund, Land und Kommune einfach mehr Know-how zu vermitteln und dieses
Know-how durch praktische Beispiele zu unterfüttern.
Es handelt sich quasi um Learning by Doing.
({3})
- Na, hören Sie mal! Wenn er „honi soit, qui mal y
pense“ sagen kann, dann werde ich doch wohl noch englisch sprechen dürfen.
({4})
- Ja, das kann ich auch - großes Latinum! Die Berliner
Schule ist besser, als Sie glauben.
An dieser Stelle will ich nur noch einmal ergänzend
sagen: Lassen Sie uns gemeinsam auf die Reise gehen.
Es macht überhaupt keinen Sinn, hier eine politische Debatte zu führen, die ideologisiert oder die parteipolitisch
geprägt ist. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Die Kommunen und Länder, die von Ihren Parteifreunden regiert
werden, haben genau die gleichen Probleme wie die sozialdemokratisch geführten.
({5})
- Hören Sie doch bloß auf! Das glaubt ja niemand.
({6})
- Ja, das können Sie vielleicht im Bierzelt erzählen. Hier
glaubt Ihnen das keiner mehr.
({7})
- Ja, Rot-Grün regiert seit fünf Jahren und wir haben das
Land heruntergewirtschaftet. Sie sollten sich als gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages eigentlich
zu schade dafür sein, sich auf einem solchen Niveau zu
unterhalten. Das könnten wir gegebenenfalls nämlich
auch ganz gut.
Ich wollte mich hier in der Sache mit Ihnen auseinander setzen. Bei diesem Tatbestand ist nämlich Gemeinsamkeit angesagt. Eine Auseinandersetzung auf einer
solchen Ebene könnte ohnehin keiner nachvollziehen,
übrigens, Herr Kollege Abgeordneter, auch jene nicht,
die aufseiten der Privatwirtschaft schon lange darauf
warten, endlich auch Aufträge im Bereich von Public
Private Partnership zu bekommen, weil die öffentliche
Hand in vielen Bereichen bisher darauf verzichtet, Private mit ins Boot zu nehmen. Deshalb ist ein vernünftiges und nachvollziehbares PPP-Konzept, das auf eine
breite Basis gestellt wird, auch ein Konzept zur Ankurbelung der Konjunktur und zur Stabilisierung von Unternehmen in unserem Land. Vergessen Sie das bitte nicht!
Die Unsicherheiten in vielen Kommunen, von denen
ich sprach, können sicherlich beseitigt werden, wenn wir
ihnen in verstärktem Maße Leitlinien mit auf den Weg
geben. Niemand in einer Stadt, einer Kommune oder
einem Landkreis hat Lust, sich am Ende vom Rechnungshof die Ohren lang ziehen zu lassen, weil er aus
Unkenntnis oder zu großem Wagemut den einen oder anderen Fehler gemacht hat. Auch davor sollten wir schützen, um diese Wege zu öffnen.
Ich sage noch einmal: Neben Privatisierung und öffentlicher Tätigkeit gehört dieses dritte Element dringend in unser Repertoire. Deshalb bitte ich Sie an dieser
Stelle um Zustimmung. Die Bundesregierung jedenfalls
teilt den Tenor und den Inhalt dieses Antrages ganz ausdrücklich.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander
Dobrindt.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Staatssekretär, Sie haben erwähnt, PPP sei eine Ergänzung und ein neues Instrument. Ich sage: Öffentlichprivate Partnerschaften sind - gar keine Frage! - aktive
Zukunftsmodelle für die Zusammenarbeit zwischen
öffentlicher Hand und privater Wirtschaft. Das bedeutet
aber, dass es im Besonderen unsere Aufgabe ist, sie weiterzuentwickeln, gebrauchsfähiger und effektiver zu machen. Dabei muss es hauptsächlich darum gehen, den
partnerschaftlichen Gedanken stärker herauszustellen,
als es bisher der Fall ist.
({0})
- Nicht so viele Vorschusslorbeeren, Herr Kollege!
({1})
Ein solches Leitmotiv der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und privater Wirtschaft bei der effizienten Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wollen
wir allgemein stärken und verbindlicher gestalten.
({2})
Im Ergebnis muss dabei immer ein Plus herauskommen. Das heißt, es muss erreicht werden, dass man gemeinsam zu einem besseren Ergebnis als allein kommt.
Das ist zwangsläufig nicht immer gegeben. Dafür gibt es
eine ganze Reihe von Beispielen; die Lkw-Maut wurde
bereits genannt. Ein solches Chaos bricht dann aus,
wenn keine echte Partnerschaft vorliegt, sondern wenn
sich der eine auf den anderen verlässt und wenn die Partner - was im Zweifelsfall noch viel verheerender ist ihre gegenseitigen Kontrollpflichten nicht erfüllen. Gerade diese Kontrollpflichten sind im Bereich der PPP
ausgesprochen wichtig. Interessanterweise ist es wohl
regelmäßig die öffentliche Hand, die nicht oder nur unzureichend kontrolliert und sich darauf verlässt, dass sie
ja den Bedarf feststellt und im Zweifelsfall das Geld zur
Verfügung stellt. Genau das reicht aber nicht aus, wenn
man eine Win-win-Situation erreichen will.
Meine Damen und Herren, wer dem heute weit verbreiteten Gedanken anhängt, PPP könne einen Großteil
der Finanzlücken der öffentlichen Haushalte schlichtweg schließen, da dieses Instrument langfristige Finanzierungsmöglichkeiten biete, ist falsch beraten. Im Besonderen gilt das dann, wenn man in dem Glauben lebt,
dass in Zukunft alles, was politisch wünschenswert ist
und wofür keine andere Finanzierungsform gefunden
wird, über diesen Weg finanziert werden könne.
Weil dies genau der falsche Weg ist, ist es auch nicht
wünschenswert, fixe Handlungsweisen zu entwickeln
- hier komme ich auf Ihren Antrag zu sprechen -, durch
die die eigentliche Entscheidungsfindung nach einer Art
Rasterschema von den handelnden Personen entkoppelt
wird. Dies erweckt lediglich den Anschein von Allgemeingültigkeit. Genau dies darf bei der Fortentwicklung
des Gedankens der öffentlich-privaten Partnerschaften
aber nicht passieren: dass dieses Instrument zu einer Art
Universalwerkzeug ausgebaut wird, das sich im Werkzeugkoffer der Kommunen oder sonstiger staatlicher
Stellen befindet und - gewissermaßen wie eine Zwischenfinanzierung über Kommunalkredite oder Ähnliches - den Anschein erweckt, beliebig einsetzbar zu
sein.
({3})
- Doch, Sie müssten ihn vielleicht einmal lesen.
({4})
Öffentlich-private Partnerschaften können kein Standardinstrument sein, um die Finanznot der öffentlichen
Haushalte zu bekämpfen. Dabei ist die Grundidee, die
öffentliche Hand und private Unternehmen miteinander
zu verbinden - hier stimme ich Ihnen zu -, durchaus
vernünftig.
({5})
Die klare Devise muss lauten, dass jeder das macht, was
er am besten kann, dem anderen aber zwingend auf die
Finger schaut, ob dieser auch wirklich sein Bestes tut
und seine Möglichkeiten ausschöpft.
({6})
- Herr Kollege, warten Sie doch einmal ab! Der Sinn
einer Rede besteht ja darin, ihr als Ganzes zuzuhören.
Meine Kollegen, ich bitte Sie: Lassen Sie uns diese
Debatte in Ruhe führen!
- Danke schön, Frau Präsidentin.
Der öffentliche Partner bestimmt die Aufgabe in dem
erforderlichen Umfang, der private Partner liefert das
technische Know-how, das Management und die Umsetzungskraft. Beide teilen sich die Risiken und im Ergebnis verbuchen beide einen Vorteil. Doch leider ist das in
der Praxis oft auch anders herum. Das Ganze bleibt oft
Theorie. PPP bietet keine Garantie für das bessere Gelingen einer Aufgabe. Im Gegenteil, oftmals ist das Ganze
zum Scheitern verurteilt.
Ich kann Ihnen ein gutes Beispiel aus meiner Heimat
nennen. Bereits 1992 wurde in meinem Landkreis im
Zusammenhang mit einem Abfallentsorgungszentrum
eine PPP eingegangen. Der private Betreiber hatte als
Anlagenbauer 49 Prozent der GmbH inne, der Landkreis
51 Prozent. Alle Aufgaben, die im Bereich der Abfallwirtschaft anfielen, wurden über diese GmbH abgewickelt. Das ist auch heute noch so. Das ist eine funktionierende Partnerschaft, die sich bewährt hat und die
Partner in eine Win-win-Situation gebracht hat.
Das ist ein schönes Modell, das zeigt, dass eine solche
Kooperation in ihrer Reinform funktionieren kann. Allerdings muss der Wille beider Seiten vorhanden sein,
den Einfluss des jeweils anderen zuzulassen und sich
entsprechend in hohem Maße kontrollieren zu lassen.
Eine Idealkonstellation lag im vorliegenden Fall deswegen vor, weil nicht der Finanzierungsgedanke im Vordergrund stand, sondern die tiefe Überzeugung, dass die Beteiligten sich gegenseitig unterstützen können und die
kommunale Aufgabe effizienter und hochwertiger wahrnehmen können.
Inzwischen ist die Partnerschaft beendet. Auch das ist
grundsätzlich nicht verkehrt: Es ist im Geiste von PPP,
dass die Partnerschaften gelöst werden; in der Regel sind
feste Laufzeiten vereinbart. Auf jeden Fall sollte die
Partnerschaft dann beendet werden, wenn eine Win-winSituation eingetreten ist, aber nicht dann, wenn die Partnerschaft kurz vor dem Scheitern steht, wie bei der
Maut, wo der eine nur versucht, dem anderen die Kosten
anzuhängen.
PPP kann also eine riesige Chance bieten, wenn das
Projekt geeignet ist und die zukünftigen Partner richtig
motiviert sind. Um solche Konstellationen zu lokalisieren, ist es hilfreich, wenn sich eine Art Kultur von öffentlich-privaten Partnerschaften bildet; das sehe ich
ganz genauso, wie es sicherlich auch bei Ihnen gesehen
wird. Eine solche Kultur lässt sich aber nicht staatlich
verordnen: Weder bei der Ausbildungsplatzabgabe - wir
haben diese Diskussion heute geführt - noch hier wird
ein solches Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft
funktionieren.
({0})
Ich kann ja noch gut nachvollziehen, wenn man einen
Wirtschaftlichkeitsvergleichsmaßstab finden will, mit
dem bei der Gegenüberstellung - Partnerschaftsangebote
auf der einen Seite, selbstständiges Durchführen der
Maßnahme auf der anderen Seite - die Organisationsvorteile, Optimierungsmöglichkeiten, die Finanzierung
und die steuerlichen Auswirkungen geprüft werden.
Aber ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie ernsthaft
glauben, durch Servicestrukturen - bei Einbeziehung
von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, privater
und öffentlicher Wirtschaft, sämtlicher Ministerien, des
Bundesrechnungshofes, der Landesrechnungshöfe usw. ein nationales Kompetenzzentrum zu schaffen, das PPPs
fördert und dass „ÖPP-Arbeitsstäbe“, wie Sie sie nennen, auf allen staatlichen und kommunalen Ebenen die
Wegbereiter einer neuen Kultur des Zusammenwirkens
von Staat und Wirtschaft werden.
Meine Damen und Herren, Bürokratie ist ein deutsches Problem und nicht die Lösung. Mit Ihrem Antrag
schaffen Sie unnötige Bürokratie und keine Partnerschaften.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/2663 zu
dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Öffentlich-pri-
vate Partnerschaften“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 15/1400 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Op-
position angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2601 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Günter Rexrodt, Otto
Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Begrenzung, Befristung und degressiven Gestaltung von Subventionen ({0})
- Drucksache 15/2061 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur
Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft ({2}) vom 8. Juni 1967 für die
Jahre 2001 bis 2004 ({3})
- Drucksache 15/1635 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der vorliegende Subventionsbericht umfasst den Zeitraum der Jahre 2001 bis 2004 und belegt,
dass wir beim Subventionsabbau erneut ein gutes Stück
vorangekommen sind. Die Finanzhilfen des Bundes und
die Steuervergünstigungen sinken von 22,8 Milliarden
Euro im Jahre 2001 auf 22,3 Milliarden Euro. Das ist ein
Rückgang um 500 Millionen Euro oder 2,3 Prozent.
Wenn man jetzt die Ausnahmeregelungen in der ökologischen Steuerreform für die energieintensiven Betriebe
außen vor lässt, vermindern sich die Subventionen im
gleichen Zeitraum sogar um mehr als 10 Prozent, nämlich um 1,8 Milliarden Euro, auf nunmehr 16,7 Milliarden Euro.
Bei der Regierungsübernahme im Jahre 1998 hatten
übrigens die Subventionen des Bundes noch ein Gesamtvolumen von 21,2 Milliarden Euro. Lässt man wiederum
die Ausnahmetatbestände bei der ökologischen Steuerreform für energieintensive Betriebe außen vor, haben wir
einen Abbau um mehr als 20 Prozent erreicht.
Eindeutige Erfolge gibt es bei den Finanzhilfen. Sie
sinken um mehr als ein Viertel, nämlich um 2,5 Milliarden Euro. Verglichen mit dem Zeitpunkt der Regierungsübernahme im Jahr 1998 haben wir die Finanzhilfen sogar um fast 40 Prozent reduziert. Mittlerweile ist ihr
Volumen - trotz des kräftigen Anstiegs in den 90er-Jahren infolge der Wiedervereinigung - geringer als 1990.
Die Entwicklung der Steuervergünstigungen dagegen zeigt, dass in diesem Bereich großer Handlungsbedarf besteht. Die auf den Bund entfallenden Steuersubventionen sind im Berichtszeitraum nicht gesunken,
sondern um 2 Milliarden Euro gestiegen, was die Erfolge beim Abbau von Finanzhilfen überlagert. Mehr als
zwei Drittel dieses Anstiegs machen Steuermindereinnahmen infolge der Ausnahmeregelungen bei der ökologischen Steuerreform für energieintensive Betriebe aus.
Zugenommen haben aber auch die Steuermindereinnahmen wegen der Eigenheimzulage. Den Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition sei deshalb gesagt: Wenn
Sie schon einen verschärften Subventionsabbau fordern,
dann müssten Sie hier bei der Eigenheimzulage endlich
Farbe bekennen.
({0})
Der Bundeskanzler hat in der letzten Woche in seiner
Regierungserklärung erneut einen Vorschlag zur Abschaffung der Eigenheimzulage und zur Verwendung
der dadurch frei werdenden Milliardenbeträge gemacht.
Der Bund soll sie in mehr Forschung und Entwicklung
investieren, die Länder in bessere Schulen und die Gemeinden in ein besseres Betreuungsangebot für Kinder
im Alter bis zu drei Jahren.
({1})
Die Zielsetzungen der Bundesregierung für die zukünftige Subventionspolitik sind: erstens mehr Transparenz, zweitens ein höherer Rechtfertigungsdruck für
Subventionen und drittens bessere Steuerungsmöglichkeiten. Wir haben dies in dem Kabinettsbeschluss zu
dem Ihnen vorliegenden Subventionsbericht entsprechend fixiert. Ich nenne Ihnen die beiden wesentlichen
Eckpunkte:
Erstens. Im Rahmen des Haushaltsmoratoriums werden wir Subventionen grundsätzlich nur noch als Finanzhilfen gewähren, also auf der Ausgabenseite; denn stärker als Finanzhilfen haben Steuervergünstigungen, die
sich auf der Einnahmenseite des Haushalts etatisieren,
die Eigenschaft, sich zu verfestigen, weil sie im Bundeshaushalt nicht mehr als Subventionen wahrnehmbar
sind. Sie werden bekanntlich auf der Einnahmenseite
nicht gesondert erfasst und ausgewiesen. Finanzhilfen
dagegen sind auf der Ausgabenseite präzise nachzulesen
und in jedem Jahr Gegenstand stundenlanger parlamentarischer Beratungen im Haushaltsausschuss, wie mir
der Kollege Fricke bestätigt.
Zweitens. Wenn überhaupt Finanzhilfen, dann sollen
sie künftig nur noch gesetzlich befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden und eine Erfolgskontrolle ermöglichen.
({2})
Damit wirken wir der Gefahr einer strukturellen Verfestigung entgegen. Eine verstärkte Prioritätensetzung wird
übrigens sowohl für die Regierung als auch für das Parlament unumgänglich.
Ich bedanke mich für den Beifall der Kolleginnen und
Kollegen von der FDP für diesen Ansatz.
({3})
Zu Ihrem ebenfalls zur Debatte stehenden Gesetzentwurf
merke ich Folgendes an: Sie fordern mit diesem Gesetzentwurf eine Kehrtwendung bei der Subventionsgewährung. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
FDP, offenbar plagt Sie das schlechte Gewissen. Denn
der Anstieg des gesamten Subventionsvolumens, so, wie
Sie es im Antrag beschreiben - nämlich: Bund, Länder,
Gemeinden, ERP-Sondervermögen und EU -,
({4})
erfolgte vor allem in der Zeit, in der Sie selber zusammen mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung
waren.
({5})
Wir dagegen haben seit 1998 längst die Kehrtwende
eingeleitet. Deswegen ist richtig: Wir müssen den Subventionsabbau energisch fortsetzen und dürfen uns nicht
mit dem Erreichten zufrieden geben. Denn schließlich
leistet der Abbau überkommener Finanzhilfen und Steuervergünstigungen einen ganz entscheidenden Beitrag
zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von
Bund, Ländern und Gemeinden. Ich begrüße deshalb
ganz ausdrücklich, dass die Kolleginnen und Kollegen
der FDP mit ihrem Gesetzentwurf die geschilderten Subventionsgrundsätze der Bundesregierung nicht nur unterstützen, sondern hier auch mit Beifall begleitet haben.
({6})
Nicht folgen kann ich allerdings - jetzt kommt das
Aber, auf das Sie gewartet haben ({7})
Ihrem Vorschlag, eine entsprechende gesetzliche Regelung
zu treffen und diese auch noch in ein zustimmungspflichtiges Gesetz aufzunehmen, nämlich in das Haushaltsgrundsätzegesetz. Warum? Die geforderte Ergänzung
des Haushaltsgrundsätzegesetzes ist nicht zielführend
und auch rechtssystematisch bedenklich. Denn es legt
allgemeine Grundsätze für das Haushaltsrecht des Bundes und aller Länder fest.
({8})
Die Umsetzung der Grundsätze der Subventionspolitik ist aber kein Haushaltsrechtsproblem, sondern in erster Linie eine finanzpolitische Zielsetzung, der wir uns
verpflichtet fühlen. Die Bundesregierung wird die vom
Kabinett beschlossenen Grundsätze umsetzen. Es macht
aus unserer Sicht keinen Sinn, meine Damen und Herren
von der Opposition, Ihrem Vorschlag zu folgen und ein
langwieriges Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, um
dann am Ende - dafür spricht leider die wenige Monate
zurückliegende Erfahrung aus dem Dezember ({9})
zu erleben, wie diese Grundsätze von der Opposition via
Bundesrat und dortiger Mehrheit nicht nur verwässert,
sondern am Schluss sogar ganz verworfen werden.
Deswegen bleiben wir bei unserer Linie, bedanken
uns aber am Schluss noch einmal ausdrücklich für Ihre
ansonsten bekundete Sympathie und Unterstützung.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Schirmbeck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Staatssekretär Diller, meine persönliche Sympathie haben Sie auch. Aber im Übrigen: So ist das eben. Die
Leute sagen, Bürokratie sei etwas Schlimmes, Bürokratie müsse man eigentlich ganz abschaffen. Doch wenn
man dann an der einen oder anderen Stelle in einer Behörde nur wenige Planstellen einsparen will, dann geht
es gerade dort nicht. Es gibt auch den einen oder anderen, der sagt: Kannst du mich, meinen Sohn oder einen
Bekannten nicht noch dort unterbringen, es ist doch für
einen guten Zweck.
Mit den Finanzhilfen, mit den Subventionen und
Steuervergünstigungen ist es so eine Sache: Generell ist
es Teufelswerk, es sei denn, ich profitiere davon. Ich
finde es sehr sympathisch, dass die FDP dies zum Tagesordnungspunkt erhoben hat. Aber nachdem ich den Antrag gelesen hatte, hatte ich eine Presseerklärung in der
Hand, in der ein Vertreter der FDP schreibt: Die Steuervergünstigungen bei den Lebensversicherungen sollten
natürlich erhalten bleiben. - Ich finde auch das sehr
sympathisch, weil nämlich auch ich eine Lebensversicherung habe. Daher fände ich es ebenfalls gut, wenn die
Steuerbefreiung erhalten bliebe. Es geht also immer
nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, mach mich nicht
nass.
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass wir in einer
Neid- und Missgunstgesellschaft leben, dann weiß man,
dass es bei diesen Themen eine Menge Verhetzungspotenzial gibt. Jeder hat seine Themen, die er besonders
liebt. Deshalb vergeht kein Parteitag, auf dem nicht die
Forderung nach einer Steuerreform erhoben wird. Gerade hieß es in einem Zwischenruf, der März sei vorbei.
Aber Steuerreformen sind - da sind wir uns wohl einig nach wie vor notwendig. Die SPD besetzt in dieser Diskussion Themen wie Nachtarbeitszuschläge und Entfernungspauschale. Das ist natürlich schon Teufelswerk,
wenn man nur über den Abbau entsprechender VergünsGeorg Schirmbeck
tigungen spricht, geschweige denn eine solche Entscheidung trifft. Bei den Kohlesubventionen hingegen kommt
es auf eine Milliarde gar nicht an, weil es ja sein könnte,
dass irgendwann - das hat man gehört - Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen stattfinden.
({0})
Auch wenn es ums EEG geht, spielt ein solches Denken
überhaupt keine Rolle. Man hat ein bestimmtes Klientel,
welches bedient werden muss.
Man kann sich natürlich auch über andere Themen
unterhalten, zum Beispiel über den Agrardiesel, die Eigenheimzulage oder die Wohnungsbauprämie. Hier
kann, wenn es nach Ihnen geht, gar nicht tief genug eingeschnitten werden. Wir müssen uns ehrlicherweise zugestehen, dass - wählerklientelscharf - jeder seine Lieblingsthemen hat. Bei den anderen kann gar nicht tief
genug eingeschnitten werden. Einschnitte bei den eigenen Themen aber sind Teufelswerk.
Nun haben Sie - Sie haben es angesprochen - dieses
dicke Werk herausgegeben, den 19. Subventionsbericht.
Dort steht in der Tat - vom Kabinett so beschlossen folgender Satz, den ich zitiere:
Darüber hinaus sollen neue und bestehende Finanzhilfen nur noch gesetzlich befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden.
({1})
- Man könnte zumindest unterstellen - die Sympathien
zwischen Ihnen waren ja sehr ausgeprägt -, dass das
wörtlich vom FDP-Antrag abgeschrieben wurde
({2})
und dass die FDP und die Regierung offensichtlich
das Gleiche wollen.
Ich habe in diesem großen Werk einmal ein wenig geblättert und festgestellt, dass die darin enthaltenen Zahlen dem Entwurf des Haushaltsplans und dem Entwurf
des Nachtragshaushaltsplans entstammen. Sie haben hier
besonders betont - das habe ich mir mitgeschrieben -,
dass Sie „erneut ein gutes Stück vorangekommen“ seien.
({3})
Legen Sie doch bitte einmal auf der Grundlage des beschlossenen Haushaltsplans dar, wie weit Sie wirklich
vorangekommen sind! Sie können das Ergebnis ja vielleicht schriftlich nachreichen - sozusagen im vorauseilenden Gehorsam -; ansonsten können wir das auch im
Haushaltsausschuss beantragen.
({4})
- Ja, die wirklich interessanten Zahlen, auf die es ankommt, liefert erst die Jahresrechnung. Man kann sagen,
dass es ein unwahrscheinliches Fleißwerk und ein
Wunschkatalog ist. Um es einmal so zu sagen: Ein Märchenbuch ist ja auch ein Fleißwerk.
Ich hatte einmal die Aufgabe, dem Vaterland zu dienen. Sie haben von einer Kehrtwendung gesprochen.
Wenn ich Ihnen die Kehrtwendung befehlen würde, dann
wären Sie wieder an Ihrem Ausgangspunkt. Schon das
Wort verrät, was wirklich konkret umgesetzt worden ist.
Sie haben hier eben sehr akademisch dargelegt, dass
die FDP fordere, bestimmte Regelungen ins Haushaltsgrundsätzegesetz aufzunehmen, und dann ausgeführt,
was dafür und was dagegen spricht. Man kann das natürlich so wie Sie sehen. Als junger Mann habe ich im Gemeinderat und im Kreistag von den Altvorderen aber
einmal gehört, dass die Grundsätze von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit berücksichtigt werden müssen.
({5})
Deshalb sage ich noch einmal: Wenn man sich anschaut,
was Sie uns vorlegen, dann muss man wirklich von einem Märchenbuch sprechen. Es handelt sich um eine
freie Erfindung. Bei einigen der von Ihnen angesetzten
Zahlen weiß niemand mehr, wie diese zustande gekommen sind. Sie müssen nur irgendwie hineinpassen und
werden einfach zusammengeschoben.
Das gilt auch für andere Bereiche: Kassenkredite sind
im kommunalen Bereich zum Beispiel nicht zulässig.
Jochen-Konrad Fromme, der hierin Experte ist, hat mir
gesagt, dass das so in den Kommunalgesetzen und in den
Länderverfassungen steht. Trotzdem ist das die Regel.
Was interessiert es also, ob wir hier noch ein Gesetz erlassen und noch einen Grundsatz verabschieden? Es hält
sich offensichtlich doch niemand daran.
({6})
Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen uns bewegen.
Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, unseren
Staat weiter voranzubringen. Der Weg von Koch/
Steinbrück ist wahrscheinlich richtig und er wird wahrscheinlich gemeinsam umzusetzen sein; denn er hat
einen Vorteil: Man betreibt keinen Kahlschlag und es
kommt zu keinen Brüchen. Der Bürger erfährt, wie die
Entscheidungen der Politik in Zukunft aussehen werden.
Darauf kann er reagieren. Wer also weiß, dass in diesem
Jahr 4 oder 6 Prozent und im nächsten Jahr wiederum
ein bestimmter Prozentsatz von seinen Vergünstigungen
gestrichen wird, der hat die Möglichkeit, darauf zu reagieren. Er kann sich also entsprechend verhalten; das ist
fair. Entscheidend für alles, was wir tun, ist natürlich,
dass wir die Subventionsmentalität in unseren eigenen
Reihen - also bei uns, die wir in diesem Bereich handeln - und auch bei der Bevölkerung bekämpfen. Deshalb müssen wir dies immer wieder zum Thema machen
und dafür werben.
Das Unwort des Jahres lautet für mich „Zuschuss“,
weil ich es am häufigsten höre. Wie oft werde ich angerufen und gefragt: Da wird doch dieses und jenes gemacht, habt ihr beim Kreis nicht einen kleinen Zuschuss
dafür? - Dann muss man darauf hinweisen, dass dies
zwar eine tolle Sache ist, für die es sich lohnt, sich
zusammenzuraufen, um sie richtig anzupacken, dass
aber dafür keine Mittel zur Verfügung stehen. - Eine solche Antwort findet kein Verständnis, und es heißt dann,
es sei unsozial, hier nicht zu helfen.
Das liegt daran, dass wir über Jahrzehnte daran gewöhnt sind, umzuverteilen: einsammeln, verwalten und
auszahlen. Dabei haben wir aus dem Blick verloren, dass
wir viel mehr einsammeln, als der Bevölkerung zugute
kommt. Die Mittel für das Verwalten muss man nämlich
auch sehen. Es gilt: Nicht derjenige, der dem Bürger am
meisten verspricht und vielleicht auch gibt, macht gute
Wirtschaftspolitik bzw. gute Politik, sondern derjenige,
der die Leute in Ruhe lässt.
Eines kann man feststellen: In unserem Staat leben
eben nicht Produzenten, Ingenieure, Kaufleute und
Facharbeiter am besten, sondern Beratungsfirmen, Steuerberater, Anwälte und Anlageberater. Bei den Findigen
und Cleveren herrscht Konjunktur, nicht aber bei den
Fleißigen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft sind. Es
ist auch festzustellen, dass sich nicht diejenigen Wirtschaftsbereiche, Firmen und Regionen am besten entwickeln, die die höchsten Steuervergünstigungen oder die
höchsten Finanzhilfen erhalten, sondern die mit der
größten Kreativität, dem größten Innovationsgeist und
vor allen Dingen mit der größten Tatkraft.
In Bezug auf soziale Gerechtigkeit sollten wir deutlich machen: Von der ganzen Umverteilung sind diejenigen am meisten betroffen, die das Rückgrat unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft sind: der Mittelstand
und besonders die Facharbeiter. Sie haben in aller Regel
hinsichtlich steuerlicher Vorteile keinen Gestaltungsspielraum. Das, was heute Praxis ist, ist höchstgradig unsozial. Hier muss sich etwas ändern; denn gerade diese
Gruppen brauchen wir, wenn es in Deutschland weiter
aufwärts gehen soll.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich danke auch. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Anja Hajduk.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schirmbeck, ich möchte zuerst ein Wort an
Sie richten. Sie haben einen gewissen Fatalismus bezüglich der Frage gezeigt, ob die in unserem Lande verbreitete Subventionsmentalität überhaupt geändert werden
kann. Ich möchte Ihnen in diesem Punkt Mut machen,
weil wir als Politiker eine Vorbildfunktion haben. Ich
stelle jedoch fest: Sie haben hier für die CDU in einer
sehr wichtigen haushalts- und finanzpolitischen Frage
keine Stellung bezogen. Ich finde das wirklich schwach.
Ich muss sagen: Der Grundtenor des FDP-Gesetzentwurfs und die Art, wie das ganze Thema angepackt wird,
findet meine Unterstützung. Es besteht Grund, in vielem
einig zu sein. Ich bedauere aber, dass Sie völlig offen gehalten haben, wie Sie sich in Zukunft zum Subventionsabbau stellen wollen. Ich hoffe, dass Sie Ihre Haltung
überdenken. Ich bin sicher, dass dieses Thema in diesem
Herbst wieder einer eingehenden Beratung im Haushaltsausschuss bedarf.
