Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zu
erheben.
({0})
Am 17. Mai ist unser Kollege Matthias Weisheit gestorben. Er wollte gerade eine Dienstreise antreten, als
ein Herzanfall ihn aus unserer Mitte riss.
Matthias Weisheit wurde am 18. Dezember 1945 in
Leipzig geboren. In Ravensburg machte er das Abitur
und in Weingarten absolvierte er sein Studium an der Pädagogischen Hochschule. Auch nach dem Studium blieb
er dem Bodenseeraum und seinen Menschen verbunden.
20 Jahre arbeitete er hier als Realschullehrer an verschiedenen Schulen.
Nicht allein durch die verschiedenen Funktionen, die
er in der Sozialdemokratischen Partei auf örtlicher und
regionaler Ebene und als Mitglied der Sozialistischen
Bodensee-Internationale innehatte, sondern ebenso in
seiner Tätigkeit in zahlreichen Vereinen haben viele
Menschen Matthias Weisheit als einen außerordentlich
kontaktfreudigen, aufgeschlossenen Menschen kennen
und schätzen gelernt.
Auch sein Auftreten und Wirken im Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, wo er
seine Fraktion als Obmann vertrat, war gekennzeichnet
von seiner Tatkraft und seiner offenen, direkten Art, auf
Menschen zuzugehen und Probleme ohne Umschweife
anzusprechen. Selbst Schicksalsschläge wie der Tod seines Sohnes im Jahr 1999 haben ihn nicht mutlos werden
lassen. Seiner Frau und seiner Tochter sprechen wir unser
tief empfundenes Beileid aus. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. - Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nachfolgerin für
den verstorbenen Kollegen Weisheit hat die Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß am 18. Mai 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin sehr herzlich.
({1})
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin
Erika Lotz als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. Nachfolgerin soll die Kollegin Rita Streb-Hesse
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist die Kollegin Rita Streb-Hesse als
stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Sodann möchte ich noch drei Kollegen nachträglich
zum 60. Geburtstag gratulieren. Es sind dies die Kollegen Hans-Peter Kemper, Wilhelm Schmidt und Gert
Weisskirchen. Im Namen des Hauses spreche ich die
besten Glückwünsche aus.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1 Vereinbarte Debatte zur humanitären und menschenrechtlichen Situation und internationalen Verantwortung im
westlichen Sudan ({3})
2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Im Westsudan ({4}) eine humanitäre Katastrophe verhindern
- Drucksache 15/3197 ({5})
3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltiges Wachstum
in Ostdeutschland sichern
- Drucksache 15/3201 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther
({7}), Eberhard Otto ({8}), Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels - Leitlinien
eines Gesamtkonzepts für die neuen Länder
- Drucksache 15/3202 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
({10}), Joachim Günther ({11}), Eberhard Otto ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ostdeutschland
- Drucksache 15/3203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Haushaltsausschuss
6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({14})
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent-
wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Bundes-
notarordnung
- Drucksache 15/3147 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung
- Drucksache 15/3177 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital
- Drucksache 15/3189 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Den Tourismus stärken - Chancen der EU-Erweiterung nutzen
- Drucksache 15/3192 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({18}), Franziska
Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Internationale Richtlinien für biologische Vielfalt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen
- Drucksache 15/3219 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({20})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel,
Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verschiebung des
Zeitpunktes für das In-Kraft-Treten des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
({22}) auf den 1. Januar 2006
- Drucksache 15/3105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({23})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Post AG
zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen
- Drucksache 15/3186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({24})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
7 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({25})
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Den
Rechtsweg in der Regulierung des Telekommunikationsmarktes ändern
- Drucksache 15/3218 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Gert
Weisskirchen ({26}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ({27}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung und Anpassung der
Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
- Drucksache 15/3204 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger,
Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt ({28}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Der Kosovopolitik
eine Perspektive geben
- Drucksache 15/3188 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt,
Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig
- Drucksache 15/3216 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,
Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Für einen Helsinki-Prozess für
den Nahen und Mittleren Osten
- Drucksache 15/3207 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Europäische Verfassung beschließen - der erweiterten Union ein solides Fundament für die Zukunft geben
- Drucksache 15/3208 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine qualitätsorientierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete
Ausschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
- Drucksache 15/3213 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({30})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Jugendstrafvollzug verfassungsfest
gestalten
- Drucksache 15/2192 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({31})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Ferner sollen die Debattenpunkte nach Tagesordnungspunkt 12 wie folgt aufgerufen werden: Tagesordnungspunkt 17 - Kinder- und Jugendschutz -, Tagesordnungspunkt 16 - Frauen und Familien in der
Bundeswehr -, Tagesordnungspunkt 19 - Südamerikapolitik -, Tagesordnungspunkt 14 - Historisches Erbe -,
Tagesordnungspunkt 18 - Tierarzneimittel - und dann
Tagesordnungspunkt 20 - Beziehungen der Europäischen Union zu Lateinamerika und der Karibik. Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 13 - Hochwasserschutz - und der Tagesordnungspunkt 15
- Flächendeckende Postdienstleistungen - abgesetzt
werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({32})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offensive für den Mittelstand
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut
Schauerte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln Mittelstand umfassend stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förderdschungel ausweiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Statistiken reduzieren - Unternehmen entlasten - Bürokratie abbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Joachim Günther ({33}),
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Modellregionen für Deregulierung und Bürokratieabbau
- Drucksachen 15/351, 15/349, 15/357, 15/752,
15/1134, 15/3221 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({34})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Noch zu keiner Zeit sind so viele den
Mittelstand strukturell unterstützende Reformen in so
kurzer Zeit ergriffen,
({0})
auf den Weg gebracht und umgesetzt worden
({1})
wie zu Beginn der 15. Legislaturperiode.
({2})
- Ihre Freude zeigt, dass Sie vielleicht ein eher schlechtes Gewissen haben,
({3})
wenn Sie den Reformstau im Mittelstand beklagen. Sie
werden am Ende erleben, welch positive Bilanz wir vorzulegen haben.
Wir lassen uns bei unserer Arbeit von den Zielen und
Grundsätzen, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 14. März des vergangenen Jahres anlässlich der Erläuterungen zur Agenda 2010 formuliert
hat, leiten. Es geht dabei nicht um ein Konjunktur- und
Beschäftigungsprogramm, das uns nur kurzfristig Erleichterung schaffen würde, es geht bei der Agenda 2010
um weit reichende Strukturreformen, die Deutschland
bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze bei
Wohlstand und Arbeit bringen werden.
Ich gebe zu: Zurzeit wirken diese Reformen noch
nicht so, wie sie wirken werden, wenn sich die konjunkturelle Lage verbessert hat. Mit der Agenda 2010 verfügen wir aber über ein klares, stimmiges Konzept, bei
dem der Stärkung und der Förderung des wirtschaftlichen Mittelstands eine ganz besondere Rolle zukommt.
({4})
Wenn ich mir dagegen die Anträge der Oppositionsparteien ansehe, kann ich ein vergleichbares Konzept
nicht entdecken. Hier wird vielen vieles versprochen;
meist ist es ein Sammelsurium von Ankündigungen, die
dann bei der konkreten Entscheidung - zum Beispiel im
Vermittlungsausschuss - keine Beachtung mehr finden.
Meine Damen und Herren, kleine und mittlere Unternehmen haben es in unserem Lande zurzeit schwer, teilweise sehr schwer.
({5})
Drei Jahre Stagnation haben tiefe Spuren hinterlassen.
Doch es ist nicht nur die konjunkturelle Durststrecke, die
den Mittelstand plagt.
({6})
Der Wettbewerbsdruck auf den heimischen Märkten
nimmt zu und er wird weiter zunehmen. Die Plage ist
Ihre Blockadepolitik, das müssen wir ganz deutlich sehen, das werden die Menschen in diesem Land auch
nach wie vor feststellen. Da nutzt es auch gar nichts,
dass Sie ablenken wollen. In der Tat können wir uns
nichts vormachen: Wenn Sie weiterhin wichtige Reformschritte behindern, wird es dem Mittelstand auch in der
Zukunft nicht besser gehen können.
({7})
Ich will auf ein anderes Thema hinweisen: Die deutsche Bankenlandschaft zum Beispiel befindet sich in einem Prozess der Reorganisation. Die großen Privatbanken ziehen sich aus dem Finanzierungsgeschäft mit
dem Mittelstand zurück. Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die traditionellen Kreditgeber der kleinen
und mittleren Unternehmen, befinden sich selbst in einer
schwierigen Konsolidierungsphase. Wir haben auf diese
Situation im Bankensektor reagiert. Nur, eines ist klar:
Der Staat kann diese teilweise tief greifenden Umstrukturierungsprozesse in unserer Wirtschaft, in unserem
Bankensektor nicht vollständig kompensieren.
({8})
Er kann ihre negativen Auswirkungen auf Investoren allein nicht auffangen, Herr Schauerte. Auch hier gilt: Der
Staat kann nicht alles richten; er soll und darf es auch
nicht. Das ist vornehmlich eine unternehmerische Aufgabe, hier ist die schöpferische Kraft des Unternehmers
und der Unternehmerin gefragt. Hier vonseiten der Politik falsche Erwartungen zu wecken, wie Sie es teilweise
tun, ist fahrlässig und unverantwortlich.
({9})
Es ist schon merkwürdig, meine Damen und Herren:
Häufig sind diejenigen, die lautstark übermäßigen
Staatseinfluss bedauern, nach immer weniger Staat, immer stärkerer Deregulierung und Entbürokratisierung rufen, diejenigen, die als Erste staatliche Hilfen und staatliche Regulierung fordern, wenn sie ihre eigenen
Interessen gefährdet sehen.
Meine Damen und Herren von der Union und von der
FDP, da klaffen Anspruch und Wirklichkeit häufig meilenweit auseinander. Ich kann Sie nur auffordern, in diesem Zusammenhang mehr Redlichkeit zu zeigen, als Sie
in der Vergangenheit an den Tag gelegt haben.
({10})
Ich wiederhole meine Eingangsfeststellung: Zu keiner
Zeit wurden so viele Reformen für den Mittelstand auf
den Weg gebracht wie in dieser Legislaturperiode.
({11})
Was haben wir versprochen? Was haben wir gehalten?
Was bleibt noch zu tun? Dazu habe ich mir zehn Punkte
notiert:
Erstens. Wir haben die Finanzierungsbedingungen für
die mittelständische Wirtschaft nachhaltig verbessert
und werden sie weiter verbessern. Der Spitzensteuersatz wurde von uns um 11 Prozentpunkte auf 42 Prozent
gesenkt. Wir erinnern uns, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Union und der FDP: Damals
lag er bei 53 Prozent.
({12})
Der Eingangssteuersatz betrug im Jahr 1998 25,9 Prozent; heute sind es 15 Prozent. Der Körperschaftsteuersatz wurde von 30 Prozent für ausgeschüttete und von
40 Prozent für einbehaltene Gewinne einheitlich auf
25 Prozent gesenkt. Insgesamt werden die mittelständischen Unternehmen ab dem 1. Januar 2005 jährlich um
gut 17 Milliarden Euro entlastet. Das müssen Sie einmal
zur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht nur schlecht
machen.
({13})
Das ist die größte Steuerstrukturreform, die es in
Deutschland je gegeben hat. Sie hilft vor allem dem von
Personengesellschaften geprägten Mittelstand. Unser
Ziel ist es, die Finanzierung von Investitionen durch die
Einbehaltung von Gewinnen aus steuerlicher Sicht attraktiver zu machen. Das ist unsere Antwort auf die Finanzierungskrise mittelständischer Unternehmen.
Zweitens. Wir haben mit unserer Politik der strikten
Haushaltskonsolidierung für anhaltend niedrige Zinsen
und damit für günstige Finanzierungskosten der Unternehmen gesorgt. Was hilft der mittelständischen Wirtschaft mehr als niedrige Finanzierungskosten?
Drittens. Nach dem dramatischen Anstieg der Lohnnebenkosten unter der unionsgeführten Bundesregierung
haben wir den Einstieg in die Konsolidierung der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung geschafft. Zu Ihrer Erinnerung die Zahlen: Von 1982 bis 1998 sind die
Sozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent um ganze
8 Prozentpunkte auf 42 Prozent gestiegen. Damit haben
wir Schluss gemacht.
({14})
Wem nutzt die Senkung der Lohnnebenkosten mehr als
den kleinen und mittleren Unternehmen? Insbesondere
diese Unternehmen werden davon profitieren.
Viertens. Wir haben mit den Hartz-Reformen für
mehr Effizienz und mehr Mobilität auf dem Arbeitsmarkt gesorgt. Wir haben für Neueinstellungen den Kündigungsschutz gelockert. Unternehmen können jetzt
schneller und leichter Arbeitskräfte rekrutieren.
({15})
Fünftens. Wir haben das Gesetz zur Intensivierung
der Bekämpfung der Schwarzarbeit auf den Weg gebracht. Jahrzehntelang haben Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, bei diesem Problem weggeschaut, was fatale Folgen für die Steuer- und Abgabenbelastung in unserem Land hatte. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten das letztlich durch höhere
Beiträge mit zu finanzieren. Niemand sieht sich durch
die Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft aber mehr in
seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet als kleine und
mittlere Unternehmen.
Sechstens. Wir haben mit dem neuen Ladenschlussgesetz die Chancen des Einzelhandels für mehr Umsatz
und Beschäftigung verbessert.
Siebtens. Wir haben nach 50 Jahren das Handwerksrecht entrümpelt und haben dadurch mehr Chancen für
die im Handwerk Beschäftigten, für Existenzgründer, für
Gesellen und für Meister eröffnet. Wir haben das Handwerksrecht europatauglich gemacht.
Achtens. Wir haben alle Förderaktivitäten des Bundes
im Kredit- und Beteiligungsbereich in der KfW-Mittelstandsbank zusammengefasst. Das Förderangebot wurde
gebündelt und gestrafft. Gleichzeitig wurde die Förderpolitik weiterentwickelt und neu ausgerichtet, zum Beispiel mit der neuen Produktfamilie des Unternehmerkapitals.
Neuntens. Wir machen ernst mit dem Bürokratieabbau. Deregulierung und Vereinfachung der Verwaltungsabläufe sind in Arbeit.
Zehntens. Wir haben bei der Innovations- und Außenwirtschaftsförderung den Schwerpunkt auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen gelegt.
Meine Damen und Herren, Johannes Rau hat in seiner
letzten großen Berliner Rede die Frage gestellt, ob wir
uns nicht inzwischen selber so schlecht geredet haben,
dass wir uns nichts mehr zutrauen. Ich zitiere den Bundespräsidenten wörtlich:
Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortliche und Funktionsträger mit so großer Lust so
schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen,
wie das bei uns in Deutschland geschieht.
Der Bundespräsident warnt:
Das bleibt nicht ohne Folgen.
Drei Beispiele dazu aus der jüngsten Vergangenheit:
Erstens. Unser Sozialsystem steht nicht vor dem Zusammenbruch. Das zu behaupten wäre abstruser Unsinn.
Trotzdem wird so getan, als wäre es so. Viele wollen das
dazu nutzen, das Sozialsystem völlig auf den Kopf zu
stellen und dem Mittelstand angeblich zu helfen. Gerade
der Mittelstand ist auf gute Sozialbeziehungen angewiesen.
({16})
Zweitens. Der Aufbau Ost ist weder gescheitert noch
sind die Hilfen von über 1000 Milliarden Euro sinnlos
und wirkungslos versickert. Der Aufbau ist vielmehr ein
Ruhmesblatt der neueren deutschen Geschichte, auf das
alle Deutschen stolz sein können.
({17})
Enttäuscht kann nur der sein, der auf die Lügen derjenigen hereingefallen ist, die behaupteten, die deutsche Einheit könne aus der Portokasse bezahlt werden, und die
den Menschen blühende Landschaften in nur wenigen
Jahren versprachen.
({18})
Drittens. Der Industriestandort Deutschland steht
nicht vor dem Niedergang. Das Gegenteil ist richtig.
({19})
Wir sind im weltweiten Wettbewerb einer der aktivsten
Standorte für Investoren. Das wissen offenbar aber nur
die ausländischen Investoren. Bei Ihnen wird das auf
taube Ohren stoßen. Das ist traurig genug; denn richtig
ist: Unsere Probleme sind lösbar und sie werden von dieser Bundesregierung zurzeit Schritt für Schritt gelöst.
({20})
Der entscheidende Reformschritt, den wir dabei gegangen sind, ist die Agenda 2010. Das bestätigen uns
alle internationalen Institutionen von Belang, seien es
der Internationale Währungsfonds, die Europäische
Kommission oder die OECD. Alle bestätigen, dass wir
auf dem richtigen Weg sind. Wir brauchen mehr Zuversicht, Mut und Entschlossenheit, aber auch mehr Verantwortung und Disziplin, um die notwendigen Reformen
zu bewältigen.
Wir sind mit den Reformen noch nicht am Ende.
({21})
Der mit der Agenda 2010 eingeleitete Reformprozess
muss und wird weitergeführt werden. Ich würde mir für
unser Land wünschen, dass diejenigen in der öffentlichen Debatte mehr Beachtung fänden, die sich mit realistischen Veränderungsvorschlägen sowie mit offener
Dialog- und fairer Kompromissbereitschaft hervortun.
Wir brauchen, wie Johannes Rau es empfiehlt, in unserem Lande wieder eine Kultur der Zuversicht und der Ermutigung. Dazu rufe ich uns alle auf.
({22})
Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Kollege Brandner, wenn man Ihnen eben zugehört hat, dann bekam man wirklich das Gefühl, dass der
Realitätsverlust schon sehr weit fortgeschritten ist.
({0})
Ihr Wort in Gottes Ohr, aber die Fakten schauen leider
anders aus.
Während dieser Debatte, also allein in diesen
90 Minuten, werden irgendwo zwischen Flensburg und
Passau sieben Betriebe offiziell Insolvenz anmelden; das
wissen Sie. Sie wissen auch, dass, während wir hier
sprechen - in diesen 90 Minuten -, 100 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wegbrechen
und Familien in Existenzängste geraten. In diesen eineinhalb Stunden wird es auch wieder ein paar Spitzenkräfte geben, die sich überlegen, unserer Heimat den Rücken zu kehren, um nicht hier, sondern in unseren
Nachbarländern Arbeitsplätze, Wohlstand und Wachstum zu schaffen. Das sind die Tatsachen, lieber Herr
Kollege.
({1})
Wenn ich mir unseren Antrag anschaue, der heute zur
Debatte steht und den wir schon vor 15 Monaten eingebracht haben, dann stelle ich fest, dass er genauso aktuell
wie damals vor 15 Monaten ist.
({2})
Wir brauchen eine grundsätzliche Kehrtwende. Diese
Kehrtwende ist unter Ihrer Regierung nicht eingetreten.
Eines muss ich Ihnen sagen: Die Lage ist seit 2003 noch
dramatischer geworden, als sie sowieso schon gewesen
ist. Hier nützen auch die medienwirksamen Worte Ihres
Kanzlers nichts, der ausgeführt hat, dass die Trendwende
endlich geschafft ist. Wo ist denn die Trendwende geschafft? Das haben Sie mit Ihren Worten nicht ausgeführt.
Genauso wie wir haben auch Sie den zweiten Mittelstandsbericht der führenden Wirtschaftsverbände zur
Kenntnis genommen. Darin wurde die Entwicklung von
1,6 Millionen Betrieben mit 12,5 Millionen Beschäftigten analysiert. Was wird dort ausgesagt? Dort steht, dass
das Wiederanspringen des Mittelstandes und damit der
Binnenkonjunktur für die mittelständischen Unternehmen lediglich ein Hoffnungswert bleibt. Es regiert in
diesem Land also das Prinzip Hoffnung und sonst überhaupt nichts.
Die Geschäftslage hat sich verschlechtert, nicht verbessert. In dem Bericht wird auch ausgeführt, dass wir
nicht normale zyklische Schwankungen haben, sondern
dass dies der Ausdruck massiver Strukturdefizite ist.
Diese müssen angegangen werden. Aber mit Ihrer Politik passiert gar nichts.
Wir sehen es doch: Nach den Zahlen, die gestern die
GfK zum Konsumklima veröffentlichte, ist der Konsumklimaindikator auf 4,7 Prozent gesunken. Wir wissen von dieser lähmenden Konsumneigung. Die Menschen haben Angst und sind durch Ihre Politik
verunsichert. Besondere Angst haben sie - das ist interessant - vor weiteren Steuererhöhungen dieser Regierung, wie es in der gestrigen Veröffentlichung der GfK
deutlich wurde.
({3})
Hören Sie doch auf die Bundesbank! Die Bundesbank
schreibt in ihrem Bericht vom März, dass die Staatsschulden ohne Reformen in den nächsten zehn Jahren
von über 60 Prozent, die wir schon jetzt haben, auf dann
140 Prozent steigen werden. Sie wissen ganz genau, dass
wir in einem hoch verschuldeten Staat leben. Dies ist
auch Ergebnis Ihrer Politik. Inzwischen wird für Zinsen
mehr ausgegeben als für Forschung und Entwicklung.
Das heißt, Sie finanzieren die Vergangenheit, nicht die
Zukunft. Sie gehen hier den falschen Weg.
({4})
Der Grund dafür ist nicht, dass die Steuereinnahmen
wegbrechen. Vielmehr steigen die Steuereinnahmen.
1998 lagen die Steuereinnahmen noch bei 175 Milliarden Euro. Bei uns aber lag die Investitionsquote bei
12,5 Prozent. Das ist für den Mittelstand wichtig. Inzwischen sind die Steuereinnahmen auf über 190 Milliarden
Euro gestiegen; aber die Investitionsquote ist auf unter
10 Prozent gesunken. Das schadet dem Mittelstand.
Schauen wir uns einmal das Jahr 2003 an, Herr
Brandner, das Sie gerade so hervorgehoben haben. Es ist
ein Paradebeispiel dafür, wie man Vertrauen verspielt
und wie es aufgrund des mangelnden Vertrauens zu immer weniger Investitionen von Unternehmen kommt.
Ihre Mittelstandsoffensive haben Sie immens medienwirksam angekündigt. Was ist dabei herausgekommen?
Ein so genannter Small Business Act. Er war nämlich
sehr „small“ und leider gab es auch wenig „business“,
wie wir inzwischen festgestellt haben.
({5})
Es ging aber weiter. Sie sind unwahrscheinlich kreativ
beim Erstellen von neuen Masterplänen und Offensiven,
die aber wenig bringen. Sie haben dann einen Masterplan Bürokratieabbau aufgelegt. Was ist dabei herausgekommen? Inzwischen haben wir mehr Bürokratie als
damals. Sie bringen ein Gesetz nach dem anderen auf
den Weg, das noch mehr Bürokratie nach sich zieht.
Wenn Sie keine bürokratischen Gesetze auf den Weg
bringen, dann schaffen Sie neue bürokratische Behörden, und zwar eine nach der anderen. Das ist Ihre Politik.
({6})
Der Beweis dafür ist, dass die Unternehmen inzwischen 46 Milliarden Euro für Bürokratie aufbringen müssen. Allein der Mittelstand zahlt davon 84 Prozent. Wir
müssen uns schon fragen: Warum ist es nicht möglich, für
jedes Gesetz und jede Rechtsverordnung, die gemacht
werden, zwei abzuschaffen? Warum haben Sie dazu nicht
den Mut? Warum werden nicht von nun an nur noch befristete Gesetze gemacht? Warum wird nicht festgelegt,
dass die Altvorschriften in bestimmten Fristen überprüft
werden und die Regierung dann nachweisen muss, dass
die Vorschriften überhaupt notwendig sind?
Herr Kollege Brandner, Sie haben vorhin die Handwerksordnung angeführt. Die Reform der Handwerksordnung war als der große Wurf angedacht. Was haben
Sie gemacht? Sie haben versucht, die Handwerksordnung zu zerschlagen und sie durch staatlich hoch subventionierte Ich-AGs zu ersetzen. Das war Ihre Politik.
({7})
Sie wissen doch ganz genau, dass Innovation und
Wachstum nicht durch diese Kleinstunternehmen entstehen. Diese können gerade für sich selbst sorgen.
({8})
Neue Ideen werden nur dort geboren, wo Menschen zusammenkommen und Ideen kreativ vorangebracht werden. Das ist im Mittelstand der Fall.
({9})
Dann kam noch etwas Neues in Form einer Innovationsoffensive, als Sie das Thema Innovation für sich entdeckt hatten. Das ist schon wieder drei Monate her. Aber
außer vollmundigen Erklärungen und Expertenrunden,
die Sie in der Presse übrigens sehr gut verkauft haben
- das muss ich neidvoll anerkennen -, kam nichts. Es
fehlt eine ernsthafte Konkretisierung dieses Projekts.
Sie kündigen immer nur an.
({10})
Sie kündigen vollmundig Programme an, die - das muss
ich zugestehen - nicht schlecht klingen, aber inhaltlich
nichts bringen. Sie haben bis jetzt nichts realisiert und
auf den Weg gebracht, was uns in diesem Bereich nach
vorne gebracht hätte. Auf das Mautdebakel
({11})
und die dadurch ausbleibenden Verkehrsinvestitionen,
wovon viele kleine und mittlere Betriebe betroffen sind,
will ich hier gar nicht näher eingehen.
({12})
Unser Land steht vor allem seit dem Mai dieses Jahres vor neuen Herausforderungen. Das wissen Sie. Wie
haben Sie uns auf diese neuen Herausforderungen vorbereitet? Fakt ist, dass nicht nur die Großunternehmen Arbeitsplätze verlagern, sondern inzwischen auch die kleineren und mittleren Betriebe Arbeitsplätze zukünftig in
den Beitrittsländern schaffen. Das geschieht nicht, weil
sie vaterlandslos sind, wie einige von Ihnen behaupten.
Sicher ist die Verlagerung für die Markterschließung
wichtig und sicher werden damit auch Arbeitsplätze bei
uns gesichert. Fakt ist aber auch, dass der Grund nicht
nur weniger Steuern und weniger Abgaben sind. Wissen
Sie, was es dort gibt? Unternehmerische Freiheit.
({13})
Das ist es, was viele kleine und mittelständische Betriebe bewegt, nicht mehr hier zu investieren, sondern in
unseren Nachbarländern.
({14})
Hier müssen Sie ansetzen. Aber was machen Sie? Sie
kürzen überproportional die GA-Förderung, ausgerechnet das Förderinstrumentarium, das kleine und mittelständische Betriebe zu Investitionen anregt. Das tun Sie
nur, um den Steinkohlebergbau abzusichern. Sie müssen
sich einmal überlegen, ob das die richtige Mittelstandspolitik ist, die Sie auf den Weg bringen.
({15})
- Lieber Herr Kollege, wenn Sie keine andere Politik
machen, dann kann ich auch keine andere Leier spielen.
Machen Sie eine andere Politik, dann werde ich hier
auch anders reden!
({16})
Sie wissen genauso wie wir, dass die Eigenkapitalschwäche die Achillesferse der mittelständischen Betriebe ist. Hier müssen wir zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten und Anreizen kommen.
Wir brauchen auch eine große Steuerreform. Ich rede
von einer großen Steuerreform. Sie können mit uns darüber reden, mehr Subventionen abzubauen, als bisher geplant sind. Wir sind aber nicht bereit, Subventionen abzubauen und mit dem eingesparten Geld Haushaltslöcher
zu stopfen. Eine große Steuerreform ist richtig, damit
wir wieder konkurrenzfähig werden.
Unsere Nachbarländer sind wirklich wachstumshungrig. Sie haben Niedrigsteuersätze. Wir aber sind mit unserer Gesamtsteuerlast an oberster Spitze in Europa.
({17})
Was haben Sie dem entgegenzusetzen? Ausbildungsplatzabgabe - toll. Im Bundesrat wird über Pläne zur
Erhöhung der Erbschaftsteuer gesprochen, anstatt dass
Sie unseren Vorschlag aufgreifen. Stunden Sie die Erbschaftsteuer, wenn ein Betrieb von einem Nachfolger
übernommen wird! Erlassen Sie ihm die Erbschaftsteuer
nach zehn Jahren! Dann hat er ganz bestimmt mehr für
die Volkswirtschaft getan, als wenn er unter Ihrer Regierung Erbschaftsteuer zahlt.
({18})
Wir haben viele Baustellen. Das ist gar keine Thema.
Die gab es auch zu unserer Zeit. Die Probleme müssen
aber angegangen werden. Wir können uns nicht zurücklehnen. Wenn Sie sehen, dass sich bei einer der wichtigsten Baustellen bei Ihnen überhaupt nichts tut und auch
nicht zu erwarten ist, dass sich in den nächsten zwei Jahren nichts tut, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, der bei uns
wirklich in Beton gegossen ist, dann erkennen Sie die
traurigen Perspektiven, die wir haben. Wir müssen die
betrieblichen Bündnisse für Arbeit angehen. Das World
Economic Forum kam in einer Studie über 102 Länder
zu dem Ergebnis, dass außer Venezuela wir das restriktivste Kündigungsschutzgesetz haben. Das müssen Sie
sich einmal vorstellen.
Wenn Sie dann die neuesten Umfragen hören, wonach
zwei Drittel der Unternehmen sich wegen unseres Kündigungsschutzes gegen neue Jobs entscheiden, dann
muss man doch das Thema angehen. Wenn Sie weiterhin
hören, dass 70 Prozent bereit sind, bei einer Lockerung
des Kündigungsschutzes zusätzliche Arbeitsplätze zu
schaffen, dann muss man das Thema erst recht angehen.
Wir haben Probleme mit unseren Sozial- und Regulierungskosten, die immer höher steigen, ohne dass die Beschäftigten mehr Geld in der Tasche haben. Wir müssen
aus dem Teufelskreis von wachsender Arbeitslosigkeit
und eskalierenden Sozialleistungen herauskommen. Wir
müssen zu mehr privater Vorsorge und zu einer Entkoppelung der Sozialleistungen vom Faktor Arbeit kommen.
Aber es ist nicht so, dass nur wir diese Vorschläge
machen. Ich verstehe zwar, dass Sie unsere Entschließungsanträge und Gesetzentwürfe ablehnen - wir sind
schließlich die Opposition -, aber warum hören Sie nicht
auf den Sachverständigenrat, auf führende Forschungsinstitute, auf nationale und internationale Wirtschaftsexperten und auf Ihre eigenen Beiräte? Die Gutachten, die
Ihnen erklären, was Sie falsch machen, stapeln sich inzwischen. Packen Sie es doch an!
({19})
Ich möchte mit einem Zitat schließen, mit dem ich Ihnen vielleicht ein Leitbild für die nächsten Wochen und
Monate bieten kann, in denen Sie noch Regierungsverantwortung tragen. Der Unternehmer und Mittelständler
Hans Knürr hat einmal gesagt:
Belässt man dem Mittelstand die notwendigen
MITTEL, hat er ohne staatliche Hilfe einen unglaublich festen STAND.
Denken Sie daran, wenn Sie über die nächste Steuererhöhung nachdenken!
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär
Rezzo Schlauch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben davon gesprochen, dass es viele Baustellen gibt. Darauf
kann ich nur eines erwidern: Wir arbeiten an diesen Baustellen, während Sie sie blockieren.
({0})
Ein aktuelles Beispiel einer solchen Baustelle, die Sie
aus ideologischer Borniertheit blockiert haben, Frau
Kollegin Wöhrl, ist das Zuwanderungsgesetz,
({1})
um das wir uns seit zwei Jahren bemühen und das jetzt
Gott sei Dank durch die Bemühungen des Bundeskanzlers erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann.
Damit nicht genug: Nicht nur das Zuwanderungsgesetz, sondern beispielsweise auch die sozialen SicheParl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
rungssysteme sind Baustellen, die mit dem Satz „Die
Rente ist sicher“ 16 Jahre lang geschlossen blieben. Wir
hingegen sind - das war schwierig genug - in vielen
Einzelschritten eine Reform der sozialen Sicherungssysteme angegangen.
({2})
Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Nein danke, jetzt nicht. Ich habe gerade erst angefangen.
Eine weitere Baustelle, auf die Sie nicht eingegangen
sind, ist das Thema Steuern. Sie haben über Jahre hinweg das Steuerniveau auf einem unerträglich hohen
Niveau gehalten. Wir haben es zwar mit Mühen, aber erfolgreich gesenkt, und zwar so, dass die Senkung des
Steuerniveaus zielgenau den mittelständischen Betrieben
zugute kommt.
({0})
Insofern bleibt mir nur festzustellen: Natürlich ist
nichts so gut, als dass es nicht noch besser werden kann.
Aber wir müssen uns mit der Bilanz unserer Mittelstandspolitik nicht hinter Ihnen verstecken.
({1})
Kollege Schlauch, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Nein danke, ich habe schon abgelehnt.
Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte näher eingehen.
Herr Kollege Brandner hat schon ein Thema angesprochen, auf das Sie nicht eingegangen sind und das derzeit
mit Sicherheit eines der schwierigsten Probleme des
Mittelstands ist, nämlich die Finanzierung des Mittelstands durch die Kreditwirtschaft. Wir haben - auch
das ist bei Ihnen übrigens unterblieben - frühzeitig Maßnahmen ergriffen, um die Bereitschaft der Kreditwirtschaft so zu steigern, dass der Mittelstand weiterhin zum
Kerngeschäftsfeld gehört und auch tatsächlich so behandelt wird.
({0})
Mit der Fusion der beiden staatseigenen Förderbanken zur KfW-Mittelstandsbank haben wir eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen. Die Bilanzen und
Zahlen machen deutlich, wie erfolgreich der von uns beschrittene Weg ist. Im Jahr 2004 stellt die KfW insgesamt über 5 Milliarden Euro für Mittelstandskredite zur
Verfügung. Bis März dieses Jahres sind bereits
2,4 Milliarden Euro abgerufen worden.
Wir haben speziell für den Mittelstand mit dem so genannten Mezzanine-Kapital ein Finanzierungsinstrument
geschaffen, das dazu geeignet ist, die Eigenkapitalschwäche der Unternehmen - die im Übrigen nicht vom
Himmel gefallen ist, Frau Kollegin Wöhrl, sondern aufgrund unserer Steuerregelungen eine jahrzehntelange
Geschichte hat; Sie wissen, worin sie begründet liegt
- zu mildern. Wir haben außerdem - Bayern ist bei diesem Pilotfonds mit dabei - die Eigenkapitalfrage über
die KfW wieder aufgegriffen. Wir haben in diesem Bereich also in massiver Weise Initiativen unternommen,
um die Finanzierungsschwäche der Unternehmen durch
die Banken einigermaßen auszugleichen. Dass das nicht
eins zu eins möglich ist, ist klar.
Frau Kollegin Wöhrl, zu einer weiteren von Ihnen angesprochenen Baustelle: Zur Sicherung der Unternehmensliquidität gehört ebenfalls, dass wir das Thema
Zahlungsmoral nochmals angehen. Der kürzlich vorgelegte Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Verbesserung der Zahlungsmoral“ enthält aus unserer
Sicht eine Reihe guter Vorschläge, die nicht nur zu technischen, sondern auch zu inhaltlichen Verbesserungen
der derzeitigen Rechtslage für Handwerker und Unternehmer führen dürften.
({1})
Auch beim Abbau der den Mittelstand besonders belastenden Bürokratie bzw. Überbürokratie - dieser Punkt
wird von Ihrer Seite und vonseiten der Wirtschaftsverbände immer wieder angeführt - gibt es entscheidende
Fortschritte. Bürokratieabbau betrifft - das wissen Sie
genauso gut wie wir - alle staatlichen Ebenen, von der
EU bis zu den Kommunen. Frau Kollegin, bei diesem
Thema haben wir aber die Erfahrung mit Ihnen von der
Opposition sowie mit den Wirtschaftsverbänden gemacht, dass gerade diejenigen, die am lautesten nach Bürokratieabbau rufen, genau dann lieber beim Alten bleiben wollen, wenn es um die Wahrung eigener
Besitzstände geht.
({2})
In der von Ihnen angesprochenen Diskussion über die
Handwerksreform haben Sie regelrecht ideologische
Grabenkämpfe geführt, um zu verhindern, dass zehn Gewerke von einer Anlage in die andere überführt werden.
Allen, die damals den Untergang des Handwerks prophezeiten, kann ich nur sagen: Er ist nicht eingetreten.
Im Gegenteil: Diese Reform hat sich sehr positiv ausgewirkt. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es
bei fast allen Handwerkskammern einen regelrechten
Gründungsboom, und zwar vor allem bei den zulassungsfreien Handwerken. Im Bereich vieler Handwerkskammern kam es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
bei den zulassungsfreien Handwerken zu einer Verfünffachung der Zahl der Eintragungen.
({3})
Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie während der
damaligen Debatte Ihre Energie darauf verwandt haben,
im klassischen Sinne strukturkonservativ zu agieren und
althergebrachte Strukturen zu verteidigen. Sie haben versucht, den Wettbewerb einzuschränken.
({4})
Ich kann dazu nur sagen: Mit unserer Handwerksreform
haben wir mehr Wettbewerb ermöglicht und haben für
Belebung in diesem Bereich gesorgt, während Sie, wie
gesagt, auf althergebrachte Weise den Status quo verteidigt haben.
({5})
Das, was wir hier gemacht haben, war echter Bürokratieabbau von unten, der außer Entschlusskraft und Mut
nichts gekostet hat. Beides haben wir gehabt.
Ein weiteres Beispiel für das Motto „Bürokratieabbau
ja, aber bitte nur bei den anderen“ ist die Reform des
Vergaberechts. Hier wird ein Wust an umfänglichen
und unverständlichen Regelungen von Ihrer Seite sowie
- das verwundert mich besonders - vor allen Dingen
vonseiten der Wirtschaft und insbesondere der Wirtschaftsverbände plötzlich als Bollwerk gegen Korruption hochstilisiert. Ein einfaches, transparentes Vergaberecht, wie wir es auf den Weg bringen wollen, wird
abgelehnt, und zwar deshalb, weil man um den Verlust
des Einflusses durch die so genannten Verdingungsausschüsse fürchtet, in denen bislang die Vertreter von Verbänden und Behörden gemeinsam die Ausschreibungsregeln erarbeitet haben. Auch dies ist ein Beispiel dafür,
dass diejenigen, die täglich den Schlachtruf der Deregulierung, der Liberalisierung, der Entbürokratisierung auf
den Lippen führen, plötzlich zu heftigen Verteidigern
des Status quo werden, wenn es konkret wird.
Wir setzen den Bürokratieabbau fort, beispielsweise
durch die Reform der Arbeitsstättenverordnung und dadurch, dass wir den Arbeitsschutz bei den Berufsgenossenschaften bündeln. Das bestehende System mit
80 Unfallversicherungsträgern in 16 Bundesländern
führt nämlich dazu, dass die Betriebe häufig doppelt
überwacht werden. Durch die von uns vorgeschlagene
Zusammenführung des staatlichen und des berufsgenossenschaftlichen Vollzugs im Arbeitsschutz wollen wir
diese Tätigkeiten bündeln und die Unternehmen so von
unnötigem Verwaltungsaufwand entlasten.
Frau Kollegin Wöhrl, der große Wurf ist immer sehr
schnell dargelegt. Ich erinnere Sie an den großen Wurf
Ihres Kollegen Merz, den er mit einem radikalen Gestus
präsentiert hat - Stichwort „Steuerreform auf einem
Bierdeckel“ - und mit dem er in Ihren eigenen Reihen
kläglich gescheitert ist. Es ist mehr Mühe und Arbeit
notwendig, um die Situation des Mittelstands zu verbessern. Da muss man auch in die Details gehen. An die Lösung dieser Probleme sind wir mit der Agenda 2010 und
mit den von mir angesprochenen Maßnahmen zum Bürokratieabbau und zur Förderung des Mittelstands herangegangen.
All dies ginge noch viel schneller, und zwar zum
Wohle des Mittelstands, wenn Sie Ihre unsägliche Blockadepolitik in Sachen Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bundesrat endlich aufgäben. Alle in diesem Haus sind dafür, dass
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt werden. Statt über organisatorische Fragen zu diskutieren,
sollte man substanzielle Verbesserungen für den Mittelstand in den Vordergrund rücken.
Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben ein düsteres Bild gezeichnet. Es war wie immer schwarz in schwarz. Das ist
Ihre Farbe.
({6})
Ich kann Ihnen nur sagen - das wissen Sie; schließlich
ist das ein konservativer Ausspruch -: Wirtschaftspolitik
ist zur Hälfte gute Psychologie. In dieser Beziehung sind
Sie keine gute Wirtschaftspolitikerin, weil Sie mit
„schwarz in schwarz“ nicht weiterkommen.
Ich will Ihnen an diesem Punkt auch entgegenhalten:
Nach der Frühjahrsmittelstandsumfrage der DZ Bank
- immerhin eine objektive Institution - erwarten 44 Prozent der mittelständischen Unternehmen in den kommenden Monaten bessere Geschäfte. Dies ist nach Angaben der Bank der zweithöchste Wert seit fast zehn
Jahren. Das klingt etwas anders als das von Ihnen dargestellte Horrorszenario. Wir werden daran arbeiten, dass
sich die Lage weiterhin verbessert.
Danke schön.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatssekretär
Schlauch, Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben,
eine Frage zu stellen. Deshalb möchte ich mit dieser
Kurzintervention Ihre Behauptung klar zurückweisen,
dass wir an verschiedenen Punkten blockiert haben. Als
Sie von Blockaden gesprochen haben, müssen Sie wohl
zunächst an sich selbst gedacht haben. Sie verwechseln
hier etwas. Die CDU/CSU hat gestern im Finanzausschuss den Antrag gestellt, die für den Mittelstand
äußerst schwierige Neuregelung der Gesellschafterfremdfinanzierung über § 8 a Körperschaftsteuergesetz wieder zu ändern. Es ist natürlich ein Mittelstandsvernichtungsprogramm, wenn die Zinsen für eine
Finanzierung im Mittelstand auch noch voll versteuert
werden müssen. Sie haben die Veränderung verweigert,
obwohl Sie wissen, dass das letztlich wirklich ein Mittelstandsvernichtungsprogramm ist.
({0})
Es muss noch einmal deutlich darauf hingewiesen
werden, dass wir von der CDU/CSU gerade einen Antrag für ein Sofortprogramm in der Steuerpolitik in den
Deutschen Bundestag eingebracht haben und Sie sich
auch diesem Antrag verweigert haben. Er hätte gerade
für den Mittelstand ein deutliches Signal in Richtung
Entlastung, mehr Freiraum für Investitionen und vor allem Vereinfachung gesetzt.
Herr Staatssekretär, nehmen Sie einfach zur Kenntnis,
dass Sie mit Ihrem Vorwurf nichts anderes tun, als Nebelkerzen zu werfen. Sie haben dem Mittelstand damit
nicht gedient. Der Mittelstand braucht eine klare Mittelstandspolitik und keine Nebelkerzen.
Danke schön.
({1})
Kollege Schlauch, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.
Herr Kollege Michelbach, ich möchte kurz auf den
§ 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Vielleicht ist es
Ihnen entgangen, aber Tatsache ist: Für die unbefriedigende Fassung des § 8 a Körperschaftsteuergesetz sind
alle in diesem Hause, einschließlich Ihrer Fraktion, verantwortlich;
({0})
denn dieser § 8 a ist vor Weihnachten im Vermittlungsausschuss ausführlich beraten und in der jetzt gültigen
Fassung beschlossen worden.
({1})
Sie haben daran das gleiche Urheberrecht wie allen anderen auch.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben uns bemüht und
wir bemühen uns, die negativen Auswirkungen des § 8 a
durch einen so genannten Anwendungserlass in Bezug
auf die Bürgschaftsfälle abzumildern und das für den
Mittelstand positiver zu gestalten. Das haben wir getan.
Für weitere Korrekturen sehen wir derzeit keinen Bedarf. Wir werden es aber natürlich noch einmal prüfen.
Den Eindruck zu erwecken, als ob Sie mit diesem
§ 8 a nichts zu tun haben, das ist nun wirklich nicht legitim. Da haben wir alle ein Problem geschaffen.
({3})
Wir haben die Situation des Mittelstandes verbessert und
werden sie auch weiterhin verbessern.
({4})
Ich erteile Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Schlauch, Sie haben so viele Dankesschreiben von Mittelständlern für die außerordentlich erfolgreiche grünrote Politik erwähnt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
die einmal vorlegen würden. Ich gebe Ihnen gern Kopien
der Schreiben mit massiven Beschwerden über Ihre Politik, die bei uns eingehen.
({0})
Kollegen Brandner, der uns nach seinem Beitrag verlassen hat, hätte ich gern noch etwas zu seiner Rede gesagt - man verfolgt ja die Beiträge der anderen bei der
Debatte -, nämlich dass mir seine Selbstbeweihräucherung wie der folgende Fall vorkommt: Einem Bauern
wird ein Schwein vom Hof geholt und geschlachtet. Anschließend bekommt er drei Koteletts zurück und soll
sich dafür auch noch bedanken.
({1})
- Herr Stiegler, Sie werden im „Spiegel“ gerade mit den
Worten zitiert, dass Sie Herrn Clement an die Wand klatschen wollten. Das ist sehr witzig. Ich finde es sehr originell, wie Sie miteinander umgehen. Das ist hochinteressant.
Wir diskutieren heute über einen Antrag von GrünRot vom 28. Januar 2003 mit der tollen Überschrift „Offensive für den Mittelstand“. Mit welchem Nachdruck
Sie das betreiben, sieht man daran, dass wir ihn heute,
im Mai 2004, abschließend beraten. Das hat eine einfache Ursache: Wir stehen vor der Europawahl. Da kommen die üblichen Lippenbekenntnisse von Grün-Rot
zum Mittelstand, um vor der Wahl einen guten Eindruck
zu machen. Die Realität sieht anders aus.
Die Zahl der Firmenpleiten hat 2003 einen neuen
Nachkriegsrekord erreicht. Die Arbeitslosigkeit war
nach alter Zählung - Sie haben das ja etwas umgeschminkt - im April so hoch wie noch nie. Die Erwerbstätigkeit nimmt weiter ab. Die Binnenkonjunktur lahmt
trotz guter Exportlage. Der Mittelstand ist eben in der
Region verwurzelt. Er kann nicht nach Südportugal oder
China auslagern und die Aufträge dort erfüllen.
Ein zentraler Punkt, den Sie - Herr Schlauch, das hat
auch Ihre Rede gezeigt - einfach nicht verstehen, ist,
dass Mittelstandspolitik nur funktionieren kann, wenn
die Regierung in ihrem politischen Handeln Berechenbarkeit, Vertrauen, Klarheit vermittelt. Der Mittelstand
will keine Subventionen, er will eine faire Chance haben. Wenn Sie ständig alles neu regeln, hier und da ein
Progrämmchen auflegen, die Telekom aber das sie regulierende Gesetz beinahe selber schreiben lassen, Eon und
Ruhrgas einen Marktanteil von 85 Prozent zugestehen,
die Kohlesubventionen fortsetzen, aber kein Geld für
Bildung ausgeben, dann schaffen Sie kein Umfeld, in
dem Mittelständler erfolgreich arbeiten können.
({2})
Mittelstand ist kein Betriebsgrößenbegriff, sondern
eine Geisteshaltung. Das ist Ihnen natürlich fremd. Es
handelt sich um Menschen, die mit einer anderen Einstellung als Funktionäre, die kein unmittelbares Risiko
tragen, an die Sache herangehen, die in der Regel mit ihrem Vermögen bzw. ihrem Eigentum für ihre Entscheidungen haften. Mittelständler haben eine spezielle Einstellung; gerade diese brauchen wir. Sie können
manchmal nachts nicht schlafen, weil sie sich überlegen,
ob sie zu bestimmten Konditionen noch den Auftrag
hereinnehmen können und wie sie einen Weg finden, um
ihrer Belegschaft Arbeit zu geben. Bei ihnen arbeiten
Familienmitglieder mit. Eine 35-Stunden-Woche ist für
sie eine Witznummer. Nach drei Tagen haben sie diese
Arbeitszeit erreicht.
({3})
Diese Menschen verunsichern Sie permanent. Sie
werden von Ihnen schlecht behandelt.
({4})
Sie werden nach wie vor auch steuerlich schlechter behandelt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie
doch Ihren Parteigenossen Professor Dr. Wiegard, den
Vorsitzenden des Sachverständigenrates. Der rechnet Ihnen vor, dass die Konditionen für Mittelständler immer
noch nicht mit denen der übrigen Wirtschaft vergleichbar sind.
({5})
Und kommen Sie mir doch nicht mit der Steuerquote.
Wenn viele mittelständische Betriebe nichts verdienen
und deshalb keine Steuern zahlen können, dann kann die
Steuerquote nicht hoch sein. Ich treffe doch volkswirtschaftliche Entscheidungen nicht nach Steuerquoten,
sondern nach Steuersätzen.
Sie übersehen völlig, dass wir nach der EU-Osterweiterung plötzlich mit Ländern in unmittelbarem Wettbewerb stehen, die eine Flat Tax haben, bei der nur ein Minimum steuerfrei gestellt ist, die maximalen Steuersätze
aber bei unter 20 Prozent liegen. Es wird für manche Unternehmen bald völlig egal sein, ob ihr Firmensitz in
Riga, in Köln, in Ljubljana oder in Hamburg ist. Der Unterschied ist nur, dass sie bei uns 50 Prozent oder mehr
Steuern zahlen, während sie dort weniger als 20 Prozent
bezahlen. Wie Sie dies durchhalten wollen, ist mir
schleierhaft. Das wird zu weiterer Abwanderung von
Kapital und inzwischen auch von Arbeitskräften führen,
weil die Leute merken, dass woanders mehr übrig bleibt
und dort auch bessere Umfeldbedingungen herrschen.
({6})
Herr Clement wurde vom Superminister - ich zitiere
noch einmal den „Spiegel“ - zum Störenfried degradiert.
Einmal will er den Sparerfreibetrag streichen, dann soll
die Ostförderung zusammengestrichen werden, dann soll
das Straßennetz privatisiert werden. Gerade durch solche
Vorschläge wird nicht die notwendige Klarheit geschaffen.
Der Posten des Mittelstandsbeauftragten, der eigentlich genau für diese Menschengruppe und ihre Geisteshaltung kämpfen müsste, ist heute zu einer Versorgungsstelle für abgehalfterte grüne Politiker geworden.
({7})
Das ist nicht der richtige Weg. So kann man dem Mittelstand keine Möglichkeiten aufzeigen, um aus der Krise
herauszukommen.
Diese Aufzählung ließe sich ja fortsetzen: In einer
Bürgerversicherung sollen alle gleichgeschaltet werden.
Hier bringen Sie eine DDR light ins System. Man könnte
noch Ihren Zickzackkurs beim Ladenschluss und vieles
andere hinzufügen. Mit all dem tragen Sie dazu bei, dass
der Mittelstand keine faire Chance hat, sich positiv zu
entwickeln. Die Bedingungen stimmen nicht. Selbst
diese schlechten Bedingungen sind nicht berechenbar.
Aber Wirtschaften beruht auf Kalkulation. Am Schluss
müssen Sie rechnen: Zwei und zwei sind vier. Wer nicht
rechnen kann, kann auch nicht steuern.
({8})
Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist
- zum Teil historisch bedingt, zum Teil bedingt durch
unser Steuersystem - katastrophal schlecht. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband hat vor kurzem eine
Untersuchung vorgelegt, in der er 50 000 mittelständische Betriebe erfasst hat. Von diesen hatte die Hälfte
kein Eigenkapital - mit anderen Worten: Die sind schon
fertig, wissen es aber nur nicht - und im Schnitt hatten
Betriebe bis 100 Beschäftigte eine Eigenkapitalquote
von 6 Prozent. In angelsächsischen Ländern liegt sie
zwischen 35 und 45 Prozent. Das ist eine strategische
Schwäche unseres Mittelstandes. Eine entsprechende
Sensibilität für Rahmenbedingungen, die es dem Mittelstand ermöglichen, sich einzubringen, fehlt Ihnen leider
völlig.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk,
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Opposition
in der vergangenen Dreiviertelstunde hier geboten hat,
war billige Polemik, widersprüchlich und zum Teil ausgesprochen heuchlerisch.
({0})
Dass Sie zuerst der Handwerksordnung zustimmen und
sie dann hier angreifen und beklagen, finde ich außerordentlich schäbig.
({1})
- Entschuldigen Sie bitte, reden wir hier über die verabschiedete Handwerksordnung oder über frühere Vorschläge? Sie können sich doch nicht erst hier einbringen
und mit uns gemeinsam um Änderungen ringen und
dann genau diese hier angreifen.
Ähnlich ist es mit der EU-Osterweiterung. Wir alle in
diesem Hause haben sie gemeinsam beschlossen, Sie haben sie in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft als
wichtig, besonders mit Blick auf die Exporte, gepriesen,
weil diese Erweiterung neue Chancen biete, aber hier
nennen Sie die Konditionen, die Sie vorher alle kannten,
schlecht für den deutschen Mittelstand. So können wir
doch nicht miteinander umgehen!
({2})
Ein weiterer Punkt ist die Steuerreform; auch hier
sprechen Sie doppelzüngig. Zuerst schlagen Sie eine
Steuersenkung vor, Frau Kollegin Wöhrl, dann sagen
Ihre eigenen Leute, auch der Finanzminister des Landes
Bayern, Herr Dr. Kurt Faltlhauser, so gehe es nicht, es
müsse auch an die Länderhaushalte gedacht werden
- übrigens eine sehr vernünftige Anmerkung von ihm;
wir müssen den historischen Tiefstand der deutschen
Steuerquote bedenken und überlegen, wo und wie wir
senken -, und anschließend beklagen Sie, einschließlich
des Kollegen Brüderle - dessen Partei in dem Land, aus
dem er kommt, der Steuerreform im Bundesrat zugestimmt hat -, das, was in der Folge geschieht.
Dann macht Herr Michelbach hier eine Kurzintervention und erläutert, welch schlimme Auswirkungen § 8 a
des Körperschaftsteuergesetzes hat,
({3})
und muss sich von Rezzo Schlauch belehren lassen, dass
seine Partei das im Bundesrat selber mitgetragen hat.
({4})
Herrschaften, hinter verschlossenen Türen Ja sagen, im
Bundesrat zustimmen und dann an den Stammtischen
und hier im Parlament anders reden, das ist einfach
heuchlerisch.
({5})
Wir sollten uns stattdessen über Probleme unterhalten, wie zum Beispiel über die Strukturkrise des deutschen Bankensystems, die noch lange nicht durchgestanden ist und die schwerwiegende Auswirkungen auf die
Finanzierung des deutschen Mittelstands hat, und darüber, was man konkret machen kann, um die Probleme
zu lösen. Dazu reicht keine - ich sage es einmal ganz
offen - Maulhurerei, vielmehr müssen wir überlegen,
wie wir den Betrieben konkret helfen können. Darüber
sollten wir sprechen.
({6})
Entscheidend ist, welche Probleme mittelständische
Unternehmen, insbesondere kleine, heute haben - das
können wir alle, quer durch dieses Haus, an Beispielen
aus unseren Wahlkreisen belegen -, wenn es darum geht,
die notwendigen Finanzierungsmittel für Investitionen
und den laufenden Geschäftsbetrieb zu beschaffen, von
der Finanzierung von Forschung und Entwicklung ganz
zu schweigen. Darin liegt einer der Gründe, warum sich
der exportorientierte Aufschwung im Moment zwar in
den Bilanzen der Großbetriebe niederschlägt, aber noch
immer nicht bei den kleinen und mittleren Betrieben:
Dort funktioniert die Finanzierung der Investitionen
nicht.
({7})
Jeder von uns kann aus seiner eigenen Erfahrung bestätigen, was die Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau aus diesem Frühjahr dokumentiert hat: Für
43 Prozent der befragten Unternehmen ist die Kreditaufnahme spürbar schwieriger geworden;
({8})
in den neuen Ländern sind es sogar 47 Prozent. Bei den
kleinen Unternehmen ist es fast jedes zweite, das klagt.
16 Prozent der Unternehmen - wichtige Träger der Wirtschaft und der Beschäftigung, gerade in den Regionen haben Probleme, überhaupt noch einen Kredit zu bekommen.
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie werden von
den Banken oftmals auf das Stichwort Basel II reduziert,
übrigens zu Unrecht. Im Gegenteil, die Bundesregierung
und ihre Verhandlungsführer in Basel haben Ergebnisse
erreicht - zum Teil gegen den Rest der Welt und in einer
geduldigen Überzeugungsarbeit in Europa -, die die besonderen Finanzierungsbedingungen des Mittelstands
angemessen und sehr viel besser berücksichtigen, als es
in den ursprünglichen Plänen vorgesehen war.
({9})
Man hat in internationalen Zeitungen wie der „Financial Times“ und dem „Wall Street Journal“ nachlesen
können, dass die Welt das deutsche Wort Mittelstand
mittlerweile buchstabieren gelernt hat. Es ist richtig und
wichtig, dass die Kapitalmärkte nicht nur zur Finanzierung der großen multinationalen Konzerne da sind. Die
Kapitalmärkte müssen auch die Finanzierungen für die
kleinen Unternehmen sicherstellen. Auf diesem Gebiet
hat gerade die Bundesregierung einen Durchbruch in der
internationalen Debatte erreicht.
({10})
- Ja. Reden wir einmal über die Praxis! Die heutige Situation hat auch mit der Struktur des deutschen Bankensystems zu tun.
({11})
Wir müssen auch darüber offen reden, dass bei einem
Teil der Großbanken der Mittelstand faktisch keine Kredite mehr bekommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass
bei vielen dieser Großbanken das Geld knapp ist, weil
sie es auf den internationalen Kapitalmärkten schlicht
verzockt haben. Auch darüber muss man einmal offen
miteinander reden.
({12})
700 Milliarden US-Dollar sind allein durch die ITBlase vernichtet worden. Wenn Sie einmal sorgfältig die
Bilanzen der deutschen Großbanken durchgehen - leider
sind es nicht nur die Großbanken ({13})
und sich die Auswirkungen der Lateinamerikakrise, der
Asienkrise und der Russlandkrise anschauen, dann kommen Sie zu dem Schluss, dass massive Wertberichtigungen notwendig waren und dass sich die Banken immer
noch nicht ganz von dieser Situation erholt haben.
Schauen Sie sich einmal die Rates of Return und die internationalen Ratings an!
Man muss auch darüber reden, dass die öffentliche
Förderpolitik zum Teil eingesprungen ist, aber dass sie
dieses Problem allein nicht lösen kann, insbesondere
weil die Banken risikobewusster geworden sind. Man
kann dies vor dem Hintergrund ihrer Bilanzen auch
nachvollziehen. Sie müssen versuchen, aus dieser
schwierigen Situation herauszukommen. Manchmal
wurde das Management ausgetauscht, aber manchmal
nicht. Diejenigen Banken, die das Management nicht gewechselt haben, fordere ich an dieser Stelle auf, sich bei
den großmäuligen Ratschlägen an die Adresse der Politik etwas zu mäßigen.
({14})
Vor der eigenen Tür zu kehren und sich zu überlegen,
was sie im vergangenen Jahrzehnt an Milliardensummen
der Shareholder, aber auch, was die Potenziale der deutschen Volkswirtschaft angeht, in den Sand gesetzt haben,
wäre wesentlich angemessener, als uns auf diversen Verbandstagungen gute Ratschläge zu erteilen.
({15})
Wir haben gemeinsam versucht - das sage ich als
Vorsitzende des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne
deutlich -, den Unternehmen wirksame Hilfen zu gewähren und diese schwierige Situation, in der die Banken risikobewusster geworden sind, einigermaßen in den
Griff zu bekommen. Eine ganz neue Produktfamilie, die
insbesondere berücksichtigt, dass deutsche Unternehmen über geringeres Eigenkapital verfügen, soll gerade
kleinen und innovativen Unternehmen helfen, sich
Nachrangkapital neben den klassischen Krediten zu beschaffen, damit sie in der Startphase und anschließend in
der Wachstumsphase mehr Möglichkeiten haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre mir lieber
gewesen, diesen Punkt ausführlicher darzustellen. Aber
aufgrund Ihrer wirklich billigen Polemik, die an den
nützlichen Maßnahmen im Rahmen dieser Mittelstandsoffensive kein gutes Haar gelassen hat - wir sollten versuchen, gemeinsam für den Mittelstand das Beste herauszuholen -, kann ich die positiven Seiten leider nicht
ausgiebig darstellen.
({16})
Es wäre wert, diese Maßnahmen dem Mittelstand und
den kleinen Unternehmen bekannter zu machen und auf
die neuen Möglichkeiten hinzuweisen. Das wäre besser,
als alles schlechtzureden.
In der Tat ist Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie. Sie leisten nur den Beitrag, alles schwarz zu malen.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Schauerte,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über den Mittelstand, von dem alle sagen,
dass er die wichtigste und unverzichtbarste Institution
ist, wenn es darum geht, vernünftiges Wirtschaften zu
ermöglichen, Ertrag zu erzielen, Arbeitsplätze zu schaffen sowie Fortschritt und Nachhaltigkeit zu sichern.
Deswegen bitte ich darum, einmal einen Moment innezuhalten und keine klein-kleine Betrachtung vorzunehmen. Ich gestehe Ihnen in einer Reihe von Fällen gute
Absichten und guten Willen zu. Ich stelle fest, dass wir
eine Reihe von Maßnahmen mitgetragen haben und dass
sie vernünftig waren, weil sie an dem einen oder anderen
Punkt eine Fehlsteuerung, eine Fehlentwicklung beseitigt haben. Das ist so; darüber brauchen wir uns doch
nun wirklich nicht zu streiten.
Die Frage ist: Reicht das? Ist dabei genügend herausgekommen? Können uns die Ergebnisse zufrieden stellen, die wir nach sechs Jahren Ihrer Regierungskunst und
nach anderthalb Jahren Regierungskunst von Wolfgang
Clement erkennen können, dem Superminister, der, als
vor einem Jahr über diese Dinge diskutiert wurde, hier
war, weil er zum Aufbruch blasen wollte, und der am
heutigen Tage, an dem Bilanz gezogen wird, nicht hier
ist?
Ich darf in aller Ernsthaftigkeit auf ein paar Fakten
hinweisen. Unser Ziel ist ja, in Deutschland ArbeitsHartmut Schauerte
plätze zu schaffen - und das mit einem effektiven, wirkungsvollen Mittelstand.
({0})
Ein paar Zahlen: Wir haben im Vergleich zum Vorjahr
134 000 Erwerbstätige weniger. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum
Vorjahr um 520 000 geringer. Die Zahl der offenen Stellen ist im Vergleich zum Vorjahr um 91 000 geringer.
Das Ergebnis ist also deprimierend.
Jetzt muss man überlegen, wie wir aus diesem Trend
herauskommen. Sie können behaupten, Sie hätten alles
gemacht. Wenn man es jetzt so laufen lasse, dann werde
sich die Entwicklung verbessern. Sie glauben es aber
selber nicht! Sie wissen das.
Ich will ein paar Maßnahmen ansprechen, die Sie angekündigt haben, bei denen Sie guter Hoffnung waren
und die Sie beschlossen haben, und dann darauf hinweisen, wie sie gewirkt haben. Die Personal-Service-Agenturen zum Beispiel, die vor kurzer Zeit eingerichtet worden sind, waren der große Renner zur Bewältigung
vieler wichtiger Probleme.
({1})
Es wurden Beschäftigungseffekte in Höhe von 500 000
Arbeitsplätzen angekündigt, davon 350 000 Volljobs per
anno. Das war Ihr Hoffnungsansatz. Herausgekommen
ist in 2004 ein Beschäftigungseffekt von 7 700 Arbeitsplätzen.