({0})
- Ich werde auf das Koch/Steinbrück-Papier noch eingehen. Das hat Herr Schirmbeck in der Tat beispielhaft vorangestellt.
({1})
Ich denke, der konsequente Abbau von Subventionen gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Finanzpolitik, so wie es in der Problembeschreibung des FDP-Gesetzentwurfs aufgeführt
ist. Ich bin froh, dass Sie in Ihren Ausführungen und in
Ihrer Begründung auch auf die dringend notwendige
Konsolidierung zu sprechen kommen. Ich erinnere mich,
dass wir während des letzten Jahres häufiger über den
Teil des Subventionsabbaus diskutiert haben, der sich
mit Steuervergünstigungen beschäftigt. Dabei ist mir fast
immer das Argument begegnet: Die Regierung verfährt
nach dem Prinzip linke Tasche, rechte Tasche.
({2})
- Dieses Argument ist nicht zielführend, Herr Fromme. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass man beim
Steuervergünstigungsabbau bestimmten Leuten - es ist
in der Regel immer nur eine Gruppe - tatsächlich etwas
wegnimmt. Dabei darf bei der Senkung von Steuersätzen, für die eine Steuervergünstigung gestrichen wird,
nicht sofort der Vorwurf von dem Prinzip linke Tasche,
rechte Tasche kommen. Ich halte mich an Ihre Worte,
dass Sie beides wollen. Ich weiß, dass Sie mit Ihren
Steuerreformkonzepten - da sind wir im Grundsatz
einig - eine Vereinfachung wollen, eine Tarifsenkung in
unterschiedlichem Ausmaß anstreben, es aber auch richtig finden, dass zukünftig der Haushalt der öffentlichen
Gebietskörperschaften zu konsolidieren ist, auch mit
diesem Instrument.
Ich begrüße es und finde es angemessen und richtig,
dass Herr Diller darauf hingewiesen hat, dass die rotgrüne Regierung in diesem Fall durch die Opposition zu
wenig Unterstützung erfahren hat. Nun könnte man sagen: Da wir die Mehrheit haben, sollten wir das verantwortlich tragen. Sie wissen aber genau, dass wir in dem
Bereich, in dem es um den Abbau von steuerlichen Vergünstigungen geht, auf die Zustimmung des Bundesrates
angewiesen sind.
In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass es
nicht nur ärgerlich, sondern auch höchst unehrlich war,
wie dort nach einem allgemeinen Subventionsabbau gerufen wurde. Ich finde es bezeichnend, dass es uns bei
den Finanzhilfen gelingt, einen wirklichen Subventionsabbau von bis zu 26 Prozent nachweisen zu können,
den gesamten Abbau von Steuersubventionen aber deswegen nicht hinbekommen, weil es immer wieder Bremsen bei den Steuervergünstigungen gibt.
Deswegen will ich auf die Anregung in Ihrem Gesetzentwurf eingehen - ich finde sie gut -, dass wir uns bei
den Subventionen ausschließlich auf die Finanzhilfen
konzentrieren sollten. Das ist eine gute Idee, wenn auch
der Umbau schwierig sein wird. Ich hoffe, dass die
Union an dieser Stelle nicht blockiert. Sie von der Union
könnten das, aber ich hoffe, Sie tun es nicht.
({3})
Ich möchte auf das Argument eingehen, die Vorschläge von Koch und Steinbrück seien das einzig
Sinnvolle, das man machen könnte. Unter dem pragmatischen Gesichtspunkt, dass sich zwei Ministerpräsidenten, einer von der SPD, einer von der CDU, geeinigt haben, habe ich im letzten Herbst gesagt: Bevor wir nichts
zustande bekommen, lasst uns das machen! - Sie haben
aber wahrscheinlich auch den Bericht des Sachverständigenrates gelesen. Danach sollte sich eine Subvention im
Prinzip argumentativ rechtfertigen. Sie sollte gezielt und
effizient sein. Dazu passt das Rasenmäherprinzip nicht.
Ich glaube, wir müssen konsequenter an bestimmte
Subventionen herangehen. Eine Kürzung in 4-ProzentSchritten genügt nicht. Ein Argument war, dass sich die
Leute auf die Kürzungen einstellen sollen. Wenn wir die
Eigenheimzulage komplett abschaffen, dann soll sie so
auslaufen, dass irgendwann keine neuen Anträge mehr
gestellt werden können. Das ist berechenbar, und es gibt
eine Zeitschiene, auf die sich jeder einstellen kann. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Machen Sie an dieser
Stelle mit! Das ist letztlich nichts anderes als degressiver Subventionsabbau. Wenigstens die FDP hat heute
Farbe bekannt. Ich hoffe, dass sie mit dieser Festlegung
ihre Verantwortung in den Bundesländern wahrnimmt.
({4})
- Wenn man das Geld für eine andere Subvention einsetzen würde, dann wäre das sehr seltsam.
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir werden diesen Gesetzentwurf in
verschiedenen Ausschüssen beraten, mit Sicherheit auch
ausführlich im Haushaltsausschuss. Eine interessante
Frage wird sein, wie wir Subventionen definieren. Sie
bieten pragmatisch die Definition an, die die Regierung
ihrem Bericht zugrunde legt. Ich glaube, dass es richtig
und sinnvoll ist, sich darüber zu verständigen, was eine
Subvention ist. Der etwas unsystematischen Liste von
Koch/Steinbrück, die auch ihre Ausnahmen hat - das
muss ehrlicherweise gesagt werden; da sind wegen Klientelinteressen bestimmte Dinge herausgenommen worden -, sollten wir uns widmen.
Ich freue mich auf die Beratungen, denn ich halte angesichts der sehr schwierigen Situation der öffentlichen
Haushalte eine Offensive für notwendig. Ob wir dann
bei einer gesetzlichen Regelung landen, wie Sie von der
FDP sie vorschlagen, werden wir sehen. Dazu hat Herr
Diller einige bedenkenswerte kritische Anmerkungen
gemacht. Wir werden uns unser eigenes Urteil bilden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Pinkwart.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal bedanke ich mich für die FDPFraktion bei Herrn Diller und Frau Hajduk für die vom
Grundansatz her sehr freundlichen Worte, wenngleich
zumindest Sie, Herr Diller, zurückhaltender waren und
einer gesetzlichen Regelung des konsequenten Subventionsabbaus noch nicht so recht folgen wollten.
Sie verweisen auf die Absichtserklärung der Bundesregierung, Herr Diller, Subventionen künftig zeitlich befristen und degressiv ausgestalten zu wollen. Das ist
zwar sehr ehrenwert, aber tatsächlich verstoßen Sie in
Ihrer Verantwortung als Mitglied der Bundesregierung
gegen diese Absichtserklärung. Denn in dem Subventionsbericht, der uns in umfangreicher Form vorliegt
- es gibt so viele Subventionen, dass wir mit den Berichten darüber ganze Bücherschränke füllen könnten -, gibt
es die Spalte „Befristung“, in der nahezu alle Finanzhilfen, die darin erfasst sind, als unbefristet ausgewiesen
sind. Insofern gibt es eine Menge zu tun, Herr Diller.
({0})
Deshalb reicht es mir nicht, dass der Bundeskanzler in
der vorigen Woche hier feststellte, jetzt müsse etwas getan werden - und zwar nicht nur zur Haushaltskonsolidierung, sondern um im Haushalt andere Prioritäten zu
setzen, was Sie schon längst hätten tun müssen, um den
Standort Deutschland nach vorne zu bringen -, und auf
eine einzige Subvention verwies. Nach der Absichtserklärung der Bundesregierung hätte er vielmehr feststellen müssen, dass die Bundesregierung ihre bisher nicht
erledigten Hausaufgaben noch erledigen muss - ich verweise auf den Subventionsbericht - und dass bis 2010
systematisch alle Steuervergünstigungen und Finanzhilfen abgebaut werden müssen.
({1})
Das wäre eine klare Ansage des Bundeskanzlers gewesen. Eine solche Agenda 2010 wäre glaubwürdig gewesen.
Denn wenn wir so mutig wären, zu sagen: „Wir müssen den rund 60-Milliarden-Euro-Ballast an Altsubventionen abbauen“ - Frau Hajduk hat darauf hingewiesen,
dass dies dem engeren Subventionsbegriff entspricht;
man kann ihn auch weiter fassen und kommt dann auf
150 Milliarden Euro -, dann hätte der Staat endlich die
Möglichkeit, die Haushalte zu konsolidieren, Steuersenkungen vorzunehmen, das Steuersystem zu vereinfachen
und neue Prioritäten in den öffentlichen Haushalten zu
setzen. Dazu haben wir aber vom Bundeskanzler und in
der heutigen Debatte von Ihnen, Herr Diller, wie auch
leider von den Koalitionsfraktionen nichts Substanzielles gehört.
({2})
Insofern freuen wir uns darüber, dass wir uns gemeinsam über eine gesetzliche Normierung austauschen können, die Bund und Länder bindet. Das ist notwendig;
denn die Länder gewähren ihrerseits Finanzhilfen und
beteiligen sich an der gesetzlichen Verankerung von
Steuervergünstigungen. Insofern halten wir es für erforderlich, dass wir parallel zu unseren Bemühungen hier
auch zu einer solchen gesetzlichen Regelung kommen.
Es nützt nichts, Herr Schirmbeck, uns gegenseitig
Versäumnisse aus der Vergangenheit vorzuhalten, auch
wenn wir das ausufernd tun könnten.
({3})
- Auch aus der jüngsten Vergangenheit, Frau Hajduk.
Das ist auch Ihre Vergangenheit; denn Sie haben bei der
jüngsten namentlichen Abstimmung über die Steinkohlesubventionierung bis 2012 zugestimmt. Das müssen
Sie sich leider vorhalten lassen.
({4})
Sie haben auch in Nordrhein-Westfalen der weiteren
Steinkohlesubventionierung zugestimmt.
Wir könnten die Liste noch verlängern. Aber das hilft
uns nicht weiter. Wir müssen vielmehr feststellen, ob wir
es wirklich ernst meinen. Dann müssen wir die Spielregeln, nach denen wir die Haushalte aufstellen, die Steuergesetze gestalten und Finanzhilfen gewähren, neu bestimmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spiller?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Pinkwart. - Können Sie
dem Haus vor diesem Hintergrund schildern, wie sich
die FDP bei dem Vorhaben, die Subvention Eigenheimzulage abzubauen, verhalten hat?
({0})
Das kann ich Ihnen sehr gerne schildern, Herr Kollege Spiller. Aus den Koch/Steinbrück-Vorschlägen ist
für 2004 ein Einsparvolumen von insgesamt 2,4 Milliarden Euro herausgekommen, und zwar bezogen auf die
von Ihnen vorgelegte Gesamtsumme von 127,3 Milliarden Euro. Ein maßgeblicher Anteil dieser 2,4 Milliarden
Euro ist allein auf die Kürzung der Eigenheimzulage
um 30 Prozent in 2004 zurückzuführen. Das ist der
größte Beitrag gewesen,
({0})
der insgesamt mit dem Koch/Steinbrück-Papier und den
Anstrengungen im Vermittlungsausschuss erreicht worden ist.
Hätten wir in allen anderen Fällen der Koch/Steinbrück-Liste - wir haben sie sehr genau geprüft - einen
ähnlich konsequenten Einstieg in den Subventionsabbau
vorgenommen wie bei der Eigenheimzulage, dann hätten
wir in 2004 nicht nur 2,4 Milliarden Euro, sondern
15 Milliarden Euro weniger für Steuervergünstigungen
und Finanzhilfen aufwenden müssen. Dann hätten wir
noch mehr Spielraum für Steuersenkungen und Investitionen in unsere Zukunft gehabt, Herr Spiller.
({1})
- Frau Hajduk, diese Zahlen können Sie eigentlich nicht
in Zweifel ziehen; denn sie sind das Ergebnis der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss.
Herr Spiller, wir wollen - das beinhaltet der von uns
vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Steuerreform Steuervergünstigungen wie die Eigenheimzulage systematisch abbauen, aber nach der Maßgabe - das möchte
ich betonen -, dass die Steuersätze in unserem Land weiter gesenkt werden und dass das Steuerrecht endlich vereinfacht wird.
({2})
Aber auch davor drücken Sie sich in Wahrheit. Der Bundesfinanzminister hat uns jetzt mitgeteilt, eine Zinsabgeltungsteuer - sie wäre ein weiterer Beitrag zur Vereinfachung in unserem Land - sei nicht möglich, weil der
Grenzsteuersatz für Unternehmen nach seiner Reform
weiterhin 52 Prozent betragen werde. Aber dieser Steuersatz ist international längst nicht mehr konkurrenzfähig.
Sie müssen einen Beitrag dazu leisten, dass der Standort Deutschland attraktiver wird und dass mehr Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand entstehen. Dann
können wir trotz niedriger Steuersätze mehr Steuereinnahmen für die öffentlichen Haushalte generieren und in
Zukunft auf Finanzhilfen zur Unterstützung Not leidender Branchen verzichten. Das ist die Politik, für die die
FDP-Fraktion in diesem Hause steht.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten
Schneider.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als der Entwurf eines Gesetzes der FDP zum Subventionsabbau auf meinem Tisch lag, musste ich ein bisschen schmunzeln, Herr Pinkwart. Ich erinnere mich noch
sehr genau, wo wir Ende vergangenen Jahres standen,
als wir den Haushalt 2004 beraten und verabschiedet haben und mit dem Haushaltsbegleitgesetz in vielen Bereichen, auch und gerade beim Abbau von Subventionen,
maßgebliche Veränderungen auf den Weg gebracht haben.
Wir haben dann - federführend war der Haushaltsausschuss - eine Anhörung durchgeführt. Da ich damals
die ganze Zeit dabei gewesen bin, erinnere ich mich
noch sehr genau an die Fragen, die vonseiten der FDP
gestellt worden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich
noch so genau daran erinnern. - Wie ich sehe, ist Ihr
Kollege Thiele nicht anwesend. Das wundert mich bei
diesem Thema nicht. - Auf jeden Fall war es der Kollege
Thiele, der in der damaligen Anhörung an jeden einzelnen Interessenverband - seien es die Vertreter des Deutschen Bauernverbandes, der Bausparkassen oder diejenigen gewesen, die sich eine Verbesserung der
Familienförderung zum Ziel gesetzt haben - die Frage
gerichtet hat, inwieweit denn die Abschaffung der Eigenheimzulage - das Volumen dieser größten im Subventionsbericht ausgewiesenen Subvention betrug damals noch 10 Milliarden Euro - negative Auswirkungen
haben werde. Dabei hatte seine Frage gleich die Antwort
impliziert, dass sich die Abschaffung dieser Subvention
negativ auswirken wird. Das ist für mich keine wirklich
konsequente Position. Daher kann ich Ihrem heutigen
Entwurf eines Subventionsbegrenzungsgesetzes nicht
zustimmen.
({0})
Zwar befürworte ich ihn grundsätzlich. Aber ich sehe bei
Ihnen keine Einheit von Wort und Tat. Sowohl Ihr Verhalten bei der Abstimmung über das Haushaltsbegleitgesetz im Bundestag als auch das, was in den Ländern geschieht, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen,
sprechen eine andere Sprache. Das ist leider so.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP, die eine lange
Tradition hat und die eine wichtige Kraft im deutschen
Parteiensystem ist,
({2})
an dieser Stelle konsequenter gewesen wäre. Ich möchte
zwar nicht zu weit in die Zukunft schauen. Wenn Sie
aber so weitermachen und weiter so inkonsequent sind,
dann wird es das für Sie gewesen sein. Das konnte man
schon bei der Hamburgwahl sehen.
Ich möchte noch einige allgemeine Punkte betreffend
den Subventionsabbau ansprechen. Ich glaube, dass wir
alle in gewisser Weise in einem Boot sitzen - darauf hat
der Kollege Schirmbeck bereits hingewiesen -, und zwar
sowohl im Hinblick auf die Verteilung als auch im Hinblick auf die Mindereinnahmen in den Haushalten von
Bund, Ländern und Kommunen. Es ist schwierig, sich
gegen eine Interessengruppe, die zur eigenen Wählerklientel gehört - wir alle vertreten Interessengruppen; ich
nehme die SPD da nicht aus -, durchzusetzen. Daher war
es zum Beispiel eine große Leistung der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen, sich dazu durchzuringen, die
Eigenheimzulage im Haushaltsbegleitgesetz komplett zu
streichen.
({3})
- Ich komme noch darauf zu sprechen. Man sollte sich
zunächst einmal die größte Subvention vornehmen; man
sollte sie nicht nur infrage stellen, sondern auch abschaffen.
Subventionen führen immer zu Fehlallokationen von
Ressourcen. Sie verzerren Marktergebnisse und behindern einen schnelleren Strukturwandel. Die Abschaffung
einer Subvention oder ihre degressive Ausgestaltung
- da haben wir sicherlich noch Nachholbedarf - führt
immer zu einem Konflikt mit Interessengruppen und mit
der Gesellschaft.
Einer der Hauptgründe dafür, dass es uns weder in
den Ländern noch im Bund gelingt, konsequenter vorzugehen, ist der Aufbau des föderalen Systems in der
Bundesrepublik.
({4})
Ich hoffe, dass es auf der Grundlage der Arbeit der Föderalismuskommission gelingt - entsprechende Ansätze
sind vorhanden -, für eine stärkere Entflechtung der Zustimmungsbefugnisse zu sorgen. Wenn es im Bundestag
eine Mehrheit für einen Gesetzentwurf, zum Beispiel
zum Subventionsabbau, gibt, dann darf es nicht mehr so
sein, dass dem entgegenstehende Länderinteressen dazu
führen, das sein In-Kraft-Treten über den Bundesrat verhindert werden kann. Man sollte dies anders handhaben,
egal welche Farbe die Mehrheit im Bundesrat oder im
Bundestag hat und egal welche Partei die Bundesregierung stellt. Ich glaube, dass eine Entflechtung an dieser
Stelle sowohl im Hinblick auf die Transparenz des politischen Systems als auch im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Haushaltsführung unabdingbar ist.
({5})
Ich möchte noch auf das Koch/Steinbrück-Papier zu
sprechen kommen. Es hat in dieser Woche eine ganz besondere Rolle gespielt. Die beiden Ministerpräsidenten
haben in einem Brief an die Haushälter - ich weiß nicht,
ob Sie alle ihn bekommen haben - kritisiert, dass wir
ihre Vorschläge, zum Beispiel was den Bereich Straßenbau betrifft, nicht umgesetzt haben.
Das Zustandekommen des Koch/Steinbrück-Papiers
- wir haben es in die Beratungen des Haushalts 2004
eingebunden und wir haben es umgesetzt - war von einer besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Diesem Papier liegt das Rasenmäherprinzip
zugrunde. Ich glaube, es ist wirklich nicht erklärlich,
dass zum Beispiel in den Bereich Schiene Subventionen
fließen sollten, weil die Bahn Eigentümer des Bahnnetzes ist, und in den Bereich Straße nicht. Man hat gemerkt, dass Landesbeamte in Landesministerien die
Liste erstellt haben.
({6})
- Ja, vor allen Dingen Beamte in den unionsgeführten
Ländern.
Uns hat der politische Mut gefehlt, gezielte Einschnitte vorzusehen und nicht nach dem Rasenmäherprinzip vorzugehen. Ich will ganz klar sagen: Jede
Subvention hat positive wie negative Folgen. Zu
einigen Subventionen würde ich sagen: Sie erzielen eine
Wirkung, die wir politisch wollen. Daher bin ich - um
das ganz klar und deutlich zu sagen - für mutige politische Entscheidungen und nicht für ein Vorgehen nach
dem Rasenmäherprinzip.
({7})
Ich hoffe - das sage ich in Richtung CDU/CSU-Fraktion -, dass es uns in den Fraktionen gelingt - ich beziehe mich dabei zumindest auf die SPD-Fraktion -, bei
der Aufstellung des Haushalts 2005, die schwierig genug
sein wird, das Maastricht-Kriterium einzuhalten,
Schwerpunkte auf den Gebieten Bildung und Forschung
zu setzen und Subventionen gezielt abzubauen.
Herr Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Pinkwart?
Gern.
Herr Pinkwart, bitte schön.
Herr Schneider, Sie haben soeben ausgeführt, dass Sie
gegen das Rasenmäherprinzip sind und offensichtlich
nur noch punktuell eingreifen wollen, da Sie davon ausgehen, dass gewisse Subventionen von dauerhaftem
Nutzen seien. Befinden Sie sich damit möglicherweise
in einem Widerspruch zu der hier von der Bundesregierung vorgetragenen Haltung? Denn die Bundesregierung
hat in ihrem 19. Subventionsbericht zum Ausdruck gebracht, dass sie Subventionen - zumindest künftig - nur
noch zeitlich befristet und degressiv ausgestalten will.
Herr Professor Pinkwart, darauf antworte ich sehr
gerne. Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich
die Schnitthöhe des Rasenmähers unterschiedlich einstellen würde. Bei manchen Subventionen würde ich
eine stärkere Abschmelzung vornehmen - wir sind der
Haushaltsgesetzgeber; wir haben diese Entscheidung zu
treffen, dafür sind wir gewählt, dafür haben wir die Verantwortung - und bei manchen würde ich nicht so stark
ansetzen, etwa da, wo Umstrukturierungsprozesse stattfinden. Sie haben vorhin das EEG genannt, das hier nicht
direkt vorkommt. Es ist politisch gewollt, regenerative
Energien stärker zu fördern. Wir müssen also sehen, ob
uns das gelingt. Ich halte es auch für ein Zeichen des
politischen Mutes, darüber zu entscheiden. Die Entscheidung, überall gleich vorzugehen, kann jeder Beamte treffen; dafür brauchen wir keine Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
({0})
Ich würde gern noch einmal zum 19. Subventionsbericht zurückkommen. Was Ihren Entwurf zur Änderung
des Haushaltsgrundsätzegesetzes angeht, so teile ich die
Haltung der Bundesregierung, nach der eine solche Regelung nicht in das Haushaltsgrundsätzegesetz übernommen werden sollte; denn dieses regelt die Grundsätze des
Haushaltsrechts, aber nicht finanzpolitische Zielsetzungen. Finanzpolitische Zielsetzungen kann der jeweilige
Haushaltsgesetzgeber in jedem Jahr festlegen.
Ich begrüße die Neuerung sehr, die die Bundesregierung beschlossen hat und die sich auch in Ihrem Gesetzentwurf inhaltlich wiederfindet. Grundsätzlich werden
Subventionen nur noch als Finanzhilfen gewährt und
damit klar sichtbar im Haushalt ausgewiesen. Das geht
nicht mehr über Steuervergünstigungen, die nicht so
transparent sind und auch nicht derselben Verteilung unterliegen wie Ausgaben, die im Rahmen der Haushaltsberatungen jeweils beschlossen werden müssen. Ich
halte es für richtig, dass diese Finanzhilfen gesetzlich
befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden.
Man muss auch überlegen - das ist zumindest meine
persönliche Einschätzung -, ob man an bestehende Hilfen herangeht. Sie haben das vorhin aufgezeigt. Das
könnte ein Weg sein; darüber müssen wir befinden. Dazu
kann ich aber noch keine abschließende Meinung der
Fraktion sagen.
Die Frage ist auch, ob wir bestehende Steuervergünstigungen in Finanzhilfen überführen können. Ich würde
dies sehr begrüßen, weil es letztlich dazu führen würde,
dass wir in jedem Jahr bei den parlamentarischen Haushaltsberatungen - das Budgetrecht ist nun einmal das
höchste Recht des Parlaments - tatsächlich überprüfen,
inwieweit die Hilfen sinnvoll sind.
Dazu noch eine Anmerkung. Ich glaube, dass auch
das Haushaltsrecht geändert werden muss. Wir müssen
Steuerungsinstrumente bekommen, die es uns erlauben,
zu erkennen: Wie sinnvoll ist die eine oder andere Subvention? Welche Ziele erreichen wir? Wir können jetzt
eigentlich nur noch Soll- und Istzahlen feststellen, aber
nicht, ob die Hilfen tatsächlich sinnvoll sind.
Ich halte also eine Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes für notwendig. Wir haben dieses Gesetz 1997
- da war ich noch nicht dabei - geändert und für die Regierung eine hohe Flexibilität geschaffen. Diese Flexibilität ist grundsätzlich zu begrüßen, aber das Parlament
hat Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben. Ich
für meinen Teil finde, dass wir diese wieder zurückbekommen müssten, dass wir praktisch wie ein Aufsichtsrat Controllinginstrumente haben müssten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad
Fromme von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schneider, wenn Sie die Rolle des Bundesrats beklagen, dann sollten Sie einmal einen Blick zurück werfen. Wenn Sie damals den Petersberger Beschlüssen zugestimmt hätten, hätten Sie den größten
Subventionsabbau in der Geschichte erreicht - da sehen
Sie, welchen Mut wir in dieser Frage hatten -;
({0})
das müssen Sie sich heute vorhalten lassen.
({1})
Der FDP-Gesetzentwurf ist auf den ersten Blick sympathisch. Mit drei Paragraphen sozusagen das ganze Problem zu lösen klingt gut, aber der Antrag ist eben FDP:
faszinierend, doch problematisch.
({2})
Er ist ein guter Denkanstoß, aber im Detail ist es doch
ein wenig schwieriger.
Was sind denn Subventionen? Ist die Kilometerpauschale eine Subvention oder nur Ausfluss des Nettoprinzips? So wie sie jetzt ist, ist sie als Gegenleistung für die
Ökosteuer überhöht und mit Sicherheit eine Subvention.
Aber im Kern steht nach meiner Auffassung das Nettoprinzip dahinter.
Wie ist es denn mit den Zuweisungen für den Straßenbau oder für den Schienenbau?
({3})
Nur deshalb, weil das jetzt über die Bahn abgewickelt
wird, steht es als Zuwendung im Haushalt. Aber es ist
doch eine Infrastrukturmaßnahme und bleibt eine öffentliche Aufgabe.
An die Adresse der SPD: Wie ist es mit der Steuerfreiheit für Nacht- und Feiertagszuschläge? Da haben
Sie sich ja geziert. Das ist eine Subvention und nichts
anderes.
Herr Kollege Diller, wenn Sie sich hier mit einem
großen Zahlenwerk hinstellen und ausführen, wie erfolgreich Sie waren, dann muss ich doch sagen: Zählen Sie
einmal die Finanzhilfen, die Subventionen und die Steuerbefreiungen zusammen, dann sehen Sie, dass gerade
das, wovon Sie gesprochen haben, nicht erreicht worden
ist. Wenn ich einmal die Zahlen des Instituts für Wirtschaft zugrunde lege, hatten wir 1998 59 Milliarden
Euro, im Jahre 2003 waren es wieder 58,6 Milliarden
Euro. Wir haben das Ziel noch nicht erreicht. Der Subventionsbericht ist nicht umsonst 24 Seiten dicker geworden; es liegt nur daran, dass Sie die Subventionen
nicht abgebaut, sondern neue Subventionen geschaffen
haben. Ich erinnere an die so genannte ökologische
Steuerreform, die weder öko noch logisch ist. Aber
durch sie wurden riesige Subventionen geschaffen. Sie
haben einen Fehler gemacht und das wussten Sie. Deswegen haben Sie, um den Standort Deutschland nicht zu
gefährden, an bestimmten Stellen Ausnahmen eingeräumt und neue Subventionen geschaffen. Das zeigt
doch, wie fragwürdig das Ganze ist. Im folgenden Jahr
kommt dann Herr Eichel und streicht diese Subventionen. Ihre Subventionspolitik bzw. Nichtabschaffungspolitik macht den Standort kaputt.
({4})
Sie rühmen sich, besonders erfolgreich zu sein. Wenn
ich mir allerdings die Eichel-Liste im Haushalt ansehe,
stelle ich fest, dass davon relativ wenig übrig geblieben
ist. Die Eigenheimzulage zum Beispiel - Ihr Jäger 90 haben Sie schon mindestens dreimal verbraten: zur
Haushaltssanierung, zur Stadtsanierung und jetzt für die
Bildung. Was wollen Sie denn eigentlich? Sie können
das Geld doch nur einmal ausgeben. Dass Sie sich ausgerechnet die Eigenheimzulage herausgegriffen haben,
kann ich verstehen. Das hat ideologische Gründe. Ihnen
ist es nicht recht, dass Menschen, die Besitz haben, anders denken. Vor diesem ideologischen Hintergrund haben Sie sie abgeschafft, nichts anderes war der Grund.
({5})
- Das macht nichts, es bleibt trotzdem wahr. Wenn Sie
einen solchen Zwischenruf machen, beweist das, dass
Sie sich getroffen fühlen. Das zeigt mir, dass ich Recht
habe.
Verbreiten Sie doch nicht die Legende, die Union sei
nicht zum Subventionsabbau bereit. Ich habe es gesagt:
Wir haben mit den Petersberger Beschlüssen den umfassendsten Vorschlag vorgelegt. Sie haben ihn blockiert.
Sie hätten es natürlich gerne gehabt, dass wir im Zuge
des Haushaltsbegleitgesetzes viele Subventionen geopfert hätten, in den Orkus Ihrer chaotischen Haushaltspolitik geworfen hätten, um Ihnen aus der Patsche zu helfen. Aber das werden wir nicht tun. Wenn wir
Subventionen abbauen, dann nur in Verbindung mit
strukturellen Veränderungen. Wir wollen die Subventionen nicht einfach wie Tafelsilber verschleudern, um
die laufenden Ausgaben zu decken, sondern wir wollen
strukturelle Veränderungen. Wir wollen das Geld für
eine Steuerreform einsetzen, damit mehr Kaufkraft im
Binnenmarkt und mehr Investitionskraft bei den Unternehmen entsteht. Das ist unser Konzept.
({6})
Wenn Sie da mitmachen, meine Damen und Herren,
dann werden wir uns an dieser Stelle sehr schnell handelseinig.
Wir haben mit der Koch/Steinbrück-Liste bewiesen,
dass wir selbst auf Ihren fragwürdigen Weg ein Stück
weit eingehen. Aber Sie marschieren in die falsche Richtung, indem Sie - ich habe es gesagt - neue Subventionen einführen. Bei der Windenergie spielt das überhaupt keine Rolle. Auch wenn es formal nicht um eine
Subvention geht, das Geld wird den Bürgern weggenommen und umverteilt. Weg ist weg, egal wie das heißt.
Dieses Vorgehen mindert die Kaufkraft und ist wirtschaftspolitisch der falsche Weg. In demselben Augenblick, in dem über die Koch/Steinbrück-Liste verhandelt
worden ist, haben Sie die Kohlesubvention in Milliardenhöhe unkritisch verlängert. So kann man das nicht
machen.
({7})
Die Schlagworte müssen lauten - insofern ist der
FDP-Antrag richtig -: Begrenzung, Befristung, Degression. Dabei muss ein gezielter Zweck verfolgt werden;
es darf nicht etwas konserviert werden.
Herr Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Anja Hajduk?
Aber gerne.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Fromme, Sie haben vom
Opfern der Subventionen gesprochen. Ich möchte Sie zu
den genannten Subventionen, bei denen Sie uns kritisiert
haben, fragen: Ist Ihnen wenigstens bewusst, dass bei der
relativ jungen Windenergieförderung, die ja nicht direkt
über den Haushalt stattfindet - das hatten Sie auch gesagt -, schon in den letzten Jahren eine ganz starke
Degression stattgefunden hat, die in den nächsten zehn
Jahren fortgesetzt wird, nämlich von 50 Prozent und
noch einmal 40 Prozent, dass bei den von Ihnen erwähnten hohen und politisch sicherlich nicht einfachen Kohlesubventionen ebenfalls eine Degression stattfindet und
dass die jetzige Planung, die bis 2012 reicht, ausdrücklich einem Sperrvermerk unterliegt, weil dieser Punkt
noch ausgestaltet werden soll? Ist Ihnen das aus der
Haushaltsausschusssitzung noch in Erinnerung?
Aber natürlich ist mir das in Erinnerung. Mir ist das
auch bewusst. Trotzdem haben Sie das Volumen der
Kohlesubvention beachtlich ausgeweitet. Das halte ich
für einen falschen Weg.
({0})
Die Degression ist richtig. Das Subventionsvolumen bei
der Windenergie wird beachtlich steigen, obwohl eine
Degression vorgesehen ist. Das halte ich für einen falschen Weg.
({1})
Wir können nicht ständig über Subventionsabbau reden, aber faktisch - auch wenn eine Degression vorgesehen ist - das Gegenteil bewirken. Der Ansatz ist richtig,
aber er ist nicht konsequent zu Ende gedacht.
Ich sage es noch einmal: Für uns bedeutet Subventionsabbau, dass wir substanzielle Veränderungen erzielen; er bedeutet aber nicht, Geld zu verschleudern, indem
Defizite im laufenden Haushalt ausgeglichen werden,
die Sie durch Ihre schlechte Wirtschaftspolitik verursacht haben. Da müssen Sie einen anderen Weg suchen.
Auch ich weiß, dass es im Zuge des Subventionsabbaus Opfer geben wird. Mit jeder Veränderung bei den
Subventionen tritt man bestimmten Gruppen auf die
Füße. Es ist daher nicht einfach, Subventionen durchzusetzen. Wir sind dazu bereit, aber nicht um Ihren Preis,
sondern um den Preis einer nachhaltigen Verbesserung
der wirtschaftlichen Lage in Deutschland.
Koch/Steinbrück zeigt, dass wir bereit sind, etwas zu
tun. Gleichzeitig wird klar, dass es gefährlich ist, mit Ihnen einen Weg gemeinsam zu gehen. Es wurde nämlich
im Vermittlungsausschuss ausdrücklich vereinbart, dass
die Liste von Koch/Steinbrück unter Beteiligung des
Haushaltsausschusses umgesetzt wird. Sie stellen sich
die Parlamentsbeteiligung aber so vor: Sie präsentieren
eine Liste, die von der Bundesregierung vorgegeben
wird. Die Beratung darüber betrachten Sie als Majestätsbeleidigung. Also erfolgt sofort die Abstimmung, weil
Sie keine Lust haben, mit uns darüber zu reden.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie haben sich
sogar generell vorbehalten, die Koch/Steinbrück-Liste
zu verfälschen. Sie haben diese Liste gar nicht umgesetzt, sondern Sie haben Punkte, die ursprünglich nicht
enthalten waren, aufgenommen und wiederum andere
Punkte ausgespart. Es wurde im Vermittlungsausschuss
beispielsweise klar vereinbart, dass die Landwirtschaft
ausgenommen wird. Trotzdem gehen Sie ans Branntweinmonopol. Im Einzelplan 17 haben Sie Kürzungen
der Mittel für die Integration von Zuwanderern, bei Zuschüssen für Vertriebenenverbände und für Zivildienstleistende vorgenommen, die bei Koch/Steinbrück gar
nicht vorgesehen waren. Sie wollten nicht einmal eine
Diskussion darüber zulassen. Das ist Ihr Weg. Sie benutzen die Koch/Steinbrück-Liste als Ausrede und vernebeln damit Ihre Politik.
({2})
Ministerpräsident Steinbrück hat Ihnen dieses aufgeschrieben. Wir haben die Maut unter zwei Gesichtspunkten beschlossen: Ausländische LKWs sollen zur Steuerzahlung herangezogen werden und der Verkehrshaushalt
soll mithilfe dieser Einnahmen aufgestockt werden. Was
aber haben Sie gemacht? Sie haben den Verkehrshaushalt fortgeschrieben, haben die Mautmittel - unabhängig
davon, ob sie fließen oder nicht - eingestellt und haben
erst einmal 2 Milliarden Euro sozusagen abgezwackt,
um Ihre Haushaltslöcher an anderer Stelle zu stopfen.
Aber in der Öffentlichkeit erklären Sie, dass wegen der
fehlenden Mauteinnahmen und wegen der Kürzungen
aufgrund der Koch/Steinbrück-Liste der Verkehrshaushalt nicht aufgestockt werden kann.
Mit Genehmigung des Präsidenten lese ich Ihnen einen Satz aus dem Brief des Ministerpräsidenten
Steinbrück, der kein Ministerpräsident der CDU ist, vor:
Deshalb ist Ihre Begründung der Kürzung von Investitionen im Straßenbau unter Berufung auf unsere Vorschläge schlicht falsch.
Das sagt Ihr eigener Ministerpräsident, der bei der Erstellung dieser Liste beteiligt war. So kann man mit uns
nicht umgehen.
({3})
Ich sage Ihnen: Wer Subventionsabbau wirklich will,
({4})
der kann das nicht mit Ihnen machen;
({5})
denn Sie haben kein Konzept. Sie setzen die aus dem
Subventionsabbau frei werdenden Mittel nur dafür ein,
Haushaltslöcher zu stopfen. Damit schmeißen Sie Geld
aus dem Fenster heraus. Das ist Perlen vor die Säue werfen. Wir brauchen strukturelle Veränderungen, die wir
mit Mitteln aus dem Subventionsabbau finanzieren wollen. Das geht aber nicht mit Ihnen und insbesondere
nicht mit Ihrem neuen Parteivorsitzenden, der bei jeder
Veränderung zurückrudert, anstatt den Blick nach vorn
zu richten und für tatsächliche strukturelle Veränderungen zu sorgen. Das geht nur mit einem Regierungswechsel.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/2061 und 15/1635 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Arndt-Brauer, Norbert Barthle, Veronika
Bellmann und weiterer Abgeordneter
Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht
von Geburt an
- Drucksache 15/1544 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell ist vereinbart, für die Aussprache
zwei Fünfminutenrunden vorzunehmen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rolf Stöckel das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Aktuell sind etwa
13,8 Millionen Mitglieder des deutschen Staatsvolkes,
nämlich alle Kinder und Jugendlichen, von der Geburt
bis zum 18. Geburtstag vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Wir Abgeordneten aller Fraktionen, die den vorliegenden Antrag eingebracht haben, wollen das ändern und
fordern die Bundesregierung auf, dazu einen Gesetzentwurf einzubringen.
({0})
Das heißt konkret, das Wahlalter auf null zu senken
und den nachrangigen Art. 38 Abs. 2 des Grundgesetzes
wie das Bundeswahlgesetz in den entsprechenden Vorschriften zu ändern.
({1})
Bis das Wahlrecht auch persönlich ausgeübt werden
kann, wird es durch die gesetzlichen Vertreterinnen oder
Vertreter ausgeübt. Eine Absenkung der persönlichen
Wahlrechtsausübung auf 16 oder sogar auf 14 Jahre ist
damit ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Wir haben nicht die Illusion, dass wir hierfür auf Anhieb eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Aber wir sind
uns mit vielen, die in Deutschland für Kinderrechte,
Generationengerechtigkeit und eine familienfreundliche Gesellschaft arbeiten, in unseren Zielen einig,
({2})
nicht zuletzt mit der Jugendministerin Renate Schmidt,
die unsere Debatte heute leider nicht persönlich verfolgen kann und mich gebeten hat, herzliche Grüße auszurichten.
({3})
Meine Damen und Herren, wir wollen ernsthaft und
unserer Meinung nach im Einklang mit Buchstaben und
Geist unseres Grundgesetzes mehr Demokratie wagen.
Wir fordern ein Wahlrecht von Geburt an
({4})
als überfälligen Fortschritt in der demokratischen Entwicklung, in der das Prinzip „one man - one vote“ bzw.
„jeder Mensch - eine Stimme“ noch nicht verwirklicht
ist und eine von drei Generationen keinen Einfluss ausüben kann. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ und nicht nur vom volljährigen Volke.
({5})
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Jeder
Deutsche hat in jedem Land die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Das sind die Grundrechte mit
Dauergarantie in unserer Verfassung, in Art. 79
Abs. 3. Das ist der Kern unserer demokratischen Grundordnung.
Die gesetzliche Festlegung eines Mindestwahlalters
ist dagegen der politisch-sozialen Entwicklung und
Aushandlung unterworfen wie etwa die Absenkung des
Wahlrechtsalters im Jahre 1970 auf 18 Jahre. Die Demokratie entwickelt sich wie die Gesellschaft weiter und
beide können dabei auf längere Sicht nur gewinnen. Die
Geschichte des Wahlrechts seit der Antike, die Überwindung des Dreiklassenwahlrechts, die Einführung des
Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung belegen
das eindrucksvoll. Ein Vertretungswahlrecht kennen wir
bei der Briefwahl. Es ist zum Beispiel im Vereinigten
Königreich, dem Mutterland der Demokratie, lange
Praxis.
Weil wir reflektieren, wie die Weiterentwicklung des
gleichen Wahlrechts auf die langfristige Überwindung
von Diskriminierungen im Rechts- und Lebensalltag der
zuvor ausgeschlossenen Menschen wirken kann, und vor
dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung und unserer Verantwortung für die Nachkommen, für zukünftige Generationen sind wir überzeugt, dass die Interessen von Kindern und Familien an politischem Gewicht
gewinnen müssen und dass dazu das Wahlrecht ab Geburt einen wesentlichen Anschub leisten wird.
({6})
Stets sind die Initiatoren demokratischen Fortschritts
belächelt oder für verrückt gehalten worden, bis alle so
weit waren und dann sogar ein Streit um die Urheberrechte entbrannte.
({7})
Stets hat es interessengeleitete und kleinmütige Bedenken der Beharrenden gegeben, die die praktische Undurchführbarkeit, den Missbrauch, ja sogar den Untergang der staatlichen Ordnung beschworen haben.
Gegen das Wahlrecht ab Geburt bleiben meines Erachtens im Grunde nur zwei wesentliche Einwände, die
erst in der Praxis widerlegt werden können:
Erstens. Kinder blieben Anhängsel der Eltern, die das
delegierte Wahlrecht missbrauchen könnten, bzw. es
gebe Probleme, zu entscheiden, welcher Elternteil es
ausüben solle. Dazu sage ich: Gesetzliche Vertreter fällen unabhängig von der Familiensituation alle öffentlichrechtlichen Entscheidungen für ihre Kinder. Sie sind dabei in der Pflicht und der Verantwortung, den Willen ihrer Kinder zu berücksichtigen und zu ihrem Wohle zu
handeln.
({8})
Risiken eines zusätzlichen Missbrauchs sind, wie auch
in anderen Wählergruppen, wie die Chancen für alle Parteien gleich verteilt. Sie sind in einer stabilen Demokratie aushaltbar.
Manche Jugend- und Familienpolitiker und auch -verbände behaupten - das ist der zweite Einwand -, es handele sich nur um ein Alibirecht und behindere die direkte
Partizipation von Minderjährigen. Dazu sage ich: Die
Chancen von Kindern für Teilhabe und Demokratisierung in den Familien und in der Gesellschaft wären größer, mitnichten kleiner als beim bisherigen Wahlrecht.
Das Wahlrecht ab Geburt ist im Gegenteil die Einladung zum demokratischen Dialog innerhalb der Familien. Die Chancen von entwicklungsgemäßer Mitwirkung und von Demokratie-Lernen wachsen. Das
Wahlrecht ab Geburt behindert nicht die direkte Mitwirkung von Minderjährigen. Vielmehr ergänzt und bestärkt
sich beides gegenseitig. Das Wahlrecht ab Geburt ist wie
ein paar Schuhe, mit dem Kinder in der Demokratie laufen lernen.
Das Bild der Erwachsenen, insbesondere der Politik,
von Kindern würde sich - da bin ich mir sicher - wandeln. Das ist dringend geboten, wenn wir Zukunft gewinnen wollen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie haben mit diesem Antrag die Gelegenheit,
an einer historischen Weichenstellung für Kinderrechte
in unserer Demokratie teilzunehmen. Verhindern Sie
eine Beerdigung erster Klasse in den Ausschüssen! Geben Sie sich einen Ruck! Seien Sie dabei! Vergessen Sie
nicht: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung
ändern kann.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Rolf Stöckel, wir haben schon manche Schlacht für die
Kinder in unserem Lande geschlagen. Ich muss deutlich
sagen: Heute stehen wir nicht auf einer Seite. Heute unterscheiden sich unsere Aussagen ganz deutlich, wenn es
darum geht, die Belange der Kinder und ihre Teilhabe zu
berücksichtigen.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Keine Frage - auch Kinder sind „das Volk“. Immerhin fast 20 Prozent - ein Fünftel - der Bevölkerung sind Kinder.
({0})
Es ist schon sympathisch, dass dieser Antrag heute debattiert wird und der Fokus der Öffentlichkeit auf die Familien, auf die Kinder gelenkt wird. Das ist eine tolle Sache, die ich voll und ganz unterstütze.
({1})
Denn wer von uns will nicht Kinder und Familien stärken? Ich glaube, wir alle haben das gleiche Ziel. Nur in
dem Weg dorthin unterscheiden wir uns.
Ich habe große Zweifel, ob mit dem Antrag, der heute
vorliegt, das Ziel, das die Antragsteller verfolgen, nämlich Kindern und Jugendlichen die Ausübung der Staatsgewalt zu ermöglichen, wirklich erreicht wird. Denn die
Umsetzung dieser Idee hat nicht nur demokratietheoretische Mängel, sondern auch verfassungsrechtliche Mängel
({2})
und vor allen Dingen, lieber Rolf Stöckel, praktische
Mängel. Ich weiß nicht, liebe Frau Vizepräsidentin, ob
es richtig ist, einen Antrag auf den Weg zu bringen und
zu sagen: Die Praxis wird zeigen, was wir noch machen
müssen.
({3})
Das wird den Kindern und ihrem Anspruch auf echte
Partizipation und Beteiligung nicht gerecht.
({4})
Meine Damen und Herren, unsere Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Wählerstimmen nur zählen, aber nicht wägen. Das bedeutet, dass es nicht unterschiedliche Arten von Stimmen geben kann. Es kann
nicht sein, dass Eltern privilegiert werden.
({5})
Ich würde selber davon profitieren. Ich habe eine Tochter und könnte selber über ein höheres Stimmengewicht
verfügen. Aber das kann es nicht sein. In unserer Demokratie können wir nicht einige Stimmen mit besonderem
Gewicht belegen.
({6})
Wenn ich etwas ketzerisch wäre, könnte ich sagen: Wir
kommen hier zu einem etwas moderneren Klassenwahlrecht. Das hatten wir schon einmal und das sollte es
nicht wieder geben.
({7})
Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben
- das ist auch für mich der wichtigste Punkt -: Wenn Sie
von der treuhänderischen Wahrnehmung des Stimmrechtes durch die Eltern sprechen, geht es eigentlich
nicht darum, dass Kinder und Jugendliche das Wahlrecht
bekommen.
({8})
Dann müsste logischerweise erst einmal ein Antrag
kommen, das Wahlalter herabzusetzen. Aber der kommt
nicht.
({9})
Sie sagen, die Eltern sollen treuhänderisch das Wahlrecht für die Kinder wahrnehmen. Jetzt machen wir uns
doch nichts vor: In welchen Familien ist es denn wirklich nicht schon einmal vorgekommen, dass die Kinder
eine andere politische Meinung haben als die Eltern?
({10})
- Da sagt der Kollege Haupt: Das ist das Leben, die Praxis soll es richten; wir gehen zum Familiengericht und
der Richter entscheidet, welche Stimme gewertet wird.
({11})
Lieber Klaus Haupt, wir können ja wieder für Arbeitsplätze sorgen, aber ich glaube, das ist der falsche Weg.
({12})
Was machen wir also in den Fällen, wo Dissens zwischen den Eltern und den Kindern besteht? Was machen
wir in den Fällen, wo Dissens zwischen den Elternteilen
besteht? Auch das kommt vor: Der Mann ist für die
CDU und die Frau ist für die SPD, die Grünen oder sonst
was. Viel wichtiger für mich ist: Wie wird sichergestellt,
lieber Herr Stöckel, dass die Eltern ihr Stimmrecht im
Sinne und im Interesse der Kinder ausüben?
({13})
Das kann niemand kontrollieren; denn die Stimme wird
geheim abgegeben.
({14})
Letztendlich gehe ich an die Wahlurne und entscheide
als Elternteil im Sinne und zum Nutzen meiner Tochter.
Genau das werden andere Eltern auch tun.
({15})
Ich glaube auch, dass Ihr Begriff „Wahlrecht von Geburt an“ in die Irre führt; denn so, wie es dargestellt wird
und wie es faktisch aussieht, wird kein Kind und kein
Jugendlicher vor der Vollendung des 18. Lebensjahres
wählen können. Also ist das ein Etikett, das ein wenig
an eine Mogelpackung erinnert.
({16})
Meine Damen und Herren, ich will gar nicht näher auf
die Fälle eingehen, die aufgeklärt werden müssen. Was
ist in Scheidungsfällen? Nimmt der Ehepartner, der die
Familie verlässt, das Wahlrecht mit?
({17})
Was ist denn, wenn Minderjährige Eltern werden? Dann
haben wir zweimal Großeltern, die die elterliche Fürsorge für die minderjährigen Eltern haben.
({18})
Diese bekommen dann Viertelstimmen.
({19})
Genau das ist der Punkt, lieber Herr Haupt: So sympathisch Ihr Antrag ist, er wird dem Ziel nicht gerecht,
Kinder wirklich wahrzunehmen, ernst zu nehmen und
ihnen Beteiligung zu ermöglichen.
({20})
Ich glaube, wir werden, liebe Frau Lenke, den Kindern
besser gerecht, wenn wir für echte Partizipation sorgen,
wenn wir also dafür sorgen, dass Kinder beteiligt werden. Wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Antrag, dann
müsste der nächste Antrag folgen, nämlich der Antrag
auf die Herabsetzung des Wahlalters. Das wäre die logische Konsequenz. Ich bin gespannt, wie viele von Ihnen
dann noch hier stehen und diesen Antrag unterschreiben
werden.
({21})
Zur Erläuterung für die Zuschauer will ich sagen, dass
ich die Zugehörigkeit zu den Fraktionen nicht bekannt
gebe, wenn ich die Redner aufrufe, weil es Zustimmung
aus allen Fraktionen und ebenso Ablehnung aus allen
Fraktionen gibt. Diese Debatte richtet sich also direkt an
die Abgeordneten, ohne parlamentarische oder fraktionelle Bindung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zugegeben, der überparteiliche Antrag für ein Wahlrecht
von Geburt an ist unkonventionell. Er ist mutig quer gedacht, er verlässt die eingetretenen Pfade der Verfassungsinterpretation und wirft Fragen von grundsätzlicher
Bedeutung auf.
Mir sind drei Punkte ganz besonders wichtig: erstens
das Demokratieprinzip, zweitens die Generationengerechtigkeit, drittens die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft.
({0})
Dem Demokratieprinzip kommt in unserem Grundgesetz eine dominierende Rolle zu. Art. 20 bestimmt,
dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht - nicht nur
vom volljährigen Volk, sondern von jedem Deutschen ab
der Geburt. Die Staatsgewalt wird durch Wahlen und
Abstimmungen ausgeübt.
({1})
Dieses Prinzip gehört zum Verfassungskern und ist vor
jeder Änderung prinzipiell geschützt.
({2})
In Art. 38 wird diese Ausübung der Volkssouveränität
jedoch auf die Staatsbürger beschränkt, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die rund 14 Millionen Minderjährigen werden davon ausgeschlossen. Das heißt,
nur etwa 80 Prozent des Volkes legitimieren so die
Staatsgewalt, aber mit erheblicher Wirkung auch für die
nicht beteiligten 20 Prozent.
Unbestreitbar sehen heute Verfassungsjuristen die
Kinder als Träger von Grundrechten von Geburt an. Unstrittig ist, dass das Wahlrecht ein entscheidendes Grundrecht, ein zentrales Bürgerrecht ist und dass Kinder Bürger sind.
({3})
Kollegin Fischbach, unser Rechtssystem sieht, soweit
Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit auseinander fallen, übrigens schon seit 100 Jahren die Möglichkeit der
Stellvertretung vor und weist diese im Falle von Minderjährigen den Eltern als geborene Stellvertreter ihrer
Kinder zu. Aus Art. 6 des Grundgesetzes, dem besonderen Elterngrundrecht, folgen generelle Wahrnehmungsrechte der Eltern, auch und gerade im Bereich der Ausübung der Grundrechte ihrer Kinder. Beispielsweise
vertreten Eltern ihre Kinder bei der Ausübung der als
Grundrecht ausgestalteten Religionsfreiheit bis zum Eintritt der Teilrechtsmündigkeit mit 14 Jahren. Warum soll
das nicht auch beim Grundrecht auf politische Mitwirkung, beim Wahlrecht, möglich sein?
({4})
Deshalb sollen Kinder nach unserer Ansicht Inhaber
des Wahlrechts werden, das treuhänderisch von ihren Eltern ausgeübt wird, bis die Kinder das Wahlalter erreicht
haben. Selbstverständlich wird man darüber diskutieren
dürfen, ab wann junge Menschen ihr Wahlrecht selbst
ausüben. Der vielfach gegen unseren Antrag ins Feld geführte Grundsatz der Höchstpersönlichkeit steht nicht
im Grundgesetz. Schon heute wird er in der Praxis vielfach durchbrochen. In anderen demokratischen Ländern
wie Frankreich oder Großbritannien gibt es ihn in dieser
Form überhaupt nicht. In jedem Fall aber ist er gegenüber der ausdrücklichen Verfassungsbestimmung, dass
die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, absolut nachrangig.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, angesichts
der hoch aktuellen Probleme von Verschuldung, Rentenkürzung und Bildungsmisere verschärft sich in Deutschland die Debatte um das Thema Generationengerechtigkeit. Solange unsere Gesellschaft finanzielle und
soziale Lasten auf Pump finanziert, sie auf die junge Generation verschiebt und ihr die Zukunftschancen raubt,
so lange ist keine Generationengerechtigkeit möglich.
Der Grundfehler der heutigen Politik ist, dass sie nur auf
zwei Generationen fokussiert ist. Der Generationenvertrag setzt jedoch ein solidarisches Miteinander von drei
Generationen voraus. Die Einführung eines Wahlrechts
ab Geburt würde bedeuten, der Zukunft eine Stimme zu
geben. Mit einem Dreigenerationenwahlrecht würde
der Generationenvertrag mit neuem Leben erfüllt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familien mit Kindern werden in Deutschland gravierend benachteiligt.
Kinder sind in unserer Gesellschaft inzwischen eines der
größten Armutsrisiken, vor allem für Alleinerziehende.
({7})
Obwohl die Familie durch Art. 6 des Grundgesetzes unter besonderen staatlichen Schutz gestellt ist, haben sich
die Lebensverhältnisse der Familien kontinuierlich verschlechtert. Warum? Ihr Einfluss auf politische Entscheidungen ist relativ gering.
({8})
Aufgrund der demographischen Entwicklung wird er
noch dramatisch zurückgehen.
({9})
Wir können die Zukunft der Familien und damit unserer
ganzen Gesellschaft aber nur sichern, wenn wir das politische Gewicht von Familien und Kindern ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend durch die Einführung eines Wahlrechts ab Geburt erhöhen.
({10})
Noch vor 200 Jahren galt ein allgemeines Männerwahlrecht als fixe Idee.
({11})
Vor 100 Jahren erschien ein Frauenwahlrecht als ebenso
absurd.
({12})
All diese Änderungen wurden zunächst als abwegig,
suspekt und utopisch abgetan. Mit der Anerkennung des
Wahlrechts von Geburt an würde unser Wahlrecht durch
den Grundsatz „Jeder Mensch - eine Stimme“ wirklich
zu einem allgemeinen Wahlrecht vollendet. Politik
würde zukunftsfähiger und nachhaltiger, übrigens zum
Vorteil der gesamten Gesellschaft.
({13})
Denn schon Martin Luther stellte fest: „Bei den Kindern
muss angefangen werden, damit es im Staate besser
wird.“
Danke.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Kinder an die Macht!“ - das wünschte sich Herbert
Grönemeyer. Und das suggerieren auch die Antragsteller
und Antragstellerinnen mit ihrem Antrag auf Einführung
eines Wahlrechts von Geburt an. Aber werden Kinder
tatsächlich mehr Macht erhalten, wenn ihre Eltern stellvertretend für sie wählen können?
({0})
Ich sage: Nein.
({1})
Denn nicht die Kinder erhalten mehr Macht, sondern
deren Eltern. Darum müsste es ehrlicherweise
Elternwahlrecht heißen oder - in vielen Fällen vielleicht
besser - Väterwahlrecht.
({2})
Wir alle wissen doch: In vielen Fällen wären sie es,
die für ihre Kinder die „richtige“ Partei aussuchen würden. Einer der Antragsteller, der Kollege Singhammer,
hätte wunderbare sieben Stimmen.
({3})
Ich gehe einmal davon aus, dass die CSU sie bekäme.
Dass so ein „parlamentarisches Kindergeld“ einen Reiz
hat, ist zuzugeben. Unser Grundgesetz hat aber gerade
dies nicht gewollt und 75 Prozent unserer Bevölkerung
sind gegen eine solche Wahlrechtsänderung.
({4})
Die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit
der Wahl schließen es aus, Gruppen verschiedene Stimmengewichte beizumessen. Die Kollegin Fischbach hat
gesagt, das preußische Klassenwahlrecht mit unterschiedlicher Stimmengewichtung - je nach dem Stand,
ob Adel oder nicht - wurde 1918 abgeschafft. Also versuchen wir doch jetzt nicht, ein solches für Eltern wieder
einzuführen.
({5})
Der Gleichheitsgrundsatz gehört zum Kern des Grundgesetzes und ist somit jeder Veränderung durch das Parlament entzogen.
Das Elternwahlrecht käme aber auch in Konflikt mit
dem Prinzip der Höchstpersönlichkeit. Ein höchstpersönliches Recht ist unveräußerlich, unübertragbar und
unverzichtbar, Herr Haupt.
({6})
Das Wahlrecht duldet keine Stellvertretung. Auch der
Grundsatz der geheimen Wahl wäre gefährdet, wenn sich
Eltern mit ihren Kindern darüber auseinander setzen,
welche Partei zu wählen wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Ziele - mehr
Rechte für Kinder bei politischen Entscheidungen, eine
familienfreundlichere Politik durchzusetzen - teile ich
ausdrücklich.
({7})
Verantwortungsvolle Politik, gleich welcher Couleur,
muss die Interessen von Familien und Kindern ernst nehmen.
({8})
Generationengerechtigkeit ist das zentrale Thema. Die
Kinder sind unsere Zukunft, sie sind es auch, die künftig
die Folgen von Staatsverschuldung, Bildungsmisere und
Umweltproblemen schultern müssen. Darum ist hier die
Politik insgesamt gefragt. Es wäre doch für dieses Haus
geradezu ein Armutszeugnis, wenn wir als Politiker und
Politikerinnen quasi eine Bankrotterklärung abgeben
würden und die Eltern als Garanten für eine gute Politik
bräuchten.
({9})
Ich kann Ihnen sagen: Seit 1998 sind die Ausgaben für
Familien von 40,2 auf 60 Milliarden Euro im Jahre 2003
erhöht worden. Das ist eine riesengroße Summe. Trotzdem brauchen wir weitere Anstrengungen.
Die Einführung eines Elternwahlrechts ist aber nicht
nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch lebensfremd: Wer sich die konkrete Situation in Familien
einmal vorstellt, entdeckt noch weitere, nicht aufzulösende Widersprüche.
({10})
Sind die Kinder noch nicht in der Lage, einen eigenen
Wahlwunsch zu bekunden, müssen sich die Eltern darüber einigen, durch welche Entscheidung sie dem Kind
zum Recht verhelfen.
({11})
Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist es doch
schon fast der Regelfall, dass die politische Meinung der
Eltern von der der Kinder abweicht. Ich hätte mich jedenfalls nicht durch meine Eltern vertreten lassen wollen.
({12})
Wie sollen die Eltern damit umgehen? Sie sind nicht
an Weisungen ihrer Kinder gebunden, wie zum Beispiel
Wahlhelfer, die Menschen mit Behinderungen helfen.
Ob sich die politische Meinung der Kinder tatsächlich
im Stimmverhalten der Eltern widerspiegelt, ist mehr als
fraglich. Der Vergleich, den Herr Haupt vorhin brachte,
dass Eltern ihre Kinder in zivilrechtlichen Angelegenheiten vertreten könnten, ist in keiner Weise stichhaltig.
Bei einer politischen Wahl handelt es sich um eine politische und ideelle Willensentscheidung und nicht um eine
Privatangelegenheit und ein Privatinteresse.
({13})
Geradezu lächerlich wird es, wenn Eltern untereinander oder Eltern und Kind unterschiedliche Meinungen
haben. Dafür schlagen Sie den Gang vor das Familiengericht vor.