({2})
Das Programm des Jobfloaters wurde mit großer Hoffnung und gutem Willen beschlossen, weil es helfen
sollte. Angekündigte Beschäftigungseffekte: 120 000 Jobs.
Bis heute führte dieses Programm zu 11 000 Volljobs
und 1 000 Ausbildungsplätzen. Dafür wurden aber 837
Millionen Euro ausgegeben.
({3})
In diesem Zusammenhang wurde auf die Firmengründungen hingewiesen. Ich hatte bei der letzten Debatte mit Herrn Müntefering - ich weiß nicht, ob er noch
hier ist - einen kleinen Disput. Er hatte von 1,6 Millionen Neugründungen in einem Jahr gesprochen. Ich warte
noch auf eine präzise Antwort von ihm.
Fakt ist: 1998 gab es 858 100 Firmenneugründungen
und 704 000 Firmenabmeldungen. Saldo: 154 100 Neugründungen sind übrig geblieben. In 2003 gab es
761 000 Neugründungen und 656 000 Abmeldungen.
Saldo: 105 000. Arbeitsplatzrelevante Firmenneugründungen in Deutschland sind also minimal. Das ist doch
der Befund.
Jetzt müssen wir überlegen: Ist alles richtig gemacht
worden? Reicht das? - Ich sage: Nein! Sie haben durch
eine Vielzahl von Maßnahmen, durch Ankündigungen,
durch kontroverse Diskussionen, durch Streit, durch
Zeitverzögerung, durch klassische Fehler also, mindestens so viel neue Verunsicherung bewirkt, wie Sie an der
einen oder anderen Stelle sicherlich etwas Vernünftiges
gemacht haben. Aber nennen Sie mir einige wenige vernünftige Dinge, die Sie gemacht haben und denen wir
nicht zugestimmt haben! Sie werden keine finden. Ich
kann Ihnen eine Maßnahme nennen, die wirklich funktioniert hat: die Einführung des Minijobs mit einem Verdienst von 400 Euro pro Kopf. Das ist das einzige Element - das haben wir in den Kompromissverhandlungen
durchgesetzt -, das wirklich weitergeführt hat. 7,4 Millionen neue Minijobs sind entstanden.
({4})
Das ist das einzige Programm, das wirklich gelungen ist
und das wir durchgesetzt haben. Ich will mich damit
nicht brüsten; aber Sie sollten unsere Kritik ernst nehmen. Wir verstehen etwas vom Mittelstand. Wir wissen,
was da fehlt. Wir sind da mehr zu Hause als Sie.
Für den Mittelstand ist folgende momentane Entwicklung desaströs: Clement darf nicht mehr; Clement kann
nicht mehr.
Der Bundeskanzler musste den Parteivorsitz abgeben.
({5})
Müntefering sollte den Parteivorsitz übernehmen, um
Ruhe, sprich: keine weiteren Veränderungen, in den Reformprozess zu bringen. Das ist ein lebensgefährliches
Signal; es gibt weder Hoffnung noch Perspektive für den
Weg nach vorn.
Wenn Sie diesen gefährlichen, vermutlich aber richtigen Eindruck nicht durch konkretes Handeln definitiv
beseitigen, können Sie an den Einzelschräubchen drehen, so viel Sie wollen, dann können Sie auch die Kreditprogramme bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau so
stark ausweiten, wie Sie wollen, Sie werden dennoch
kein neues Vertrauen schaffen, sodass neue Arbeitsplätze
in Deutschland entstehen können und nachhaltig gewirtschaftet werden kann.
({6})
Sie werden das Vertrauen nicht finden. Mittlerweile
geht doch Angst im Volk um. Das Einzige, was an Ihrer
so genannten nachhaltigen Entschuldungspolitik nachhaltig ist, ist die Tatsache, dass Sie die Maastricht-Kriterien nachhaltig verletzen. Wir müssen doch in den
nächsten fünf bis sechs Jahren bei 40 Milliarden Euro
Neuverschuldung mit weiteren massiven Verstößen
rechnen. Wissen Sie, welche Ängste die Menschen haben? Wir reden diese Ängste nicht groß. Die Menschen
befürchten, dass der Staatsbankrott droht, wenn wir so
weitermachen.
({7})
- Entschuldigen Sie, stellen Sie sich vor, die Zinsen in
Deutschland steigen um 1 Prozent - das ist eine ganz
niedrige Marge. Das ist auch höchstwahrscheinlich.
({8})
- Sie werden steigen. Sie wissen doch, was auf dem internationalen Finanzmarkt los ist. Angesichts der Schulden, die uns jetzt belasten, müssen wir bei 1 Prozent
Zinssteigerung in einem Jahr um die 10 bis 14 Milliarden Euro zusätzliche Staatsausgaben tätigen. An diesen
zusätzlichen Staatsausgaben werden Sie nichts ändern
können.
Sie erlauben sich in dieser Situation den Stillstand und
sagen: Wir brechen die Reformen ab. Die SPD-Wähler
sind nicht mehr bereit, weitere Reformen zu akzeptieren.
Die SPD-Mitglieder fürchten sie. Münteferings Aufgabe
ist es, weitere Austritte zu verhindern und die SPD zu
stabilisieren. Das heißt konsequent gedacht: Nichts, was
schwierig ist oder wehtut, was aber vermutlich das einzig
Hilfreiche ist, wird mehr umgesetzt. In diese negative Situation bringen Sie unser Land. Ich prophezeie Ihnen:
Die Menschen werden Sie im Anschluss an Ihre Reden,
auf welcher Veranstaltung auch immer - das ist jedenfalls bei mir so -, danach fragen, wie lange Herr Clement
noch im Amt bleibt.
({9})
Sie wissen, dass die Amtsdauer endlich ist.
({10})
Es ist ja nicht so, dass er alles richtig gemacht hat.
Wir wissen alle, dass er das in Nordrhein-Westfalen
nicht gemacht hat und dass er es auch hier nicht macht.
Wir hier haben ihn ja nie Superminister genannt. Er war
aber der Einzige von Ihnen, der mit einer Reihe von
Maßnahmen zumindest versucht hat zu reformieren. Sie
haben ihn aber nicht gelassen und das ist das Problem.
Wer soll denn kommen? Wen wollen Sie denn bringen?
Herrn Brandner?
({11})
Er ist doch Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in diesem Hause. Soll Herr Kollege Brandner den Kollegen
Clement beerben? Ist das die Perspektive für den Mittelstand?
({12})
Soll daraus neuer Mut für den Schritt nach vorn wachsen? Es ist eine ausgesprochen unerträgliche Situation.
Über einen Punkt haben Sie hier mehrfach diskutiert,
auch der Kollege Michelbach hat ihn aufgegriffen. Ich
will daher auf § 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Wir haben ihn zwar mitbeschlossen - Sie wissen
selbst, dass in den Nacht-und-Nebel-Aktionen im Vermittlungsausschuss sehr viel nebenher gelaufen ist -,
({13})
aber heute konstatieren wir, dass das ein Fehler war.
Denn ein sehr großer Teil der mittelständischen Unternehmen zahlt heute Steuern auf seine Zinszahlungen und
der Unternehmer, obwohl er den Kredit für sein Unternehmen aufgenommen hat, haftet dafür persönlich. So
ist die heutige Lage und wir helfen doch niemandem,
wenn wir uns darüber streiten, wer an dem Fehler mitgewirkt hat. Es ist doch einzig und allein vernünftig zu sagen: Wir haben einen Fehler gemacht und der wird so
schnell wie möglich korrigiert, bevor er bilanzwirksam
wird. In diesem Jahr muss der Fehler korrigiert werden,
und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2004. Das wäre
eine konkrete Maßnahme. Sie können sich nicht mit dem
Satz „Ihr habt mitgewirkt“ herausreden. Wir erkennen
heute, dass das, was wir beschlossen haben, Gift ist;
also: Weg mit dem Gift!
({14})
Wenn das einträte, hätten wir endlich einen wirklichen
mittelstandspolitischen Sprecher, Rezzo Schlauch. Jetzt
wissen die meisten von ihm immer noch nichts.
Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage,
die Ihre Redezeit verlängert? Die Kollegin Hendricks
möchte Sie etwas fragen.
Gerne. Ich danke auch für den liebevollen Hinweis,
Herr Präsident.
Herr Kollege Schauerte, sind Sie bereit, mit dem
Hause zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um die
Frage geht, ob wir das gemeinsam beschlossen haben?
Das ist wirklich nicht der Punkt. Ich will aber den Vorwurf zurückweisen, dass es das Ergebnis einer Nachtund-Nebel-Aktion gewesen sei. Es hat Arbeitsgruppen
des Finanzausschusses gegeben, an denen auch die
Finanzminister der B-Seite beteiligt waren. Ich selber
habe diese Arbeitsgruppe für die Regierung betreut.
({0})
Es gab einen Regierungsentwurf. Er ist gründlich und
sorgfältig und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
beraten und im Verfahren auch geändert worden.
({1})
So ist beispielsweise die Freigrenze gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf erhöht worden.
({2})
Er ist dann in der geänderten Fassung von allen bewusst
angenommen worden. Das will ich der guten Ordnung
halber noch einmal klarstellen und Sie bitten, das zur
Kenntnis zu nehmen.
({3})
Des Weiteren möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu
nehmen, dass der Kritikpunkt, den Sie gerade angesprochen haben - § 8 a Körperschaftsteuergesetz -, nämlich
der so genannte Rückgriff bei verbürgten Krediten, bereits im Entwurf eines Anwendungsschreibens, das von
den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, also einvernehmlich mit allen Ländern, erarbeitet
worden ist
({4})
und zurzeit den Verbänden zur Stellungnahme vorliegt,
schon geregelt ist. Dieser Entwurf liegt übrigens auch
den Mitgliedern des Finanzausschusses des Deutschen
Bundestages vor. Er ist also auch der Unionsseite dieses
Hauses bekannt oder könnte es zumindest sein. Wollen
Sie sich mit mir einverstanden erklären, dass Sie vor diesem Parlament zukünftig keine Probleme mehr ansprechen, die schon längst gelöst sind?
({5})
Frau Staatssekretärin Hendricks, Sie haben zwei Fragen gestellt. Der Präsident hat sie zugelassen, also muss
ich auch zwei beantworten.
({0})
Ihre erste Frage lautete: Sind Sie nicht mit mir der
Meinung, dass das seinerzeit im Vermittlungsausschussverfahren alles sehr sorgfältig beraten worden ist? Dass
ausgerechnet Sie diese Frage stellen, wundert mich
etwas, denn da Sie die Bundesregierung in dieser Angelegenheit betreut haben, dürften Sie sich an den peinlichen Vorfall erinnern, dass sich plötzlich herausstellte,
dass um 1 Milliarde Euro falsch gerechnet worden ist.
({1})
Es hat allergrößte Mühe gekostet, die entsprechenden
Korrekturen vorzunehmen. Die Verantwortung dafür lag
eindeutig bei Ihnen. Es war ein sehr hektisches Verfahren, in dem auch Fehler passieren konnten. Daher müssen Korrekturen ohne großes Lamento möglich sein.
Die Antwort auf Ihre zweite Frage: Natürlich kenne
ich den Brief. Er löst aber nur einen Teil des Problems,
und zwar den, der ausschließlich Bürgschaften betrifft.
Sie wissen, dass die weiter gehenden Forderungen vernünftig und richtig sind, nämlich den Faktor 1,5 bezogen
auf das Eigenkapital deutlich zu erhöhen. Sonst ist es
eine unzulässige Beschränkung.
Dann greift ja diese Strafsteuer auf Zinsen; man zahlt
also Gewinnsteuer auf Zinsen, die man zahlt; das muss
man sich immer wieder klar machen. Es gibt auch noch
weitere Punkte, die einfach nicht passen.
Ich sage allerdings eindeutig: Ein Ziel haben wir genauso im Visier wie Sie, nämlich die eleganten Manipulationen der großen Konzerne zu unterbinden. Diese sind
weltweit tätig und finanzieren Investitionen mit Krediten, die sie sich selber über irgendwelche Scheinfirmen
gegeben haben, um damit in Deutschland Steuern zu
sparen. Aber die mittelstandspolitischen Wirkungen Ihrer Maßnahmen sind absolut unerträglich. Korrigieren
Sie den Fehler!
Im Übrigen danke ich Ihnen für die Möglichkeit, das
nachzutragen.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brüderle, ich möchte Ihnen eine kurze Vorbemerkung widmen. In meiner Fraktion ist die Frage aufgekommen, was eigentlich mit Ihnen los ist. Sie haben eine
sechsminütige Rede zum Mittelstand gehalten, aber
nichts Konkretes zum Mittelstand gesagt, an das man
sich erinnern könnte.
({0})
Ihre Rede gipfelte in einer unflätigen Beleidigung des
Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung und dann
haben Sie sich wieder gesetzt. Das war wirklich unter Ihrer Form. Das hat auch nichts mit dem Pfälzer Humor zu
tun; denn in der Pfalz ist man nicht für Galligkeit, die Sie
hier im Parlament verbreitet haben, sondern für etwas
anderes bekannt.
({1})
Jetzt zur Sache. Frau Wöhrl, ich kann Ihnen nicht den
Vorwurf ersparen, dass Sie die wirtschaftliche Lage aus
parteipolitischem Kalkül schlechtreden. Wenn wir uns
die Situation einmal nüchtern anschauen, stellen wir
fest: Wir kommen langsam - ich betone: langsam - aus
einer schwierigen Wirtschaftskrise heraus. Das Wachstum beträgt derzeit 1,4 Prozentpunkte und wir können
mehr schaffen.
({2})
Sie wissen genau, dass es in Deutschland dann zu einem
Abbau der Arbeitslosigkeit kommt, wenn das Wachstum
die so genannte Beschäftigungsschwelle übersteigt, die
derzeit bei etwa 1,8 Prozentpunkten liegt.
({3})
Die Beschäftigungsschwelle zu senken ist das zentrale Reformwerk, das wir durch die Hartz-Gesetze und
die Agenda 2010 angepackt haben. Deswegen ist die
Blockade, die Sie jetzt bei Hartz, bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, betreiben,
so entscheidend. Offensichtlich wollen Sie gar nicht,
dass das, was auch Sie selbst seit Jahren verkündet haben - das Vorhaben, ein anderes soziales Transfersystem
in Deutschland mit effektiv besseren Wirkungen auf den
Arbeitsmarkt zu schaffen -, jetzt endlich umgesetzt
wird.
({4})
Wie können Sie uns denn sonst erklären, dass Herr Koch
die Gemeinden zur Blockade dieses neuen Instrumentes
aufruft? Ich meine: Er richtet damit großen Schaden an.
({5})
Wir sind also in einer Situation, in der wir - Herr
Schauerte, mit dem, was Sie diesbezüglich gesagt haben,
liegen Sie völlig falsch - weitere Reformen brauchen.
Der Reformprozess muss weitergehen. Bisher gibt es das
neue Arbeitslosengeld II und bessere Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand noch nicht. Es ist noch
sehr viel zu tun.
({6})
Aber entscheidend ist Folgendes: Von Ihrer Seite dieses Hauses werden nur Elendsszenarien beschrieben.
({7})
Dies verschlechtert die Stimmung in der Bevölkerung,
({8})
bei den Investoren und auch bei den Konsumenten, die
ihr Geld nicht ausgeben, weil sie von Ihnen ständig hören, wie elend und mies die Situation ist.
({9})
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Schauerte - Sie haben ja
versucht, konkreter zu werden und nicht nur die Standortarien zu singen,
({10})
wie es Frau Wöhrl getan hat -:
({11})
Wenn Ihnen daran liegt, dass es dem Mittelstand besser
geht, dann verweigern Sie sich den Reformen nicht
mehr, wie Sie es gerade tun, sondern gehen Sie mit in die
Offensive, damit in Deutschland insgesamt mehr Reformen durchgeführt werden können.
Frau Wöhrl, ich will zwei Punkte nennen, auf die es
jetzt ankommt: Erstes Beispiel. Sie reden immer über
das Thema Kohle. Das tun Sie eigentlich nur, damit Sie
darüber schweigen können, dass Sie, wenn wir auch andere Subventionen abbauen wollen, auf der Bremse stehen. Das sind mittelstandsrelevante Fragen; denn für die
Zukunft ist es entscheidend, welches Personal der Mittelstand bekommt. Ich habe von Ihnen noch keine konkrete Einlassung zu dem Vorschlag von Bundeskanzler
Schröder gehört, die Eigenheimpauschale zu streichen
und die dadurch frei werdenden Mittel bei Bund, Ländern und Gemeinden für Bildung, Forschung und Wissenschaft einzusetzen,
({12})
um die strukturelle Schwäche, die hier besteht, zu überwinden.
({13})
Dazu hört man von Ihnen nichts Konkretes. Sie reden
nur über das Thema Kohle. Aber wenn es zum Schwur
kommen soll, gehen Sie in die Büsche und schreien laut
herum. Aber Sie nehmen die Verantwortung, die Sie aufgrund Ihrer Rolle in den Ländern haben, nicht wahr.
({14})
Zweites Beispiel. Weil wir Grüne sehen, dass es im
Verkehrsbereich, bei der Schiene und der Straße, zu wenige Investitionen gibt, haben wir den Vorschlag gemacht, die Entfernungspauschale zu halbieren und die
Mittel, die dadurch frei werden, für Verkehrsinvestitionen zu verwenden. In allen Ländern wird darüber
geklagt - übrigens geht das auch zulasten des Handwerks -, dass zu wenig investiert wird, weil Koch und
Steinbrück nicht nur Subventionen abgebaut, sondern
auch bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur
gekürzt haben.
({15})
Dazu habe ich von Ihnen noch nichts Konkretes gehört.
Sie beklagen zwar, dass nicht investiert wird. Aber Sie
machen die Wege, damit in Deutschland investiert werden kann, nicht frei, sondern betreiben Blockadepolitik.
({16})
Herr Schauerte, das müssen Sie sich hier anhören; denn
es ist wichtig, dass wir an diesen beiden Stellen mehr
tun. - Herr Kauder, was haben Sie für Sorgen? Warum
machen Sie diese Bewegung?
({17})
- Aha, die Redezeit; ich verstehe. Wenn es wehtut, führt
Herr Kauder die Redezeit desjenigen, der gerade spricht,
ins Feld. So ist es.
({18})
Damit komme ich zum Schluss meiner Rede.
({19})
Sie haben nichts getan, um die Blockaden, die ich angesprochen habe, zu überwinden.
({20})
Wenn Sie ehrliche Mittelstandspolitik machen würden,
Herr Kauder, dann müssten Sie Ihre Bremsblockade aufgeben und zusammen mit der Regierung die notwendigen Reformen anpacken. Die Chance dazu haben Sie.
({21})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kuhn, ich will mit Ihnen anfangen. Nachdem Sie hier Konkretes eingefordert haben, haben Sie
selber nicht viel Konkretes gesagt. Wenn Sie nur halb so
gut handeln würden, wie der Kollege Brüderle heute hier
geredet hat, dann ginge es diesem Land entschieden besser.
({0})
Ein ganz wichtiger Aspekt beim Thema Mittelstand
ist das Thema Bürokratie. Das wird immer wichtiger,
immer deutlicher zeigt sich das. Es gibt eine Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung. Wir wissen, dass die bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft in diesem Lande pro Jahr 46 Milliarden Euro
betragen. Diese Belastungen sind insbesondere in den
letzten fünf Jahren erheblich gestiegen, Herr Schlauch,
und Sie wissen das. Sie haben vorher in der Antwort auf
den Kollegen Michelbach gesagt: Wir haben uns bemüht
und wir bemühen uns. Herr Kollege Schlauch, Sie wissen, was das heißt, wenn es in einem Zeugnis steht: Es
heißt, Sie haben sich bemüht, es aber nicht erreicht.
({1})
Dieses Zeugnis, dass Sie sich selber ausstellen, ist für
eine Regierung zu wenig und für unser Land katastrophal. Deshalb müssen wir uns einmal anschauen, was
46 Milliarden Euro bedeuten. Sie bedeuten, dass ein Arbeitsplatz in einem Großbetrieb mit über 500 Mitarbeitern jährlich mit circa 350 Euro Kosten belastet ist, ein
Arbeitsplatz bei einem kleinen Unternehmen mit unter
10 Mitarbeitern allerdings jährlich sogar mit circa
4 300 Euro - nur aufgrund des Aufwands für Bürokratie!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Aufwand für Bürokratie ist unnötig und dreht den Mittelständlern in diesem Land die Luft ab.
({2})
- Das ist seriös, vom Institut für Mittelstandsforschung.
({3})
Das steht in einer Studie, die der Wirtschaftsminister in
Auftrag gegeben hat; vielleicht unterhalten Sie sich einmal mit Herrn Clement.
Es sind im Zusammenhang mit Bürokratie fünf zentrale Bereiche zu nennen: Steuern und Abgaben, Sozialversicherungsrecht, Arbeitsrecht, Statistiken und Umweltschutz. Herr Schlauch, Sie haben hier alle
möglichen Vorschläge vorgetragen. Aber es bleibt wieder einmal dabei, dass es nur Vorschläge waren. Wir als
FDP-Bundestagsfraktion haben für jeden einzelnen Fall,
den Sie angesprochen haben, einen Antrag vorgelegt. Jeden einzelnen Antrag, jeden Gesetzentwurf haben Sie
abgelehnt.
({4})
Deswegen ist das, was Sie machen, BürokratieabbauRhetorik, Herr Schlauch, und nicht Bürokratieabbau.
({5})
Kommen wir zum Thema Modellregionen. Herr
Clement hat direkt nach dem Regierungsantritt - Oktober 2002 - angekündigt: zunächst Bürokratieabbau.
Dann hat er gemerkt, dass er bei Ihnen damit nicht
durchkommt, und gesagt: Richten wir Modellregionen
ein. - Innerhalb kürzester Zeit haben sich 38 Regionen
gefunden, die Initiativen ausgearbeitet und sich als Modellregionen beworben haben. Was haben Sie daraus gemacht? - Drei Testregionen eingesetzt! Die haben zwischenzeitlich tausend Vorschläge geliefert. Aus diesen
tausend Vorschlägen haben Sie 29 ausgewählt und eine
neue Initiative der Bundesregierung angekündigt. Meine
sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, wenn
Sie in diesem Tempo mit dem Thema Bürokratieabbau
weitermachen
({6})
und in diesem Tempo damit weitermachen, Vorschläge
aus der Wirtschaft aufzugreifen, dann haben Sie am
Ende dieser Legislaturperiode mit dem Bürokratieabbau
noch nicht einmal angefangen.
({7})
Wir haben auch zum Thema Statistik einen Antrag
vorgelegt. 350 Bundesstatistiken werden jährlich erstellt; dafür werden 500 Millionen Euro aufgewendet.
Der Bundesrechnungshof hat das Statistische Bundesamt
mehrfach wegen Verschwendung gerügt. Dabei sind die
Kosten, die sich dadurch ergeben, dass die Unternehmen
die Daten zuliefern müssen, noch nicht aufgeführt. Das
muss abgestellt werden. Dafür haben wir einen Antrag
vorgelegt und dem können Sie heute zustimmen.
({8})
Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie den vollmundigen Ankündigungen zum Bürokratieabbau endlich
Taten folgen. Wenn Sie selbst nichts zuwege bringen,
stimmen Sie den Anträgen der FDP-Fraktion zu! Heute
haben Sie die Chance dazu.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig in einer schwierigen wirtschaftlichen
Lage. Das ist ohne Zweifel wahr. Fest steht aber auch:
Die Beiträge, die wir heute vonseiten der Opposition
gehört haben, werden nicht dazu beitragen, diese
schwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Das
muss hier einmal deutlich gesagt werden.
({0})
Ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie offenbar
noch nicht einmal das Frühjahrsgutachten zur Kenntnis
genommen haben: Das Wachstum in Deutschland belief
sich im ersten Quartal 2004 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 1,5 Prozent und lag damit glatt höher als
das der Eurozone, das nur 1,3 Prozent betrug. Ich erinnere mich noch, wie Sie in Ihren Beiträgen den Vorwurf
inszeniert haben, wir seien Letzter in Europa. Diese Zeiten sind vorbei. Das Wachstum reicht zwar noch nicht
aus - das stimmt -, aber es geht aufwärts. Ich bitte Sie,
zumindest diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen,
wenn Sie schon nicht an die Prognosen glauben.
({1})
Auch Bundesbankpräsident Axel Weber sieht die
deutsche Wirtschaft auf dem Weg der Erholung. Er
schätzt das Wachstum mit 1,7 Prozent ein und ist damit
sogar noch optimistischer als die Bundesregierung und
als wir. Das freut uns natürlich. Seine Einschätzung verdient hier zumindest Erwähnung.
Es gibt weitere gute Konjunkturnachrichten. Die Befragung von Creditreform zur Mittelstandskonjunktur
hat ganz deutlich gezeigt, dass der Anteil der mittelständischen Unternehmen mit sehr guter bzw. guter Auftrags- und Geschäftslage im Vergleich zum Vorjahr um
11,4 Prozentpunkte auf 29,4 Prozent angewachsen ist.
Ein solches Ergebnis bedeutet nicht, dass es keine
Schwierigkeiten gibt, aber es zeigt, dass es einen Aufwärtstrend gibt. Es gebietet die Seriosität, dies hier zu erwähnen.
({2})
Ähnliche Entwicklungen sieht auch das Statistische
Bundesamt bei der Binnenkonjunktur, Herr Kollege
Schauerte. Das Statistische Bundesamt meldet für das
erste Quartal 2004 eine Erhöhung der Zahl der Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich, insbesondere
in den Bereichen Handel, Gastgewerbe und Verkehr. Im
Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der hier Beschäftigten
um 134 000 Personen gestiegen. Auch hier können Sie
einen entsprechenden Aufwärtstrend feststellen.
Mir stellt sich an dieser Stelle nun die Frage, welche
Alternative Sie uns eigentlich anbieten. Wo in Ihren Anträgen, die wir heute beraten, spiegeln sich Ihre Sprüche
zu mehr Wettbewerb und mehr Freiheit, Frau Wöhrl,
eigentlich wider?
({3})
Ein gutes Beispiel hierzu haben Sie selbst genannt. Bei
der Überarbeitung der Handwerksordnung haben Sie
versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wir
hätten uns hier noch mehr Freiheiten gewünscht - das
gestehe ich zu -, haben aber einen Kompromiss gefunden, der, wie ich finde, sehr gut ist. Wir können in diesem Bereich einen Gründungsboom feststellen. Wir unterstützen so das unternehmerische Denken. Das ist alles
positiv. Deswegen können Sie hier doch sagen, dass es
richtig war, dass wir das gemeinsam gemacht haben.
({4})
Die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande erwarten, dass wir etwas gemeinsam auf den Weg bekommen.
Seien wir stolz darauf, dass uns das gemeinsam gelungen ist!
Ein weiteres Beispiel, das einen kleineren Bereich betrifft. Wir haben erreicht, dass Existenzgründer von Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern
bzw. an die Handwerkskammern befreit sind, wenn ihr
Gewerbeertrag nicht höher ist als 25 000 Euro im Jahr.
Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag für die Menschen, die versuchen, unternehmerisches Denken in die
Praxis umzusetzen.
Ein weiteres solches Beispiel. Die Eintragung in das
Handelsregister muss beschleunigt werden. Fast 70 Prozent aller Handelsregistereintragungen in Deutschland
dauern länger als zwei Monate. Damit liegen wir deutlich über dem europäischen Benchmark von einem Monat. Den Gerichten soll deshalb gesetzlich vorgeschrieben werden, den Antragsteller innerhalb eines Monats in
einer das Verfahren fördernden Weise zu bescheiden.
Damit wollen wir klar machen, dass wir dafür sorgen
wollen, dass die Menschen schneller an den Markt gehen
können. Dieser Weg ist doch richtig. Sagen Sie deshalb,
dass auch Sie das wollen und dass Sie mit uns diesen
Weg gehen wollen.
Schauen Sie sich heute im „Handelsblatt“ den Monitor zum Thema Ausbildung an. Dort steht die klare Aussage, dass wir auch denjenigen einen Weg ebnen müssen, die nicht so gut qualifiziert sind. Was haben wir
gemacht? Schauen Sie sich das einmal an: Bereits seit
dem 24. September 2003 gibt es eine Modernisierung
hin zu Berufen mit zweijähriger Ausbildungsdauer, wie
beim Verkäufer, Handelsfachpacker, Maschinenführer
oder Fahrradmonteur. Wir müssen mehr machen - darin
stimme ich Ihnen zu -, aber dass wir diesen Weg gegangen sind und dass es bereits Gesetz geworden ist, müssen Sie doch anerkennen. Sprechen Sie das doch einmal
aus und erkennen Sie an, dass nicht alles schwarz in
schwarz erscheint, sondern dass es in Deutschland voran
geht. Das ist Teil der Wahrheit.
({5})
Christian Lange ({6})
Nun zu Ihnen, Herr Brüderle, und Ihren steuerpolitischen Äußerungen. Das, was Sie vorgetragen haben
- das steht auch in Ihren Anträgen -, dass die Personengesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften benachteiligt wären, ist ein alter Hut. Ich will es noch einmal sagen, auch wenn es mich die letzten Minuten
meiner Redezeit kostet: Man darf nicht auf den immer
wieder bemühten Vergleich hereinfallen, Kapitalgesellschaften zahlen nur 25 Prozent Körperschaftsteuer, Personengesellschaften dagegen 45 Prozent Einkommensteuer. Dieser Vergleich stimmt nicht.
Warum stimmt er nicht? Erstens. Kapitalgesellschaften müssen zusätzlich Gewerbesteuer bezahlen, was im
Durchschnitt mit knapp 14 Prozent zu Buche schlägt.
Also liegt die steuerliche Gesamtbelastung bei rund
39 Prozent, etwa beim Handwerksmeister. Die können
die Gewerbesteuer bei der Einkommensteuerschuld pauschal verrechnen.
Zweitens. Die Körperschaftsteuer von 25 Prozent
wird vom ersten bis zum letzten Euro des Gewinns erhoben, während die Einkommensteuer progressiv ausgestaltet ist. Bei der Personengesellschaft sind nur die Gesellschafter steuerpflichtig, aber nicht die Gesellschaft
selbst. Das bedeutet, dass den Personenunternehmern
wie jedem anderen Privaten auch der Grundfreibetrag
und andere Freibeträge, etwa wenn er Kinder hat, zustehen.
Drittens. Was ist schließlich das Ergebnis dessen? Um
im Jahr 2005 eine den Körperschaften, also den Aktiengesellschaften, entsprechende durchschnittliche Gesamtbelastung von rund 39 Prozent zu erreichen, muss ein lediger Handwerksmeister rund 130 000 Euro versteuern.
Bei einem verheirateten Handwerksmeister sind es rund
245 000 Euro. Dass dies nur 5 Prozent der Personengesellschaften in Deutschland sind, haben wir zu beklagen.
Dass das Steuerrecht diese benachteiligt, stimmt aber
einfach nicht. Behaupten Sie es hier also nicht. Finden
Sie den Weg zurück zur Wahrheit und damit zur Klarheit
und damit zum Wirtschaftswachstum in Deutschland!
Dazu fordere ich Sie auf.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort der Kollegin Veronika Bellmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, auf welcher
Rhetorikschule Sie reden gelernt haben. Meine Großmutter hätte bei dem lauten Redeschwall, den Sie von
sich gegeben haben, gesagt: Wer schreit, hat Unrecht.
({0})
Herr Lange, ich will Ihnen gerne sagen, wo unsere
Vorschläge für die Mittelstandspolitik stehen. Sie stehen
in unserem vorliegenden Antrag. Es sind genau 25 an
der Zahl. Uns vorzuwerfen, dass wir Ihnen hier nichts
Konstruktives vorschlagen, ist wohl gründlich danebengegriffen.
({1})
Der KfW-Mittelstandsmonitor 2004 sagt aus: Die
Schwäche des Mittelstandes hält das vierte Jahr in Folge
an. Lediglich 12 Prozent der Mittelständler sind in der
Lage, zusätzliches Personal einzustellen. Damit befindet
sich die Mittelstandskonjunktur im Schlepptau der Gesamtwirtschaft mit entsprechender Wirkung auf Beschäftigungsimpulse und Investitionen.
({2})
Es stellen sich die Fragen: Ist der Mittelstand in der
Krise? Ist die Gesamtwirtschaft in der Krise? Ist die
Weltwirtschaft in der Krise? - Nein, die Politik dieser
Bundesregierung und die Staatsfinanzen sind in der
Krise.
({3})
Ihre Laborversuche sind kläglich gescheitert und die politischen Rahmenbedingungen für den Mittelstand sind
katastrophal.
Ich will die Steuer- und Abgabenpolitik näher beleuchten und dabei insbesondere die Ausbildungsplatzabgabe hervorheben. Statt die Berufsbildung durch eine
Verkürzung der Ausbildungsdauer, durch eine modulare
Ausbildung, die an den Bedürfnissen der Wirtschaft
orientiert ist, und durch die Schaffung neuer Ausbildungsberufe zu modernisieren, schaffen Sie ein Bürokratiemonster sondergleichen: 1 000 Arbeitsplätze ohne
Wertschöpfung, die die Steuerzahler und damit die
Staatsquote noch mehr belasten, als das ohnehin schon
der Fall ist.
Das Gleiche gilt bei Hartz IV. Ja, wir sind dafür, die
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzuführen.
({4})
Wichtig ist aber die Umsetzung. Sie ist wie bei allen anderen Ihrer Gesetze schlampig. Die Bundesagentur für
Arbeit verdient ihren Namen fast nicht mehr. Auch dort
sind 40 000 neue Arbeitsplätze nötig, aber auch dort entsteht keine Wertschöpfung.
({5})
Über allem schwebt das Haushaltsdebakel ohnegleichen, zu dem das Maut-Desaster mit Milliardenlöchern
noch hinzukommt, was nicht ohne Wirkung auf die Mittelstandspolitik bleibt.
({6})
- Herr Tauss, es ist schön, dass Sie meinen Namen mittlerweile kennen, aber Sie können mit Ihren unqualifizierten Zwischenrufen ruhig einmal aufhören.
({7})
Maut-Desaster, Haushaltslöcher, Haushaltsdebakel von all dem ist bei der Gemeinschaftsaufgabe der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur nicht die
Rede.
Ich will nun einmal näher auf die Gemeinschaftsaufgabe eingehen. Die Gemeinschaftsaufgabe ist das erfolgreichste Instrument der Wirtschaftsförderung, mit relativ
geringen Mitnahmeeffekten und hohen Arbeitsmarkteffekten. 60 Prozent der GA-Summe werden an kleine und
mittelständische Unternehmen mit 250 und weniger Arbeitnehmern ausgezahlt. Eine Kürzung dort wäre deshalb auch eine Beschneidung der Handlungsmöglichkeiten der Mittelständler.
({8})
Die Kürzung der GA-Mittel ist ein gesamtdeutsches
Spiel mit dem Feuer, da die GA kein rein ostdeutsches
Förderinstrument ist, sondern ein Bundesprogramm, das
jeder bedürftigen Region zugute kommen soll.
Mit den Kürzungen der GA-Mittel schädigen Sie allerdings besonders den Aufbau Ost. Er wird an der wirksamsten Stelle ausgebremst. Dazu gibt es parteiübergreifend Kritik. Ministerpräsident Platzeck, SPD, erklärt:
Eine tragende Säule des Aufbau Ost ist gefährdet. Bundesminister Stolpe sagt: Kürzen ist Unsinn. - MdB
Schneider, SPD, warnt: Aufbau Ost wird sturmreif geschossen. - MdB Hettlich, Grüne, sagt: Das ist Zündeln
am Solidarpakt, eine Taktik der Nadelstiche gegen die
Ostförderung. Er ruft Herrn Clement dazu auf, als Bundesminister für das ganze Land verantwortlich zu sein
und nicht nur für sein Heimatland Nordrhein-Westfalen.
({9})
Der Verdacht, dass ein Vermeiden der Subventionskürzungen bei der Steinkohle zulasten des Ostens geht,
ist nicht von der Hand zu weisen. Die Steinkohleförderung wird bis 2012 verlängert. Die Steinkohleförderung
wird von Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Konzept, die auf 708 Millionen Euro festgelegt waren, ausgenommen. Die Steinkohleförderung sinkt langsamer als
ursprünglich geplant, auch wenn sie verzögert ausgezahlt wird. Das bedeutet für die Kohle ein Plus von
630 Millionen Euro und entspricht genau der Summe,
die bei den Verpflichtungsermächtigungen für die GA
eingespart werden soll. CDU-Haushälter Dietrich
Austermann kritisiert deshalb zu Recht, dass der größte
Fehler der Regierung darin besteht, die Vergangenheit
zulasten zukunftsgewandter Wirtschaftsförderung zu
fördern.
({10})
In der Öffentlichkeit aber werden diese Kürzungen
nicht mit dem Haushaltsdebakel, mit den Milliardenverlusten aus dem Mautdesaster oder mit Wahlgeschenken
begründet, sondern mit dem Koch/Steinbrück-Konzept.
Meine sehr verehren Damen und Herren, eine Lüge wird
nicht wahrer, wenn man sie ständig wiederholt.
({11})
Das Koch/Steinbrück-Konzept muss jetzt von Kürzungen im Verkehrsetat bis hin zu den Kürzungen der Verpflichtungsermächtigung bei der GA für alles herhalten.
Verstecken Sie sich mit Ihren schönen Reden nicht hinter
den Wachstumsprognosen und Ihrer chaotischen Haushaltspolitik, verstecken Sie sich nicht hinter einer moderaten Subventionskürzung, die moderate Konsolidierungsbemühungen nachweist! Die Länder tragen diese
Subventionskürzungen aus dem Koch/Steinbrück-Papier
nicht umsonst mit; sie stellen vielmehr auch in der Phase
eines Abbaus Planungssicherheit und Verlässlichkeit dar.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Kürzungen nach
Koch/Steinbrück reichen von 4 bis 12 Prozent; im Unterschied dazu hat das BMWA vorgeschlagen, zwischen
35 und 65 Prozent zu kürzen. In 2005 kommen nach
Koch/Steinbrück 96 Prozent oder 201,06 Millionen Euro
zur Auszahlung, nach BMWA 35 Prozent oder 73,5 Millionen Euro. Die Differenz beträgt somit 128,1 Millionen Euro; das ist mehr, als die GA West ausmacht.
({12})
Das ist einfache Prozentrechnung. Ich bin gespannt,
wie die Anfragen, die diesbezüglich im Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit gestellt werden, beantwortet werden. Ich hoffe, dass bis zur Kabinettsentscheidung am
23. Juni die verworrenen Kürzungsvorschläge des
BMWA noch einmal geradegerückt werden. Es ist schon
schlimm genug, dass die Verlässlichkeit der Politik weiter Schaden genommen hat. Ich hoffe auch, dass Sie
nach dem Grundsatz handeln: An der Investitionsförderung zu sparen ist wirtschaftlich unsinnig, da
dadurch die Sozialabgaben langfristig steigen.
Wenn wir wissen, dass die Großindustrie durchaus
mobil, der Mittelstand aber im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig ist, dann müssen wir Investitionen auch
beim Mittelstand entsprechend honorieren:
({13})
durch eine Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, durch einen erleichterten Zutritt von Geringqualifizierten zum Arbeitsmarkt und durch weitere Steuerreformen.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. - Notwendig ist eine klare
Situationsanalyse, und zwar offen und ehrlich, nicht
blauäugig und bewusst geschönt, wie es die Bundesregierung oder Herr Brandner vorhin vorgetragen haben.
Sie handeln nach dem Motto: Wenn ich die Augen nur
lange genug geschlossen halte, dann wird mein Traum
schon irgendwann Wirklichkeit werden. - Das kann
nicht zutreffen. Wir brauchen eine Situationsanalyse,
eine Zielbestimmung und eine Wegbeschreibung. Wir
brauchen wie im Auto ein Navigationssystem.
({0})
Wenn Analyse, Zielbestimmung und Wegbeschreibung
vorliegen, dann heißt es auch hier: Die Route wird berechnet. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung
zu unserem Antrag.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordnete
der PDS.
Die aktuelle Steuerschätzung ist ein Offenbarungseid
für Herrn Eichel und seine völlig verfehlte Finanzpolitik.
Doch es ist keine Kehrtwende der Bundesregierung zu
einer vernünftigen, die Konjunktur belebenden Finanzpolitik zu erkennen. Die Versuche des Kanzlers und seines Außenministers, die Finanzpolitik zu ändern und die
Konjunktur anzukurbeln, sind offenbar gescheitert. Die
Leidtragenden der bedingungslosen Fortsetzung dieser
konjunkturfeindlichen Politik sind unter anderem die
kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserem
Land.
({0})
Herr Clement folgt willig dem Sparkurs des Finanzministers und hat als Wirtschaftsminister mit seinem Vorschlag, die öffentlichen Investitionen für den Osten zu
kürzen, mindestens - ganz freundlich ausgedrückt - ein
Selbsttor geschossen. Gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind auf öffentliche Fördermittel
dringend angewiesen.
Sie wissen - viele wissen es augenscheinlich auch
nicht -, gerade im Osten sind in Anbetracht der geringen Liquidität die Unternehmen ohne Fördermittel häufig vom Aus bedroht. Wer die GA-Mittel für den Osten
so dramatisch kürzen will, wie Herr Clement das in die
öffentliche Diskussion gebracht hat, der legt die Axt an
die Wurzel des Aufbaus Ost. Herr Clement ist zwar nicht
hier, aber trotzdem sollte man ihm ins Stammbuch
schreiben, dass er nicht mehr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und auch nicht der Kohlebeauftragte der
Bundesregierung ist, sondern Verantwortung für ganz
Deutschland trägt - und dazu gehört immer noch der Osten.
({1})
Der so genannte Aufholprozess Ost ist seit Mitte der
90er-Jahre ins Stocken geraten. Der Abstand zwischen
Ost und West ist wieder größer geworden. 1997 betrug
zum Beispiel die durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent; sie lag damit fast
doppelt so hoch wie bei westdeutschen Unternehmen.
Wer in Anbetracht solcher Zahlen Vorschläge wie Herr
Clement macht, der hat die ostdeutschen Länder augenscheinlich abgeschrieben. Das gehört angeprangert und
darf nicht hingenommen werden.
({2})
- Unterwegs sein alleine reicht nicht. Wer solche Vorschläge macht, Herr Kollege Schmidt, reist nur, um
Trostpflaster aufzukleben. Herr Clement hat mit diesem
Vorschlag einen Schaden angerichtet, der kaum wieder
gutzumachen und auch mit einem Trostpflasterbesuch
nicht zu korrigieren ist.
Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes unter anderem vor: erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregierung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Gemeinden stärkt und kleinen
und mittelständischen Unternehmen Aufträge gibt, zweitens einen neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur, der
den Länderanteil von 50 Prozent auf 25 Prozent senkt. In
meiner Heimatstadt Berlin ist es zum Beispiel schon gar
nicht mehr möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land
aufgrund seiner Haushaltsnotlage die Kofinanzierung
nicht mehr bereitstellen kann.
Ich darf aber auch auf positive Erfahrungen zum Beispiel der rot-roten Landesregierung in Schwerin mit einem Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramm
verweisen. Dieses Programm ist nämlich so angelegt,
dass die Regionen selbst über die Fördermittelzuweisung
entscheiden und dass sie dafür eigene Budgets haben.
Ich glaube, das ist der richtige Weg. Ein anderes gutes
rot-rotes Instrument sind Initiativfonds für finanzschwache Kommunen, die mit den Mitteln aus diesen Fonds
Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen
schaffen können. Ich bin mir sicher, dass es noch weitere
gute Ideen gibt, die von der Bundesregierung einfach nur
aufgegriffen, analysiert und umgesetzt werden müssen.
Ich möchte noch auf einige Punkte der heutigen Debatte eingehen. Frau Kollegin Wöhrl hat zu Beginn der
Debatte völlig richtig gesagt
({3})
- bekommen Sie keinen Schreck, ich zitiere Sie nur -,
man solle den Faktor Arbeit von den Sozialabgaben abkoppeln. Sie wissen, dass wir von der PDS schon seit
langem den Vorschlag unterbreitet haben, eine Wertschöpfungsabgabe einzuführen. Wenn wir Frau Kollegin Wöhrl an unserer Seite wissen, dann sind wir darüber nicht enttäuscht, sondern freuen uns darüber.
({4})
Der Kollege Rezzo Schlauch hat die falsche Behauptung aufgestellt, dass alle in diesem Haus für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind.
Ich darf für uns klarstellen, dass die Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab dem 1. Januar
2005 bedeuten wird, dass die Menschen im Osten von
nur noch 331 Euro leben müssen und die Menschen im
Westen, die davon betroffen sind, von 345 Euro. Ich darf
klarstellen, dass ein derartiges Verfahren niemals die Zustimmung der PDS finden wird. Wir als PDS-Abgeordnete gehören diesem Hause bekanntlich an.
({5})
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die
besten Ideen nichts bringen, wenn die Bundesregierung
nicht bereit ist, ihre Finanzpolitik zu ändern. Herr Eichel
drosselt mit seiner Finanzpolitik die Konjunktur und
Herr Clement zwingt mit seinen Investitionskürzungsvorschlägen den Mittelstand weiter in die Knie. Insofern
kann man nicht von einer „Offensive für den Mittelstand“ sprechen; der Antrag von SPD und Grünen gaukelt dies leider nur vor.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Walter Hoffmann, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt,
glaube ich, in diesem Hause einen breiten Konsens in
der Einschätzung der Situation des Mittelstands bzw. der
kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande. Alle
haben betont, wie wichtig der Mittelstand ist, und die
Standorttreue besonders hervorgehoben. Ein Teil der
Redner hat auch die beschäftigungspolitische Bedeutung
des Mittelstands angesprochen. Es sind beeindruckende
Fakten, dass der Mittelstand 70 Prozent der Arbeitnehmer und 83 Prozent der Auszubildenden beschäftigt. Er
ist, wie es so schön heißt, das zentrale Standbein für die
Zukunft im erweiterten Europa und in einer globalisierten Welt.
Da das so ist, tun wir gut daran, alles daranzusetzen,
die Situation der kleinen und mittleren Betriebe zu verbessern. Darum streiten wir heute. Wir wollen, dass
Menschen gerade in den kleinen und mittleren Betrieben
Beschäftigung und Ausbildung finden, dass sich die
finanzielle Lage dieser Betriebe verbessert und wieder
Erträge eingefahren werden.
Herr Schauerte, man kann darüber streiten, ob die bisher erzielten Ergebnisse ausreichend sind.
({0})
- Sie meinen, dass dies nicht der Fall ist. Wir haben dazu
naturgemäß eine etwas differenziertere und positivere
Einstellung. Aber ich denke, es ist unstrittig, dass wir in
den vergangenen Monaten und Jahren eine Fülle von
Maßnahmen ergriffen haben, um die Lage der mittleren
und kleinen Betriebe zu verbessern.
Zu den bürokratischen Belastungen und Regulierungen ist schon vieles gesagt worden. Ich möchte dazu
noch einige Anmerkungen machen. Wie wir alle wissen,
bestehen die Belastungen für die KMUs nicht nur im
Steuer- und Abgabenbereich, sondern auch in der Bürokratie. Das hat die Kollegin Homburger von der FDP in
den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt.
Wenn wir die Lage der kleinen und mittleren Betriebe
verbessern wollen, dann müssen wir zunächst einmal
feststellen, wodurch diese Lage gekennzeichnet ist. Zum
Mittelstand gehören der Friseur, der Dachdecker, der
Existenzgründer im IT-Bereich, der Autozulieferer mit
fast 500 Beschäftigten - auch er wird statistisch noch
dem Mittelstand zugerechnet -, der Metzger, der Maschinenbauer, der Partyservicebetrieb und viele andere.
In den jeweiligen Branchen und Sektoren gibt es unterschiedliche Regelungen und Belastungen. Insofern ist es
schwierig, zu verallgemeinern.
Ich denke, es hilft uns auch nicht weiter - das ist
schon mehrfach festgestellt worden -, den Sachverhalt
immer wieder polemisch und schwarzmalerisch darzustellen. Mir ist zum Beispiel völlig schleierhaft, warum
die Kollegen von der FDP in ihrem Antrag eine großflächige Abschaffung statistischer Erhebungen fordern, obwohl wir wissen, dass wir zumindest auf einen Teil der
Erhebungen dringend angewiesen sind und wir mit dem
Versuch, sie abzuschaffen, auf den härtesten Widerstand
stoßen würden, und zwar auch seitens der Politik. Denn
wir brauchen eine vernünftige Datenerfassung, um die
entsprechende Gesetzgebung auf den Weg zu bringen.
Ich will damit sagen, dass der Teufel im wahrsten Sinne
des Wortes im Detail steckt.
Wir haben gehandelt - das ist nach unserer Auffassung auch unstrittig -; wir haben Maßnahmen entwickelt
und sind jetzt dabei, diese konkret umzusetzen. Wir haben schnell und unbürokratisch das Projekt „Innovationsregionen“ geplant und umgesetzt - und zwar innerhalb eines Jahres, Frau Homburger!
Wir haben mithilfe der Innovationsregionen eine
Fülle von Vorschlägen erarbeitet und diese vor wenigen
Tagen noch einmal in einem Kabinettsbeschluss zusammengefasst, der jetzt zur Umsetzung kommt. Er enthält
29 Vorschläge unter aktiver Beteiligung der Betroffenen.
Das ist ein Prozess, der nicht von oben nach unten
durchgesetzt, sondern mit den beteiligten Organisationen
und den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet
wird. Zu den Vorschlägen gehören unter anderem die
Verschlankung des Vergaberechts, die Modernisierung
der Arbeitsstättenverordnung, die Reduzierung des Verwaltungsaufwands im Arbeitsschutzbereich, elektronische Verfahren bei Steuererklärungen und einfache Meldeverfahren in der Sozialversicherung.
In extrem kurzer Zeit haben wir eine Fülle von Vorschlägen mit den Beteiligten entwickelt und auf den gesetzgeberischen Weg gebracht. Jetzt befinden wir uns in
der Umsetzungsphase. Herr Schauerte, Sie brauchen
keine Angst vor Ruhe und Stillstand in diesem Land zu
haben. Wir werden den bisherigen Prozess fortsetzen.
Ich denke, der Problemdruck ist in der Tat so hoch, dass
wir uns Stillstand und Ruhe im wahrsten Sinne des WorWalter Hoffmann ({1})
tes überhaupt nicht erlauben können. Machen Sie sich
keine Sorgen! Wir werden in unserem bewährten Stil
weiter handwerklich solide und qualitativ hochwertige
Arbeit leisten.
({2})
Wir werden also weiter Vorschläge sammeln und Maßnahmen umsetzen.
Ich finde es gut, dass Sie uns in Ihrem Antrag für die
Modellregionen - schön, dass das auch einmal geschieht - ausdrücklich loben. Jetzt können Sie uns auf
der Bundesratsebene weiterhelfen; denn ein Großteil
dessen, was wir vorgeschlagen haben, ist zustimmungspflichtig. Nehmen Sie entsprechend Einfluss auf die
Bundesländer, in denen Sie etwas zu sagen haben!
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in der Tat
den Stil der Diskussion über die Mittelstandspolitik sowie über Entbürokratisierung und Deregulierung zum
Teil für kontraproduktiv halte. Es hilft uns nicht weiter,
die Situation ständig schwarzmalerisch darzustellen. Ich
möchte damit die Probleme der kleinen und mittleren
Betriebe nicht klein reden; darum geht es mir überhaupt
nicht. Wenn wir aber Dynamik erzeugen und Menschen
motivieren wollen, Unternehmen zu gründen, Arbeitsplätze zu schaffen und Ausbildungsplätze zur Verfügung
zu stellen, dann schaffen wir das nicht mit Schwarzmalerei und depressiven Zustandsbeschreibungen.
Das Institut für Mittelstandsforschung hat im letzten
Jahr - meine Kollegin von der FDP hat das vorhin angesprochen - eine breit angelegte Untersuchung über die
Belastung des Mittelstandes sowie über Deregulierung
und Regulierung angestellt. Diese hat eine Fülle, wie ich
finde, sehr nachdenkenswerter Ergebnisse gezeitigt. Ein
Ergebnis ist, dass die subjektiv empfundene Bürokratiebelastung der Unternehmen größer ist als die tatsächlich
nachgewiesene. Ich wiederhole: Die subjektiv empfundene Bürokratiebelastung der Unternehmen ist größer
als die tatsächlich nachgewiesene! Ich bitte, einmal darüber nachzudenken, wie das zustande kommen kann
und wo die konkreten Ursachen dafür liegen. Wenn man
das tut, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass
das an einer schwarzmalerischen Stimmungsmache liegt,
die sich auf viele Mittelständler in diesem Land in der
Tat demotivierend auswirkt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
Das sollten Sie bei der Formulierung Ihrer Anträge
berücksichtigen.
Deswegen appelliere ich an Sie noch einmal: Dramatisieren Sie die Lage nicht, sondern arbeiten Sie stattdessen an der konkreten Umsetzung unserer Vorschläge
mit! Ein konkreter Vorschlag ist: Lassen Sie uns keine
überflüssigen Anträge mehr einbringen! Das wäre ein
großer Beitrag zum Abbau von Bürokratie.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Schönredner“ ist ein Begriff, der im Süden der Republik stark verbreitet ist. Dieser Begriff trifft heute auf
Sie, Herr Schlauch, voll und ganz zu. Wenn ich das, was
Herr Kuhn ausgeführt hat, richtig verstanden habe, dann
hat er zwar viel geredet, aber zum Mittelstand überhaupt
nichts gesagt.
({0})
Das Schlimme ist: Sie reden schön, Sie reden sich selbst
etwas ein und Sie glauben das auch noch, was Sie sich
einreden.
({1})
In welcher Welt leben Sie denn?
Die Lage des Mittelstandes war noch nie so katastrophal wie zurzeit. Allein in den letzten zwei Jahren gab es
80 000 Insolvenzen. Jeden Tag kommen weitere 100
hinzu. Herr Hoffmann, das sind dreimal so viele Konkurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor
25 Jahren.
(Christine Scheel ({2})
Die Unternehmen laufen in Scharen davon. Jeden Tag
verlieren wir über 1 000 Arbeitsplätze an das Ausland.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Die - staatlich großzügig subventionierten - Ich-AGs graben den Steuern und Abgaben zahlenden Meisterbetrieben zu guter Letzt das Wasser ab. Die
Bundesagentur für Arbeit muss in diesem Fall fast
1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Meine Damen
und Herren von Rot-Grün, Sie setzen mit dieser verfehlten Politik weitere Zehntausende von Arbeits- und Ausbildungsplätzen aufs Spiel. Deshalb fordere ich: Schaffen Sie die Ich-AGs sofort wieder ab. Eine solche
Regelung gibt es in der ganzen EU kein zweites Mal.
Dänemark und Schweden haben das einmal ausprobiert.
Auch sie haben Schiffbruch erlitten.
({3})
Seit Rot-Grün bei uns regiert, sind wir, Deutschland,
nicht mehr die Lokomotive des europäischen Wirtschaftszuges, sondern wir sitzen im Bremserhäuschen
und werden zur Last für die wirtschaftliche Entwicklung Europas.
({4})
Herr Kollege Stiegler, nur noch Griechenland, Portugal
und Spanien liegen hinter uns. Alle anderen sind vor uns.
Fakt ist: In Deutschland sind - das kann nicht oft genug
gesagt werden - die Nettolöhne einfach zu niedrig und
die Bruttoarbeitseinkommen zu hoch.
({5})
Wir sind zu teuer, wir sind zu bürokratisch und wir sind
zu wenig innovativ.
({6})
Die Ursachen liegen auf der Hand: Sie haben den
Mittelstand vernachlässigt; Sie haben ihm unverkraftbare Fesseln angelegt. Seit 1998 haben Sie einen
Knüppel nach dem anderen aus dem Sack geholt. Ich
rufe hier ins Gedächtnis: Lohnfortzahlungsgesetz gekippt, 630-DM-Regelung abgeschafft, Kündigungsschutzschwelle angehoben und das Betriebsverfassungsgesetz auf Mittel- und Kleinbetriebe ausgeweitet. Zum
Beispiel kamen zu den Kosten von 6 Milliarden Euro
noch 1,2 Milliarden Euro hinzu. Das ist ein Beschäftigungsprogramm für den DGB, aber nicht für die Bürger
unseres Landes.
({7})
Genauso wurde ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
umgesetzt. Ergebnis: minus 250 000 Arbeitsplätze. Die
Bürokratie wurde ausgeweitet. Die Steuern wurden erhöht. Ich erinnere nur an die Einführung der Ökosteuer.
Den Investitionshaushalt haben Sie gekürzt. Herr Minister Stolpe, Sie sind dabei der Leidtragende - ich fühle
mit Ihnen -, weil Sie kein Geld mehr haben, um die Bauwirtschaft anzukurbeln. Jetzt kommen Sie von Rot-Grün
noch mit der Ausbildungsplatzabgabe und anderem.
Sie wundern sich, dass bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland nichts mehr läuft. Katzenjammer ist an der
Tagesordnung. Aber das kommt ja nicht von ungefähr.
Es ist alles hausgemacht, wie meine Vorrednerinnen
Frau Bellmann und Frau Wöhrl bereits gesagt haben.
Dem Macher Schröder unterläuft viel Murks. Er lässt
den Mittelstand im Regen stehen. Uns muss quer durch
das ganze Parlament besonders berühren, dass der Mittelstand von der Substanz lebt. Die Ertragslage hat sich
drastisch verschlechtert. Es muss doch alarmieren, dass
35 Prozent der kleinen Unternehmen mit einem Umsatz
unter 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn mehr machen und dass nur ein Drittel der größeren Unternehmen
mit einem Umsatz zwischen 5 Millionen Euro und
50 Millionen Euro einen Gewinn erzielen.
Die Eigenkapitaldecke wird immer dünner. Sie beträgt im Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme.
Mehr als ein Drittel der Betriebe weist in der Bilanz kein
Eigenkapital mehr aus. Bei kleineren Betrieben mit
einem Umsatz bis 500 000 Euro sind es sogar mehr als
die Hälfte. Dennoch sagen Sie: Mit dem Mittelstand geht
es aufwärts; es ist alles in Butter; wir werden die Probleme meistern. Nein, Sie haben dem Mittelstand das
Leben schwer gemacht, Sie haben ihn vernichtet.
({8})
Ende 2003 befürchteten über zwei Drittel aller Firmen mit weniger als 50 Beschäftigten und mehr als die
Hälfte der Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern für
2004 noch schlechtere Finanzbedingungen. Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben vorhin darauf zu Recht verwiesen;
aber hier wird es nicht verstanden.
({9})
Die Botschaft ist noch nicht ganz angekommen.
Das Wichtigste ist, dass wir den Mittelstand wieder
stärken. Das ist das A und O. Durch die Stärkung des
Mittelstandes werden Wachstum und Beschäftigung gefördert. Vor allen Dingen deshalb müssen vernünftige
Rahmenbedingungen geschaffen werden. Für einen Aufschwung in Deutschland brauchen wir einen Befreiungsschlag - ich möchte dazu sechs kurze Punkte vortragen -: erstens einen Steuerabbauplan für die nächsten
fünf Jahre, zweitens echte Reformen zur Senkung der
Lohnzusatzkosten, drittens weniger Bürokratie, viertens
eine Offensive für Investitionen, Innovationen und Existenzgründungen, fünftens eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sechstens längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn.
Mittelstand und Existenzgründer gehören wieder ins
Zentrum der Wirtschaftspolitik. Dahin werden wir sie
auch rücken, weil Sie das versäumt haben.
({10})
Wir brauchen mehr Freiraum für Selbstständigkeit. Seit
drei Jahren werden in Deutschland immer weniger Unternehmen gegründet. Herr Lange, was Sie gesagt haben,
stimmt gar nicht. Wir haben auch beim Handwerk ein
ganz großes Minus zu verzeichnen, nämlich den Verlust
von über 100 000 Arbeitsplätzen allein in diesem Jahr.
({11})
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Der Selbstständigenanteil liegt bei uns in der Bundesrepublik Deutschland leider nur noch bei 10 Prozent. In
der EU liegt er noch bei 16 Prozent. Dieser Trend zu
einem immer geringeren Anteil muss endlich umgekehrt
werden.
Mittelständler gehen, auch was Arbeitszeit anbelangt,
mit gutem Beispiel voran.
({12})
Die Jahresarbeitszeit ist bei ihnen um etwa 50 Prozent
höher als bei vielen ihrer Mitarbeiter. Sie packen an, sodass es wieder aufwärts geht. Wir alle sind aufgefordert,
dem Mittelstand endlich die Chance zu geben, sich wieder so zu entfalten, wie er es verdient. Wenn er auf Sie
von Rot-Grün setzt, ist er verlassen. Wir werden dafür
sorgen, dass es wieder vernünftige Rahmenbedingungen
für den Mittelstand gibt und es wieder aufwärts geht, wie
Kollege Schauerte das vorhin gesagt hat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
auf der Drucksache 15/3221. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An-
nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/351 mit
dem Titel „Offensive für den Mittelstand“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion auf Druck-
sache 15/349 mit dem Titel „Grundsätzliche Kehrtwende
in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln - Mit-
telstand umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer möchte sich
der Stimme enthalten? - Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 15/357 mit dem Titel „Neue Chancen für den Mit-
telstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förder-
dschungel ausweiten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Mit Mehrheit ist die Empfehlung ange-
nommen.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksa-
che 15/752 mit dem Titel „Statistiken reduzieren - Un-
ternehmen entlasten - Bürokratie abbauen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Mit gleicher
Mehrheit ist auch diese Beschlussempfehlung angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit unter Buchstabe e seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/3221 die Ablehnung des An-
trags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1134 mit
dem Titel „Modellregionen für Deregulierung und Büro-
kratieabbau“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr-
heit des Hauses angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Arnold
Vaatz, Werner Kuhn ({0}), Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Ostdeutschland eine Zukunft geben
- Drucksache 15/3047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur
Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 15/776 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
- Drucksache 15/2956 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
Cajus Julius Caesar
Undine Kurth ({4})
Angelika Brunkhorst
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland sichern
- Drucksache 15/3201 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther ({6}), Eberhard Otto ({7}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuen
Länder
- Drucksache 15/3202 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({9}), Joachim Günther ({10}),
Eberhard Otto ({11}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten
in Ostdeutschland
- Drucksache 15/3203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({13})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Wochen entstand in Deutschland
eine Debatte über den Aufbau Ost. So pauschalierend
und abwertend man teilweise diese Debatte geführt hat
und so verfehlt meines Erachtens auch die übereilte
Schlussfolgerung ist, dass der Aufbau Ost gescheitert
sei,
({0})
so bleibt aber doch festzuhalten, dass es zwar manchmal
übertrieben war, wie man die Debatte geführt hat, es
aber nötig war, dass sie geführt wurde.