({14})
Das soll dann entscheiden, welcher Elternteil nach Einschätzung des Gerichts eher im Sinne und zum Wohle
des Kindes abstimmen würde. Für mich ist das eine absurde Vorstellung und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die die Gerichte kurz vor den Bundestagswahlen
lahm legen würde.
Eigentlich stellt sich die Frage: Was ist mit der Änderung des Wahlrechts beabsichtigt? Eine Veränderung der
Parteienlandschaft? In Ihrer Begründung steht
Dabei ist … nicht von einer grundsätzlichen Verschiebung innerhalb des parteipolitischen Spektrums auszugehen.
Geht es um mehr Macht und mehr Rechte für eine bestimmte Personengruppe? Davon hatten wir uns meiner
Meinung nach schon 1918 verabschiedet. Unsere Demokratie zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass alle
Menschen unabhängig von ihrer Lebensweise die gleichen Rechte haben. Das sollte auch so bleiben.
Das berechtigte Ziel, die Interessen von Kindern und
Jugendlichen stärker zu berücksichtigen, lässt sich durch
andere Maßnahmen wie die Absenkung des Wahlalters
oder durch eine verbindliche Beteiligung von Kindern an
politischen Prozessen und Entscheidungen erreichen, die
ihre Belange betreffen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt immer wieder Bestrebungen, ein Wahlalter unter
18 Jahren einzuführen. Sie kommen aus verschiedenen
Parteien. Die PDS spricht sich seit langem dafür aus.
({0})
Eine Absenkung des Wahlalters ist ebenso überfällig
wie mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. Allerdings gibt es - wir bekamen dies eben schon illustriert selbst bei den Befürwortern unterschiedliche Auffassungen über die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche
mitbestimmen sollen. Ein wiederkehrender Vorschlag
meint, Eltern sollten das Stimmrecht für ihre Kinder
wahrnehmen. Ich halte dies für falsch;
({1})
denn es wäre für die Kinder und Jugendlichen keine Mitbestimmung. Sie würden selbst dann fremdbestimmt,
wenn ihnen die Eltern sehr nahe stünden.
({2})
Eine solche stellvertretende Wahl widerspräche übrigens auch dem Grundsatz der geheimen Wahl. Die Kinder und Jugendlichen müssten doch vorher sagen, wen
sie wählen würden, und sie wären sich hinterher nicht
einmal sicher, ob ihr Wunsch tatsächlich erfüllt wurde.
Wenn schon das Szenario gerichtlicher Streitigkeiten
hier an die Wand gemalt wurde, dann glaube ich, dass
wir diese Streitigkeiten nicht nur vor der Wahl, sondern
auch mit Blick auf das Wahlergebnis nach der Wahl hätten, wenn Kinder nachrechneten und feststellten, dass ihr
Wille offensichtlich nicht umgesetzt wurde.
({3})
Spannender sind allerdings alle Debatten, die sich
wirklich um das Wahlalter drehen. Die einen meinen,
eine Absenkung auf 16 Jahre wäre denkbar. Andere plädieren für 14 Jahre. Die Kinderrechtsorganisation
„KRÄTZÄ“ aus Berlin wirbt mit guten Gründen für keinerlei Altersbeschränkung. Die „Kinderrächtszänker“,
wie sie in Langfassung heißen, argumentieren demokratietheoretisch. Sie plädieren aber auch aus Erfahrung,
wenn sie sagen, nur jene, die wählen könnten, würden
auch von der Politik ernst genommen. Kinder gehören
leider viel zu selten dazu.
Die PDS ist gegen alle Formen, bei denen ohne Not
stellvertretend gewählt wird. Wir sind zugleich für eine
deutliche Senkung des Wahlalters.
({4})
Grundsätzlich sind wir für mehr Demokratie. Dies sage
ich auch mit Blick auf Vorschläge, künftig nur noch alle
fünf statt bislang alle vier Jahre zur Wahl zu rufen. Der
Bundestagspräsident bringt dies gelegentlich auch in die
Debatte. Darüber lässt sich reden, vorausgesetzt, mehr
Bürgerinnen und Bürger - auch Kinder und Jugendliche,
die immer auch betroffen sind - können zwischendurch
in Sachfragen mehr direkt bestimmen. Dafür steht auch
die PDS im Bundestag.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie bedeutet im Kern Herrschaft der Mehrheit und
Schutz der Minderheit. Kinder sind in Deutschland leider zu einer Minderheit geworden, die Tag für Tag mehr
schrumpft. Im Jahre 1950 waren noch 27,7 Prozent der
Menschen in Deutschland unter 18 Jahren, heute sind es
nur noch 18,3 Prozent oder 13 Millionen Kinder und Jugendliche. Noch nie war Deutschland ein so von Erwachsenen geprägtes Land wie in diesen Tagen.
({0})
Die Entwicklung wird so weitergehen. Die Deutschen
werden immer weniger. Die demographische Entwicklung verschiebt sich dramatisch. Ein Herausgeber der
„FAZ“ hat vor wenigen Tagen ein Buch mit dem Titel
„Das Methusalem-Komplott“ veröffentlicht, in dem er
darauf hinweist, dass jetzt geborene Kinder eine Lebenserwartung von 100 Jahren hätten und sich das Verhältnis
von Jung und Alt weiter zuungunsten der Kinder und zugunsten der Erwachsenen verschieben werde.
Wir wollen mit diesem Antrag den Kindern Gehör
verschaffen. Wir glauben nicht, dass damit eine Umkehr
in der demographischen Entwicklung verbunden ist.
Dazu sind viele andere grundlegende Weichenstellungen
nötig.
({1})
Aber wir glauben schon, dass die Interessen der Kinder
durch ein allgemeines Wahlrecht besser zur Geltung gebracht werden können.
({2})
Mit einem Wahlrecht für alle wird sich die Politik nicht
mehr ausschließlich um die Stimmen der Majorität der
Älteren und Erwachsenen bemühen, sondern wird auch
die Anliegen der Kleinsten, Jüngsten und Jugendlichen
nicht mehr aus den Augen verlieren.
({3})
Die Betrachtung des Umfelds aus 80 Zentimetern Augenhöhe muss nicht zu einer Verzwergung der Politik
führen, sondern kann auch eine neue humane Dimension
eröffnen.
({4})
Nun wird eine ganze Reihe von Argumenten dagegen
vorgebracht, beispielsweise dass Eltern eigene Interessen haben, die nicht mit denen der Kinder identisch sind.
Ich nehme das Argument ernst, meine aber, dass Eltern
ohnehin originäre Vertreter ihrer Kinder sind. Dies ist
in vielen anderen Lebensbereichen so. Warum dann
nicht bei der Wahl?
({5})
Es werden immer wieder die Fragen gestellt: Was ist,
wenn Vater und Mutter unterschiedlicher Meinung sind?
Wer darf dann abstimmen? Was ist bei Geschiedenen?
Welche anderen organisatorischen Probleme tun sich in
diesem Bereich noch auf? Ich denke, es ist hinreichend
dargelegt worden - mittlerweile auch im Schrifttum -,
dass alle diese organisatorischen Fragen lösbar sind. Ich
möchte nur stellvertretend auf ein Interview hinweisen,
das der Verfassungsrichter Paul Kirchhof - er ist nicht irgendjemand, sondern ein anerkannter Experte - zu diesem Thema gegeben hat: Alle diese Probleme sind organisatorisch lösbar.
Es wird oft gesagt: Das hat es noch nicht gegeben, das
hat man bisher nirgendwo so gemacht. Das ist vor jeder
Ausweitung des Wahlrechts so kundgetan worden. 1848
wurde das Wahlrecht von den selbstständigen Hausvätern auf alle Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet
hatten, erweitert. 1919 in der Weimarer Republik wurde
das Wahlrecht auf alle Männer und erstmals auch auf
Frauen im Alter von mindestens 20 Jahren ausgedehnt.
1949 in der Bundesrepublik wurde das Wahlrecht ab
21 Jahren eingeführt. 1972 erfolgte die Absenkung des
Wahlalters auf 18 Jahre.
Es gibt einen starken Trend, das Wahlrecht für alle
einzuführen - bei den Kindern und Jugendlichen bis zum
Alter von 18 Jahren wahrgenommen durch die Eltern.
Wir sollten uns diesem Trend nicht entgegenstellen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Wittig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zukunft unserer Gesellschaft sichern, familien- und kinderfreundliche Politik durchsetzen, Belange der jungen
Generation in Gesellschaft und Politik angemessen berücksichtigen - das sind Ziele, die ich voll und ganz unterstütze. Die Frage ist nur: Führt ein Wahlrecht von Geburt an dorthin?
({0})
- Nein.
Behauptet wird: Schließe man Minderjährige von der
Teilnahme an Wahlen aus, bleibe es bei einer Schieflage
der Familien mit Kindern. Dazu muss ich sagen: Eine
Schieflage gab es in der Tat. Nicht umsonst rügte das
Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom
10. November 1998,
({1})
dass die Vorgängerregierung den Familienleistungsausgleich nicht angemessen weiterentwickelt hat. Unsere
Reaktion darauf war: mehr Erziehungsgeld für Kinder,
Erhöhung des Kinderfreibetrages, mehr BAföG, 4 Milliarden Euro für die Einrichtung von Ganztagsschulen,
Steuerentlastungsbetrag usw. Mit anderen Worten: Seit
Jahren arbeiten wir an der Beseitigung der vom Bundesverfassungsgericht gerügten Mängel.
({2})
Wir tun das, was gemäß Art. 38 des Grundgesetzes
vorgesehen ist: Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes
und somit auch die der Kinder und Jugendlichen unter
18 Jahren.
({3})
Eine Teilnahme von Minderjährigen an den Wahlen war
für die Aktionen, die ich vorhin aufgezählt habe, einfach
nicht nötig. Das soll auch so bleiben.
({4})
Herr Haupt, schon die Wahlgrundsätze in Art. 38 des
Grundgesetzes sprechen gegen ein Wahlrecht von Geburt an. Erstens: die unmittelbare Wahl. Die Stimmabgabe ist verfassungsrechtlich nur höchstpersönlich
möglich. Selbst ein Briefwähler hat an Eides Statt zu
versichern, dass er sein Kreuz persönlich gemacht hat.
Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ist in
§ 14 Bundeswahlgesetz normiert.
({5})
Dadurch werden die Grundsätze des Art. 38 Grundgesetz konkretisiert. Wenn man sich Art. 38 Grundgesetz
anschaut, dann sieht man - ich zeige es Ihnen noch einmal -, dass in Abs. 3 ausdrücklich steht, dass das Nähere
ein Bundesgesetz bestimmt. Was wollen Sie also bitte
streichen?
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ergibt
sich natürlich auch daraus, dass zwischen dem wahlberechtigten Kind oder Jugendlichen und dem Wahlbewerber eine dritte Person geschaltet würde. Es wäre eben
nicht sichergestellt, dass der unverfälschte Wille des
Wahlberechtigten zum Durchbruch käme. Zudem würde
sich die Frage stellen, von welchem Willen die Eltern eigentlich ausgehen sollen.
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Nichts verstanden! - Klaus Haupt [FDP]: Sie
haben das Problem nicht erkannt!
Zweitens: die freie Wahl. Da sich die Eltern auch gegen den Willen der schon verständigen Kinder und Jugendlichen an der Wahl beteiligen oder auch nicht beteiligen könnten, kann von einer freien Wahl wohl kaum
die Rede sein. Zudem ist auch nicht auszuschließen, dass
im Rahmen der gewünschten Eltern-Kind-Gespräche
eine Beeinflussung im Sinne der Wahlentscheidung der
Eltern erfolgt.
Drittens: die gleiche Wahl. Sofern Eltern stellvertretend für ihre Kinder zusätzliche Stimmen erhielten, verfügten sie gegenüber anderen Wahlberechtigten über ein
stärkeres Stimmengewicht und somit über einen unterschiedlich großen Einfluss auf das Wahlergebnis. Das
Bundesverfassungsgericht stellt dazu übrigens fest:
({6})
Angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller
Staatsbürger bei der Teilhabe an der Staatswillensbildung darf es keine Wertungen geben, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren.
Viertens: die geheime Wahl. Dieser Grundsatz wäre
auch verletzt, da sich Wahlberechtigter und Vertreter
grundsätzlich austauschen müssten. Die Initiatoren wollen ja gerade, dass die Eltern die Wahlentscheidung mit
den schon verständigen Kindern und Jugendlichen besprechen müssen.
({7})
- Das, was Sie erzählen, ist doch Quatsch.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein Wahlrecht von
Geburt an ist mit den allgemeinen Wahlgrundsätzen des
Grundgesetzes nicht vereinbar.
({8})
Es kann weder erwartet noch kontrolliert werden, ob die
über eine oder mehrere Stimmen verfügenden Eltern
diese auch im Interesse ihrer Kinder einsetzen. Wir Abgeordnete sind die Vertreter des ganzen Volkes; das habe
ich vorhin schon ausgeführt.
({9})
Wir wollen auf unserem Weg zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, zur Verbesserung von Betreuungsmöglichkeiten, zu mehr Selbstbestimmung, meine Herren von der FDP, gegen Fremdbestimmung durch ein
Stellvertreterwahlrecht und zu mehr Beteiligung von
Kindern und Jugendlichen durch das Einüben eines demokratischen Verhaltens weitermarschieren. Um die
Verwirklichung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags
geht es. Sie können gerne mitmachen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Antje Vollmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, ein positives Zwischenergebnis können wir angesichts der Heftigkeit mancher Debattenbeiträge erst
einmal festhalten: Diese Debatte hat der demokratischen
Kultur in diesem Raum auf jeden Fall gut getan.
({0})
Ich kann auch nicht bedauern, dass das Wahlrecht in
dieser Debatte und in der Öffentlichkeit zu einer heiß
umkämpften Kostbarkeit wird. Das nützt dem Wahlrecht, der Demokratie und dem Parlament.
({1})
Die Tonlage der Kritiker wundert mich allerdings
manchmal. Ich bin ja für das Wahlrecht von Geburt an.
Ganz ehrlich: Vieles kommt mir genauso vor - ich habe
einmal die gesamten Akten studiert - wie der damalige
Kampf um das Frauenwahlrecht.
({2})
Man fragte zum Beispiel: Sind sie denn schon einsichtig
genug? Wird das nicht die Mehrheitsverhältnisse ändern?
({3})
All dies sind altbekannte Argumente. Das Wahlrecht in
der Demokratie gilt aber nun einmal ohne Vorbedingungen. Man kann dabei nicht ausrechnen, was zum Schluss
herauskommt; denn das Wahlrecht ist das Königsrecht
der Demokratie.
Im Moment streiten wir vor allen Dingen über den
Punkt: Wer ist eigentlich Bürger dieses Landes? Das
Wahlrecht ist schließlich das vornehmste Bürgerrecht.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der
Bürgerbegriff in der Geschichte tatsächlich eine hochinteressante Entwicklung genommen hat. Im alten
Griechenland war er an das Eigentum und an einen bestimmten Rang gebunden. Danach gab es das Dreiklassenwahlrecht. Dann galt nur das Wahlrecht für Männer,
ab einem bestimmten Zeitpunkt schließlich auch für
Frauen. Später kam noch das Wahlrecht für Ausländer
hinzu. Diesen Gedanken spinnen wir weiter, indem wir
sagen: Bürger ist jeder existierende Mensch dieses Landes. Damit ist das Wahlrecht das zentrale Menschenrecht
in einer Demokratie.
({4})
Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen, von
dem ich vermute, dass er bei einigen der Kritiker eine
Rolle spielt. Kinder vom Wahlrecht auszunehmen geht
von der Idee eines besonderen Schonraums für Kinder
aus, in dem die Politik keine Rolle spielen soll. Es geht
um einen Raum der Privatheit, der von einer meist als
böse verstandenen politischen Welt ausgenommen sein
soll. Nicht nur in diesem Bereich müssen wir feststellen,
dass es in diesem Sinne diesen Schonraum, diesen Freiraum von Politik, Werbemöglichkeiten und anderen Einflussnahmen überhaupt nicht mehr gibt. Kinder sind Objekte von Werbestrategien und Medien. Kinder merken
es, wenn ihre Eltern unter Kriegsängsten leiden. Das
sind Alltagsthemen von Kindern. Deswegen muss man
Abschied von der Idee nehmen, es gebe für Kinder einen
Schonraum, völlig unberührt von dem, was in der Welt
passiert.
Umgekehrt aber wissen alle - das hat sich in den Debatten der letzten Wochen widergespiegelt -, dass die Situation von Familien mit Kindern in einer immer älter
werdenden Gesellschaft außerordentlich schwierig geworden ist. Ich frage mich die ganze Zeit, warum diese
älter werdende Gesellschaft als Geste und Vertrauen
schaffendes Angebot die jüngere Generation, die fast
20 Prozent ausmacht, nicht einfach dadurch einbezieht,
dass sie ihr das Recht gibt, über die Zukunft, die vor allem ihre Zukunft ist, mit zu entscheiden. Das wäre eine
Vertrauen schaffende Maßnahme.
Alle wissen, dass die praktische Umsetzung solcher
Maßnahmen sehr schwierig ist. Deswegen ist es die Absicht der Antragsteller, die Politik durch so eine Entscheidung zu binden. Viele Befürworter dieser Initiative
wollen Politiker dadurch mehr binden, dass sie diese
knapp 20 Prozent der Gesellschaft in ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen.
({5})
Mich wundert bei manchen Kritikern deren Heftigkeit
und Häme. Ich kann nicht umhin, in dieser Häme und
Heftigkeit manchmal auch die Gegenwartsfesselung der
Singlegesellschaft zu sehen. Wenn man die Parallelen
zur Debatte um das Wahlrecht für Frauen sieht, wundert
mich vor allen Dingen, warum sich gerade die herausragenden Vertreterinnen der Feministinnen so heftig gegen
dieses Wahlrecht von Geburt an sperren. Ich persönlich,
die ich von dieser Frauenbewegung sehr viel profitiert
habe, glaube, dass sie an dieser Stelle einen großen historischen Fehler wiederholt. Er besteht darin, in das Zentrum der Fraueninteressen nicht das Leben mit Kindern
zu rücken, sondern nur das Leben der Frauen für sich.
Das war schon in der Vergangenheit ein Fehler der Feministinnen. Ich finde, sie sollten ihn in diesem Fall nicht
wiederholen.
({6})
Es gab einmal eine Zeit, in der alle Argumente gegen
eine Ausweitung des Wahlrechts gegen die Frauen gewendet wurden. Daran sollte man sich gelegentlich erinnern.
Eltern - so wird angeführt - entscheiden für ihre Kinder. Wenn die Eltern nicht für ihre Kinder entscheiden,
dann entscheiden eben diejenigen, die nicht mit Kindern
zu tun haben; denn deren Votum wird Wirkung haben.
Wir wissen doch alle: Eltern entscheiden vieles, auch
Hartes und Schwieriges für Kinder. Sie entscheiden, auf
welche Schule ein Kind kommt, sie entscheiden, welchen Wohnort das Kind hat, sie entscheiden, ob es einer
Religionsgemeinschaft angehört oder nicht und sie entscheiden auch, ob sie sich trennen und die Kinder damit
eine große Belastung des persönlichen Lebens erleiden.
All dieses entscheiden immer Eltern. Das kann man
nicht ändern. Wieso sollen sie nicht auch in diesem Fall
für eine kurze Zeit entscheiden?
Ich bin übrigens sehr dafür, das Wahlalter zu senken.
Das wird ohnehin die Konsequenz sein; denn die Kinder
werden von den Eltern wissen wollen, wie diese das
Wahlrecht verwalten. Sie werden dann sagen, dass sie es
selber früher ausüben wollen. Das ist aber Schule in Demokratie in den Familien. Ehrlich gesagt weiß ich nicht,
was dagegen sprechen soll.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon
erfreulich, dass wir heute über dieses wichtige Thema
eben nicht parteipolitisch diskutieren. Die Meinung zur
Frage eines Familienwahlrechts geht quer durch alle Parteien.
Es ist auch bemerkenswert, dass sich der erste Gruppenantrag in dieser Legislaturperiode mit dem Altersaufbau unserer Gesellschaft beschäftigt, einem Thema, das
uns noch viel mehr beschäftigen und zu Konsequenzen
anleiten sollte.
Es ist ebenfalls bezeichnend, dass wir heute am
1. April über diesen Antrag diskutieren. Heute treten
nämlich Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner
in Kraft. Erstmals werden die Renten in Deutschland de
facto gekürzt.
Der demographische Wandel unserer Gesellschaft
ist eine der größten Herausforderungen, der wir Politiker
uns stellen müssen. Immer mehr ältere Menschen werden immer weniger jüngeren Menschen gegenüberstehen. Im Jahre 2030 werden die über 60-jährigen Menschen knapp 40 Prozent der deutschen Bevölkerung
ausmachen. Zum Vergleich: Heute ist es nur ein Viertel.
Natürlich - das will ich gar nicht bestreiten - wirkt sich
das auf die Wählerstimmen aus. Die junge Generation
hat deswegen die Sorge - die ist berechtigt -, dass ihre
Interessen unter die Räder der quantitativ stärkeren
Wählerklientel geraten könnten.
Angesichts der Situation der umlagefinanzierten Sozialsysteme - Rente, Gesundheit und Pflege - drohen
Rentnerfunktionäre heute schon mit der Gründung einer
Rentnerpartei. Ich halte davon nichts. Wer glaubt, mit einer Rentnerpartei unsere strukturellen Probleme lösen zu
können, irrt gewaltig.
Der Antrag, den wir heute beraten, macht aber auch
eines deutlich: Wir dürfen die Interessen der jungen und
der älteren Generation nicht gegeneinander ausspielen.
({0})
Ich möchte keinen Generationenkrieg heraufbeschwören. Deshalb müssen wir die unbestreitbaren Lasten, die
auf uns zukommen, fair verteilen. Das Ziel des Antrages
ist es, eine nachhaltige Politik im Interesse der Kinder zu
unterstützen. Mit dem Antrag wird das Ziel aber nicht
erreicht, weil sich nicht das Wahlrecht ändern muss, sondern weil sich die Politik ändern muss, damit wir Nachhaltigkeit hinbekommen.
({1})
Das Familienwahlrecht ist nicht geeignet, das Ungleichgewicht zwischen den Generationen zu verändern.
Dass ein neugeborenes Kind nicht zur Wahlurne gehen
kann, ist doch jedem klar. Bei einem Wahlrecht ab Geburt muss also jemand anderer, also ein Stellvertreter,
das Wahlrecht wahrnehmen. Das wären die Eltern oder
die Erziehungsberechtigten. Deswegen, Frau Kollegin
Vollmer, ist die Debatte nicht mit dem Frauenwahlrecht
zu vergleichen.
({2})
Denn das Frauenwahlrecht wäre analog dem Modell des
vorliegenden Antrags eigentlich ein Ehemännerwahlrecht, wobei die Ehemänner das Wahlrecht stellvertretend für die Frauen wahrnehmen. Darum geht es hier
nicht.
({3})
Die Stellvertreter, also die Eltern, vertreten einen Willen, den das Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht äußern
kann. Worin besteht aber der Wille des Kindes? Wonach werden die Eltern entscheiden? Sind es nicht die
Eltern, die dann über den Willen der Kinder entscheiden? Manche Eltern können sich noch nicht einmal auf
den Namen ihres Kindes einigen. Wie sollen sie sich
dann auf die Wahl einer Partei einigen?
({4})
- Das ist nicht „one man, one vote“, weil mit dem Familienwahlrecht nicht die Interessen der Kinder vertreten
werden, sondern die Interessen der Eltern mehr Gewicht
erhalten.
({5}) - Klaus Haupt [FDP]:
Nein!)
- Lieber Kollege Klaus Haupt, ein Vater, der im Steinkohlebergbau arbeitet, wird möglicherweise für sein
Kind die Partei wählen, die die Subvention erhalten will.
Öffentliche Gelder würden weiterhin für die Vergangenheit ausgegeben und für Zukunftsinvestitionen wie Bildung fehlen.
({6})
Ein weiteres Problem ist Folgendes: Was ist denn,
wenn sich während des Reifeprozesses der Jugendlichen
herausstellt, dass sich ihre politische Meinung und die
ihrer Eltern voneinander unterscheiden? Ich bin im Alter
von 16 Jahren Mitglied einer Partei geworden. Welche
Partei hätten denn meine Eltern möglicherweise gewählt, wenn ich mich ihnen gegenüber schon als 16-Jähriger für eine Partei ausgesprochen hätte? Wie kann denn
sichergestellt werden, dass die Eltern die Partei wählen,
die ihr Kind bevorzugt? Wie können wir verhindern,
dass sich die Eltern darauf berufen, dass sie besser wissen, was für ihr Kind gut ist, und dementsprechend wählen? Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl
würde damit unterlaufen.
({7})
Ich will nicht verhehlen, dass sich der Vorschlag sympathisch anhört. Aber mich hat ein Argument für das
Daniel Bahr ({8})
Familienwahlrecht sehr erstaunt. Es wird gesagt, wenn
die jüngere Generation ein erweitertes Stimmrecht hätte,
dann würde die Politik auch mehr auf die Interessen dieser Generation eingehen und sich nicht von den Älteren
dominieren lassen. Das aber ist die Kapitulation der Politik. Damit würden wir zugeben, dass in der Politik die
Entscheidungen eindeutig nach Wählergruppen ausgerichtet werden.
({9})
- Das ist aber nicht unsere Aufgabe, lieber Klaus Haupt.
Unsere Aufgabe ist doch, das Wohl nicht nur unserer
Wählerinnen und Wähler, sondern des gesamten deutschen Volkes zu mehren. Deswegen ist Ihr Vorschlag
nicht geeignet.
({10})
Meine Damen und Herren, wir müssen uns für eine
wirklich generationengerechte Politik engagieren, das
heißt, die strukturellen Probleme in Deutschland zu ändern. Der letzte Finanzierungsüberschuss im Bundeshaushalt wurde 1970 erzielt. Seitdem sind die Schulden
immer weiter gestiegen. Dabei handelt es sich um Hypotheken auf die Zukunft, die wir der jungen und kommenden Generation hinterlassen. Deswegen brauchen wir
Handschellen, die die Politiker an die Aufgabe binden,
eine generationengerechte Politik zu gestalten. Das bedeutet für mich zum Beispiel, dass wir einmal in jeder
Legislaturperiode eine Generationenbilanz auflegen,
die zeigt, welche Lasten der jungen Generation in Form
von Schulden, Pensionslasten und Rentenversprechen
auferlegt werden und welche Zukunftsinvestitionen in
Bildung und Infrastruktur getätigt werden. Mit einer solchen Generationenbilanz wird sichtbar, ob die Politik generationengerecht ist.
Warum verankern wir das Prinzip der Nachhaltigkeit
und Generationengerechtigkeit nicht endlich auch im
Gesetz? Das würde die Politik mehr binden als ein Familienwahlrecht, das nicht in erster Linie den jüngeren Generationen, sondern den Familien zugute kommt.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich möchte mich zunächst einmal bei allen bedanken,
die sich an dieser Diskussion beteiligt haben. Es war
eine wirklich gute und interessante Diskussion, wie man
sie öfter wiederholen sollte.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
gegen den unlauteren Wettbewerb ({1})
- Drucksache 15/1487 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 15/2795 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Jerzy Montag
Es liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der
FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das
Wort.
({4})
Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die vorliegende Reform unseres
Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ist in einer
Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz im
Dialog mit Vertretern der Wirtschaft, der Verbraucherverbände, mit Wissenschaftlern und Richtern intensiv
vorbereitet worden.
Wir sind uns in den Zielen weitgehend einig: Wir
wollen die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken, das Werberecht liberalisieren und die Europatauglichkeit unseres nationalen Rechts verbessern.
({0})
- Was bedeutet das im Einzelnen, Peter?
({1})
Das neue UWG hebt Überregulierungen auf. Sommer- und Winterschlussverkäufe, Jubiläums- und
Räumungsverkäufe werden nicht länger über Verbote
eingeengt. Wir schaffen damit Raum für kreative Verkaufsideen. Auch künftig werden aber Sommer- und
Winterschlussverkäufe möglich sein. Der Einzelhandel
kann solche Verkaufsaktionen zeitlich flexibel und damit auch regional unterschiedlich gestalten und ist auch
nicht wie bisher auf den Verkauf von Saisonartikeln beschränkt. Der Handel kann sich gemeinsam entscheiden,
und zwar innerhalb einer Stadt oder Gemeinde, einer
Einkaufsstraße oder Passage. Wir setzen auf SelbstreguParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
lierung statt auf staatliche Reglementierung. Das Kartellrecht steht dem nicht entgegen. Das hat uns das Bundeskartellamt ausdrücklich bestätigt.
Wichtig ist mir auch: Das neue UWG wird den Verbraucherschutz stärken. Wirtschafts- und Verbraucherrechte sind keine Gegensätze. Im Gegenteil: Die Aufgabe eines modernen Wirtschaftsrechts ist, beidem
gerecht zu werden,
({2})
nämlich die Wirtschaft von unsinnigen Fesseln zu befreien, aber die Verbraucher dabei nicht zum Freiwild
werden zu lassen.
({3})
Verbraucherinnen und Verbraucher werden in unserem Gesetzentwurf erstmals als Schutzsubjekte ausdrücklich erwähnt. Diesen Programmsatz konkretisieren
wir in den Einzelbestimmungen. So wird die belästigende Werbung ausdrücklich geregelt. Ich finde es
richtig, dass wir hier streng sind. Ich teile deshalb nicht
die Auffassung, dass wir künftig die Telefonwerbung,
die bekanntlich bereits nach geltendem Richterrecht verboten ist, erlauben sollten.
({4})
Das würde zu erheblichen Belästigungen der Verbraucher durch Telefonanrufe gerade in den Abendstunden
führen. - Das haben Sie, Herr Funke, scheinbar noch
nicht erlebt, weil Sie eine Geheimnummer haben.
({5})
Das sieht im Übrigen nicht nur die Bundesregierung so.
In einer Umfrage des Westdeutschen Rundfunks lehnten
96,5 Prozent der Befragten unverlangte Telefonwerbung
im privaten Bereich ab.
({6})
Ich möchte noch einmal festhalten: Da hier keine Verschärfung des geltenden Rechts erfolgt, kann diese Regelung schwerlich Arbeitsplätze vernichten. Die Argumente der Werbewirtschaft, die mit großformatigen
Anzeigen wie dieser, die ich gerade hochhalte, gegen
den Gesetzentwurf Front macht, sind schlichtweg falsch.