({1})
Natürlich ist der Aufbau Ost nicht gescheitert. Wir
dürften uns aber alle darin einig sein, dass er in enormen
Schwierigkeiten steckt. Wir können nicht hinnehmen,
dass die Stagnation in Ostdeutschland, die bereits etwa
sieben Jahre anhält, noch weitere sieben Jahre zu ertragen ist. Wir müssen hier umsteuern. Wir brauchen neue
Perspektiven für Ostdeutschland. Es müssen Identifikationsmöglichkeiten mit Zielen geschaffen werden, die
tatsächlich attraktiv und auch realisierbar sind. Im Augenblick können wir bei der Regierung herzlich wenig
diesbezügliche Ansätze erkennen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass es immer Unterschiede zwischen
den Regionen in Deutschland geben wird, dass sich die
Leistungsfähigkeit und die Entwicklungsgeschwindigkeit unterscheiden werden. Wir können aber nicht damit
einverstanden sein, dass in letzter Zeit keine Konvergenz
mehr, sondern eine Divergenz zu verzeichnen ist. Die
Tatsache, dass der polnische Präsident Kwasniewski
gestern, nachdem er zunächst auf Polnisch darauf hingewiesen hatte, wie sich die Lage in Polen entwickele und
dass man 6 Prozent Wachstum habe, sich zum Herrn
Bundeskanzler umdrehte und ihm, damit er das auch
mitbekomme, mit polnischem Einschlag auf Deutsch
sagte: „6 Prozent, Gerhard!“, stellt natürlich eine Abwatschung der Politik der Bundesregierung dar.
({3})
Das zeigt insbesondere, dass Ostdeutschland mittlerweile in seiner Entwicklung gegenüber den östlichen
Nachbarstaaten zurückgefallen ist. Das ist ein ganz besonders deprimierender Zustand, weil wir eben, wie gesagt, in den ersten Jahren eine ganz andere Geschwindigkeit vorgelegt hatten.
Was ist festzustellen? Es gibt eine ganze Reihe von
strukturellen Nachteilen in der Infrastruktur. Wir können nicht hinnehmen, dass diese Nachteile nicht unverzüglich aufgearbeitet werden. Wir können nicht hinnehmen, dass sie sich verfestigen und ein dauerhaftes
Hindernis im Konvergenzprozess bilden.
Wir stellen fest, dass die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland seit längerer Zeit auf einem Niveau von
zwei Dritteln der des Westens verharrt. Das ist viel zu
wenig für den Aufwuchs von Unternehmenskapital, das
ist zu wenig, um Kaufkraft selbst zu erzeugen, das ist zu
wenig, um eine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu ermöglichen. Es sind zu wenig Arbeitsplätze entstanden und die Anzahl der insolvenzgefährdeten Betriebe nimmt leider zu. Der Herr Bundeskanzler wollte
sich einmal am Abbau der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland messen lassen. Wir müssen heute leider
feststellen, dass ein Abbau von Arbeitsmöglichkeiten in
Ostdeutschland eingetreten ist: Nicht die Arbeitslosigkeit ist verringert worden, sondern die Arbeitsplatzdichte.
({4})
Das belastet nicht nur die Sozialsysteme und die Sozialkassen, es belastet vor allen Dingen die betroffenen
Menschen, die entweder abwandern oder resignieren. Es
darf nicht sein, dass die Politik den Menschen in Ostdeutschland solche Botschaften vermittelt.
Die Unternehmenslandschaft in Ostdeutschland
wächst insgesamt zu langsam. Sie ist noch immer kleinteilig. Von einem wirklich starken Mittelstand, wie er
das Kennzeichen der wachstumsstarken westdeutschen
Länder ist, können wir in Ostdeutschland bislang nur
träumen. Die regionalen Wachstumszentren, über die wir
froh sind, verdanken wir in erster Linie der erfolgreichen
Ansiedlungspolitik der Länder. Wir verdanken das aber
auch beihilferechtlichen Sonderregelungen und besonderen Finanzierungsinstrumenten, zum Beispiel den EUStrukturmitteln und den GA-Mitteln. Deshalb ist es
umso unverständlicher, dass uns diese Finanzierungsinstrumente, wenn es nach der Regierung geht, künftig
nach und nach aus der Hand geschlagen werden sollen.
Das werden wir nicht zulassen.
({5})
Meine Damen und Herren, die entscheidende Frage
ist für uns: Wie kommen wir zu wettbewerbsfähigen
Arbeitsplätzen? Da haben bis jetzt alle Rezepte dieser
Bundesregierung völlig versagt.
({6})
- Auch die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung
hat in diesem Bereich keine Lösung zustande gebracht;
das ist leider wahr. - Aber weil das so ist, verlangen wir
von Ihnen jetzt: Schluss mit dem Aussitzen, Schluss mit
der Illusion, man könne das Arbeitsvolumen durch Umverteilung von Arbeit erhöhen, Schluss mit der Arroganz
gegenüber all jenen, die sich, wie zum Beispiel Klaus
von Dohnanyi, Gedanken machen, wie man die Situation
wenden kann, Schluss mit der Arroganz, ein „Weiter so“
zu wollen, wie es der heute vorliegende Koalitionsantrag
beschreibt! Wir wollen ein Umsteuern, wie es zum Beispiel Klaus von Dohnanyi und Georg Milbradt detailgenau vorgeschlagen haben.
({7})
Wir wollen wenigstens eine offene Diskussion darüber.
Wir wollen nicht, dass eine Diskussion durch Besuche
des Bundeskanzlers in Schwerin mit der Bemerkung, es
sei ja alles in Butter, sofort unterbrochen und abgewürgt
wird; denn so verfestigt sich die Stagnation.
({8})
Es ist bedauerlich, dass Sie bis jetzt keine konzeptionellen Vorstellungen haben, obwohl Sie aus Ihren eigenen Reihen deutlich kritisiert werden: von Herrn Hacker,
Herrn Schneider, Herrn Hilsberg; auch Herr Hettlich hat
sich dazu geäußert. Aber offenbar ist Ihnen über das
Kurshalten hinaus noch nichts eingefallen.
Wenn Sie aber Kurs halten wollen, dann müssen Sie
den Menschen auch erklären, was Kurshalten heißt.
Beim Emissionshandel zum Beispiel bedeutet es, dass
auch die neueren Festlegungen dazu führen werden, dass
die modernisierte Stromwirtschaft in Ostdeutschland die
noch vorzunehmende Modernisierung in Westdeutschland finanzieren wird. In Ostdeutschland stehen die modernsten Kraftwerke, die es heute gibt, mit einem bereits
entsprechend niedrigen Emissionsvolumen. Deshalb ist
es technisch überhaupt nicht möglich, die Emissionen im
gesetzlich vorgeschriebenen Maße weiter zu reduzieren.
Die Stromwirtschaft Ost muss daher von den alten Kraftwerken West Zertifikate kaufen. Mit dem Verkauf dieser
Zertifikate können die Kraftwerke in Westdeutschland
ihre eigene Modernisierung bezahlen. Das bedeutet, die
Kraftwerke in Ostdeutschland bezahlen zuerst ihre eigene Modernisierung und dann auch noch die Modernisierung in Westdeutschland. So sieht der Aufbau Ost in
Sachen Emissionshandel aus!
({9})
Herr Kollege Vaatz, der Kollege Hilsberg würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Vaatz, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass im gesamten Bereich des Nationalen Allokationsplanes die Early-Action-Bemühungen für den ostdeutschen Stromkonzern Vattenfall zu
100 Prozent umgesetzt wurden?
({0})
Nein, sie sind nicht zu 100 Prozent umgesetzt worden, sondern, soviel ich weiß - ({0})
Ich habe gestern gehört, dass das gerade nicht so ist.
({1})
Aber umso besser. Wenn das so ist, werden wir sehen.
Ich bin gerne bereit, mit den Kollegen noch einmal zu
reden; vielleicht sind sie ja zufrieden. Bis jetzt haben sie
mir das nicht signalisiert.
Kommen wir zum Thema Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Die Lücken in der Verkehrswegeinfrastruktur in Ostdeutschland hätten wir mit Planungsverfahren, die etwa zehn bis 25 Jahre dauern,
schließen müssen, wenn wir nicht die Möglichkeit gehabt hätten, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz anzuwenden. Dieses Gesetz hat die Planungszeiträume in Ostdeutschland erheblich verkürzt.
Es hat uns dadurch viel Zeit und viel Geld gespart.
Aber jetzt hören wir, dass die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes keineswegs gesichert ist.
Oder bestreiten Sie auch das etwa? Vielleicht haben Sie
ebenfalls gestern Nacht den Beschluss gefasst, die Geltungsdauer dieses Gesetz zu verlängern.
({2})
Die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes ist
also, wie gesagt, noch nicht beschlossen.
({3})
Das bedeutet, dass wir früher oder später in das alte bundesrepublikanische Planungsrecht zurückfallen werden.
Das wiederum bedeutet, dass wir viel Geld in die Verwaltungsarbeit und in Gerichtsprozesse stecken müssen.
Die Konsequenz ist, dass der Aufholprozess im Bereich
des Verkehrswegebaus weiter stagnieren wird.
Zum Thema Strukturpolitik kündigt die Bundesregierung an, dass sie sich bei der EU für das Fortgelten der Strukturförderung der neuen Bundesländer als
Ziel-1-Gebiete weiter einsetzen will und dass auch die
beihilferechtlichen Spielräume bis 2013 erhalten bleiben
sollen. Was passiert aber nun? Trotz zehn neuer Mitgliedstaaten streitet die Bundesregierung vehement für
eine Deckelung des EU-Haushalts bei 1 Prozent des
Bruttosozialprodukts. Die weitere Strukturförderung der
Ziel-1-Gebiete wird nicht mehr möglich sein, wenn Sie
bei dieser Haltung bleiben.
All das scheint nicht richtig zusammenzupassen. Deshalb appellieren wir an Sie, Ihre bisherige Position zum
Aufbau Ost zu ändern. Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Antrag mit dem Titel „Ostdeutschland eine Zukunft
geben“ vorgelegt. Das ist der Gegenentwurf zu Ihrem
Kurshalten.
({4})
„Ostdeutschland eine Zukunft geben“ beinhaltet eine
lange Liste von konkreten Maßnahmen. Wir denken,
dass wir wesentlich mehr Anstrengungen unternehmen
müssen, um die Herstellung von innovativen und marktfähigen Produkten sowie den Ausbau der Dienstleistungen in Ostdeutschland zu fördern. Nur auf diese Weise
können neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie mit den verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen aufräumen und dass Sie über
die Neuregelung des Kündigungsschutzes dazu beitragen,
({5})
dass Arbeitskräfte leichter eingestellt werden können
und dass das Missverhältnis zwischen hohen Überstundenvolumen und hohen Arbeitslosenzahlen nach und
nach beseitigt wird.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
({0})
Herr Präsident, noch eine Schlussbemerkung.
Wir erwarten von Ihnen, dass es eine geeignete Lohnfindung gibt, damit der Niedriglohnsektor erschlossen
werden kann. Wir erwarten von Ihnen insgesamt mehr
Freiheit, was die Gestaltungsmöglichkeiten der ostdeutschen Landesregierungen angeht. Wir erwarten insbesondere, dass es bei Ihrer Zusage bleibt, die Solidarpaktmittel in Höhe von 156 Milliarden Euro unangetastet zu
lassen.
({0})
Herr Kollege, es hilft alles nichts: Ihre Redezeit ist
abgelaufen.
Angesichts der heutigen Situation müssen wir befürchten, dass das Streichkonzert hinsichtlich der GAMittel den Solidarpakt allmählich aushöhlen wird
({0})
und uns die Planungsgrundlage für die Zukunft entzogen
wird. Genau das wollen wir vermeiden. Wenn Sie sich
unserer Position anschließen würden, wäre das genau die
richtige Botschaft für Ostdeutschland.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Redezeit
vom Präsidium nicht festgelegt, sondern nur verwaltet
wird. Wenn die tatsächliche Redezeit im Verhältnis zu
der angemeldeten Redezeit deutlich überschritten wird,
trifft dies die nachfolgenden Redner der jeweiligen Fraktion.
Nun erteile ich dem Bundesminister Manfred Stolpe
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Vaatz, in einem Punkt stimme ich mit Ihnen völlig überein: Die österliche Medienflaute wurde
durch Berichte über den Aufbau Ost beendet. Ich betrachte es nicht als einen Schaden, dass dieses Thema
wieder ernsthaft diskutiert worden ist.
({0})
Allerdings haben wir dabei auch sehr viel Unsinn hören
müssen.
({1})
Was mich am meisten verbittert hat, ist die ständige Wiederholung der Aussage, dass seit 1990 über 1 Billion
Euro in den Osten geflossen sind, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die reine Zuweisung von Mitteln in den
Osten über diese 15 Jahre gerade einmal circa 150 Milliarden Euro umfasst. Alles Übrige, all das, was darüber
hinausgeht, betrifft Leistungen und Rechtsverpflichtungen, die in ganz Deutschland gelten und auch an anderen
Stellen bezahlt worden sind.
({2})
Das Schlimme an solchen Aussagen ist ja, dass dies
Stimmungsmache ist und es spaltet. Das verunsichert
und entmutigt die Menschen in Ostdeutschland. Aber
Mut und Selbstbewusstsein sind neben der verlässlichen
Solidarität aus ganz Deutschland das Wichtigste, was die
Menschen im Osten brauchen. Ein ganz wichtiger Faktor, der oft unterschätzt wird und nicht übersehen werden
darf, ist die psychologische Komponente. Entmutigen,
verunsichern ist das Schlimmste, was wir machen können, um den Aufbau Ost zu verhindern.
({3})
Leipzig kam mit seiner Olympiabewerbung leider
nicht in die nächste Runde. Aber der Löwenmut im Rahmen dieser Bewerbung und die breite Unterstützung dieses Projektes quer durch ganz Deutschland haben gezeigt, dass man gemeinsam etwas bewegen kann, einen
Aufbruch erreichen kann. Ich glaube, das ist eine Haltung, die wir für den Aufbau Ost insgesamt brauchen.
Dieser kann uns dann gelingen, wenn man sich so unterhakt, wie es bei diesem Projekt gemacht worden ist.
({4})
Leider kommen auch immer wieder falsche Signale.
Dies gilt zum Beispiel für die Sorge, ob der Aufbau Ost
den Sparzwängen zum Opfer fällt. Alle wissen um die
Notwendigkeit der Konsolidierung. Die Vorschläge des
Vermittlungsausschusses zum Subventionsabbau wurden
von allen getragen. Nun erleben wir eine Debatte, in der
ein Widerspruch zwischen Subventionsabbau und dem
Aufbau Ost im Hinblick auf eventuelle Kürzungen im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe auftaucht. Die GA
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - das
muss hier in aller Klarheit gesagt werden - ist eines der
erfolgreichsten Förderinstrumente.
({5})
Die GA mobilisiert ganz gezielt wettbewerbsfähige Investitionen. Sie schafft Arbeitsplätze. Sie erhält Arbeitsplätze. Sie entwickelt wirtschaftliche Stärken. Sie hilft
Ostdeutschland und damit ganz Deutschland. Sie ist als
ein Förderinstrument unverzichtbar.
Deshalb ist es richtig, dass alle Ministerpräsidenten
der ostdeutschen Länder die Fortsetzung der GA fordern.
({6})
Fortsetzen heißt, nicht scheibchenweise in die Bedeutungslosigkeit kürzen, sondern sichern und verstetigen,
solange ein dringender Bedarf besteht. Ich unterstütze
diese Forderung ausdrücklich. Alle Menschen in Ostdeutschland erwarten dies. Die GA muss als wesentliches Element der Investitionsförderung in Ostdeutschland erhalten bleiben. Dieses Signal brauchen wir jetzt.
Dazu ist mit der heutigen Beschlussfassung eine Chance
gegeben.
({7})
Die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern
darf nicht stillstehen. Wir brauchen Planungssicherheit,
damit kein weiterer Schaden entsteht. Deshalb begrüße
ich den Antrag der Koalitionsfraktionen, die das klar fordern. Unsere Zukunft dürfen wir nicht durch Einsparungen an der falschen Stelle gefährden. Die eingeplanten
Mittel müssen vollständig freigegeben werden.
Meine Damen und Herren, natürlich geht es dem
Wirtschaftsminister nicht besser als dem Verkehrsminister. Der Haushalt 2005 ist noch nicht beschlossen. Die
nötigen Mittel sind noch nicht freigegeben. Wir können
noch nicht ausgeben, was wir noch nicht haben. Ich gehe
jedoch davon aus, dass mit der Aufstellung des Haushaltes für 2005 die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die
GA wiederhergestellt werden kann. Das ist unverzichtbar. Das ist auch eine Bitte an alle, die hier mitdenken
und mithelfen.
({8})
Es bleibt dabei: Der Solidarpakt II gilt. Niemand
stellt ihn infrage. Bis Ende 2019 stehen für den Aufbau
Ost weitere 156 Milliarden Euro bereit. Darüber hinaus
haben wir die europäische Strukturhilfe zur Verfügung.
Länder und Bund sollten sich aber bald darauf verständigen, wie den auf europäischer Ebene drohenden Ausfällen begegnet werden kann.
({9})
Wir werden vonseiten der Regierung alles versuchen,
um eine moderate Umstellung der europäischen Strukturhilfe zu erreichen. Zumindest muss aber ein nationaler Ausgleich vorgesehen werden, und zwar gesichert
durch europäisches Beihilferecht.
({10})
Auf keinen Fall aber darf durch die Osterweiterung
der Europäischen Union ein folgenschwerer Rückschlag
für den Aufbau Ost entstehen. Ähnliches gilt übrigens
auch für andere benachteiligte Regionen in Deutschland,
die ebenfalls auf Strukturhilfen aus Brüssel angewiesen
sind.
Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zusammen mit
den Ländern den wirksamsten Einsatz der zur Verfügung
stehenden Mittel zu vereinbaren. Jetzt, zur Halbzeit des
Aufbaus Ost, wenige Monate vor dem In-Kraft-Treten
des Solidarpaktes II, ist der richtige Zeitpunkt, die künftigen Schwerpunkte zu bestimmen. Bundesminister
Clement und ich haben Praktiker der Wirtschaft und wissenschaftliche Analytiker eingeladen, um ihre Vorstellungen zum Aufbau Ost zu hören. Ergebnisse sind zum
Sommer zu erwarten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?
Lieber erst hinterher, da die Uhr weiterrennt.
Die Uhr rennt natürlich nur dann weiter, wenn wir sie
nicht stoppen, was wir bei Zwischenfragen aber immer
tun.
Noch wird heftig gestritten, aber Schwerpunkte zeichnen sich schon ab. Die Beschleunigung der Reindustrialisierung ist zwingend. Finanzierungswege für die Neugründung und Bestandssicherung mittelständischer
Unternehmen müssen schneller gegangen werden können. Die deutliche Verstärkung von Wissenschaft und
Forschung als Wirkungskräfte der Wirtschaft ist ein entscheidender Hebel für den Aufbau Ost.
({0})
Schnelle Deregulierungen müssen als wirksame Erleichterungen für wirtschaftliches Wachstum geschaffen werden. Ich hoffe auf überzeugende Ergebnisse.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber nicht abwarten, bis die Stellungnahmen vorliegen. Wir haben
eine ganze Reihe von Instrumenten, von denen ich nur
zwei nennen möchte. So können zum Beispiel strukturschwache Regionen bei der Entfaltung ihrer spezifischen Potenziale gezielt unterstützt werden. In sechs
ostdeutschen und zwölf westdeutschen Regionen läuft
das Projekt „Regionen aktiv“. Konzepte zur Entwicklung eines Gesamtraums werden durch EU-, Bundesund Länderförderung gestärkt.
Es gibt nach meiner Überzeugung in Deutschland
keine verlorene Region. Gemeinsam mit den Akteuren
vor Ort müssen wir die jeweiligen Stärken stärken. Stärken zu stärken - darum geht es auch bei dem zweiten
Beispiel, das ich Ihnen nennen möchte, dem Angebot der
Bundesministerien für Wirtschaft, Wissenschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Bau an die Länder. Wachstumskerne könnten durch den gebündelten Einsatz von Fördermitteln schneller vorangebracht werden. Wir haben
die Verhandlungen mit den Ländern darüber aufgenommen, wie einzelne Förderprogramme auf der Basis der
zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel effizienter der
strategischen Entwicklung von Wachstumskernen und
Wachstumsbranchen dienen können. Hier kann die
Bundesförderung am effektivsten helfen, aber der Bund
- das soll hier ausdrücklich betont sein - wird keine einseitigen Festlegungen treffen. Die Entscheidungen liegen bei den Ländern.
Es sind die gemeinsam erarbeiteten Konzepte, die
Ostdeutschland voranbringen können: gründlich geprüfte Konzepte, langfristig angelegte Konzepte mit dem
Ziel, Arbeit zu schaffen, Mut zu machen und Menschen
eine Perspektive zu geben. Die Leute schauen auf uns,
auch heute. Kommen nur Zank, Streit oder gar Injurien
zur Sprache oder - das wird von uns erwartet - wird ein
gesamtgesellschaftlicher Konsens deutlich, dem Osten
auf die eigenen Beine zu helfen? Letzteres ist erforderlich und wird erwartet.
({1})
Mit Verlaub: Der Aufbau Ost ist mehr als eine Olympiabewerbung. Je schneller und überzeugender der Aufbau Ost jedoch kommt, umso eher kann Deutschland
seine volle Kraft entfalten. Alle gemeinsam können es
schaffen: Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft, Wissenschaft und vor allem die Menschen in Deutschland,
im Osten mit ihrem Mut und im Westen mit ihrer Solidarität. Dann wird es gelingen und das muss nicht erst zum
Silvesterabend 2019 sein.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Kretschmer das Wort.
Herr Bundesminister, verzeihen Sie mir, dass ich Sie
beim Vorlesen Ihres Manuskripts gestört habe.
({0})
Natürlich können wir auch am Ende fragen.
Es geht ganz konkret um die europäische Strukturpolitik. Wir haben in diesem Plenum bisher nicht gehört,
dass die Bundesregierung, die SPD und die Grünen
bereit wären, das Geld, das bisher in die neuen Bundesländer und die strukturschwachen Regionen fließt, zu ersetzen. Deswegen frage ich Sie: War das Ihre Privatmeinung, die Sie uns hier vorgetragen haben, oder wann hat
das Bundeskabinett darüber diskutiert, dass es auf jeden
Fall dazu kommen muss, dass die neuen Bundesländer,
wenn der Aufbau Ost nicht scheitern bzw. abrupt abgebrochen werden soll, dieses Geld bekommen?
Herr Bundesminister, wir fragen uns bei Ihren Ankündigungen immer wieder, ob man sich darauf verlassen kann. Ich möchte als ein Beispiel, weil es in Ihrem
Haus ressortiert, das Osteuropazentrum für Wirtschaft
und Kultur nennen, wo wir, die Union, Ihnen die Hand
gereicht und gesagt haben: Wenn das Konzept stimmt,
machen wir mit. Seit über einem Jahr warten die Länder
und diejenigen, die die Konzepte geschrieben haben, auf
eine Antwort, auf eine Entscheidung. Sie kommen nicht
voran. Deswegen stelle ich die für die Strukturpolitik
wichtige Frage: Wie verlässlich war Ihre Aussage hier
und heute?
({1})
Zur Beantwortung, Herr Minister.
Herr Kretschmer, Sie wissen ganz genau, dass wir uns
diesbezüglich noch in einem Klärungsprozess befinden.
Nicht umsonst haben sich die Ministerpräsidenten mit
Herrn Monti getroffen und die Frage diskutiert. Dieser
Prozess wird vermutlich noch ein paar Monate dauern.
Ich habe meine Position hier klar geäußert. Ich bin
mir sicher, dass die Bundesregierung sie deckt. Vorsorglich biete ich Ihnen an, das im Protokoll nachzulesen.
Ich bitte Sie aber auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir mit Zittau Wort gehalten haben. Hier können Sie
sich eigentlich nicht beklagen. Wir machen auch bezüglich Leipzig weiter und werden alle angekündigten Maßnahmen durchziehen. Das können Sie jederzeit nachprüfen.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
({0})
So ist es: Die Arbeit kommt, wenn Sie nicht mehr regieren, Herr Küster.
({0})
Herr Präsident! Wir haben die Rede von Bundesminister Stolpe hier vernommen. Herr Bundesminister, ich
kann nur sagen:
({1})
Man kann die Ankündigungspolitik der Bundesregierung einfach nicht mehr ertragen. Mit moralischen Appellen und Psychologie sind die Menschen in Ostdeutschland zu Recht nicht mehr zufrieden zu stellen.
({2})
Es war der Bundeskanzler selbst, der mit Regierungsantritt 1998 den Ostdeutschen versprochen hat, der Aufbau Ost werde bei ihm Chefsache.
({3})
Sie haben sich 2002 über das Hochwasser gerettet, aber
die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Firmenpleiten in
Ostdeutschland sind gestiegen. Das ist die Wahrheit. Sie
haben die Menschen in den neuen Ländern verunsichert.
Sie haben nicht Zuversicht vermittelt und auch keine
neuen Chancen aufgezeigt. Bis heute, Herr Bundesminister Stolpe, fehlt ein Gesamtkonzept für eine wirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern. Die
ist nicht erkennbar. Deswegen meinen wir: Handeln Sie
endlich!
({4})
Noch schlimmer, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, ist, dass Sie Ihrem eigenen Aufbau-Ost-Minister selbst nicht viel zutrauen. Im April
dieses Jahres habe ich von Herrn Stephan Hilsberg in
der „Financial Times Deutschland“ gelesen: Stolpes
Leistungsbilanz als Ministerpräsident lässt nicht erkennen, dass er die Kompetenz für den Aufbau Ost hat.
Klaus von Dohnanyi wirft Herrn Stolpe fehlende Konzeption und Durchsetzungsfähigkeit vor. Das stärkt doch
bezüglich des Aufbaus Ost nicht das Vertrauen der Menschen im Osten Deutschlands in diese Bundesregierung.
Das verunsichert die Menschen.
({5})
Sie, Herr Stolpe, machen den Menschen auch keinen
Mut, wenn ich lese, dass Sie erklären,
({6})
der Traum von einer schnellen Angleichung von Ost und
West müsse beerdigt werden. Dazu kann ich nur sagen:
Die Menschen wissen, dass die Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse in Deutschland nicht von heute auf
morgen hergestellt werden kann. Sie verlangen aber von
Ihnen als Bundesregierung, dass Sie handeln und endlich
auch die Vorschläge, die im Übrigen aus den neuen Bundesländern gekommen sind, umsetzen.
({7})
Wissen Sie, was ich Ihnen noch mehr vorwerfe? Ich
meine den Umstand, dass im Chor der Ahnungslosen
auch noch die Stimmen von SPD-Ministerpräsidenten,
von Herrn Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen und von
Frau Simonis, zu vernehmen sind. Ich kann zwar nicht
unbedingt sagen, dass sie zu den kompetentesten Vertretern in Sachen Wirtschaftsaufschwung Ost gehören,
({8})
aber beide forderten - vielleicht darf ich Ihnen das mit
einer ihrer Aussagen untersetzen -, die Messlatte für die
Verteilung der Mittel solle künftig nicht die Himmelsrichtung, sondern die Bedürftigkeit sein. Sie wissen
überhaupt nicht, was los ist und wie die wirtschaftliche
Situation in den neuen Bundesländern ist. Seit 1998 hat
die Gründungsintensität dramatisch abgenommen. Die
Insolvenzquote ist mit 20,5 Prozent doppelt so hoch wie
in den alten Bundesländern. Die Arbeitslosenquote hat
seit der deutschen Einheit ihren Höchststand erreicht und
beträgt fast 20 Prozent, in einigen Regionen sogar
30 Prozent. Das ist eine dramatische Situation. Ich kann
es einfach nicht mehr ertragen, dass SPD-Ministerpräsidenten auf dem Rücken der Ostdeutschen schon jetzt ihren Wahlkampf für die Landtagswahlen im nächsten Jahr
führen.
({9})
Neuerdings bekommen sie auch tatkräftige Wahlkampfunterstützung von Ihrem sonst so mutigen Bundeswirtschaftsminister Clement.
Herr Stolpe, ich habe Ihre Ausführungen mit großem
Interesse verfolgt, was ich im Übrigen immer tue. Aber
am 15. Mai dieses Jahres durften wir im „Tagesspiegel“
lesen - hier bitte ich auch um eine Klarstellung des Bundeswirtschaftsministeriums -, dass sich die neuen Bundesländer in den kommenden drei Jahren auf drastische
Kürzungen der Fördergelder für Investitionen einstellen
müssen. Allein für das Jahr 2005 will das Ministerium
vorläufig nur 35 Prozent der GA-Mittel freigeben. Das
bedeutet, dass es wirklich zu einem Abbruch Ost kommt,
weil kommunale Straßenprojekte und private Investitionen nicht verwirklicht werden können und dadurch die
Arbeitslosigkeit steigen wird. Hierzu verlange ich eine
Klarstellung. Ich bzw. die FDP will wissen: In welchem
Umfang werden Sie bei der GA kürzen? Oder werden
Sie zuverlässig sein und die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auch weiterhin nicht kürzen?
({10})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, die Fehlleistungen der Bundesregierung, die steigende Verschuldung und die fehlenden Reformen, sind
erkennbar und gehen auch zulasten der neuen Bundesländer. Eine Steuerreform, die mittelstandsfeindlich ist,
eine Gesundheitsreform, die die Lohnzusatzkosten in die
Höhe treibt, eine Erhöhung der Mineral- und Ökosteuer,
die die Benzinpreise in Rekordhöhe treibt, die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und die Ausbildungsplatzsteuer, durch die immer mehr Unternehmen in die Pleite
getrieben werden, das alles ist keine Politik, die den
neuen Bundesländern hilft. Ich kann Sie nur zu einer
Kehrtwende auffordern.
({11})
Dennoch gibt es aus den neuen Bundesländern wirklich ermutigende Signale. Dort sind Wachstumskerne
bzw. Leuchttürme entstanden, die sich sehen lassen können und die auf die Initiative der Bundesländer selbst
und der Menschen vor Ort zurückgeführt werden können.
({12})
So wurden in den ostdeutschen Ländern ermutigende
Zeichen gesetzt: zum Beispiel durch die Halbleitertechnik in Dresden, durch die Polymer-Chemie im Dreieck
Bitterfeld-Halle-Leuna und durch den Biotechnologiestandort in Mitteldeutschland, der in ganz Deutschland
Spitze ist.
({13})
- Herr Stiegler, Sachsen-Anhalt und Sachsen haben im
letzten Jahr Bundesratsinitiativen eingebracht, in denen
sie Modellregionen für die neuen Länder fordern. Das
tun sie zu Recht; denn sie wollen die Aussetzung von
Bundesrecht.
({14})
Wir sind gemeinsam mit den Ostdeutschen der Auffassung: Dadurch, dass die Bürokratie und die Verwaltungsstrukturen 1990 eins zu eins auf die neuen Länder
übertragen worden sind, wurden Investitionen und damit
auch Arbeitsplätze verhindert. Deswegen wollen wir
neue Wege gehen. Wir wollen zum Beispiel eine Lockerung des Kündigungsschutzrechtes und flexiblere Ausbildungsvergütungen,
({15})
damit die jungen Menschen nicht abwandern müssen,
sondern in ihrer Heimat einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz finden.
({16})
Klaus von Dohnanyi fordert mit seiner Kommission
- Sie selbst haben ihn beauftragt -, dass im Osten ein
pragmatisch angepasster Flächentarifvertrag mit breiten
Öffnungsklauseln zugelassen werden soll. Recht hat er!
Handeln Sie endlich, machen Sie es doch!
({17})
Wir Liberale wollen, dass der Osten zum Reformmotor in Deutschland wird. Die Ostdeutschen zeichnen sich
durch eine hohe Bereitschaft aus, neue Wege auszuprobieren und Leistungseinschnitte hinzunehmen, wenn dadurch der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Sozial ist, was Arbeit schafft; das ist für die Menschen dort wichtig und
für uns auch.
({18})
Wir brauchen einen differenzierten Blick auf die Regionen in Ostdeutschland: nicht die Gießkanne, sondern
den Trichter für Förderprogramme.
({19})
Die Zeit ist überfällig für ein Gesamtkonzept und ich ermahne die Bundesregierung noch einmal, eine solche
wirtschaftspolitische Strategie vorzulegen.
Wir schlagen vor: Erstens. Wir brauchen die Konzentration der Förderung auf gewerbliche Investitionen,
insbesondere aber auf die wirtschaftsnahe Forschung
und Entwicklung.
({20})
Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung liegt im
Osten bei 16 Prozent, im Westen bei rund 23 Prozent.
Der Anteil wertschöpfungsstarker Betriebe ist einfach zu
gering.
Der Anteil Ostdeutschlands an den gesamtdeutschen
Aufwendungen für Forschung und Entwicklung beträgt
lediglich 6 Prozent. Deswegen brauchen wir - zweitens die Konzentration auf Forschungsförderung. Wir
schlagen vor, Leistungen für Forschung und Entwicklung im Rahmen der Investitionsförderung stärker zu berücksichtigen und sich auf Wachstumskerne zu konzentrieren.
({21})
Wir wollen die Vernetzung von Wissenschaft, von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, und Unternehmen, damit durch innovative Technologien vermehrt neue Produkte auf den Markt kommen
und ostdeutsche Unternehmen exportfähig werden.
({22})
Die Exportquote liegt im Osten bei 25 Prozent, im Westen dagegen bei 38 Prozent. Da muss ein Aufholprozess
in Gang kommen.
Drittens. Wir brauchen Risikokapital aus einem revolvierenden Fonds für mittelständische Unternehmen,
ähnlich dem ERP-Programm, dem Marshall-Plan. Wir
wollen eine bessere Liquidität mittelständischer Unternehmen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, bis zu einem Umsatz von 2,5 Millionen Euro die Umsatzbesteuerung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung umzustellen.
({23})
Das würde dazu beitragen, dass die Liquidität von Unternehmen gestärkt wird und Arbeitsplätze gesichert
werden.
Wir wollen - viertens - eine Regelung für die grenznahen Regionen in Ostdeutschland ähnlich dem bis
1994 in Kraft gewesenen Zonenrandförderungsgesetz.
Wir wollen - fünftens - eine Prioritätensetzung bei
der Infrastruktur. Herr Minister Stolpe, das ist Ihr Verantwortungsbereich. Es ist doch einfach nicht mehr hinnehmbar,
({24})
dass wir nach 14 Jahren noch immer nur Brücken und
Tunnel in der Landschaft stehen sehen, wo der ICE von
Nürnberg über Erfurt, Leipzig/Halle nach Berlin fahren
soll. Diese Strecke muss endlich ausgebaut werden.
({25})
Das ist nur ein konkretes Beispiel.
({26})
- Herr Matschie, machen Sie konkrete Vorschläge; Sie
haben hier im Bundestag die Möglichkeit dazu. Schreien
hilft nicht, hören Sie mir lieber zu - vielleicht lernen Sie
dadurch ja.
Mein Kollege aus Sachsen erzählt mir von Demonstrationen, Streiks an der Grenze zu Osteuropa, Staus.
Das Verkehrsaufkommen ist gewaltig gewachsen. Wir
wollen, dass die Bundesregierung im Rahmen der EUOsterweiterung dafür sorgt, dass die Fördermittel aus
dem Strukturfonds vordringlich zum Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsnetze im Osten Deutschlands
eingesetzt werden.
({27})
Frau Kollegin, falls das nicht Ihr Schlusssatz gewesen
sein sollte - wofür er sich vorzüglich geeignet hätte -,
muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit bereits zu Ende ist.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich finde es bedauerlich, dass hier im Hohen Hause, im Deutschen Bundestag, so wenig Gelegenheit besteht, über die Probleme der
Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer zu
sprechen.
({0})
Machen Sie die neuen Länder doch endlich zur Speerspitze des Wandels, lassen Sie die Menschen unter Beweis stellen, was sie auf dem Kasten haben; dann würden wir alle gewinnen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
haben im Oktober letzten Jahres in diesem Hause über
den Stand der deutschen Einheit debattiert. Damals habe
ich gesagt - dazu stehe ich auch heute noch -, dass die
Einheit in den Köpfen weit gediehen ist, sehr viel weiter,
als es mancher Schwarzmaler noch immer beschwört.
Aber ohne eine Angleichung der wirtschaftlichen
Verhältnisse wird unsere Einheit nur unvollständig bleiben. Die Lösung dieser Aufgabe ist von großer Bedeutung für ganz Deutschland, denn nur durch eine sich
selbst tragende nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung
in Ostdeutschland können wir Spielräume für weitere
dringend notwendige Investitionen in die Zukunft unseres Landes schaffen.
Wir haben in den letzten Wochen eine zum Teil unselige öffentliche Debatte über Transferleistungen
zwischen West und Ost führen müssen. Ausgehend
von einem Artikel mit der reißerischen Überschrift
„1 250 Milliarden Euro - Wofür?“ entstand eine Diskussion darüber, ob Ostdeutschland ein Fass ohne Boden sei
und ob es sich überhaupt lohne, weiterhin in die neuen
Bundesländer zu investieren. Trauriger Höhepunkt war
aus meiner Sicht die Behauptung, der Aufbau Ost sei ursächlich für den Absturz West. Umso bedenklicher war
sie, da sie von Klaus von Dohnanyi stammte, der mit seinem Praktikerkreis Vorschläge für die weitere Entwicklung in den neuen Bundesländern machen sollte.
Diese Aussage war und ist so falsch wie töricht. Herr
Dohnanyi hätte als ehemaliger Hamburger Bürgermeister wissen müssen, dass die Probleme des Westens ihren
Ursprung in der Zeit lange vor der Wiedervereinigung
haben und durch die Euphorie der frühen 90er-Jahre lediglich übertüncht wurden.
({0})
Heute müssen wir für die Folgen einstehen. Dies aber
Ostdeutschland bzw. den Ostdeutschen vorzuwerfen ist
sachlich falsch und moralisch nicht zu rechtfertigen.
({1})
Eine hervorragende und ernst zu nehmende Analyse
der Situation stellen dagegen der erste und zweite Fortschrittsbericht wirtschaftswissenschaftlicher Institute
über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland
dar. Letztmalig im November 2003 haben die beteiligten
Institute eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahme
der vergangenen Jahre vorgenommen. Die Analysen und
Lösungsansätze sind dergestalt, wie ich sie mir für
meine tägliche Arbeit als Politiker wünsche, und ich
kann sie auch ernst nehmen.
Die Arbeitsgruppe Ost der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich in einen intensiven Dialog
mit den Autoren begeben. In einem Positionspapier unserer Fraktion hat sie bereits am 30. März Vorschläge
vorgelegt, wie wir die künftige wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands gestalten wollen:
Förderungen nach dem Gießkannenprinzip sind weder
sinnvoll noch vor dem Hintergrund der Haushaltsprobleme von Bund, Ländern und Kommunen dauerhaft
leistbar. Um den unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen der Regionen Rechnung zu tragen, sehen wir daher zwei Hauptaufgaben: einerseits die Stärkung der vorhandenen Wachstumsregionen und andererseits die
Stabilisierung der anhaltend wirtschaftsschwachen Städte
und ländlichen Regionen.
Bündnis 90/Die Grünen plädierten bereits in der letzten Legislaturperiode für eine effizientere Förderung, die
an den Stärken und Perspektiven der einzelnen Regionen
ansetzt. Von wirtschaftlich erstarkenden Regionen strahlen Effekte auf angrenzende strukturschwache Gebiete
aus, die dort Entwicklungspotenziale stärken. Wir wollen Zukunftstechnologien besonders in den Regionen
fördern, in denen bereits Kerne neuer Industrien vorhanden sind. So schaffen wir am ehesten die Voraussetzungen, dass einzelne Regionen langfristig unabhängig
von Transfers werden und eigenständige Entwicklungswege verfolgen.
In den Kommunen, Landkreisen und Ländern muss
sich die Einsicht durchsetzen, dass eine erfolgreiche Entwicklung nur gemeinsam und nicht gegeneinander erreicht werden kann. Dies bedeutet den Abschied von der
Kirchturmpolitik der vergangenen Jahre, die zum Teil zu
erheblichen Fehlallokationen zum Beispiel bei der Erschließung und der Vorhaltung von Gewerbe- und Industriegebieten, aber auch in der Wirtschaftsförderung geführt hat. Daher muss sich die Vergabe von Fördermitteln
auch künftig an überregionalen und länderübergreifenden
Wirtschaftsstrukturen orientieren.
Das zentrale Instrument der Wirtschaftsförderung sowie der Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur in
den neuen Ländern ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die GA.
Ihr Schwerpunkt liegt auf der Förderung überregionaler
Wirtschaftskreisläufe. Die GA ist ein effizientes, arbeitsplatzerhaltendes und arbeitsplatzschaffendes Mittel mit einer
sehr hohen Zielgenauigkeit. Wir wollen, dass GA-Mittel
stärker in Zukunftsbranchen sowie in Dienstleistungsbereiche fließen.
Die von Wirtschaftsminister Clement angestoßene
Debatte über die Kürzung der GA-Mittel war in diesem
Zusammenhang nicht hilfreich. Aus diesem Grunde
habe ich mich in der Öffentlichkeit ungewöhnlich scharf
zu diesem Thema geäußert. Ich mache auch an dieser
Stelle deutlich: Mit uns wird eine weitere Kürzung nicht
zu machen sein.
({2})
Im Zuge der Föderalismusdebatte wird die GA aber
von Teilen der Kommissionsmitglieder infrage gestellt,
übrigens auch von Ministerpräsident Stoiber. Dem wollen wir entgegenwirken, auch im Hinblick auf die Veränderungen in der EU-Strukturpolitik, die aus der EU-Erweiterung resultieren.
Wir wollen die Finanzausstattung der GA in den
neuen Ländern im Rahmen der Vorgaben aus dem Solidarpakt II verstärken. Statt die bis 2006 befristete Investitionszulage zu verlängern, schlagen wir vor, die GA zu
stärken, da wir sie für die bessere Maßnahme halten. Die
Investitionszulage in ihrer jetzigen Form bewirkt zu
hohe Mitnahmeeffekte bei den Unternehmen und ist unserer Meinung nach nicht zielgenau.
Neue und sichere Arbeitsplätze entstehen vor allem in
zukunftsträchtigen Wirtschafts- und Dienstleistungsbranchen. Die Hochschulen in den neuen Ländern müssen noch stärker als bisher auf die Zusammenarbeit mit
der regionalen Wirtschaft setzen. Sie können zum
Schließen der Unternehmenslücke im Osten beitragen,
indem sich wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche
Studiengänge noch konsequenter an der Praxis orientiePeter Hettlich
ren und indem sie junge Menschen gezielt auf ein selbstständiges Unternehmertum vorbereiten.
Ich möchte an dieser Stelle die deutschen Banken ausdrücklich an ihre Mitverantwortung erinnern und darauf
hinweisen, dass ihre restriktive Kreditvergabe vielen Unternehmensgründern den Start unnötig schwer bzw. unmöglich macht.
({3})
Damit werden die positiven Entwicklungen, die wir
durch die Gründung der Mittelstandsbank im letzten
Jahr angestoßen haben, konterkariert. Auch die Fragen
der Besicherung und der nach Auskunft Betroffener viel
zu langen Bearbeitungsfristen müssen beantwortet werden. Ich bin der Meinung: Wenn sich hier nicht bald eine
Entwicklung zum Besseren zeigt, dann müssen wir auf
politischer Ebene entsprechend handeln.
Die regionale Vernetzung von Forschung, Hochschulen und Wirtschaft muss weiter vorangetrieben werden.
Die wettbewerbliche Vergabe von Forschungsmitteln an
Regionen, in denen Wissenschaft und Wirtschaft im
Rahmen innovativer Netzwerke kooperieren, hat sich als
ein sehr wirksames Instrument erwiesen. So entwickeln
sich Kerne, die eine regionale Dynamik entfalten und in
denen zusätzliche Arbeitsplätze im Industrie- und
Dienstleistungsbereich entstehen. Der 1999 initiierte
Inno-Regio-Wettbewerb ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Innovationsförderung in den neuen Ländern
und muss daher erhalten, wenn nicht sogar gestärkt werden.
({4})
Die Förderung der technologischen Leistungsfähigkeit
ostdeutscher Unternehmen hat sich in den vergangenen
Jahren zu einem Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik entwickelt. Mit diesen Anreizen ist es gelungen, den Größennachteil ostdeutscher Unternehmen auszugleichen. In der
Forschungsintensität stehen ostdeutsche Firmen den westdeutschen Unternehmen kaum nach. Allerdings mangelt
es an der Umsetzung der Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte. Auch hier möchte ich noch einmal auf
die zu lösenden Probleme in der Finanzierung derartiger
Investitionen verweisen.
In den vergangenen Jahren ist viel Geld in den Ausbau der technischen Infrastruktur Ostdeutschlands geflossen. Der Anschlussgrad für die Abwasserentsorgung
hat das Niveau der alten Bundesländer erreicht und die
Telekommunikationsstruktur ist auf dem modernsten
Stand der Technik. Auch zukünftig wird der Aus- und
Neubau von Verkehrswegen in den neuen Bundesländern überproportional finanziert. Studien belegen allerdings auch, dass der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
allein nicht zu dem erhofften Entstehen neuer Arbeitsplätze führt.
({5})
Eine gute verkehrliche Anbindung von Regionen ist eine
Voraussetzung für die Ansiedlung von Unternehmen, sie
ist aber nur ein Standortfaktor unter vielen.
So genannte weiche Standortfaktoren sind mit dafür
ausschlaggebend, ob investiert wird. Sie werden gerade
für die Unternehmen immer bedeutender, die hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter benötigen. Investitionen in die soziale Infrastruktur, in Bildung und Wissenschaft, in Kinderbetreuung und Schulen, in Sport- und
Jugendeinrichtungen, in kulturelle Angebote und in die
innerstädtische Lebensqualität sind mit entscheidend für
die Ansiedlung neuer Betriebe.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch ein
Thema streifen, das in letzter Zeit ebenfalls das öffentliche Interesse erregt hat, nämlich die Fehlverwendung
der Solidarpaktmittel. Mir ist zwar bewusst, dass sich
die Länder in einer schwierigen Situation befinden, die
sie zum Teil - ich denke zum Beispiel an die Leistungen
nach den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der
ehemaligen DDR - nicht zu verantworten haben. Dennoch macht es keinen Sinn, einfach die Vorgaben zu
ignorieren und diese Mittel wie in Berlin zu 0 Prozent
oder in Sachsen-Anhalt zu nur 1 Prozent zweckgerichtet
zu verwenden. Es würde dadurch zu einer gesamtdeutschen Diskussion kommen, die die Solidarität der alten
Bundesländer erheblich strapazieren könnte.
Ich habe es schon bei vielen Gelegenheiten gesagt:
Bündnis 90/Die Grünen stehen zum Solidarpakt II und
auch zur Höhe der vereinbarten Solidarpaktmittel. Wir
erwarten aber, dass die ostdeutschen Länder und ihre
Ministerpräsidenten ihre Hausaufgaben machen und
energische Maßnahmen ergreifen, um künftige Fehlverwendungen zu minimieren oder besser ganz zu vermeiden.
({6})
Aus meiner Sicht und auch aus der Sicht der Praxis
wäre eigentlich Folgendes notwendig: Wir müssen die
Verwendung der Solidarpaktmittel längerfristig planen,
das Parlament muss wirksame Kontrollmechanismen erhalten und wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob
Sanktionen notwendig sind. Hier stehen wir zwar vor
verfassungsrechtlichen Problemen, aber wir sollten das
diskutieren; denn es besteht dringender Handlungsbedarf.
In den vergangenen 14 Jahren ist in Ostdeutschland
viel Positives geschaffen worden, sowohl durch den
Fleiß und die Kreativität der Ostdeutschen als auch
durch die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger aus
den alten Bundesländern. Diese Solidarität ist für uns
aber auch die Verpflichtung, Rechenschaft über unser
Tun abzulegen und uns auch künftig einem kritischen
Dialog zu stellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Professor Milbradt.
({0})
Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Viel Gutes ist gesagt worden. Wenn all das umgesetzt würde, wäre ein Teil meiner heutigen Intervention schon erledigt.
({2})
Aber die bisherige Erfahrung ist, dass zwischen Reden
und Handeln ein großer Unterschied besteht.
({3})
Herr Kollege Stolpe, ich hoffe nur, dass das, was Sie gesagt haben, mit den Herren Clement und Eichel abgestimmt ist; denn sie haben etwas anderes verkündet.
({4})
Am Montag vergangener Woche war der Bundeskanzler zum Richtfest der neuen Chipfabrik von AMD in
Dresden. Mit einer Investitionssumme von 2,4 Milliarden Euro errichtet das amerikanische Unternehmen in
Dresden bereits sein zweites Halbleiterwerk. Insgesamt
arbeiten in der Region Dresden 11 000 Menschen in der
Mikroelektronikindustrie. Damit ist Dresden innerhalb
weniger Jahre zu den Top Fünf der internationalen Mikrochipindustrie aufgestiegen,
({5})
Nummer eins in Europa. Das ist ein Beispiel, wie man
beim Aufbau Ost Erfolge erzielen kann.
({6})
- Vorsichtig! Ich bin für die Unterstützung der Bundesregierung in diesen und vielen anderen Fällen ausdrücklich dankbar.
({7})
Es gibt auch viele andere Erfolgsgeschichten beim
Aufbau Ost, zum Beispiel die Autoindustrie mit VW,
BMW und Porsche in Sachsen, die optische Industrie in
Jena, die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt und
Brandenburg oder auch die Entwicklung des Tourismus
in vielen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. All
diese Erfolge wären ohne ein wichtiges Instrument der
Wirtschaftsförderung nicht möglich gewesen, die so genannte Gemeinschaftsaufgabe.
({8})
Ausgerechnet hier will der Bundeswirtschaftsminister
den Rotstift ansetzen.
({9})
- Was heißt denn hier: Stimmt nicht? Uns ist untersagt
worden, weitere Zusagen zu machen.
({10})
Wir haben das entsprechende Schreiben vom Bundeswirtschaftsminister im Haus.
Die GA-Förderung ist bisher eindeutig das erfolgreichste Instrument beim Wiederaufbau. Auch in dem
von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Fortschrittsbericht wird eine Fortführung der GA-Förderung
auf hohem Niveau gefordert. In Sachsen wurden dadurch seit 1990 über 18 000 Investitionen von Unternehmen gefördert. Das heißt, seit 1990 wurden allein in
Sachsen mit einem GA-Volumen von 7,7 Milliarden
Euro Investitionen von über 40 Milliarden Euro angestoßen. Dadurch wurden 224 000 neue Arbeitsplätze geschaffen und noch einmal so viele gesichert.
Statt auf diesen Erfolgen weiter aufzubauen, statt dieses Pflänzchen zu pflegen, riskiert die Bundesregierung,
dass die Entwicklung abbricht.
({11})
Herr Kollege Stolpe, es kann doch nicht im Interesse der
Bundesregierung sein, dass dies eintritt. Auch Sie wollen
wie wir alle, dass der Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland weitergeht.
Natürlich - jetzt komme ich zu den öffentlichen Äußerungen - ist die Auszahlung der Barmittel in diesem
und im nächsten Jahr gesichert. Das hat uns der Bundeskanzler in Dresden bei AMD erklärt. Dazu sind Sie aber
auch verpflichtet, Herr Müntefering.
({12})
Denn dabei geht es nur um die Abfinanzierung für die in
der Vergangenheit eingegangenen Verpflichtungen. Es
gibt schon seit Jahren keine freien Barmittel mehr.
({13})
Diese Mittel, Herr Müntefering, um beim Thema zu bleiben, sind bereits gebunden. Für Unternehmen, die heute
neu investieren, stehen diese Barmittel gar nicht mehr
zur Verfügung. Zwischen uns, die wir die Haushaltsthematik kennen, ist das sicher nicht strittig. Oder muss die
Einhaltung von Recht und Gesetz schon als besondere
Leistung der Bundesregierung angesehen werden?
({14})
Um den Investoren für zukünftige Ansiedlungen - darüber reden wir - Fördermittel zusagen zu können, brauchen wir Verpflichtungsermächtigungen, und zwar die
Verpflichtungsermächtigungen, die dieser Bundestag in
den Bundeshaushalt 2004 geschrieben hat.
({15})
Genau diese sperren Sie.
({16})
Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({17})
Es geht nicht um den Bundeshaushalt des Jahres 2005.
Es ist eine andere Diskussion, welche Verpflichtungsermächtigungen dort hineinkommen. Es geht um die Verpflichtungsermächtigung dieses Jahres für die Jahre
2005, 2006 und 2007. Darüber reden wir. Diese Mittel
sind zumindest bis zur Stunde im Schnitt zu 45 Prozent
gesperrt worden. Damit nehmen Sie uns den entscheidenden Handlungsspielraum, und das zu einem Zeitpunkt, in dem Investitionen in Sachsen und, wie ich vermute, auch in anderen Ländern vor der Tür stehen, wir
aber auf der anderen Seite in neue Konkurrenz zu Osteuropa treten.
({18})
Sie setzen für Investoren das völlig falsche Signal.
Als der Bundeskanzler in Dresden war, hat mich der
Vorstandsvorsitzende von AMD gefragt: Wird denn auch
unsere Investition gefördert? Bekommen wir noch unser
Geld? - Das sind doch die Fragen, die an uns gerichtet
werden. Für mich stellt sich die Frage: Wollen Sie, dass
weitere Investitionen und Arbeitsplätze kommen, oder
wollen Sie das nicht?
({19})
- Ich habe gesagt: Ja,
({20})
aber diese Mittel sind bisher vom Bund nicht freigegeben worden. Ich habe das auf meine eigene Kappe genommen, Herr Matschie,
({21})
weil ich mich bei einem solchen internationalen Publikum nicht für die Bundesregierung schämen wollte.
({22})
Das ist die Situation.
({23})
- Nein, ich habe zunächst einmal Vertrauen in die eigene
Kraft.
({24})
Das Hauptproblem in Ostdeutschland ist der Mangel
an industriellen Arbeitsplätzen. Deshalb ist mir die
Entscheidung vollkommen unverständlich. Sie widerspricht allem, was bisher über die Parteigrenzen hinweg
für den Aufbau Ost galt. Deswegen noch einmal: Wir
brauchen von Ihnen, Herr Stolpe, und von der restlichen
Bundesregierung das Signal, dass alle Verpflichtungsermächtigungen ab sofort freigegeben werden
({25})
und dass Sie auch im Bundeshaushalt des Jahres 2005
ähnliche Verpflichtungsermächtigungen für die Jahre
2006 bis 2008 ausbringen.
({26})
Dann kann es weitergehen. Ich kann doch nicht sagen:
Der Bund zahlt im Augenblick nur ein Drittel. Der Bund
weiß nicht, was er will. Da müssen wir noch einen Monat warten, bis vielleicht wieder eine Haushaltsklausur
stattgefunden hat. - Das ist Gift für die Investoren. Diese
Diskussion sollte man erst gar nicht anfangen.
({27})
Sachsen - das will ich deutlich sagen - ist bereit, alle
zur Verfügung stehenden GA-Mittel zu finanzieren. Wir
haben Investoren und wir wollen sie nicht nach Osteuropa ziehen lassen. Sollte das eine oder andere Bundesland im Osten keine Investoren haben oder nicht in
der Lage sein, die GA-Mittel abzunehmen, so bin ich bereit, diese abzunehmen.
({28})
Nun zu den Koch/Steinbrück-Vorschlägen, die von
der Bundesregierung als Begründung für eine eventuelle
Streichung herangezogen werden. Das ist Unsinn. Richtig ist, dass sich die ostdeutschen Länder der gesamtdeutschen Solidarität nicht verschlossen haben und bereit waren, auch in ihrem Bereich Kürzungen von
4 Prozent pro Jahr zu akzeptieren. Aber 4 Prozent sind
nicht 45 Prozent.
({29})
Der Bundesfinanzminister hat dem Bundeswirtschaftsminister eine Kürzungssumme aufgegeben, die auch die
Steinkohle umfasst. Weil er da nicht kürzen kann, kürzt
er im einzigen flexiblen Bereich und das ist die GA-Förderung. Das ist doch die Wahrheit.
({30})
- Natürlich! Sie können im Bereich der Steinkohle im
Augenblick die Subventionen gar nicht kürzen, Sie können sie nur verschieben, weil die Rechtsbindung bis weit
in das nächste Jahrzehnt reicht.
({31})
- Herr Benneter, ich will nicht die Mittel der Ruhrkohleförderung, aber es wäre sicherlich im Sinne des Ruhrgebietes besser, diese Gelder würden für die Ansiedlung
zukunftsgerichteter Industrie verwendet statt für die Abwicklung der Vergangenheit.
({32})
Ich mache mir Sorgen um Ostdeutschland. Ich mache
mir auch Sorgen um ganz Deutschland, denn ich weiß,
wenn der Osten nicht vorankommt, dann leidet ganz
Deutschland. Ich kann - das will ich deutlich sagen - bei
der Bundesregierung und bei dem, was hier gesagt
wurde, keine Strategie für den Aufbau Ost erkennen,
({33})
Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({34})
allenfalls das alte Lied: Fahren nach Sicht. Es geht nach
dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat.
({35})
- Lassen Sie mich ausreden, Herr Matschie; Sie kommen doch auch gleich zu Wort - Der für die Bundesregierung wenig erfreuliche Bericht zum Stand des Aufbaus Ost vom vergangenen Herbst - er wurde schon
zitiert - wurde von der Bundesregierung nur mit einem
Achselzucken zur Kenntnis genommen. Herr Kollege
Stolpe, wo bleibt die politische Antwort auf die niederschmetternde Analyse der Institute, dass im Zweifel nur
eine passive Sanierung übrig bleibt? Wissen Sie, was
eine passive Sanierung ist? Sie können eine Region dadurch sanieren, dass Sie den Zähler vergrößern und dass
dadurch das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Sie können
dies aber auch dadurch erreichen, dass der Nenner sinkt.
Das nennt sich passive Sanierung oder schlicht Abwanderung.
Ist das die Antwort der Bundesregierung hinsichtlich
des Aufbaus Ost? Das kann doch nicht richtig sein.
Klaus von Dohnanyi, ich selbst und andere haben konkrete Vorschläge vorgelegt, die alle ein und dieselbe Forderung in unterschiedlichen Nuancen umfassen: So wie
bisher kann man nicht weiter vorgehen.
({36})
Wir brauchen für den zweiten Teil des Aufbaus Ost einen neuen Anlauf und neue Regeln, aber nicht mehr
Geld.
({37})
- Ich habe über das Geld geredet, das uns zugesagt worden ist. Eines werden Sie nicht hinbekommen, Herr Kollege, nämlich dass Sie bezogen auf den Aufbau Ost mit
weniger Geld, das für Investitionen zur Verfügung gestellt wird, eine größere Wirkung erzielen können.
({38})
Ich werde zu einigen Punkten noch etwas ausführen.
Auch die ostdeutschen Länder haben ihren Beitrag zur
Kürzung von Subventionen in einem anderen Bereich
geleistet. Die Investitionszulagen sind durch Beschlussfassung des Bundestags im Frühjahr um drei Viertel gekürzt worden. Ich halte das für vertretbar. Auch das ist
ein Beitrag zur inneren Solidarität.
Der Aufbau Ost ist überall dort gelungen, wo der
Staat direkt einwirken konnte und wo die ostdeutschen
Länder und Kommunen wie auch der Bund selbst Verantwortung getragen haben. Das gilt zum Beispiel für
das Gesundheitswesen, die Altenpflege, Schulen, Umwelt und Altlasten. Aber bei der zentralen Aufgabe der
Entwicklung einer sich selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung im privaten Sektor kommen wir seit 1997 nicht
mehr voran.
({39})
Wir haben erst 60 Prozent der Wirtschaftskraft des
Westens erreicht und sind seit Beginn der rot-grünen
Bundesregierung auf diesem Stand stehengeblieben.
Darüber haben wir zu diskutieren.
Unser gemeinsames gesamtdeutsches Ziel muss doch
sein, die hohen Transferzahlungen von West nach Ost
zu reduzieren. Wir sind bereit, die Förderpraxis der vergangenen Jahre kritisch zu überprüfen. Wir müssen eine
Umsteuerung bei der Förderung vornehmen, damit
starke industrielle Kerne und nachhaltig sichere Arbeitsplätze entstehen. Ich bin auch bereit, mich einer Diskussion über die Frage der Fehlverwendung von Mitteln zu
stellen. Aber Sie wissen aus den Berichten der Bundesregierung, dass zumindest dem Freistaat Sachsen in dieser Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann.
Ich freue mich, dass Bundesminister Stolpe mittlerweile auf unser sächsisches Modell der Förderung
industrieller Wachstumspole - die so genannten Cluster - eingeschwenkt ist. Ich wiederhole: Es geht mir
nicht um mehr Geld; wir möchten vielmehr das vorhandene Geld effektiver einsetzen. Angesicht sinkender
Mittel brauchen wir eine abgestimmte industriepolitische Förderstrategie.
Die Unternehmen, die den Kern der Wachstumspole
bilden, funktionieren als starke Lokomotiven. Diese Lokomotiven ziehen eine Vielzahl von kleinen und mittelständischen Waggons nach sich, und zwar nicht nur im
unmittelbaren räumlichen Umfeld, sondern weit in das
Land ausgreifend, wie man es in Sachsen insbesondere
bei der Automobilzulieferindustrie sieht. Deshalb brauchen wir auch ein leistungsfähiges Verkehrsnetz in den
schwachen Regionen, um diese an die starken Regionen
anzubinden.
({40})
Mit dem Aufbau ist es wie bei einem Rennwagen. Sie
können einen Rennwagen doch nicht dadurch schneller
machen, dass Sie die Motorleistung drosseln. Natürlich
muss der Spritverbrauch sinken, aber darunter darf die
Motorleistung nicht leiden. Gefragt sind vielmehr Feintuning, eine bessere und genauere Einspritzung, eine
bessere Dynamik und möglicherweise auch ein besserer
Fahrer.
({41})
Wichtig ist, dass der Bund endlich den Korb 2 des
Solidarpakts II gesetzlich fixiert; denn die GA-Mittel
sind Teil des Solidarpakts.
({42})
Hätten wir diese gesetzlich fixiert, wäre die von Herrn
Clement angestoßene Diskussion über die Kürzung der
GA-Mittel erst gar nicht möglich gewesen. Deswegen
fordere ich Sie alle auf, möglichst schnell Klarheit beim
Korb 2 des Solidarpaktes II bis 2019 zu schaffen. Dann
Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({43})
können wir uns solche Diskussionen wie die heutige ersparen.
({44})
Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig. Wir könnten beim Aufbau Ost viel mehr erreichen, wenn wir
mehr Freiheiten hätten. 1990 haben wir in Ostdeutschland ein System übernommen, durch das im Westen Jahr
für Jahr viele Tausende industrielle Arbeitsplätze verschwinden. Mit diesem System West können Sie doch
die fehlenden Arbeitsplätze im Osten nicht schaffen. Mit
„Weiter so wie bisher“, dem Inhalt des vorliegenden Koalitionsantrages, werden wir weiter wie bisher hinterherhinken. Meine Damen und Herren Abgeordneten der
Koalitionsfraktionen aus dem Osten, wollen Sie das? Ist
das der Auftrag Ihrer Wähler? Wie wollen Sie denn die
extrem hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bekämpfen? Was sagen Sie denjenigen, die abwandern
wollen? Sicherlich nicht das, was in Ihrem Antrag steht,
den Sie heute beschließen. Sie wissen doch ganz genau,
dass dieser Antrag weiße Salbe ist und dass sich mit ihm
die Kernprobleme des Ostens nicht lösen lassen.
({45})
Deswegen appelliere ich an Sie: Diskutieren Sie doch
mit uns, den Ländern, und meinetwegen auch mit den
Oppositionsfraktionen darüber, wie wir mehr Freiheit
geben können und wie wir aus den Mitteln mehr machen
können. Schauen wir doch einmal über den Tellerrand
unserer Nation hinaus und sehen uns an, welche anderen
europäischen Länder Erfolge erzielt haben. Irland zum
Beispiel hat sich in 30 Jahren durch eine gezielte Wirtschaftspolitik, durch Zukunftsinvestitionen in Bildung
und Unternehmen sowie durch flexible Strukturen von
einem der ärmsten zu einem der reicheren Länder der
EU entwickelt.
({46})
- Doch, Herr Müntefering, genau darum geht es. Wir
sollten uns an denjenigen Ländern in Europa orientieren,
die Wachstum geschaffen haben,
({47})
und nicht an denjenigen Ländern, die seit Jahren so gut
wie kein Wachstum mehr auf die Beine gebracht haben.
({48})
Geben Sie uns, den neuen Bundesländern, doch mehr
Freiheit! Was würden Sie denn verlieren? - Gar nichts!
({49})
Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten, wenn Sie uns
mehr Freiheit geben: Wir haben entweder Erfolg oder
Misserfolg. Im ersten Fall werden uns andere nacheifern
und im letzten Fall werden wir die politischen Folgen
selbst zu tragen haben.
({50})
Geben Sie uns die Freiheit, die Wachstumsregionen in
anderen EU-Ländern haben, mit denen wir konkurrieren.
Wir brauchen in Deutschland mehr Mut, mehr Kreativität und eine größere Bereitschaft zum Experimentieren.
Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergangenen Jahren Großartiges geleistet.
({51})
Sie haben bewiesen, dass sie Mut, Kreativität und Bereitschaft zum Wandel haben. Jetzt kommt es darauf an,
dass der Staat ihnen die Türen öffnet und nicht ständig
Steine in den Weg legt.
({52})
Danke sehr.
({53})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph
Matschie, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte auf die Katastrophenstimmung, die Sie, Frau
Pieper und Herr Milbradt, hier verbreitet haben,
({0})
mit Sätzen antworten, die der Vorstandsvorsitzende der
Jenoptik AG dem „Stern“ gesagt hat:
Ostdeutschland ist besser als sein Ruf. Ich glaube,
wir Deutsche neigen dazu, den Standort schlecht zu
reden. Statt schnelle Urteile über den Aufbau Ost
abzugeben, rate ich, abzuwarten, bis sich die gute
Infrastruktur voll auswirkt.
Recht hat der Mann! Das sage ich Ihnen, Frau Pieper.
({1})
Herr Milbradt, Sie haben hier über die Gemeinschaftsaufgabe gesprochen.
({2})
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass dies unser wichtigstes Wirtschaftsförderinstrument ist. Das hat auch
Herr Stolpe hier deutlich gemacht. Ich bin dezidiert der
Auffassung: Wir brauchen dieses Instrument auch in den
nächsten Jahren beim Aufbau Ost, und zwar in dem bisher zugesagten Umfang.
({3})
Aber die von Ihnen hier verbreitete Katastrophenstimmung verschreckt Investoren und trägt nicht zum Aufbau Ost bei, Herr Ministerpräsident.
({4})
Herr Milbradt, zum Mut, Forderungen zu stellen, gehört der Mut, über die Finanzierung der Umsetzung dieser Forderung zu reden. Auch darüber müssen wir hier
diskutieren, Herr Milbradt.
({5})
Herr Kollege Matschie, darf Ihnen die Kollegin
Pieper eine Zwischenfrage stellen?
Einen kleinen Moment. Ich bin mit Herrn Milbradt
gleich fertig. Dann kommt Frau Pieper dran.
({0})
Herr Milbradt, jeder in diesem Haus und auch bei Ihnen weiß: Die Lage der öffentlichen Kassen ist äußerst
angespannt. Das gilt für den Bund, für die Länder und
für die Gemeinden.
({1})
Wenn man an einer bestimmten Stelle „Hier darf nicht
gekürzt werden“ sagt - diese Forderung unterstütze ich;
bei Bildung und Forschung darf ebenfalls nicht gekürzt
werden -,
({2})
dann muss man sagen, woher das Geld genommen werden soll. Wir haben Vorschläge zum Subventionsabbau
gemacht.
({3})
Wir haben beispielsweise vorgeschlagen, die Eigenheimzulage abzuschaffen und das eingesparte Geld an
anderen Stellen sinnvoller zu investieren.
({4})
Als wir das taten, da saßen Sie auf der Bank der Blockierer. Sie haben zu diesem Subventionsabbau Nein gesagt.
Angesichts dessen sollten Sie sich nicht hierhin stellen,
Forderungen erheben und ungedeckte Schecks ausstellen. Auch das gehört zur Wahrheit, Herr Milbradt.
({5})
Zu einer Zwischenfrage bekommt die Kollegin Pieper
das Wort.
Herr Kollege Matschie, Sie haben der Opposition vorgeworfen, den Standort neue Bundesländer schlechtzureden, obwohl wir hier ganz konkrete Vorschläge gemacht
haben, wie wir den Aufbau Ost mit einer Gesamtstrategie - Modellregionen etc. - voranbringen können. Wie
würden Sie die Äußerungen Ihrer Ministerpräsidenten
Steinbrück, Simonis usw. bezeichnen, die den Aufbau
Ost ständig schlechtreden und permanent fordern, die
Förderprogramme zu kürzen und aufzuhören, die Fördermittel nach Himmelsrichtungen zu verteilen - was
noch nie stattgefunden hat?
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich will hier noch einmal
in aller Klarheit deutlich machen: Meine Position ist,
dass diese Fördermöglichkeiten nicht beschnitten werden dürfen.
({0})
Diese Position habe ich auch gegenüber SPD-Ministerpräsidenten deutlich gemacht. Sie wissen so gut wie ich,
dass es in den Bundesländern unterschiedliche Interessen gibt. Die damit verbundenen Konflikte werden ausgetragen. Meine Position ist hier deutlich geworden.
({1})
Zu dieser Position stehe ich auch.
Im Übrigen, Frau Pieper, sollten wir wirklich wahrnehmen, dass der Aufbau in Ostdeutschland zwei Gesichter hat. Man muss sie beide sehen.
({2})
Man muss auf der einen Seite wahrnehmen: Es gibt
heute in Ostdeutschland die modernsten Fabriken und
die neuesten Forschungslabore. Es gibt Städte, die wieder zum Leben erwacht sind.
({3})
Das ist eine Aufbauleistung von Millionen Menschen in
Ostdeutschland, die so gewaltig ist, dass man davor
wirklich Respekt haben muss.
({4})
Man darf nicht immer nur schwarz malen, wie Sie, Herr
Vaatz, es hier gemacht haben.
Natürlich gibt es auch eine andere Seite. Wer aufmerksam durch Ostdeutschland fährt, der sieht diese andere Seite. Neben dem gelungenen Aufbau gibt es die
bedrückende, hohe Arbeitslosigkeit.
({5})
In manchen Regionen liegt sie bei über 20 Prozent.
({6})
In diesen Regionen herrscht Angst, weil die jungen
Menschen weggehen und weil die Alten allein zurückbleiben. Natürlich gibt es das alles. Es gibt Regionen, in
denen die Hoffnung langsam stirbt.
({7})
Aber, Herr Kollege Vaatz, wir müssen doch die Frage
stellen: Wie kommen wir an dieser Stelle weiter?
({8})
Wir dürfen nicht nur das Problem beschreiben. Deshalb
haben wir auch heute konkrete Vorschläge dazu auf den
Tisch gelegt.
({9})
Ostdeutschland war und ist auf Unterstützung angewiesen. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen:
Meine Erfahrung in den letzten Jahren war - ich teile sie
mit vielen Kolleginnen und Kollegen, auch aus den alten
Bundesländern -, dass eine großartige solidarische Leistung vollbracht worden ist, und zwar von den Ostdeutschen, die den Mut gehabt haben, anzupacken, und von
den Westdeutschen, die mitgeholfen haben, dass diese
Solidarität finanziert werden kann.
({10})
Natürlich ist auch klar: Die Ungeduld wächst. Sie
wächst im Osten, weil es nicht schnell genug vorangeht.
Sie wächst auch im Westen, weil da gefragt wird: Was ist
in den letzten Jahren passiert? Warum ist es nicht so
schnell vorangegangen, wie wir alle uns das erhofft haben? Deshalb müssen wir heute auch darüber diskutieren: Wie setzen wir die Mittel, die wir zur Verfügung haben, möglichst effizient ein? Was machen wir aus den
Möglichkeiten, die wir hier haben?
Natürlich gehört dazu, auch den Mut zu haben, zu sagen: Wir müssen Mittel stärker auf Wachstumskerne
und auf möglichst Erfolg versprechende Entwicklungen
konzentrieren. Sie haben einige davon beschrieben, die
übrigens in erheblichem Umfang mit Bundesgeld gefördert worden sind. Diese Entwicklung soll auch weitergehen. Wenn junge Leute mobil sind - sie sind es nun einmal -, suchen sie ihre besten Chancen. Wir aber wollen
doch, dass sie nicht aus Ostdeutschland nach München,
nach Stuttgart oder nach Düsseldorf gehen, sondern dass
sie in Dresden, in Leipzig oder in Jena bleiben, weil sie
dort die besten Möglichkeiten für sich sehen. Also müssen wir Wachstumskerne fördern.
({11})
Ich bin Manfred Stolpe für seine Initiative dankbar,
der das Gespräch mit den Bundesländern aufgenommen
hat, um zu klären, wie man die Möglichkeiten, die Bund
und Länder haben, besser miteinander koordiniert, wie
man Kräfte bündelt und auf solche Erfolg versprechenden Entwicklungen konzentriert.
Natürlich kommt es vor allem darauf an, Innovationskraft zu stärken. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat in den letzten Jahren die Mittel
für die Innovationsförderung in den neuen Bundesländern quasi verdoppelt - daran hat Edelgard Bulmahn einen ganz großen Anteil -; hier ist eine gigantische Leistung vollbracht worden.
({12})
Jeder, der durchs Land fährt, erkennt: Das Geld ist gut
angelegt. Das kann man überall sehen. Vor wenigen Tagen haben wir in Ilmenau ein neues Fraunhofer-Institut
auf den Weg gebracht. Ich bin gestern in Hermsdorf gewesen und habe mir angeschaut, welche Früchte die
Wachstumskerneförderung dort getragen hat. Man kann
das mit Händen greifen. Es wirkt. Das ist auch die
Stärke, die wir in den nächsten Jahren gewinnen müssen.
Wir müssen Innovations- und Wachstumskräfte stärken.
Was sich in Ihrem Antrag wiederfindet - Löhne weiter runter, Niedriglohnsektor ausweiten -, das ist nicht
der Weg in Ostdeutschland.
({13})
Schauen Sie sich doch mal um! Schon heute gibt es in
vielen Bereichen in Ostdeutschland Löhne, von denen
ich sage, dass sie unterhalb der Schamgrenze sind. In Erfurt beispielsweise gehen Menschen mit einem Bruttostundenlohn von 3,30 Euro nach Hause. Von diesem
Lohn kann man nicht leben; man muss zusätzliche staatliche Hilfe beantragen.
({14})
Deshalb sage ich Ihnen als Abgeordneter aus Ostdeutschland: Wir brauchen nicht über Niedriglöhne und
die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu reden. Wir
brauchen eine Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen Mindeststandards in Ostdeutschland, damit Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeit
ihren Lebensunterhalt verdienen können. Die Debatte
über Mindestlöhne ist die Debatte, die wir heute führen
müssen.
({15})
- Nein, das ist kein Quatsch, Frau Pieper.
({16})
Neun Länder in der Europäischen Union haben solche
Mindestlohnregelungen eingeführt, weil sie erkannt haben: Wir brauchen eine untere Grenze für die Lohnentwicklung, damit Menschen am Ende auch von ihrer
Hände Arbeit leben können und nicht auf zusätzliche
staatliche Hilfe angewiesen sind. Für mich ist es auch
eine Frage der Würde des Menschen,
({17})
ob man einen angemessenen Lohn für seiner Hände Arbeit bekommt.
({18})
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Die
Entwicklung in Ostdeutschland ist trotz aller Probleme - das
ist meine feste Überzeugung - eine Erfolgsgeschichte,
an der Millionen von Menschen mitgeschrieben haben.
Lassen Sie uns deshalb im Deutschen Bundestag gemeinsam dafür sorgen, dass diese Erfolgsgeschichte in
den nächsten Jahren fortgeschrieben werden kann und
dass wir auf diesem Weg möglichst alle mitnehmen.
({19})
Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass wir zum Thema „Zukunft Ostdeutschlands“ eine Kernzeitdebatte am Donnerstagvormittag
führen, erfüllt mich durchaus mit Befriedigung,
({0})
zeigt es doch, dass dieses Thema wichtig ist. Ostdeutschland hat noch immer in besonderer Weise an den Folgen
der jüngsten Geschichte zu tragen. Es ist gut, dass das
Parlament das ganz ernst nimmt.
Die CDU/CSU bildet in ihrem Antrag „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ ein weich gezeichnetes Bild
der bisherigen Erfolge des Aufbaus Ost ab.
({1})
- Ja. - Ich bin weit davon entfernt, das Erreichte kleinzureden und dem Klischee des ewig unzufriedenen Ostlers
zu entsprechen, doch die Bilanz, die dieser Antrag zieht,
ist geschönt: kein Wort über die Deindustrialisierung, die
wir im Osten erlebt haben, kein Wort über den Wohnungsleerstand und den Verfall von Städten aufgrund
drastisch sinkender Bevölkerungszahl, kein Wort über
vor sich hin rottende Industrie- und Gewerbebrachen
({2})
und über fehlgeplante überdimensionierte Infrastruktur,
kein Wort über gigantische Fehlinvestitionen von Fördermitteln
({3})
und darüber, dass man vor 1990 Arbeitslosigkeit nur
vom Erzählen kannte. Neben den vielen Erfolgen gehört
auch das zur Realität Ostdeutschlands. Es ist kein Wunder, dass die CDU/CSU das in ihrem Antrag unerwähnt
lässt; denn wenn sie es erwähnen würde, müsste sie auch
ihre Verantwortung für gewaltige Fehlsteuerungen und
Fehlinvestitionen in den 90er-Jahren eingestehen.
Die CDU/CSU fordert, fruchtlosen Debatten über Sonderwirtschaftszonen entgegenzutreten. Dem kann ich nur
zustimmen. Allerdings frage ich mich, wo die Konsequenz
bleibt. Wann hören Sie endlich auf, Sonderregelungen für
den Osten zu fordern, zum Beispiel im Planungs- und
Genehmigungsrecht? Warum unterliegen Sie noch immer dem Irrglauben, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass durch die Ausschaltung von Bürgerbeteiligung und
Verbandsklagerechten Projekte schneller realisiert werden können?
({4})
Hier soll Demokratieabbau als Entbürokratisierung verkauft werden. Jawohl, so sehe ich das.
({5})
Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf der CDU/CSUgeführten Bundesländer zur Streichung des Verbandsklagerechtes für Naturschutzverbände ab. Aus denselben
Gründen wird es mit uns auch keine Verlängerung der
Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes geben.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert, den
Kündigungsschutz in Ostdeutschland auszusetzen. Ich
sehe nicht, dass es Ostdeutschland gut bekommen
würde, wenn beim Arbeitsrecht niedrigere Standards als
in Westdeutschland eingeführt würden. Ob die daraus
abgeleiteten vagen Arbeitsplatzerwartungen Realität
werden, ist doch sehr zweifelhaft. Welche Zugewinne an
Arbeitsplätzen sind uns nicht schon von den Wirtschaftsforschungsinstituten durch Sozialabbau und Deregulierung des Arbeitsrechtes prognostiziert worden! Von diesen Arbeitsplätzen haben wir bisher kaum welche
gesehen. Real aber ist die Gefahr, dass mit zunehmendem Sozialabbau die Motivation und damit die Produktivität und Qualität der Arbeit sinken. Das wäre kein Anreiz, in den Standort Ost zu investieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ostdeutsche
Wirtschaft stärken heißt die regionale Wirtschaft stärken. Ostdeutschland ist keineswegs ein homogenes Gebilde, sondern weist eine Vielfalt von Regionen mit jeweils typischer Ausprägung aus. Das Typische liegt
nicht nur in der Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur und Natur begründet, sondern auch in der Geschichte und Mentalität der Bevölkerung. Daran müssen sich regionale
Entwicklungskonzepte orientieren, die die jeweiligen
Wirtschaftspotenziale erschließen sollen.
Auch die Lage an der Grenze zu den neu zur EU beigetretenen Ländern Polen und Tschechien ist ein Kapital, mit dem ostdeutsche Regionen wuchern können. Ein
tschechischer Kollege verglich unlängst die Euroregionen mit Ökosystemen: je größer die Artenvielfalt, desto
stabiler das System. In den Euroregionen hat die Zukunft
am 1. Mai dieses Jahres begonnen.
Angesichts der Debatte über Wachstumskerne ist es
mir besonders wichtig, dass der ländliche Raum nicht
abgehängt wird. Auch hier können Wachstumskerne
identifiziert werden; denn ländlicher Raum ist mehr als
nur Landwirtschaft. Im ländlichen Raum Industrien aufzubauen, für die es dort weder die Rohstoffbasis noch
die Zulieferer noch die Absatzmärkte gibt, ist allerdings
wenig erfolgversprechend. Industrie und Gewerbe müssen vor allem an das anknüpfen, was dort an Rohstoffen,
Arbeitskräftepotenzial und Traditionen vorhanden ist.
Wir setzen deshalb zum Beispiel auf den Anbau und
die Verarbeitung von nachwachsenden Rohstoffen.
Das hat einen dreifachen Effekt: Nachwachsende Rohstoffe können fossile Rohstoffe ersetzen - damit werden
Ressourcen geschont -, sie haben in der Regel eine bessere Ökobilanz und sie schaffen zusätzliche Arbeit in
Deutschland. Durch den Aufbau von Verarbeitungskapazitäten entstehen noch zusätzliche Arbeitsplätze, zum
Beispiel im Anlagenbau.
Ein weiteres Potenzial des ländlichen Raums stellt der
wachsende Markt für Erholungsleistungen dar. In der
Debatte um die wirtschaftliche Entwicklung im Osten
gerät die Bedeutung kultureller Angebote und Einrichtungen, von Kulturdenkmälern, sozialer Infrastruktur
und Naturschätzen leicht aus dem Blickfeld.
({7})
Sie aber sind ein Kapital Ostdeutschlands, das es für die
Entwicklung des Landes zu nutzen gilt. Auf der Basis
der Kulturdenkmäler und der Naturschätze gilt es den
Tourismus zu entwickeln. Sie sind aber auch Voraussetzung dafür, dass die Menschen gerne hier leben bzw.
hierher ziehen.
Im Osten Deutschlands liegen ohne Zweifel die meisten strukturschwachen Regionen. Der Auftrag des
Grundgesetzes ist eindeutig: Es fordert, gleichwertige
Lebensbedingungen zu schaffen. Um diese in Ost und
West zu erreichen, bedarf es noch auf längere Sicht erheblicher Anstrengungen. Helmut Kohl hat blühende
Landschaften versprochen; wir erinnern uns. Aber er hat
an den wirklichen Bedürfnissen dieser Landschaften
vorbei regiert. Rot-Grün hat 1998 mit den Versprechungen für den Osten aufgehört. Aber Rot-Grün hat gehandelt. Neben den Gemeinschaftsaufgaben wurden zahlreiche innovations- und wirtschaftsfördernde Programme
insbesondere für Ostdeutschland entwickelt. Auf diesem
Weg werden wir weitergehen. Mit den Gesetzen zur Modulation, zur Agrarreform und zum EEG sowie mit der
Mittelstandsoffensive geben wir nicht nur allen strukturschwachen Regionen eine Entwicklungsperspektive,
sondern - um im Bild zu bleiben - Ostdeutschland eine
Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernward Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Matschie, Sie haben Ihren Vortrag vorhin
in einer sehr aufgeregten - mir von Ihnen unbekannten -, gekünstelten Art dargeboten und gefragt, wie wir
in den neuen Bundesländern weiterkommen können. Die
Antwort ist leicht zu finden: Sie können sie in unserem
Antrag oder in den Protokollen der heutigen Debatte lesen. Wenn Sie aus diesen nicht nur Worte oder Passagen,
die in Ihre Vorstellungswelt passen, herausnehmen, sondern einmal das Ganze lesen - was ich hoffe -, werden
Sie in dem, was heute von der Unionsfraktion und der
Opposition in diesem Hause insgesamt gesagt worden
ist, richtige Antworten finden, die Sie, wenn Sie sie auch
nur zum Teil beherzigen, einen großen Schritt nach vorn
bringen werden.
({0})
Sie sprechen immer davon, wir würden die Situation
in den neuen Bundesländern schlechtreden.
({1})
- Das ist nicht wahr. - Wer die Situation in den neuen
Bundesländern kennt, der muss erkennen, dass die Konzepte, die Sie in den letzten Jahren vorgeschlagen haben
und die das Land voranbringen sollten, eben nicht greifen. Das betrifft nicht nur die Lage in den neuen Bundesländern, sondern die gesamte politische Situation. Was
Sie als Lösungen anbieten, sind keine Lösungen. Es verunsichert die Menschen und es macht Ihr politisches
Handeln unglaubwürdig. Damit muss endlich Schluss
sein.
({2})
Kollege Hettlich hat vorhin die unsägliche Debatte
der letzten Wochen bewertet. Ich schließe mich dieser
Bewertung an. Es ist äußerst wichtig, immer zu wiederholen: In den neuen Bundesländern hat es kurzzeitig einen Aufschwung gegeben. Der Beginn war gut, aber die
Fortsetzung - das ist das Entscheidende - hätte besser
sein müssen.
({3})
Ministerpräsident Milbradt hat ausgeführt, dass dort,
wo der Staat eingegriffen und Regie geführt hat, vieles
gelungen ist. Die weichen Standortfaktoren sind vorhanden und wirken. Aber mich besorgt, dass es außerhalb dieser so genannten Wirtschaftszentren noch zu
viele ungenutzte Flächen in den Gewerbegebieten auf
dem flachen Land gibt. Es muss etwas getan werden, damit sich auch dort eine positive Entwicklung einstellt.
Wir wollen doch, dass die Menschen in den neuen Bundesländern bleiben, dass beispielsweise Thüringer in
Thüringen bleiben. Wir wollen, dass unsere Kinder in
unseren Ländern eine gute Ausbildung genießen können,
ihre Zukunft gestalten können und eine Perspektive haben.
({4})
Bernward Müller ({5})
Fast jeder Redner hat hier betont, die Menschen hätten sich engagiert. Das ist so. Die Herausforderungen
waren riesig; viele haben sich diesen Herausforderungen
gestellt und haben Mut bewiesen, indem sie den Weg
von einer staatlichen Wirtschaft zum Unternehmertum
gegangen sind. Nun liegt es an uns, diesen Mut zu honorieren und diese Menschen zu unterstützen. Man sollte
die Mittelständler nicht knebeln und ihnen Fesseln anlegen, sondern man sollte ihnen Chancen eröffnen. Denjenigen, die selbstständig werden wollen, sollte man eine
Perspektive eröffnen, damit sie Ideen aufgreifen und
sich als Unternehmer betätigen können; denn nur Unternehmer können Arbeitsplätze schaffen.
({6})
Man muss wirklich feststellen, dass die Zeit wie im
Fluge vergeht. Den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen war eine Drohung für die Menschen in den neuen
Bundesländern. In der Zukunft wäre es besser, wenn die
verantwortlichen Minister der Bundesregierung nicht in
diese Region fahren und nicht versuchen, dort die Entwicklung voranzubringen. Nur dann kann es weitergehen.
Die Bundesregierung ist ihrer Aufgabe, für die neuen
Bundesländer Entscheidendes voranzubringen, so wie es
1998 angekündigt wurde, in keiner Weise gerecht geworden.
Ich will als Beispiel die ICE-Trasse Erfurt-Nürnberg
nennen, die heute schon erwähnt wurde. Dieses Projekt ist
für Thüringen - aber eben nicht nur für Thüringen - besonders wichtig. Das sind doch die Zeichen, die gesetzt
werden müssen, damit Investoren ins Land kommen. Was
hat es für einen Schlingerkurs gegeben, als Sie die Verantwortung für dieses Projekt übernommen haben!
({7})
- Natürlich war das ein Schlingerkurs.
({8})
Erst musste alles geprüft werden. Dann haben die Grünen gesagt, das sei nicht wirtschaftlich. Die SPD wiederum hat gesagt, die Strecke werde doch gebaut, aber
sie werde halt nicht so schnell gebaut.
({9})
- Für Sie mag das so sein. Aber für uns ist es ganz wichtig.
Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit. Sie müssen jetzt schnell zum Schluss kommen.
Ich komme ganz schnell zum Schluss.
({0})
Es ist eine Katastrophe, wie Sie dieses Projekt voranbringen. Es herrscht Stillstand. Aber Stillstand ist Rückschritt. Auch wenn sich drei Bagger bewegen, so muss
man doch sagen: Es geht nichts voran, sondern es
herrscht Stillstand. Herr Matschie, ich sehe nicht, dass
diese Strecke unter Ihrer Verantwortung jemals fertig gebaut wird.
Ich gebe Ihnen folgende Empfehlung: Stellen Sie die
Weichen neu oder machen Sie Platz für eine neue Politik!
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried
Scheffler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wenn man hier teilweise die
Reden hört, insbesondere die von Frau Pieper - Herr
Vaatz hat sich in seinen Eingangsbemerkungen ein bisschen an die Realität herangepirscht -,
({0})
muss man denken, dass Sie ein bisschen blind durch die
Lande stolzieren.
Frau Pieper, gerade Ihr Ministerpräsident
({1})
teilt ja immer wieder in Presse, Funk und Fernsehen,
aber auch dann, wenn er hier im Bundestag ist, mit, wie
erfolgreich seine Politik ist. Dies ist sie insbesondere
dann, wenn Bundesmittel ausgegeben werden. Die
Leuchttürme, die Sie in Sachsen-Anhalt geschaffen haben, beruhen auf Bundesmitteln.
({2})
Das war bis 1998 nicht so. Vielmehr sind gerade die Akzente, die zum Beispiel Bundesministerin Edelgard
Bulmahn gesetzt hat, erfolgreich und auch in Sachsen
und Thüringen hochwirksam.
Es gibt ja ein gewisses Maß an Übereinstimmung,
zum einen was die positiven Dinge, zum anderen aber
auch was die wirtschaftlichen Strukturdaten betrifft. Dabei geht es um die Sicht auf den Arbeitsmarkt, aber auch
um die Einschätzung und die Wahrnehmung in der Bevölkerung, dass der Weg der letzten Jahre durchaus erfolgreich war. Das können wir doch gar nicht abstreiten.
Wir sagen in unserem Antrag doch ganz deutlich: Ein
Weiter-so wird es nicht geben. Aber das Bild eines generellen Stillstandes der ostdeutschen Wirtschaft ist
schlichtweg falsch; Kollege Vaatz, darin stimme ich ausdrücklich mit Ihnen überein. Der Aufholprozess setzt
sich natürlich bei einem zu geringen Wachstum insbeSiegfried Scheffler
sondere im industriellen Bereich fort. Der Strukturwandel ist in allen neuen Ländern, von Rostock oder Rügen
bis hinunter nach Zittau, sehr sichtbar. Ministerpräsident
Milbradt, aber insbesondere unser Kollege Matschie aus
Thüringen haben dies eindrucksvoll vorgetragen.
({3})
Gleichwohl vollzieht sich keine selbst tragende Entwicklung. Wir stimmen mit Ihnen auch darin überein,
dass die finanzielle Abhängigkeit von Transfers aus
Westdeutschland und die Abwanderung aus den neuen
Ländern nicht gut sind. Damit werden wir uns als ostdeutsche Landesgruppe in der SPD nicht zufrieden geben. Hier geht es aber nicht nur um regionale Sorgen.
Herr Matschie hat es teilweise schon angesprochen: Die
Entwicklung in den neuen Ländern ist vielmehr in die
Entwicklung in ganz Deutschland eingebettet. Mit Angst
und Hysterie, wie das in der Presse geschieht oder auch
von Ihnen immer wieder versucht wird - Frau Pieper,
Sie haben das eindrucksvoll bestätigt -,
({4})
können wir nichts erreichen. Wir können doch nicht den
ungelegten Eiern im Hinblick auf die Haushaltsberatungen 2005 vorgreifen. Wir können uns hier zwar die
Köpfe über GA- und Infrastrukturmaßnahmen heiß reden. Entscheidend ist letztendlich, was der Deutsche
Bundestag, wir als Parlamentarier mit unseren Haushältern, im Hinblick auf den Haushalt 2005 oder jetzt die
GA 2004 entscheidet. Insofern sind für mich viele Dinge
- auch Ihre Pressemitteilung gestern aus Weimar - ungelegte Eier, die nur dazu dienen, diesen Standort schlecht
zu machen.
({5})
Ich sage Ihnen, dass eine differenzierte Stärkenund Schwächenanalyse, wie es Kollege Matschie hier
vorgetragen hat, mit guten Vor-Ort-Kenntnissen - denn
ich und andere sind sehr viel im Lande unterwegs - eine
Grundlage für neue Ansätze der Förderung schaffen
kann. Deshalb beinhaltet unser Antrag nicht einfach ein
Weiter-so, sondern eine Neujustierung, wie das Minister
Stolpe nicht erst in der heutigen Debatte, sondern schon
in der Vergangenheit dargestellt hat. Diese Neujustierung ist sichtbar.
Vorhin wurde die Verdoppelung der industrienahen
Forschung angesprochen. Diese ist in der Region Berlin-Brandenburg und auch in Mecklenburg-Vorpommern
sichtbar, aber natürlich nicht in allen Regionen. Wir
stimmen mit Ihnen darin überein, dass wir nach wie vor
eine bessere Infrastruktur und industrienahe Forschung
brauchen. Das können wir aber unter den gegenwärtigen
Bedingungen der Globalisierung nicht sofort erreichen.
Noch ein Punkt: Angesichts der Bedingungen kurz
nach der Wende, in der Zeit, in der Sie - das wollen Sie
heute nicht mehr wissen - eine Deindustrialisierung
bewirkt haben, können wir doch nicht so tun, als ob gar
nichts zustande gekommen ist.
({6})
Die Europäische Union bestätigt der Bundesregierung
und dem Deutschen Bundestag nach wie vor, dass mindestens zwei Drittel der finanziellen Engpässe auf die
Deindustrialisierung und die Fehler in der Zeit kurz nach
der Wendezeit, zum Beispiel auf den überhitzten Bauboom, zurückzuführen sind. Darunter haben wir noch
heute zu leiden. Das blenden Sie vollkommen aus.
Das blendet auch Ministerpräsident Milbradt aus.
({7})
Er blendet ebenfalls vollständig aus, dass er 2003, als
über das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhandelt
wurde, auf der anderen Seite des Tisches saß und die
unionsregierten Länder vollkommene Blockadepolitik
betrieben. Wäre dem nicht so gewesen, hätten die Haushälter des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung viel mehr Spielräume
({8})
in der Frage der Bildungs-, Forschungs- und Verkehrspolitik gehabt. Dann wäre es möglich gewesen, wesentlich mehr für die Schiene, für die Straße und für die Wasserstraßen zu erreichen.
({9})
Diese Tatsachen dürfen Sie nicht ausblenden; darum
bitte ich Sie wirklich.
Frau Pieper und Herr Milbradt haben die Aspekte der
Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund gestellt. Sie
müssen dann aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sagen, dass Sie nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern sogar schon die Schwellenlöhne von Rumänien, Bulgarien oder anderen Staaten durchsetzen
wollen.
({10})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen hinsichtlich des Kündigungsschutzes Änderungen
vornehmen.
({11})
- Das sind keine Unterstellungen. Ich habe das aus Ihren
Anträgen herausgelesen. - Diese Forderungen müssen
wir von der SPD mit Nachdruck zurückweisen.
({12})
Wir können uns durchaus über Lohnergänzungsleistungen unterhalten. Ihre Ausführungen zum Arbeitsmarkt aber - ich sage das ganz deutlich - sind ein Skandal. Sie wollen - auch das unterstelle ich Ihnen - über
den Umweg einer anderen Strukturpolitik in Ostdeutschland die Arbeitnehmerrechte praktisch in ganz Deutschland aushebeln. Dabei machen wir nicht mit.
({13})
Deutschland, insbesondere Ostdeutschland, braucht
konkurrenzfähige Arbeitsplätze - teilweise gibt es sie
schon -, um international konkurrenzfähig zu sein. Von
dieser internationalen Konkurrenzfähigkeit hat Ministerpräsident Milbradt gesprochen. Der Solidarpakt II
reicht bis 2019 und wir als Landesgruppe Ost haben von
der Regierung GA-Mittel eingefordert. Unser Zeithorizont reicht also bis 2019 und wir dürfen ihn durch
Schlechtreden nicht verkürzen und so tun, als sei er bereits 2009 oder 2010 zu Ende. Meines Erachtens sind
Ihre Vorschläge teilweise nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch unsinnig. Ihre
Wirkung ist teilweise verheerend.
Sie können dort, wo die Bundesmittel greifen und
durch Bundesmittel finanzierte Programme aufgelegt
werden - vorhin wurde das schon genannt -, eine vernünftige Landespolitik machen. Dazu müssen Sie die
Kabinette, an denen Unions- oder FDP-Politiker beteiligt sind, auffordern, die ihnen zur Verfügung gestellten
Mittel sinnvoll einzusetzen.
({14})
Nehmen wir zum Beispiel die Verwendung der Regionalisierungsmittel in Sachsen-Anhalt. Sie können vor Ort
sehen, wo die Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur angekommen sind.
({15})
Ich bitte darum, hier Ross und Reiter zu nennen. Wir
müssen klar sagen, wo die Ursachen liegen, und dürfen
nicht immer nur auf den Bund schauen. Die Verantwortung der Länder muss hier ganz deutlich angesprochen
werden.
({16})
- Frau Pieper, wir können uns gern über Fragen der Bildungs-, Forschungs-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitik
unterhalten. Wir beschreiten gerade in der Arbeitsmarktpolitik einen anderen Weg als Sie. Wir stellen unsere
Hartz-Gesetze Ihren Forderungen nach Lohnersatzleistungen entgegen. Ich denke, damit gehen wir den wesentlich besseren Weg.
({17})
Sie können unserem Antrag mit ruhigem Gewissen
zustimmen. Ihre Anträge müssen wir natürlich zurückweisen.
Vielen herzlichen Dank.
({18})
Zu einer Kurzintervention, weil er persönlich angesprochen wurde, der Kollege Vaatz.
Herr Kollege Scheffler, nach Ihrer Auffassung habe
ich mich allmählich an die Realität herangepirscht. Mit
„Realität“ nehmen Sie sicher auf die Zwischenfrage Ihres Kollegen Hilsberg Bezug. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Die Aussage des Herrn Kollegen Hilsberg,
dass man sich mit einer Firma geeinigt habe, ist richtig.
Es geht aber nicht um die Einigung einer Regierung mit
einer Firma. Vielmehr hat die Regierung gleiches Recht
für alle zu schaffen.
In der augenblicklichen Situation werden die mitteldeutsche Braunkohle und die mittelständischen Unternehmen, die in Ostdeutschland unmittelbar nach der
Wende ihre Anlagen ertüchtigt haben und Emissionen
abgeben, nach wie vor benachteiligt;
({0})
denn noch ist das Referenzjahr bei der Bemessung für
die Early Actions das Jahr 1994 und nicht, wie wir fordern, das Jahr 1991. Im Benchmarking wird der technische Wirkungsgrad der Braunkohle gegenüber dem technischen Wirkungsgrad der Steinkohle nach wie vor
benachteiligt. Es ist nach wie vor richtig, was ich anfangs gesagt habe, dass nämlich die in Ostdeutschland
neu gegründeten Betriebe hinsichtlich ihrer Finanzierung eine Doppelfunktion ausüben: Einerseits finanzieren sie sich selbst, andererseits finanzieren sie die Erneuerung im Westen. Daran hat sich nichts geändert.
({1})
Herr Kollege Vaatz, Ihre Kurzintervention bezog sich
nicht auf meine Rede, sondern auf den Beitrag des Kollegen Hilsberg. Ich kann die Aussage des Kollegen
Hilsberg aber bestätigen; denn in dieser Woche haben
wir uns nach der entscheidenden Nachtsitzung, in der es
um die Ausgestaltung des Entwurfs ging, mit den Verantwortlichen von Vattenfall unterhalten. Ich kann nur
bestätigen, dass zukünftig sowohl die Investitionen als
auch die Senkung der Emissionen Beachtung finden. Insofern muss ich das, was Sie hier vorgetragen haben, zurückweisen; es entspricht nicht den Tatsachen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Ostdeutschland eine Zukunft geben“ - das ist die Überschrift unseres Antrags. Das ist auch mit einer Vision
verbunden. Diese Debatte heute wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht die Oppositionsfraktionen signalisiert hätten, dass wir über Ostdeutschland reden müssen.
({0})
Die Menschen in der ehemaligen DDR haben mit der
friedlichen Revolution selbst das Tor für eine freiheitliche Demokratie und ihre Zukunft aufgestoßen. Wir hatten viele Wegbegleiter und Wegbereiter. Mit Helmut
Werner Kuhn ({1})
Kohl hatten wir einen Bundeskanzler, der diese historische Aufgabe der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ganz oben auf seiner Agenda stehen hatte.
({2})
Das steht im Gegensatz zu der Agenda 2010 des jetzigen
Bundeskanzlers, für den der Osten nur noch eine Marginalie ist. Man würde am liebsten gar nicht mehr darüber
reden, wie die Entwicklung dort unter Rot-Grün letztendlich in die Grütt gefahren worden ist.
({3})
Bei 5 Millionen Arbeitslosen und einer flächendeckenden Unterbeschäftigung von 20 Prozent in Ostdeutschland ist es zwingend notwendig, dass wir diese
Debatte führen. Wenn der Osten nicht wieder auf die
Beine kommt, wird die Wirtschaft in Deutschland der
Entwicklung in Europa im wahrsten Sinne des Wortes
weiter hinterherhinken. Wir brauchen uns nicht darüber
zu ereifern, wer denn nun die Konzepte für die geringsten Steuersätze oder wer die besten Konzepte für die
Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland hat. Die Fakten zeigen es eindeutig: Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ ist eine zentrale Aufgabe. Ministerpräsident Milbradt hat ganz klare Worte dazu gefunden. Im Osten arbeiten wir mit dem European Recovery
Program, weil wir 40 Jahre benachteiligt worden sind.
({4})
Jetzt werden wir durch diese Bundesregierung benachteiligt. Von ursprünglich 750 Millionen Euro sind die
Ausgaben für diese Aufgabe auf knapp 200 Millionen Euro
gesenkt worden. Das können wir uns einfach nicht bieten lassen. Wie sollen wir denn unseren Investitionsstandort fit machen? Wir brauchen die GA und die Investitionsförderung. Dafür brauchen wir auch
Landesmittel. Wir müssen Einnahmen realisieren, um
diese Situation in den Griff bekommen zu können.
({5})
- Ja, Herr Stiegler, Sie sind natürlich ein ausgemachter
Experte, der die Ostförderung in- und auswendig kennt.
({6})
Sie werden ja zu diesem Tagesordnungspunkt später
noch als Wunderwaffe Ihrer Partei eingesetzt.
({7})
Aber Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Menschen in den neuen Bundesländern auf ein Hoffnungssignal warten.
({8})
Ich sage: Diese Bundesregierung ist nicht geeignet,
ihnen dieses Signal zu geben. Da ich Herrn Matschies
Problembeschreibung und die vielen Fragen, die er gestellt hat, gehört habe und beobachtet habe, wie er dann
mit Herrn Minister Stolpe in einen Dialog getreten ist,
sage ich Ihnen: Sie verhalten sich nicht wie Koalitionsfraktionen, die eine Regierung tragen, bzw. wie ein Minister für den Aufbau Ost. Das hat sich vielmehr angehört wie eine Selbsthilfegruppe, die einfach nur einmal
über dieses Thema reden will, die aber gar keine eigenen
Konzepte hat.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handelt
sich um Verträge, die in Zukunft in keiner Weise geändert werden können. Bis 2012 sind wir in den Lasten der
Steinkohleproduktion im Ruhrgebiet fest verwurzelt.
Aber dort finden Wahlen statt.
({10})
In NRW wird es dann heißen, dass man diese Situation
leider nicht ändern könne; aber dann werden bis zum
Jahre 2012 Förderungen in Milliardenhöhe zugesagt.
({11})
Genau das stand letztendlich auch auf der Agenda: Tausche Westkohle gegen Osthilfe. Dem wird unsere Fraktion in dieser Form aber nicht zustimmen. Das können
wir Ihnen versichern.
({12})
Insoweit ist die Sache in Ordnung.
Mit der Strategie, die wir heute vorgelegt haben, geben wir Ihnen einen Fingerzeig, wie Sie in Zukunft arbeiten sollen. Ich nenne nur die Stichworte Clusterbildung und universitäre Forschung. Allerdings müssen wir
auch die Kosten betrachten, die dadurch auf die Länder
zukommen. Sie finanzieren Universitäten und betreiben
Produktentwicklung und Produktionseinführung auf einem möglichst hohen Niveau, damit dort auch gut ausgebildete Arbeitskräfte wieder eine Zukunft haben.
Wenn Sie es ernst meinen würden, Herr Scheffler,
dann müssten Sie sagen: Jawohl, wir wollen den Braindrain gemeinsam verhindern, damit der Zustand, dass
die gut ausgebildeten Leute vom Osten in den Westen
gehen, weil sie nur dort eine Zukunft haben, endlich gestoppt wird. Aber Sie führen eine Ausbildungsplatzabgabe ein, die dazu führt, dass die Unternehmen Leute
ausbilden müssen, obwohl überhaupt keine mehr da
sind. So können wir Deutschland nicht fit für die Zukunft machen.
({13})
Werner Kuhn ({14})
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn gesagt wird - das wurde vom Kollegen Hettlich auf sehr
interessante Weise dargestellt -, dass wir natürlich
universitäre Forschung, Clusterbildung und Produktentwicklung brauchen, dass wir aber gerade auch für die
neuen Bundesländer ein System von Instituten und außeruniversitärer Forschung ins Leben gerufen haben, zum
Beispiel die Leibniz-Institute.
({15})
Dann wird gesagt: Jetzt führen wir eine Entflechtungsdebatte.
({16})
Man denkt: Donnerwetter, jetzt wird endlich Bürokratie
abgebaut; jetzt werden wir zum Zuge kommen. Aber
nein, Herr Kollege Scheffler, diese Entflechtungsdebatte
bedeutet nur, dass sich der Bund aus der Finanzierung
der außeruniversitären Forschung zurückzieht
({17})
und sie den Ländern, die ohnehin kein Geld haben, auf
die Augen drückt. Dadurch wird sich die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland zusätzlich verschlechtern.
({18})
Ich kann nur sagen: Herr Stolpe, wir brauchen eine kompetente Administration. Das wissen wir auch aus unseren Regierungserfahrungen bis 1998. Es ist notwendig,
dass es eine Stabsstelle, einen Staatssekretär und einen
Minister gibt, der für den Aufbau Ost zuständig ist, damit nicht jeder vom Thema Eigenheimzulage bis zur
Verwendung der GA-Mittel kreuz und quer quatschen
kann. Eine halbe Abteilung in Herrn Stolpes Bundesministerium, eine halbe in Herrn Clements Ministerium
und eine halbe Stelle im Kanzleramt - das kann es nicht
gewesen sein. Wir müssen den Aufbau Ost wirklich professionell angehen. Dass dies nicht geschieht, kritisiere
ich in dieser Debatte; denn der eine weiß nicht, was der
andere tut.
({19})
Diese rot-grüne Bundesregierung - das muss ich hinsichtlich des Aufbaus Ost sagen - ist eine Regierung der
vertanen Chancen. Das stellt man fest, wenn man die Chancen beim Thema Hochtechnologie im Verkehrsbereich,
insbesondere bezüglich der Magnetschwebebahn, Revue
passieren lässt oder wenn man den Flugzeugbaustandort
Deutschland respektive neue Bundesländer unter die
Lupe nimmt. Unser Herz tränt, wenn wir sehen, dass der
A3XX und der A380 jetzt in Toulouse gebaut werden.
Hier bestand die Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, damit wir in den neuen Bundesländern einen zusätzlichen Leuchtturm schaffen.
({20})
Ich kann kein privates Automobilunternehmen zwingen,
dahin zu kommen und dort ein Werk zu errichten, es sei
denn, man verhandelt taktisch so gut und so richtig, wie
Ministerpräsident Milbradt das gemacht hat.
({21})
Die erste Aufgabe eines jeden Politikers - danach können Sie die Uhr stellen - ist Wirtschaftsförderung. Wenn
ich meine Basis nicht in Ordnung kriege und meinen
Leuten keine Zukunft geben kann, habe ich letztendlich
überhaupt keine Chance, Wirtschaftsentwicklung und
Aufschwung in den neuen Bundesländern zu bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, durch Ihre ganzen Regelwerke werde
ich immer wieder an alte Zeiten erinnert: immer mehr
Durchführungsbestimmungen, immer mehr Gesetzeswerke, immer mehr Initiativen zur Regulierung. Wir
sind 1989 auf die Straße gegangen und haben gesagt:
Freiheit statt Sozialismus. Und wir lassen uns von Ihnen
den Sozialismus nicht durch die Hintertür wieder einführen.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat jetzt der Berliner Senator für Wirtschaft,
Arbeit und Frauen, Harald Wolf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kuhn, ich finde es schon erstaunlich, mit welcher Verve
Sie und Ihre Fraktion in der Lage sind, über den Aufbau
Ost zu reden und sich über die Bundesregierung zu empören, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ein
Großteil, eine Vielzahl der Probleme in Ostdeutschland,
über die wir heute diskutieren, mit Fehlentscheidungen
zusammenhängen, die unter der Bundesregierung Kohl
getroffen worden sind,
({0})
mit einer verfehlten Politik, die geglaubt hat, der Aufbau
Ost lasse sich aus der Portokasse finanzieren, mit einer
Förderung über Abschreibungen, die ganz wesentlich
dazu beigetragen hat, dass Fehlinvestitionen in Beton
stattgefunden haben und eben nicht in die Wachstumskerne,
({1})
über die wir heute diskutieren.
({2})
Wenn wir heute über den Aufbau Ost diskutieren und
über die Realität in Ostdeutschland, dann ist es in der Tat
so, Herr Matschie, dass es zwei Gesichter gibt: einerseits
die Erfolge bei der Modernisierung und beim Aufbau der
Infrastruktur, die Erfolge auch bei der Herausbildung international konkurrenzfähiger Wachstumskerne und international konkurrenzfähiger Regionen. Aber es gehört
Senator Harald Wolf ({3})
andererseits genauso zur Wahrheit und zur Realität, dass
wir nach wie vor eine gravierende Strukturschwäche
haben - eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent - und
dass wir eine anhaltend hohe Abwanderung vor allen
Dingen von jungen, gut ausgebildeten Menschen aus
Ostdeutschland haben. Wenn diese Entwicklung nicht
gestoppt wird, wenn dieser Trend nicht aufgehalten
wird, wird er die positive Entwicklung überlagern und
dann wird das Gefälle zwischen Ost und West wieder
vertieft werden. Das ist das, worüber ich mir Sorgen mache, worüber wir reden müssen und wogegen wir Strategien entwickeln müssen. Ich glaube, es kann nicht in unserem Interesse sein, eine Entwicklung zu haben, bei der
der Osten vom Westen weiter abgekoppelt wird. Ich
glaube, es ist im Interesse der gesamten Republik und
nicht nur im Interesse des Ostens, dass in Ostdeutschland eine selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung
eingeleitet wird, durch die Ostdeutschland nicht auf
Transfers und Subventionen in dem Maße, wie es zurzeit
der Fall ist, angewiesen ist. Deshalb, glaube ich, ist es
auch im Interesse des Westens und der westdeutschen
Bundesländer, sich intensiv mit den Fragen des Aufbaus
und der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten auseinander zu setzen. Eine positive Entwicklung im Osten ist
eine Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit
und Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland
insgesamt.
({4})
Deshalb, glaube ich, brauchen wir in der Tat einen
neuen Entwicklungsschub in Ostdeutschland, brauchen
wir eine Neubestimmung der Politik in und für Ostdeutschland. Das heißt auch, dass wir für Ostdeutschland
weiterhin Sonderregelungen brauchen - wir haben ja
schon jetzt Sonderregelungen - und dass wir weiterhin
einen Standortvorteil für Ostdeutschland brauchen, weil
Ostdeutschland nur so entsprechend aufholen kann.
Was wir allerdings nicht gebrauchen können, sind
Diskussionen, wie sie in den letzten Wochen geführt
wurden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zusagen
über Förderungen wie zum Beispiel der GA-Mittel haben aufkommen lassen. Ich bin sehr froh darüber, dass
Minister Stolpe heute von dieser Stelle aus eine Klarstellung hierzu getroffen hat und dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag eine klare Position beziehen. Ich
hoffe, dass auch das Bundeskabinett in seiner Sitzung
am 23. Juni endgültig eine klare Stellung beziehen wird.
Denn wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Das sind die Grundvoraussetzungen, wenn wir über
eine Neuausrichtung und eine Kurskorrektur beim Aufbau Ost diskutieren.
Die Antwort auf die Forderung, wir müssten von der
so genannten Gießkannenpolitik abkommen - das war in
Ostdeutschland in den letzten Jahren schon immer mehr
der Fall -, kann nicht sein, dass wir auf das Wasser verzichten. Vielmehr muss der Fördermittelstrom gezielter
eingesetzt werden. Darüber müssen wir eine Diskussion
führen.
({5})
Heute besteht zwischen allen Fraktionen und allen
Parteien Übereinstimmung darüber, die Vergabe von
Fördermitteln auf die Wachstumskerne zu konzentrieren. Meiner Meinung nach kann das aber nur ein Teil der
Antwort sein. Wenn man sich von einer flächendeckenden Förderpolitik zurückzieht, die alle Regionen gleichmäßig bedenkt, muss eine Perspektive für die Regionen
in Ostdeutschland formuliert werden, die nicht zu den
Wachstumsregionen gehören. Wir müssen deutlich machen, dass es sich nicht um einen ungeregelten Anpassungsprozess handelt, sondern dass es gleichzeitig eine
Regionalplanung und -förderung geben wird, durch die
der Schrumpfungsprozess sozialverträglich gestaltet
wird, und dass diesem gegebenenfalls sogar positive
Elemente abgewonnen werden können. Das muss die andere Seite der Medaille sein, wenn wir die Investitionsförderung richtigerweise auf die Wachstumskerne konzentrieren wollen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir brauchen für Ostdeutschland auch weiterhin Sonderregelungen, zum Beispiel im Steuerrecht. Wir könnten zum Beispiel der notorischen Eigenkapitalschwäche von kleinen und
mittleren Unternehmen in Ostdeutschland begegnen, indem wir die Verbreiterung der Eigenkapitalbasis durch
Nichtentnahme von Gewinnen steuerlich begünstigen.
Das wäre, wie ich glaube, ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Basis von kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland und damit von Ostdeutschland insgesamt.
Wir müssen auch über regional begrenzte Sonderregelungen in den Grenzgebieten zu den neuen Beitrittsländern der Europäischen Union nachdenken. Diese
müssten sowohl Regelungen zur Freizügigkeit als auch
steuerliche Vergünstigungen enthalten, damit die regionalen Kooperationsmöglichkeiten besser genutzt werden.
Die Forderung nach einer Förderung von Wachstumskernen basiert auf der Erkenntnis, dass Ostdeutschlands
Zukunft von der Entwicklung der modernen hoch produktiven Sektoren in diesen Regionen abhängt. Dabei
geht es um Innovation und nicht um Niedriglohn. Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wissen
doch, dass die Realität in den ostdeutschen Ländern
heute bereits so aussieht, dass in einer Vielzahl von Betrieben Billiglöhne gezahlt werden und dass es, wenn die
Unternehmen es wollen, häufig möglich ist, Arbeitskräfte für unter 5 Euro pro Stunde zu beschäftigen und
sie schnell zu feuern. Leider sind die Kräfte des Marktes
oft stärker als Flächentarifverträge und leider oft auch
stärker als die Gesetze. Trotz dieser Realität mit einem
bestehenden Niedriglohnsektor - ich finde, sie ist beklagenswert - ist der Aufbau Ost nicht weiter vorangekommen.
({7})
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
Sie wollen die schwierige Lage in Ostdeutschland dazu
nutzen, um Dumping, Niedriglöhne und Sozialabbau in
Senator Harald Wolf ({8})
der gesamten Republik durchzusetzen. Dagegen muss
man sich wehren. Das nutzt nämlich auch dem Osten
nichts. Denn je niedrigere Einkommen in den Wachstumssektoren gezahlt werden, desto schwächer fällt die
Nachfrage nach einfacher Arbeit aus und umso geringer
sind die Aussichten, Arbeitsplätze für gering Qualifizierte zu schaffen.
({9})
Ein Ausbau des Billiglohnbereichs nützt dem Osten
nichts, sondern schadet ihm. Niedrige Löhne im Osten
verleiten die Menschen geradezu, in die Wachstumsregionen nach Westdeutschland zu gehen. Sie leiten damit
einen Teufelskreis ein. Das ist das Gegenteil von dem,
was Ostdeutschland braucht.
Meine Damen und Herren, es muss in Ostdeutschland
einen Neuanfang geben. Angesichts der Schwierigkeiten
des Strukturwandels brauchen wir dazu Realismus und
vor allen Dingen einen langen Atem. Ich glaube, es wäre
ein großer Erfolg, wenn es uns gelingen würde, die wirtschaftliche und soziale Lage in den nächsten zwei bis
drei Jahren zu stabilisieren und den Abwanderungsprozess aus Ostdeutschland zu stoppen. Das wäre das Signal
dafür, dass die Menschen in Ostdeutschland wieder Vertrauen in ihre Zukunft, in ihr Land und in ihre Region
gefasst haben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
Ende dieser Debatte möchte ich für die SPD-Bundestagsfraktion festhalten, dass wir, Ost und West, zusammengehören. Wir feiern die Einheit und stehen auch im
Alltag dazu. Wir verwahren uns dagegen, dass Sie Ost
gegen West und umgekehrt aufhetzen.
({0})
Ich bin Manfred Stolpe dankbar, dass er immer wieder betont: Problemregionen gibt es in ganz Deutschland. Wir lösen die Probleme in ganz Deutschland und
jagen die Menschen nicht gegeneinander. - Mit Ihren Eifersüchteleien können Sie in den Wahlkreisen Punkte
machen. Die CSU in Bayern kann gegen den Osten
schimpfen und Sie können in den Wahlkreisen auf den
Westen schimpfen.
({1})
Geholfen ist damit aber niemandem. Lasst uns zusammen unser gesamtdeutsches Problem lösen.
({2})
Ich bin als Wessi für den Aufbau Ost zuständig und
betone für die SPD-Fraktion: Wir halten mit den Kolleginnen und Kollegen der Landesgruppe Ost zusammen, aber auch mit denen, die im Ruhrgebiet oder anderswo Probleme haben. Es versucht hier niemand, sich
auf Kosten des anderen zu profilieren, weil wir nur gemeinsam Erfolg haben werden.
({3})
- Ja, das ist sehr richtig. Dann müssen Sie aber andere
Reden halten.
({4})
Herr Professor Milbradt, Ihre Rede hätte mich fröhlicher gestimmt,
({5})
wenn Sie deutlich gemacht hätten, dass vieles, was Sie
zu Hause - in Dresden, Leipzig und sonst wo - feiern,
zur Hälfte und mehr vom Bund finanziert wird.
({6})
- Ja, Sie haben sich aber wie ein Kind bedankt, das die
Zähne zusammenbeißt, wenn es Danke sagen oder sich
entschuldigen muss. So sieht die Begeisterung hier aus.
({7})
Man muss einmal vergleichen, wie die Kolleginnen und
Kollegen aus dem Osten ihre Aufbauleistungen in den
jeweiligen Ländern in den Wahlkämpfen zu Hause preisen und rühmen und wie sie nur noch Not und Elend sehen, kaum dass sie die heimatlichen Gefilde verlassen
haben und in Berlin angekommen sind. Das grenzt an
Bewusstseinsspaltung. Hüten Sie sich!
({8})
Herr Milbradt, Sie sollten sich bei Herrn Stolpe für
die Verkehrsinfrastruktur und bei Edelgard Bulmahn für
die Forschung und Entwicklung bedanken. Gerade Ihre
Hightechindustrie wäre ohne das wirklich engagierte
Eintreten von Edelgard Bulmahn gar nicht denkbar gewesen.
({9})
- Da könnt ihr ruhig lachen, ihr habt ihnen nichts gegeben. Ihr habt Steuervergünstigungen für Grundstücksspekulanten und Abschreibungskünstler finanziert und
uns Schulden hinterlassen. Das war euer Aufbauwerk in
den acht Jahren.
({10})
Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammen
machen, dann sollen wir auch gemeinsam zu den Erfolgen stehen. Ich halte für die SPD-Bundestagsfraktion am
Ende fest: Wir, meine Fraktion und auch die Koalition,
stehen zum Solidarpakt. Wer hier daran zweifelt, der redet wider besseres Wissen und verunsichert die Menschen unnötig.
({11})
Wir stehen zu diesem Solidarpakt.
({12})
Diese Koalition steht auch zur Gemeinschaftsaufgabe.
({13})
- Seien Sie vorsichtig! - Es waren die Herren Ministerpräsidenten, die sie vor Jahren einmal abschaffen wollten. Es waren diese Koalition und diese Bundestagsfraktion, die die Beschlüsse gefasst haben, dass die GA
erhalten bleibt. So sieht die Situation aus. Das ist die
Wahrheit.
({14})
Ich unterstütze Manfred Stolpe bei seinen Bemühungen zur Lösung der gegenwärtigen Probleme.
({15})
Sie sind weiß Gott seltsame Leute: Im Bundesrat verweigern Sie sich Maßnahmen für Steuermehreinnahmen,
aber fordern pausenlos Mehrausgaben und dazu einen
Sparhaushalt. Das ist die Kubatur des Zirkels, die Sie
hier veranstalten. Wer daran glaubt, der gehört in die
Psychiatrie, aber nicht hierher.
({16})
Nun hat aber Professor Milbradt in einem Punkt
durchaus Recht: Wir haben derzeit bei der Abwicklung
der GA Probleme. Da kneift es und daran müssen wir arbeiten. Es ist das System der GA, dass die Mittel für die
Zukunft gebunden werden und die Barmittel in jedem
Jahr ausgezahlt werden. Im Zuge des Koch/SteinbrückKonzepts und auch anderer Dinge gibt es aber im Verhältnis zu den Barmitteln Probleme. Es wäre falsch, das
zu leugnen. Ich sage Ihnen aber zu: Dieser Antrag bedeutet auch, dass wir uns bemühen, diese Probleme zu
lösen. Wir wollen nicht, dass Investitionen aufgrund dieser Situation scheitern oder behindert werden. Dabei
können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen.
({17})
Helfen Sie uns mit Ihren Haushältern und in Ihren Ländern! Helfen Sie uns auch dabei, ungerechtfertigte Subventionen abzubauen! Dann brauchen wir nicht so sehr
im Haushalt herumzukratzen.
({18})
Wir werden Manfred Stolpe und auch unsere Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen. Herr Professor
Milbradt, ich hoffe, dass wir alsbald die notwendige
Klarheit schaffen. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.
Diese Weisheit haben wir aber nicht erst von Ihnen vernommen, sondern von unserem Kollegen Siegfried
Scheffler und auch von anderen Kollegen schon vor Wochen gehört. Auch Manfred Stolpe hat es allen, die es
hören wollten, und auch denen, die es nicht hören wollten, gesagt.
Wir haben aber auch unsere praktischen Aufgaben erledigt. Für die Probleme der vielen kleinen und mittleren
Unternehmen, die - aus welchen Gründen auch immer mit ihrer Eigenkapitaldecke am Ende sind, hat diese
Koalition seit dem 1. März mit dem Programm Unternehmerkapital der KfW eine Antwort gefunden. Ich
war erst gestern mit Dr. Danckert bei Hunderten von
Mittelständlern in Brandenburg und mit Uwe Küster in
Magdeburg, wo wir die Programme vorgestellt haben.
Damit wird diesen Unternehmen geholfen. Lassen Sie
uns zusammen mit den Banken und der KfW dafür sorgen, dass die Unternehmen wachsen können. Das leisten
wir. Das ist mindestens genauso wirksam wie die GA.
({19})
Ich bedanke mich bei Manfred Stolpe für seinen Einsatz, der weiß Gott nicht immer leicht ist. Das können
auch Sie einmal anerkennen. Viele von Ihnen profitieren
davon, dass er Ihnen hilft. Aber Sie sind ein undankbares
Volk; das muss man einmal sehen.
({20})
Wenn man laufend in die Hand, die einem Futter gibt,
pickt, dann bekommt man irgendwann nichts mehr. Das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen
unserer Fraktion, dass wir die Einheit auch in der Koalition leben und zusammenhalten. Mit Mut und Zuversicht, nicht mit Ihren Jeremiaden, werden wir es schaffen.
({21})
Jetzt müssen nur noch alle wissen, was eine Jeremiade
ist. - Damit sind wir am Ende der Rednerliste.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3047 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Bundesnatur-
schutzgesetzes auf Drucksache 15/776. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp-
fiehlt auf Drucksache 15/2956, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU
abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/3201, 15/3202 und 15/3203 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell ist vereinbart,
den Tagesordnungspunkt 26 a von der Tagesordnung ab-
zusetzen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 g
sowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 g auf:
26 b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/2722 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Futtermittelgesetzes
- Drucksache 15/3170 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 15/3171 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Juli 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der mazedonischen Regierung über soziale
Sicherheit
- Drucksache 15/3172 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 14. Oktober 2003 über
die Beteiligung der Tschechischen Republik,
der Republik Estland, der Republik Zypern,
der Republik Lettland, der Republik Litauen,
der Republik Ungarn, der Republik Malta,
der Republik Polen, der Republik Slowenien
und der Slowakischen Republik am Europäischen Wirtschaftsraum
- Drucksache 15/3173 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
- Drucksache 15/3176 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 6a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der
Bundesnotarordnung
- Drucksache 15/3147 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Tunesischen Republik über
die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von
Straftaten von erheblicher Bedeutung
- Drucksache 15/3177 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital
- Drucksache 15/3189 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Tourismus stärken - Chancen der EU-Erweiterung nutzen
- Drucksache 15/3192 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschus
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({7}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Internationale Richtlinien für biologische Vielfalt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen
- Drucksache 15/3219 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verschiebung des Zeitpunktes für das InKraft-Treten des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
({11}) auf den 1. Januar 2006
- Drucksache 15/3105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen
Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen
- Drucksache 15/3186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({13})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3176
- Tagesordnungspunkt 26 g - soll zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie
an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 27 a
bis 27 l sowie Zusatzpunkt 7. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlich
der Rechtsstellung von Angehörigen der Bundeswehr bei Kooperationen zwischen der Bundeswehr und Wirtschaftsunternehmen sowie
zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/2944 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({15})
- Drucksache 15/3124 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Kramer
Thomas Kossendey
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3124, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn
Sie zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter
Lesung einstimmig angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 2002 über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs
- Drucksache 15/2723 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({17})
- Drucksache 15/3217 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3217, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Auch dieser
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 zum Internationalen Übereinkommen von 1992 über die
Errichtung eines Internationalen Fonds zur
Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden
- Drucksache 15/2947 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19})
- Drucksache 15/3215 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Günter Krings
Jerzy Montag
Rainer Funke
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3215, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie bei Ihrem eben geäußerten Abstimmungsverhalten bleiben wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über die Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden
durch Seeschiffe
- Drucksache 15/2949 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21})
- Drucksache 15/3220 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Günter Krings
Jerzy Montag
Rainer Funke
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3220, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt
es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt
es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({22}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Versatzverordnung und zur Zweiten Änderung der Deponieverordnung
- Drucksachen 15/2814, 15/2886 Nr. 1, 15/3141 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Tanja Gönner
Dr. Antje Vogel-Sperl
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/2814 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Wir kommen nun zu den diversen Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 117 zu Petitionen
- Drucksache 15/3089 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 117 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 118 zu Petitionen
- Drucksache 15/3090 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 118 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 119 zu Petitionen
- Drucksache 15/3091 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
- Drucksache 15/3092 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 120 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
- Drucksache 15/3093 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Sammelübersicht 121 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
- Drucksache 15/3094 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 122 ist mit den Stimmen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 123 zu Petitionen
- Drucksache 15/3095 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Sammelübersicht 123 ist angenommen worden,
diesmal mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/
CSU.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 7:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Den Rechtsweg in der Regulierung des Tele-
kommunikationsmarktes ändern
- Drucksache 15/3218 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenom-
men worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und b sowie
Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({30}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung
für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({31}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz
({32}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien
vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 15/3175, 15/3235 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({33})
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer
Bericht des Haushaltsausschusses ({34})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3236 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Mark
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Herbert Frankenhauser
Antje Hermenau
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr
({35}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet
- Drucksache 15/2860 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({36})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot
Erler, Gert Weisskirchen ({37}), Rainer
Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck
({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
- Drucksache 15/3204 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck,
Christian Schmidt ({39}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Der Kosovopolitik eine Perspektive geben
- Drucksache 15/3188 Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst zu einem aktuellen Vorgang im Zusammenhang mit der Berichterstattung in der heutigen
Ausgabe einer großen Boulevardzeitung Stellung nehmen. Wenn eine große Boulevardzeitung über Bilder
folternder deutscher Soldaten berichtet, die sie nicht
kennt, die ihr nicht vorliegen und die es nach allem,
was unsere Überprüfungen bis zur Stunde ergeben haben, nicht gibt, dann entlarvt das diesen angeblichen
Enthüllungsjournalismus.