Ich sage aus Erfahrung: Wer solche Anzeigen nötig hat,
ist immer im Unrecht.
({7})
- Wir schalten nicht solche Anzeigen wie die Werbewirtschaft, sondern farblich gestaltete. Das ist etwas ganz anderes.
Herr Staatssekretär, der Kollege von Klaeden möchte
offenbar - wahrscheinlich weil er auf die Entfernung die
Adresse nicht komplett lesen konnte ({0})
das im Einzelnen vorgelesen bekommen. Das ist möglich, wenn Sie ihm Gelegenheit geben, diese Bitte auch
förmlich vorzutragen.
Ich weiß zwar nicht, was er will, aber bitte.
Herr Staatssekretär, da Sie gerade die Minderwertigkeit eines Anliegens mit der Größe einer Anzeige in Verbindung gebracht haben, frage ich Sie: Können wir damit rechnen, dass die Bundesregierung jetzt beginnt,
ihren Etat für Öffentlichkeitsarbeit zu reduzieren, oder
war das eine verkappte Kritik an der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, die ja mit ähnlich großen Anzeigen Steuermittel zum Fenster hinauswirft?
({0})
Verehrter Herr Kollege von Klaeden, da ich heute und
in den vorangegangenen Tagen häufiger hier anwesend
war, weiß ich, dass Ihre Zwischenfragen nicht immer besonderen Tiefgang haben. Das gilt auch für diejenige,
die Sie gerade gestellt haben. Wenn Sie zugehört hätten,
dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe: wer solche Anzeigen nötig hat. Aber wir machen schönere Anzeigen.
({0})
- Herr Präsident, darf ich noch auf den Zuruf von Herrn
Gehb reagieren?
Ja, Herr Staatssekretär. Wenn Sie aber schönere Anzeigen versprechen, dann müssen Sie die demnächst
auch mitbringen.
Herr Präsident, da ich Ihren scharfen Geist zu schätzen und zu achten weiß, sage ich einfach: bessere Anzeigen als diejenige, die ich hoch gehalten habe. Einverstanden, Herr Gehb?
Wenn Sie die Adresse nicht mehr lesen wollen,
möchte ich meine Rede fortsetzen. Eine erhebliche Verbesserung des Verbraucherschutzes bringt auch die Neuregelung des Gewinnabschöpfungsanspruchs. Wer
vorsätzlich viele Verbraucher um kleine Beträge schädigt, wird den Gewinn künftig nicht behalten können.
Unsere Regelung zum Gewinnabschöpfungsanspruch
geht dem Handel zu weit und den Verbraucherverbänden
nicht weit genug. Das ist ein sicheres Indiz dafür, dass
wir in der Mitte und damit genau richtig liegen.
Ein Blick auf die EU-Regelungen zeigt, dass unser
neues UWG vorbildlich sein wird. In der EU sollen
Wettbewerb und Verbraucherschutz in vollkommen unkoordinierten Vorschriften geregelt werden. Wir dagegen tun gut daran, beides in unserem UWG zu regeln.
Wenn aber Handel und Verbraucher auf Dauer in diesem
gemeinsamen Haus wohnen sollen, dann müssen sich
beide, auch die Verbraucher, darin wohl fühlen. Dazu
brauchen sie eigene, wohnliche Zimmer.
In der EU galt unser altes UWG als antiquiert und in
manchen Bereichen wie eine Zwangsjacke. Bei diesem
Ruf war es für uns schwierig, im Rat Gehör zu finden.
Durch diese Reform können wir uns in Europa künftig
sehen lassen. Dies wird uns helfen, die notwendigen
Nachbesserungen bei den anstehenden Rechtsakten der
EU zu erreichen. Wir haben in der Kooperation mit allen
Beteiligten einen Grundkonsens gefunden, auch und gerade bei den angenehmen Diskussionen der Berichterstatter und in den Ausschüssen dieses Hohen Hauses.
Hierfür möchte ich mich bedanken, auch bei der Opposition. Herr Grosse-Brömer war da sehr hilfreich, Herr
Funke ebenfalls.
({0})
- Ich habe gesagt: Sie waren hilfreich. Das ist doch gut,
oder? Sie haben dazu beigetragen, dass wir nicht so entschieden haben, wie Sie es wollten.
Noch größer wäre meine Freude, wenn die Opposition über ihren Schatten springen und angesichts der nur
noch sehr geringen Differenzen zustimmen könnte. Da
heute Abend keine Sonne scheint, gibt es keinen Schatten; der Sprung würde also nicht so schwer fallen.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Ingo Wellenreuther,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlass dieser Rede ist ein trauriger: Wir beerdigen heute ein weiteres Projekt von Rot-Grün, nämlich
die Schaffung eines modernen Wettbewerbsrechts.
({0})
Es ist noch kein Jahr her, dass es aus dem Justizministerium hieß, Herr Ströbele: Das neue deutsche Wettbewerbsrecht soll das liberalste in ganz Europa werden.
Außerdem hieß es: Deutschland als Vorreiter in Sachen
freier Wettbewerb. Damit sind Sie gescheitert. Die vorliegende UWG-Novelle ist weder wirtschaftsfreundlich
noch praktikabel. Deswegen lehnen wir sie ab.
Seit der ersten Lesung im letzten Herbst ist es Ihnen
nicht gelungen, in entscheidenden Punkten Verbesserungen vorzunehmen.
Thema Telefonmarketing: Sie sind in Ihrem Gesetzentwurf bis heute bei der so genannten Opt-in-Regelung
geblieben. Danach darf nur angerufen werden, wer vorher sein ausdrückliches Einverständnis gegeben hat. Auf
den ersten Blick erscheint dies vernünftig, weil es verständlich zu sein scheint, dass keiner durch ungewollte
Telefonanrufe belästigt werden möchte. Aber bei genauerem Hinsehen ist das kein Argument, weil dadurch
eine ganze Branche aus Deutschland vertrieben wird.
Wir alle wissen, wie es derzeit um die wirtschaftliche
Lage in Deutschland steht: Die Zahl der Arbeitslosen
steigt weiter. Dank rot-grüner Wirtschaftspolitik gibt es
nur noch wenige Bereiche, die heute Wachstum versprechen und Arbeitsplätze schaffen. Einer davon sind die so
genannten Callcenter. Gerade in den neuen Bundesländern haben sich besonders viele solcher Center angesiedelt. In dieser Branche gibt es deutschlandweit knapp
400 000 Arbeitsplätze. Dort wurden über 20 000 Ausbildungsplätze geschaffen.
Auf der einen Seite haben Sie heute Morgen hier im
Bundestag den unsäglichen Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzabgabe vorgestellt und auf der anderen Seite
gefährden Sie durch die UWG-Novelle eine Vielzahl
von Lehrstellen. Das verstehe wer will. Ich bin gespannt,
Herr Hartenbach, wie Sie den Bürgerinnen und Bürgern
diesen Widerspruch klar machen wollen.
({1})
Bereits heute sind viele Callcenter ins Ausland abgewandert. Mit Ihrem Gesetz werden weitere 50 000 Arbeitsplätze vernichtet. Ich kann nur sagen: Deutsches
Wettbewerbsrecht als Standortnachteil. Na, bravo!
Wie dramatisch die Lage wirklich ist, Herr
Hartenbach, beweist eine Anzeige in der „FAZ“ von gestern, die die führenden 13 Callcenterbetreiber geschaltet
haben.
({2})
- Herr Ströbele, zuhören, dann verstehen Sie es besser! Ich zitiere nur kurz:
Dieses Gesetz vernichtet Ausbildungs- und Arbeitsplätze, ist keine Basis für den Übergang ins Informationszeitalter und verlagert massiv Beschäftigung ins liberalere Ausland.
Dies, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ist keine
Stimmungsmache, sondern ein verzweifelter Hilfeschrei
der deutschen Wirtschaft, der Sie wirklich zum Nachdenken bringen sollte. Herr Hartenbach, ich glaube, Sie
müssen sich diese Anzeige noch einmal anschauen.
Haben Sie eigentlich einmal verfolgt, wie die meisten
unserer europäischen Nachbarn den Wettbewerb regeln?
In zwölf von 15 EU-Mitgliedstaaten ist das Telefonmarketing grundsätzlich zulässig. England und Frankreich haben sich für die so genannte Opt-out-Regelung
entschieden. Das heißt, wer nicht mehr mit Telefonwerbung belästigt werden möchte, kann dies im Laufe des
Telefonats kundtun und darf dann nicht mehr telefonisch
beworben werden.
({3})
Unsere Fraktion wäre für einen vernünftigen Kompromiss zu haben gewesen. Wir sind dafür eingetreten,
dass bei bestehenden Geschäftsverbindungen Anrufe
auch ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis gestattet
sein sollen. Im Gegensatz zur Bundesregierung setzen
wir auf den mündigen Bürger, der in seinen Entscheidungen frei ist.
Sie haben sich für die restriktivste Regelung entschieden, mit der Begründung, dass damit nur die ständige
Rechtsprechung in Gesetzesform gegossen wird. Herr
Manzewski, wenn Sie, wie angekündigt, ein liberales
Wettbewerbsrecht schaffen wollen, dann ist das Aufschreiben dieser deutschen Rechtsprechung allein einfach zu wenig.
({4})
Ihre weitere Behauptung, es gebe wegen des im internationalen Recht heute geltenden Marktortprinzips keinen Standortnachteil für deutsche Unternehmen, ist
schlichtweg falsch. Ein englisches Unternehmen, das in
Deutschland werben möchte, muss sich zwar derzeit an
deutsches Recht halten - heute liegen Sie mit dieser Beurteilung also richtig -, aber die Frage ist: Was ist morgen? Der Gesetzesvorschlag von Ihnen steht im Widerspruch zu dem Vorschlag für eine europäische
Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Diese
Richtlinie enthält eine so genannte Binnenmarktklausel, nach der sich jedes Unternehmen nur an das Wettbewerbsrecht seines eigenen Landes halten muss. Wenn
diese Richtlinie planmäßig im nächsten Jahr verabschiedet wird, dann können Unternehmen mit Sitz im Ausland in Deutschland unbeschränkt Telefonmarketing betreiben, während deutsche Unternehmen weiter an die
Opt-in-Regelung gebunden sind.
({5})
- Sie können es nachher erklären, Herr Manzewski.
({6})
Die vorgeschlagene Richtlinie verbietet unerwünschte
Telefonanrufe nur dann, wenn sie hartnäckig erfolgen.
Ein erstmaliger Anruf oder ein Anruf im Rahmen bestehender Geschäftsbeziehungen, den Sie verbieten wollen,
wäre nach dieser EU-Richtlinie also zulässig. Es ist nicht
zu verstehen, warum Sie diese eindeutigen europäischen
Vorgaben ignorieren.
Es ist genauso wenig richtig, dass das Verbot von unerwünschten E-Mails, den so genannten Spams, auch
zum Verbot von Telefonmarketing führen muss. Sie haben sich dabei auf die Mitteilung der Europäischen
Kommission über Spams bezogen. Aber dieser Vergleich
geht ins Leere. Er zeigt eigentlich ganz deutlich, dass Sie
sich mit der Materie nicht intensiv auseinander gesetzt
haben. Die Telefonwerbung ist in dem genannten Entwurf der EU-Richtlinie ausdrücklich geregelt. Diese Regelung ist eine speziellere. Für einen Rückgriff auf die
Spam-Regelung besteht daher kein Raum.
Welch seltsame Konsequenzen Ihr Entwurf haben
wird, möchte ich abschließend an einem kleinen Beispiel
verdeutlichen. Wenn ein Vertreter an der Haustür klingelt und der Verbraucher den Hörer der Sprechanlage abnimmt, ist das zulässiges Marketing. Wenn ein Mitarbeiter eines Callcenters anruft und der Verbraucher ans
Telefon geht, dann soll das unzulässig sein.
({7})
Sie hätten diese kuriose Rechtslage ändern können
- Herr Ströbele, das hätte vorausgesetzt, dass man sie
überhaupt verstanden hat -, aber passiert ist nichts.
Zweites Thema: Gewinnabschöpfungsanspruch.
Rechtspolitisch begrüßen wir den Gedanken, dass jemand das, was er durch wettbewerbswidriges Verhalten
erlangt hat, wieder herausgeben muss. Der Herr Montag
hat gesagt, der Gewinnabschöpfungsanspruch sei ein
scharfes Schwert zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes. Falsch. Das Schwert ist stumpf, und zwar aus
mehreren Gründen:
Erstens. Warum sollten die Verbände von ihrem Klagerecht überhaupt Gebrauch machen? Wenn sie verlieren, tragen sie alle Kosten. Wenn sie gewinnen, müssen
sie den Gewinn an die Staatskasse abführen.
Zweitens. Der ursächliche Zusammenhang zwischen wettbewerbswidrigem Verhalten und erzieltem
Gewinn kann nicht festgestellt werden. Auch die Instanzrichter müssen eine etwaige Schätzung auf Fakten
stützen. Sie können nicht einfach ins Blaue hinein handeln, auch nicht über § 287 ZPO. Meine armen Kollegen
bei den Instanzgerichten tun mir jetzt schon Leid. Die
einzige Folge Ihrer unpraktikablen Regelung ist Rechtsunsicherheit.
Zu guter Letzt lehnen wir Ihren Gesetzentwurf auch
wegen der fehlenden Marktzutrittsregelungen ab. Anders als noch im Referentenentwurf vorgesehen, enthält
die Novelle eine solche Regelung nicht mehr. Mittelständische Unternehmen hätten dadurch vor einer rechtswidrigen Betätigung der Kommunen - sie erschließen sich
wettbewerbswidrig neue Einnahmequellen - geschützt
werden können. Leidtragender ist dabei wieder einmal
der Mittelstand; denn die Tätigkeit der Kommunen führt
zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit dieser
Novelle haben Sie die Chance vergeben, ein liberales
und praktikables Wettbewerbsrecht zu schaffen. Trotz
einiger zugegebenermaßen guter Ansätze in Ihrem Gesetz bleibt es dabei, dass gut gemeint eben nicht gut gemacht ist.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich mich bedanken, und zwar bei meinen Kollegen von SPD und
Grünen für die gute Zusammenarbeit in puncto Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz. Das Gesetz, das wir
heute verabschieden, bringt uns beim Verbraucherschutz
ein großes Stück voran.
({0})
Unternehmer erhalten ein modernes Lauterkeitsrecht,
das schwarze Schafe - zu denken ist zum Beispiel an die
eben erwähnten unerwünschten Telefonanrufe und lästigen Spam-Mails - eindeutig in die Ecke stellt.
({1})
Hier ist klar und unmissverständlich geregelt, dass kein
Werbekontakt ohne die vorherige Einwilligung des Verbrauchers erfolgen darf. Alles andere ist und bleibt
rechtswidrig.
Im Gegensatz zur Opposition wollen wir dem Bürger
nicht zumuten, Zeit, Geld und Nerven aufwenden zu
müssen, um seine Privatsphäre zu schützen.
({2})
Es gibt die einfache Regel: Wenn ich nicht ausdrücklich
auffordere oder zustimme, Werbung zu erhalten, dann
sind mein Telefon, mein PC und mein Briefkasten tabu.
Wir haben dieses Thema im Übrigen auch in einer
Anhörung im Rechtsausschuss intensiv beleuchten lassen. Die Experten haben den Gesetzentwurf in diesem
Punkt ebenfalls mehrheitlich begrüßt und uns eine redaktionelle Klarstellung für Ausnahmen empfohlen, damit zum Beispiel Kundenkontakte im laufenden Vertragsverhältnis unmissverständlich im Rahmen des
UWG liegen. Dem sind wir gefolgt.
Mich wundert, dass die CDU/CSU in diesem Bereich
so unverblümt dem Missbrauch und, wie ich finde, einer
enormen Wirtschafts- und Verbraucherschädigung Rückendeckung gibt. Ich bin gespannt, was Frau Heinen
gleich dazu sagen wird. Arbeitsplätze, die auf einem solchen Missbrauch beruhen, sind auf Sand gebaut. Außerdem muss man betonen, dass diese Belästigungen und
der Missbrauch des gesamten Systems wirklich wirtschaftsschädigenden Charakter haben.
({3})
Also noch einmal: Telefonmarketing ist nur mit der Zustimmung des Kunden erlaubt.
Auch der Gewinnabschöpfungsanspruch, besser gesagt, der Anspruch auf die Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen, ist noch einmal auf seine Praktikabilität hin überprüft worden. Der neu geregelte
Anspruch kann von den Verbraucherverbänden in Zukunft geltend gemacht werden, wenn jemand vorsätzlich
gegen das UWG verstößt und dadurch Gewinne anhäuft.
Bei Werbefaxen - ein typisches Beispiel übrigens -, die
mittlerweile zu Dutzenden täglich dazu auffordern, über
eine kostenpflichtige Nummer die Zusendung wieder abzubestellen, ist der Schaden des Einzelnen möglicherweise gering; der Gesamtgewinn des Werbenden aber
summiert sich bei hunderttausendfach verschickten Faxen beachtlich. Neben dem Recht auf Unterlassungsklage haben Verbraucherorganisationen nun also eine
weitere Möglichkeit, gegen diese Rechtsverstöße vorzugehen.
Wir haben festgestellt, dass das Verfahren noch etwas
vereinfacht werden kann, allerdings nicht in der Art und
Weise, wie es uns die FDP in ihren Änderungsanträgen
empfiehlt.
({4})
Die Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen
hat - das muss man noch einmal sagen - keinen Strafcharakter. Der Gewinn, der dem Unternehmen wegen
rechtswidrigen Verhaltens nicht zusteht, wird wieder
weggenommen. Das ist noch keine Strafe; die würde erst
danach kommen. Mit der Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen wird lediglich der Anreiz genommen, vorsätzlich gegen das UWG zu verstoßen. Damit hat diese Regelung eine präventive Wirkung und das
ist im Grunde auch beabsichtigt.
Dieses Verfahren kann in bewährter Weise durch Verbraucherverbände und die anderen berechtigten Einrichtungen eingeleitet werden. Dass die FDP hier auf einmal
den staatlichen Eingriff fordert, verwundert doch sehr.
Die unrechtmäßig erzielten Gewinne sollen direkt an
den Bundeshaushalt abgeführt werden. Auch das ist eine
Vereinfachung. Zudem wird das Merkmal „auf Kosten
einer Vielzahl von Abnehmern“ durch das Tatbestandsmerkmal „zulasten einer Vielzahl von Abnehmern“ ersetzt. Dadurch soll klargestellt werden, dass der Anspruch auf Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten
Gewinnen nicht die Ermittlung von einzelfallbezogenen
Nachteilen voraussetzt. Vielmehr ist es ausreichend, dass
durch die Zuwiderhandlung eine Schlechterstellung bei
einer Vielzahl von Abnehmern eingetreten ist.
Die letzte wichtige Änderung, die wir mit den Kollegen dankenswerterweise erzielen konnten: Menschenverachtende Werbung ist auch weiterhin eine Unlauterkeitshandlung und daher ausdrücklich verboten. Der
hohe Rang der menschlichen Würde, die durch Art. 1
des Grundgesetzes geschützt ist, erfordert ihre Achtung
und Wahrung auch im Wettbewerb. Wettbewerbshandlungen sind dann menschenverachtend, wenn sie dem
Betroffenen durch Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder durch andere Verhaltensweisen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen. Wir haben mit den Regelungen im Rahmen dieser Novelle
klargestellt, dass wir diese Art von Werbung nicht dulden.
Mit diesen Änderungen - sie betreffen auch andere
Bereiche, nicht nur den Verbraucherschutz - wird das
vorliegende Gesetz eine runde Sache, die auch für
Europa vorbildlich ist. Unlautere Geschäftspraktiken
treffen Konsumenten und Mitbewerber gleichermaßen.
Hier muss es - auch Sie haben es angesprochen - europaweite Regelungen geben. Dafür werden wir uns einsetzen. Denn Wettbewerb macht vor den Grenzen nicht
halt.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Liberalisierung des Lauterkeitsrechts ist eine alte Forderung
der FDP, aber auch der Wirtschaft und des Handels. Wir
freuen uns daher, dass das Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb novelliert wird, nachdem wir schon zu der
Zeit der alten Regierung im Jahr 1996 entsprechende
Anstöße gegeben haben.
({0})
Herr Kollege Hartenbach, Sie haben völlig Recht:
Unser altes UWG-Recht ist antiquiert und muss deswegen novelliert werden.
({1})
Ihr Gesetz jedoch hat Licht und Schatten.
({2})
Ich will zunächst auf das Licht eingehen. Die bisherigen starren Regelungen im Hinblick auf Schlussverkäufe, Jubiläums- und Räumungsverkäufe fallen weg.
Zukünftig soll es jedem Händler erlaubt sein, wann immer er will, eine Sonderaktion durchzuführen.
({3})
Die FDP begrüßt diese neue Regelung ausdrücklich. Sie
entspricht den Vorstellungen einer liberalen Marktordnung. Hiervon werden insbesondere die Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren. Wichtig war uns, dass
die Händler auch weiterhin die Möglichkeit haben, sich
zur Durchführung von Sonderveranstaltungen zusammenzuschließen.
Ich komme nun zum Schatten. Zu den Verlierern des
neuen Wettbewerbsrechts gehören die Anbieter von
Telefonwerbung. Was in Europa fast überall erlaubt ist,
bleibt in Deutschland verboten. Es sei denn, es liegt ein
Einverständnis vor. Der deutsche Sonderweg bei der Telefonwerbung schwächt Wachstumspotenziale und gefährdet Arbeitsplätze,
({4})
auch und gerade in den neuen Bundesländern, wo sich
besonders viele Callcenter angesiedelt haben. Dabei
handelt es sich um Arbeitsplätze, die sich im Übrigen
hervorragend für eine Teilzeitbeschäftigung eignen und
deshalb unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf insbesondere für Beschäftigte mit
Kindern interessant sind.
Der deutsche Sonderweg bei der Telefonwerbung ist
ein weiteres Beispiel für die mittelstandsfeindliche und
arbeitsplatzvernichtende Politik von Rot-Grün.
({5})
Er ist ein Beitrag - das gebe ich zu - zum Aufbau Ost,
nämlich zum Aufbau in Warschau und Prag. Vielleicht
sorgt er auch für einen Aufschwung in Luxemburg und
Irland. Unternehmen werden sich nämlich dort ansiedeln, wo Telefonwerbung erlaubt ist. Nach dem Herkunftslandprinzip können sie dann von dort aus ungestört mit dem deutschen Verbraucher in Kontakt treten.
Lieber Herr Hartenbach, wenn Sie ins Hamburger Telefonbuch schauen, werden Sie darin den Namen Rainer
Funke finden. Jeder kann mich anrufen: jeder Bürger
und natürlich jeder Staatssekretär. Als mündiger Verbraucher bin ich Manns genug, einen Anruf abzuweisen.
({6})
- Mein Name steht doch schon jetzt im Telefonbuch.
Mich kann jeder erreichen.
Unterstützen Sie also unser Bemühen, diese Telefonwerbung wenigstens in eingeschränktem Umfang zu erhalten! Entsprechende Änderungsanträge liegen Ihnen
vor.
Unterstützen Sie uns ferner in unserem Bemühen, den
Gewinnabschöpfungsanspruch aus dem UWG zu
streichen! Der Gewinnabschöpfungsanspruch führt zu
einem nicht akzeptablen Eingriff in den Markt. Unter
dem Vorwand des Verbraucherschutzes räumt Rot-Grün
den Verbraucherschutzverbänden Rechte ein, die dem
deutschen Recht bisher aus gutem Grund fremd waren
und uns eher aus der amerikanischen Rechtsordnung mit
ihren exzessiven Schadensersatzprozessen bekannt sind.
Marktteilnehmer werden unzumutbaren Prozessrisiken
ausgesetzt, ohne dass der Verbraucher irgendeinen Vorteil hätte. Der Gewinnabschöpfungsanspruch liegt allein
im Verbandsinteresse und im Haushaltsinteresse des
Bundes.
({7})
Derartige Interessen haben im UWG nichts zu suchen.
Der Gewinnabschöpfungsanspruch begegnet deshalb
schwer wiegenden rechtssystematischen Bedenken.
Lassen Sie mich zum Schluss zum unfairen Wettbewerb von Kommunen kommen. Unter dem Deckmantel der Daseinsvorsorge stoßen Kommunen in immer
neue Geschäftsfelder vor: in das Friedhofswesen, den
Straßenbau und in viele andere Bereiche. Leidtragende
dieser Entwicklung sind insbesondere kleine und mittlere Betriebe im Mittelstand und im Handwerk,
({8})
die weder über eine garantierte Finanzausstattung noch
über günstige Finanzierungsmöglichkeiten verfügen
({9})
und zudem einem permanenten Insolvenzrisiko unterliegen. Nach geltendem Recht haben die Unternehmen
praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diesen unfairen
Wettbewerb zu wehren.
Herr Kollege Funke, Sie denken an Ihre Redezeit?
Ja, nur noch wenige Sätze, wenn ich darf.
Das UWG wäre ein geeigneter Ort gewesen, diesen
hemmungslosen erwerbswirtschaftlichen Betätigungen
der Kommunen eine enge Grenze zu setzen. Im Übrigen:
Die Regierung war damit einverstanden. Sie wollte diese
Betätigungen nur nicht hier geregelt haben. Aber das ist
eine faule Ausrede; denn gerade diese gehören in das
Wettbewerbsrecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die letzte unvermeidliche Beschimpfung der Bundesregierung war entschieden außerhalb der Redezeit.
({0})
Dafür hat nun das Wort der Kollege Dirk Manzewski
für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute abschließend über die Reform des Gesetzes
gegen den unlauteren Wettbewerb. Streitig sind, auch
wenn das hier anders dargestellt worden ist - ich denke
dabei an die Rede des Kollegen Funke oder an die Rede
des Kollegen Wellenreuther -, allenfalls vier Punkte.
Deswegen braucht man, wenn man Ihre Kritik übernimmt, auch wenn sie mit der Sache nichts zu tun hat,
nicht wie üblich den Untergang des Abendlandes an die
Wand zu malen.
Zum einen geht es um die Frage - das ist hier angesprochen worden -, wie wir zukünftig in Deutschland
mit Telefonmarketing umgehen. Die Bundesregierung
hat sich insoweit für die so genannte Opt-in-Regelung
entschieden. Das heißt, Telefonwerbung darf nur nach
vorherigem Einverständnis mit dem Empfänger erfolgen. Ich halte das anders als Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, für richtig - und dies nicht
nur deshalb, weil die Bundesregierung damit der heute
geltenden Rechtsprechung folgt. Schon heute ist anderes
verboten. Für die Rechtsprechung stellen nämlich unaufgeforderte private Telefonanrufe zur Werbung oder zur
Geschäftsanbahnung einen groben Missbrauch durch unkontrollierbares Eindringen in die häusliche Sphäre dar
und sind deshalb verboten.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land
- einige sitzen ja heute im Zuschauerbereich - können
froh sein, dass das so ist. Wenn man Ihnen folgen würde,
wäre die Konsequenz, dass man zu jeder Tages- und
Nachtzeit Anrufe bekommen würde, um mit mehr oder
weniger frohen und unsinnigen Werbebotschaften und
Angeboten beglückt zu werden. Die Bürgerinnen und
Bürger wären dem hilflos ausgeliefert;
({1})
denn sie wissen ja nicht, wer sie anruft, und sind quasi
gezwungen, zunächst das Telefonat anzunehmen, gleich
wo sie sich gerade befinden und womit sie sich gerade
beschäftigen.
Wenn erst einmal ein Unternehmen damit angefangen
hat, dann wird sich dies ausweiten. Denn andere Unternehmen werden spätestens dann nachziehen müssen,
wenn sie Verluste beim eigenen Marktanteil hinnehmen
müssen. Darauf, dass man sich in diesem Zusammenhang insbesondere die schwächeren Marktteilnehmer heraussuchen wird und bei dieser Art von Werbung die
größeren Unternehmen den kleineren Unternehmen gegenüber klar im Vorteil sind, will ich nicht weiter eingehen.
Im Übrigen - das ist hier nicht richtig deutlich geworden - sind Anrufe nicht völlig ausgeschlossen. Das muss
nur vorher ausdrücklich vereinbart werden. In einem
Vertrag kann geregelt sein, dass Anrufe erlaubt sind.
Auch Anrufe im mutmaßlichen Interesse sind möglich. Wenn zum Beispiel eine Gesetzesänderung durch
den Bundestag Einfluss auf einen LebensversicherungsDirk Manzewski
vertrag hat, kann der Lebensversicherer selbstverständlich bei seinem Kunden anrufen und ihn darauf hinweisen, dass eine Anpassung des Vertrages möglich ist. Das
geht.
({2})
- Natürlich nicht die Konkurrenz. Das wollen wir auch
nicht.
({3})
Wir wollen nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger zu
jeder Tages- und Nachtzeit mit solchen Werbeanrufen
belästigt werden. Wie Sie das anders sehen können, kann
ich nicht begreifen.
({4})
Meine Damen und Herren, dass das alternativlos ist,
zeigt im Grunde genommen schon Ihr eigener Vorschlag. Sie präferieren die so genannte Opt-out-Lösung.
Das heißt, die Unternehmen dürfen nach Belieben anrufen. Derjenige, der dies nicht möchte, muss sich in eine
so genannte Robinsonliste eintragen lassen. Wer sich
darin eintragen lässt, wird angeblich nicht angerufen.
({5})
Aber wer führt diese Robinsonliste? Wer bringt sie immer wieder auf den neuesten Stand? Dabei meine ich
nicht nur Neuanmeldungen, sondern auch Adressen- und
Namensänderungen. Das sind alles ungeklärte Fragen.
({6})
- Man merkt, wie nervös Sie werden, weil Sie dagegen
nicht vernünftig argumentieren können.
Entscheidend ist aber Folgendes: Was passiert, wenn
ein Unternehmen sich einfach nicht an diese Robinsonliste hält, wenn es gleichwohl die hierin festgehaltenen
Personen anruft? Hier wird relativ schnell deutlich, dass
die Robinsonliste überhaupt keine Verbindlichkeit hat.
Dementsprechend hätte ein solches Vorgehen keine
Konsequenzen für die Unternehmen. Weil dies so ist,
stellt sie keine annehmbare Alternative zum Gesetzentwurf dar.