({0})
Es ist unfair gegenüber unseren Soldaten, die im
Kosovo weiß Gott einen schweren Dienst leisten. Ich
danke ausdrücklich allen Medien, die sich an dieser
Kampagne nicht beteiligt oder sie richtig gestellt haben.
({1})
Allerdings kann ich mir eine Bemerkung gegenüber
einer Kollegin aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
nicht ersparen. Ich meine die Kollegin Oßwald, die mir
persönlich nicht bekannt ist und die offenbar auch nichts
mit Verteidigungspolitik zu tun hat. In der heutigen Ausgabe der „FAZ“ heißt es dazu:
Ohne nähere Angaben zu dem Fall machen zu können, äußerte sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald
({2}) „zutiefst entsetzt und schockiert über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten“.
({3})
Die Folterbilder - die ihr nach Angaben ihres Büros
aber nicht vorlagen - seien eine „Kriegserklärung
an die Grundwerte der Demokratie“.
Das ist eine Unverschämtheit. Sie sollte sich bei den Soldatinnen und Soldaten entschuldigen.
({4})
Ich möchte noch etwas zur Sache sagen. Es hat am
Dienstag einen Anruf im Ministerium gegeben, in dem
der Anrufer behauptete, er habe Bilder, die folternde
deutsche Soldaten zeigten. Die zweite Version war, er
kenne jemanden, der solche Bilder habe. Die dritte Version war, ihm seien Bilder per E-Mails zugegangen,
die er aber für eine Fälschung halte. Aufgefordert,
diese E-Mails dem Führungsstab des Heeres zur Verfügung zu stellen, hat er sich nun eingelassen, er habe
diese E-Mails gelöscht.
({5})
Das ist die Basis, auf der diese ungeheuerlichen Vorwürfe erhoben werden. Dennoch habe ich nach dem ersten Anruf angeordnet, dass noch einmal alle Vorgesetzten der betreffenden Zeit befragt werden. Diese Prüfung
hat bis zur Stunde nichts dergleichen ergeben und ich bin
sicher, dass sie auch nichts ergeben wird.
({6})
Herr Kollege Schmidt, ich brauche auch nicht Ihre
Belehrung, wie ich zu verfahren habe, zumal dann nicht,
wenn ich Ihnen gestern in der Obleuterunde über diesen
Vorfall berichtet habe und Ihnen gesagt habe, was ich
veranlasst habe.
({7})
So viel zu einer Berichterstattung über nicht vorhandene Bilder. Im Interesse unserer deutschen Soldatinnen
und Soldaten sage ich: Sie haben es nicht verdient, in
dieser Weise diskreditiert zu werden.
({8})
Nun zum Thema Kosovo und zur Fortsetzung des
Mandates. Das Kosovo ist, wie wir alle Mitte März dieses Jahres sehen konnten, noch sehr weit von einer sich
selbst tragenden Stabilität entfernt. Eine weitere militärische Unterstützung der politischen Bemühungen um
Frieden und gesellschaftliche Normalisierung ist unverzichtbar. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass
das Kosovo ein failed state und damit zum Ausgangspunkt organisierter Kriminalität und regionaler Destabilisierung wird. Es gibt zur konsequenten Unterstützung
des Kosovo sowie des gesamten Balkans auf dem Weg
zurück nach Europa keine Alternative. Es bleibt - in anderen Worten - eine politische Gestaltungsaufgabe von
historischer Dimension, der sich die internationale Gemeinschaft und gerade wir Europäer uns weiterhin stellen müssen.
Die Gesamtbilanz der vergangenen fünf Jahre im Kosovo ist allerdings überwiegend positiv. Das dürfen wir
trotz der Ereignisse im März dieses Jahres nicht vergessen. Der größte Teil der Flüchtlinge ist zurückgekehrt.
Verwaltungsstrukturen wurden aufgebaut und Wahlen
werden durchgeführt. Allerdings ist das Risiko einer Eskalation im Kosovo nach wie vor gegeben. Dadurch
bleibt die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung massiv gefährdet. Nährboden für Gewalt sind
die nach wie vor unbefriedigenden wirtschaftlichen Bedingungen, hohe Arbeitslosigkeit sowie insbesondere
die fortbestehenden interethnischen Spannungen.
Die Unruhen im März haben teilweise Zweifel geweckt, ob der aktuell verfolgte politische Ansatz, wie er
in der VN-Sicherheitsresolution 1244 festgeschrieben
ist, weiterhin richtig ist. Er lässt den künftigen Status des
Kosovo unter Betonung der territorialen Integrität Jugoslawiens bewusst offen, definiert aber die inhaltlichen Voraussetzungen und Standards für eine mögliche spätere
Entscheidung über den endgültigen Status. Ich möchte
betonen: Die Erfüllung gewisser demokratischer und
rechtsstaatlicher Standards muss Voraussetzung für die
Eröffnung der für das Jahr 2005 vorgesehenen Statusverhandlungen bleiben. Darin sind sich die Vereinten Nationen, die NATO und die Europäische Union einig.
({9})
KFOR, die Kosovo-Forces, sind integraler Teil eines
langfristig angelegten Konsolidierungskurses für das
Kosovo unter Führung der Vereinten Nationen. Die
KFOR-Kräfte sind unverzichtbar zur Gewährleistung
eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der im
Kosovo tätigen internationalen Organisationen. Das gilt
auch im Hinblick auf die im Oktober geplanten Wahlen.
Aus den Unruhen im März müssen aber Konsequenzen gezogen werden, national und international. Die Zusammenarbeit zwischen den zivil Handelnden und den
militärisch Handelnden muss verbessert werden. Es ist
auch zwingend notwendig, die richtigen Schlussfolgerungen für die Bundeswehr zu ziehen. Wir sind mit rund
3 900 Soldatinnen und Soldaten der größte Truppensteller im Kosovo und wir haben dementsprechend eine besondere Verantwortung.
Zunächst möchte ich feststellen: Durch die rasche
Truppenverstärkung im März mit über 2 000 Soldaten
aufseiten von KFOR, darunter 600 Soldaten der Bundeswehr aus Hagenow, ist es gelungen, die Situation zu beruhigen. Auch im Hinblick auf Presseveröffentlichungen
will ich hier noch einmal ausdrücklich sagen: Vorwürfe,
die Bundeswehr habe die internationale Polizei im Stich
gelassen, sind nachweislich falsch und eine Herabsetzung der Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten.
({10})
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben Menschenleben gerettet in der Stadt Prizren, und zwar in der Kirche
und im Kloster. Es ist uns nicht gelungen, das Verbrennen der kirchlichen Gebäude zu verhindern. Aber es war
wichtig, dass wir Menschenleben gerettet haben.
({11})
Die meisten Soldaten leisten einen hervorragenden
Dienst. Es ist ihrer Professionalität und Besonnenheit zu
verdanken, dass die fragile Stabilität dort überhaupt Bestand hat. Ich bin stolz auf das, was die Soldaten im
Dienst für den Frieden im Kosovo tun. Auch der Deutsche Bundestag kann das sein.
({12})
Wir müssen trotzdem prüfen, was militärisch erforderlich ist. Klar ist, dass die Aufklärung durch Nachrichtendienste nicht funktioniert hat. Alle wurden durch den
Umfang der ausgebrochenen Gewalttaten überrascht,
nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Partnernationen bei KFOR. Dieser Mangel muss behoben
werden.
Klar ist auch, dass unseren Soldaten Eskalationseindämmungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle des
Schusswaffengebrauchs fehlen. Es ist für die Soldaten
ein nicht hinnehmbarer Umstand, dass die einzige Möglichkeit, bei einer Unruhe tätig zu werden, die Abgabe
von Warnschüssen in die Luft ist, worauf die Demonstranten mit Beifall reagieren. Damit sind die Möglichkeiten der Bundeswehr erschöpft. Das heißt, die Eindämmung ziviler Unruhen bleibt natürlich vordringlich
eine Polizeiaufgabe; aber KFOR kann subsidiär gefordert sein, um Demonstranten auf Distanz zu halten und
Unruhen zu kontrollieren.
Ich bin der Meinung - das will ich ausdrücklich betonen -, dass der Einsatz von nicht letalen Wirkmitteln in
manchen Situationen unerlässlich erscheint, um massive
zivile Unruhen kontrollieren zu können, ohne den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Ich bin
deshalb bestrebt, in Abstimmung mit den anderen Ressorts - die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von solchen Mitteln, also von Reizgasen, durch die Bundeswehr
zu schaffen.
({13})
Ich habe darüber hinaus angeordnet, die Anzahl der
Ausstattungssätze für riot control - Unruhekontrolle -,
also Schild, Stock, Helm, Körperschutzausstattung,
Flammen hemmender Schutzanzug, zu erhöhen, sodass
dann alle operativen Einsatzkräfte der Bundeswehr im
Kosovo damit ausgestattet sind.
Abschließend möchte ich betonen: Die Präsenz von
KFOR ist unabdingbar. Ich bedanke mich bei den Fraktionen des Deutschen Bundestages, dass sie offenbar
einen fraktionsübergreifenden Beschluss fassen. Darauf
haben die Soldatinnen und Soldaten einen Anspruch.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Bundesminister, die Opposition erteilt Ihnen keine Belehrungen - ab und zu ist es vielleicht notwendig, dass die Opposition der Regierung Belehrungen
erteilt -; allerdings bitte ich Sie darum, das umgekehrt
auch nicht zu tun, vor allem bei einem so wichtigen
Thema.
Bei diesen Nachrichten, die ich für falsch halte, für
die es meines Erachtens keinen Grund gibt und die wohl,
aus welchen interessierten Kreisen auch immer, zu einer
Verleumdung der Bundeswehr beitragen sollen, muss
man eines schon erwarten, nämlich Aufklärung. Eigentlich wollte ich Ihnen dafür danken, dass Sie damit begonnen haben, die Dinge wirklich aufzuklären. Das ist
wichtig, gerade für die Bundeswehr. An der Bundeswehr
darf kein Makel bleiben. Es wird kein Makel an ihr bleiben. Die Fürsorgepflicht von uns allen und von Ihnen,
Herr Bundesminister der Verteidigung, muss dazu führen - das muss ebenso klar sein -, dass diejenigen, die
solche Dinge bewusst in die Welt setzen, zur Rechenschaft gezogen werden.
({0})
Ich frage mich schon, wie das sein kann. Man bekommt Informationen, nach denen es sich bei diesem
Anrufer um einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten handeln soll, der fünf Jahre lang irgendwelche Bilder irgendwo gespeichert hat. Wenn ich mich recht entsinne,
ist ein Soldat dazu verpflichtet, solche Informationen,
wenn er sie denn hat, sofort an seine Vorgesetzten zu
melden. Er wird keine gehabt haben und daran wird es
scheitern.
So wie ich das sehe, ist das ganze Haus insofern einig.
Wenn nun jemand einer falschen Information oder einer
falschen Interpretation aufsitzt, dann sollten wir das
nicht weiter vertiefen.
({1})
- Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie alle sind lange
genug in diesem Hause, um zu wissen, wie jemand, der
im Umgang mit Medien vielleicht noch nicht die ganz
große Erfahrung hat - ({2})
- Ja. Also: Ende!
Um eines möchte ich Sie doch bitten, nämlich dass
Sie von Ihrem Versuch ablassen, einen parteipolitischen
Streit in diese Frage hineinzubringen, obwohl Sie doch
daran arbeiten sollten, dass das gesamte deutsche Parlament hinter den Soldaten steht, die im Kosovo einen
schweren Dienst leisten. Sie sollten Ihre Taktik ändern.
Was Sie hier versuchen, ist unwürdig.
({3})
In einem hat der Bundesminister natürlich - ich sage:
natürlich - Recht. Es gibt keine Hasen auf dem Amselfeld, die Bundeswehruniform tragen. Es gibt Soldaten,
die auf dem Amselfeld und im Kosovo ihren Dienst tun
und die sich nach fünf Jahren da und dort fragen: Wie
geht es voran? Was passiert jetzt eigentlich? Was ist unser Dienst?
Dass die schrecklichen Ereignisse vom 17./18. März
auch dazu führen müssen, den Kosovo in den Mittelpunkt der außenpolitischen und unserer parlamentarischen Befassung zu stellen, ist wohl wahr. Es ist ein brüchiger Friede zwischen den Ethnien. Es ist eigentlich nur
ein oberflächlicher Friede. Mehr wird KFOR auch nicht
leisten können. Man wird fragen müssen, ob die Ausstattung in Ordnung war, ob die Ausrichtung in Ordnung
war und ob die Ausbildung ausreichend war. Der Bundesminister hat einiges dazu gesagt. Wir nehmen gern
zur Kenntnis, dass das Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen nicht die Notwendigkeit betrifft,
Tränengas einzusetzen, um Abstand zu halten.
Die Frage, die uns alle bewegt, ist: Wie kann es sein,
dass es in einem so gut überwachten und so stark mit
NATO-Soldaten besetzten Landstrich gelingt - offensichtlich über Handys, über die sehr viele in der männlichen Bevölkerung dort unten verfügen - einen im Ansatz offensichtlich genau vorbereiteten Plan zu
entwickeln, ohne dass dieser aufgedeckt wird?
Soldaten können - so sagt das der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe immer - für die Politik Zeit
kaufen; sie können nicht das Problem lösen. Je länger
die Zeit ist, die die Politik braucht, um ein Problem zu
lösen oder zumindest zu mildern, umso schwieriger wird
die Rolle der Soldaten. An diesem Punkt stehen wir seit
längerem. Soldaten haben einen Anspruch darauf, zu erChristian Schmidt ({4})
fahren, was ihr Auftrag ist und dass ihr Auftrag sinnvoll
ist. Da ist die Politik gefragt, nicht das Militär. Ich will
das ganz ausdrücklich sagen. Hier liegt doch offensichtlich das Problem im Zusammenhang mit dem KosovoEinsatz. Wir müssen verhindern, dass die Politik hier in
eine Sackgasse hineinfährt.
Standards vor Status - dieses Prinzip, das UNMIK,
die zivile Administration der Vereinten Nationen, entwickelt und zum Teil umgesetzt hat, führt leider dazu, dass
zum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben, die
für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landstrichs
wichtig ist, so lange nicht stattfinden kann, wie die völkerrechtliche Statusfrage nicht geklärt ist. Sind diese Gebiete Teil Serbien-Montenegros, sind sie autonom oder
sind sie unabhängig? Ich weiß sehr wohl, dass es
schwierig ist, die Resolution 1244 weiterzuentwickeln.
Dazu braucht man sehr viele Mitstreiter, auch solche, die
in Moskau und in Belgrad sitzen. Ich weiß auch, dass
sich die serbische Haltung nicht gerade günstig entwickelt. Ich kann nur hoffen, dass die Wahlen in Belgrad
nicht dazu führen, dass noch extremere nationalistische
Positionen im Präsidentenamt Fuß fassen.
Trotzdem sind wir an einem Scheideweg angelangt
und müssen von der Politik verlangen - das heißt von
der internationalen Ebene, aber auch von Ihnen, Herr
Bundesaußenminister, und von der Bundesregierung -,
dass sie das bestehende Konzept fortentwickelt. Über
wirtschaftliche, soziale und, wenn Sie so wollen, militärische Entwicklung muss dazu beigetragen werden, dass
dieser Landstrich, der mit hehren Zielen und großem
Aufwand befriedet werden sollte, auch wirklich befriedet wird. Dazu ist natürlich die Beteiligung der Betroffenen selbst notwendig.
Ich möchte bei der Gelegenheit bei allem Respekt vor
den wunderbaren Leistungen, die Bundeswehrsoldaten
dort beispielsweise bei CIMIC, der zivil-militärischen
Zusammenarbeit, erbringen, schon fragen, ob es der
Sinn des Bundeswehreinsatzes sein kann, Infrastruktur
und Gebäude, die von anderen zerstört oder niedergebrannt wurden, wieder aufzubauen. Wir müssen uns fragen, wie wir es schaffen können, dass sich die Bevölkerung vor Ort selbst verantwortlich fühlt, statt die
Ersatzhandlungen durch KFOR- bzw. NATO-Truppen
ebenso zu beklatschen wie das Abgeben von Warnschüssen. Sie haben ja Ihren Eindruck beschrieben. So steht
auch beim Straßenbau der Pioniere der eine oder andere
am Rande und klatscht Beifall. Es muss ihm gesagt werden: Du selbst bist für dein Land verantwortlich.
Nachdem das multiethnische Konzept ein Stück weit
gescheitert ist, müssen wir uns fragen, ob hier nicht ein
anderer Ansatz nötig ist als der jetzige, der schon schwer
genug umzusetzen ist. Ist es also notwendig, serbische
Enklaven im kosovarischen Gebiet zu sichern und nach
und nach auf eine Zusammenlegung dieser zu drängen?
Solche Fragen kann die Bundeswehr nicht beantworten.
Die Bundeswehr hat einen Anspruch darauf, dass ihre
Tätigkeit, die sie dort schon seit fünf Jahren ausübt, gewürdigt wird. Das tun wir. Sie hat auch einen Anspruch
darauf, entsprechend ausgerüstet und ausgestattet zu
werden sowie rechtliche Handhaben zu erhalten, mit denen sie ihrem Auftrag nachkommen kann.
Sie hat aber auch einen Anspruch darauf, dass wir
nicht im Geiste auf das zehnjährige Jubiläum der Präsenz der Bundeswehr im Kosovo hinarbeiten. Vielmehr
müssen wir und die Bundesregierung alles tun, damit die
militärische Präsenz baldmöglichst beendet werden kann
und es zu einer Konstituierung von Zivilstaatlichkeit - in
welchem Rahmen auch immer - von Wirtschafts- und
Sozialstrukturen kommt, die zukunftsträchtig sind. Hier
liegt das eigentliche Problem.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich bei allen Fraktionen bedanken, die dem
Antrag der Bundesregierung zustimmen werden. Bei den
zuständigen Ausschüssen möchte ich mich für die faire
und intensive Erörterung bedanken, die wir im Zusammenhang mit den Anträgen hatten.
Ich kann nur nochmals unterstreichen, dass die Präsenz
von KFOR und damit auch der deutschen Soldaten vor
Ort unverzichtbar ist. Ich warne aber aus Ehrlichkeitsgründen davor, Kollege Schmidt, hier mit Zeithorizonten
zu spielen - sosehr ich das verstehe -, deren Einforderung angesichts der Komplexität der Problematik, auch
und gerade im Kosovo politisch belastbare, sich selbst
tragende Lösungen zu erreichen, schlicht und einfach
nicht seriös ist. Das wissen Sie auch. Ich finde es überhaupt nicht kritisierenswert, dass wir alles tun, um die
Dauer der Präsenz unserer Soldaten im Kosovo möglichst kurz zu halten; aber angesichts der Problematik,
die ich Ihnen gleich erläutern werde, sind kurze Fristen
meines Erachtens irreal. Sollten sie sich dennoch als real
erweisen, wäre die Bundesregierung sehr froh; denn das
würde bedeuten, dass in dieser Region sehr schnell eine
sich selbst tragende, politisch stabile Situation entstünde,
was wir uns alle wünschen würden.
({0})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Na gut.
({0})
Vielen Dank, Herr Minister, für Ihre Großzügigkeit.
Darf ich Sie fragen, ob Sie nicht bei Ihrer Rede 1999
selber mit solchen Zeitfenstern gespielt haben? Wenn
Sie die Rede nachlesen würden, würden Sie genau das
finden, was Sie jetzt bei anderen kritisieren.
Na gut, ich werde sie nachlesen.
({0})
- Was soll ich dazu jetzt sagen? Ich werde sie nachlesen;
das verspreche ich Ihnen.
Aber da Sie 1999 ansprechen, Kollege Koppelin: Ich
habe, ehrlich gesagt, die Frage nicht verstanden;
({1})
das muss ich ganz ehrlich bekennen. Das kommt ja vor.
Ich verstehe sie nicht, weil zwischen uns über das, was
ich gerade gesagt habe, überhaupt kein Dissens besteht,
zumindest im Auswärtigen Ausschuss nicht.
({2})
- Ich glaube, ich habe 1999 nicht nur eine Rede zum Kosovo gehalten.
Mir geht es um etwas anderes, Herr Kollege Koppelin.
Ich bin wirklich bemüht - missverstehen Sie das nicht -,
zu verstehen, worauf Sie in diesem Punkt hinauswollen.
Wir haben es doch heute noch immer mit den Auswirkungen des Auseinanderbrechens Jugoslawiens 1991
und gewisser politischer Entscheidungen damals zu tun.
Gott sei Dank waren wir mit einer Intervention, mit einem militärischen Eingreifen erfolgreich, wobei ich mir
nicht sicher bin, ob die FDP dem wirklich immer zugestimmt hat. Zum Beispiel in Mazedonien haben wir über
die militärische und polizeiliche Stabilisierung heute in
der Tat - hoffentlich bleibt das so - eine sich selbst tragende, stabile Situation erreicht.
({3})
Da gibt es einen engen Zusammenhang mit dem Kosovo. Die Problematik im Kosovo besteht doch auch in einer gewissen Verknotungssituation. Durch das Auseinanderbrechen Jugoslawiens sind eine ganze Fülle von
Stabilisierungsaufgaben entstanden. Es gibt nur eine einzige strategische Lösung, die weder zu einem dauerhaften
Einfrieren der Konflikte - was meines Erachtens immer
noch die zweitschlimmste Lösung wäre - noch zu einem
Übereinander-Herfallen - das wäre die schlimmste Lösung - führt. Die Situation in dieser Region ist auch dadurch bedingt, dass etwa die Balkankriege von 1912/13
durch die großen europäischen Katastrophen eingefroren
wurden, auch durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs
und die Regierung unter Tito in Jugoslawien.
Jetzt - man könnte fast sagen, nach einer 80-jährigen
Phase des Einfrierens - sind dieselben Konflikte wieder
aufgebrochen. Deswegen muss man bei der politischen
Lösung die nötige Geduld aufbringen. Das kann nur bedeuten, dass auch die gesamte Region des westlichen
Balkans Teil des europäischen Integrationsprozesses
wird; denn ansonsten wird wieder versucht werden, die
Grenzen entlang von Nationalismus und territorialen
Ansprüchen durch furchtbare Gewalttaten mit der Waffe
zu ziehen. Das halte ich im 21. Jahrhundert für inakzeptabel.
({4})
Unsere Soldaten leisten in dieser Region zusammen
mit anderen meines Erachtens eine unverzichtbare Arbeit. Herr Kollege Schmidt, Sie haben völlig Recht: Die
Soldaten haben einen Anspruch auf eine politische Perspektive. Die Ehrlichkeit gebietet aber zu sagen, dass es
in dieser Region eine langfristige Perspektive ist. Ich
füge hinzu: leider. Denn um einen Konsens herzustellen,
brauchen wir - ich verstehe die Forderung, aber es nützt
nichts, über diese Tatsache hinwegzugehen - die internationalen und die regionalen Partner. Deswegen führt im
Prozess der Standardimplementierung - ob man für Unabhängigkeit, Europäisierung oder welchen Status auch
immer ist - kein Weg daran vorbei, dass die Bedingungen im Land dafür geschaffen werden müssen. Ohne die
gesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen,
die Achtung der Minderheiten und eine ökonomische
Entwicklung wird meines Erachtens eine Statusentscheidung, egal wie sie ausfallen wird, immer auf Sand oder,
noch schlimmer, auf Illusionen gebaut sein.
({5})
Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung - das
ist die erste Antwort -, dass wir mit diesem Prozess
vorankommen. Wir müssen die Verwirklichung der
Standards auf jeden Fall verbessern. Die Ereignisse vom
17./18. März sind ein schwerer Rückschlag. Man
braucht gar nicht darum herumzureden.
Der UN-Sondergesandte Harri Holkeri ist vor wenigen Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Wir schulden ihm für seine Arbeit und seinen unermüdlichen Einsatz in schwierigen Zeiten großen Dank.
({6})
Jetzt muss über seine Nachfolge entschieden werden.
Diese Entscheidung, die vor uns liegt, muss meines Erachtens unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effektiven Verwirklichung der Standards getroffen werden.
Die zweite Antwort. Das Jahr 2004 ist fast zur Hälfte
vorbei. Die Debatten über die Statusfrage haben in den
internationalen Gremien begonnen. In dieser Frage brauchen wir einen Konsens. Der Dialog zwischen Pristina
und Belgrad muss Teil der Verwirklichung der Standards
sein; denn jede Statusfrage bedingt letztendlich die Einbeziehung der Konfliktparteien am Boden. Das heißt,
ohne die Mehrheit im Kosovo, also ohne die Kosovaren,
wird es nicht gehen. Pristina und auf der anderen Seite
Belgrad werden hier von entscheidender Bedeutung
sein.
Es wird aber auch darum gehen, einen Konsens im Sicherheitsrat zu erreichen. Das wird nicht auf Zuruf des
Deutschen Bundestages geschehen. Es ist kein Geheimnis - auch darauf sollte man einmal hinweisen -, dass
Russland die Entwicklung unter dem Gesichtspunkten
sieht, welche Konsequenzen sich für die Unruhezonen
im Kaukasus ergeben. Dort ist die Situation aufgrund
des Eskalationspotenzials noch dramatischer. Die Statusfrage ist also extrem schwierig zu beantworten. Ich
stimme Ihnen aber zu, dass sie beantwortet werden
muss. Die Antwort wird meines Erachtens aber nur perspektivisch sein. Es wird nicht so sein, dass morgen die
Unabhängigkeit ausgerufen wird oder dass das Kosovo
unter serbische Kontrolle gerät. Ich glaube, beides wird
nicht passieren.
Wir müssen und werden auf verschiedenen Ebenen
politisch agieren. Die Bundesregierung hat im Rahmen
der Kontaktgruppe, der Europäischen Union, der NATO
und des Sicherheitsrates alles getan und wird weiterhin
alles tun, um diese Perspektive voranzubringen.
Ich wiederhole: Die Entwicklung hängt auch von der
Perspektive der Nachbarstaaten ab. Die Forderung nach
Unabhängigkeit für das Kosovo ist kurzschlüssig. Es
stellt sich die Frage, ob diese Unabhängigkeit eine stabilisierende oder eher eine destabilisierende Perspektive
für die Region bedeutet. Solange nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass daraus etwa eine Destabilisierung Mazedoniens hervorgeht, halte ich Überlegungen in dieser Richtung nicht nur für nicht geeignet,
sondern sogar auch für gefährlich. Ich bitte alle, die solche Überlegungen anstellen, sich dieser Konsequenzen
bewusst zu sein.
({7})
Wir werden meines Erachtens an der qualitativen Statusverbesserung nicht vorbeikommen. Die notwendige
Personalentscheidung ist jetzt zu treffen. Wir werden
dann zusammen mit den Konfliktparteien am Boden
unter Einbeziehung der Interessen von Mazedonien,
Bulgarien, Rumänien, Serbien und Albanien einen entsprechenden Statusansatz entwickeln müssen. Dies muss
im Rahmen der Kontaktgruppe unter Berücksichtigung
der Frage geschehen, ob auf der Grundlage der UNResolution 1244 ein neuer Konsens erarbeitet werden
kann. Ich füge hinzu, dass es sich dabei nicht um eine
kurzfristige Perspektive handelt.
Herr Schmidt, ich versichere Ihnen: Wir wären heilfroh - das sollte nicht Gegenstand einer parteipolitischen
Kontroverse sein -, wenn wir auf einem Weg wie in Mazedonien wären. Dort können wir überwiegend zu einer
Polizeimission übergehen. Aber ich glaube, das wird im
Kosovo wesentlich zu früh sein. Ich wäre froh, wenn wir
wie in Mazedonien sagen könnten: Das Assoziationsabkommen, das der Stabilisierung dient, ist unter Dach und
Fach; der Weg nach Europa und in die euro-transatlantischen Strukturen wird energisch beschritten. Ich muss
leider hinzufügen, dass wir noch nicht ganz so weit sind.
Auch wenn es schmerzhaft sein mag: Bis zu einer Änderung des Bewusstseins und bis - da spielt Belgrad eine
entscheidende Rolle - eine neue Form von konstruktiven
Beziehungen zwischen der Mehrheit und der Minderheit
im Kosovo gefunden wird - das bedeutet die Einbeziehung Serbiens; denn daran lehnt sich die serbische Minderheit im Wesentlichen an -, so lange wird eine starke
Sicherheitspräsenz unverzichtbar für eine politische Lösung sein. Deswegen möchte ich mich im Namen der
Bundesregierung nochmals bei allen, die unserem Antrag zustimmen werden, bedanken.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wir, die FDP-Fraktion, werden heute der
Verlängerung des KFOR-Mandates zustimmen. Auch
aus unserer Sicht ist gegenwärtig eine weitere militärische Präsenz im Kosovo unabdingbar. Deshalb stimmen
wir heute mit dem gesamten übrigen Hause zu.
({0})
Das, was am 17. März dieses Jahres im Kosovo passiert ist, bedauern wir sehr stark. Wir bedauern insbesondere, dass es deutschen Soldaten nicht gelungen ist, die
Ausschreitungen dort zu verhindern. Wir haben ja insgesamt vier Regelwerke, die die Arbeit der Soldaten dort
bestimmen. Wir haben das UN-Mandat, die Befassung
im Bundestag von 1999, die Rules of Engagement der
NATO und deutsche Ausführungsbestimmungen, genannt: Taschenkarte. Speziell nach den Ereignissen vom
März dieses Jahres zeigt sich aus unserer Sicht sehr deutlich, dass offensichtlich nur zwischen den ersten drei Regelwerken eine Kongruenz besteht. Einschränkungen für
deutsche Soldaten bestehen insofern, als sie teilweise gehindert werden, Dinge zu tun, die eigentlich im Rahmen
ihres Auftrages notwendig wären.
Ich bitte die Bundesregierung ganz herzlich, im Interesse des Auftrages, aber auch unserer Soldaten für zusätzliche Klarheit zu sorgen. Es darf nicht passieren,
dass unsere Soldaten am Pranger stehen, weil eventuell
Ausführungsbestimmungen unterschiedlich interpretiert
werden und entsprechende Anregungen nicht gegeben
werden können. Deshalb muss hier mehr Klarheit geschaffen werden.
({1})
Besonders deutlich wird hier und heute: Das Kosovo
braucht nicht nur eine militärische Präsenz. Das Kosovo
braucht vor allen Dingen eine politische Perspektive.
({2})
Uns allen ist klar: Die drei allgemein diskutierten Optionen, unmittelbare Unabhängigkeit, Rückkehr zu Serbien
oder aber Kantonalisierung, was Desintegration bedeutet, sind in Wahrheit keine wirklichen Optionen für
dieses Land. Die unausgesprochene Option Nummer
vier, nämlich „Weiter so wie bisher“, ist nach unserem
Dafürhalten auch keine Option, die dieses Land weiterbringt und verdient.
Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine politische Perspektive. Wir brauchen sie jetzt, in diesen Monaten, um
klar zu machen, wohin der Weg führen soll.
({3})
Wir als FDP haben diesbezüglich einen eigenständigen
Antrag mit einer klaren politischen Aussage, mit einer
politischen Vision gestellt, nämlich mit einer EU-Treuhandschaft für das Kosovo. Das ist ein eindeutiges politisches und europäisches Signal für diese Region.
({4})
Es ist natürlich unbestritten: Standards müssen erweitert
und verbessert werden; das ist keine Frage. Unbestritten
ist ebenfalls: Wir müssen mit allen zur Verfügung stehenden zivilgesellschaftlichen Methoden dafür sorgen,
dass im Kosovo ein Zusammenleben zwischen Serben
und Kosovaren albanischer Nationalität möglich ist.
Aber wir brauchen eine politische Perspektive und die
lautet: Europa.
Unser Vorschlag hat eine ganze Reihe von konkreten
Vorteilen:
Erstens. Wir beweisen damit, dass wir unsere Sonntagsreden, die sich damit befassen, wie wichtig diese Region für uns strategisch ist, ernst nehmen.
Zweitens. Wir nehmen unsere eigene, selbst gesetzte
europäische Sicherheitsstrategie ernst, die auch dazu
Aussagen trifft.
Drittens. Wir zeigen der Welt, dass wir als Europäer
Verantwortung für diese europäische Region übernehmen. Dieser Vorschlag, Herr Bundesaußenminister
Fischer, ist eine komplementäre Strategie zu dem Thessaloniki-Programm. Er ergänzt das Thessaloniki-Programm für den westlichen Balkan und ist deshalb wichtig.
Wir sind der Meinung, dass durch ein gleichmäßiges
Heranführen der gesamten Region an Europa die noch
bestehenden ethnischen, nationalen und religiösen Konflikte zunehmend weniger bedeutsam werden. Das ist
unsere Hoffnung. Dass es möglich ist, haben wir übrigens in Westeuropa gezeigt, das müssen wir auch in
Südosteuropa durchsetzen.
({5})
Nur durch die klare politische Perspektive können Investoren, die bitter nötig sind, gewonnen werden. Last,
but not least: Diese Perspektive ist aus unserer Sicht
auch für Serbien der heute einzig gangbare Weg nach
vorn.
Wir wissen, es gibt Widerstände. Bei jeder Neuerung
gibt es Widerstände, das ist völlig klar. Aber wir brauchen hier und heute ein politisches Signal. Setzen wir
gemeinsam ein zweifaches Signal. Machen wir erstens
deutlich, dass der Deutsche Bundestag bereit ist, weiterhin für militärische Präsenz zu sorgen, indem er Soldaten schickt und finanzielle Mittel einsetzt. Das ist notwendig und wichtig. Das zweite Signal muss eine
politische Botschaft sein. Wir müssen deutlich machen,
dass Europa treuhänderisch für diese Region tätig wird
und wir dort eine Europäisierung wollen.
Wir alle wissen, dass militärische Mittel langfristig
Politik nicht ersetzen können, sie können sie nur ergänzen. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie von diesem Tag
eine starke Botschaft für das Kosovo und die gesamte
Region ausgehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Wir sind uns in zwei Dingen einig: Erstens, die internationalen Sicherheitspräsenzen im Kosovo sind dringend
erforderlich und, zweitens, die Lage im Kosovo ist nicht
so, wie wir sie uns wünschen. Die Situation ist nicht ruhig und stabil, sondern äußerst brüchig; wir sind weit
von dem Ziel selbsttragender demokratischer Strukturen
und der Gewährleistung eines friedlichen Umfeldes für
die Menschen entfernt.
Wir sind uns darüber hinaus einig, dass die Statusfrage gelöst werden muss. Dafür haben wir allerdings
keine Lösung anzubieten, die dem dringenden Handlungsbedarf entspricht. Deshalb werden wir uns darüber
noch ein wenig länger unterhalten müssen. Ich denke,
das ist wichtig.
Vorhin wurde gesagt, dass alle von den Ereignissen
des 17. und 18. März überrascht waren. Ich wundere
mich über diese Überraschung. Selbst eine Organisation
wie die International Crisis Group hat kurz nach dem
18. März gesagt: Wir waren überrascht. Einen Monat
später hat sie jedoch einen Bericht vorgelegt, der lauter
Indizien für Anspannungen und wachsende Konflikte
enthalten hat.
Eine Gruppe, die sich Urgent Anthropology nennt
- warum sie sich so nennt, weiß ich nicht -, hat vor den
Unruhen in den schwierigen Gebieten des Kosovo eine
Umfrage durchgeführt. Als Ergebnis der Umfrage wurde
ein tiefer Hass in der Bevölkerung konstatiert. Wir müssen daraus eine Lehre ziehen: Wir müssen ein Frühwarnsystem aufbauen. Ein solches gibt es zum Beispiel in
Mazedonien. Das ist eine zivile Ebene, auf der die NGOs
auf der Grundlage ihrer Kontakte versuchen, bestimmte
Entwicklungen sehr schnell zu erkennen. Wir müssen
aber natürlich auch entsprechend politisch handeln.
Minister Struck hat gesagt, dass von der militärischen
Seite reagiert wird. Das ist gut, das unterstützen wir.
Bezüglich des Mandats müssen noch einmal die Rules of
Engagement geprüft werden. Wir brauchen darüber hinaus natürlich - jetzt bin ich wieder bei den Informationen - eine wesentlich bessere Verknüpfung all derer, die
Informationen liefern können, um das Frühwarnsystem
auch nach allen Seiten absichern zu können.
Das genügt aber noch nicht, es kann nicht genügen.
Der Grundsatz „Lessons learnt“ besagt mehr.
Es ist schon auf die „Standards before status“-Problematik hingewiesen worden. Diese Problematik ist einer
der Gründe dafür, warum es dort zu keiner Konfliktlösung kommt.
Das hängt aber auch noch mit anderen Dingen wie
zum Beispiel der verheerenden wirtschaftlichen Situation zusammen. Die wirtschaftliche Situation ist in der
Tat desolat. Innerhalb des Kosovo erfolgt eine Abwanderung in die Städte. Dort gibt es keine wirtschaftliche
Entwicklung, sondern eher einen Rückschritt. Aus der
ungelösten Statusfrage folgt zum Beispiel die Unmöglichkeit, Privatisierungen durchzuführen. Die Privatisierung ist gescheitert. Weil die Statusfrage nicht gelöst ist
und keine Privatisierung stattfinden kann, gibt es keine
Investoren. Das wiederum führt zum Rückgang der
Wirtschaft.
Das Bruttosozialprodukt im Kosovo besteht zu
50 Prozent aus internationaler Hilfe. 30 Prozent werden
von Auslandsalbanern erwirtschaftet, die wir im Übrigen
immer wieder abschieben und in ihre Heimat zurückschicken, obwohl sie zur wirtschaftlichen Stabilisierung
des Kosovo beitragen. Auch darüber müssen wir vielleicht einmal nachdenken. Nur 20 Prozent des Bruttosozialprodukts werden im Land erwirtschaftet und nur
4 Prozent der Importe können von der eigenen Wirtschaft finanziert werden. Das ist eine desolate Situation.
Die Bevölkerung dort ist jung. Die Arbeitslosenquote
liegt bei 50 Prozent und jedes Jahr drängen 20 000 bis
40 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Das
Ganze ist also ein Pulverfass, sodass dort hinsichtlich
der sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklung
schnell etwas geschehen muss.
Es gibt einen Verfall bei Bildung und Ausbildung bis
hin zum wachsenden Analphabetentum. Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht geschrieben: Wir
müssen aufpassen, dass das nicht die Westbank Europas
wird.
({0})
Wir müssen das ernst nehmen und dürfen die Lösung der
Statusfrage, mit der sich ja alle schon beschäftigt haben,
nicht wieder beiseite schieben. Herr Außenminister, ich
weiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen diese
Statusfrage so schnell wie möglich lösen.
Dazu einige Zitate von Politikern aus Serbien: In dem
Satz von Herrn Draskovic „Kosovo ist unser Jerusalem“
ist eine nationale Verhärtung zu spüren, die einen politischen Ansatz nur sehr schwer möglich macht. Herr
Zivkovic hat vor einigen Monaten vermutet, dass junge
Serben bereit seien, für das Kosovo zur Waffe zu greifen. Das ist auch ein alarmierendes Signal. Ich würde
versuchen, ein solches Signal ernst zu nehmen und die
Probleme schneller zu bewältigen, als die hier gezogene
Linie das erwarten lässt.
Herr Stinner, was Sie über das „Nach Europa holen“
sagen, klingt gut.
({1})
Ich klatsche noch nicht, denn der Teufel steckt, wie immer, im Detail. Nicht nur zu dem, was Herr Außenminister Fischer in Bezug auf Russland und die Schwierigkeiten bei der Veränderung der Sicherheitsratsresolution
1244 angedeutet hat, sondern auch zu vielen anderen
Fragen müssen an dieser Stelle noch einmal Überlegungen angestellt werden. Der politische Prozess steht in der
Tat auf dem Prüfstand. Wir müssen aber auch ein bisschen schneller machen, weil der Balkan brennt.
Ich teile im Übrigen nicht ganz die Ansicht von Außenminister Fischer hinsichtlich der Auswirkungen der
Unabhängigkeit auf Mazedonien. Ich glaube eher, dass
Mazedonien sich insbesondere nach den Präsidentschaftswahlen und nachdem sich erwiesen hat, welche
politische Position die Ahmeti-Partei einnimmt, in einem sehr guten, rationalen Stabilisierungsprozess befindet. Die Umsetzung der Ohrid-Modelle wird sehr ernst
genommen. Deshalb glaube ich nicht, dass man sich
gern ein Problemkind einhandeln würde oder dass die albanischen Gebiete zu Mazedonien streben würden. Allerdings müssen wir natürlich alle Möglichkeiten im
Auge behalten, wo neue Konflikte entstehen könnten.
Ich kann hierfür keine Lösung anbieten, glaube aber,
dass auch Ihre Lösung nicht perfekt ist.
Ich finde, wir alle sollten uns in sehr naher Zukunft
gemeinsam und ernsthaft mit der Frage beschäftigen,
welche Initiativen von uns bzw. der Bundesrepublik
Deutschland ausgehen müssen und können; denn auch
wir könnten den Sicherheitsrat auf die Notwendigkeit
hinweisen, die Resolution 1244 zu verändern. Das heißt,
dass wir die europäische Perspektive nicht aus den Augen lassen, dass wir vielmehr, was die Beteiligung anderer an diesem Prozess betrifft, die europäische Realität
einbeziehen. Europa allein wird ihn wahrscheinlich nicht
schultern können.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr zu
Guttenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bundesminister Struck, seit eben liegt mir
die Pressemitteilung der Kollegin Oßwald vor, aus der
ich Ihnen vorlese:
Ich bin zutiefst entsetzt und schockiert über die angeblichen Bilder von Folterungen seitens deutscher
Soldaten im Kosovo.
Nun lese ich Ihnen das entsprechende Zitat aus der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor; denn dort heißt
es, dass sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald
zutiefst entsetzt und schockiert über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten
geäußert habe.
Herr Bundesminister, das wurde von der „FAZ“
schlechterdings falsch zitiert.
({0})
Die Kollegin Oßwald spricht sich schockiert über die angeblichen Bilder und nicht über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten aus. Das ist ein falsches Zitat.
Daher darf ich Sie, Herr Bundesminister, bitten, Ihre Äußerungen zurückzunehmen.
({1})
Der Vollständigkeit halber und um wieder etwas Ruhe
in die Debatte zu bringen, sage ich für die CDU/CSUBundestagsfraktion, dass auch wir die Verlängerung der
Präsenz unserer deutschen Soldaten im Kosovo für unverzichtbar halten, allerdings ebenso die jährliche
Überprüfung dieses Mandates, auch um Tendenzen
entgegenzuwirken, dass wir uns - wie es aus berufenem
Munde hieß - möglicherweise erneut fünf Jahre lang im
Kosovo einlullen lassen. Genau deswegen halten wir
diese Überprüfung für notwendig.
({2})
Wir müssen dem Eindruck entgegenwirken, mit Worten wie „Hoffnung“ und anderen Ausdrücken, die hoffentlich keine Phrasen sind, die offensichtlichen Dilemmata im Kosovo lediglich zu kaschieren. Damit geben
wir unseren Soldaten noch keine Perspektive. Herr Bundesaußenminister, es ist richtig, dass es wahrscheinlich
nicht gelingen wird, kurze Zeiträume anzusetzen. Trotzdem müssen wir unseren Soldaten eine Perspektive bieten, damit sie im Kosovo vertrauensvoll arbeiten können.
({3})
Ferner ist es richtig, dass unsere Soldaten dorthin geschickt werden, damit es zu einer politischen Lösung
kommt. Aber sie selbst sind nicht die politische Lösung.
An einer solchen politischen Lösung - Kollege Stinner
hat das angesprochen - müssen wir und muss insbesondere die Bundesregierung arbeiten. Das erfordert ein
substanzielles Konzept. Das, was wir heute in dieser
Hinsicht gehört haben, war allerdings reichlich dünn.
({4})
Wir brauchen ein schlüssiges Konzept, das den gesamten
Balkan umfasst. Hier fordere ich die Bundesregierung
auf, sich stärker als bisher für die Entwicklung eines solchen Ansatzes einzusetzen, damit auch hier der Gefahr
der Einlullung begegnet werden kann.
Im Hinblick auf die Erfüllung der teilweise bereits genannten Standards bedarf es einer gezielteren, kohärenten Zusammenarbeit aller beteiligten Kräfte. Das haben
Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, angesprochen. Sie haben aber nicht gesagt, wie das geschehen
soll. Selbstverständlich brauchen wir in Absprache mit
unseren Partnern auch eine Reform und Stärkung des europäischen Pfeilers der UNMIK, der bisher nicht der
stärkste war, und eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse im Kosovo.
Auch ist dem von Christian Schwarz-Schilling entwickelten Ansatz einer integrativen Streitbeilegung in Südosteuropa, der auf lokaler, das heißt gemeindlicher
Ebene ansetzt, durchaus Beachtung zu schenken.
({5})
Herr Bundesaußenminister, machen Sie Ihren Einfluss geltend, um der Kontaktgruppe, die Sie benannt haben, den Weg zu bereiten. Einer Kontaktgruppe, die über
den eigentlichen Kontakt hinaus auch konsens- und koordinierungsfähig ist. Einer Kontaktgruppe, die eben
auch Russland mit ins Boot nimmt. Sie haben die entsprechenden Anbindungen gelobt, von daher müssen wir
Russland auch lösungsorientiert beteiligen.
({6})
Stichwort: Europäisierung. Natürlich mag es hilfreich
sein, sich der Europäisierung anzunehmen. Aber mit der
Begrifflichkeit allein ist es eben nicht getan. Wir dürfen
über die reine Europäisierung hinaus nicht vergessen,
dass wir im Kosovo auch noch auf andere Partner angewiesen sein werden. So schön und gut Europäisierung ist
- ich glaube, wir können dankbar sein, dass wir weiterhin Partner auch außerhalb der europäischen Grenzen
haben wie die Vereinigten Staaten, die uns dort unter die
Arme greifen und uns bei unserem europäischen Problem helfen.
({7})
Wir haben im Vorfeld der Ausschreitungen im März
ein eklatantes Versagen der Aufklärung zu beklagen.
Sorgen Sie vonseiten der Bundesregierung mit Ihren
Partnern bitte dafür, dass die Aufklärungskomponente
hinreichend vernetzt, effizient und letztlich auch entsprechend verstärkt wird,
({8})
damit solche Dinge nicht mehr vorkommen können.
Herr Bundesaußenminister, setzen Sie Ihr politisches
Gewicht ein, damit wir zu einer gezielten Zusammenarbeit unter Zugrundelegung erfüllbarer Standards kommen und uns letztlich - so wie Sie es richtig geschildert
haben - der Statusfrage annähern.
Herzlichen Dank.
({9})
Der Herr Verteidigungsminister hat sich zu einer
Kurzintervention gemeldet. Bitte schön, Herr Minister.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich nehme Bezug auf
den Beitrag des Kollegen Guttenberg. Ich habe aus der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Das Zitat lautete: Sie - Kollegin Oßwald - sei zutiefst entsetzt und
schockiert „über das unmenschliche Verhalten deutscher
Soldaten“. Sie haben gerade erklärt, sie habe in ihrer
Presseerklärung gesagt, sie sei entsetzt über die angeblichen Folterbilder.
Zunächst einmal hätte ich erwartet, dass die Kollegin,
die ja irgendwo hier im Hause sein muss, hierher kommt
und selbst klarstellt, dass sie über Bilder redet, die es
überhaupt nicht gibt.
({0})
Das Zweite: Ich kann ja verstehen, dass man als junge
Abgeordnete solche Fehler mal macht. Aber es geht hier
darum, klarzustellen, dass man nicht anfangen kann,
über angebliche Bilder, die man selbst nicht gesehen hat,
herumzuräsonieren und deutsche Soldaten anzugreifen.
({1})
Darum geht es hier. Sie soll sich entschuldigen; dann ist
die Sache erledigt.
({2})
Herr Kollege Guttenberg, bitte.
Herr Bundesminister, ich darf Sie schon bitten, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“ die Kollegin Oßwald falsch zitiert hat.
({0})
Hier handelt es sich um ein falsches Zitat. Die Frau Kollegin Oßwald hat es - laut ihrem Zitat - konkret offen
gelassen. Ich bleibe dabei: So wie Sie es gebracht haben,
haben auch Sie selbst die Frau Kollegin Oßwald falsch
zitiert.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuweilen sind alle Augen auf den Papst gerichtet. Aber
die wenigsten Botschaften des Papstes finden Gehör,
selbst die richtigen nicht. Deshalb möchte ich heute in
dieser Debatte Papst Johannes Paul II. zitieren. Er sagte:
Das 20. Jahrhundert hinterlässt uns als Erbschaft
vor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursachen weiterer Kriege, weil sie tiefe Hassgefühle
nähren, Unrechtssituationen schaffen sowie die
Würde und Rechte der Menschen mit Füßen treten.
Sie lösen im Allgemeinen die Probleme nicht, um
deretwillen sie geführt werden. Daher stellen sie
sich, außer dass sie schreckliche Schäden anrichten,
auch noch als nutzlos heraus.
So weit der Papst.
({0})
Die PDS im Bundestag findet: Wo der Papst Recht
hat, da hat er Recht.
({1})
Das trifft auch mit Blick auf den Kosovokrieg zu. Wir
waren dagegen und wir bleiben dagegen.
Ich möchte Sie daran erinnern: Der im Frühjahr 1999
begonnene Krieg der NATO war ein Angriffskrieg. Er
wurde unter Bruch des Völkerrechts geführt. Er hat
dazu beigetragen, dass sich in der Alltagssprache das
schlimme Wort vom Kollateralschaden etabliert hat. Probleme gelöst hat dieser Krieg aber nicht.
Für die Bundesrepublik stellte das Kosovomandat
eine tief greifende Zäsur dar. Erstmals nach 1945 wurden deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt, durch
Rot-Grün und als Vorboten einer Strategie, die auf weltweite militärische Einsätze zielt. Das werden wir heute
auch im Nachhinein nicht legitimieren.
({2})
Übrigens: Wir werden auch die windigen Wendungen
nicht vergessen, mit denen der damalige Verteidigungsminister Scharping versuchte, den Krieg zu begründen.
Wer dagegen war, wurde von Bundeskanzler Schröder
ganz schnell als „fünfte Kolonne Moskaus“ diffamiert.
Scharping stolperte derweil, die Probleme auf dem Balkan sind allerdings geblieben.
({3})
Es gibt Parallelen bei den Auslandseinsätzen der
Bundeswehr. Auf diese Parallelen möchte ich hinweisen:
Erstens. Der Marschbefehl war sehr schnell erteilt.
Meist wird er ebenso flink erweitert und verlängert. Was
fehlt, ist ein glaubwürdiges Ausstiegsszenario. Ich vermute inzwischen, dass es keines gibt. Jedenfalls ist mir
keines bekannt.
({4})
Die Bundesregierung hat auch heute in dieser Debatte
nicht den Versuch unternommen, ein solches vorzulegen,
weder für den Balkan noch für Afghanistan.
({5})
Zweitens. Die nutzlosen und, wie der Papst meint,
schädlichen Kriege verschlingen horrende Summen. Allein der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien verschlang
15 Milliarden Euro. Er richtete Schäden von etwa
50 Milliarden Euro an. Die Stationierung der Truppen im
Kosovo hat bislang 30 bis 35 Milliarden Euro gekostet.
Das macht zusammen insgesamt 100 Milliarden Euro.
Sagen Sie mir, wann und wo auf dem Balkan
100 Milliarden Euro in zivile und humanitäre Projekte
investiert wurden!
({6})
Sie werden es nicht können, weil das Pendel der aktuellen Politik immer mehr zugunsten des Militärs ausschlägt.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht im Kosovo nicht nur um Standards und
Status, es geht vor allem um die Menschen.
({0})
Vorrangig geht es um die Menschen, die in diesem Gebiet leben und die eine Existenzgrundlage und eine Lebensperspektive so bitter benötigen. Insofern kann ich
den Ausführungen des Kollegen Rainer Stinner vollkommen zustimmen.
({1})
Es geht aber auch darum, den Menschen, die von der
internationalen Gemeinschaft in das Kosovo entsandt
wurden, um beim Wiederaufbau zu helfen, das Gefühl
zu geben, dass ihre Arbeit erfolgreich ist. Dazu gehört
allerdings ein schlüssiges politisches Konzept. Ein solches ist weit und breit nicht zu sehen.
Wir müssen gegenwärtig nicht nur einen Stillstand in
der Entwicklung feststellen; Die Menschen im Kosovo
befinden sich in einer unheilvollen Abwärtsspirale.
Denn auch fünf Jahre nach dem Krieg ist die Lage völlig
desolat: humanitär, wirtschaftlich und politisch. Das
führt zu einem beständigen Prestigeverlust der internationalen Gemeinschaft, die mit ihren Konzepten für das
Kosovo schlichtweg versagt hat. Allein im Rahmen des
Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden Euro in den Wiederaufbau investiert oder - besser gesagt - verpulvert. Die Arbeitslosigkeit in Höhe von
weit über 50 Prozent - das wurde von der Kollegin Uta
Zapf bereits angesprochen - ist ein dramatischer Beweis
für die Erfolglosigkeit aller bisherigen Bemühungen.
Meine Damen und Herren, die unklaren politischen
Vorgaben behindern die Verbesserung der ökonomischen Situation in mehrfacher Hinsicht. Wie der Kollege Christian Schmidt sagt - Kollege Stinner und Uta
Zapf haben sich dem angeschlossen -, ist es nicht nur
eine Frage des allgemeinen Status. Hinzu kommt, dass
sich ausländische Investoren rar machen, solange sie ein
staatliches Provisorium vor Augen haben.
Die Privatisierung der so genannten volkseigenen Betriebe kann nicht anlaufen, solange eine gesetzliche Regelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aussteht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich die
UNMIK hat einfallen lassen, dass potenzielle Investoren
bei der Übernahme von Unternehmen für die Altschulden haften müssen. Wer will bei diesem Zustand überhaupt noch investieren? Ohne Eigenstaatlichkeit kann
das Kosovo außerdem keine Kredite aufnehmen, um Infrastrukturen aufzubauen.
Aufgrund dessen hat sich im Kosovo eine allenfalls
labile Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, die ohne
die hohe internationale Personalpräsenz nicht lebensfähig wäre. Produzierendes Gewerbe gibt es aufgrund der
beschriebenen Lage so gut wie gar nicht. Ein Blick auf
die Ein- und Ausfuhrzahlen führt zu einer weiteren Ernüchterung. So exportierte das Kosovo im Jahre 2002
Waren im Wert von 27 Millionen Euro und importierte
im selben Zeitraum Güter im Wert von fast
1 Milliarde Euro.
Die UNMIK ist bei wichtigen Reformen kaum vorangekommen. Steuerrecht, Handelsrecht sowie das
Vollstreckungs- und Prozessrecht - alles Meilensteine
für eine wirtschaftliche Entwicklung - hinken dem westeuropäischen Standard immer noch hinterher. Hier muss
meiner Auffassung nach ein Umdenken beginnen. Wir
müssen die Ursachen der wirtschaftlichen Misere und
nicht die Symptome bekämpfen.
Konkret: Zum einen müssen endlich Anreize geschaffen werden, um die Arbeit der kosovarischen Selbstverwaltung zu dynamisieren und die Arbeit der internationalen Organisationen zu professionalisieren. Geberländer,
wie etwa Deutschland, können ihre weitere Unterstützung auf das so genannte State Building fokussieren eine unabdingbare Voraussetzung für ausländische Direktinvestitionen im Kosovo.
Zum anderen darf sich die Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit nicht auf das Kosovo beschränken, sondern muss auch an die Adresse Serbiens
gerichtet werden. Denkbar wäre beispielsweise die Einrichtung eines Ausgleichsfonds, mit dessen Hilfe man
Serben entschädigt, die ihr Eigentum in mehrheitlich albanisch bewohnten Gebieten zurücklassen mussten.
Zur Stabilisierung der Region benötigen wir klare
politische Vorgaben und Konzepte. Dies ist in erster Linie eine Aufgabe der Bundesregierung. Die CDU/CSU
wird sie bei diesen Anstrengungen unterstützen, damit
die Menschen im Kosovo eine klare Perspektive haben.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter-
nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksache
15/3235. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3175 anzunehmen. Es ist namentliche
Abstimmung verlangt. Zu dieser Abstimmung liegen mir
39 persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung - von Kolleginnen und Kollegen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie vom Kol-
legen Jürgen Koppelin - vor.1) Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das
ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ich habe gerade gehört, dass an der Urne, die sich
oben rechts bei der Tür „Enthaltung“ befindet, eine
Schriftführerin der SPD fehlt.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol-
leginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen, damit
wir mit den Abstimmungen fortfahren können.
Tagesordnungspunkt 6 b: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2860 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/3204 mit dem Titel „Fortsetzung und
Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheits-
präsenz im Kosovo“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3188 mit
dem Titel „Der Kosovopolitik eine Perspektive geben“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal-
tung der FDP abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 10
auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Friedrich Merz, Steffen Kampeter,
1) Anlagen 2 und 3
2) Ergebnis Seite 10090
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik Haushaltssicherungsgesetz und Nachtragshaushalt jetzt
- Drucksache 15/3096 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto
Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig
- Drucksache 15/3216 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Union, der
ein totales Umsteuern in der Finanz- und Haushaltspolitik fordert. Wenn man sich die Lage im Land ansieht,
dann stellt man fest, dass dies auch nötig ist. Das Land
befindet sich in der schwierigsten Finanz-, Haushaltsund Arbeitsmarktkrise seit 1949. Die Verantwortung dafür trägt die rot-grüne Bundesregierung.
({0})
Das ist eindeutig zu belegen. Die Daten des Jahres
1998 wiesen alle in eine positive Richtung - was dazu
führte, dass der damalige Kanzlerkandidat der SPD
davon sprach, dies sei sein Aufschwung -, während
heute alle signifikanten Daten in die falsche Richtung
zeigen. Wir haben seit drei Jahren eine Stagnation und
in diesem Jahr ein Kümmerwachstum. Wenn man sich
die Situation in den Ländern ansieht, die uns umgeben,
dann stellt man fest, dass dort die Wirtschaft brummt.
Nur die deutsche Regierung hat Watte in den Ohren.
Das Problem liegt darin, dass seit Jahren eine Vertrauen zerstörende Politik gemacht wird,
({1})
jeden Tag eine wesentliche Fehlentscheidung,
({2})
was dazu führt, dass Investoren und Konsumenten nicht
mehr wissen, wohin die Entwicklung geht. Das spiegelt
sich auch in den Steuereinnahmen wider. Es ist aber
nicht so - wie man denken könnte -, dass die Steuereinnahmen sinken; tatsächlich verharren sie auf einem um
15 Milliarden Euro höheren Niveau als 1998. Sie steigen
lediglich nicht in dem Maße an, wie es der Finanzminister in seiner euphorischen Schätzung unterstellt hat.
Offensichtlich liegt es also nicht an den Einnahmen, sondern an den Ausgaben, wenn die Regierung die Probleme nicht in den Griff bekommt.
({3})
Infolge der falschen Erwartungen haben die Daten
schon bei der Aufstellung des Haushalts für dieses Jahr
im Sommer 2003 nicht gestimmt. Es wurden eindeutig
Schätzungen unterstellt, die mit der Realität nichts zu
tun haben.
({4})
Bei den Ausgaben gab es zu pessimistische und bei den
Einnahmen zu optimistische Erwartungen. Das ganze
Zahlengerüst, das spätestens zu Beginn dieses Jahres zusammengebrochen ist, hätte dazu führen müssen, dass
man eine Remedur macht und gleichzeitig dafür sorgt,
dass man den Haushalt der Situation anpasst, in der wir
uns tatsächlich befinden. Nichts von dem hat der Herr
Bundesfinanzminister getan, obwohl im Vermittlungsausschuss, Herr Eichel, ganz andere Daten gesetzt worden sind. Da ist beispielsweise das Thema Hartz IV auf
frühestens den 1. Januar 2005 verschoben worden.
({5})
Man hätte den Haushalt anpassen müssen. Noch viele
andere Entwicklungen, die im Februar 2004 erkennbar
waren, als hier in dritter Lesung entschieden wurde, sind
von Ihnen bei der Haushaltsaufstellung nicht berücksichtigt worden. Das hat mit Haushaltswahrheit, Haushaltsklarheit und Haushaltsvollständigkeit nichts zu tun.
({6})
Lassen Sie mich demonstrieren, in welcher Situation
wir uns tatsächlich befinden, und die Situation vor der
Steuerschätzung der Situation nach der Steuerschätzung
gegenüberstellen. Im Vergleich mit den vorangegangenen Steuerschätzungen ist erkennbar, dass die aktuelle
Steuerschätzung gegenüber den Erwartungen um
60 Milliarden Euro zurückgeblieben ist. Davon entfällt
ein Minus von 40 Milliarden Euro auf den Bund, ein
Minus von 20 Milliarden Euro auf die Länder und Gemeinden. Das heißt, zwei Drittel der Einbußen sind beim
Bund zu verzeichnen.
Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass der Finanzminister mit dem Haushalt für dieses Jahr eine mittelfristige Planung bis zum Jahr 2008 vorgelegt hat, dann muss
ich heute feststellen, dass er eine Lücke in der Größenordnung von 67 Milliarden Euro in den nächsten Jahren
hat, die bis heute nicht ausgeglichen ist.
({7})
Das Loch ist damit fast doppelt so groß wie die Abweichungen, die gegenüber den bisherigen Steuerschätzungen zu verzeichnen waren. Das hat natürlich dramatische
Konsequenzen.
Im Jahr 2004 fehlen im Haushalt 15 Milliarden Euro.
Die Kollegin Scheel von den Grünen spricht von
18 Milliarden Euro, der Finanzminister von 10 Milliarden Euro und ist wieder dabei, den Haushalt zu schönen.
Nun wird man sicherlich sagen, es müsse verstärkt
gespart werden werden, aber die Opposition werde das
möglicherweise nicht mittragen. Ich will Ihnen dabei ein
bisschen auf die Sprünge helfen und konkrete Zahlen
nennen. Dieser Bundesfinanzminister ist als „eiserner
Hans“ angetreten - wir haben aber gleich festgestellt,
dass die Rüstung schon am ersten Tag zu rosten begonnen hat -; dann wurde er durch die UMTS-Milliarden,
für die er auch nichts konnte, zum Hans im Glück. Heute
ist er ein Hans Guckindieluft; er lässt die Dinge laufen.
Dieser Finanzminister sagt immer wieder „Wenn nur die
böse Opposition sparen würde!“ und betont, eigentlich
habe er ja gespart.
Ich darf die Zahlen, die der Kollege Koppelin genannt
hat, noch einmal aufgreifen. In der Zeit von 1998 bis
zum Ende dieses Jahres wird Finanzminister Eichel neue
Schulden in Höhe von 190 Milliarden Euro aufgenommen haben.
({8})
Das bedeutet in den Folgejahren eine zusätzliche Zinsbelastung in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Das entspricht
dem Gegenwert aller Infrastrukturprojekte, die im Bundeshaushalt vorgesehen sind. Diese Summe wird für
Zinsen verschleudert, weil eine hemmungslose Schuldenpolitik betrieben worden ist.
({9})
Manch einer kann sich noch erinnern, dass der Bundesfinanzminister vor der Wahl 2002 davon sprach, die
Opposition genieße gerne das süße Gift der Verschuldung. Angesichts seiner eigenen Politik müsste er
eigentlich von dem süßen Gift der Schulden völlig betrunken sein.
({10})
Er verstößt dieses Jahr zum dritten Mal und im nächsten
Jahr zum vierten Mal gegen die Maastricht-Kriterien.
Die Stabilitätskriterien werden nicht einzuhalten sein;
die Maastricht-relevanten Defizite sind offenkundig. Daran hat der Bund - das habe ich anhand der Zahlen deutlich gemacht - den wesentlichen Anteil.
Es wird immer wieder auf den nationalen Stabilitätspakt verwiesen. Dieser Stabilitätspakt macht Vorgaben hinsichtlich der Schuldenaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Bund wollte sich auf
45 Prozent der Schulden der drei Ebenen beschränken;
inzwischen trägt er zwei Drittel davon. Insofern ist allein
der Bund für den Verstoß gegen den nationalen Stabilitätspakt verantwortlich.
({11})
Ich möchte noch darauf eingehen, dass mein Nachredner, Herr Eichel, uns wahrscheinlich vorhalten wird,
wir hätten ihn am Sparen gehindert.
({12})
In diesem Zusammenhang kommt - wie das Ungeheuer
von Loch Ness - immer wieder das Thema Eigenheimzulage zur Sprache. Herr Eichel, sind Sie bereit, den
Anwesenden heute mitzuteilen, dass wir im Vermittlungsausschuss gemeinsam beschlossen haben, die
Eigenheimzulage um 30 Prozent zu reduzieren, nunmehr
aber die von Ihnen genannten Beträge - der eine nennt
10 Milliarden; der Bundeskanzler nennt 8,5 Milliarden
und auch Sie nennen nicht die tatsächliche Zahl - nicht
verfügbar sind? Es ist nicht mehr Geld verfügbar als der
Betrag, der durch die Reduktion zusammenkommt; es
sei denn, man greift in die Verträge mit den Häuslebauern ein. Dies aber wollen wir nicht.
Ähnlich verhält es sich bei der Entfernungspauschale.
Sie musste erhöht werden, weil Sie die Ökosteuer erhoben haben und die Pendler nicht über Gebühr benachteiligt werden sollten. Jetzt wollen Sie ihnen einen Teil der
Entfernungspauschale wieder wegnehmen, sodass es
doch zu der Belastung der Pendler durch die Ökosteuer
kommt. Ist das gerecht? Dass wir zögern, einem solchen
Vorhaben zuzustimmen, kann uns, glaube ich, niemand
vorwerfen.
Wir haben die Koch/Steinbrück-Vorschläge gemeinsam beschlossen. Was aber haben Sie gemacht? Nachdem der Beschluss gemeinsam gefasst wurde, haben Sie
dem Haushaltsausschuss eine Regelung vorgelegt, in der
die Kohle ausgespart wurde. Sie haben Ihre Hand dazu
gereicht, dass dem Bergbau in den Jahren 2006 bis 2013
zusätzliche 17 Milliarden Euro zufließen. Wir sind dafür, die Kohlereviere dem Strukturwandel anzupassen
und dem Bergbau dabei zu helfen. Angesichts der Entwicklung des Weltmarktpreises frage ich mich aber, ob
Zahlungen in diesem Umfang tatsächlich notwendig
sind.
({13})
Ich frage mich vor allen Dingen, ob es in dieser Lage
dazu kommen muss, dass die Kohleförderung sogar angehoben wird, sodass es statt der bisherigen degressiven
Linie auf einmal zu einer Stabilisierung auf hohem
Niveau kommt.
Sie schlagen an anderer Stelle Einsparungen vor und
kündigen an, dass etwas für die Forschung und andere
Bereiche getan werden muss. Ich wiederhole: Im Haushaltsausschuss sollten heute zusätzliche Kohlesubventionen in Höhe von 17 Milliarden Euro in den Jahren 2006
bis 2013 beschlossen werden. Wir haben das Gott sei
Dank vertagt. Ich hoffe, dass die rot-grüne Koalition in
diesem Fall noch zur Einsicht kommt.
({14})
Sie haben noch weitere Vorschläge vorgebracht, die
vom Schnittblumenprivileg über die Baumschulen bis
zum Katzenfutter reichten. Das waren alles Peanuts im
Vergleich zu dem, was für die Kohle herausgeschmissen
wird.
Sie haben weitere Maßnahmen getroffen, deren Dramatik heute noch nicht zu erkennen ist. Wir sollen mit
Ihnen gemeinsam eine Änderung hinsichtlich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ beschließen, die der Bundeswirtschaftsminister anstrebt, und zwar deshalb, weil er bei
der Kohle aus dem Vollen schöpft. Das Ergebnis ist, dass
in diesem Jahr auf Verpflichtungsermächtigungen in der
Größenordnung von 264 Millionen Euro nicht zurückgegriffen werden kann. Das hat zur Folge, dass die neuen
und die alten Bundesländer Mittel für die Wirtschaftsförderung in gleicher Höhe nicht zur Verfügung stellen. Alles zusammen macht das etwa 50 Prozent der Mittel für
die regionale Wirtschaftsförderung aus. Das bedeutet,
dass Investitionen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor
allen Dingen in den neuen Bundesländern, aber auch in
strukturschwachen Gebieten in den alten Bundesländern,
zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nicht getätigt werden können, weil Sie die Mittel für die regionale Wirtschaftsförderung zugunsten anderer Projekte dramatisch
zusammenstreichen. Dass wir dies nicht mitmachen, ist
ziemlich klar.
({15})
So können wir jeden Punkt genau begründen, an dem
wir gesagt haben: So nicht und vor allen Dingen nicht
mit uns!
Sie haben des Weiteren die schlechte wirtschaftliche
Lage mit dem Zusammenbruch des Konsums begründet.
Aber wer macht denn den Konsum? Es ist doch unbestreitbar, dass wesentliche Teile der wirtschaftlichen
Entwicklung unseres Landes von den politischen Rahmenbedingungen abhängen; das ist doch eindeutig. Ob
man einen Zickzackkurs fährt - Agenda Zickzack - oder
ob man klare Bedingungen schafft, damit Investoren investieren und Konsumenten konsumieren, das ist die
Frage, ob man Vertrauen in die künftige Entwicklung
schafft. Insofern beeinflusst das, was die Regierung
falsch macht - sie zerstört Vertrauen und bewegt sich
wie ein Trampel im Konsumgarten -, wesentlich das
Handeln der Menschen in Deutschland.
({16})
Sie beschließen belastende Gesetze, belasten den Kapitalmarkt und diskutieren über Steuererhöhungen. Frau
Simonis hat angesichts der Aussicht, die kommende
Landtagswahl in Schleswig-Holstein zu verlieren - ich
freue mich schon jetzt darauf, im März nächsten Jahres
dem neuen Ministerpräsidenten Carstensen die Hand zu
schütteln -,
({17})
eine Panikattacke nach der anderen und macht deshalb
jeden Tag einen neuen Vorschlag. So soll unter anderem
die Mehrwertsteuer erhöht werden, um den Eingangsund Spitzensteuersatz zum 1. Januar 2005 zu senken. Jeden Tag gab es bis jetzt eine neue Irritation, die dazu beiträgt, dass die Menschen gar nicht mehr wissen, wo es
tatsächlich langgeht.
Ich habe meine Rede mit der Feststellung begonnen,
dass wir uns in der schlimmsten Finanz-, Haushalts- und
Arbeitsmarktkrise seit 1949 befinden. Aus dieser krisenhaften Situation kommen wir nur dann heraus, wenn wir
tatsächlich umsteuern. Wir müssen einen ehrlichen Kassensturz machen, einen Nachtragshaushalt und ein Haushaltsbegleitgesetz verabschieden sowie endlich mit dem
Sparen beginnen, zum Beispiel bei den Beraterverträgen,
den Verfügungsmitteln und der Öffentlichkeitsarbeit.
Wir müssen übrigens auch bei den Kohlesubventionen
sofort umsteuern. Aber mit dieser rot-grünen Bundesregierung und insbesondere mit diesem Bundesfinanzminister ist das leider nicht zu machen.
Vielen Dank.
({18})
Bevor ich dem Bundesfinanzminister das Wort gebe,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 6 a und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt. Abgegebene
Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 574, mit Nein haben gestimmt 7, Enthaltungen 1. Der Antrag ist damit
angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 582;
davon
ja: 574
nein: 7
enthalten: 1
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Gerd Höfer
({10})
Iris Hoffmann ({11})
Frank Hofmann ({12})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({13})
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({15})
Christian Müller ({16})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({17})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({18})
Michael Roth ({19})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({20})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({21})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({22})
Ulla Schmidt ({23})
Silvia Schmidt ({24})
Dagmar Schmidt ({25})
Wilhelm Schmidt ({26})
Heinz Schmitt ({27})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Brigitte Schulte ({28})
Reinhard Schultz
({29})
Swen Schulz ({30})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({31})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({32})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({33})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({34})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({35})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
({36})
Heidi Wright
Manfred Helmut Zöllmer
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({37})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({38})
Cajus Julius Caesar
({39})
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({40})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({41})
Dirk Fischer ({42})
Axel E. Fischer ({43})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({44})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({45})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Kristina Köhler ({46})
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({47})
Dr. Karl A. Lamers
({48})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({49})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({50})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Stephan Mayer ({51})
Dr. Conny Mayer
({52})
Dr. Martin Mayer
({53})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({54})
Doris Meyer ({55})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({56})
Bernward Müller ({57})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({58})
Henry Nitzsche
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({59})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({60})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({61})
Dr. Wolfgang Schäuble
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({62})
Andreas Schmidt ({63})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({64})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({65})
Gerald Weiß ({66})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({67})
Volker Beck ({68})
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({69})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({70})
Markus Kurth
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({71})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Simone Probst
Claudia Roth ({72})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({73})
Werner Schulz ({74})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({75})
FDP
Daniel Bahr ({76})
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich ({77})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({78})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Christoph Hartmann
({79})
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
({80})
Eberhard Otto ({81})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Wolfgang Börnsen
({82})
Herbert Frankenhauser
Willy Wimmer ({83})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Hans-Christian Ströbele
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Carstens ({84})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nun hat das Wort der Bundesminister der Finanzen,
Hans Eichel.
({85})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Tat bleibt Ihnen - das werden Sie gleich
noch merken - nichts erspart. Richtig ist, dass wir in einer ausgesprochen schwierigen Finanz- und Haushaltslage sind, gar keine Frage.
({0})
Aber, Herr Austermann, es bleibt dabei: Die höchste
Zahl an Arbeitslosen nach der Wiedervereinigung,
knapp unter 5 Millionen, gab es in Ihrer Regierungszeit.
({1})
- Das hören Sie nicht gerne. - Die höchste Nettoneuverschuldung, rund 40 Milliarden Euro, gab es ebenfalls in
Ihrer Regierungszeit, und das bei einem niedrigeren
Bruttoinlandsprodukt als heute. Das wollen wir wenigstens festhalten.
({2})
Das erleichtert natürlich nicht die Lösung der Probleme,
die wir zweifelsfrei vor uns haben.
({3})
Eine Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik
macht - nichts anderes bedeutet das, was Sie uns vorexerziert haben - in der Tat keinen Sinn; denn das hieße,
so viele Schulden zu machen wie nie zuvor. Wir wollen
in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Anstieg der gesamtstaatlichen Verschuldung von 40 auf
60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Ergebnis Ihrer
Politik war. Keine Umkehr heißt dann auch, dass es
keine Rückkehr zu den Schattenhaushalten gibt. Damit
haben wir mit dem Haushalt 1999 Schluss gemacht.
({4})
Es ist unbestritten: Die Lage ist nicht einfach. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern auch viele andere. Ihre
Beschreibung lautete: Rundherum brummt die Wirtschaft, nur in Deutschland nicht. In Deutschland hat es
eine erfreuliche Aufwärtskorrektur gegeben. Aber wahr
ist: Sie ist nur exportgetragen. Wahr ist auch, dass die
Niederlande, unser Nachbar, eine viel schwierigere Wirtschaftslage haben. Wahr ist außerdem, dass die Wirtschaftslage in Italien eher schwieriger als bei uns ist.
Also ist auch diese Beschreibung verkehrt. Wahr ist
auch, dass das Haushaltsdefizit der Hälfte aller Staaten
der Eurozone in laufender Rechnung oberhalb von
3 Prozent liegt.
({5})
Auch das ist keine erfreuliche Entwicklung. Es zeigt
aber, dass Sie keine Berechtigung haben, unsere Probleme - bei allen Schwierigkeiten, die wir haben - als
binnengemacht darzustellen, wie Sie es immer wieder
versuchen.
({6})
Wir sind - das war das Ziel unserer Arbeit; es ist sicherlich nicht allein durch unsere Arbeit, aber auch nicht
ohne sie geschehen - aus der Stagnation heraus. Wir haben ein Wirtschaftswachstum. Es ist höher als gedacht.
Aber man muss ebenso klar sagen: Die 0,4 Prozent im
ersten Quartal im Vergleich mit dem Vorquartal oder die
1,5 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahresquartal sind
fragil; denn sie sind - ich wiederhole - ausschließlich
exportgetragen.
({7})
Die Entwicklung in der Binnennachfrage ist nach wie
vor nicht erfreulich. Der klassische Weg „erst Export, dann
Investitionen, dann Binnennachfrage“ hat bisher nicht
funktioniert. Davon wird auch die Finanz- und Haushaltspolitik, die ich zu machen habe, bestimmt. Das heißt, wir
werden alles unterlassen müssen - das gilt unverändert -,
was den Aufschwung beeinträchtigen könnte. Ich denke,
dass Christian Schütte in seinem gestrigen Kommentar
in der „Financial Times Deutschland“ dazu genau das
Richtige gesagt hat:
Die deutsche Finanzpolitik ist gut beraten, im Moment ähnlich vorsichtig zu agieren, statt gleich die
ersten Zeichen des Aufschwungs für ein Austeritätsprogramm zu nutzen.
({8})
Wir haben noch nicht den Punkt eines konjunkturellen Aufschwungs erreicht - ich sage das mit aller Klarheit; viele vertreten mit Recht diese Auffassung -, von
dem an man härter konsolidieren muss, wenn man im
Abschwung Defizite hat hinnehmen müssen. Ich wiederhole: Diesen Punkt haben wir noch nicht erreicht. Dafür
ist der Aufschwung in der Tat zu fragil.
Der Vollzug des Bundeshaushalts 2004 wird im Wesentlichen durch die konjunkturelle Entwicklung geprägt,
die langsam an Fahrt gewinnt. Die Mai-Steuerschätzung
zeigt - Sie haben es erwähnt - eine Mindereinnahme von
8,3 Milliarden Euro. Aufgrund des im Vermittlungsverfahren vereinbarten nicht vollständigen Vorziehens der
Steuerreform haben wir auf der einen Seite zwar mehr
Geld zur Verfügung; auf der anderen Seite haben wir für
alle Folgejahre wegen des nicht beherzten Abbaus von
Steuersubventionen Geld verloren. Dafür sind Sie verantwortlich.
({9})
Auch auf der Ausgabenseite hinterlässt die nach wie
vor nicht starke Konjunktur ihre Spuren. Das heißt, wir
werden bei der Arbeitslosenhilfe zusätzlich Geld drauflegen müssen, während der Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit nach allem, was wir erkennen können,
aufrechterhalten werden kann; sie wird keinen höheren
Zuschuss benötigen.
({10})
Der Bundesbankgewinn ist weitaus niedriger ausgefallen als von der Bundesbank selbst erwartet und von
uns entsprechend veranschlagt. Heute gibt es keine
Möglichkeit, die Nettokreditaufnahme zuverlässig zu
prognostizieren. Wie ich deutlich gemacht habe, schätze
ich das Risiko gegenwärtig auf 10 bis 11 Milliarden
Euro.
Ich will bei dieser Gelegenheit aber auch darauf hinweisen - das gehört zu den Aspekten, die ich jetzt nicht weiter
bewerten will -, dass wir, was die Steuereinnahmen betrifft, per 30. April bisher nicht die prognostizierten Mindereinnahmen haben; vielmehr befinden wir uns sehr genau im Plan der Novembersteuerschätzung, allerdings
mit erheblichen Schwankungen über die Monate, was einen natürlich außerordentlich vorsichtig machen muss.
Deswegen bleibe ich vorsichtshalber bei dem, was die
Steuerschätzer gesagt haben.
Ich weise aber darauf hin, dass es nicht unbedingt der
Weisheit letzter Schluss sein muss. Ich erinnere an das Ende
des vergangenen Jahres. Herr Austermann, sechs Wochen
vor Toresschluss haben Sie sich negativ um 12 Milliarden
Euro verschätzt. Ich selbst habe mich sechs Wochen vor
Toresschluss ebenfalls negativ verschätzt, und zwar um
5 Milliarden Euro. Es macht im Moment also wenig
Sinn, über einen Nachtragshaushalt zu reden. Vernünftiger ist es, wie im vergangenen Jahr die Entwicklung genau zu beobachten und eine Entscheidung nach der Sommerpause zu treffen.
({11})
Angesichts der konjunkturellen Situation, in der wir
uns befinden, bin ich strikt gegen eine hektische Verschärfung der Sparmaßnahmen, was eine zusätzliche
haushaltswirtschaftliche Sperre oder ein Haushaltssicherungsgesetz bedeuten würde.
({12})
- Wir haben es nicht. Sie müssen genau darauf schauen,
Herr Kampeter, was wir seit 1999 - auf die Zahlen
komme ich gleich noch zurück - mit der Konsolidierung
geleistet haben. Die Wahrheit ist, dass wir in den letzten
zehn Jahren den Anteil des Haushalts am Bruttoinlandsprodukt von 13,5 Prozent auf 12,1 Prozent zurückgefahren haben. Das heißt, die Konsolidierung hat auf der
Ausgabenseite stattgefunden.
Sie vollführen mit Ihren Zahlen Taschenspielertricks,
Herr Austermann.
({13})
Der Haushalt 1998 - wir haben das hier oft diskutiert;
Sie wissen es - respektive der von Ihnen vorgelegte Entwurf 1999 enthielt doch gar nicht die ganze Wahrheit.
Die Postunterstützungskassen waren nicht darin enthalten. Die Hilfen für die Not leidenden Länder Saarland
oder Bremen waren nicht darin enthalten. Es war überhaupt kein vollständiger Haushalt. Das können Sie nicht
mit einem Haushalt vergleichen, der alles ausweist, was
an staatlichen Leistungen erbracht werden muss, wie das
unser Haushalt tut.
({14})
Wir werden hart zu tun haben. Es wird alles geleistet
werden, und zwar in Solidarität aller Kabinettskollegen.
({15})
Wir werden sowohl die 2 Milliarden Euro, um die ich
den Rentenzuschuss gern gesenkt hätte, im Haushalt erwirtschaften als auch die Beschlüsse, die zu Koch/
Steinbrück gefasst worden sind, umsetzen, was nicht
heißen muss, dass das genau an den vorgesehenen Stellen geschieht. Ich muss jetzt nicht über den Subventionsbegriff streiten. Wichtig ist der finanzielle Ertrag der
Maßnahmen. Das wird sicherlich genau so kommen wie
geplant.
({16})
Deswegen wird es kein Haushaltssicherungsgesetz
geben. Herr Austermann, Sie fordern ein solches Gesetz.
Es wäre schön, wenn Sie auch einmal sagen würden, was
Sie damit meinen, damit die Menschen im Lande auch
präzise wissen, was das heißt.
({17})
Ich weiß - Sie wissen es auch -, wie viel Geld wir
den Menschen im Zuge der Gesundheitsreform inzwischen weggenommen haben. Ich weiß - Sie wissen es
auch -, welche Einschränkungen wir im Zuge der Rentenreform - wenn ich mich recht erinnere, haben Sie das
alles abgelehnt - kurz-, mittel- und langfristig vorgenommen haben. Ich weiß, dass wir jetzt an einem Punkt
sind, an dem wir nicht immer nur auf die Kleinen schlagen dürfen.
({18})
Stellen Sie sich nicht immer vor Ihre Klientel, sondern
sorgen Sie dafür, dass sie richtig dabei ist! Ich erinnere
an das Thema „Gesundheitsreform und Anbieterseite“;
da gibt es in Ihren Reihen ganz ähnliche Vorbehalte.
({19})
Der Kurs, den wir in 1999 eingeleitet haben, hat dazu
geführt - ({20})
- Herr Koppelin, es ist doch ganz einfach zu beschreiben: Wenn wir den Kurs nicht eingeleitet hätten, hätten
wir jetzt jedes Jahr mindestens 20 Milliarden Euro mehr
Schulden.
({21})
Was ist nicht passiert? Was ist nicht eingetreten?
({22})
Die niedrigste Verschuldung fiel in meine Amtszeit,
nämlich 1,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahr
2000, 24 Milliarden Euro.
({23})
Eine niedrige Verschuldung des Bundeshaushalts gab es
auch noch in 2001. Im vergangenen Jahr waren wir bei
3,9 Prozent und 82 Milliarden Euro.
({24})
Warum? Die Antwort ist einfach: Es hat leider - das ist
traurig - drei Jahre lang Stagnation gegeben, nicht nur
bei uns,
({25})
aber eben auch bei uns, mit der Folge, dass die Steuereinnahmen nicht in der erwarteten Höhe geflossen sind,
mit der Folge, dass wir für den Arbeitsmarkt mehr haben
ausgeben müssen.
({26})
Noch einmal: 20 Milliarden Euro mehr Schulden wären es ohne den Konsolidierungskurs, den wir 1999 eingeleitet haben.
({27})
Schauen Sie sich die Entwicklung der Zahlen an; darin liegt die Heuchelei, die Sie betreiben.
({28})
Sie sagen, die Einnahmen flössen doch; wir hätten gegenüber 1999 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr.
Das ist exakt die Ökosteuer. Anderenfalls hätten wir um
zwei Prozentpunkte höhere Rentenversicherungsbeiträge.
({29})
Ansonsten sind die Ausgaben im Bundeshaushalt gefallen. Das ist der Konsolidierungskurs.
({30})
Deswegen kommen Sie mit Ihrer Argumentation ganz
gewiss nicht durch.
Die Bundesregierung wird ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs durchhalten.
({31})
Die eingeleiteten Reformmaßnahmen brauchen natürlich Zeit, um Wirkung zu entfalten. Die langfristig angelegte Konsolidierungspolitik wird dazu beitragen.
Eines ist klar: Wachstum und Konsolidierung gehören
untrennbar zusammen. Es ist richtig: Es gibt kein nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen.
({32})
Aber ebenso richtig ist: Es gibt keine Konsolidierung der
Staatsfinanzen ohne wirtschaftliches Wachstum.
({33})
Deswegen haben wir all die Maßnahmen eingeleitet, die
mit der Agenda 2010 verbunden sind. Mal haben Sie
mitgemacht; mal - das ist das Traurige bei dieser Veranstaltung - haben Sie auch wieder nur torpediert.
({34})
Nun, meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zum Vertrag von Maastricht: Selbstverständlich
werden wir alles daransetzen, die Maastricht-Kriterien
im Jahre 2005 wieder einzuhalten. Ich habe gesagt: Ich
kann angesichts der Steuerschätzung nicht garantieren,
dass wir das bei der Haushaltsaufstellung schon leisten
können. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir,
wenn Sie Ihrer Verantwortung im Bundesrat nur annähernd nachgekommen wären, über diese Frage gar nicht
zu reden brauchten.
({35})
Meine Vorschläge, wie man die Staatshaushalte in Ordnung bringen kann, lehnen Sie ja regelmäßig gegen die
Interessen der Kommunen und der Länder ab.
({36})
- Das ist eine spannende Frage. Fragen Sie einmal Herrn
Koch, ob er den Abbau von Steuersubventionen für
eine Steuererhöhung hält. Bei den Koch/Steinbrück-Vorschlägen war genau das Gegenteil der Fall.
({37})
Fragen Sie einmal den Sachverständigenrat, ob er den
Abbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen
hält. Fragen Sie einmal die Bundesbank, ob sie den Abbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen hält.
Mir hat Professor Wiegard gerade noch einmal ausdrücklich erklärt: Es gibt ökonomisch keinen Unterschied zwischen der Kürzung von Finanzhilfen und dem
Abbau von Steuervergünstigungen.
({38})
Meine Damen und Herren, da fängt es dann ja auf beiden Seiten an. Was Sie tun, Herr Austermann, ist nun
wirklich der Gipfel der Heuchelei.
({39})
- Nein, das sage ich so. - Man kann über Ihren Vorschlag, die Kohlesubventionen noch weiter zu kürzen,
reden. Das würde ich vorher aber gerne einmal schwarz
auf weiß sehen.
({40})
Wir fahren übrigens die Förderung von 28 auf 16 Millionen Tonnen im Jahre 2012 herunter, und zwar ohne dass
betriebsbedingte Kündigungen notwendig werden. Aber
was geschah im letzten Dezember im Vermittlungsverfahren? Herr Stoiber ließ verlauten: Wenn auch nur ein
einziger Cent bei den Subventionen für die Landwirtschaft weggenommen wird - also ein Bereich, der gar
nicht zustimmungspflichtig ist -, ist das ganze Vermittlungsverfahren von vornherein als gescheitert anzusehen. Das war Ihre Vorgehensweise. Sie sollten also einmal über Ihre eigene politische Glaubwürdigkeit in
diesem Punkt nachdenken.
({41})
Nehmen wir jetzt einmal das Gesetz zum Abbau von
Steuervergünstigungen. Ich habe, wie es die Mehrheit
des Bundestages dann beschlossen hat, einen nachhaltigen Abbau von Steuersubventionen in Höhe von 15,6
Milliarden Euro vorgeschlagen. Nachdem dieses Gesetz
durch den Bundesrat gegangen war, sind gerade einmal
2,4 Milliarden Euro übrig geblieben. Mit anderen Worten: Es geht im Zusammenhang mit Ihrer Blockade des
Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen im
Bundesrat um 13 Milliarden Euro, die dem Staatshaushalt nicht zur Verfügung stehen.
({42})
Es darf nicht mehr so weitergehen, dass wir Vorschläge
machen, die auch zur Sanierung der Länder- und Kommunalhaushalte beitragen, und Sie sie blockieren. Es
sind nämlich keine Lösungen für die Probleme in diesem
föderalen Staat mehr möglich, wenn nicht alle ihrer Verantwortung nachkommen, und zwar im Bundestag und
im Bundesrat.
({43})
Aber erst blockieren, anschließend die Folgen beweinen
und dabei uns die Schuld zuschieben ist der Heuchelei
zu viel. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen. Das
lassen wir uns auch nicht gefallen, meine Damen und
Herren.
({44})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe das Gefühl, ich bin hier im falschen
Film.
({0})
„Same procedure as every year“: Hans Eichel in der
Rolle des James, der deutsche Wähler in der Rolle von
Miss Sophie und ein Tigerkopf im Sinne einer 3-Prozent-Hürde mit einem stolpernden Finanzminister.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch einmal ehrlich: Was hier passiert, ist ritualisiert. Es ist bis
ins Detail und bis hin zu den ewigen Zwischenrufen ritualisiert. Zum Thema Sparen: Sparen Sie sich doch, Herr
Tauss, einmal Ihre ewigen Zwischenrufe. Das wäre auch
für uns ein großer Beitrag.
({2})
Ich will gerne zugestehen, Herr Eichel, dass Sie versuchen, in eine Richtung zu gehen, die dem Haushalt
hilft. Aber Sie setzen sich doch gar nicht mehr durch. Sie
haben um sich herum Ihre Freunde versammelt - manchmal redet man von Parteifreunden; das ist noch viel
schlimmer -, die Ihnen regelmäßig die Beine weghauen.
({3})
Das können Sie anhand des Rentenzuschusses in Höhe
von 2 Milliarden Euro - Sie haben dieses Thema ja angesprochen - ganz deutlich sehen. Sie sind weg. Da stellt
sich die Frage, wie wir das vor dem Hintergrund der
Neuverschuldung bewerten sollen und ob die 2 Milliarden Euro nicht eher in einen Nachtragshaushalt gehören,
auch wenn Sie behaupten, Sie könnten sie durch allgemeine Einsparungen irgendwie wieder hereinholen.
Das beste Beispiel hat ja der Hilfsökonom Joschka
Fischer abgegeben.
({4})
Was sich Joschka Fischer mit seinem Spruch, mit der
Askese sei es jetzt genug, nicht nur in Bezug auf seine
Person, sondern auch in Bezug auf den Haushalt erlaubt
hat,
({5})
erzeugt bei den Bürgern einen bestimmten Reflex; und
genau der ist das Problem. Der Bürger meint nämlich,
wir müssten gar nicht sparen; denn manchmal kann er
die Zusammenhänge der Milliarden von Schulden, die
wir uns hier regelmäßig an die Köpfe werfen, nicht mehr
erkennen. Sobald ein Politiker - gerade der Vizekanzler - sagt, wir müssten nicht mehr so sehr sparen, sagt
der Bürger: Siehst du, das habe ich doch gewusst! Es ist
gar nicht nötig, und wenn doch, muss es ja nicht mich
kleinen Mann treffen.
Herr Minister, Sie haben die Niederlande als Beispiel
angeführt. Es stimmt: Nachdem Herr Zalm Sie heftigst
kritisiert hat, hat er selber einmal die 3-Prozent-Hürde
gerissen. Aber hier kommt jetzt der große Unterschied:
Die Niederländer versuchen die drei wesentlichen Probleme - Sozialausgaben, Zinsen, Arbeitslosigkeit - in
den Griff zu bekommen; die Arbeitslosigkeit haben sie
bereits in den Griff bekommen. Die Lösung ist nicht eine
Agenda 2010, sondern es sind harte Einschnitte.
({6})
Von solchen harten Einschnitten ist von der Regierungsseite nichts mehr zu hören, auch nicht vonseiten der dazugehörigen Fraktionen.
Hier liegt der wesentliche Unterschied zu einer vorausschauenden Finanzpolitik. Sie selber haben gesagt: Die
Schulden von heute sind die Steuern von morgen. - Das
bedeutet doch, dass wir im Moment dabei sind, jedes
Jahr Steuererhöhungen für unsere Kinder zu beschließen. Das kann man einfach nicht verantworten.
({7})
Was kann man dagegen machen? Wir könnten einmal
mit dem Fahrrad - früher sind Sie ja noch gerne Fahrrad
gefahren - in die Niederlande fahren, mit Herrn Zalm reden und uns die Situation dort anschauen. Ich sehe hier
neben der Regierung auch die Gewerkschaftsvertreter.
Ich sage ganz bewusst, dass ich es für richtig halte, dass
es Abgeordnete gibt, die Mitglied in einer Gewerkschaft
sind. Aber wichtig wäre, einmal mit den Gewerkschaften
zu reden und das zu erreichen, was in anderen Ländern
erreicht wird, nämlich dass man beschließt, dass es keine
weiteren Lohnerhöhungen gibt. Wir werden in diesem
Jahr wieder erleben, dass Lohnerhöhungen von 3 oder
4 Prozent beschlossen werden, immer mit der Begründung, dass die jeweiligen Unternehmen doch so gut verdienen. Das kann nicht der Sinn des Ganzen sein.
({8})
Ich habe manchmal das Gefühl, wir machen jetzt denselben Fehler, den wir bei der Rente und im Zusammenhang mit dem Demographiewandel gemacht haben: Wir
alle wissen, was am Ende rechnerisch herauskommt,
aber alle tun so, als könnte man durch das Verstellen eines kleinen Schräubchens um größere Veränderungen
herumkommen. Sie haben im Moment die Verantwortung; Sie sind diejenigen, die deutlich zeigen müssen,
wohin der Weg geht.
Jetzt zur Frage eines Nachtragshaushalts. Herr
Eichel, Sie haben gesagt, wir wüssten es schließlich
noch nicht so genau.
({9})
Ich gebe Ihnen Recht: Wir wissen es noch nicht genau.
Das ist übrigens auch der Grund, warum die FDP ihren
Antrag erst nach der Steuerschätzung eingebracht hat.
Wir wissen es nur ungefähr. Wir wissen, dass es um
mehrere Milliarden geht, die uns zusätzlich fehlen werden. Wir kennen die Problematik von Hartz IV, die Problematik bei der Kindererziehung der unter Dreijährigen
und die Rentenproblematik, die Problematik im Zusammenhang mit der Schwankungsreserve usw. Wäre es
deshalb nicht ehrlicher, jetzt einen Nachtragshaushalt
aufzustellen, in dem dargestellt wird, dass es nicht so
läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wenn sich dann
letztendlich zeigt, Herr Eichel, dass es besser gelaufen
ist als erwartet, dann brauchten Sie sich am Ende dieses
Jahres nicht mit dem Nachtragshaushalt hinter dem eigentlichen Haushalt zu verstecken, sondern könnten anhand dieses Nachtragshaushalts zeigen, dass es aufwärts
geht.
({10})
Was Sie jetzt machen, wird am Ende zu Folgendem
führen: Sie werden - jetzt kehre ich zu dem Bild des
„Dinner for One“ zurück - nicht mit Miss Sophie die
Treppe hinaufgehen, sondern Sie werden vom Wähler an
der untersten Stufe stehen gelassen werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Herr Kollege Fricke, Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, erst seit zwei Jahren im Bundestag. Deswegen
ist Ihnen in den letzten zehn Jahren so manche Plänkelei
im Haushaltsausschuss entgangen. Aber wenn Sie das
Beispiel der Niederlande bemühen, möchte ich deutlich
sagen: Die Niederlande haben in den 90er-Jahren angefangen, ihr Strukturproblem Arbeitsmarkt zu lösen. Da
hat hier noch Herr Kohl regiert, unterstützt von Herrn
Gerhardt, und da ist nichts passiert - um das einmal auf
den Punkt zu bringen.
({0})
Herr Austermann, wir sitzen uns im Ausschuss jetzt
schon seit zehn Jahren gegenüber. Ich könnte eigentlich
erwarten, dass wir mit der Situation etwas aufrichtiger
umgehen, als Sie es hier getan haben.
({1})
Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie andeuten, dass
aufgrund der durch die Wahl des Herrn Köhler seit
Sonntag veränderten Situation und damit eines in gewisser Weise veränderten politischen Vorgehens der Union
jetzt die ersten Angebote bezüglich einer vernünftigen
und notwendigen Zusammenarbeit im Bereich der Finanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland kommen. Stattdessen haben Sie hier ein buchhalterisches
Klein-Klein bemüht in der Hoffnung, dass das als Finanzdebatte durchgeht.
({2})
Die wirklich dramatischen Zahlen haben Sie ausgespart.
Seit 10 Jahren streiten wir darüber. In dieser Zeit haben
wir drei Finanzminister und zwei Regierungen erlebt.
Herr Austermann, Sie wissen so gut wie ich: Seit
30 Jahren sind die Strukturprobleme in Deutschland angehäuft worden. Das haben alle Parteien gemacht; wir
haben das schon ausdiskutiert. Allein die Ausgaben für
Zinsen und Alterssicherung machen 140 Milliarden Euro
im Jahr aus. Das sind mehr als 60 Prozent des Bundeshaushalts.
({3})
Wenn Sie noch die Ausgaben für Investitionen und Verteidigung hinzunehmen, dann haben Sie in etwa das, was
aus Steuereinnahmen finanziert werden kann. Ich wiederhole: Ausgaben für Zinsen, Rentenzuschuss, Investitionen und Ausgaben für Verteidigung können wir uns
aus den Steuereinnahmen leisten. Was wir uns nicht leisten können, sind Ausgaben für Bildung, Arbeitsmarktpolitik, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Außenpolitik,
für Bau und teilweise Verkehr.
({4})
Das heißt für mich, dass diese Republik schon sehr lange
über ihre Verhältnisse lebt, und zwar in allen Bereichen.
Nun hat Ihr Kollege Stoiber - er steht der Unionsfraktion politisch sehr nahe - deutlich gemacht, er wäre damit
zufrieden, wenn alle Haushalte in der Bundesrepublik
Deutschland um 5 Prozent gekürzt würden. Wir hatten
schon im letzten Jahr die so genannte Rasenmäherdiskussion. Erste Erfahrungen mit dem Koch/SteinbrückPapier - dieses Papier bedeutet eine Art Rasenmäher
über alle Subventionen - haben gezeigt: Wenn man eine
5-prozentige Kürzung aller Ausgaben durchführt, dann
verhindert man, dass in der Politik Entscheidungen getroffen werden. Man zementiert die bestehenden Verhältnisse. Das kann nicht gut sein.
({5})
Nachdem in dieser Debatte deutlich geworden ist,
dass die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, nicht zukunftstauglich sind, kann man keine finanzpolitischen Vorschläge machen, die diese falschen Verhältnisse zementieren. Das ist verkehrt. Deswegen kommt eine 5-prozentige Haushaltssperre jetzt nicht mehr infrage. Den
Zeitpunkt dafür haben Sie verpasst. Im letzten Jahr hätte
es die Möglichkeit gegeben, dass Bundestag und Bundesrat gemeinsam eine finanzpolitische Vollbremsung
hingelegt hätten - dann hätten solche Vorschläge vielleicht etwas gebracht -, wenn im Paket mitbeschlossen
worden wäre, welche Strukturreformen Bund und Länder, Unionsfraktion und Koalitionsfraktionen gemeinsam anpacken.
Aber das ist nicht passiert. Stattdessen haben Sie es
vorgezogen, auf eine Palme hochzuklettern und jeden einzelnen Vorschlag zum Abbau von Steuersubventionen
als Steuererhöhung zu diffamieren.
({6})
Sie streben doch immer die Regierungsübernahme an.
Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie in einigen Jahren
dann vielleicht von der Palme wieder herunterklettern
müssen? Es würde für Sie sehr unbequem. Wenn Sie
nämlich später versuchen müssten, den Abbau von Steuersubventionen durchzusetzen, dann müssten Sie der Bevölkerung erklären, dass es sich dabei nicht um eine
Steuererhöhung handelt.
({7})
Es langweilt so ungemein,
({8})
immer wieder dasselbe von Ihnen zu hören, obwohl Sie
doch genau wissen, wie schwierig die Lage inzwischen
ist. Sie finden eigentlich eine günstige Situation vor, die
es in Deutschland noch nicht gegeben hat. Es gibt ein öffentliches Problembewusstsein. Die Umfragen zeigen,
dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung
sind, dass wir sparen müssen und dass es ganz offensichtlich ist, dass es nicht mehr so weitergeht. Die Bevölkerung stellt generell die Struktur der Bundesrepublik
Deutschland infrage. Das kann man aus den Umfragen
erkennen.
Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und eine entsprechende Diskussion öffentlich zu führen, kommt Ihnen
nichts anderes in den Sinn, als jede einzelne Maßnahme
in der Hoffnung zu diffamieren, mithilfe einer Art
Sonthofen-Strategie die Regierung an die Wand fahren
zu lassen. Sie haben aber nicht bedacht - so kommt es
mir jedenfalls vor -, was Sie, die Sie vor Kraft kaum
noch laufen können, in zwei Jahren übernehmen würden.
({9})
Ein zerstörtes Land? Was haben Sie sich dabei gedacht?
Wie wollen Sie von dieser Blockadepolitik, die fast
schon verfassungswidrig ist, wieder wegkommen? Diese
Fragen haben Sie sich offensichtlich nicht gestellt.
Sie hätten noch jetzt eine Chance gehabt, Vorschläge
zu machen.
({10})
Es gab für ein paar Tage die Möglichkeit, über mehrere
Strukturreformen zu diskutieren und zu entscheiden.
Am Beispiel Niederlande - Herr Fricke hat es erwähnt wird deutlich, wie viele Jahre es dauert, bis Strukturreformen greifen. Dass die Ergebnisse der Agenda 2010 in
diesem Jahr noch nicht zu pflücken sind, ist jedem klar,
der ein bisschen von der Sache versteht. Das heißt, es
muss jetzt entschieden werden, was in den nächsten Jahren passieren soll. Da verweigern Sie sich wahrscheinlich noch die nächsten zwei Jahre.
({11})
Wir werden uns noch mehrere solcher Debatten anhören
müssen, Herr Fricke. Es wird sich wohl nichts ändern.
Schade!
({12})
Aus Machtinstinkt spielen Sie mit der Zukunft der
Menschen. Sie sitzen in der Machtfalle. Sie haben im
Bundesrat eine Nebenregierung gebildet, weil Sie gerne
ein bisschen Macht haben wollen. Jetzt sitzen Sie in der
Falle. Auf der einen Seite fordern Sie ein Haushaltssicherungsgesetz,
({13})
auf der anderen Seite blockieren Sie jeden einzelnen
Schritt im Bundesrat. Im Haushaltsbegleitgesetz 2004
sind viele zustimmungspflichtige Einzelheiten enthalten.
Sie hätten die Möglichkeit gehabt zuzustimmen. Wahrscheinlich wird man ein Haushaltsbegleitgesetz 2005
machen müssen. Sie wissen, wie ich darüber denke. Das
Entscheidende an dieser Sache ist: Sie werden wieder
blockieren; es wird wieder keinen Schritt vorangehen.
Deswegen kann ich Ihren Antrag einfach nicht ernst nehmen.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns mehrfach anhören
müssen, dass wir im Bundesrat oder wo auch immer die
großen Blockierer seien.
({0})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es selten eine so konstruktive Opposition gegeben hat.
({1})
Was wir alles in der letzten Zeit mitgetragen haben! Ich
vergleiche das einmal mit 1996 - zu dieser Zeit war ich
zwar noch nicht im Bundestag, aber immerhin schon im
Landtag -, mit den Petersberger Beschlüssen. Da haben
Ministerpräsident Schröder, Ministerpräsident Eichel und
noch ein paar bekannte Persönlichkeiten - Lafontaine
war, glaube ich, auch dabei ({2})
alles blockiert. Von Ihnen lasse ich mir nichts vorwerfen.
Wir sind sehr konstruktiv.
({3})
Aber nun zum Tagesordnungspunkt. Sie haben bei der
Steuerschätzung wieder ein Debakel erlebt.
({4})
Sie hatten, was allein den Bundeshaushalt anbetrifft, einen
Einbruch von über 8 Milliarden Euro zu verzeichnen.
Dies ist eine enorme Größenordnung. Nebenbei bemerkt:
Das ist der komplette Haushalt des Forschungs- und Bildungshaushaltes. Dieser Haushalt umfasst 8,3 Milliarden
Euro; nur um Ihnen einmal aufzuzeigen, was Ihnen
durch die Lappen gegangen ist.
Man muss sich fragen, warum das so ist. Sie geben
den Steuerschätzern Vorgaben, wie hoch das Wachstum
voraussichtlich wird. Das ist die Grundlage der Berechnung. Seit mindestens drei Jahren prognostizieren Sie jedes Jahr ein wesentlich höheres Wachstum, als es dann
tatsächlich ist.
({5})
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel aus dem Jahr 2002.
In der Steuerschätzung von Mai 2002 haben Sie für das
Jahr 2003 ein Wachstum von nominal 3,9 Prozent prognostiziert. Wir hatten letztes Jahr ein Minuswachstum
von 0,1 Prozent; nur um einmal die Größenordnungen
aufzuzeigen. Dass das zu keiner vernünftigen Haushaltspolitik führen kann, ist offensichtlich.
Es ist zu fragen, warum wir jetzt und nicht erst im November, also fünf bis sechs Wochen vor Ende des Haushaltsjahres, so wie es letztes Jahr geschehen ist, einen
Nachtragshaushalt fordern. Sehr geehrter Herr Minister Eichel, Sie haben gesagt, Sie hätten sich im letzten
Jahr um 5 Milliarden Euro verschätzt. Sechs Wochen vor
dem Jahresende ist es ziemlich einfach, sich lediglich
um diese Summe zu verschätzen. Aber zu Beginn des
Jahres hatten Sie sich um 20 Milliarden Euro verrechnet.
({6})
Das ist eine ganz andere Größenordnung. Sie brauchen
dem Kollegen Austermann nicht zu sagen, er habe sich
um 12 Milliarden Euro verrechnet - abgesehen davon,
dass das nicht stimmt.
Zu der Frage, warum wir jetzt einen Nachtragshaushalt fordern. Ich nenne ein weiteres Beispiel, weil es für
einen normalen Menschen schwer ist, zu begreifen, was
ein solcher Haushalt im Einzelnen bedeutet. Man stelle
sich einmal einen Menschen mit einem Jahreseinkommen von ungefähr 22 000 Euro vor. Dummerweise sind
seine 22 000 Euro schon komplett durch Zinsen, Miete,
Versicherungen, Benzin und was sonst noch im täglichen
Leben benötigt wird, verplant. Er hat damit gerechnet,
zukünftige Ausgaben über eine Lohnsteigerung mitzufinanzieren. Sie ist leider nicht eingetreten; im Mai des
Jahres weiß er das. Dann hat er eine Erbschaft in beträchtlicher Größenordnung eingeplant. Das sind Ihre
Risiken, die Sie im Haushalt stehen haben. Diese Erbschaft ist dummerweise auch nicht ausgezahlt worden.
Das alles weiß er im Mai. Stellen Sie sich vor, dieser
Mensch sagt dann: Jetzt mache ich noch keine Neuauflage meiner Planung; das mache ich erst im November.
Dann ist es zwar schon zu spät; aber das ist ja egal. Ich
mache einfach die Augen zu und riskiere es.
({7})
Dass jemand in einem normalen Privathaushalt so vorgeht, ist überhaupt nicht vorstellbar.
({8})
Ich möchte ein paar Dinge Revue passieren lassen;
denn Sie sagen ja, vor 1998 sei alles ganz fürchterlich
und schlimm gewesen. Ich nenne Ihnen einmal den Finanzierungssaldo von 1998, der meiner Meinung nach
schon damals zu hoch war: Er betrug 1998
28,9 Milliarden Euro. In Ihrem Bericht steht für das Jahr
2003 ein Finanzierungssaldo von 44 Milliarden Euro.
Ich kann nur zitieren, was in Ihrem Bericht stand. Die
Defizitquote nach den Maastricht-Kriterien betrug 1998
1,7 Prozent und liegt jetzt bei 3,9 Prozent. Was noch viel
schlimmer ist: Die Investitionsquote lag 1998 bei
12,5 Prozent. Sie liegt jetzt bei unter 10 Prozent, nämlich bei 9,6 Prozent.
Sehr geehrter Herr Eichel, da wir schon bei den
Investitionen sind: Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Kanzler Schröder gesagt hat, er wolle die Investitionen in Bildung und Forschung verdoppeln.
({9})
Hier die nackten Zahlen aus dem Haushalt
({10})
- wir können ja einmal schauen -: 1998 wurden im
Einzelplan 30 Investitionen in Höhe von 2,65 Milliarden
Euro ausgewiesen. Im Jahr 2004 sind im Einzelplan 30
2,18 Milliarden Euro ausgewiesen.
({11})
Eine Verdoppelung ergäbe nach meiner Rechnung immer noch eine Zahl über 5 Milliarden. Selbst wenn ich
die Suppenküchen - oder wie Sie das Ganztagsschulprogramm sonst auch immer bezeichnen möchten ({12})
hinzurechne, sind wir noch immer weit von einer Verdoppelung der Investitionen entfernt.
({13})
Im selben Zeitraum haben Sie die Fördermittel für
Hochschulbaumaßnahmen - im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe ist das Ihre Aufgabe - um 135 Millionen
Euro gekürzt. Stattdessen investieren Sie Geld in Programme, die Sie überhaupt nichts angehen, die allein die
Länder etwas angehen. Das halte ich für prinzipiell
falsch.
({14})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Vom Herrn Tauss doch immer. Herr Kollege Tauss,
bitte.
Liebe Frau Kollegin Aigner, würden Sie konstatieren,
dass sich der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung seit 1998 um 30 Prozent erhöht hat,
dass der Ansatz für die Hochschulbauförderung erheblich über dem von Ihnen verantworteten Ansatz von
1998 liegt und dass die Kürzungen des Freistaates Bayern im Bereich Bildung und Forschung dem Ausmaß an
Kürzungen entsprechen, die Sie während Ihrer Regierungszeit im Bundeshaushalt vorgenommen haben, aber
nicht in Korrespondenz mit dem stehen, was wir in den
vergangenen Jahren in diesem Bereich geleistet haben?
({0})
Sehr geehrter Herr Tauss, die Istausgaben für Hochschulbaumaßnahmen betrugen 1998 920 Millionen
Euro. Heute betragen sie 925 Millionen. Das ist eine wesentliche Steigerung um 5 Millionen. Sie können das im
Haushalt nachlesen, ich kann es Ihnen aber auch zeigen.
({0})
- Sie haben mich gefragt, wie es ausschaut. So ist es. Ich
habe von den investiven Maßnahmen gesprochen. Es
gibt einen Unterschied - das sollten Sie sich einmal
anschauen - zwischen investiven und konsumtiven Maßnahmen.
({1})
Herr Tauss, ich muss Sie leider darüber aufklären. Sie
wollten - das haben Sie schriftlich festgehalten - die
Fördermittel für investive Maßnahmen verdoppeln. Es
ist ein Unterschied, ob ich die Mittel von 2,65 Milliarden
Euro auf 5,3 Milliarden Euro erhöhe oder auf
2,18 Milliarden Euro - so ist es ausgewiesen - kürze.
({2})
Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück.
({3})
- Ich habe leider nicht genügend Zeit, um alles zu sagen,
was mir auf dem Herzen liegt. Interessant ist für mich
nach wie vor, dass alle anderen EU-Länder an uns vorbeiziehen. Dafür sind angeblich die makroökonomischen Bedingungen veranwortlich: 9. November, Weltwirtschaft, Globalisierung, Fixschuld und was weiß ich
sonst noch.
Früher sagte der damalige Ministerpräsident
Schröder, er müsse Bundeskanzler werden, um die makroökonomischen Bedingungen auf Bundesebene ändern zu können. Jetzt sind die makroökonomischen Bedingungen irgendwo anders schuld. Ich glaube, es liegt
an der Person, die hier regiert. Das einzig Richtige wäre,
aufzuhören zu regieren, damit das Land wieder vorwärts
kommt.
Danke schön.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sie haben uns, wie üblich, einen Schaufensterantrag vorgelegt. Wir erleben das in jeder Haushaltsausschusssitzung.
({0})
- Lieber Kollege Kampeter, Sie müssen sich schon einmal die Wahrheit anhören. Sie haben im Bundesrat alles
Mögliche blockiert: Steuervergünstigungsabbaugesetz,
Haushaltsbegleitgesetz; Sie haben es geschafft, die Gemeindefinanzreform zulasten der Kommunen zu verwässern.
Auf der anderen Seite gibt es aus Ihren Reihen diverse Vorschläge: von Herrn Merz dieses komische Bierdeckelkonzept; die Kopfprämien; andere wollen das
Kindergeld erhöhen usw. Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Horst Seehofer addiert die Belastung bei
Umsetzung dieser Vorschläge auf eine Summe von
102 Milliarden Euro. Wie passt das denn zusammen?
Erst planen Sie 102 Milliarden Euro zusätzliche Belastungen für den Bundeshaushalt und jetzt verlangen Sie
ein Haushaltssicherungsgesetz. Was Sie hier treiben, ist
einfach nicht mehr wahr.
({1})
Der Bayerische Ministerpräsident will eine Globalkürzung von 5 Prozent auf alles. Ich will an ein paar
Beispielen deutlich machen, was das heißt.
({2})
- 5 Prozent weniger Diäten wäre weniger schlimm, lieber Kollege Fricke, als 5 Prozent weniger im Haushalt
für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort müssten
nämlich 4 Milliarden Euro eingespart werden, was eine
Erhöhung um 0,4 Beitragspunkte oder Rentenkürzungen
bedeuten würde. Das wäre nämlich das Ergebnis einer
solchen Operation. Wenn Sie das möchten, können Sie
das gerne der staunenden Bevölkerung sagen. Wir möchten das auf alle Fälle nicht.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fricke?
Ja.
Frau Kollegin Ferner, wollen Sie mit Ihrer Äußerung
sagen, dass überall gespart werden muss, nur nicht bei
den Rentnern?
Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie im letzten halben
Jahr gelebt haben, Herr Kollege Fricke, aber wir haben
den Rentnern und Rentnerinnen in dieser Republik - das
ist immerhin die Generation, die unserer Generation eine
deutlich bessere Ausbildung ermöglicht hat, als unsere
Eltern sie genießen konnten, die dieses Land aufgebaut
haben - eine ganze Menge zugemutet, damit wir für deren Enkelkinder und Töchter das finanzieren können,
was die Frau Kollegin Aigner vorhin als „Suppenküchen“ diskreditiert hat, nämlich Ganztagsschulen flächendeckend einzurichten.
Ich bin der Auffassung,
({0})
dass zum jetzigen Zeitpunkt eine zusätzliche Belastung
der Rentner und Rentnerinnen nicht möglich ist. Das
halte ich nicht für akzeptabel. Insbesondere unter den
älteren Frauen gibt es viele, die nur über eine sehr kleine
Rente verfügen
({1})
und Mühe haben, bis zum Monatsende mit ihrem Geld
über die Runden zu kommen.
Die CDU/CSU hat nicht nur in der Rentenpolitik,
sondern beispielsweise auch bei der Gesundheitsreform
ihre Klientel geschont, aber auf der anderen Seite eine
Praxisgebühr eingeführt, wie wir sie nicht wollten. Diese
ist ein Ding der Union.
({2})
Die Union hat ebenso die Privatisierung des Zahnersatzes und höhere Zuzahlungen zu verantworten. Das trifft
wiederum insbesondere ältere Menschen, die öfter zum
Arzt müssen, vielleicht auch dauerhaft Medikamente
nehmen müssen, härter als unsereins.
({3})
Deshalb glaube ich, dass eine zusätzliche Belastung der
Rentner und Rentnerinnen derzeit nicht möglich ist.
({4})
- Das freut mich. Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir die
Gelegenheit gegeben haben, diese Ausführungen zu machen.
Ich könnte noch das Beispiel Wirtschaftshaushalt anführen. Hier müssten Einschneidungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der aktiven Arbeitsmarktpolitik erfolgen. Das wird Ihre Kolleginnen und Kollegen
im Osten des Landes mit Sicherheit sehr freuen.
({5})
Sie ziehen immer gleich die Steinkohlehilfe zu Rate.
({6})
- Dazu muss ich Ihnen eines sagen, liebe Frau Kollegin
Aigner. Es waren Ihr Kanzler Kohl, Ihr Minister Waigel
und Ihr Wirtschaftsminister Rexrodt, die 1997 die Höhe
der Kohlebeihilfen bis einschließlich 2005 festgelegt haben. Das waren nicht wir, das waren Sie.
({7})
- Degressiv, natürlich. Bei der Degression wird es auch
bleiben.
({8})
Was aber bedeutet das für die Menschen vor Ort - ich
komme aus einer Bergbauregion -,
({9})
die nicht mit einer Steinzeittechnologie, sondern mit
einer hoch modernen Technologie leben wollen? Die
CDU in Nordrhein-Westfalen will ja nicht wirklich einen
Totalabbau der Steinkohlesubventionen.
({10})
- Mit Steinkohle kann man aber niemanden totschießen,
lieber Herr Kollege Fricke.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: des Kollegen Kampeter?
Sehr gerne.
Frau Kollegin Ferner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass in der gestrigen Beratung des Landtages
Nordrhein-Westfalen die CDU-Landtagsfraktion vorgeschlagen hat, die Kohlesubventionen zugunsten von Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung im Vergleich zum Regierungsentwurf zu halbieren? Sind Sie
bereit, diesem Vorschlag der CDU-Landtagsfraktion auf
Bundesebene zu folgen?
Nein, ich bin nicht dazu bereit, Herr Kollege
Kampeter.
({0})
Vorhin ist die Entwicklung der Kohlepreise auf den
Weltmärkten angesprochen worden. Ich glaube, es war
Herr Austermann. Ich habe beispielsweise von dem Umweltminister des Landes Niedersachsen - FDP - gelesen, der sogar vorgeschlagen hat, alle bestehenden Zechen offen zu halten und keine einzige mehr zu
schließen.
Ich glaube nicht, dass nur Ausgaben in Bildung und
Forschung Zukunftsinvestitionen sind. In NordrheinWestfalen gibt es beispielsweise noch einige Zulieferbetriebe. Sie werden in Nordrhein-Westfalen wahrscheinlich auch einige Kraftwerksbauer haben.
({1})
All das hängt damit zusammen. Zu Ihrem Zwischenruf,
Herr Fricke, dazu brauche man keine deutsche Steinkohle, kann ich nur sagen: Die deutsche Stahlindustrie
wäre im Moment heilfroh, wenn sie deutsche Kokskohle
zu vernünftigen Preisen beziehen könnte
({2})
und sie nicht zu Preisen, die deutlich über den deutschen
Förderkosten liegen, auf den Spotmärkten einkaufen
müsste.
Ich möchte noch ein Beispiel für Ihre Unseriosität anführen. Sie haben in Ihrem Antrag die Einnahmen und
Ausgaben der Jahre 1998 und 2003 gegenübergestellt.
Da vergleichen Sie aber wirklich Äpfel mit Birnen; denn
Sie haben sich nicht die bereinigten Ausgaben angesehen. Allein die Rentenversicherungszuschüsse sind um
fast 29 Milliarden Euro höher als im Jahr 1998.
({3})
- Ja, und während Ihrer Regierungszeit sind sie von den
Versicherten über Beiträge gezahlt worden. Wenn man
diese Summe auf die Beiträge umlegt, entspricht dies
einer Beitragserhöhung von knapp 3 Prozentpunkten. Das
bedeutet also Rentenversicherungsbeiträge von knapp
22,5 Prozent statt 19,5 Prozent bzw. - andersherum ausgedrückt - eine zusätzliche Belastung für Unternehmen
und Versicherte in Höhe von je 14,5 Milliarden Euro.
Wenn das Ihre Politik ist, kann ich nur sagen: Prost
Mahlzeit!
({4})
Ich möchte Ihnen noch einen letzten Beweis für die
„Seriosität“ der CDU-Finanzpolitik geben.
({5})
Man muss sich nur einmal ansehen, was die „grandiose“
Landesregierung des Saarlandes geschafft hat.
({6})
In den Jahren 2000 bis 2004 hat der Bund dem Saarland
eine Teilentschuldung von knapp 2 Milliarden Euro zukommen lassen.
({7})
Aber der Schuldenstand des Landes, werter Herr
Kampeter, wird Ende dieses Jahres über 1,1 Milliarden
Euro höher sein als im Jahr 1999. Das ist CDU-Finanzpolitik. Sie unterscheiden sich leider in keiner Hinsicht
von Ihren Kollegen im Saarland.
Daher muss ich sagen: Ihre Anträge sind Showanträge, wie Sie sie immer schon eingebracht haben. Wir
werden sie ablehnen. Natürlich werden wir sie noch im
Ausschuss beraten, aber sie helfen diesem Land überhaupt nicht weiter. Sie sollten sich lieber mit konstruktiven Vorschlägen beteiligen,
({8})
anstatt alles nur mies zu machen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/3096 und 15/3216 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts
- Drucksache 15/3088 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({1})
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit
des Saatgutes sicherstellen
- Drucksachen 15/2972, 15/3209 Berichterstattung:
Abgordnete Gabriele Hiller-Ohm
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was
wir brauchen, ist Sicherheit - Sicherheit für unsere Bäuerinnen und Bauern; denn sie müssen wissen, was auf ihren Feldern los ist, und sie müssen entscheiden können,
welche Chancen sie nutzen wollen und welche nicht.
Das ist meines Erachtens keine ideologische Frage, sondern schlicht und einfach eine Frage der wirtschaftlichen
Existenz. Genau deshalb bringen wir den Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts ein.
Hierbei geht es nicht nur darum, EU-Recht in materielles
Recht umzusetzen, sondern es geht auch um den Schutz
von gentechnikfreiem Anbau.
({0})
An dieser Stelle will ich nicht verhehlen, dass es Anlass gibt, die Europäische Kommission zu kritisieren,
weil sie aufgrund des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde,
in Bereichen, die dringend geregelt gehören, einige
Fragen offen gelassen hat. Wir sehen - auch das gehört
zum Thema Sicherheit für die Landwirtschaft -, dass es
derzeit wohl 33 gentechnikfreie Regionen und Landkreise in Deutschland gibt und weitere in Gründung sind.
Was beweist das? Das beweist, dass sich die Landwirte
sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigen und dass es
Bäuerinnen und Bauern gibt, für die in der gentechnikfreien Landwirtschaft große Einkommensvorteile liegen.
({1})
- In Sachen Show kennt sich Ihr Guido ja aus.
({2})
Wahrscheinlich sind seine Schuhe mit der aufgeklebten
Zahl 18 - er träumt heute noch davon, dieses Ziel eines
Tages zu erreichen; aber es wird wohl nicht gelingen - in
einem Heimatmuseum in einer gentechnikfreien Zone
untergebracht. Da stehen sie auch gut.
({3})
Es ist doch klar, dass die Landwirte die gentechnikfreie Landwirtschaft wollen. Denn sie sehen darin Einkommensvorteile und Standortvorteile, übrigens auch im
Hinblick auf den internationalen Markt. Vergessen Sie
nicht: Gerade in den USA haben die Landwirte so viel
Druck gemacht, dass das Thema Weizen erst einmal fallen gelassen wurde.
({4})
Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist Transparenz und Planungssicherheit, deshalb das Gentechnikgesetz, das man angesichts der Auseinandersetzung
quasi als „das Gesetz, das Frieden auf den Feldern
schafft“ bezeichnen kann.
({5})
Ich möchte auf vier Punkte eingehen: die Abstandsregeln - die im Sinne einer Vorsorgepflicht zur guten fachlichen Praxis gehören -, die Haftungsfragen, ein für alle
zugängliches Standortregister und eine unabhängige Begleitforschung.