({7})
Wie wenig Erfolg dieser Vorschlag verspricht, ergibt
sich im Übrigen aus Folgendem: Die Werbewirtschaft
hat uns schriftlich mitgeteilt, dass es bei einem gesetzlichen Telefonmarketingverbot zu einem Abbau von Arbeitsplätzen kommen werde. Aber dies kann nur der Fall
sein, wenn schon heute Menschen in einem Bereich arbeiten, der verboten ist. Denn solche Anrufe sind bereits
verboten,
({8})
wenn auch bislang nur durch die Rechtsprechung. Wer
sich heute schon nicht an die Rechtsprechung hält und
derart unerlaubt wirbt, der wird sich erst recht nicht an
eine unverbindliche Robinsonliste halten.
({9})
Herr Kollege Manzewski, jetzt möchten gleich mehrere Kollegen Zusatzfragen stellen.
({0})
Zunächst der Kollege Gehb.
Ja.
Herr Manzewski, habe ich richtig in Erinnerung, dass
Sie bei Forderungen der Opposition, Tatbestände - etwa
Graffiti - unter Strafe zu stellen, häufig gesagt haben,
das habe gar keinen Sinn, weil man der Täter sowieso
nicht habhaft werden könne?
({0})
Wie erklärt sich Ihre spontane Sucht nach Bestrafung im
Vergleich zu Ihrer Haltung, wenn man nachts die Häuser
vollgespritzt bekommt?
({1})
Was? - Ich habe offen gestanden nicht verstanden,
Kollege Gehb, was das mit meinem Vortrag zu tun hat.
Er hat es nicht verstanden, Herr Präsident; dann wiederhole ich die Frage.
({0})
Gerne.
({0})
Habe ich richtig verstanden, dass Sie in der Vergangenheit häufig Forderungen der Opposition nach Bestrafung bestimmter Tatbestände mit dem Einwand begegnet
sind, die Strafbewehrung - materielles Recht - bringe
nichts, weil man der Täter im Verfolgungswege kaum
habhaft werden könne, so etwa beim Graffiti?
Ja.
Worin sehen Sie den Unterschied zwischen der Verfolgung etwa von Graffititätern und der Verfolgung von
Leuten, die einen nachts oder wann auch immer anrufen?
({0})
Können Sie mir das erklären?
Das habe ich immer noch nicht verstanden. Was hat
das eine mit dem anderen zu tun?
({0})
- Die Frage war so dämlich, Kollege Gehb, dass man sie
nicht verstehen konnte.
Nächste Frage.
Nun möchte der Kollege Rossmanith eine Frage stellen.
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
({0})
- Es hilft nicht weiter, wenn der Präsident die Frage verstanden hat, Herr Schauerte. Das muss schon zwischen
dem Fragesteller und dem Redner abgewickelt werden.
({1})
Bitte schön, Herr Rossmanith.
Herr Kollege Manzewski, halten Sie die Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes für so unfähig,
({0})
dass sie nicht in der Lage sind, den Telefonhörer schlicht
und einfach wieder aufzulegen?
({1})
Darf ich diese Frage beantworten, liebe Kolleginnen
und Kollegen? - Das ist genau das Problem, das ich angesprochen hatte. Darum geht es meiner Auffassung
nach nicht. Natürlich können die Bürger entsprechend
reagieren. Aber in jeder Situation - wo immer sie sich
gerade befinden, zu jeder Tages- und Nachtzeit - sind sie
erst einmal gezwungen, sich zum Telefon zu begeben
und das Telefonat anzunehmen.
Sie müssen sich das einfach einmal vorstellen. Das
passiert nicht nur einmal am Tag, sondern mehrfach. Genau diese Situation hat der Bundesgerichtshof als nicht
hinzunehmendes Eindringen in die Privatsphäre bezeichnet. Diese Einschätzung teile ich; das sehe ich genauso
wie der Bundesgerichtshof.
({0})
Ich folge mit meiner Auffassung der ständigen Rechtsprechung dazu.
({1})
Mich wundert im Übrigen schon sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr sich die Opposition andererseits für das Spam-Verbot einsetzt, also gegen die Werbung mittels elektronischer Post. Das wundert mich sehr,
weil die elektronische Post bei weitem nicht so weit in
die Privatsphäre eingreift wie eben Telefonate. Auf eine
SMS-Mitteilung oder eine E-Mail brauche ich nicht immer gleich zu reagieren; ich kann sie mir gegebenenfalls
noch später anschauen oder brauche sie mir, wenn ich
nähere Erkenntnisse über den Adressaten habe, auch gar
nicht anzuschauen. Wenn allerdings das Telefon klingelt
- damit gehe ich noch einmal auf Ihre Frage ein, Herr
Kollege Rossmanith -, sieht das völlig anders aus: Ich
bin gezwungen, den Anruf erst anzunehmen, um festzustellen, wer am anderen Ende ist. Da sehe ich schon einen erheblichen Unterschied.
Wie sehr die Wirtschaft darunter leidet, ergibt sich
nicht zuletzt aus der aktuellen Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament über unerbetene Werbenachrichten. Das ganz große Problem ist, dass sich in
der Regel nicht die seriösen Unternehmen dieses Mediums bedienen, sondern eher die unseriösen Unternehmen. Gerade bei Spam ist es mittlerweile sogar so, dass
die seriösen Unternehmen Angst davor haben. Sie sagen:
Das Medium gerät in ein derart schlechtes Licht, dass
wir mit unserem seriösen Verhalten dort gar keine
Marktchancen mehr haben.
Wenn Sie auf die Situation im europäischen Ausland aufmerksam machen, wo dies tatsächlich laxer gehandhabt wird, dann kann ich Ihnen nur eines sagen:
Man muss nicht jeden Unsinn, der in anderen Ländern
gemacht wird, mitmachen, Herr Kollege Wellenreuther.
Wenn Sie auch noch sagen, die entsprechende Richtlinie
zum UWG handhabe das anders, dann muss ich Ihnen
entgegnen: Die Richtlinie, die Sie angesprochen haben,
geht von einer Vollharmonisierung aus. Einer Vollharmonisierung steht jedoch immer noch Rom II entgegen.
Wenn wir nicht zu einer Vollharmonisierung kommen,
wird bei uns auch nicht das Herkunftsprinzip gelten.
Wie vorsichtig - das ist ganz interessant, weil Herr
Kollege Schauerte gleich noch redet - man mit Liberalisierungen im Wettbewerbsrecht umgehen muss, zeigt im
Übrigen der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte,
nämlich die Abschaffung von Sommer- und Winterschlussverkauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie
sehr hat uns die Wirtschaft noch in der letzten Legislaturperiode immer wieder dazu gedrängt, so schnell wie
möglich Rabattgesetz und Zugabeverordnung abzuschaffen! Mittlerweile hat sich das Bild ein wenig geändert; denn insbesondere beim Einzelhandel hat man feststellen müssen, dass der Bürger trotz vermeintlicher
Billigangebote nur das ausgeben kann, was er im Portemonnaie hat, dass die Großen mehr davon profitieren als
die Kleinen und dass Geiz nicht immer geil sein muss.
Die Bürger werden zurzeit derart mit Rabattaktionen
überfrachtet, dass sich die hiervon versprochenen
Effekte für die Wirtschaft nicht ergeben haben. Ganz im
Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meiner Auffassung nach sind die Verbraucher eher verunsichert.
Ich hatte seinerzeit erhebliche Probleme damit, genauso wie der Kollege Schauerte am Anfang, ich bin
aber als Jurist für eine stringente Regelung. Nach Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung machen
Sommer- und Winterschlussverkauf einfach gar keinen
Sinn mehr, schon allein deshalb nicht, weil anders als
früher kurz zuvor zum Beispiel mit einem Vorsommerschlussverkauf oder einer wie auch immer gearteten ähnlichen Rabattaktion geworben werden darf. Dies hat
nicht zuletzt der letzte Winterschlussverkauf mit seinen
schlechten Ergebnissen gezeigt. Sommer- und Winterschlussverkauf - das hat die Anhörung ergeben - würden einzig noch eine kostenlose Werbung für den Einzelhandel darstellen. Das kann nicht Sinn und Zweck des
UWG sein.
Streitig ist des Weiteren noch die Frage nach dem so
genannten Gewinnabschöpfungsanspruch. Bei unlauteren Wettbewerbshandlungen gibt es bislang nur die
Möglichkeiten einer Unterlassungsklage oder einer
Klage auf Schadenersatz. Insbesondere in den Fällen, in
denen eine Vielzahl von Abnehmern nur zu jeweils kleinen Beträgen geschädigt worden ist, kam es oft zu dem
unbefriedigenden Ergebnis, dass der unlauter Handelnde
den hieraus gezogenen Gewinn behalten durfte. Dies
kann eigentlich niemand ernsthaft wollen, zumal sich
der Anspruch nur gegen vorsätzlich Handelnde richten
soll.
Soweit die Opposition die Gewinnermittlung für
problematisch erachtet, teile ich diese Bedenken, die ich
anfangs auch etwas hatte, nicht mehr. Ich bin insbesondere nach der Befragung des Vertreters des Bundesgerichtshofs in der Sachverständigenanhörung zu dem Ergebnis gekommen, dass dies meinen Kolleginnen und
Kollegen aus der Rechtsprechung keine Probleme bereiten wird. Eine Gewinnermittlung ist insbesondere dem
BGB ja nun auch nicht völlig unbekannt; ich erinnere an
§ 721 und § 252 BGB. Einen Strafrechtscharakter vermag ich auch nicht zu erkennen, da hier kein Strafausspruch erfolgt, sondern lediglich die Herausgabe des widerrechtlich Gewonnenen verlangt wird.
Wenn kritisiert wird, dass sich der Bund dabei etwas
zuschustere, muss man ganz klar sagen: Da sind wir auf
die Ergebnisse der Anhörung eingegangen; das war am
Anfang im Gesetz ganz anders geregelt. Von den Sachverständigen ist der Vorschlag gekommen, dass diese
Gelder - anders, als es geplant war - nicht den Verbänden, sondern dem Bund zufließen sollen. Sie werden mir
Recht geben, dass das die breite Meinung in dem Sachverständigenkollegium war. Ich halte den Gewinnabschöpfungsanspruch für praktikabel und richtig.
({2})
Zuletzt ist von den Vertretern der Opposition gerügt
worden, dass im UWG keine Aussage zum wirtschaftlichen Handeln der öffentlichen Hand gemacht wird.
Ich meine, dass das UWG allgemeinverbindlich zu sein
hat und eine Lex, die die öffentliche Hand betrifft, deshalb nichts im UWG zu suchen hat.
Meine Damen und Herren, ich meine, dass der Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf ein guter Entwurf gelungen ist.
({3})
Ihre Kritik ist marginal und beschränkt sich auf wenige
Punkte. Wie Sie meiner Rede entnommen haben, sind
Ihre Argumente auch nicht besonders stichhaltig.
({4})
Deshalb fordere ich Sie auf,
({5})
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.
({6})
Wir jedenfalls werden das tun.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Ursula Heinen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Das tue ich aber mit ganz besonderem Vergnügen,
weil so viele Fragen offen geblieben sind.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Bundesregierung wollte bei der Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auch EU-Recht beeinflussen und hierfür ein Vorbild schaffen.
({0})
Das ist ein Ziel, das wir durchaus unterstützen. Wir haben immer wieder gesagt, dass das eine gute Idee ist, damit wir in Deutschland einmal Vorreiter für die Rechtsetzung auf europäischer Ebene sind.
Wir brauchen - darüber sind wir uns sicherlich alle
einig - eine grenzübergreifende Harmonisierung des
Lauterkeitsrechts. Aber die Antwort auf eine Frage sind
Sie völlig schuldig geblieben, obwohl verschiedene Kollegen, zum Beispiel Herr Funke oder Herr
Wellenreuther, diese Frage aufgeworfen haben: Wie vereinbaren Sie zum Beispiel beim Telefonmarketing unsere UWG-Regelung mit der Binnenmarktklausel und
der Rechtsetzung im jeweiligen Herkunftsland?
Sprich: Nach der Binnenmarktklausel soll bei Wettbewerbsverstößen - so ist es geplant - das Herkunftslandprinzip gelten. Das heißt, dass ein Unternehmen aus dem
Ausland bei uns in Deutschland anrufen darf.
({1})
In Deutschland gilt der Bezug auf den Marktort, also das
Recht des Angerufenen. Wie wollen Sie diese Regelungen miteinander verbinden? Wie wollen Sie, wenn die
Binnenmarktklausel gilt, verhindern, dass die Unternehmen tatsächlich, wie es manche Kollegen gesagt haben,
vom Ausland aus bei uns in Deutschland anrufen, weil
sie das nach dem EU-Recht dürfen? Die Antwort auf
diese Frage sind Sie schuldig geblieben.
({2})
Daher kann ich Ihnen vorhersagen, dass die von Ihnen
vorgesehene UWG-Bestimmung eine Haltbarkeit von
gerade einmal einem halben Jahr haben wird. Das war
Punkt eins.
({3})
Punkt zwei. Jetzt komme ich auf den Inhalt Ihres Entwurfs zu sprechen. Beim Thema Telefonmarketing zeigt
sich Ihre gesamte Denkweise, was Sie vom Verbraucher
halten und wie er Ihrer Meinung nach geschützt werden
muss. In der Tat scheint es eine gute Idee zu sein, zu sagen, dass die Verbraucher nicht angerufen werden dürfen, das Telefonmarketing also - bis auf laufende
Geschäftsbeziehungen - ganz zu verbieten. Allerdings
muss man dann festlegen, wann es sich um eine laufende Geschäftsbeziehung handelt. Handelt es sich also
um keine laufende Geschäftsbeziehung, wenn man sie
erst vor ein paar Wochen eingegangen ist, sodass man
nicht angerufen werden darf? Oder gilt das erst bei längeren Zeiträumen? Das ist mir nicht ganz klar.
Wir haben vorgeschlagen, eine modifizierte Opt-inRegelung einzuführen. Es wäre in der Tat überhaupt
kein Problem gewesen, sie in Art. 7 aufzunehmen
({4})
und festzulegen: Wenn ein Unternehmen die elektronische Adresse und die Telefonnummer eines Kunden bekommen hat, darf es ihn auch anrufen. Ich verstehe
nicht, warum man diesen Zusatz nicht eingefügt hat. Das
wäre eine Opt-in-Regelung gewesen, die eine Ausnahme
ermöglicht. Das wäre gegenüber der Wirtschaft und den
Verbrauchern fair gewesen.
({5})
Welche Regelung besteht jetzt? Nach Ihrem Vorschlag darf beispielsweise die Firma Mercedes-Benz
keinen BMW-Kunden mehr anrufen,
({6})
weil es sich hierbei nicht um eine laufende Geschäftsbeziehung handelt. Aber wie sieht es beim Thema Wahlwerbung aus, die natürlich gesondert geregelt wird? Sie,
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dürfen
meine mutmaßlichen Wähler belästigen.
({7})
Ich finde, Sie müssten auch dem einen Riegel vorschieben. Wieso darf die SPD meine Leute anrufen, aber Mercedes-Benz die BMW-Kunden nicht anrufen? Ich muss
sagen: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.
({8})
Wenn Sie glauben, dass Ihre Anrufe die Leute nicht nerven, dann ist Ihnen nicht zu helfen.
Tatsächlich gehen Ihre Vorstellungen an der Lebenswirklichkeit vorbei.
({9})
Ich kann Sie nur herzlich auffordern, sich noch einmal
anzuschauen, was Sie da angerichtet haben, und zu versuchen, unseren Vorschlägen, die auch von der Wirtschaft unterstützt werden, entgegenzukommen. Wir
kümmern uns um die Verbraucher, wir kümmern uns
aber auch um die Wirtschaft, weil es um den Ausgleich
der Interessen beider geht.
({10})
Ich will noch etwas zu den E-Mails sagen: Ich
glaube, Sie haben nicht ganz begriffen, warum Firmen
anrufen. Sie rufen doch nicht an, um die Leute zu belästigen;
({11})
sie wollen Kunden werben. Es gibt einen Unterschied
zwischen automatisierten E-Mails bzw. Faxen und persönlichen Anrufen über Callcenter;
({12})
das sollten Sie bei Ihren Überlegungen beachten.
({13})
Ich wette mit Ihnen heute hier, dass wir, wenn die
Binnenmarktklausel, das EU-Recht kommt, wir wieder
hier sitzen müssen, um das UWG zu überarbeiten - wie
alles, was Sie hier in diesem Hause durchpeitschen.
Danke schön.
({14})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will drei Punkte noch einmal kurz ansprechen;
denn eigentlich beschäftigen wir uns mit einer Materie,
bei der man sich nicht streiten muss, wenn guter Wille
auf allen Seiten da ist.
Das eine ist das Thema Gewinnabschöpfungsanspruch. Sie haben ja nachgebessert - Sie haben selber
erkannt, dass Ihre ersten Entwürfe viel zu weit gingen
und bestimmten Klagen und Fehlentwicklungen Tür und
Tor geöffnet hätten -, eine Beschränkung auf Vorsatz
vorgenommen und verfügt, dass der abgeschöpfte Gewinn an eine staatliche Stelle abzuführen sei. Die Regelung ist aber sehr kompliziert. Immer noch besteht ein
hohes Interesse, zu klagen.
Wir haben eine einfachere Regelung vorgeschlagen:
Die Gewinnabschöpfung soll das Kartellamt vornehmen;
der Fall soll beim Kartellamt landen. Das ist ein absolut
handhabbarer Weg: Keiner muss Angst haben, dass seine
Geschäftsgeheimnisse, seine kalkulatorischen Grundlagen vor einer staunenden Öffentlichkeit ausgebreitet
werden. Das Kartellamt kennt die Fälle und die Probleme ohnehin; das wäre einfach zu handhaben gewesen
und vernünftig. Sie haben sich dem nicht beugen können, weil Sie Ihren Verbraucherverbänden etwas Geschmäckle machen wollten, ein eigenes geschäftliches
Interesse, permanent solche Klagen anzustrengen.
Wir sagen: Vorsicht! Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse im Wettbewerbsrecht. Sie alle wissen, wie das die Wirtschaft lähmen kann, zu welchen
abstrusen Entwicklungen das führen kann, wie fehlgesteuert reine Geldinteressen sind, wie Abmahnvereine
ihr Unwesen entwickeln, sodass man nicht mehr zum
normalen Wirtschaften kommt. Deshalb ist unsere Empfehlung: Ändern Sie Ihre Position an der Stelle noch einmal und öffnen Sie sich unseren Vorschlägen! Ansonsten
werden wir es ändern, wenn wir regieren. Wir halten Ihren Weg für falsch.
({0})
Der zweite Punkt ist das Sonderveranstaltungsrecht.
Wir haben das Rabattgesetz Gott sei Dank gemeinsam
abgeschafft. Der Wunsch nach der Durchführung von
Sommer- bzw. Winterschlussverkäufen ist jetzt problematisch. Deswegen haben wir uns dem nicht geöffnet,
auch wenn die Verbände das gefordert haben. Klar sein
muss aber - das hätte man etwas klarer machen können,
wenn man es in die Begründung aufgenommen hätte -,
dass die Verbände gemeinsam einen Sommer- oder einen
Winterschlussverkauf oder allgemein einen Schlussverkauf für eine Region und für eine bestimmte Zeit verabreden können. Was natürlich nicht sein darf, sind Preisvereinbarungen. Es gibt ein berechtigtes Interesse des
Handels, solche Vereinbarungen treffen zu können. Aber
diesbezüglich ist Ihr Gesetzentwurf unserer Meinung
nach nicht klar genug formuliert. Nach dem, was ich
höre, will sich das Bundeskartellamt vernünftig verhalten, von den Länderkartellbehörden droht aber das eine
oder andere.
({1})
Wenn es in der Begründung etwas klarer formuliert worden wäre, hätten wir dieses Problem lösen können.
({2})
Ich will einen dritten Punkt benennen, der heute noch
gar nicht angesprochen worden ist, den wir allerdings
unter Mittelstandsgesichtspunkten für sehr wichtig halten. Wir hatten mit einer Reihe von Verbänden darum
gebeten, die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im UWG-Recht mit zu erfassen. In der jetzigen Fassung sieht § 3 Nr. 11 vor, das Marktverhalten im Interesse der Marktteilnehmer zu regeln. Wir wollten, dass
„oder den Marktzutritt“ hinzugefügt wird.
Was verbirgt sich hinter dieser schlichten Formulierung? Sie wissen, dass wir unendlich viele Abgrenzungsprobleme haben und in wachsendem Maße bekommen werden, was öffentliche Hände wirtschaftlich tun
sollen und was die Privatwirtschaft tun soll. In vielen
Ländergesetzen wurde beschlossen, was die öffentlichen
Hände in Form von wirtschaftlicher Betätigung nicht tun
sollen. Wir wollen mit diesem kleinen Zusatz an unser
Bestreben erinnern, dass sich alle an diese Landesgesetze halten. Wir müssen es an irgendeiner Stelle ahnden
und unter Strafe stellen, wenn dies nicht geschieht.
Eigentlich ist an die SPD die Frage zu stellen: Warum
wollt ihr nicht, dass ein Gesetz, das ihr selber auf Bundes- oder auf Landesebene beschlossen habt, anschließend auch ernsthaft beachtet und eingehalten wird? Nur
um diese Frage ging es. Ihrer Klärung haben Sie sich
verweigert; das ist schade. Wir werden deswegen eine
Reihe weiterer Prozesse führen müssen. Sie alle kennen
die Abgrenzungsprobleme, die vermeidbar gewesen wären. Wenn man einen eindeutigen Hinweis darauf ins
Gesetz geschrieben hätte, hätte jeder, auch jeder Kämmerer, gewusst, worauf er zu achten hat; denn die Marktzutrittsregelungen sind genauso ernsthafte Wettbewerbsund Lauterkeitsregeln wie die Marktverhaltensregelungen. Eigentlich gehört das sinnvollerweise zusammen.
Hier lagen die Unterschiede.
80 oder 90 Prozent dessen, was jetzt vorliegt, ist vernünftig; das haben wir gemeinsam entwickelt. Da es
beim Rest an Vernunft bei Ihnen gefehlt hat - das ist, gemessen an Ihren sonstigen Gesetzgebungsvorhaben, eine
ausgesprochen kleine Defizitquote -, können wir nicht
zustimmen. Dafür werden Sie sicherlich Verständnis haben.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
gegen den unlauteren Wettbewerb auf der Drucksache 15/1487. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/2795, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegen vier Änderungsanträge der FDP-Fraktion vor, über die wir zuerst
abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2852? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2853? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2854? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich ahne, was mit dem vierten Änderungsantrag auf
Drucksache 15/2855 passiert. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Es reicht nicht;
der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cajus
Caesar, Peter H. Carstensen ({0}),
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und
Forstwirtschaft stärken
- Drucksache 15/2747 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine halbe
Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Cajus Caesar das Wort.
({2})
- Wenn ich „Julius“ gesagt hätte, könnte er meinen, er
hätte noch zusätzliche Redezeit. Davon kann keine Rede
sein.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Union sieht im Erhalt unserer Urwälder eine der
zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft.
Wichtig ist dies, um die Ernährung der vor Ort lebenden
Menschen zu sichern, für den Klimaschutz, für die Artenvielfalt und die komplexen Ökosysteme, aber natürlich auch um den wertvollen Rohstoff Holz nachhaltig
zur Verfügung zu haben.
Illegalität, Kriminalität und auch Profitgier Einzelner
dürfen nicht zulasten der Natur und unserer Gesamtgesellschaft gehen. CDU und CSU wollen deshalb mit dem
hier eingebrachten Antrag deutlich machen, wie wichtig
dieses Vorhaben auch für unsere Kinder, für unsere Enkel, ja für die zukünftigen Generationen ist. Unser Antrag findet aufgrund seiner Wichtigkeit daher sicherlich
die Unterstützung aller Fraktionen.
({0})
15 Millionen Hektar Urwald gehen jährlich verloren.
Das entspricht der Fläche von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Das ist eine riesige Fläche, die
jährlich verloren geht. Hier in Deutschland reden wir
über Versiegelung, dort reden wir über Verwüstung, Versteppung und damit auch über eine Vernachlässigung unseres Klimas.
Nur 20 Prozent der Urwälder sind noch unberührt.
Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Handlungsbedarf. Wir setzen darauf, dass die Bundesregierung vor dem Hintergrund unserer sechs Punkte in diesem Bereich tätig wird; denn das ist wichtig. Wir bitten
die Bundesregierung deshalb, den illegalen Holzeinschlag schnellstmöglich zu stoppen. Durch Raubbau,
durch illegalen Einschlag werden riesige Flächen entwaldet. Diese Flächen werden innerhalb kürzester Zeit
- drei bis fünf Jahre - vorübergehend landwirtschaftlich
genutzt. Dann versteppen sie oder sie werden zur Wüste.
({1})
Schauen wir uns einmal die Verhältnismäßigkeit der
Mittel an, die wir zum Klimaschutz und zur CO2-Reduzierung einsetzen. In diesen Tagen streitet die Bundesregierung über den Emissionshandel.
({2})
Wir reden über die zukünftigen Regelungen im EEG.
Wir diskutieren auch darüber, ob wir 2, 2,5 oder 3 Milliarden Euro im Zuge von Stromeinspeisung für die erneuerbaren Energien ausgeben. Hinzu kommen rund
500 Millionen Euro als Steuersubventionen für Investitionen und rund 500 Millionen Euro allein in Norddeutschland für die Kosten der Netzerweiterung. Die
Tatsache, dass gleichzeitig täglich 40 000 Hektar Wald
auf Dauer verloren gehen und versteppen, hat weitaus
größere Auswirkungen auf das Klima. Da richten wir
mit zweieinhalb Milliarden Euro im Jahr für den Klimaschutz nur wenig aus. Das kann nicht sein.
({3})
Wie sieht es mit den entsprechenden Mitteln im Bundeshaushalt aus? 1998, zu Unionszeiten, hatten wir noch
etwa 130 bis 150 Millionen Euro pro Jahr für diesen Bereich im Haushalt. Die Mittel sind kontinuierlich zurückgegangen auf jetzt rund 100 Millionen Euro im Jahr. Dadurch werden wichtige Projekte vernachlässigt. Das
trägt nicht dazu bei, voranzukommen, stattdessen schreitet die negative Entwicklung weiter fort. Deshalb bitten
wir als Union Sie, hinsichtlich dieses Antrages tätig zu
werden, sowohl haushaltsrelevant als auch gesetzgeberisch.
({4})
Dies ist auch eine Frage der Wirtschaft. Sie haben einen Zwischenruf gemacht. Sie sollten natürlich auch an
die Kooperation zwischen den Menschen vor Ort, an die
wirtschaftliche Entwicklung und an den Klimaschutz
denken. Wenn Holz in Deutschland illegal eingeführt
wird, dann schadet das auch unserer Holzwirtschaft,
({5})
weil das Holz zu Dumpingpreisen verkauft wird.
({6})
Herr Kollege Caesar, darf der Kollege Schauerte eine
Zwischenfrage stellen?
Aber selbstverständlich, Herr Präsident.
Herr Kollege Caesar, ich bedanke mich für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Wir alle sind der
Meinung, dass für die Rettung des Urwalds unterschiedliche Wege möglich sind, aber viel getan werden muss.
Was halten Sie von Aktionen wie die meiner benachbarten Brauerei Krombacher, die sagt: Wenn man einen
Kasten Bier von ihr kauft, kauft und sichert sie dafür
dauerhaft 1 Quadratmeter Urwald?
Ich bedanke mich beim Kollegen Schauerte für diese
Frage.
Natürlich ist es sinnvoll, wenn sich jeder Einzelne aus
dem Bereich der Naturschutzverbände und der Wirtschaft sowie natürlich auch jeder von uns für die Erhaltung des Urwaldes und damit natürlich auch für die dort
lebenden Menschen, für die Natur und für die wirtschaftliche Entwicklung der Menschen dort und hier engagiert.
Deshalb können wir solche Aktionen auch nur unterstützen. Ich darf sagen: Das ist sehr positiv. Weiter so - auch
im Kreis Olpe!
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir
von der Verhältnismäßigkeit reden, dann ist es schon
wichtig, dass wir dabei natürlich auch daran denken,
dass es nicht sein kann, dass wir den 1,3 Millionen
Waldbesitzern hier durch eine geplante Novellierung
des Bundeswaldgesetzes vorschreiben wollen, welche
Pflanze auf welchem Quadratmeter in welcher Höhe gesetzt wird, gleichzeitig aber das Große aus den Augen
verlieren. Ich denke, es ist wichtig, zu wissen, dass
50 Prozent aller Pflanzenarten der Welt in den tropischen
Urwäldern vorkommen. Deshalb gilt es, hier den Schutz
anzusetzen. Auf einem Hektar Regenwald am Amazonas
leben etwa 400 verschiedene Baumarten und damit mehr
als in ganz Europa. Auch das zeigt, wie wertvoll diese
Gebiete für unsere Natur sind.
Diejenigen, die durch die Natur schreiten, wissen,
dass es hier etwa einige Monate dauert, bis aus den Blättern Humus wird. Schauen wir uns einmal die Besonderheiten des Urwaldes an. Was glauben Sie, wie lange es
im Tropenwald dauert? - Dort sind es vier Tage. Daran
erkennen wir, welche Kräfte das Klima dort freisetzt und
welche Möglichkeiten dort vorhanden sind. 50 000 verschiedene Tierarten leben im Regenwald auf einem Quadratkilometer. Deshalb sagen wir als Union: Es lohnt
sich, hier tätig zu werden und den Urwald für unsere
Welt, für unsere Generation und auch für unsere Kinder
zu erhalten, zu schützen und dort, wo er zerstört wurde,
wieder zu entwickeln.
({1})
Wesentlich ist auch - darüber haben wir auch hier im
Plenum schon mehrfach diskutiert -, wie es mit unserem
Wasservorkommen und unserer Wasserreinheit aussieht. Schauen wir uns einmal die Tropenwälder an.
Diese versorgen 1 Milliarde Menschen mit Süßwasser.
Sie sind zudem ein gigantischer Filter für Luft und Wasser. Auch dies dürfen wir nicht außer Acht lassen. Diese
Urwälder sind in Hundert Millionen Jahren entstanden
und werden in wenigen Jahren zerstört.