Bei dem Ersten ist doch eines klar: Wir brauchen Regeln für die Vorsorge, detaillierte Regeln für eine gute
fachliche Praxis. Ich halte es für einen normalen Ansatz,
zu sagen, dass, wer anbaut, sich auch Gedanken machen
muss, wie er Auswirkungen auf die Felder, auf das Eigentum, auf die Ernte seiner bäuerlichen Nachbarn verhindern kann.
({6})
Für mich ist klar: Wir können und wollen Verunreinigungen nicht dulden.
Zum Zweiten: Bei den Haftungsfragen ist für mich
ganz klar: Wer Schäden verursacht, wer wesentliche Beeinträchtigungen beim Gewerbe, beim Unternehmen eines anderen verursacht, muss dafür zahlen. Deshalb ist
auch klar: Wer sich für die Agrogentechnik entscheidet,
muss dafür sorgen, dass Nachbarn keinen Schaden haben. Ich sage auch für die weitere Diskussion in den
nächsten Tagen und Wochen: Ich denke gar nicht daran,
die Folgekosten auf den Rücken der Steuerzahler abzuwälzen.
({7})
Gucken wir uns einmal Sachsen-Anhalt an: Dort hat die
Landesregierung mit viel Pomp einen 300-Hektar-Anbauversuch gestartet, mit 240 000 Euro Steuergeldern
für einen Haftungsfonds. Ich dachte immer, die Länder
haben zu wenig Geld. Wo haben sie es denn plötzlich
her? Der Haftungsfonds wird am Ende nur denjenigen
nützen, die die Gentechnik verwenden. Tatsächlich soll
der Fonds dazu dienen, Landwirte „einzukaufen“, die
diese Agrogentechnik aussäen sollen. Wenn man diesen
Haftungsfonds von Sachsen-Anhalt übrigens auf die
bundesweite Mais-Anbaufläche umrechnet, wäre das
eine Haftungssumme von 1,3 Milliarden Euro; das kann
man sich in diesen Tagen auf der Zunge zergehen lassen.
Da muss ich einmal all die, die im Bundesrat die Meinung unterstützen, wir bräuchten einen solchen Fonds,
fragen: Wo bleiben eigentlich Ihre Forderungen nach
Subventionsabbau? Gerade eben haben wir hier doch
eloquente Forderungen zum Subventionsabbau gehört.
Dann kann man einen solchen Haftungsfonds allerdings
nicht unterstützen.
({8})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heiderich?
Ja.
Frau Ministerin, da Sie eben die Vorschläge des Bundesrates angesprochen haben, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass dieser Vorschlag eines Haftungsfonds
meines Wissens von den SPD-geführten Bundesländern
Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Rheinland-Pfalz und
Bremen unterstützt worden ist, dass das keinesfalls ein
Vorschlag aus unserer Richtung ist, wie Sie öfter öffentlich betonen?
Herr Heiderich, Ihre Formulierung war für mein juristisches Herz schon hinreichend präzise: Sie haben „unterstützt“ gesagt. Trotzdem kommt der Vorschlag aus Ihrer Richtung. Er wird von Sachsen-Anhalt verfolgt, die
uns zeigen wollen, wie es an der Stelle geht. Wo Sie
mich aber gerade auf den Haftungsfonds ansprechen,
muss ich sagen: Ich sehe natürlich auch mit einiger Verwunderung, dass hier ein Fonds vorgeschlagen wird,
nicht mit einer gesetzlichen Regelung, sondern mit einer
Entschließung, in der es heißt: Die Hersteller sollen einen angemessenen Beitrag leisten. Welchen, war man
wohl zu feige zu sagen. Den Rest soll der Bund zahlen.
Ich diskutiere gerne mit Ihnen über einen Haftungsfonds, wenn die Länder ihn selber zahlen. Aber ich gebe
dafür kein Geld aus. Vielleicht tun es die reichen Länder.
({0})
Ich habe zwei Punkte angesprochen. Der dritte ist das
Standortregister. Ein öffentlich zugängliches Standortregister ist unabdingbar; das sagt auch das europäische
Recht. Ich habe an dieser Stelle kein Verständnis für den
FDP-Antrag, in dem es heißt: „Einsicht nur bei konkret
begründeten Vorhaben“. Nach dem europäischen Recht
brauchen wir ein Standortregister schon deshalb, um die
Begleitforschung überhaupt zu ermöglichen: Man kann
gemeinhin nur forschen, wenn man weiß, was wo ist und
von wo wohin fliegt. Das Standortregister soll für die
Bauern ein Anknüpfungspunkt für eine Auskunft sein,
um auf dieser Basis zum Beispiel Schadensersatz geltend zu machen.
Ich verstehe nicht, warum Sie Einsicht nur bei konkret begründeten Vorhaben gewähren wollen. Nach meinem Verständnis haben Menschen ein Recht auf Information. Ich dachte bisher immer, dass das die
Bürgerrechtspartei FDP auch so sieht und sich dafür einsetzt.
({1})
Ich möchte keine Politik des Misstrauens. Genau diese
wird gefördert, allen voran durch einen FDP-Landesminister aus Sachsen-Anhalt.
({2})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: der Kollegin Happach-Kasan?
Gerne.
Frau Ministerin, teilen Sie die Einschätzung, dass
denjenigen, die Begleitforschung durchführen wollen,
die Sicherheit gegeben werden muss, dass die Versuche
nicht zerstört werden? In welcher Weise wollen Sie das
sicherstellen?
Frau Ministerin, inwieweit haben Sie sich von den
Zerstörungen bei Freisetzungsversuchen in Sachsen-Anhalt distanziert, bei denen Weizenpflanzen herausgerissen und Felder zertrampelt wurden? Was haben Sie dafür
getan, dass so etwas in Zukunft nicht mehr geschieht?
Frau Kollegin, zu Ihrer Frage, wie die Felder geschützt werden. Auch die FDP achtet in den Sitzungen
der Föderalismuskommission sehr darauf, wer welche
Aufgaben hat. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass das
Polizeirecht Länderaufgabe ist. Die Bundesregierung hat
nicht vor, das an sich zu ziehen.
({0})
Zu Ihrer Frage, inwieweit ich mich distanziere. Ich
bin lange Zeit im politischen Geschäft. Schon zu Beginn
der 80er-Jahre habe ich gelernt, dass ich mich nicht von
anderen distanziere, ich distanziere mich höchstens von
meinen eigenen Äußerungen. Dazu habe ich in diesem
Fall aber keinen Anlass.
Sie haben mich nicht gefragt, ob ich mich von dem
fehlgeschlagenen Anbauversuch insgesamt distanziere.
Wie hätte ich auf eine solche Frage antworten sollen?
Die eine Seite wollte alles geheim halten. Die Nachbarn
haben sich auf das Grundgesetz und auf ihr Recht auf Eigentum, ihren eingerichteten Betrieb, berufen und wollten eine Vereinbarung treffen, die die Bauern außen vor
lässt. Ich distanziere mich von keiner der beiden Seiten.
Zu Ihrer Frage, wie man die Forschung sicherstellt:
Auch Forschung kann nicht unter der Käseglocke stattfinden. Derjenige, der im Forschungsbereich tätig ist,
muss mit den Regeln leben, die es in einem demokratischen Land gibt, und ist gut beraten, den öffentlichen
Diskurs zu diesem Thema offen und ehrlich zu führen.
Vielleicht wäre man gut beraten gewesen, wenn man
mit einem solchen Großanbauversuch nicht ohne Wissen der Nachbarbauern begonnen hätte, wie es aus ideologischen Gründen der Fall gewesen ist. So etwas führt
so weit, dass noch nicht einmal der bayerische Minister
sagen kann, wo solche Versuche in Bayern stattfinden.
Auch Minister Sklenar aus Thüringen weiß nicht mehr.
({1})
Man sollte sich, wenn man in diesem Bereich forscht, intelligenter anstellen, vor allem da man weiß, dass dieser
Bereich in der Gesellschaft umstritten ist. Es wissen alle,
welche Auswirkungen das hat. Diese Aufgabe kann ich
Herrn Katzek nicht auch noch abnehmen.
Zum vierten für mich wichtigen Punkt, der Begleitforschung. Begleitforschung, die diesen Namen auch
verdient, heißt für mich, dass man nicht nur diejenigen
versammelt, die sowieso dafür sind, sondern dass man
alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt,
auch unabhängige, dass man alle Fragen von der möglichen gesundheitlichen Folge für Mensch und Tier bis hin
zu Auswirkungen auf Biodiversität seriös erforscht und
dass man die Diskussion - das kennen wir aus anderen
Zusammenhängen - nicht zu eng führt. Wir bauen ein
entsprechendes Programm auf.
({2})
Zu der von den CDU/CSU- und FDP-regierten Ländern begonnenen Blockade im Bundesrat liest man in einigen Zeitungen Berichte über all die Auswirkungen und
findet Formulierungen wie „Krieg auf den Dörfern“ oder
„Bauernkriege“. Das sind nur einige Überschriften. Ich
sage Ihnen klar: Was wir brauchen, ist das Gegenteil,
nämlich Planungssicherheit. Das ist noch milde ausgedrückt. Das, was hier unter Federführung von SachsenAnhalt angezettelt wurde, ist Chaos.
({3})
- Sehen Sie sich doch einmal die Diskussionen in Ihren
Wahlkreisen an. Der Bauernverband, der das ursprünglich mitmachen wollte, fordert jetzt selber, dass die Bauern endlich Auskunft bekommen. Daran sehen Sie, was
Sie verursacht haben. Ich weiß nicht, wo Sie stehen.
Aber ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Ihre Interessen mit den Interessen des Bauernverbandes und damit möglicherweise den Interessen der Bauern relativ
wenig zu tun haben.
Wir stehen auf alle Fälle eindeutig dafür, dass es Haftungsregeln statt einer ungerechten Kostenverteilung
gibt. Wir brauchen Abstandsregeln statt misstrauisches
Beäugen an den Grundstücksgrenzen. Wir brauchen
Standortregister statt Geheimniskrämerei und wir wollen
eine umfangreiche Begleitforschung, statt die Ergebnisse
der Wissenschaft dem Zufall zu überlassen.
({4})
Das alles dient am Ende der Sicherheit der Bäuerinnen
und Bauern und dem Schutz der Gesundheit der Menschen und der Umwelt.
Wir brauchen eine zügige Umsetzung dieses Gesetzes. Deshalb erwarte ich von der Opposition - das sage
ich ganz klar -, dass Sie Ihre doppelzüngige Politik in
diesem Bereich aufgeben. Einmal tun Sie so, als schützten Sie die Bauern, dann reiten Sie wieder mit eifrigem
Galopp durch die Säle. Versuchen Sie nicht, an dieser
Stelle zu blockieren. Ich sage Ihnen voraus: Gelingen
wird es Ihnen sowieso nicht.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe aufmerksam zugehört und hatte die Erwartung, dass wir endlich einmal die Chance für eine der
schwierigen Angelegenheit angemessene sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Grüne Gentechnik haben. Ich bin leider wieder enttäuscht worden.
Wenn Sie sich die Verlautbarungen der verschiedenen
Regierungsmitglieder in den letzten Wochen und Monaten zum Thema Grüne Gentechnik vor Augen halten und
wenn Sie die Ankündigungen und die tatsächlichen Gesetzestexte gegenüberstellen, dann wird deutlich: Die
Diskussionsgrundlage zur Grünen Gentechnik, die vonseiten der Regierung geboten wird, ist an Widersprüchlichkeit und vor allem an Scheinheiligkeit nicht mehr zu
überbieten.
({0})
Ich will Ihnen das auch begründen: Es ist von den Erprobungsanbauten in einigen Ländern - übrigens nicht
nur unionsregierte, sondern auch SPD-regierte Länder gesprochen worden. Sie werden von der Ministerin in
übelster Weise kritisiert und an den Pranger gestellt.
Tatsache ist erstens, dass der Bundeskanzler höchstpersönlich im Jahre 2000 bei der EXPO groß angelegte
bundesweite Erprobungsanbauten angekündigt hat. Tatsache ist auch, dass wir bis heute auf die Umsetzung dieser Ankündigung warten.
Zweitens. Tatsache ist, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten in den EU-Koexistenzleitlinien aufgefordert werden, derartige Erprobungsanbauten durchzuführen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies bisher
nicht getan, obwohl völlig unumstritten ist, dass derartige Erprobungsanbauten notwendig und sinnvoll sind,
um Erfahrungen im Miteinander und Nebeneinander unterschiedlicher Anbauformen, in der so genannten Koexistenz, zu sammeln.
Drittens ist Tatsache - auch dies wird von der Regierung verschwiegen -, dass das Bundessortenamt, eine
dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unterstehende Bundesbehörde,
die entsprechende Maissorte unabhängig davon zum Anbau genehmigt hat, wann, von wem und wo sie angebaut
wird.
Viertens ist Tatsache, dass vom Robert-Koch-Institut - einem Institut, das dem Bundesgesundheitsministerium untersteht - die Genehmigung zur Inverkehrbringung erteilt wird.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich all das anschauen, dann erkennen Sie, dass hier nichts anderes getan wird, als auf einer völlig sauberen rechtlichen Basis
das zu vollziehen, was möglich und notwendig ist, um
die Erfahrungen dafür zu sammeln, mit der Grünen Gentechnik wirklich verantwortungsvoll umzugehen, und
um eine richtige und fundierte rechtliche Grundlage zu
schaffen.
({1})
Ich sage: Wenn dies endlich so getan wird - die Bundesregierung hatte sich bislang verweigert -, dann sollte
man das nicht kritisieren. Man sollte die Leute, die die
Verantwortung dafür haben, nicht an den Pranger stellen,
sondern man sollte sie unterstützen. Man sollte dankbar
dafür sein, dass dies in die Hand genommen wird.
Nun zu den Fragen der Geheimhaltung. Frau Ministerin, ein Stück weit tragen Sie selber die Verantwortung
dafür - und zwar ganz gewaltig -, dass Sie die Beschädigungen an den Feldern toleriert, sich nicht davon distanziert und sie nicht kritisiert haben.
({2})
Sagen Sie bitte: Warum haben Sie eigentlich so lange gebraucht, um die EU-Freisetzungsrichtlinie umzusetzen? Die Freisetzungsrichtlinie, die mit diesem Gesetz
umgesetzt wird und in der das Standortregister und die
Meldepflicht verankert sind, weil sie EU-rechtlich vorgeschrieben sind, ist im Frühjahr 2001 verabschiedet
worden. Heute sind wir im Frühjahr 2004, Frau Minister.
Drei Jahre haben Sie nichts gemacht, und jetzt beklagen
Sie sich, dass die rechtlichen Grundlagen dafür fehlen.
({3})
Die Frist für die Umsetzung - das wäre Oktober 2002
gewesen - ist sogar schon abgelaufen.
({4})
Wenn Sie die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hätten,
hätten wir heute eine Meldepflicht, die Standortregister,
Transparenz und keine Geheimhaltung, die Sie immer
beklagen.
({5})
Nun will ich zu den Widersprüchen im Gesetzentwurf
selber ein paar Sätze sagen. In Ihrem eigenen Gesetzentwurf schreiben Sie in § 1, dass der Zweck dieses Gesetz
unter anderem die Förderung der Grünen Gentechnik
ist.
({6})
Die einzelnen Vorschriften gestalten Sie jedoch mit einer
überbordenden Bürokratie und mit Haftungsregeln aus,
die dazu führen, dass das Ganze behindert, wenn nicht
sogar verhindert wird. Das heißt, Sie machen das pure
Gegenteil von dem, was Sie in § 1 erklären.
({7})
Das ist natürlich ganz praktisch, weil Sie dann gegenüber Wissenschaftlern und in Sonntagsreden den § 1 zitieren können. Auch können Sie den Bundeskanzler zitieren, der das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausgerufen hat. In diesem Jahr der Innovation aber werden der
Forschungsetat gekürzt und durch ein Gesetz wie dieses
die Grundlage für Forschung und Entwicklung im eigenen Land nicht verbessert, sondern verschlechtert.
Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Diskussion mit
Sachargumenten und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die uns allen vorliegen, führen. Ich wünsche mir,
dass das Ganze ohne ideologische Verblendung stattfindet.
({8})
Ich wünsche mir auch, dass der Beitrag der Grünen
Gentechnik für Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft
und Umwelt, der unumstritten ist, nicht nur bei uns, sondern auch in der Dritten Welt einbezogen wird. Es
kommt nicht von ungefähr, dass die FAO, die UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung, erst in den
letzten Wochen in ihrem Bericht deutlich machte, welchen positiven Beitrag die Grüne Gentechnik gerade
auch für die Landwirtschaft in der Dritten Welt leisten
kann und leisten wird.
({9})
Natürlich will ich, dass auch die kritischen Bemerkungen in diese Diskussion einfließen. Aber sie müssen
alle einfließen und abgewogen werden. Uns geht es nicht
darum, dass die Grüne Gentechnik die ökologische und
die konventionelle Landwirtschaft oder die klassische
Pflanzenzüchtung ersetzt, sondern wir wollen eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Anbauformen erreichen.
({10})
Daraus resultieren die Anforderungen an dieses Gesetz, erstens Koexistenz aller Anbauformen, zweitens
echte Wahlfreiheit für die Verbraucher und die Landwirte, drittens keine überflüssige Bürokratie und viertens
wirkliche Rechtssicherheit.
({11})
Rechtssicherheit und Planungssicherheit, Frau Minister, taugen nicht nur als Überschrift, sondern sie müssen
tatsächlich für die Verbraucher, die Landwirte, die Produzenten, die Wissenschaftler und für alle gelten, die auf
diesem Feld arbeiten. Sie alle brauchen dringend Planungs- und Rechtssicherheit.
Dem wird der Gesetzentwurf, mit Verlaub, nicht gerecht. Mit diesem Gesetzentwurf ist ein Aufblähen der
Bürokratie verbunden. Es wird zu mehr Verunsicherung
und damit zu keiner Rechtssicherheit kommen. Die Haftungsregelungen sind willkürlich.
({12})
Es wird nicht gefördert, sondern behindert und verhindert. Deshalb muss der Gesetzentwurf zwingend nachgebessert werden,
({13})
insbesondere in den Fragen der Bürokratie und der Haftung sowie bei der Möglichkeit, den Probeanbau nicht
nur zuzulassen, sondern auch wissenschaftlich zu begleiten.
({14})
Es ist schon interessant: Als der Gesetzentwurf vor einigen Monaten im Kabinett eingebracht und öffentlich
diskutiert wurde, las man in der Zeitung „Die Zeit“ in einem Artikel über diesen Gesetzentwurf - ich zitiere -:
… mit bürokratischen Bremsmanövern allein lässt
sich die Zukunft nicht gewinnen.
Ich glaube, treffender kann man dieses Gesetz nicht charakterisieren.
Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass
wir die Bürokratie in diesem Gesetz und die Bremsklötze beseitigen und die Grundlage dafür schaffen, anhand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir haben, unter Berücksichtigung aller Argumente dafür und
dagegen eine sinnvolle Regelung zu finden, auf deren
Grundlage wir die Chancen, die die Grüne Gentechnik
für die Gesundheit und die Ernährung der Menschen, für
die Landwirte, für die wirtschaftliche Entwicklung und
für die Innovation in unserem Land bietet, wirklich sinnvoll nutzen können.
({15})
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beobachten in Fragen der Gentechnologie
eine große Verunsicherung. Zum einen lehnen viele
Menschen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab und
fragen daher, warum die unerwünschten gentechnisch
veränderten Pflanzen in den Anbau kommen sollen; zum
anderen sind aber auch die Bäuerinnen und Bauern verunsichert, da sie, selbst wenn sie selber nicht auf die
neuartigen Saatgutangebote zugehen wollen, durch Pollenflug, Aussamung und Vermischung bei Ernte und
Transport davon betroffen sein könnten.
Das ist ein Zitat aus einem der vielen Schreiben, die
wir dieser Tage bekommen. Ich wollte heute nicht über
Ideologie sprechen. Das ist Aufgabe der CDU/CSU und
der FDP.
({0})
Das ist kein Schreiben von einer ökoradikalen Splittergruppe, sondern dieses Schreiben haben die westfälischen Bundestagsabgeordneten vom Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, erhalten.
({1})
Er hat den Beschluss der Landessynode aus dem letzten
Jahr beigefügt, der seinen Gipfel darin findet, auf dem
Ackerland der Kirche keinen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zuzulassen.
({2})
Ich halte diesen Beschluss für richtig, denn auch
meine Skepsis bleibt. Die gentechnische Veränderung
von Pflanzen ist ein Eingriff in die Evolution, dessen
Auswirkungen wir nur sehr schwer beurteilen können,
vor allem, wenn wir zum Beispiel ein Gen aus einem
Bodenbakterium ausbauen und in eine höhere Pflanze
übertragen. Das ist ein Prozess, der in der Natur wahrscheinlich nie vorkommen wird. Wenn er vorgekommen
ist oder vorkommt, dann ist das unproblematisch, weil es
sich um einen Einzelfall handelt. Wenn aber Myriaden
von gezielt veränderten Pflanzen auf einem Feld stehen,
dann hat das eine vollkommen andere Qualität. Wir wissen letztlich nicht, was über die Jahre betrachtet an Problemen entstehen kann.
Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten der Befürworter der Grünen Gentechnik. Die tauschen wir regelmäßig aus: Hilfe bei der Bekämpfung des Welthungers,
höhere Ernteerträge, weniger Chemieeinsatz und Schädlingsbefall usw.
({3})
All diese Argumente sind weder endgültig belegt noch
endgültig widerlegt.
Ähnlich ist es mit den Argumenten der Gegner oder
Skeptiker: größere Abhängigkeit von Konzernen, Schaffung von Resistenzen bei Schädlingen, Schädigung von
Nützlingen, Auskreuzungen in die Umwelt, reduzierte
Ernteerträge usw. Auch diese Argumente sind weder
endgültig belegt noch widerlegt. Das heißt, es findet das
übliche Spiel statt, dass Sie mir Ihre Gutachten oder wissenschaftlichen Arbeiten vorlegen, die ich auseinander
nehme, und umgekehrt.
In allen Fällen gibt es mehr oder weniger gute Hinweise, die ich einfach zur Kenntnis nehme. Aber was ist
eigentlich schlimmer? Wenn die Befürworter in einigen
Jahren mehr Recht bekommen oder wenn die Gegner
Recht behalten? Was ist denn, wenn die Skeptiker in
zehn oder 20 Jahren Recht bekommen,
({4})
es aber dann schon zu spät ist, weil sich freigesetzte
Pflanzen nicht mehr zurückholen lassen, weil bäuerliche
Strukturen zusammengebrochen sind oder weil althergebrachtes Saatgut verloren gegangen ist?
Vor diesem Hintergrund sehe ich übrigens auch den
Erprobungsanbau von gentechnisch verändertem
Mais auf 300 Hektar in 30 Betrieben in Sachsen-Anhalt,
Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Baden-Württemberg als sehr kritisch an. Ich halte es für falsch und unklug, dass die
Standorte nicht mindestens für Landwirte transparent gemacht werden. Frau Künast hat das angedeutet. In einigen der genannten Länder gibt es nämlich Regionen, insgesamt 33, in denen die Bauern ausdrücklich
gentechnikfrei produzieren wollen. Ich hoffe, dass kein
Freisetzungsversuch in deren Nähe stattfindet, weil sie
dann nämlich in Schwierigkeiten kommen.
Ich halte es geradezu für fatal, wenn die CDU/CSU in
ihrem Antrag auf Drucksache 15/2822 fordert, umgehend einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutschland zu starten. Sie sind offenbar nicht in der Lage, zu
erkennen, dass wir nicht über die notwendigen Kapazitäten für eine vernünftige Begleitforschung zu einem großflächigen Anbau verfügen. Sie wollen gleich mit der Tür
ins Haus fallen und Fakten schaffen. Wenn dies nicht zutrifft, dann müssten Sie das in Ihrem Antrag besser erklären.
Insofern ist es richtig und verantwortungsvoll, mit der
Gentechnologie vorsichtig voranzugehen. Genau diesen
Weg verfolgen wir mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung. Wir haben darauf zu reagieren,
dass die EU-Kommission die Freisetzung gentechnisch
veränderter Pflanzen neuerdings genehmigt, und wir
müssen europäisches Recht in deutsches Recht umsetzen. Unser Ziel ist es, den Verbrauchern echte Wahlfreiheit zu ermöglichen, und wir wollen eine Koexistenz
zwischen den verschiedenen Anbauformen schaffen.
({5})
Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Haftungsfrage.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir
in diesem Punkt keine absolute Gerechtigkeit herstellen
können. Entweder schützt man die Landwirte, die Gentechnik nutzen wollen - das ist offenbar die Intention der
Opposition -, oder man legt den Schwerpunkt auf den
Schutz derjenigen, die auf Gentechnik verzichten wollen.
({6})
Eine solche Entscheidungslage ist aber im täglichen
Leben nicht unüblich.
Lassen Sie mich das an einem simplen Beispiel aus
dem berühmten täglichen Leben verdeutlichen. Ein Hundehalter geht mit seinem Hund spazieren. Der Hund ist
gut ausgebildet und hat einen friedlichen Charakter. Er
hat noch nie Probleme gemacht und er ist angeleint.
Trotzdem springt er ein Kind an und zerreißt dessen
Hose. Nach deutschem Recht muss der Hundehalter die
Hose ersetzen, obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft.
Er hat sich nämlich an alle Regeln gehalten, die ihm auferlegt sind. Eigentlich ist das ungerecht. Es hat aber
nichts mit willkürlicher Rechtsprechung zu tun; viel ungerechter wäre es nämlich, das Kind auf seiner zerrissenen Hose sitzen zu lassen und den Schaden nicht zu ersetzen.
({7})
Das deutsche Recht entscheidet sich für den Schutz
des Opfers und die Hilfe für den Geschädigten.
({8})
Wir wollen dieses Prinzip auch auf die Gentechnik auf
dem Acker übertragen. Ein Landwirt wird sich frei entscheiden können, ob er gentechnisch veränderte Pflanzen anbaut oder auf Gentechnik verzichtet. Wenn aber
ein Landwirt, der gentechnikfrei anbauen will, auf seiner
Ernte sitzen bleibt, weil vom Gentechnikbauern nebenan
die Gentechnikpflanzen in einem Maße „herübergeweht“ sind, dass er seine Ernte nicht mehr als gentechnikfrei verkaufen kann, dann muss dieser Bauer seinen
Schaden ersetzt bekommen.
In dieser Frage besteht ein wesentlicher Unterschied
zwischen Regierung und Opposition. Die FDP fordert in
ihrem Antrag auf Drucksache 15/2979: „Es haften nur
die Landwirte, die die Koexistenzregeln nicht konsequent einhalten.“ Dieser Vorschlag bedeutet: Wenn der
Gentechnikbauer alle Regeln befolgt, dann bleibt der
gentechnikfreie Bauer auf seiner verunreinigten Ernte
sitzen. Bezogen auf mein Beispiel aus dem alltäglichen
Leben bedeutet das: Wenn der Hundehalter alle Regeln
befolgt, dann bleibt das Kind auf der zerrissenen Hose
sitzen.
({9})
Wir wollen das nicht.
({10})
Rot-Grün will, dass es dabei bleibt, dass der Hundehalter
dem Kind eine neue Hose kauft. Wir wollen auch, dass
der Schaden des Bauern, der gentechnikfrei produzieren
will, ersetzt wird.
({11})
Am Anfang meiner Rede zitierte ich den Brief des
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, der die
Unsicherheit auch der Landwirte schilderte. Wir wollen
mit unserem Gesetzentwurf die Wahlfreiheit der Verbraucher stärken und auch die geschilderte Unsicherheit
der Landwirte abbauen. Der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen darf nicht zum Nachteil derer geschehen,
die darauf verzichten wollen. Ich bin überzeugt, dass die
Landwirte und die Verbraucher merken werden, wer
wirklich an ihrer Seite steht.
Den FDP-Abgeordneten wünsche ich, dass sie keinen
Hunden begegnen, die ihre Hosen zerbeißen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Ihrer Beruhigung, Herr Röspel: Mein Hund beißt
nicht. Insofern besteht keine Gefahr.
({0})
Zu Ihren Ausführungen will ich eines anmerken: Ihr
Begriff von Natur schließt menschliche Kreativität aus.
({1})
Ihrem Begriff von Natur zufolge befänden wir uns noch
immer in der Steinzeit.
({2})
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Erdbeeren, die Sie
morgen oder übermorgen essen werden, aus Unterarten
gezüchtet sind, die aus Südamerika und aus Europa
stammen! Sie sind völlig unnatürlich und hätten ohne
den Menschen nie eine Chance gehabt, zusammenzukommen.
({3})
Ich möchte nun zu meiner eigentlichen Rede kommen. Im Kampf gegen Hunger und Unterernährung
setzt die FAO auf den Einsatz der Grünen Gentechnik.
Generaldirektor Jacques Diouf fordert eine Genforschung, die sich an den Bedürfnissen der Kleinbauern in
Asien und Afrika ausrichtet. Die Züchtung des Goldenen
Reises ist ein Beispiel dafür, dass dies gelingen kann.
({4})
Die Bundesregierung bremst dagegen die Grüne Gentechnik aus.
({5})
Deutschland wird damit seiner globalen Aufgabe nicht
gerecht.
({6})
Im Glaubenskampf um die Grüne Gentechnik sind die
Gefechtsfelder abgesteckt und die Fronten verhärtet. Die
Vernunft ist auf der Strecke geblieben.
({7})
Verantwortlich dafür sind die grünen Minister, insbesondere Frau Künast, und ein Bundeskanzler, der sie gewähren lässt. Das spiegelt sich im Entwurf eines Gesetzes
der Bundesregierung zur Novellierung des Gentechnikgesetzes wider. Die Grüne Gentechnik soll verhindert
werden. Die Leidtragenden dieser Politik sind junge
Menschen, die abwandern werden, Menschen in den
neuen Bundesländern, die auf diese Zukunftstechnologie
gesetzt haben, und Menschen in den ländlichen Räumen,
die neue Einkommensalternativen brauchen, und dies alles, damit die grüne Illusion vom Museumsbauernhof erhalten bleibt. Das will die FDP verhindern.
({8})
Die Ministerin - wir alle haben es gehört - wäscht
ihre Hände in Unschuld, wenn es um die Zerstörung von
Freisetzungsversuchen geht, obwohl gerade ihre Politik
und ihre Äußerungen der Nährboden sind, der die Zerstörung von Freisetzungsversuchen tatsächlich möglich
gemacht hat.
({9})
- Frau Ausschussvorsitzende, informieren Sie sich einmal über agrarische Tatbestände! Dann können Sie bei
solchen Fragen besser mitreden.
({10})
Der Vorfall in Sachsen-Anhalt steht für die Zerrissenheit in Deutschland, wenn es um die Bewertung der Produkte der Grünen Gentechnik geht.
({11})
Ministerin Bulmahn, SPD, begrüßt das Anbauprogramm
der Bundesländer für Bt-Mais, Ministerin Künast lehnt
es ab.
Es ist gute Tradition, dass wir im Deutschen Bundestag nicht entscheiden, was die Verbraucherinnen und
Verbraucher morgens zum Frühstück essen.
({12})
Sie haben Wahlfreiheit.
({13})
Der Deutsche Bundestag entscheidet ausschließlich,
welchen Kriterien neue Produkte genügen müssen.
({14})
Daher ist es völlig unerheblich, welche Umfragewerte
Produkte der Grünen Gentechnik erzielen. Ulrich
Bahnsen titelte in der „Zeit“: „Greenpeace weiß, was
Kunden wünschen müssen“. Ich füge hinzu: nicht, was
sie wünschen. Nicht Wahlfreiheit ist somit das Ziel Ihrer
Politik und von Greenpeace, sondern Bevormundung.
({15})
Die eine Voraussetzung für Wahlfreiheit ist die Kennzeichnung. Sie ist geregelt. Die andere Voraussetzung
ist das Angebot von Produkten aus gentechnisch veränderten und anderen Pflanzen. Das wird kommen.
Entgegen den Sprüchen von Ministerin Künast sind
gentechnisch veränderte Pflanzen sicherer als andere;
denn sie sind mehr geprüft.
({16})
Auch die viel zitierte britische Studie Farm Scale Evaluation hat kein wirklich neues Ergebnis erbracht. Das Unkrautmanagement entscheidet über die Biodiversität auf
dem Acker; das wissen Landwirte seit Jahrzehnten. Ohne
Wildkräuter gibt es auch keine Insekten. Das ist Mittelstufenbiologie. Es gibt keine besondere Gefährdung der Biodiversität durch Pflanzen, die mit einer bestimmten Methode gezüchtet wurden. Das ist im Übrigen ein Ergebnis
der Studie zur Technikfolgenabschätzung aus dem Jahre
1993.
Vor diesem Hintergrund ist die durch EU-Vorgaben
notwendige Novellierung des Gentechnikgesetzes eine
lösbare Aufgabe. Die Regierung ist daran gescheitert,
weil sie den grünen Ministern Künast und Trittin das
Feld überlassen hat. Es ist ein Verhinderungsgesetz
herausgekommen. Kanzler Schröder hat klein beigegeben. Seine Innovationsinitiative ist reif für die Tonne.
Die Haftungsregelung geht am Kern jeder gerechten
Haftung vorbei. Wir müssen den schützen, der sich korrekt verhält, und zwar unabhängig davon, was er anbaut,
ob es sich nun um gentechnisch veränderte Pflanzen
handelt oder nicht. Die im Gesetz vorgesehene gesamtschuldnerische Haftung leistet dies nicht, weil sie auch
dem die Haftung für Schäden aufbürdet, der sie nicht
verursacht hat. Das ist ungerecht. Mit Bürokratie - Kollegin Hasselfeldt hat das schon gesagt - lässt sich Zukunft nicht gewinnen.
Der Jahresbericht der FAO hat deutlich gemacht, dass
die Grüne Gentechnik den Entwicklungsländern Chancen bietet. 4 Millionen Kleinbauern pflanzen in China
erfolgreich Bt-Baumwolle an, so Professor Saedler, Direktor am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung.
2 Cent kostet die Produktion eines Antigens in der transgenen Banane, 100 Euro mit herkömmlichen Methoden.
Das wollen Sie verhindern? Diese Chancen wollen Sie
den Entwicklungsländern wirklich verwehren?
({17})
Ich fordere Sie auf, sich im Interesse der Menschen,
die nicht so reich sind wie wir, die in Gesellschaften leben, denen es nicht so gut geht, mehr für eine solche
Wissenschaftstechnologie einzusetzen und Entwicklungen möglich zu machen, die wir gerade bei uns in
Deutschland brauchen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es gut, dass wir nun auch anlässlich der Beratung dieses Gesetzentwurfs - er ist schon seit Anfang
des Jahres in der Welt - über die einzelnen Probleme im
Zusammenhang mit der Gentechnik reden. Wir tun das
ja schon länger. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit
werden von diesem Thema beherrscht. Jetzt treten wir in
das Gesetzgebungsverfahren ein. Ich wünsche mir, dass
dieses Verfahren kurz und knapp ist und, wenn es möglich ist, liebe Frau Hasselfeldt und sehr geehrte Frau
Happach-Kasan, ohne diese ständigen Ausfälle, die doch
niemanden weiterbringen,
({0})
abläuft, damit die Grundsätze der Europäischen Union,
nämlich Koexistenz und Wahlfreiheit, tatsächlich eingehalten werden.
({1})
Ich habe bei Ihnen manchmal das Gefühl, dass Sie
sich eigentlich mehr als die Sprecherinnen von Großunternehmen - noch nicht einmal von mittelständischen
Unternehmen hier bei uns - verstehen, die mit aller
Gewalt irgendwelche genveränderten Pflanzen in den
Markt drücken wollen.
({2})
Frau Happach-Kasan, wir sollten über diese Phase jetzt
endlich einmal hinwegkommen und uns die Frage stellen:
Was ist eigentlich der Grund für die heutige Unsicherheit
im Zusammenhang mit der Gentechnik? Ich hätte mich
wirklich gefreut, wenn dazu ein bisschen mehr gesagt
worden wäre, auch von Ihnen; schließlich mahne ich das
nicht zum ersten Mal an. Die Antwort kann doch nur
lauten: Genveränderte Nahrungsmittel müssten für den
Menschen mehr oder Besseres bringen. Nur das wäre
eine Rechtfertigung, sonst gar nichts.
Diese Nachweise gibt es aber nicht. Vielmehr haben
wir noch immer ein, wie wir Juristen es nennen, „non liquet“. Es ist also nicht klar, ob diese Nahrungsmittel
schaden und Gefährdungen verursachen oder nicht.
Diese Unsicherheit wird natürlich auch dadurch genährt,
dass Gutachten wie das im Zusammenhang mit der Zulassung des Bt-Mais darauf hinweisen, dass es in bestimmten Bereichen gerade für Tiere sehr wohl Probleme und Gefährdungen geben könnte. Diese
Gutachten werden von Ihnen entweder geleugnet oder
heruntergespielt. So kommen wir nicht weiter.
({3})
Sie haben vorhin schon einmal von Produkten und
Produkthaftung geredet. Würde man dem folgen, was
Sie in Bezug auf genveränderte Pflanzen oder genverändertes Saatgut sagen, dann würde heute - das müssten
wir vielleicht auch einmal sehen - nicht eine weniger
oder nur gleichermaßen begutachtete Komponente eines
Fahrzeugs auf den Markt gebracht. Auf diesem Gebiet
werden viel mehr Gutachten und sehr viel mehr Haftung
vorausgesetzt. Das ist eines der Probleme, die wir in der
Anhörung natürlich nochmals prüfen werden. Auf die
möchte ich Sie hier jetzt ein weiteres Mal ganz offiziell
aufmerksam machen.
Wir alle wissen: Die Verbraucher haben Bedenken
und sie wollen keine genveränderten Nahrungsmittel.
Das EU-Recht besagt - es ist verbindlich -: Es besteht
kein Zwang; es soll Wahlfreiheit geben. Auch deswegen haben wir uns mit großem Nachdruck für klare
Kennzeichnungsregelungen nicht nur bei Lebensmitteln - da gibt es sie seit dem 19. April -, sondern auch
bei Saatgut eingesetzt.
Was entdecke ich da bei Ihnen und bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU? Frau Hasselfeldt hat
zuvor von „Scheinheiligkeit und Heuchelei“ gesprochen.
({4})
Frau Hasselfeldt, ich fände es eigentlich sehr gut, wenn
Sie diese Begriffe einmal auf diejenigen anwendeten,
auf die sie zutreffen, nämlich auf sich selber,
({5})
und wenn Sie sagten: Wir sind der Meinung, dass die
technische Nachweisgrenze beim Saatgut erreicht werden soll. - Wir werden nachher sehr genau aufpassen,
wie Sie sich bei der Abstimmung über den heute beratenen Antrag verhalten werden.
({6})
Wir haben ihn auch eingebracht, um endlich einmal in
der Öffentlichkeit klarzustellen, wer hier von Scheinheiligkeit und von Heuchelei redet und wer sie praktiziert.
({7})
Sie wissen nämlich ganz genau, dass auch Bauern, die
auf Sie zählen, heute von Ihnen erwarten, dass Klarheit
und Wahrheit durchgesetzt werden. Wahlfreiheit fängt
bei der Kennzeichnung an.
({8})
Das geht übrigens bei der Frage der Koexistenz weiter. Koexistenz - ein Landwirt kann genverändert und
ein anderer kann konventionell oder biologisch anbauen - ist ebenfalls ein Rechtsbegriff der Europäischen
Union. Deswegen hätten wir es übrigens sehr gern gesehen, Frau Ministerin, wenn die Koexistenz und die Haftungsregelungen europarechtlich verankert worden wären. Auch das Europäische Parlament hat das gefordert.
Das haben wir nun nicht.
Um jetzt noch einmal zu dem Kapitel „Heuchelei und
Scheinheiligkeit“ zurückzukommen: Es ist mehr als ärgerlich, dass Sie immer dann, wenn es darum geht, die
Koexistenz rechtlich abzusichern - es bleibt gar nichts
anderes übrig, als dies nationalstaatlich zu tun -,
({9})
von Bürokratie, von was weiß ich, von anderen üblen
Dingen reden. Man kann Koexistenz nicht anders als
durch klare Haftungsregelungen und durch Verantwortlichkeiten absichern.
({10})
Sie haben völlig Recht: Wir alle wollen, dass Landwirte zwar für die gute fachliche Praxis haften, dass aber
die Erzeuger für den Rest haften. Deswegen sind wir der
Meinung, dass sich jeder Landwirt, der genveränderte
Pflanzen anbauen will, vorher - das Gesetz lässt das
auch zu - vom Erzeuger haftungsrechtlich freistellen lassen soll. Ich werde in allen Diskussionen mit Landwirten
über solche Dinge darauf hinweisen. Ich wäre Ihnen
dankbar, wenn auch Sie das täten.
Noch einmal zum Kapitel „Heuchelei und Scheinheiligkeit“: Gott sei Dank können bei uns alle über das Internet den Bericht der FAO lesen, liebe Frau HappachKasan, auf den Sie sich berufen haben. Darin steht nicht,
dass das, was bei uns in den Industrieländern passiert,
von der FAO gewünscht wird. Bei uns geht es um Soja.
Bei uns geht es um Mais. Bei uns geht es also um Viehfutter. Das bringt Geld. Dieses Verfahren nützt den Menschen in den Least Developed Countries aber überhaupt
nichts.
({11})
Denen würde es etwas nützen, wenn zum Beispiel genveränderte Pflanzen entwickelt würden, die salzresistent
sind, die Wasserarmut verkraften können, also für Dürregebiete geeignet wären.
({12})
Darum geht es aber überhaupt nicht. Auf diese Potenzialität verweist die FAO.
Jetzt höre ich gerade, das würde jemand verhindern.
({13})
Seien Sie doch so freundlich und informieren Sie sich
vor solchen Zwischenrufen erst einmal über den Sachverhalt! Das verhindert überhaupt niemand!
({14})
Das bringt aber kein Geld. Deswegen setzen gerade Sie
von der FDP sich nicht dafür ein. - Das ist der Ärger.
Das ist einer der Punkte, die uns das Leben hier so
schwer machen.
({15})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Bitte.
Frau Däubler-Gmelin, Sie erinnern sich vielleicht daran, dass wir schon einmal über das Thema „Goldener
Reis“ diskutiert haben. Wir haben dabei gemeinsam festgestellt, dass die Forscher Potrykus und Beyer es immerhin erreicht haben, dass 70 Lizenzen aufgegeben worden
sind, dass diese Sorte an das Reisforschungsinstitut
übergeben worden ist, sodass daraus Sorten entwickelt
werden können, die für die verschiedenen Standorte geeignet sind. Stimmen Sie mir darin zu, dass dies ein Weg
ist, auf dem wir den Entwicklungsländern helfen können, ihre Ernährungslage zu verbessern, und somit
auch den Menschen dort helfen können?
({0})
Ernährung ist doch die Voraussetzung dafür, dass Menschen Bildung erreichen und bessere Zukunftschancen
gewinnen können.
Was Bildung und Verteilungsgerechtigkeit angeht, ja.
Ich würde niemandem - auch Ihnen nicht, Frau
Happach-Kasan - den Willen absprechen, zu erreichen,
dass die Menschen in den Least Developed Countries
bessere Chancen haben. Das geht aber nur durch Marktöffnung. Das geht durch Wissenstransfer. Das geht nicht
dadurch, dass bei uns Soja und vor allem Mais genverändert als Viehfutter auf den Markt gedrückt werden. Sie
wissen ganz genau, dass der Vitamin-A-Reis nicht besser ist - er ist vielleicht anders, aber nicht besser - als
sehr viele Standortpflanzen, die es in der Natur heute
schon gibt. Ich will die Diskussion über diesen Punkt mit
Ihnen gern fortsetzen. Ich hätte Sie aber auch gern an der
Seite, wenn wir den Landwirten sagen: Das ist etwas, bei
dem ihr sehr sorgfältig aufpassen müsst, damit ihr haftungsrechtlich nicht in die Falle von bestimmten Erzeugern geht.
Wenn Sie sich nachher dazu durchringen würden
- das ist meine letzte Bitte, gerade an die FDP-Fraktion -,
wenigstens bei der Frage der Kennzeichnung des Saatguts zu sagen: „Jawohl, wir wollen die Wahlfreiheit
durch eine offene und ehrliche Kennzeichnung unterstützen“, dann fände ich das großartig. Ich fürchte, Sie werden das nicht tun. Das finde ich bedauerlich.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz anfügen: Die
heutige Diskussion ist noch in einem anderen Sinn hochinteressant; wir führen sie ja zum vierten oder fünften
Male in der einen oder anderen Weise. Sie zeigt nämlich,
dass Sie gar nicht die Absicht hatten, in irgendeiner
Weise konstruktiv dazu beizutragen,
({0})
dass vernünftige Haftungsregelungen für die Gentechnik
durchgesetzt werden. Falls das wirklich so sein sollte
- ich bin sehr gespannt, ob ich von Herrn Heiderich etwas anderes höre -, dann wenden Sie auch hier die Strategie an, die Sie in letzter Zeit sehr häufig benutzen, das
heißt: Sie setzen voll auf Blockade. Ich kann Ihnen nur
sagen, das ist kein guter Weg. Blockieren wird nicht honoriert.
({1})
Es steht außer Frage, dass wir haftungsrechtliche Regelungen für die Gentechnik im Sinne der Verbraucher und
der Landwirte finden müssen. Das sind wir ihnen schuldig und das verlangen auch die europäischen Richtlinien. Wenn Sie aber glauben, hier durch Blockieren irgendetwas verhindern zu können, dann sage ich Ihnen
schon jetzt, dass wir das nicht zulassen werden.
({2})
Ich werbe deshalb um Ihre konstruktive Mitarbeit, aber
sage Ihnen zugleich sehr deutlich, dass wir nicht bereit
sind, uns an irgendeiner Blockadestrategie zu beteiligen.
Danke schön.
({3})
Letzter Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen, dass die
Frist für die Umsetzung der europäischen Vorschriften
zur Nutzung der Gentechnik in der Landwirtschaft bereits im Herbst 2002 abgelaufen ist. Lassen Sie mich
auch feststellen, dass es gerade die internen Streitereien
zwischen den Ministern im Bundeskabinett waren, die
dafür gesorgt haben, dass das Gesetz nicht rechtzeitig
dem Bundestag zugeleitet wurde. Aufgrund dieser Verzögerungen geraten Sie nun unter den Druck von Brüssel
und wir in die Gefahr, von Brüsseler Entscheidungen
überrollt zu werden. Deshalb wäre es richtig, dass wir
uns zusammenzutun, um die Dinge in der Sache gemeinsam zügig voranzubringen. Ich wundere mich dann aber
schon über die Tiraden, die ich von der Frau Ministerin
vorhin an dieser Stelle gehört habe. Sie haben offensichtlich überhaupt nicht die Absicht, in irgendeiner Weise
politisch hier im Plenum zu kooperieren. Sie wollen
spalten sowie die Öffentlichkeit verunsichern und in die
Irre leiten.
({0})
Sie wollen damit im Endeffekt nicht, dass wir zu Entscheidungen kommen, die der Sicherheit dienen.
({1})
Ich komme nachher, Frau Däubler-Gmelin, auch noch
einmal auf die Frage der Blockade zurück.
({2})
Zunächst möchte ich aber herausstellen, dass Sie
selbst, Frau Ministerin, und alle, die an Ihrer Seite agieren, sich ein ums andere Mal in Widersprüche verstricken. In Brüssel haben Sie im Zusammenhang mit der
Erteilung der Importgenehmigung für amerikanischen
Bt-11-Mais nicht mehr als ein unentschlossenes „Ich
weiß nicht“ herausgebracht. Kaum waren Sie zu Hause,
haben Sie lautstark von einer Fehlentscheidung und dem
damit verbundenen Risiko gesprochen. Da ist es doch
kein Wunder, Frau Ministerin, dass Ihnen Kommissar
Byrne vor wenigen Tagen in einem Interview im Berliner „Tagesspiegel“ ins Stammbuch geschrieben hat, dass
er Ihre Kritik nicht verstehe. Ich zitiere einmal wörtlich,
was da steht:
Die Ministerin war selbst Mitglied des Agrarministerrats, der im vergangenen Herbst für die neue Gesetzgebung gestimmt hat. Sie hat diese Regelung
gewollt, nun sollte sie sich auch daran halten.
Verehrte Frau Künast, es wäre hilfreich, wenn Sie sich
hierzu einmal in Ihren Reden äußern würden.
({3})
Ebenso hat es die Bundesregierung trotz der langen
Anlaufzeit nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass im eigenen Land die notwendigen praktischen Erfahrungen für
die Detailregelungen dieses Gesetzes gesammelt wurden. Ich will es noch einmal sagen: Es war der Bundeskanzler selbst, der bereits im Sommer 2000 einen großflächigen Erprobungsanbau zugesagt und die
notwendigen Regularien mit den Beteiligten unterschriftsreif ausgehandelt hat. Jetzt frage ich mich, warum die entsprechende Begleitforschung damals möglich
war, heute aber nicht möglich sein soll.
Ich zitiere einmal, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen:
Ziel des Forschungsprogramms ist, zusätzliche
Erkenntnisse über die Umweltauswirkungen des
großflächigen Anbaus gentechnisch veränderter
landwirtschaftlicher Nutzpflanzen unter Praxisbedingungen zu gewinnen. Daher sollte der Anbau
schwerpunktmäßig in landwirtschaftlichen Betrieben durchgeführt werden.
Dann geht es weiter:
Die Bundesregierung
- jetzt ist sie verschwunden ({4})
- ich bitte zuzuhören! trägt die Kosten für das Forschungsprogramm. Die
Unternehmen der Grünen Gentechnik stellen die erforderlichen Anbauflächen sowie das Saatgut zur
Verfügung.
Das war Ihr Bundeskanzler, Ihre Regierung, die das
schon im Jahre 2000 so vorgelegt haben. Heute sind Sie
um Längen hinter den damaligen Stand und die damals
erreichten Positionen zurückgefallen. Sie blockieren die
weitere Entwicklung in Deutschland, nicht die Opposition.
({5})
Ständig bringen Sie hier Argumente, die weitere Verunsicherung, aber keinen Schritt nach vorn bedeuten.
Auf der einen Seite erklären Sie, die Gentechnologie
müsse noch weiter erforscht werden. Auch Frau
Däubler-Gmelin hat das eben wieder vorgetragen. Die
Zulassungsverfahren seien nicht ausreichend, obwohl
Sie auf diesem Gebiet nun wirklich so umfassend wissenschaftlich prüfen wie an keiner anderen Stelle des
Lebensmittelrechtes sonst. Auf der anderen Seite unterbindet Frau Ministerin höchstpersönlich ein Forschungsprojekt nach dem anderen, ganz gleich, ob Spitzenforschung oder Begleitforschung. Wie passt das
zusammen?
({6})
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende bringen. Ich komme gleich auf die Zwischenfrage zurück.
Auf der einen Seite reden Sie immer davon, man
wolle Monopole internationaler Konzerne verhindern,
auf der anderen Seite blockieren Sie gerade für unsere
Pflanzenzüchter und für unsere Forscher jeden Fortschritt und nehmen ihnen damit die Chance, gegenüber
anderen wettbewerbsfähig zu werden.
({0})
Jetzt kann die Zwischenfrage gestellt werden.
Frau Kollegin Höfken, wenn Sie mögen, dürfen Sie
jetzt.
Sehr geehrter Kollege Heiderich, ich finde, Sie reden
um den heißen Brei herum. Wir möchten doch von Ihnen
eine Antwort auf die Frage haben, wie Sie den Schutz
des Eigentums bei nicht Gentechnikpflanzen anbauenden Bauern gewährleisten möchten und welche Art
Schutz des Eigentums dieser Betriebe Sie konkret ergreifen wollen. Wir gehen doch beide davon aus, dass nahezu 100 Prozent der deutschen Betriebe keine gentechnisch veränderten Pflanzen anbauen wollen.
Die zweite Frage ist, wie Sie die Wahlfreiheit der
Verbraucher im Hinblick auf gentechnikfreie Produkte
langfristig und sicher gewährleisten wollen und welche
konkreten Maßnahmen Sie in diesem Zusammenhang
für notwendig halten.
Liebe Frau Kollegin, wenn Sie mir ausreichend Zeit
gewähren, um auf Ihre umfassende Frage umfassend zu
antworten, will ich das gerne tun.
Was die Frage der Kennzeichnung angeht, sind Sie
heute hier an der falschen Stelle. Über die Frage der
Kennzeichnung haben wir vor Wochen in diesem Hause
entschieden und die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften geschaffen.
({0})
Diese Kennzeichnungsvorschriften haben wir damals
sehr konstruktiv umgesetzt. Sie haben uns öffentlich
Blockade vorgeworfen; daran war kein Wort wahr.
({1})
- Wenn Sie mich ausreden lassen würden. - Wir haben
bereits im Jahre 2001 in diesem Hause einen Antrag eingebracht, in dem wir die Kennzeichnung gefordert haben, um Wahlfreiheit für den Verbraucher zu schaffen.
Da waren Sie von solchen Gedanken noch meilenweit
entfernt.
({2}) [CDU/
CSU]: Ihr wollt doch etwas ganz anderes!
Dann sagt das doch! - Ulrike Höfken [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten auf die
Antwort!)
Die Möglichkeit der Zwischenfrage soll die Chance
eröffnen, dem Redner über die Gedanken, die er vorbereitet hat und vorträgt, hinaus Fragen zu stellen, die vom
Redner beantwortet werden können. Wenn dies allerdings zu polyphonen Stellungnahmen aus der Fraktion
des Fragestellers und aus der Fraktion des Redners führt,
ist der Zweck dieses Instruments ziemlich eindrucksvoll
ad absurdum geführt.
({0})
Darf ich noch die zweite Hälfte der Frage beantworten?
({0})
Ja.
({0})
Frau Kollegin, was die Wahlfreiheit für die Landwirte angeht, so will ich sagen: Wir werden dezidierte
Stellungnahmen zu diesem Gesetz einbringen. Über den
Bundesrat ist schon ein ganzes Paket von Stellungnahmen abgegeben worden. Es ist unser Ziel - ich werde
das gleich noch einmal betonen -, dass wir den Landwirten Wahlfreiheit für ihre Entscheidung gewähren. Jeder
Landwirt soll heute und morgen frei entscheiden können, ob er aus betriebswirtschaftlichen Gründen die
Möglichkeiten der Biotechnologie nutzen will oder
nicht. Das ist unsere Position.
({0})
Ich wehre mich daher gegen jegliche Diffamierung, die
an dieser Stelle gegen uns gerichtet wird.
Ich möchte gern noch ein paar Punkte zum Thema Erprobungsanbau ansprechen, über den vorhin diskutiert
wurde. Frau Künast, Sie selbst haben sieben gentechnisch veränderte Bt-Mais-Sorten per Vorabgenehmigung
im Februar und März dieses Jahres zugelassen. Damit
haben Sie den Erprobungsanbau überhaupt erst möglich
gemacht. Trotzdem kommt von Ihrer Seite eine Tirade
gegen die Bundesländer, die die von Ihnen zur Verfügung gestellten Sorten nutzen.
({1})
Das ist schlicht und einfach scheinheilig und falsch.
({2})
Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Wie
der Deutsche Bauernverband in den letzten Tagen mitgeteilt hat, ist Ihr Ministerium gebeten worden, dass Ihre
Bundeseinrichtungen die Begleitforschung an diesen
29 Standorten übernehmen.
({3})
Wenn Sie das in die Wege geleitet hätten, dann hätten
Sie nicht nur von Anfang an sämtliche 29 Standorte gekannt. Sie hätten sogar jeden Tag das weitere Verfahren
verfolgen können. Dass Sie diese Bitte abgelehnt haben,
({4})
zeigt wiederum, dass Sie an dem Fortschritt, den Herr
Schröder schon im Jahr 2000 haben wollte, nicht interessiert sind. Sie wollen spalten und verunsichern.
({5})
Sie wollen - jetzt benutze ich Ihren Ausdruck von vorhin - Chaos in der öffentlichen Diskussion.
({6})
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, um
den Sie sich vorhin herumgemogelt haben.
({7})
Wir alle sollten einmal gemeinsam öffentlich feststellen,
dass die Zerstörung von rechtmäßig ausgewiesenen
Versuchs- und Erprobungsfeldern keine heroische Tat
unerschrockener Kämpfer ist, sondern schlicht und einfach eine kriminelle Handlung. Das ist die Wahrheit. Das
sollten wir einmal öffentlich feststellen.
({8})
Für uns sind die Ziele dieses Gesetzes klar. Ich habe
eben schon gesagt, dass wir die Wahlfreiheit für die
Landwirte wollen. Wir wollen außerdem die Stärkung
der Forschung, und zwar nicht nur hinter verschlossenen
Labortüren, sondern auch bei der Anwendung und Produktorientierung. Damit bekommen unsere Pflanzenschützer die Chance - ich habe es vorhin schon einmal
gesagt -, den weltweiten Akteuren Paroli bieten zu können.
Wir wollen außerdem, Frau Dr. Däubler-Gmelin, die
bisherige gute wissenschaftliche Position unserer Universitäten, unserer Institute und unserer Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Gentechnik vor allem für
die Zukunftschancen der Dritten Welt nutzen.
({9})
Der FAO-Bericht hat nahezu wörtlich das wiederholt,
was wir vor einem halben Jahr in dem Antrag „Verantwortung für die Sicherung der Welternährung übernehmen - Chancen der Grünen Gentechnik nutzen“ gefordert haben. Wir haben damals genau das
vorgetragen, was Sie, Frau Dr. Däubler-Gmelin, eben
zitiert haben.
({10})
Es geht nicht um Forschung für die Cash Crops, sondern
um Forschung für die Produkte, die der Dritten Welt nutzen. Das können wir mit unseren Instituten leisten.
({11})
Wir wollen Deutschland als Innovationsstandort. Wir
wollen ihn deshalb mit den Regeln, die dieses Gesetz
enthält, nicht blockieren. Wir wollen vielmehr Innovation möglich machen.
Schönen Dank.
({12})
Herr Kollege Herzog, ich bitte um Nachsicht. Da der
Redner das Rednerpult erst nach Überschreiten der angemeldeten Redezeit verlassen hat, sah ich keine Möglichkeit mehr, durch das Zulassen einer Zwischenfrage die
Redezeit zu verlängern.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/3088 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/3209 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Wahlfreiheit für die Landwirte durch
Reinheit des Saatgutes sicherstellen“.
({0})
- Ich stelle ja fest, wie abgestimmt wird. - Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2972
anzunehmen. Jetzt wird es spannend: Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit der Mehrheit des Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 15/3046 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2})
- Drucksache 15/3223 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({3})
Peter Bleser
Hans-Michael Goldmann
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht
2004 der Bundesregierung
- Drucksache 15/2457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede einige
Worte zum Gedenken an unseren so plötzlich und unerwartet verstorbenen Kollegen Matthias Weisheit aussprechen. Ich bin der Auffassung: Über die Fraktionsgrenzen hinweg wurde Matthias Weisheit wegen seiner
offenen und ehrlichen Art und seines ausgleichenden
Charakters geschätzt. Seine Fachkompetenz und sein unermüdlicher Einsatz waren unter anderem Gründe dafür,
dass ihm die SPD-Bundestagsfraktion das Vertrauen für
die verantwortungsvolle Position des agrar- und verbraucherpolitischen Sprechers entgegengebracht hat. Durch
sein großes fachliches Engagement hat Matthias
Weisheit sehr viel Anerkennung bei Politikern, in den
Berufsverbänden und auch bei den Praktikern erworben.
Wir verabschieden heute das Betriebsprämiendurchführungsgesetz und bringen damit die EU-Agrarreform
einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn. Ich weiß
ganz sicher, dass Matthias Weisheit diese zukunftsorientierte Reform als das zentrale Thema dieser Legislaturperiode betrachtet hat.
({0})
Deshalb wünsche ich mir, dass wir, die Abgeordneten aller Parteien, eine gute Regelung erzielen, auf die auch
Matthias stolz sein würde.
({1})
Meine Damen und Herren, diese Woche wird der Vermittlungsausschuss tagen und die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik behandeln. Wir stehen an einem historischen Punkt. Uns muss heute bewusst sein, dass mit
diesen Reformpaketen die größte Veränderung in der
Agrarpolitik der Nachkriegszeit beschlossen wird. Im
Wesentlichen wird der Übergang der produktionsbezogenen Prämien hin zu einer einheitlichen Flächenprämie
geregelt. Außerdem wird die Produktion stärker an umwelt- und tierschutzrechtliche Standards gekoppelt. Dies
ist natürlich auch im Sinne aller Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Ich hoffe zutiefst, dass sich der Bundesrat und die
Bundesregierung auf einen gangbaren Weg einigen. Die
Zeichen stehen eigentlich nicht schlecht. In der Vergangenheit konnte durch die konstruktive Zusammenarbeit
des Sonderausschusses Landwirtschaft beim Bundesrat
bereits eine weit reichende Lösung gefunden werden.
Das erarbeitete Kombinationsmodell steht bei der
Mehrheit der Bundesländer nicht infrage. Ich setze darauf, dass sich Bund und Länder bezüglich eines zeitlichen Übergangs zu einer einheitlichen Flächenprämie einigen können.
An dieser Stelle will ich ganz deutlich sagen, dass
nicht alle unionsregierten Bundesländer den Vorschlag
des Bundesrates, die Umlegung der Prämie vom Betrieb
auf die Fläche nach hinten zu verschieben, begrüßen.
Die Agrarministerin meines Bundeslandes SachsenAnhalt, Frau Wernicke, hat geradezu davor gewarnt, angesichts knapper werdender EU-Mittel im Agrarhaushalt
die Verschiebung des so genannten Gleitfluges vorzunehmen. Ich teile ihre Auffassung. Ich meine, dass der
Aufschub insbesondere wachstumsfähige Betriebe eher
behindert als unterstützt.
Sachsen-Anhalt kritisiert weiter, dass der Bundesrat
die Milchprämie nicht sukzessive auf die Fläche umlegen will. Auch wir Bundespolitiker wollen die Milchprämie eigentlich in den so genannten Gleitflug einbeziehen. Wünschenswert wäre, dass nicht nur SachsenAnhalt, sondern auch andere Bundesländer die Gefahren
sehen, die eine Verzögerung für entwicklungsfähige
Milchviehbetriebe mit sich bringt. Ich möchte die Damen und Herren des Bundesrates von hier aus auffordern, Vernunft walten zu lassen und die GAP-Reform
nicht zu blockieren.
Wir diskutieren heute nicht nur über die Reform der
gemeinsamen Agrarpolitik, sondern auch über den
Agrarbericht 2004. Wenn ich mir die Ergebnisse des
diesjährigen Agrarberichts ansehe, wird eines ganz klar:
Die Agrarreform ist mehr als notwendig. Es ist sogar
dringend erforderlich, dass landwirtschaftliche Produktion endlich unternehmerischer Freiheit unterliegt.
({2})
Nur ein Unternehmer, der sich den tatsächlichen Marktgegebenheiten anpassen kann, hat reale Chancen. Nun
wird es möglich sein, Prämiengelder in neue Betriebszweige zu investieren. In Zukunft ist also verstärkt unternehmerisches Kalkül gefragt.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf das
Erneuerbare-Energien-Gesetz verweisen, das wir am
2. April dieses Jahres hier verabschiedet haben. Auch
diesbezüglich richtet sich mein Appell ganz entschieden
an die Länder: Man muss mit der Blockadepolitik aufhören! Natürlich können Sie das Gesetz im Bundesrat verzögern. Aber warum? Welchen Sinn hat Ihr Handeln an
dieser Stelle? Blockieren um der Blockade willen, obwohl Sie wissen, dass - kurioserweise - auch Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Länderparlamenten beispielsweise auf eine gute Regelung bezüglich der
Biomasseverwertung warten?