Es ist wichtig, den Lebensraum der Menschen vor
Ort, die direkt im Wald leben, zu sichern. Nur ein Wald,
der seinen An- und Bewohnern die Chance des wirtschaftlichen Überlebens bietet, kann auf Dauer selbst
überleben. Deshalb müssen wir uns anschauen, wie die
Menschen vor Ort ihren Wald beobachten und wie sie jagen, fischen und sich von Wildpflanzen ernähren. Dabei
nehmen sie von der Natur nicht mehr in Anspruch, als
erforderlich ist, um auf Dauer - also nachhaltig - dort leben zu können.
Wenn die Wälder dort illegal genutzt und abgeholzt
werden, dann bedeutet das, dass diesen Menschen ihre
Lebensgrundlage genommen wird und sie in die Städte
abwandern müssen. In den Armutsvierteln der Städte leben sie dann in Armut, unterernährt und in Arbeitslosigkeit. Auch das muss man hier berücksichtigen. Das betrifft nicht einen oder zehn, sondern zig Millionen
Menschen.
Es ist wichtig, zu beobachten, was dort geschieht.
Durch die illegale Nutzung eines wertvollen Mahagonistammes, der dort für etwa 30 Euro erworben wird, ist
es möglich, auf dem Exportmarkt 3 000 Euro zu erzielen. Wenn man den Stamm in Blockwaren massiv und
Furnierholz zerlegt, dann kann er beim Verkauf an den
Endverbraucher einen Wert von rund 100 000 Euro erzielen. Daran erkennen Sie die Gewinnspannen. Das
kann nicht sein. Das schadet allen - auch unserem Holzmarkt. Deshalb müssen wir hier tätig werden.
({2})
Noch gibt es 13,5 Millionen Quadratkilometer Urwald. Das sind aber nur noch etwa 20 Prozent der ursprünglichen unberührten Fläche. Deshalb müssen wir
handeln: an der Westküste Kanadas mit tausendjährigen
Zedern, Fichten, Tannen und dem Vorkommen des Wolfes genauso wie in den Bergwäldern Chiles, aber auch
im westlichen Russland, in den Schneewäldern Sibiriens, in den Regenwäldern Südostasiens oder in den Regenwäldern des Amazonas mit über 60 000 Pflanzen,
1 000 Vogel- und mehr als 300 Säugetierarten.
Was sollte die Bundesregierung tun? Wir haben das in
unserem Antrag in sechs Punkten formuliert. Es ist aber
zusätzlich wichtig, dass durch Waldinventuren die
wertvollen Gebiete - ich meine wertvoll für die Natur,
den Artenschutz und die wirtschaftliche Entwicklung dokumentiert werden und dass insbesondere durch internationale Vereinbarungen sichergestellt wird, diese
Gebiete zu erhalten. Unser Antrag zielt darauf, das Miteinander von Schutz, Erhalten und nachhaltiger Entwicklung zu gewährleisten. Nachhaltige Entwicklung ist
nichts anderes, als nicht mehr Holz zu nutzen, als im
gleichen Zeitraum auf einer bestimmten Fläche nachwächst.
Wir müssen die Rahmenbedingungen für die vor Ort
lebenden Menschen entsprechend gestalten. Das hat etwas mit dem Wald, mit legaler Holznutzung, aber auch
mit der dortigen Landwirtschaft zu tun. Man muss wissen, dass viele Flächen nur wenige Jahre landwirtschaftlich genutzt werden können, weil dann die Nährstoffe
verbraucht sind. Damit gehen diese Flächen für die Ernährung der Bevölkerung endgültig verloren. Deshalb
muss man auch im Rahmen der Landwirtschaft tätig
werden, wodurch die Lebensgrundlagen der Menschen
gewährleistet werden können, sodass sie nicht auf Einnahmen aus dem Wald angewiesen sind.
Wir müssen im Bereich der Entwicklungshilfe bei
der Ausbildung aktiv werden. An unseren Fachhochschulen und Universitäten müssen wir junge Menschen
ausbilden, die anschließend vor Ort tätig sein werden.
Wir müssen aber auch internationale Instrumente und
Vereinbarungen nutzen, um hier voranzukommen, indem
wir nur zertifiziertes Holz aus nachhaltiger Wirtschaft in
unseren Wirtschaftskreislauf einführen. Wir müssen
ebenso dafür sorgen, dass Bereiche, die illegal abgeholzt
wurden und noch nicht versteppt und verwüstet sind,
durch Wiederaufforstungsmaßnahmen und auch durch
Plantagen - das sage ich ganz deutlich; denn eine Plantage ist mir immer noch lieber als eine Wüste - wieder in
den Kreislauf eingebunden werden.
Ich sage es noch einmal: Schluss mit illegalem Holzeinschlag! Es ist besonders wichtig, dass nicht jährlich
eine bewaldete Fläche von der Größe der Waldfläche der
Bundesrepublik Deutschland verloren geht. Das können
und dürfen wir uns nicht leisten, sonst steht im
Jahre 2050 - so sagen es die Experten - am Amazonas
kein Baum mehr.
Wir werden unserer Verantwortung nur dann gerecht,
wenn wir jetzt tatsächlich aktiv werden. Deshalb darf ich
Sie alle bitten: Unterstützen Sie die sechs Forderungen
in unserem Antrag! Dann sind wir im Bereich der Armutsbekämpfung, des Klimaschutzes, der Artenvielfalt
und der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung auf
dem richtigen Weg.
Ich bedanke mich.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Caesar, nicht Sie, sondern Greenpeace hat vor kurzem den Entwurf eines Urwaldschutzgesetzes in die Diskussion gebracht. Ich habe dieses wichtige Thema in der
letzten Plenardebatte zum Wald aufgegriffen und eine
gemeinsame politische Initiative aller Fraktionen dieses
Hauses angeboten. Dieses Angebot steht nach wie vor.
({0})
Ich war allerdings schon überrascht, dass Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion,
dieses Angebot nicht aufgegriffen haben
({1})
und nun Ihren Antrag im Alleingang präsentieren. Was
sagt uns das? Sie haben mit diesem Verhalten wieder
einmal Ihre Schwäche unter Beweis gestellt.
({2})
Sie machen dicke Backen, sorgen aber nicht für die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten, um Ihre Anliegen durchzubringen. Für die Sache wäre ein breiter politischer Konsens wichtig. Vielleicht, Herr Kollege
Caesar, bekommen wir das im Ausschuss hin.
Man sieht es dem Holz nicht an, ob es legal oder illegal geschlagen wurde. Wir finden es deshalb richtig,
dass dem Importeur eine Pflicht zur Nachvollziehbarkeit der Produkt- und Handelskette auferlegt wird.
Das ist eine Forderung in Ihrem Antrag. Wie können wir
das erreichen? Ein wirksamer Weg ist eine umfassende,
international anerkannte Zertifizierung, die auch die sozialen Belange der Länder und deren Bevölkerung einschließt. FSC ist zurzeit das einzige Siegel, das diese
Kriterien im internationalen Maßstab erfüllt. Wenn es Ihnen mit Ihrer Forderung ernst ist, dann müssen Sie Ihren
ideologisch befrachteten Widerstand gegen dieses Siegel
endlich aufgeben.
Ihr vorliegender Antrag beschränkt sich fast ausschließlich auf nationale Sanktionen. Das ist uns zu wenig. Mit nationalen Alleingängen retten wir die Urwälder nicht. Wir brauchen weltweit völkerrechtlich
verbindliche Regelungen.
({3})
Die Bundesregierung ist auf internationaler Ebene treibende Kraft.
({4})
Dazu zwei Beispiele. Das erste Beispiel ist die
7. Vertragsstaatenkonferenz zur Konvention über die
biologische Vielfalt. Bis 2010 soll ein internationales
Netzwerk von geschützten Gebieten zu Land und bis
2012 ein solches für die Weltmeere geschaffen werden.
Das zweite Beispiel ist der europäische Aktionsplan zum
Schutz der internationalen Wälder, kurz: FLEGT. Mit
den betroffenen Ländern werden Partnerschaften geschlossen und gemeinsam wirksame Systeme zur Rückverfolgbarkeit des Holzes entwickelt. Dies geschieht
übrigens zurzeit mit Russland.
Um international glaubwürdig zu bleiben, müssen wir
alle uns zur Verfügung stehenden nationalen Maßnahmen ausschöpfen. Das ist überhaupt keine Frage. Ein
wirksames Instrument könnte vielleicht das Geldwäschegesetz sein. Aber ist es richtig und sinnvoll, eine
rein nationale Insellösung anzustreben? Wir haben ein
starkes Europa und müssen den Raubbau an den letzten
Urwäldern gemeinsam bekämpfen. Das ist eine viel wirkungsvollere Strategie.
Die Europäische Kommission arbeitet zurzeit an
einem Verordnungsvorschlag zum Nachweis der legalen
Herkunft von Holz in der EU. Ergebnisse werden bis
Mitte dieses Jahres erwartet. Ich bin schon über das Verhalten der CDU/CSU in diesem Punkt überrascht. Sonst
sind Sie doch auch immer gegen nationale Alleingänge.
Ich habe noch sehr wohl die Diskussion über die
Schweinehaltungsverordnung und die Käfighaltung von
Legehennen im Ohr. Da hieß es: Bloß kein deutscher
Sonderweg. - Und jetzt? Volle Rolle rückwärts. Das ist
schon ein bisschen erstaunlich.
Was können wir noch tun, um Importe von illegal geschlagenem Holz einzudämmen? Wir stärken den Absatz von heimischem Holz, zum Beispiel mit der Charta
für Holz. Die Chancen stehen gut; denn wir haben deutlich mehr Holzressourcen, als wir verbrauchen. Im Gegensatz zu den Urwäldern, die immer mehr schwinden,
wachsen unsere Holz- und Waldbestände. Dies ist ein
Erfolg rot-grüner Umwelt- und Wirtschaftspolitik.
({5})
Mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes und
der Festschreibung naturnaher Waldwirtschaft werden
wir diesen Erfolgskurs fortsetzen. Wir machen das auch
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sie, Herr Kollege Caesar, haben es angesprochen. Dieses Gesetz
schließt unsere Wälder als Energieträger ein und sieht
eine angemessene Förderung von Waldholz als Biomasse zur Stromgewinnung vor. Ihnen ist diese Aufwertung in Ihrer Regierungszeit nicht gelungen, obwohl Ihnen der Wald offensichtlich so am Herzen liegt.
Das Gesetz wird morgen hier im Bundestag beschlossen werden.
Sie werden es nicht ablehnen können, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
({6})
wenn es Ihnen wirklich ernst mit den Wäldern ist.
Morgen werden Sie in diesem Hause Ihre politische
Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass Sie sie, wie schon so oft, wieder einmal verspielen werden. Ihre großen Worte sind
nichts als heiße Luft,
({7})
die möglicherweise zur Klimaerwärmung, aber nicht
zum Schutz unserer Wälder beitragen werden.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
Sie hier noch ausharren! Frau Hiller-Ohm, es ist schon
einzigartig, die Schweinehaltungsverordnung mit dem
Urwald in Indonesien in Verbindung zu bringen. Ich
habe nicht den Eindruck, dass Ihnen der Urwaldschutz
wirklich am Herzen liegt.
({0})
Jeder von uns hat eine Vorstellung davon, was Urwälder sind. Sie sind Sinnbild für eine ursprüngliche Natur.
Weil wir in Deutschland fast keine ursprüngliche, vom
Menschen nicht beeinflusste Natur mehr haben, üben
Urwälder eine besondere Faszination auf uns aus.
Wir beobachten seit Jahrzehnten die Zerstörung der
Urwälder der Erde. Der brutale illegale Raubbau ist eine
wesentliche Ursache dafür. Ich finde, Sie haben das eindrucksvoll beschrieben, Herr Caesar. Die Armut der Bevölkerung in verschiedenen Ländern der Erde trägt aber
ebenfalls zur Zerstörung der Urwälder bei.
Wir brauchen die Urwälder für die Menschen vor Ort,
für den Schutz von Klima, Wasser und Artenvielfalt,
aber auch als Quelle für den nachwachsenden Rohstoff
Holz. Für die Bekämpfung beider Ursachen für die Zerstörung von Urwäldern müssen wir eine jeweils eigene
Strategie finden. Holz aus illegalem Raubbau darf bei
uns keinen Markt finden und nicht zu Dumpingpreisen
angeboten werden.
({1})
Um den Import von Holz aus illegalem Einschlag zu
unterbinden, enthält der Antrag praktische und gute Vorschläge, die auf die Umsetzung der bestehenden Gesetze
setzen. In Ergänzung dazu muss die Nutzung heimischen
Holzes aus nachhaltiger Waldwirtschaft in Deutschland
gestärkt werden. Aber auch das reicht noch nicht aus.
In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeutung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Sicherung der Existenz der Menschen und die Entwicklung
von Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für
die Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder entwickelt. Der multifunktionale Wald ist unser Leitbild.
Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde
zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die
Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein
Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wälder zu entwickeln. Statt internationaler Verordnungen,
die zu mehr Bürokratie führen, ist Hilfe zur Selbsthilfe
angesagt, Frau Hiller-Ohm.
({2})
Einen Beitrag dazu könnte die von der Weltbank entwickelte neue Strategie zum Schutz der Wälder leisten.
Die Weltbank will das Potenzial der Wälder zur Verminderung der Armut einsetzen, Wälder in eine nachhaltige
Entwicklung integrieren und lokal und global bedeutsame Wälder schützen. Das ist, wie ich meine, ein richtiger Ansatz.
Wir alle haben eine durchaus konkrete Vorstellung
davon, was Urwälder sind. Dennoch gibt es keine international abgestimmte Definition des Begriffs Urwald.
Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf
meine Kleine Anfrage hervor. Dies ist bedauerlich; denn
eine solche international abgestimmte Definition ist
durchaus erforderlich. Sie verhindert, dass der Begriff
Urwald für ganz andere Ziele als den Schutz der Urwälder missbraucht wird.
Ein Beispiel dafür ist die Initiative von Greenpeace,
mit der versucht wurde, die finnische Forstwirtschaft in
Misskredit zu bringen, und zwar nicht aus Sorge um die
dortigen Wälder, sondern um ein in Deutschland überaus
erfolgreiches Zertifikat für Holz zu diskreditieren.
({3})
Dieses Verhalten von Greenpeace wird unserer Sorge um
den Erhalt der Urwälder und der dringenden Notwendigkeit, ihren Schutz voranzubringen, nicht gerecht.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Wir brauchen
den Erhalt der Wälder für das Leben der Menschen vor
Ort, den Artenschutz, die Sicherung der Wasserressourcen und den Klimaschutz.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Greenpeace - davon war gerade die Rede - hat Anfang
dieses Jahres unter anderem den Entwurf eines Gesetzes
zur Bekämpfung des Handels mit illegal geschlagenem
Holz zum Schutz von Urwäldern und anderen Primärwäldern - ein so genanntes Urwaldschutzgesetz - vorgelegt.
Das haben wir, die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, begrüßt; denn laut FAO gehen jährlich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Hielte diese
Tendenz an, wären die Urwälder in wenigen Jahrzehnten
verschwunden. Es besteht also tatsächlich akuter Handlungsbedarf. Allerdings ist das Problem nicht neu. In ihrem ersten Gesamtwaldbericht vom Juli 2001 hat die
Bundesregierung sowohl eine Situationsanalyse vorgenommen als auch Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Es gibt bereits zahlreiche Initiativen gegen die Urwaldzerstörung. Nichtsdestotrotz konnte ihr bisher kaum Einhalt geboten werden. Eine Urwaldkonvention kam bislang nicht zustande.
Welches sind die Triebfedern für Waldzerstörung
und Raubbau? Übergreifend sind hier StrukturschwäCornelia Behm
che und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
- anders ausgedrückt: Unterentwicklung - zu nennen. So
gehen mangelhafte oder fehlende Umwelt- und Sozialstandards eine unheilige Allianz mit Brandrodung, forstlicher Übernutzung, Anlagen von Plantagenwäldern und
dem Handel mit Holz aus illegalem Einschlag ein. Etwa
zwei Drittel der Urwälder befinden sich in wirtschaftlich
schwachen Ländern, also in Ländern, in denen Korruption an der Tagesordnung ist und deshalb dem Kriminalitätsdruck auf die Nutzung der Wälder wenig Widerstand
entgegengesetzt wird. Angesichts dessen verwundert es
nicht, dass circa 10 Prozent des weltweit gehandelten
Holzes aus illegalem Einschlag stammen.
Um das Übel an der Wurzel zu packen, müssen die
ursächlichen Verhältnisse verändert werden. Deutschland leistet hier durchaus seinen Teil, zum Beispiel
durch gezielte Entwicklungshilfe und internationale Abkommen. Für grundsätzliche Veränderungen müssen
aber viele Akteure ins Boot geholt werden. Trotzdem
dürfen wir als bedeutendes Holzabsatzland nicht mit
Verweis auf internationale Abkommen und die Verantwortung der Erzeugerländer unseren Beitrag zum Urwaldschutz verweigern. Da der illegale Holzeinschlag
zu den Hauptursachen der Waldzerstörung gehört, bedarf
es tatsächlich wirksamer Instrumente sowohl gegen illegalen Holzeinschlag als auch gegen den Handel mit Holz
aus illegalem Holzeinschlag. Mit den von Greenpeace
vorgeschlagenen Sanktionen gegen den wissentlichen
Handel mit Holz aus illegalem Holzeinschlag könnten
die schwarzen Schafe unter den Unternehmen des Holzhandels und der Holzverarbeitung zurückgedrängt werden. Insofern kann ein Urwaldschutzgesetz mit entsprechenden Sanktionen durchaus zielführend sein.
Mein Fazit lautet: Wir müssen das eine tun und dürfen
das andere nicht lassen. Das bedeutet auch, die Maßnahmen umzusetzen, die die Bundesregierung im Gesamtwaldbericht vorschlägt. Dazu gehören die Verstärkung
der Forschung, die Unterstützung der Kennzeichnung
von Tropenholz aus nachhaltiger Nutzung und die Forcierung waldrelevanter Vorhaben bei der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands, der EU und der Vereinten Nationen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, an dieser Stelle komme ich wieder auf ein viel
strapaziertes Thema zu sprechen. Um Sanktionen zu entgehen, werden Handel, Industrie und Verbraucher künftig verstärkt zertifiziertes Holz nachfragen; denn ein anspruchsvolles forstwirtschaftliches Zertifikat ist die
beste Gewähr für eine legale Holzwirtschaft. Wirksame
Maßnahmen gegen den Handel mit Holz aus illegalem
Einschlag haben also einen doppelten Effekt: Sie tragen
zum Schutz von Urwäldern bei und verbessern die Vermarktungsbedingungen für nachhaltig erzeugtes und einheimisches Holz.
({0})
Aus diesem Grund prüft die Bundesregierung, welche
der von Greenpeace vorgeschlagenen Maßnahmen sinnvoll und umsetzbar sind. Dabei ist klar: Die Regelungen
müssen so unbürokratisch wie möglich sein.
So sinnvoll der Ansatz ist, gesetzwidriges Handeln
durch Sanktionen zurückzudrängen, so muss ich noch
einmal darauf hinweisen: Dieser Ansatz ist nur ein Teil
der Lösung.
({1})
Die Ursachen für den Raubbau an Urwäldern kann eine
Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Einschlag nicht beseitigen. Dennoch freue ich mich, dass
die CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag zur
Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Einschlag eingebracht hat. Er offenbart, dass wir in diesem
Punkt einig sind.
Unser Wunsch wäre es, dass wir im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu einem fraktionsübergreifenden Konsens kommen, um einen gemeinsamen Beschluss zum Urwaldschutz zu fassen.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhold Hemker,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Kollege Caesar, herzlichen Dank, dass Sie, offensichtlich ein Freund nicht nur des Waldes in Deutschland, in
Ostwestfalen, sondern auf der ganzen Erde, sich wieder
so eingebracht haben. Ich habe nachgeschaut: Seit Sie
im Deutschen Bundestag sind, haben Sie eine Reihe von
Aktivitäten entfaltet, die Ihnen eigentlich zu dem Ehrennamen „amicus silvae“, Freund des Waldes, verhelfen
müssten.
({0})
Ich freue mich schon auf das, was Sie zu unserer Diskussion im Ausschuss beitragen.
Sie haben auch aufgezeigt, dass der Ansatz im Forderungskatalog des Unionsantrages eigentlich zu kurz
greift. Sie haben Dinge vorgetragen, die den ordnungsrechtlichen Rahmen dieses Forderungskataloges weit
übersteigen. Das ist gut so. Insbesondere Cornelia
Behm, meine liebe Kollegin von den Grünen, hat eben
darauf hingewiesen, dass wir in den Diskussionen im
Ausschuss ein Stück weiterkommen müssen. Die Grundlage für das, worüber wir heute Abend sprechen, ist der
Gesamtwaldbericht 2001.
Wenn ich richtig gezählt habe, hat es danach insgesamt sieben Initiativen aus diesem Parlament gegeben
- Kleine Anfragen, zum Beispiel von der Union; eine
Große Anfrage der Union; zuletzt hat die FDP dankenswerterweise eine Kleine Anfrage gestellt -, die immer
darauf abzielten, zu fragen, wie sich die Bundesregierung an weltweiten Initiativen beteiligt, Stichworte: Entwicklungsoptionen, globale Umweltfazilität und vieles
mehr. Es ging auch um die Option - ich sehe gerade
meinen alten Kollegen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen -, soziale und ökologische Standards für
den Bereich der WTO-Verhandlungen zu berücksichtigen. Mit all dem sind Forderungen verbunden, die wir
seit der Rio-Konferenz 1992 bis zur Rio-Nachfolgekonferenz erhoben haben.
Wenn man das, liebe Kolleginnen und Kollegen und
insbesondere lieber Kollege Caesar, ernst nimmt, dann
heißt das, dass wir im Ausschuss noch einmal deutlich
machen müssen: Wichtig ist, jetzt nicht nur ein bisschen
zu zählen. Die Bundesregierung hat 2001 auf eine
Anfrage geantwortet: Im Haushalt 2002 stehen
125 Millionen Euro zur Verfügung. Heute beteiligt sich
die Bundesregierung an den entsprechenden Programmen, etwa an denen von UNDP und von UNEP. Es gibt
übrigens Dankesschreiben des Kollegen Töpfer, mit denen er zum Ausdruck bringt, dass wir in der globalen
Strukturpolitik mittlerweile ein Stück weitergekommen
sind und Naturschutz sowie biologische Vielfalt ernster
nehmen als noch vor einigen Jahren.
({1})
Ich sage Ihnen schon heute - das werden wir im Ausschuss noch diskutieren -: Es wird nicht möglich sein
- darüber müssen wir uns im Klaren sein; Sie können
mit dem Kollegen Schauerte einmal über die Frage des
Ordnungsrechts sprechen; wir haben das auch damals in
der Kommission getan -, überall solche Kontrollmechanismen überhaupt in Gang zu setzen, selbst dann nicht,
wenn sich alle WTO-Mitgliedstaaten darauf einigen,
dass solche Kontrollen und auch solche Sanktionen
durchgesetzt werden müssen. Das ist der Punkt. Ich bin
zwar dafür; aber ich bin mittlerweile schon allzu lange
im Parlament und weiß, wie die Realität weltweit ist.
Es ist wichtig, dass wir uns in den Ausschüssen
- Ausschuss für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und
Ernährung, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und insbesondere im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - darauf
einigen, welche Förderfähigkeit möglich ist und welche
Programme sowohl multilateral als auch bilateral eingesetzt werden müssen. Wenn das geschieht, dann ist es
auch in diesem Rahmen möglich, darüber zu reden, wie
etwa solche Kontrollbehörden wie die, in der Sie, Herr
Caesar, in Ostwestfalen einmal gearbeitet haben, auch in
Entwicklungsländern eingerichtet werden können. In
den meisten Ländern, aus denen über Raubbau und andere Formen der Illegalität Holz zu uns exportiert wird,
kann eine entsprechende Kontrolle gar nicht durchgeführt werden.
Hinzu kommt Folgendes - das zu sagen ist ganz
wichtig -: Es sind ja nicht die armen Waldbauern oder
Holzfäller, die für kurze Zeit beschäftigt werden, die den
Preis von 30 Euro, der hier erwähnt worden ist, ermöglichen, sondern es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass
zu Dumpingpreisen eingekaufte Hölzer dann hier vermarktet werden. Dieser Zusammenhang muss auch im
Ausschuss deutlich gemacht werden.
Ich finde es gut, dass Sie heute einen Einstieg gefunden haben. Liebe Kollegin von der FDP, ich unterstütze
die Bewertung der Bundesregierung in der Antwort auf
die Kleine Anfrage, die Sie Anfang dieses Monats gestellt haben. Ich fand es übrigens gut, Herr Staatssekretär, dass die Bundesregierung in so kurzer Zeit geantwortet hat; das trägt die Unterschrift des beamteten
Staatssekretärs.
Ein ausführliches Lob der Bundesregierung ist jetzt
allerdings nicht mehr möglich, weil die Redezeit das
nicht mehr hergibt.
Ich sage nur noch einen letzten Satz. - Bisher - so die
Bewertung - konnte in der Staatengemeinschaft jedoch
kein Konsens über ein Rechtsinstrument für Wälder erzielt werden; daneben muss, vor allem in den Ländern
der Tropen, weiter an der Beseitigung der Ursachen von
Waldvernichtung angesetzt werden. Ich nenne zum Beispiel: ländliche Armut, politische Instabilität, volkswirtschaftliche Unterentwicklung und mangelnde Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Darüber werden wir im
Ausschuss diskutieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2747 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich
Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Rating-Agenturen: Integrität, Unabhängig-
keit und Transparenz durch einen Verhaltens-
kodex verbessern
- Drucksache 15/2815 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war hier-
für eine halbe Stunde vorgesehen. Das wäre sicherlich
auch so beschlossen worden, hat sich aber dadurch erle-
digt, dass die Kollegen Reinhard Schultz, Stefan Müller,
Hubert Ulrich und Carl-Ludwig Thiele ihre Reden zu
Protokoll geben.1)
Damit kommen wir gleich zur Abstimmung über den
Antrag aller Fraktionen auf der Drucksache 15/2815.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Stimmt jemand dage-
gen oder möchte sich jemand der Stimme enthalten? -
1) Anlage 3
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Passagierdatensammlungen und Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten
Staaten von Amerika
- Drucksache 15/2761 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Auch hierzu gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung über eine halbstündige Debatte. - Auch dazu stelle
ich Einvernehmen fest.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat sich das Europäische Parlament gegen das
von der EU-Kommission mit den USA ausgehandelte
Übereinkommen zur Übermittlung von privaten Fluggastdaten ausgesprochen. Die liberalen Kollegen im
Europaparlament haben eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für den Fall angekündigt, dass die
EU-Kommission die Zahl der an die USA übermittelten
Daten nicht einschränkt.
Worum geht es? Seit März 2003 verlangen die USA
von europäischen Luftfahrtgesellschaften, die in die
USA fliegen oder dort einen Zwischenstopp einlegen, einen Online-Zugriff auf den so genannten Passenger
Name Record.
({0})
Dieser Record speichert eine Fülle von Informationen:
Name, Reiseverlauf, Art der Bezahlung, Kreditkartennummer, ausgewählter Platz bis hin zu Essenswünschen.
Insgesamt handelt es sich um 34 Datenelemente, auf die
dem US Bureau of Customs and Border Protection Zugriff gewährt werden muss. Fluggesellschaften, die dies
ablehnen, müssen mit hohen Geldstrafen oder dem Entzug der Landerechte rechnen.
Gemeinsame Anstrengungen für die Sicherheit sind
vor dem Hintergrund der furchtbaren terroristischen Angriffe selbstverständlich. Auch wir wissen natürlich,
dass zu diesen gemeinsamen Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit die Übermittlung von Daten gehört
- darum geht es in dieser Debatte überhaupt nicht; das
ist, denke ich, völlig unstrittig -, um potenzielle Täter
frühzeitig finden zu können. Allerdings sind wir als
FDP-Bundestagsfraktion der Überzeugung, dass staatliche Zugriffe auf persönliche, schutzbedürftige Daten nur
unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit
zu rechtfertigen sind.
({1})
Dabei kommt dem Datenschutz ganz besondere Bedeutung zu.
({2})
Die Haltung der Bundesregierung in diesem Punkt
verwundert mich sehr. Einerseits erklärt sie in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP wörtlich:
Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die
Bundesregierung der Bewertung durch die Europäische Kommission an. Die Europäische Kommission hatte im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf
PNR-Daten festgestellt, dass die entsprechende
Verpflichtung der Fluggesellschaften mit den infolge der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenen Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten im Widerspruch stehen kann.
({3})
Andererseits erklärt jetzt offenbar Bundesinnenminister
Schily, es sei alles mit dem Datenschutz vereinbar. Er
geht in die USA und nach Brüssel und sagt, die Bundesrepublik werde selbstständig mitmachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier ist ein Bruch, den wir so nicht
mittragen.
({4})
Die Brüsseler Art.-29-Datenschutzgruppe hat große
Bedenken angemeldet. Wir haben das im Innenausschuss vom Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch
einmal bestätigt bekommen. Herr Schaar hat im Innenausschuss dezidiert darauf hingewiesen, welche Bedenken er hat und dass er nicht bereit ist, dieses Vorgehen zu
unterstützen. Auch das musste uns nachdenklich machen.
({5})
Wir teilen die Vorbehalte der Art.-29-Gruppe. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Als einzige
Fraktion haben wir einen Antrag eingebracht. Wir lehnen eine Zustimmung zu einem einfachen internationalen Abkommen, einem so genannten Light International
Agreement, wie die EU-Kommission es will, strikt ab.
Wir setzen uns stattdessen für den Abschluss eines internationalen Übereinkommens der EU mit den USA ein.
({6})
Ein solches Übereinkommen muss dann übrigens auf
Gegenseitigkeit beruhen.
({7})
Es kann nicht sein, dass die USA Daten von uns wollen,
wir aber keine Daten von den USA bekommen.
Ich nenne einige Eckpunkte:
Es geht um die Zweckbindung der Datenübermittlung. Natürlich dürfen Daten nur zur Bekämpfung terroristischer Straftaten übermittelt werden.
Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die Liste der zu übermittelnden Daten darf nicht über
das Notwendige hinausgehen.
Ein Punkt ist von besonderer Bedeutung. Die USA
fordern das so genannte Pull-Verfahren, das heißt, die
USA wollen online auf unsere Datensätze zugreifen. Wir
sagen, das kann nicht sein. Das Pull-Verfahren muss
durch das Push-Verfahren ersetzt werden, das heißt, es
muss in unserer Entscheidung liegen, welche Daten
übermittelt werden.
({8})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen.
Es ist völlig ungeklärt, wer eigentlich bei fehlerhaften
Eingaben haftbar gemacht werden soll. Was passiert
denn, wenn im Reisebüro eine fehlerhafte Eingabe erfolgt? Wer soll dafür haftbar gemacht werden? Wir wollen klarstellen, dass bei Fahrlässigkeit kein Haftbarkeitsgrund vorliegt. Auch ohne diese Regelung können wir
nicht zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Ich halte diesen Antrag für unabdingbar, weil
wir nicht mittragen können, dass der deutsche Innenminister unter Missachtung jeglicher Persönlichkeitsrechte
und jeglichen Datenschutzes nach Brüssel und Washington geht und die Zustimmung Deutschlands signalisiert.
Wir werden dem nur zustimmen, wenn die Datenschutzrechte wirklich gewahrt bleiben. Wir wollen ein sauberes
Abkommen; einem solchen werden wir selbstverständlich nicht im Wege stehen.
Ich freue mich auf die Diskussion, aber vor allem auf
die Zustimmung zu unserem Antrag, die mir eigentlich
von verschiedenen Seiten signalisiert worden ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Hofmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Sie freuen
sich in meinem Fall ein bisschen zu früh auf die Zustimmung zu Ihrem Antrag. - Seit einiger Zeit beschäftigen
sich die Fluggesellschaften, die EU-Kommission, das
Parlament, die Datenschutzbeauftragten und die Öffentlichkeit mit dem Problem der Weitergabe von personenbezogenen Daten durch Fluggesellschaften bei Transatlantikflügen.
Wenn man Ihren Antrag liest, dann muss man sich
schon fragen, warum die FDP den Teufel an die Wand
malt. Sie befürchtet nämlich, dass Millionen von Fluggästen „in die Gefahr allgemeiner Überwachung und
Kontrolle durch ein Drittland“ geraten. Sie wollen aus
dem europäischen Abseits heraus und an den Tisch der
Europaparlamentarier.
({0})
Dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Deswegen bringen Sie
einen solchen Antrag ein. Dieses Spiel mache ich nicht
mit. Ich will mich nicht von Science-Fiction-Autoren der
FDP, sondern von der Realität leiten lassen.
Nach dem 11. September 2001, dem Terroranschlag
auf das World-Trade-Center, tun die USA alles zum
Schutz ihres Landes und ihrer Bevölkerung. Nicht alles
stößt in Europa und in Deutschland auf Zustimmung. Es
ist aber nur zu gut verständlich, dass die Amerikaner die
Gefahr, die von Flugzeugen oder durch Flugzeuge ausgehen kann, als besonders gravierend einschätzen und
eine entsprechende Verschärfung der Kontrollen ihrer
Grenzen und der Einreisewilligen ergriffen haben.
Gleich im November 2001 haben die Vereinigten
Staaten die Vorschrift erlassen, dass Fluggesellschaften,
die Flüge nach, von oder durch die USA durchführen,
den amerikanischen Zoll- und Grenzbehörden Zugang
zu Fluggastdatensätzen zu gewähren haben. Diese legitimen Sicherheitsinteressen dienen der Verbesserung der
Flugsicherheit und des Grenzschutzes und sollen Terrorismusverdächtige identifizieren, bevor sie in die USA
einreisen können. Im Gegensatz zu Deutschland ist der
Schutz der Privatsphäre in den USA kein Grundrecht,
sondern lediglich als Verfassungszusatz erwähnt.
({1})
Der Datenschutz in den USA steht in einem völlig anderen Rechtsgefüge.
Die FDP erwartet - das kann man dem Antrag entnehmen -, dass die USA voll und ganz die deutschen
und europäischen Rechtsvorschriften über den Schutz
personenbezogener Daten übernehmen. Kann man das
realistischerweise von einem anderen autonomen Staat
erwarten?
Auf der Grundlage dieser völlig anderen Konzeption
von Datenschutz hatte die US-Regierung Anforderungen
an die Daten gestellt, die dem europäischen Standard,
wie er in der europäischen Datenschutzrichtlinie zum
Ausdruck kommt, nicht standhalten. Weder kann man
erwarten, dass die US-Regierung den europäischen Standard zu ihrem eigenen macht, noch kann man erwarten,
dass sich die europäischen Staaten mit dem US-Standard
zufrieden geben.
Die EU-Kommission und die USA haben sich bemüht, bei der Lösung des Problems im Zusammenhang
mit der Übermittlung von PNR-Daten die RechtsvorFrank Hofmann ({2})
schriften beider Seiten zu respektieren. Hierbei ist es aus
meiner Sicht der Kommission gelungen, von den USA
Zusagen zu erhalten, die den europäischen Datenschutzvorstellungen nahe kommen. Die Grundzüge unseres Datenschutzrechts spiegeln sich in dieser Verpflichtungserklärung wider. Sie wird zwar nicht eins zu
eins umgesetzt, aber zu erheblich mehr als 50 Prozent erfüllt.
So wurde der Umfang der Datensätze begrenzt. Die
Speicherdauer wurde drastisch verkürzt. Die Zweckbindung der Passagierdaten, die auch Sie angesprochen haben, wurde erreicht für die Übermittlung, Verwendung
und Weiterübermittlung. Die Zoll- und Grenzbehörden
werden die Reisenden über den Zweck der Datenübermittlung und Datenverarbeitung informieren.
Mittlerweile haben alle - ich betone: alle - EU-Mitgliedstaaten dem Vorschlag der Kommission zugestimmt. Währenddessen wird in dem FDP-Antrag davon
ausgegangen, dass verschiedene europäische Staaten
- Sie nennen aber nur Frankreich; andere Staaten werden
nicht aufgeführt - erklärt hätten, sie könnten dem Abkommen nicht zustimmen. Es haben aber alle zugestimmt.
Das Engagement des Europäischen Parlaments hat sicherlich dazu beigetragen, die Position der Europäischen
Kommission zu stärken und die Rechte der europäischen
Bürgerinnen und Bürger auch in den USA zu berücksichtigen. Die USA und Europa bewegen sich aufeinander zu: bei der internationalen Terrorismusbekämpfung
und beim Datenschutz. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.
Danke.
({3})
Ich bedanke mich für die seltene Unterschreitung der
angemeldeten Redezeit und erteile mit diesem leuchtenden Vorbild vor Augen nun der Kollegin Beatrix Philipp
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht genau, ob ich dem Vorbild des Herrn Hofmann gerecht werde. Ich gebe zu: In vielen Passagen hat er
Recht.
Herr Burgbacher, als ich Ihren Antrag gelesen habe,
habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt. Wenn man die
Seite 16 in der Stellungnahme 2/2004 der Art.-29-Datenschutzgruppe genau nachliest, findet man, um es vorsichtig auszudrücken, tatsächlich mehr als nur Anregungen für Ihren Antrag. Nur, Herr Burgbacher, diese sind
zum Teil überholt. Darauf hat Herr Hofmann bereits hingewiesen.
Nun will ich nicht behaupten, dass der vorliegende
Antrag deswegen ein typischer FDP-Antrag ist. Aber er
ist eben, um es vorsichtig auszudrücken, etwas unverständlich. Ich führe das darauf zurück, dass das Verständnis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Datenschützer der 29er-Gruppe nicht immer besonders
groß ist. Es ist dort ja, glaube ich, in federführender
Funktion der neue Datenschutzbeauftragte, der Herr
Schaar, tätig, den Sie, die FDP und die Koalitionsfraktionen, gewählt haben. Wir konnten uns nicht darauf verständigen. Wenn man die Berichte nachliest und an seinen gestrigen Auftritt im Innenausschuss denkt,
({0})
hat das unsere Meinung eher bestätigt, als uns verunsichert.
Herr Hofmann hat sehr ausführlich darauf hingewiesen, worum es eigentlich geht; deswegen kann ich mich
kurz fassen. Es handelt sich dabei - und es ist bedauerlich, dass durch Ihren Antrag eher Verunsicherung in die
Bevölkerung getragen wird, als dass zur Beruhigung beigetragen wird - um die üblichen, völlig normalen Angaben, die für die Buchung eines Tickets erforderlich sind.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, mir diese genauer anzuschauen; ich nehme an, auch andere haben
das getan. Hier stehen also das Datum der Reservierung,
die geplanten Abflugdaten, der Name des Flugpassagiers, die Anschrift usw. Ich habe damit keine Probleme.
Diese Daten muss ich auch jetzt angeben, wenn ich fliegen will.
({1})
Das ist allgemein so. Ich glaube, das gilt auch für uns,
auch im Bundestag. Wenn Sie fliegen wollen, müssen
Sie wohl sagen, wer Sie sind. Nicht mehr und nicht weniger als die ganz normalen Daten müssen angegeben
werden.
Übrigens ist mir das Redepult hier viel zu hoch. Ich
weiß nicht, wie man es hinunterfahren kann. Das ist die
Technik. - Jetzt funktioniert es.
Es gab bis vorhin einen Knopf, mit dem man das selber machen konnte. Wenn der Vorredner diesen nicht beseitigt hat, müsste das nach wie vor möglich sein.
Ich will jetzt aber nicht suchen.
Ich will jetzt nicht weiter albern sein; denn es geht ja
um ein ernstes Thema. Die Übermittlung von Fluggastdaten an die USA ist ein Thema, das die Bürger, die
Luftfahrtgesellschaften und auch die Tourismuswirtschaft sehr beschäftigt.
({0})
Dabei geht es im Wesentlichen um eine unzureichende
Information der Fluggäste; das ist richtig. Ebenso gab es
Rechtsunsicherheit; auch das ist richtig.
Wir haben daher eine sehr ausführliche Anfrage gestellt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mit großem Erstaunen haben wir zur Kenntnis genommen, dass die
Bundesregierung bzw. das Innenministerium ausgesprochen exakt und ausgesprochen ausführlich gearbeitet
hat.
({1})
- Nein, das ist eben nicht immer so! Wenn alle Anfragen
in dieser Qualität beantwortet würden, dann würde das
unsere parlamentarische Arbeit sehr erleichtern. Davon
kann normalerweise keine Rede sein.
({2})
Unter der Leitung von Herrn Bolkestein sind, wie
man in der Antwort nachlesen kann - das empfehle ich
jedem -, sehr intensive und, wie ich glaube, schwierige
Verhandlungen geführt worden. Basis war, wie eben
schon erwähnt wurde, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 2003. Es ist, wie ich
finde, ein vernünftiger Kompromiss gefunden worden.
Das hat auch die Bundesregierung so gesehen und hat
deswegen, wie ich nach eigenem Bekunden feststellen
konnte, am 27. Februar zugestimmt.
Dieser ausgehandelte Kompromiss basiert auf einer
Verpflichtungserklärung des Heimatschutzministeriums
der USA und dessen Zoll- und Grenzschutzbehörde, die
für die Datenerhebung auf amerikanischer Seite verantwortlich ist. Die wesentlichen Punkte dieser Verpflichtung sind - ich mache es kurz - erstens die ausdrückliche Zweckbindung der Datenübermittlung und
-verwendung für die Bekämpfung des Terrorismus, von
Zusammenhangsstraftaten und schwerer länderübergreifender Straftaten. Dagegen kann man eigentlich nichts
haben.
Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre
und sechs Monate verkürzt. Das ist erheblich weniger,
als die USA ursprünglich beabsichtigten.
({3})
Drittens. Eine umfassende Information der Reisenden durch die US-Behörden ist vorgesehen. Auch das
war nicht selbstverständlich, entspricht aber unseren Anforderungen an einen modernen Datenschutz.
Viertens. Die US-Behörden haben Auskunfts- und
Berichtigungsansprüche der Passagiere ausdrücklich
anerkannt. Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit.
Fünftens. Die sofortige Löschung so genannter sensibler Daten ist zugesagt worden. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, weil man der Möglichkeit vorbeugen will,
dass durch freiwillige Angaben - ({4})
- Wenn es von Ihnen kommt, schon gar nicht. Aber mit
den USA habe ich bisher keine schlechten Erfahrungen
machen müssen. Deswegen bin ich da optimistisch. Ich
habe vielleicht auch ein anderes Amerikabild als Sie.
Das kann sein.
({5})
Sechstens. Auch die Beschwerdemöglichkeit halte
ich für wichtig. Für die Verhältnisse Amerikas, wo man,
wie auch Herr Hofmann gesagt hat, mit Daten völlig anders umgeht als bei uns, ist die vorgesehene Möglichkeit,
dass sich die Passagiere durch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei den Zoll- und Grenzschutzbehörden beschweren, nicht selbstverständlich.
Siebtens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung
der Umsetzung dieser Verpflichtung in den USA durch
ein EU-Team ist ebenfalls verankert.
Meine Damen und Herren, gegen diesen Kompromiss
kann man eigentlich nichts haben. Hinzu kommt, dass
die Amerikaner nach den Ereignissen des 11. September
ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben. Sie haben viel
mehr, als im normalen Umgang miteinander üblich, dafür gesorgt, dass sie wissen, wer ihr Land betritt. Dafür
habe ich volles Verständnis. Ich würde mir an mancher
Stelle wünschen, dass auch wir in Deutschland Wege
und Möglichkeiten fänden, unsere Außengrenzen sicherer zu machen und Einreisen effektiver zu kontrollieren.
Aber das ist wirklich ein anderes Thema.
({6})
Frau Kollegin Philipp, ich will Sie weder stören
noch erschrecken. Aber die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
({0})
Bitte.
Es wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
({0})
Ich bin ganz ruhig.
Ich habe auch nur eine ganz kurze Frage. Frau
Philipp, wie bewerten Sie die Entscheidung des Europäischen Parlaments von gestern? Ich meine nicht den Beschluss vom letzten Jahr. Gestern hat das Europäische
Parlament mit Mehrheit beschlossen, dass die Voraussetzungen für die Angemessenheitsfeststellung, die der
erste Schritt in diesem Verfahren ist, nicht gegeben
seien. Ich denke, das ist eine Aufforderung an uns, dass
wir uns nicht nur damit befassen, sondern auch neu überlegen, inwiefern den Bedenken, die dort mehrheitlich
zum Ausdruck gekommen sind, entsprochen werden
kann.
({0})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch bei uns gibt
es Leute, die Bedenken haben. Das bestreite ich überhaupt nicht. Das ist übrigens in diesem Hause etwas
ganz Normales. Aber ich teile diese Bedenken nicht.
Wir reden heute zum ersten Mal darüber. Wir werden
uns mit diesen Bedenken auseinander setzen. Das ist ein
ganz normaler Vorgang, den ich schon lange gelernt
habe. Ich werde das auch hier anwenden.
({0})
Wir müssen noch einmal darauf hinweisen, dass die
Amerikaner sich in einem ungewöhnlich hohen Maße
bewegt haben. Bisher haben die Amerikaner die Daten
einfach gezogen - nach der so genannten Pull-Methode.
Demnächst wird es an uns liegen, die Daten zu übermitteln. Das war ein für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen großer Schritt. Wir werden diese Daten filtern
und selektieren und dann erst versenden.
Herr Burgbacher, auch der Fall, dass in den Reisebüros einmal ein Fehler passiert - das haben Sie angesprochen -, ist geregelt. Die Luftfahrtgesellschaften tragen
dafür die Verantwortung. Auch das ist expressis verbis
zum Ausdruck gebracht worden.
Im Gegensatz zu Ihnen - wenn ich es richtig sehe bin ich sehr optimistisch, dass es eine schnelle Umsetzung geben wird. Ich denke, dass die Fluggesellschaften
ein eigenes Interesse daran haben, dass diese neuen Vereinbarungen so schnell wie möglich umgesetzt werden.
Nun noch ein paar Bemerkungen zu Ihrem Antrag.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Sie sich an die
Maximalforderungen der Art.-29-Datenschutzgruppe
- um es vorsichtig auszudrücken - mindestens angelehnt
haben. Sie sollten vielleicht noch einmal darüber nachdenken, wie realistisch die Forderung ist, dass die Bundesregierung eine bereits erteilte Zustimmung von internationaler Bedeutung zurückziehen soll. Ich wünschte
mir, dass viele andere Beschlüsse der Bundesregierung
zurückgenommen würden; das will ich überhaupt nicht
verhehlen. Aber eine Zurückziehung dieser Zustimmung
von internationaler Bedeutung zu fordern ist einfach
weltfremd.
Auch die Forderung nach einer vollständigen Aussetzung der Übermittlung von Fluggastdaten bis zum Abschluss eines internationalen Übereinkommens ist ebenfalls etwas weltfremd. Dann sagen die Amerikaner:
Ohne diese Daten kommt ihr hier nicht rein.
Die „Süddeutsche Zeitung“ - sie ist nicht gerade unsere Hauspostille ({1})
schreibt:
Die wichtigste Rolle spielen in diesem grenzüberschreitenden Konflikt ohnehin die Passagiere
selbst. Sie müssen letztlich entscheiden, ob ihnen
der Flug in die USA wichtiger ist als die Preisgabe
von Daten - in der Regel sind das im Fluggeschäft
nicht mehr als ein Dutzend.
Das ist von heute, also ganz aktuell. Übrigens ist der Artikel ausgesprochen lesenswert.
Meine Damen und Herren, ich habe auf das akute
amerikanische Sicherheitsbedürfnis bereits hingewiesen.
Ich denke, es ist richtig, wenn wir die Initiative der
Kommission begrüßen, einen weltweiten Standard für
die Fluggastdatenübermittlung zu schaffen. Diese Initiative liegt im Augenblick bei der ICAO. Einheitliche Datenschutzstandards sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Nun warten aber die Terrorgefahren - auch das ist jedem bekannt - nicht bis zum Abschluss weltweiter Verhandlungen, sodass der Vorschlag der Kommission, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, auch vor dem Hintergrund
der zeitnahen Schaffung klarer Datenübertragungsregeln
gesehen werden muss. Wir dürfen das nicht auf die lange
Bank schieben. Wenn die FDP, so wörtlich, „seriöse Garantien“ seitens der Vereinigten Staaten verlangt, dann
habe ich Probleme mit dem Bild, das die FDP von Amerika - vielleicht auch nur von der Datenschutzgruppe
nach Art. 29 - hat. Für die Union ist jedenfalls die Verpflichtungserkärung des US-Heimatschutzministeriums,
die eine jährliche Überprüfung, und zwar vor Ort durch
ein EU-Team - auch das ist sehr ungewöhnlich -, beinhaltet, absolut seriös und auch akzeptabel.
Ich weise auch noch einmal ausdrücklich darauf hin,
dass der Datenschutz kein Selbstzweck ist, der isoliert
betrachtet werden kann. Es geht, wie es eben schon gesagt wurde, um eine Verhältnismäßigkeitsabwägung.
Es ist einfach zu respektieren, dass in den USA eine völlig andere Gewichtung bei der Abwägung zwischen Sicherheit und Datenschutz getroffen wird. Wir meinen,
der Kompromiss trägt dem Rechnung.
Schließlich: Wir haben nicht in die Politik - auch
nicht in den Datenschutz - der USA einzugreifen oder
sie zu bewerten. Es war eigentlich schon immer so, dass
sich die Besucher eines Landes den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten.
Ich wünschte mir, dass zumindest in diesem Punkt Einigkeit in diesem Haus bestünde; ich bin mir allerdings
nicht ganz sicher, ob wir diese Einigkeit herstellen können.
Es geht um die Passagierdaten derjenigen, die in die
Vereinigten Staaten reisen wollen. Insofern haben sie
auch die entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren. Wenn die Amerikaner in ihrem Land ein „Superdatenerfassungssystem“ wie CAPPS II installieren
wollen, dann ist das eine hoheitliche Maßnahme, die
sich unserer Bewertung und Beurteilung entzieht. Das
gilt natürlich auch dann, wenn ein derartiges System
nicht unseren Auffassungen entsprechen würde. Insofern
kann sich unsere heutige Debatte nur auf den Umfang
der auf europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden
und zu übermittelnden Daten beziehen, nicht aber auf inneramerikanische Angelegenheiten.
Ich habe das Gefühl, dass der Antrag der FDP das leider verkennt. Der Überweisung dieses Antrags an den
Innenausschuss stimmen wir selbstverständlich zu.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Stokar von Neuforn
für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier
schon mehrfach gesagt worden: Das Europäische Parlament hat sich gestern gegen die von der EU-Kommission
ausgehandelte Weitergabe von Fluggastdaten an die
USA ausgesprochen. Ich glaube, das Europäische Parlament hat es sich mit dieser mehrheitlich gefassten Entscheidung nicht einfach gemacht.
({0})
Das Europäische Parlament fordert die EU-Kommission auf - ich finde, das ist eine berechtigte Forderung -,
erneut in Verhandlungen einzutreten. Ich begrüße diese
Haltung des Europäischen Parlaments ausdrücklich.
Ich habe den Anspruch an eine rot-grüne Bundesregierung, dass sie diesen Beschluss des Europäischen Parlaments als politische Verpflichtung aufnimmt, auch wenn
er politisch nicht bindend ist. Die Termine sind auch gesetzt; über dieses Abkommen wird in der EU-Kommission und im EU-Rat erneut geredet werden müssen. Deswegen ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür, dass
sich auch der Deutsche Bundestag - wenn auch in kleiner Besetzung - mit diesem Thema befasst.
({1})
In ihrer Bewertung sind die europäischen Abgeordneten - genau das ist ihre Aufgabe - zu dem Ergebnis gekommen, dass das ausgehandelte Abkommen gegen das
europäische Gemeinschaftsrecht verstößt und mit den
EU-Datenschutzbestimmungen nicht vereinbar ist. Hier
hat das Parlament seine Kontrollfunktion wahrgenommen. Die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind
durch dieses Abkommen nicht hinreichend geschützt.
EU-Bürger werden wesentlich schlechter gestellt als USBürger. Zum Beispiel haben sie - das erkennt man erst
anhand der Details der Verpflichtungserklärung - keinen
Rechtsanspruch darauf, dass falsche Daten korrigiert
werden, und kein Auskunftsrecht. Der wichtigste Punkt
ist: Sie haben keine Kontrolle mehr darüber, in welcher
Form ihre Daten weiterverarbeitet und an andere Länder
weitergegeben werden.
({2})
Die Anzahl der übermittelten Daten steht in keinem
Verhältnis zum Sicherheitsgewinn. In diesem Punkt sind
wir nicht auseinander. Wir sind doch alle darin einig,
dass die USA ein Interesse daran und auch ein Recht
darauf haben, Passagierdaten zu erfahren. Aber wenn Sie
sich die Liste, über die verhandelt wurde, anschauen,
stellen Sie fest: Die USA forderten, alle 38 Datenelemente zu erfahren. Dann hat man sich auf 34 Datenelemente geeinigt. Um die entsprechenden Sicherheitsinteressen zu gewährleisten, ist - unter Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - die Übermittlung
von 19 Datenelementen erforderlich. Die Weitergabe genau dieser 19 Datenelemente hat die EU-Datenschutzgruppe nach Art. 29 in den Verhandlungen akzeptiert.
Hier einen Widerspruch zwischen den Sicherheitsinteressen der USA und ihrer Behinderung durch den Datenschutz herzustellen, das ist der völlig falsche Ansatz.
({3})
Die US-Behörden haben sich in diesen Verhandlungen geweigert. Sie haben keinerlei Belege oder Hinweise vorgelegt, aus denen sich ableiten ließe, inwieweit
die Verarbeitung weiter gehender Datenelemente - über
die genannten 19 Datenelemente hinaus - tatsächlich für
die Terrorismusbekämpfung erforderlich ist. Auch wir
haben in all unseren Papieren den Grundsatz definiert,
dass wir die Maßnahmen, die für die Gewährleistung der
Sicherheit erforderlich sind, durchführen. Aber wenn
darüber hinaus Datenmengen gesammelt werden, ohne
dass politisch belegt oder begründet wird, worin der daraus resultierende Sicherheitsgewinn besteht, und ohne
dass Sicherheit bezüglich der Weitergabe dieser Daten
besteht, ist das ein Ansatz, den wir als grüne Fraktion
nicht mittragen können.
({4})
Ich kritisiere, dass nicht hart genug mit den Vereinigten Staaten verhandelt worden ist. Ich denke, dass
Europa gut daran tut, auch bei der Entwicklung einer
europäischen Sicherheitsstrategie - nach Madrid führen wir diese Diskussion ja verstärkt - auf Souveränität
und Eigenständigkeit zu achten. Wir als grüne Fraktion
wollen ein sicheres Europa und ein Europa der Bürgerrechte. In diesem Sinn kann ich die Bundesregierung nur
ermutigen, sich für die Aufnahme neuer Verhandlungen
mit den USA einzusetzen.
Danke schön.
({5})
Zum Schluss hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt für die Bundesregierung das Wort.
Danke schön, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Burgbacher,
der Antrag der FDP-Fraktion beginnt recht hoffnungsvoll. In seiner Einleitung heißt es, dass wir den internationalen Terrorismus nur gemeinsam in der internationalen Staatengemeinschaft bekämpfen können und dass ein
gemeinsames Handeln die zwingende Voraussetzung dafür ist. Das findet sicherlich die Zustimmung des ganzen
Hauses.
Auch sind wir uns darin einig, dass die Bekämpfung
des Terrorismus den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger voraussetzt, und zwar insbesondere durch eine vorbeugende Bekämpfung des Terrorismus; denn wir werden
nicht in der Lage sein, alle weichen Ziele umfassend zu
schützen. Sonst würden wir in der Tat Bürgerrechte wie
die Bewegungsfreiheit einschränken müssen. Insofern
geht es darum, vorbeugend eingreifen zu können, von
vornherein zu verhindern, dass mögliche Attentäter Anschläge planen und insbesondere begehen können. Dazu
ist der Austausch von Daten unserer Ansicht nach ein bedeutender Aspekt, nicht nur ein kleiner Teilaspekt. Dabei
ist es für uns selbstverständlich, dass es notwendig ist, die
Bürgerrechte zu schützen. Der Datenschutz, der zu den
Bürgerrechten gehört, darf nicht außer Acht bleiben.
Wenn wir Bürgerrechte aufkündigen würden, hätten wir
dem Terrorismus bereits zu viel Raum gegeben.
Aus diesem Grund hat die Bundesregierung die Bemühungen der Europäischen Kommission, zu verhandeln, unterstützt. Wir haben uns bemüht, das Auskunftsverlangen in unserem Sinne zu gestalten und den
datenschutzrechtlichen Anforderungen anders nachzukommen, als es nach dem ersten Entwurf der USA der
Fall gewesen ist. Es ging darum, bei der Gestaltung mitzumachen. Übrigens ist es entgegen der Vermutung Ihres
Antrags so, dass die ganze Bundesregierung, insbesondere auch das Justizministerium, unsere Zustimmung in
diesem Punkt unterstützt hat.
Unser Datenschutzrecht verlangt für internationale Datenübermittlungen ein angemessenes Datenschutzniveau, es verlangt keine Gleichwertigkeit. Es wäre eine
falsche Vorstellung, wenn wir glaubten, wir könnten mit
den USA die Gleichwertigkeit in Bezug auf den Datenschutz erreichen; dafür haben wir eine zu unterschiedliche
Kultur im Umgang mit Daten - schon in den europäischen
Ländern, erst recht aber im Vergleich mit den USA. Wir
haben die Aufgabe, unter Berücksichtigung aller Umstände ein inhaltlich und rechtlich angemessenes Datenschutzniveau zu gewährleisten. Das haben wir erreicht.
Die Kollegin Philipp hat dankenswerterweise schon
einige der konkreten Verhandlungserfolge aufgezählt.
Es ist eben nicht so - Sie haben ausdrücklich darauf hingewiesen -, dass die USA weiterhin auf dem Online-Abrufverfahren beharren. Vielmehr hat man zugesichert,
dass sie so schnell wie möglich auf eine aktive Übermittlung umstellen wollen.
Wenn man beklagt, dass die Speicherfrist von 3,5 Jahren zu lang sei, muss man sehen, dass vorher 50 Jahre
vorgesehen waren. Bei Verhandlungen geht es darum,
dass man etwas erreicht. Wir sind der Meinung: Wir haben mit dieser Lösung etwas erreicht, was unserem gemeinsamen Interesse entgegenkommt, die internationale
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus
zu fördern.
({0})
Das bedeutet, dass wir zusammenwirken müssen, auch
bei ganz unterschiedlichen Voraussetzungen: bei unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen und einer anderen Kultur im Umgang mit Daten.
Ich glaube, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht den Kern
der tatsächlich getroffenen Vereinbarungen treffen und
an manchen Stellen nicht den aktuellen Stand der Vereinbarungen wiedergegeben haben.
({1})
Ich empfehle Ihnen, die tatsächlichen Details einmal
nachzulesen. Unsere Antwort auf die Anfrage zu dem
Thema zeigt, dass wir zu dieser Vereinbarung guten Gewissens stehen können, weil wir nichts zu verbergen haben, weil wir große Verhandlungserfolge erreicht haben
und weil wir eine angemessene Lösung durchsetzen
konnten, im Übrigen - das ist mindestens genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass wir mit den USA in
diesem wichtigen Punkt einen großen Schritt vorangekommen sind - im Zusammenwirken mit allen anderen
EU-Staaten.
Das alles war zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger: Deren Schutz ist gewahrt und ihre Bürgerrechte sind
besser geschützt als nach dem vorherigen Verfahren.
({2})
Die Kollegin Pau hat eine vorbereitete Rede zu Pro-
tokoll gegeben1). Damit schließe ich die Aussprache.
Stimmen Sie der interfraktionell vorgeschlagenen
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2761 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu? Das ist überraschenderweise einvernehmlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Dirk Fischer ({0}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Kleinlaster sicherer machen
- Drucksache 15/2577 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Das ist ein Thema, das sich für diese Nachtzeit
vorzüglich geeignet hätte und zu dem auch eine halb-
stündige Aussprache vorgesehen war. Nun haben sich
die Kollegen Uwe Beckmeyer, Gero Storjohann, Ursula
Sowa, Horst Friedrich und auch die Parlamentarische
Staatssekretärin Iris Gleicke entschlossen, ihre Reden zu
Protokoll zu geben,1)
({2})
sodass ich, wie die Zwischenrufe zu Recht deutlich ma-
chen, mit Bedauern feststellen muss, dass damit die Aus-
sprache entfällt.
1) Anlage 5
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht offenkundig ebenfalls Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. April 2004, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.