({3})
Dennoch hat die CDU/CSU-dominierte Mehrheit im
Bundesrat das Gesetz zurückgewiesen. Verhindern können Sie es allerdings nicht. Was passiert aber? Welche
Konsequenz müssen wir ziehen? Die Landwirte müssen
länger auf den Bau ihrer Biogasanlagen warten. Die Investitionen, die wir so dringend benötigen, verzögern Sie
auf sinnlose Weise.
Noch einmal zurück zur GAP-Reform. Wichtig ist,
dass wir ab 2005 eine selbstbestimmte landwirtschaftliche Produktion ermöglichen. Die Betriebe müssen im
Rahmen der Agrarreform die Möglichkeit haben, sich
neue, sinnvolle Einkommensquellen zu sichern. Der
Übergangsprozess der Prämiengestaltung wird natürlich für niemanden - das wissen wir alle hier im Hause ein Zuckerschlecken. Deshalb ist es unsere erste und
wichtigste Pflicht und Schuldigkeit, alle, aber auch
wirklich alle Chancen zu eröffnen, die unseren Bauern
Waltraud Wolff ({4})
auch in Zukunft ein einträgliches Wirtschaften ermöglichen.
Deshalb möchte ich Sie von der Opposition ganz eindringlich bitten: Geben Sie sich einen Ruck und lassen
Sie uns dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden!
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Albert Deß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf,
der ein weiteres Beispiel für die plan- und ziellose Arbeit
dieser rot-grünen Bundesregierung - besser gesagt:
Nachbesserungsregierung - ist. Sinnvoller wäre es gewesen, die EU-Agrarreformbeschlüsse vom Juni 2003
und April 2004 in einem Gesetzgebungsgang umzusetzen. Wir diskutieren heute also über die Änderung eines
Gesetzes, das noch gar nicht in Kraft ist.
Sinnvoll wäre es natürlich auch, in den Änderungsgesetzentwurf die vom Bundesrat geforderten Verbesserungen aufzunehmen, die jetzt Gegenstand des Vermittlungsverfahrens sind. Die Bundesregierung weist auf
den von der EU vorgegebenen Umsetzungstermin
- 1. August 2004 - hin. Den Zeitdruck hätte sie vermeiden können, wenn sie die Änderungswünsche des Bundesrates im vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt
hätte, nämlich die lineare Kürzung der Prämien beim
Aufbau der nationalen Reserve für Härtefälle und Neueinsteiger um nur 1 Prozent statt 1,5 Prozent, die betriebsindividuelle Gewährung der Milchprämie bis 2013
statt 2007,
({0})
den Beginn der Abschmelzung der Direktzahlungen in
eine einheitliche regionale Flächenprämie erst ab 2010
statt ab 2007,
({1})
die Streichung der Einvernehmensregelung zugunsten
des Bundesumweltministeriums und
({2})
keine nationale Verschärfung von Bewirtschaftungsstandards im Rahmen von Cross Compliance. Wenn sie auf
diese Vorschläge eingegangen wäre, könnten wir dem
Gesetz zustimmen.
Ich bin auch der Meinung, dass beim vorliegenden
Änderungsgesetzentwurf zu Hopfen und Tabak die Interessen der Hopfen- und Tabakanbauer nicht entsprechend berücksichtigt worden sind.
({3})
Beim Hopfen ist zwar erreicht worden, dass die Erzeugergemeinschaften weiterhin gewisse Prämienanteile erhalten, aber die bayerischen Hopfenanbauer werden
trotzdem pro Hektar 60 Euro verlieren. Bei den Tabakanbauern wird es zu einer Existenzgefährdung vieler Betriebe kommen.
Wir reden heute auch über den Agrarbericht der Bundesregierung. Es ist schon bezeichnend, dass die Einkommen der deutschen Bauern um 20 Prozent rückläufig sind und auch im laufenden Wirtschaftsjahr mit
weiteren dramatischen Einkommenseinbrüchen gerechnet werden muss.
({4})
Ich hätte beinahe gesagt: Nun meldet sich der Kollege
Carstensen zu der vereinbarten Zwischenfrage.
({0})
Beabsichtigen Sie, eine solche Zwischenfrage zuzulassen, Herr Kollege Deß?
Herr Präsident, es wäre eine Unterstellung gewesen,
wenn Sie das gesagt hätten.
({0})
Darum war es gut, dass Sie es nicht getan haben.
Dann ist es gut, dass ich es nicht gesagt habe.
Offenkundig wünscht der Redner, diese Zwischenfrage zuzulassen. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident, ich lasse normalerweise mit mir nichts
vereinbaren.
({0})
Ich bin im Moment etwas unsicher: Darf ich die Frage
stellen, die ich gerne stellen möchte, Herr Präsident?
Ja gerne, zumal sonst der Eindruck entstehen könnte,
wir hätten auch den Inhalt der Frage miteinander vereinbart.
({0})
Das würde ich gern einmal mit Ihnen machen. Es
dient uns allen, wenn jemand etwas von Landwirtschaft
versteht.
Peter H. Carstensen ({0})
Herr Kollege Deß, können Sie sagen, ob das der seinerzeit von der Frau Künast erwartete Künast-Effekt
ist?
Ich habe bereits kurz nach Beginn der Regierungszeit
von Frau Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin in
einer Rede angedeutet, dass die Agrarpolitik, die sie
konzipiert und in ersten Überlegungen dargestellt hat,
dazu führt, dass in den nächsten Jahren mit massivsten
Einkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaft
zu rechnen ist. Ich habe damals auch ein internes Papier
der Arbeitsgruppe Landwirtschaft der SPD zitiert, in
dem berechnet worden ist, dass die Auswirkungen dieser
Agrarpolitik im Jahre 2003 zu Einkommensverlusten in
der deutschen Landwirtschaft von circa 3 Milliarden DM
führen. Genau das ist eingetroffen. Ich kann Ihre Frage
also mit Ja beantworten.
({0})
Ich möchte den Rest meiner Redezeit nutzen, ein paar
persönliche Worte zu sagen. Wenn am 13. Juni ein entsprechendes Wahlergebnis zustande kommt, ist dies
meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag.
({1})
Ich darf seit fast 14 Jahren Mitglied dieses Hohen
Hauses sein und möchte einige Worte des Dankes aussprechen. Als Erstes möchte ich mich bei den bayerischen Wählerinnen und Wählern bedanken, die immer
wieder mit großer Mehrheit CSU gewählt haben,
({2})
und bei den Delegierten der CSU, die mich viermal mit
großer Mehrheit auf die Liste gesetzt haben.
({3})
- Es kommen alle dran.
({4})
Ich möchte mich auch bei der CSU-Landesgruppe bedanken, lieber Peter Ramsauer, in der ich in diesen
14 Jahren gut aufgehoben war und in der die Agrarpolitik, die wir uns vorgestellt haben, immer Unterstützung
gefunden hat. Ich möchte mich auch bei der CDU/CSUFraktion bedanken. Die stellvertretende Vorsitzende,
Frau Hasselmann, ist ja hier.
({5})
- Frau Hasselfeldt, Entschuldigung. Dieser Fehler ist unverzeihlich. Frau Hasselfeldt, liebe Gerda, ich weiß genau, wie du heißt. Das war ein Versprecher.
({6})
Ich möchte mich recht herzlich bei dir bedanken, dass du
dich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende massiv für
die Anliegen der bäuerlichen Landwirtschaft einsetzt.
({7})
Ich möchte mich auch bei allen Mitgliedern des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft bedanken, die ich in den letzten 14 Jahren erleben durfte. Zwei von ihnen möchte ich namentlich
nennen, und zwar Peter Harry Carstensen und Peter
Bleser, die seit 1990 ununterbrochen dabei sind, Peter
Harry Carstensen sogar schon etwas länger.
({8})
Ich möchte mich aber auch bei der Gegenseite bedanken. Wenn Matthias Weisheit heute hier wäre, hätte ich
mich bei ihm auf das Herzlichste bedankt. Ich habe mit
ihm über zehn Jahre lang hervorragend zusammenarbeiten dürfen. Welche Wertschätzung er bei uns erfahren
hat, sieht man auch daran, dass viele Mitglieder der
CDU/CSU-Fraktion bei seiner Trauerfeier anwesend
waren.
({9})
Ich möchte mich bei Gerald Thalheim bedanken, mit
dem ich auch seit 1990 sehr gut zusammenarbeite. Zwischen uns ist hoher gegenseitiger Respekt vorhanden.
Bedanken möchte ich mich auch bei der FDP. Ich nenne
Ulrich Heinrich deswegen stellvertretend, weil auch er
ab 1990 dabei war und mit uns zusammen gearbeitet hat.
Ich wünsche mir, dass die Interessen der bäuerlichen
Landwirtschaft in Deutschland in diesem Hause vertreten
werden und dass wir uns für die bäuerlichen Familien einsetzen. Denn ich bin der Meinung, dass die bäuerlichen
Familien Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind.
Sie sind nicht, wie es manchmal dargestellt wird, eine
Bürde, sondern Leistungsträger.
Ich möchte mir abschließend noch wünschen, dass
man damit aufhört, unsere Bauern von früh bis abends
durch staatliche Reglementierungen zu bevormunden.
Sie haben ihren Beruf erlernt und wissen, wie man das
Land bewirtschaftet. Ich behaupte, dass wir in Deutschland eine der in Mitteleuropa und weltweit nachhaltigsten Landwirtschaften haben. Manchmal kommt es mir
aber so vor, als behandelte man die Landwirte so wie einen Autofahrer, auf dessen Beifahrersitz ein Polizist ununterbrochen darauf achtet, ob er die Verkehrsregeln einhält.
Geben Sie unserer Landwirtschaft und unseren Bauern die Luft zum Atmen. Unsere Bauern werden auch in
Zukunft wertvolle Nahrungsmittel für unsere Verbraucherinnen und Verbraucher produzieren. Im Interesse
unserer Verbraucherinnen und Verbraucher wünsche ich
mir, dass wir nicht in eine Situation geraten, in der wir
vom Ausland so abhängig werden, wie wir es zurzeit
beim Stahl sind, und höchste Preise zahlen müssen.
({10})
Denn die Verbraucher müssten eine hohe Zeche zahlen,
wenn wir in Zukunft keine heimische Landwirtschaft
mehr hätten.
Ich wünsche Ihnen allen alles Gute und hoffe, dass
ich, wenn ich gewählt werde, die einen oder anderen von
Ihnen auch einmal in Brüssel oder Straßburg begrüßen
kann.
Danke schön.
({11})
Herr Kollege Deß, da wir den viel beschworenen
Wählerwillen bekanntlich leider erst dann ganz genau
kennen, wenn die Stimmen am jeweiligen Wahlabend
ausgezählt sind, wissen wir alle nicht genau, ob dies tatsächlich Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag war.
Falls dies so gewesen sein sollte, möchte ich Ihnen auch
im Namen des Präsidiums herzlich für Ihre langjährige
Arbeit im Deutschen Bundestag danken, verbunden mit
dem Hinweis, dass Sie sich in einem anderen Parlament
vermutlich noch sehnsüchtig an die Großzügigkeit dieses Präsidiums bei der Bemessung der Redezeiten zurückerinnern werden.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Ulrike Höfken für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort, die ohne die Aussicht
auf Wechsel in ein anderes Parlament mit vier Minuten
Redezeit auskommen muss.
Ich möchte mich zunächst einmal den Worten meiner
Kollegin Waltraud Wolff über Matthias Weisheit anschließen. Wir werden ihn auf jeden Fall in Erinnerung
behalten und oft, gerade in solchen Situationen wie
heute, an ihn denken.
Lieber Albert Deß, du hast dich zwar nicht von uns
verabschiedet, wir werden uns aber von dir verabschieden; so nachtragend sind wir nicht: Wir hoffen, dass du
in Brüssel keinen weiteren Unsinn machst.
({0})
Sehr verehrte Damen und Herren, jetzt zum eigentlichen Thema, der Agrarreform. Mit dem zweiten Paket
ist nun ein weiterer Meilenstein gesetzt worden. Die Reformen bei Tabak, Hopfen, Oliven und Baumwolle führen die Agrarreform weiter, die die unsinnige Förderung
von Produktionsmengen beendet und Agrarmittel im
Sinne der Marktwirtschaft, der Unterstützung gesellschaftlicher Leistungen der Landwirtschaft und der Förderung ländlicher Räume gerechter und besser einsetzt.
Der Beschluss ist ein konsequenter Schritt im Rahmen
der Vorbereitung der nächsten WTO-Runde und ein
wichtiges Signal, um die Glaubwürdigkeit der EU gegenüber den Entwicklungsländern zu stärken.
Der Tabak ist im Übrigen ein gutes Beispiel für die
Notwendigkeit der Reformen. Die Tabakmarktordnung
umfasst immerhin 1 Milliarde Euro. Deutschland zahlt
250 Millionen Euro in diese Marktordnung ein; davon
fließt ein Bruchteil, nämlich 20 Millionen Euro, zurück.
Nun sagen gerade wir Grüne: Wir müssen in Europa
solidarisch sein; das ist nun einmal die tragende Säule
Europas. Aber diese Zahlungen sind nahezu kontraproduktiv - das gilt für viele Elemente der bisherigen
Agrarpolitik -: Gerade beim Tabak kann es schon aus
gesundheitspolitischen Erwägungen nicht sein, dass einerseits durch Rauchen verursachte Krankheitskosten zu
tragen und im Jahr mehr als 110 000 Tote durch Rauchen
zu beklagen sind, gleichzeitig der Tabakanbau aber gefördert wird.
({1})
Mit den Übergangsphasen bis 2009 - wir werden darüber diskutieren - verbleibt den Landwirten genügend
Zeit für die Umstellung, auch in den Tabakregionen. Wir
wissen natürlich - das müssen sich alle immer wieder
gegenwärtig machen -, dass das bisherige Fördersystem
schlichtweg politisch gewollt war. Wir haben das zwar
immer kritisiert, aber man muss auch sehen: Für die Änderung der Politik brauchen wir die Unterstützung der
Landwirtschaft und die Unterstützung der entsprechenden
Regionen, damit sie diesen gravierenden Systemwechsel
schaffen können. Noch einmal bezogen auf das Beispiel
Tabak: Allein in Rheinland-Pfalz bauen rund
250 Bauern auf 2 040 Hektar Tabak an. Nun muss klar
sein: Ab 2010 ist die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt nicht mehr gegeben. Aber - auch das ist beispielhaft gemeint - mit den Umstrukturierungsmitteln sind die
Möglichkeiten der Entwicklung für die ländlichen Regionen gegeben und damit auch die Möglichkeit der Anpassung im Bereich der Arbeitsplätze.
Um noch einmal auf den Hopfen zu kommen: Minister Miller hat ja gerade diesen Entscheid gelobt; auch ich
sehe, dass das eine gute Entscheidung ist. Wir haben aus
Bayern ein positives Signal erfahren; darum ist es umso
merkwürdiger, dass Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, beim Hopfen Hü! sagen und bei der Umsetzung der GAP-II-Beschlüsse schon wieder Hott! Ihr
Blockade- und Oppositionsfanatismus gefährdet die notwendigen Reformen, genauso wie Rauchen die Gesundheit gefährdet.
({2})
Gerade der Agrarbericht macht im Übrigen deutlich,
dass die bisherige EU-Agrarpolitik weder den Betrieben
noch den Landwirten noch den ländlichen Räumen Perspektiven für die Zukunft bietet.
Albert Deß, auch wenn das deine letzte Rede hier
war: Das, was du da gesagt hast, war Blödsinn;
({3})
denn die Berechnungen, die du aufgestellt hast, gründen
sich auf irgendeine Haushaltsfiktion, die niemals Realität geworden ist. Man muss diese Aussage von Albert
Deß also als Unterstützung dafür ansehen, dass wir mit
den Reformen zurande kommen müssen.
Meine Schlussbemerkung: Ich hoffe, dass wir morgen
in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses eine
Einigung finden werden hinsichtlich der Lösungen der
Probleme, die wir bei der Umsetzung der Systeme im
Bereich Milch, im Bereich der Schaf- und Ziegenhaltung, im Bereich der Mutterkuhhaltung und bei der Ausgestaltung der Cross-Compliance-Lösungen natürlich
haben.
Frau Kollegin!
Ich will aber auch ganz klar sagen: Um nach vorne zu
kommen, brauchen wir jetzt eine Rahmengesetzgebung
und klare Beschlüsse für die Zukunft, damit sich die
Wirtschaft darauf einstellen kann. Alles andere wäre
Chaos.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch die Gedanken der FDP-Fraktion und der
Kollegen, die hier sind, sind bei Matthias Weisheit. Wir
haben vorgestern an der Trauerfeier teilnehmen können.
Ich will sehr ausdrücklich betonen, dass wir in der Arbeitsphase, die jetzt vor uns liegt, Matthias Weisheit sicherlich intensiv vermissen werden. Wir werden uns darum bemühen, in Verantwortung und in Sachlichkeit den
Geist, den er in seiner Arbeit immer zum Ausdruck gebracht hat, nämlich den Geist der Zusammenarbeit, zu
realisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute stehen drei
agrarpolitische Themen auf der Tagesordnung. Das
macht deutlich, welche besondere Bedeutung der Agrarbereich und der ländliche Raum insgesamt in der politischen Arbeit hat. Die Grüne Gentechnik, über die wir
schon vorhin gesprochen haben, sehen wir Liberale als
eine zusätzliche Chance, um zum Beispiel den negativen
Tendenzen, die im Agrarbericht deutlich werden, entgegenzutreten. Ich glaube, dass sich mit der Grünen Gentechnik Chancen ergeben, die wir nutzen können, damit
der Agrarbericht für unsere unternehmerischen Landwirte nicht so negativ ausfällt, wie er ausgefallen ist, und
damit die Situation für die landwirtschaftlichen Betriebe
und für die Ernährungswirtschaft insgesamt ein Stück
gestärkt werden kann.
({0})
Wir werden heute Abend noch über das Tierarzneimittelgesetz reden. Auch dabei möchte ich betonen,
dass wir größten Wert darauf legen, ein Gesetz auf den
Weg zu bringen, das der Fachlichkeit in diesem Bereich
Rechnung trägt. Tierärzte wissen, was sie zu tun haben;
Bauern wissen, was sie zu tun haben. Dafür braucht es
nicht den Gesetzgeber, der bis ins kleinste Detail hinein
die Dinge regelt und einen bürokratischen Moloch aufbaut. Das kann nicht die Lösung sein. Wir haben schon
jetzt viel zu viel Bürokratie in diesem Bereich.
({1})
Lassen Sie mich auch noch etwas zum Bereich EUAgrarreform sagen. Frau Wolff, ich finde es wohltuend,
wie Sie hier Ihre Ausführungen vorgetragen haben. Sie
wissen, dass wir in dieser Hinsicht viel Konsens miteinander haben. Es kann aber nicht angehen, dass vorher
die Ausschussvorsitzende Roth in ihrer Rede - anscheinend mit Ihrer Unterstützung, Frau Wolff - den Oppositionsfraktionen Scheinheiligkeit und Heuchelei vorhält.
Die Ausführungen von Frau Minister Künast haben mich
gerade im Hinblick auf die morgige Arbeitsnotwendigkeit - wir müssen die EU-Agrarreform gemeinsam auf
den Weg bringen - sehr enttäuscht.
({2})
Wir sind bereit, in vielfältiger Form Perspektiven in Zusammenarbeit zu entwickeln. Wir nehmen aber nicht
hin, dass man uns hier Scheinheiligkeit und Heuchelei
vorhält und damit im Grunde genommen die Möglichkeit der Zusammenarbeit zerstört. Das wollen wir nicht.
Lassen Sie mich, weil es hier angesprochen worden
ist, sehr konkret sagen, wie wir das Thema EU-Agrarreform angehen wollen. Wir sind stolz darauf, dass Ulrich
Heinrich, der aus der Kulturlandschaft Baden-Württembergs kommt, die Kulturlandschaftsprämie erfunden
hat. Als ich vorgestern zur Trauerfeier nach Friedrichshafen flog, habe ich diese Kulturlandschaft aus der Höhe
betrachtet. Ich habe dabei wieder das tiefe Empfinden
gehabt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir
die Landwirte in der Kulturlandschaft Deutschlands erhalten und stützen. Deswegen sind wir für die Flächenprämie.
({3})
Wir sind für die Flächenprämie, weil sie dazu beiträgt,
dass der Landwirt unternehmerische Möglichkeiten an
den Standorten entwickelt, an denen es in Deutschland
notwendig ist.
Wir sind auch dafür, dass flexible Regelungen zum
Grünlanderhaltungsgebot auf den Weg gebracht werden. Es gibt überhaupt keine Frage: Cross Compliance
kann nur eins zu eins umgesetzt werden und keinen Deut
darüber hinausgehen. Wir dürfen keine zusätzlichen nationalen Belastungen für unsere landwirtschaftlichen Betriebe und unsere Bauern auf den Weg bringen.
({4})
Eine Studie des Ifo-Instituts hat ganz besonders deutlich gemacht, dass wir gerade beim Agrardiesel und
aufgrund der Ökosteuer Wettbewerbsverzerrungen
zum Nachteil der deutschen Landwirte im internationalen Wettbewerb haben. Genau das wollen wir nicht.
({5})
Wir wollen, dass unsere tüchtigen Landwirte ihre Fähigkeiten entwickeln und voranbringen können. Ich sage
klipp und klar: Eine einvernehmliche Regelung mit
Herrn Trittin ist auf dem jetzigen Stand nicht mit uns zu
machen - Ende der Durchsage.
({6})
Ich kann für mich erklären: Ich werde mich keinen Deut
bewegen.
Wir könnten uns vorstellen, im Bereich der Milch
Nachbesserungen zu erreichen. Ich sage allerdings auch:
Ich könnte mir eine Linie der Vernunft, der Mitte, die
sich möglicherweise zwischen 2007 und 2013 einpendelt
- man könnte die beiden Zahlen auch zusammenzählen
und durch zwei teilen -, als eine gute Lösung vorstellen.
Es macht keinen Sinn, der Holzhammermethode von
Rot-Grün zu folgen. Es macht aus meiner Sicht aber
auch keinen Sinn, der Linie zu folgen, die die CDU/CSU
in besonderer Weise vorträgt, nämlich erst 2013 den
Gleitflug einzuleiten. Wir halten das nicht für vernünftig, um die deutsche Landwirtschaft im internationalen
Wettbewerb zu stärken.
({7})
- Kollege Carstensen, mir sind die besonderen Probleme
der Milchwirtschaft bestens bekannt. Wie Sie wissen,
komme ich aus einer Region, in der es relativ viele
Milchbauern gibt. Ich war gestern bei einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe von Bautzen, dessen
landwirtschaftliche Fläche nebenbei bemerkt 8 400 Hektar groß ist. Dieser wird durch die auf verschiedenen
Ebenen auf den Weg gebrachte Milchregelung ganz eindeutig leiden; das ist überhaupt keine Frage.
Ich denke aber auch: Wenn wir das Jahr 2010 im
Auge behalten und dafür sorgen, möglichst schnell zu einer gut ausgestatteten Grünlandprämie zu kommen,
dann werden wir diese Probleme auffangen können.
({8})
- Lieber Kollege Carstensen, ich orientiere mich im Hinterkopf manchmal durchaus auch an den Beschlüssen
der CDU/CSU und erinnere nur an Husum. In diesem
Sinne wünsche ich uns eine Lösung der Probleme, die
für die Landwirtschaft anstehen.
Ich bin sehr entschieden der Auffassung: Wenn wir
zusammenarbeiten, werden wir für den ländlichen Raum
und für die Landwirtschaft viel erhalten können. In diesem Sinne sehen wir uns morgen früh um 9 Uhr wieder,
um dann diese Arbeit anzugehen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Jella Teuchner, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich darf
mich zunächst bei Albert Deß dafür bedanken, dass wir
trotz unterschiedlicher Auffassung in der Sache immer
offen, fair und ehrlich im Ausschuss miteinander gekämpft haben und gut miteinander ausgekommen sind.
Lieber Albert, von daher wünsche ich dir für die Zukunft
alles Gute. Wir kommen ja beide aus Ostbayern: Ich bin
gespannt, wie du versuchen wirst, die Brüsseler Beschlüsse oder Richtlinien in der Öffentlichkeit darzustellen, und welche Diskussion wir dann führen werden,
wenn wir uns zukünftig irgendwo in Ostbayern treffen
werden. Auf diese Diskussionen freue ich mich schon.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist ganz klar,
dass die Landwirte in Deutschland gute Lebensmittel
produzieren.
({1})
Das 2003 veröffentlichte Ergebnis des Lebensmittelmonitorings für das Jahr 2001 hat gezeigt, dass der weit
überwiegende Teil der Lebensmittel keine oder nur sehr
geringe Spuren von unerwünschten Stoffen enthält.
Überschreitungen der Höchstwerte wurden lediglich in
2,2 Prozent der Proben gefunden. Dieses Ergebnis
spricht für die Qualität der Lebensmittel, die unsere
Landwirte produzieren.
({2})
Dieses Ergebnis spricht aber auch dafür, dass wir mit
unserer Politik für sichere Lebensmittel auf dem richtigen Weg sind und auf diesem richtigen Weg fortfahren
müssen. Die Landwirte produzieren nicht nur gute Lebensmittel, sie erbringen auch wichtige Leistungen für
die Allgemeinheit. Gleichzeitig stellen die Verbraucherinnen und Verbraucher hohe Erwartungen sowohl an die
Produktqualität als auch an den Herstellungsprozess.
Diese Leistungen werden am Markt jedoch leider nicht
honoriert. Im Gegenteil: Der Agrarbericht zeigt deutlich,
dass es neben der Witterung gerade die schwachen
Märkte waren, die den Landwirten die Bilanz verhagelt
haben.Wir aber wollen, dass die Landwirte den Anforderungen auch in Zukunft gerecht werden können. Das
heißt, wir müssen die Agrarförderung fortsetzen und auf
eine zukunftsfähige Basis stellen. Mit der EU-Agrarreform und der nationalen Umsetzung erreichen wir dies
bestimmt.
In der letzten Woche haben viele Landwirte gegen die
niedrigen Milchpreise protestiert. Die Schuldigen waren
schnell ausgemacht: Der Lebensmittelhandel, insbesondere die Discounter, verschleudern die Milch als Lockvogelangebot. Es ist richtig: Unter Einstandspreis dürfen
Lebensmittel nicht verkauft werden. Das Problem ist
aber, dass wir zu viel Milch haben. Erst ein Überangebot
an Milch schafft die Voraussetzungen für diesen Preiswettbewerb auf dem Rücken der Bauern. Hier müssen
wir ansetzen und den Bauern die Möglichkeit geben, auf
Marktentwicklungen zu reagieren.
Wir brauchen eine Agrarpolitik, die nicht mehr die
Produktion von Überschüssen fördert; denn eine solche
Agrarförderung wird nicht mehr akzeptiert. Darüber hinaus sollen sich die Landwirte am Markt und nicht an
der Förderung ausrichten. Förderung gibt es dafür, dass
die Landwirte Leistungen erbringen, die uns allen wichtig sind, die aber am Markt nicht honoriert werden. Deswegen ist es richtig, die Prämien von der Produktion zu
entkoppeln. Es ist auch richtig, sie an die Einhaltung der
Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit und zum Tierund Umweltschutz zu binden.
Auf fast 30 Prozent der landwirtschaftlich genutzten
Fläche wurden 2001 Agrarumweltmaßnahmen gefördert. Die Tendenz ist steigend. Der Flächenanteil des
ökologischen Landbaus ist im Jahre 2002 auf
4,1 Prozent angestiegen. Dies zeigt, dass der Einsatz für
eine besonders umweltfreundliche Landbewirtschaftung
auch bei den Landwirten eine hohe Akzeptanz genießt.
Wir wollen aber auch hier noch besser werden. Wir setzen das Bundesprogramm „Ökologischer Landbau“ fort,
weil die Ökobetriebe die Betriebe sind, die im
Wirtschaftsjahr 2002 und 2003 am besten abgeschnitten
haben. Der ökologische Landbau kann für noch mehr
Landwirte auch eine ökonomische Chance sein. Diese
werden wir ihnen geben.
({3})
Die Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau
sind seit der Einführung des Biosiegels aus keinem Supermarkt mehr wegzudenken. Es war also richtig, ein gemeinsames Siegel einzuführen, das auch vom Einzelhandel akzeptiert wird. Es zeigt sich, dass sich über
besondere Qualität - auch über die Prozessqualität - am
Markt durchaus höhere Preise durchsetzen lassen. Es ist
allerdings wichtig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität der Produkte nachvollziehen können. Dazu gehört eine verständliche und verlässliche
Kennzeichnung. Dazu gehört aber auch eine Ernährungsberatung, die verloren gegangenes Wissen um Ernährung und Lebensmittel wieder aufbaut. Dazu gehört
außerdem eine offene Kommunikation zwischen Herstellern und Kunden. Wir wollen deshalb weiterhin ein
Verbraucherinformationsgesetz, weil nur Vertrauen in
die Qualität höhere Preise ermöglichen kann.
Die Landwirte sollen ihre Produktion am Markt ausrichten; das ist heute schon mehrfach angesprochen worden. Dazu bedarf es zum einen einer Agrarpolitik, die
nicht die möglichst hohe Produktion von bestimmten
Produkten fördert, zum anderen Verbraucher, die auf Basis verlässlicher Informationen die Qualität honorieren.
Beides ist meiner Meinung nach möglich. Es bedarf einer Agrarpolitik, die die Qualität stärkt und das Vertrauen in die Landwirtschaft sicherstellt. Die EU-Agrarreform hat die richtigen Weichen gestellt. Es liegt also
an uns, die darin liegenden Chancen zu nutzen.
Gerade die Union hat schon bei der Agenda 2000 den
Untergang der deutschen Landwirtschaft heraufbeschworen. Leider machen Sie dies jetzt wieder. Ihre Vorschläge sind leider inhaltlich nicht so ausgestaltet, dass
sie verwertet werden können. Sie versuchen lediglich, zu
blockieren und nach Möglichkeit wenig zu ändern, obwohl Sie wissen, dass die derzeitige Agrarpolitik vom
Steuerzahler infrage gestellt wird und in der WTO nicht
mehr lange durchsetzbar bleibt.
Helfen Sie mit, die Chancen der Agrarreform zu nutzen! Hören Sie auf, weiterhin zu blockieren! Viele Landwirte haben schon erkannt, dass eine Fortsetzung der
bisherigen Agrarpolitik nicht funktionieren kann. Ich
hoffe, Sie zeigen sich hier einmal etwas lernfähiger.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin
Gitta Connemann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1996 gab
es in meinem Heimatkreis noch annähernd 2 700 landwirtschaftliche Betriebe. Inzwischen hat davon mehr als
ein Drittel aufgegeben. Wir liegen damit im traurigen
Trend des Betriebssterbens. Davon sind Bauernfamilien, Arbeitnehmer, Dörfer und Kulturlandschaften betroffen. Höfe verfallen, Flächen liegen brach und die
Talfahrt geht weiter. In den kommenden Jahren werden
etwa weitere 40 Prozent der noch verbliebenen Betriebe
aufgeben. Jede Betriebsaufgabe ist ein Schicksalsschlag;
denn Bauer und Landwirt zu sein ist nicht Beruf, sondern Berufung. Aber vielen bleibt nur dieser Ausweg;
denn sie stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand.
({0})
Die deutschen Bauernfamilien haben damit gelebt,
ideologisch geächtet zu werden, aber sie können nicht
mehr mit einem Einkommen leben, das sich seit Jahren
im freien Fall befindet, und zwar ohne Aussicht auf Besserung, ganz im Gegenteil - so der Agrarbericht der
Bundesregierung.
({1})
Bei der Vorlage dieses Berichts hat die Ministerin von
dramatischen Zahlen gesprochen, eine aus meiner Sicht
noch geschönte Bezeichnung für den erneuten Einbruch.
Frau Kollegin Teuchner, wir reden die Landwirtschaft
nicht kaputt, es geht ihr einfach hundsmiserabel
schlecht.
({2})
Ein Landwirt erzielt zurzeit für seine Arbeitskraft
durchschnittlich nur noch 1 540 Euro brutto, 1 540 Euro
für Lebensunterhalt, soziale Sicherung, für Verzinsung
des Eigenkapitals und notwendige Zukunftsinvestitionen. Damit verdient er als Betriebsinhaber ein Drittel
weniger als jeder gewerbliche Arbeiter, und das mit weiter sinkender Tendenz. Ich bin mir sicher, dass eine solche Einkommensentwicklung in allen anderen Wirtschaftsbereichen zu einem Massenaufschrei in dieser
Republik geführt hätte.
({3})
Und hier? Ein großes Schweigen. Dabei muss gerade die
Bundesregierung handeln, wenn schon nicht aus Verantwortung für die deutsche Landwirtschaft, dann aber bitte
schön infolge eines gesetzlichen Auftrages.
Nach § 1 Landwirtschaftsgesetz ist die Bundesregierung nämlich verpflichtet, durch politische Maßnahmen
eine Teilnahme der Landwirtschaft an der allgemeinen
Einkommensentwicklung sicherzustellen.
({4})
Dieses Ziel ist bei mehr als 80 Prozent der Betriebe verfehlt, und zwar deutlich. Damit ist die Bundesregierung
verpflichtet, politisch zu helfen, und sie könnte einiges
tun.
({5})
Sicher trägt sie keine Verantwortung für Ernteausfälle,
aber ihre Politik hat zu einem Anstieg der Produktionskosten geführt, der in Europa einmalig ist, Frau Kollegin
Höfken. Dies zeigt sich schon am Beispiel Agrardiesel.
Die Steuerbelastung deutscher Landwirte ist um ein
Vielfaches höher als die ihrer europäischen Nachbarn, in
der Spitze 25-mal so hoch. Nationale Alleingänge wie
zum Beispiel im Bereich von Immissionsschutz und
Umweltverträglichkeitsprüfung führen zu weiteren
Wettbewerbsnachteilen. So gelten kleinste Betriebe in
Deutschland als Betriebe im Sinne des Bundes-Immissions-Schutzgesetzes. Ein Landwirt, der seinen Betrieb
erweitern will, hat sich damit Anforderungen zu stellen,
als plane er den Bau eines Chemiewerks.
({6})
Diese Liste ließe sich fortführen. Ich nenne hier nur
praxisfremde Regelungen wie die Bestandsbuchverordnung oder die Viehverkehrsverordnung. Dies alles kostet
nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Geld, das den
Bauern fehlt, was sie im europäischen Wettbewerb zurückwirft. Vor diesem Hintergrund ist es ein Schlag ins
Gesicht, wenn die Ministerin erklärt, dass sich die deutschen Bauern mehr am Markt orientieren müssen.
({7})
Wie denn, bitte schön? Leider droht aber nach dem
Agrarbericht noch mehr Gängelung seitens der Bundesregierung. Da erscheinen die Pläne zur Verbesserung der
Haltung von Mastkaninchen noch harmlos. Anders ist
dies schon bei dem geplanten Ackerbauverbot in Überschwemmungsgebieten. Auf einen Streich würden circa
900 000 Hektar kalt enteignet.
Der nun vorliegende Entwurf zur Novelle der Düngeverordnung ist an Regelungsdichte kaum zu überbieten.
Auf den Landwirt kommt damit ein noch nie gewesenes
Maß an Aufzeichnungspflichten zu. Verstöße gegen
diese Pflichten lösen nicht nur die Sanktionen nach der
Düngeverordnungen aus, im Rahmen der nationalen
Umsetzung von Cross Compliance würde dies auch zu
einer Kürzung der Prämie führen. Im Rahmen der nationalen Umsetzung von Cross Compliance würde dies
auch zu einer Kürzung der Prämien führen. Eine solche
Mehrfachbestrafung ist in allen anderen Bereichen undenkbar, aber in der Landwirtschaft ist sie wie immer
möglich.
({8})
Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist mir
unbegreiflich, warum Sie immer weiter draufsatteln
müssen und damit unseren Betrieben schaden. Ändern
Sie Ihre Politik und machen Sie damit die deutsche
Landwirtschaft wettbewerbsfähig! Dann kann sie auch
in Konkurrenz zu unseren neuen Nachbarn treten. Denn
von dieser Seite wird der Wettbewerb deutlich zunehmen. Unsere Agrarexporte in die neuen Beitrittsländer
sinken, während die Importe aus diesen Ländern in 2003
um 15 Prozent gestiegen sind.
In dem härter werdenden Wettbewerb sind den Beitrittsländern zahlreiche Ausnahmeregelungen eingeräumt worden. Das ist bedenklich. Jedes fünfte Ei, das
zurzeit in Tschechien produziert wird, stammt aus Betrieben, die den EU-Standards im Tierschutz nicht genügen.
({9})
Dem hat die Ministerin zugestimmt. Voraussetzung für
einen fairen Wettbewerb sind aber gleiche Standards für
Hygiene, Umwelt und Tierschutz. Es gibt also viel zu
tun. Ohne entsprechende Maßnahmen sind unsere Bauern hilflos.
Die Ministerin hat vor kurzem gesagt, dass sie unsere
bäuerlichen Betriebe wieder in die Mitte der Gesellschaft holen will. Dies wollen und können unsere Betriebe selbst schaffen. Aber dann geben Sie ihnen bitte
auch die Chance dazu. Das setzt eine Änderung Ihrer Politik voraus. Es geht nicht darum, zu verordnen, sondern
zu gestalten, und zwar gemeinsam.
({10})
Lassen Sie uns doch einen Agrarvertrag mit und zugunsten der Landwirtschaft und damit auch zugunsten
unseres Landes abschließen! Denn die Landwirtschaft
betrifft in existenzieller Weise die langfristige Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger. Lassen Sie uns
unseren Bauern wieder eine Perspektive geben! Wir von
der CDU/CSU sind dazu bereit.
Vielen Dank.
({11})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als unlängst der chinesische Ministerpräsident Deutschland
besuchte, reiste er zunächst nach Bayern. Im Bild war
ein stolz wie ein Honigkuchenpferd grinsender bayerischer Ministerpräsident zu sehen,
({0})
der mit dem chinesischen Besucher einen Bauernhof besucht und dort eine Biogasanlage des Herrn Pellmeyer
besichtigt hat. Diese Biogasanlage ist vorbildlich und
Herr Pellmeyer ist uns allen als einer der Vorkämpfer für
das Erneuerbare-Energien-Gesetz gut bekannt.
Ich weiß auch, warum Sie sich so aufregen. Dieses
Gesetz, das vielen Landwirten in Deutschland ein zusätzliches Einkommen bringen und dafür sorgen soll,
dass mit dem entsprechenden Know-how der Landwirtschaft die neuen Energieträger CO2-neutral mobilisiert
werden, wird von der Union im Bundesrat in schamloser
Weise blockiert.
({1})
Herr Staatssekretär, darf Ihnen der Kollege
Carstensen eine Zwischenfrage stellen?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, habe ich damals in dem „Spiegel“-Bericht richtig gelesen, dass es auch in Amerika
Leute gab, die wie Honigkuchenpferde grinsten, als Sie
dort die dicken Kinder besichtigt haben?
({0})
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Wir kennen Peter Harry Carstensen. Weil er angegriffen wurde, versucht er jetzt, unter die Gürtellinie zu zielen. Lenken wir aber nicht von dem entscheidenden
Punkt ab, lieber Herr Kollege, dass Sie eine wesentliche
neue Einkommensquelle für die Landwirte in Deutschland blockieren. Der Kollege Deß muss sich künftig
nicht mehr auf seine Hände setzen; denn er trägt - das
wissen wir aus privaten Gesprächen - eine solche Reform durchaus mit.
({1})
Lassen Sie mich eines festhalten: Frau Bundesministerin Künast wird in der nächsten Sitzungswoche eine
Regierungserklärung zum Thema Kinder und Ernährung
abgeben. Es handelt sich dabei um ein ernst zu nehmendes Problem.
({2})
Wenn immer mehr 11-jährige, 12-jährige oder 13-jährige
Kinder an Altersdiabetes erkranken, dann ist es dieses
Thema wert, dass sich die Bundesregierung damit beschäftigt.
({3})
Wenn der gute Herr Kollege Carstensen meint, er müsse
sich in dieser, wie ich finde, unflätigen Weise über entsprechende Berichte aufregen, dann soll er das machen.
Aber ein solcher Stil lässt uns sicherlich nicht zu Freunden werden.
({4})
Zurück zum Agrarbericht. Im vergangenen Jahr
machte sich ein weiterer Vorbote der Klimaveränderung
bemerkbar. Es war ein Jahr absoluter Trockenheit. Gerade die Landwirtschaft ist von den Witterungsbedingungen abhängig. Die extreme Trockenheit hat die Ernte
in vielen Regionen verdorren lassen und zu erheblichen
Einnahmeausfällen geführt.
Frau Connemann hat angegeben, dass die Einkommen
der Landwirte kontinuierlich gesunken seien. Sie wissen es besser, werte Kollegin. 2001/2002 sind die Einkommen der Landwirte erheblich gewachsen.
({5})
- Stimmt, auf niedrigstem Niveau. Allerdings waren Sie
da noch an der Regierung.
({6})
Deshalb sollten Sie lieber ganz still sein.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes
hinweisen: Wenn wir über Durchschnittszahlen reden,
dann müssen wir auch bedenken, dass die Einkommen in
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
der Landwirtschaft höchst ungleich verteilt sind. Einigen
landwirtschaftlichen Betrieben geht es noch schlechter,
als es die Durchschnittszahlen zum Ausdruck bringen,
während andere Betriebe relativ gut dastehen. Hier geht
es darum, mit der Reform der Agrarpolitik allen Landwirten eine Chance zu geben und Ungerechtigkeiten bei
der Verteilung von Agrarsubventionen zu nivellieren.
Aber auch diese Reform blockieren Sie im Bundesrat.
({7})
Wir werden der Landwirtschaft künftig Bedingungen
schaffen, die sie marktnäher produzieren lässt. Es wird
keine Silomaisprämien mehr geben, die dazu führen,
dass die Bauern in bestimmten Regionen Mais anbauen,
obwohl der Boden den Anbau von anderen Pflanzen besser zuließe. Wir werden die Landwirte von vielen Bevormundungen im Zusammenhang mit der Subventionierung erlösen und ihnen mehr Freiheit geben. Das
unterstützt die FDP ebenso wie die Regierungsfraktionen. Das wird übrigens auch - das ist spannend - von
einer Mehrheit der Länder mitgetragen.
Auffällig ist: Während hier ein Zerrbild der Landwirtschaft gezeichnet wird - man behauptet, dass alles den
Bach hinuntergehe -, trägt die Mehrheit der Länder im
Bundesrat regelmäßig die Beschlüsse des Deutschen
Bundestages mit. Ich erinnere nur daran, dass wir uns im
Dezember letzten Jahres auf eine Stärkung der ländlichen Räume verständigen und neue Fördergrundsätze
bei der Gemeinschaftsaufgabe verabschieden konnten.
Besonders leise sind Sie, wenn die unionsgeführten Bundesländer die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ fordern. Wenn diese abgeschafft wird, dann wird
gerade das Einkommen der Kleinbauern ganz massiv
den Bach hinuntergehen. Auch hier wünsche ich mir von
Ihnen mehr Mut.
({8})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. In
der ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform der Marktordnung in den Bereichen Hopfen,
Tabak und Oliven hat Herr Weisheit zum letzten Mal
hier geredet. Wir haben auf dem Weg zu seiner Beerdigung mitbekommen, dass Matthias Weisheit in einer
Hopfenregion lebt. Alle haben gesagt, dass er jemand
gewesen ist, der sich intensiv mit den Landwirten auseinander gesetzt hat und dem die Familienbetriebe besonders am Herzen gelegen haben. Darin sind wir uns
alle sicherlich einig. In seiner letzten Rede, die er in diesem Hause gehalten hat, hat er gesagt, dass unsere Reform von den Bauern in seiner Region mitgetragen
werde und dass sie ihnen eine Perspektive gebe. Die Reform ist also gar nicht so schlecht, wie hier immer getan
wird. Im Gegenteil: Sie gibt den Bauern eine langfristige
Perspektive. Ich bin stolz darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Mehrheit in Europa für die Abschaffung der Tabaksubventionen gewinnen konnte und
dass wir künftig auf sozialverträgliche Art und Weise die
ländlichen Räume unterstützen, statt den Anbau von Tabak zu fördern, dessen Konsum zu erheblichen Gesundheitsgefährdungen führt.
({9})
Die Güte unserer Agrarpolitik wird nicht durch die
Miesmacherei der CDU/CSU beeinträchtigt, sondern
durch die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat getragenen Beschlüsse und die Mehrheitsbeschlüsse, die
wir auf europäischer Ebene durchsetzen, unter Beweis
gestellt. Auch der Deutsche Bauernverband gibt gegenüber den Landesbauernverbänden immer mehr zu, dass
die Reform kommen wird. Die einzigen ewig gestrigen
Blockierer sitzen hier und werden demnächst teilweise
auch im Europaparlament vertreten sein.
Ich danke Ihnen herzlich.
({10})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Berninger, Ihr Vorwurf, die
CDU/CSU und die Liberalen blockierten die gemeinsame Reform der Agrarpolitik, geht völlig am Thema
vorbei.
({0})
Sie haben einen engen Zeitplan vorgegeben. Wir und die
Bundesländer sind bereit, die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss unter Einhaltung dieses Zeitplans
zum Erfolg zu führen und eine gemeinsame Agrarreform
zu beschließen und durchzusetzen. Natürlich machen
solche Äußerungen wie diejenigen, die Sie eben gemacht haben, die Sache nicht leichter. Aber wir stehen
natürlich dazu, dass man eine Reform, die man begonnen hat, auch zu Ende bringen muss. Bitte werfen Sie
uns nicht vor, dass wir nicht bereit sind, Verantwortung
für die deutsche Landwirtschaft zu übernehmen. Wir tun
das, auch wenn es uns bei Ihren Vorgaben manchmal
schwer fällt.
Bei vielen Gesetzen von Rot-Grün haben wir immer
wieder das Problem, dass nur die Überschrift gut ist,
aber nicht der Inhalt. Ich mag den Agrarbericht, denn er
enthält Zahlen und an denen kann man sich nicht so einfach vorbeimogeln. Wenn der Haushalt die in Zahlen gegossene Politik einer Regierung darstellt, dann ist der
Agrarbericht der Bundesregierung eine Art Zwischenprüfung. Wenn man den vorliegenden Bericht von seinen
lyrischen Elementen befreit, dann stellt man fest, dass
der Inhalt wenig schmeichelhaft ist. Das Positive steht
nur im Text und lässt sich zahlenmäßig nicht nachweisen.
({1})
Die Kollegin Connemann hat schon darauf hingewiesen, dass der Gewinn pro Arbeitskraft in den letzten Jahren immer weiter gesunken ist. Das durchschnittliche
Einkommen der Betriebe beträgt zurzeit ungefähr
20 000 Euro im Jahr. Das entspricht 1 667 Euro im Monat. Diese Rechnung kann man natürlich fortführen:
Zieht man diesem Bruttowert noch die Sozialkosten ab,
dann kommt man auf einen Nettowert von circa
1 200 Euro im Monat. Irgendwann landen wir bei einem
Nettolohn von 5 Euro pro Stunde.
Diese Zahl sagt manchen nicht viel. Allerdings fragen
mich viele Landwirte: Braucht man bei solch einem Einkommensniveau überhaupt noch einen Minister? 5 Euro
pro Stunde: Sieht so eine erfolgreiche Agrarwende aus?
Das nächste Beispiel ist die so genannte Vergleichsrechnung im Agrarbericht. Ich finde in jedem Agrarbericht den Abschnitt „Vergleichsrechnung nach § 4 Landwirtschaftsgesetz“ ziemlich interessant. Manche mögen
schon vergessen haben: Nach § 4 des Landwirtschaftsgesetzes ist ein Vergleich der Einkommenssituation mit anderen Wirtschaftszweigen vorzunehmen. Die Ergebnisse
sind zahlenmäßig so vernichtend, dass die Bundesregierung einfach feststellt - ich zitiere aus Seite 33 dieses
Berichts -:
Die Vergleichsrechnung nach dem LwG ist heute
kaum noch aussagefähig. Gewerbliche Arbeitnehmer- und Tarifgruppen, die mit landwirtschaftlichen
Unternehmen uneingeschränkt vergleichbar sind,
gibt es nicht.
({2})
Das ist also eine Problemlösung à la Rot-Grün: Wenn
das Ergebnis zahlenmäßig nicht stimmt, dann wird es
einfach wegredigiert.
({3})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der Tat
arbeiten viele Landwirte de facto unter Mindestlohn.
Nur noch 17 Prozent der Betriebe erreichen eine den
Vergleichsansätzen entsprechende Faktorenentlohnung.
Noch ein drittes Beispiel. Abstand verhilft manchmal
zu neuem Weitblick. Auf Seite 41 dieses Berichts steht das erscheint mir sehr hilfreich -:
Als makroökonomischer Indikator für die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft der EUMitgliedstaaten wird u. a. die Nettowertschöpfung
je Arbeitskraft verwendet.
Aus diesem Zahlenmaterial gehen zwei interessante Tatsachen hervor. Erstens. Deutschland nimmt Platz neun in
der Europäischen Union der 15 ein, das heißt, wie mittlerweile überall, hinteres Mittelfeld. Man könnte bezogen
auf Ihre Agrarpolitik auch sagen: Die Drei ist die Eins des
kleinen Mannes. Zweitens. Deutschland ist im Jahr 2003
in der Landwirtschaft bei der Nettowertschöpfung von
1995 angelangt. Meine Damen und Herren von RotGrün, das heißt doch schlicht und ergreifend: Ihre Agrarpolitik, Ihre „berühmte“ Agrarwende, hat die deutsche
Landwirtschaft in das Jahr 1995 zurückgebombt.
({4})
- Angesichts des Kampfes gegen die Bürokratie, gegen
die Verwaltungsvorschriften und gegen andere rot-grüne
Segnungen, den unsere Landwirte täglich bestehen müssen, kommt es manchmal zu kriegsähnlichen Erscheinungen.
({5})
Ich wiederhole: Gesetzeslyrik kann schön sein; aber
die Zahlen sprechen halt eine andere Sprache.
({6})
Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, sondern sie
stehen in Ihrem Agrarbericht. Fakt ist: Seit 1995 hat sich
für die deutschen Landwirte nichts bewegt.
({7})
Was ist zu tun? Erstens. Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, nehmen Sie sich eine kurze Auszeit und lesen
Sie sich nochmals Ihren eigenen Ernährungs- und Agrarbericht durch!
({8})
Zweitens. Fühlen Sie sich, zumal im Teilbereich Landwirtschaft, endlich als Wirtschaftsministerium, das in einer gemeinsamen europäischen Agrarpolitik agiert!
({9})
Drittens. Beseitigen Sie jegliche Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Europäischen Union!
({10})
Denn Wettbewerbsverzerrungen bringen den Landwirten
direkte Einkommenseinbußen.
Noch einfacher: Setzen Sie alle EU-Richtlinien eins
zu eins um
({11})
und verzichten Sie auf das deutsche Sahnehäubchen!
({12})
Schaffen Sie endlich Wettbewerbsgleichheit und lassen
Sie die Landwirte endlich etwas unternehmen: frei, anerkannt, ohne Wettbewerbsverzerrungen! Wenn es um die
deutsche Landwirtschaft und wenn es um die deutschen
Bäuerinnen und Bauern geht, werden wir Sie, wenn es
sein muss, unterstützen.
Schlussbemerkung: Wenn der agrarpolitische Bericht
eine politische Zwischenprüfung darstellt, dann sind Sie,
meine Damen und Herren von Rot-Grün, glatt durchgefallen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch das
Examen vermasseln. Der Termin der Abschlussprüfung
steht übrigens schon fest: die Bundestagswahl 2006.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämi-
endurchführungsgesetzes auf Drucksache 15/3046. Der
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/3223, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Mehr-
heit angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu er-
heben. - Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2457 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. - Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Für ein höheres Liberalisierungsniveau
beim Welthandel mit Dienstleistungen -
GATS-Verhandlungen zügig voranbringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Internationale Rechtssicherheit und trans-
parente Regeln für den Dienstleistungshan-
del - GATS-Verhandlungen voranbringen
- Drucksachen 15/1008, 15/1010, 15/3101 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von
Cancun konstruktiv und zügig voranbringen
- Drucksachen 15/1567, 15/3222 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Günter Nooke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren
- Drucksachen 15/1095, 15/1844 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat in seine
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3222 den Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1931 mit dem
Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen - Mehr
Entwicklung, Armutsbekämpfung und Wohlstand durch
Freihandel“ einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt
ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin SkarpelisSperk, die diese Debattenrunde für die SPD-Fraktion beginnen sollte, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Erich Fritz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte
heute gern auf Frau Skarpelis-Sperk geantwortet.
Cancun, die WTO-Ministerkonferenz, deren Scheitern allseits beklagt worden ist, liegt etwa ein halbes Jahr
zurück. Mittlerweile hat man den Eindruck: Es war vielleicht doch nicht nur ein Scheitern; es haben sich einige
neue Entwicklungen ergeben. Die Entwicklungsländer
sind organisationsfähig und artikulationsfähig geworden.
Der Zeitablauf hat dazu geführt, dass an vielen Stellen
ein Nachdenken über die Frage eingesetzt hat, ob man
die Tagesordnung in der Weise überfrachtet halten muss,
wie das der Fall war, ob es Dinge gibt, auf die man sich
konzentrieren kann, und ob man in den Bereichen, die
das Scheitern vor allem verursacht haben, zum Beispiel
im Agrarbereich, weiterkommen kann.
Jetzt stellen wir fest: Es kommt Bewegung in die
WTO-Verhandlungen. Nach der Enttäuschung sind jetzt
wieder ein Stück Aufbruch und der Wille, gemeinsam
weiterzukommen, zu spüren. Wirklich substanzielle
Fortschritte gibt es natürlich noch nicht, aber die Genfer
Verhandlungen haben gezeigt, dass an vielen Stellen
Beiträge geliefert werden. Die Europäer haben sich in
vielen Punkten bewegt und die USA haben deutlich signalisiert, dass sie zumindest an einer Fortsetzung der
multilateralen Verhandlungen interessiert sind und daran, dass man in Doha zum Erfolg kommt. Das war ja
nicht immer klar, gab es doch nach den Verhandlungen
in Cancun deutliche Anzeichen dafür, dass man den Weg
über bilaterale Verhandlungen einschlägt, weil dieser attraktiver zu sein schien. Tatsächlich gibt es Bemühungen
um weitere bilaterale Abkommen, nicht nur vonseiten
der USA mit südamerikanischen Staaten, sondern zum
Beispiel auch vonseiten Australiens mit südostasiatischen Staaten.
Zum aktuellen Optimismus hat insbesondere die EUInitiative vom 9. Mai beigetragen. Sie beinhaltet ein
deutliches Signal für den Abbau von Agrarexportsubventionen.
({0})
- Ja, aber die hätte das auch akzeptiert. Ich denke an eine
sehr interessante Anhörung, Frau Kollegin, die heute
Morgen von der CDU/CSU-Fraktion zu dieser Frage
durchgeführt wurde. Hier beschäftigte man sich auch mit
der fehlenden Kohärenz zwischen Entwicklungs- und
Agrarpolitik.
({1})
Es wurde ganz klar, dass diese ein Haupthindernis für
Fortschritte ist. Zugleich darf man nicht übersehen, dass
bei einem allgemeinen Abbau von Subventionen nicht
nur bei uns, sondern auch in manchen Entwicklungsländern neue Verwerfungen entstehen. Deshalb muss man
natürlich sehr sorgfältig mit solchen Forderungen umgehen.
({2})
Die Singapur-Themen haben sich als ein Hindernis
für Fortschritte herausgestellt. Mittlerweile sind die Europäer zu der Überzeugung gekommen, dass man die
Singapur-Themen auf Handelserleichterungen und Reform der Zollverfahren reduzieren kann. Das ist gut so,
denn die Hoffnung der Europäer, man könne sich für
Kompromisse bei den ursprünglichen Themen ein substanzielles Entgegenkommen anderer Staaten einhandeln, hat sich als Illusion erwiesen. In Wirklichkeit geht
es also in den übrig gebliebenen Punkten nicht mehr um
Kompensationsgeschäfte, sondern darum, welche Vorbedingungen für eine sich organisierende Dritte Welt, die
man wahrnehmen und ernst nehmen muss, erfüllt werden können. Hier müssen Lösungen gefunden werden.
Bei den GATS-Verhandlungen in Genf hat sich in der
Zwischenzeit nichts bewegt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn alle wissen, dass die Bereitschaft vieler
Länder, sich in den anderen in Doha vereinbarten Bereichen zu bewegen, ausschließlich davon abhängt, ob sich
bei den entscheidenden Fragen wie Agrarsubventionen
und Marktzugang vorher etwas tut. Da bestehen gute
Chancen. Immerhin hat Herr Zoellick angekündigt, dass
auch die Vereinigten Staaten über die Frage der Subventionen, der Lebensmittelhilfe und der damit verbundenen
Stützung der eigenen Märkte sprechen werden.
Ob sich in den USA im Wahljahr etwas bewegen
lässt, werden wir sehen.
({3})
Es gibt immerhin Signale, dass es so viel Entgegenkommen gibt, dass im Juli in Genf der Prozess weitergeht
und im nächsten Jahr, wenn die Kommission neu bestellt
ist und die USA gewählt haben, die Verhandlungen erfolgreich vorangebracht werden können und auf einer
der nächsten Ministerkonferenzen ein, wenn auch abgespecktes, Ergebnis vorliegen wird. Durch weiteren Abbau von Zöllen und weitere Liberalisierung rücken dann
die Wohlfahrtsgewinne, die wir uns alle aus diesen Verhandlungen erhoffen, in greifbare Nähe.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
in letzter Zeit den Abgeordneten regelmäßige Berichte
über den Stand der Verhandlungen zukommen lassen.
Dafür bedanken wir uns ausdrücklich. Wir sind allerdings der Meinung, dass das das Mindeste ist, was sie
tun kann. Wir würden uns darüber freuen, wenn die früher geübte Praxis regelmäßiger Konsultationen der Regierung mit den Parlamentsberichterstattern wieder aufgenommen würde. Eines ist ganz klar: Es ist unsere
Aufgabe, über die bestehenden Netzwerke dazu beizutragen, dass ein positives Klima für die weiteren Gespräche entsteht. Das können Sie nicht alleine. Deshalb tun
Sie bitte diesen Schritt, auch wenn er ein wenig Arbeit
bereitet.
Es gibt also keinen Grund zum Pessimismus. Vielmehr gibt es Ansatzpunkte für einen neuen Optimismus.
Wir hoffen auch im Sinne der Entwicklung unserer Wirtschaft, dass die nächsten Verhandlungen erfolgreich sein
werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Präsidium bedankt sich für die punktgenaue Einhaltung der Redezeit.
({5})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Gudrun Kopp für
die FDP-Fraktion.
({6})
Das kann gar nicht falsch sein.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist auch in diesem Haus noch notwendig, darauf
hinzuweisen, dass Marktöffnung und Liberalisierung des
Welthandels zu mehr Wohlstand, mehr Bildung, mehr
Gesundheitsvorsorge und insgesamt besseren Lebensverhältnissen weltweit führen.
({1})
Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Globalisierung
birgt, bei aller Skepsis und bei allen negativen Seiten,
aus Sicht der Liberalen eindeutig mehr Chancen als Risiken. Wir sollten diese Chancen unbedingt nutzen.
Der Kollege Fritz sprach eben davon, dass wir seit der
Doha-Konferenz im vergangenen September in Cancun
nicht sehr viel weitergekommen seien. Trotzdem bezeichnen Sie die Entwicklung als positiv. Ich denke, dass
im Augenblick auf allen zu beratenden Themenfeldern
die Politik der kleinen Schritte angesagt ist. Das ist auch
gut so. Wir kommen voran, wenn auch nicht mit der großen Agenda, die wir uns vorgenommen haben. Sei’s
drum, es wird vorangehen. Ich glaube allerdings nicht,
dass es vor den Wahlen in den USA zu irgendwelchen
Ergebnissen kommen wird; so lange werden wir leider
abwarten müssen.
Wir haben auf der Tagesordnung unter anderem den
Welthandel mit Dienstleistungen, die so genannten
GATS-Verhandlungen. Wenn man sich einmal anschaut,
um welche Daten und Fakten es dabei geht, kann man
erkennen, wie wichtig der gesamte Bereich ist. Gemäß
der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bank standen
im Jahr 2002 den Erlösen aus dem Dienstleistungsexport in
Höhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleistungsimporte in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber.
Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände im
Ausland entfallen auf die Dienstleistungsbereiche. 1,6 Millionen Mitarbeiter erwirtschaften in 21 000 Dienstleistungsniederlassungen deutscher Unternehmen einen Umsatz von
640 Milliarden Euro im Jahr. Es geht also um eine riesengroße Branche, die es zu liberalisieren gilt.
Nun geht es uns Liberalen - ich glaube, da sind wir
uns in diesem Haus auch einig - darum, dass für mehr
internationale Rechtssicherheit, Transparenz und fairere
Chancen für die Entwicklungsländer gesorgt wird. Dabei
ist es absolut notwendig, die Parlamente enger einzubinden.
({2})
Dies ist unabdingbar. Aber ich weiß auch, dass gerade
beim Thema Dienstleistungen in diesem Haus, insbesondere bei Rot-Grün, Vorbehalte und Ängste bestehen und
die Tendenz, bestimmte Bereiche immer weiter abzuschotten. Deswegen verweise ich noch einmal darauf,
dass die Verpflichtungen in den GATS-Abkommen nur
auf bereits privatisierte, unstreitige Dienstleistungen zielen. Darüber ist zu verhandeln. Es geht nicht darum, in
hoheitliche Aufgaben einzugreifen, und auch nicht um
Eingriffe ins Einreise- oder Arbeitsgenehmigungsrecht
oder gar ins Tarifrecht. Ich betone ausdrücklich, dass es
um eine notwendige Öffnung in bestimmten Bereichen
geht, und zwar unter Wahrung der hoheitlichen Kompetenzen, und nicht darum,
Frau Kollegin!
- Dienstleistungsbereiche quasi einem ungehinderten
Austausch zu öffnen.
({0})
Ich wünsche mir, dass die Anträge der FDP-Bundestagsfraktion von diesem Haus positiv beschieden werden
und dass die Doha-Runde recht bald erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Michaele Hustedt
für Bündnis 90/Die Grünen, die ich um Nachsicht dafür
bitte, dass sie nicht schon vorher das Wort bekommen
hat. Das kann hoffentlich durch einen leichten Zuschlag
bei der Redezeit kompensiert werden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
sind besorgt über das Scheitern von Cancun und wünschen uns natürlich einen Neuanfang für die Welthandelskonferenz. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative für ein multilaterales System. Wir als Exportnation
Nummer eins haben ein Interesse daran, nicht nur bilaterale und regional gültige Verträge abzuschließen, die
dazu führen würden, dass unsere Handelsbeziehungen,
wie man so schön sagt, einem Teller Spaghetti gleichen.
Aber auch die Entwicklungsländer haben in einem multilateralen System bessere Chancen, ihre Interessen
durchzusetzen, als im Falle von bilateralen Verträgen.
Nicht zuletzt gilt: Multilaterale Verhandlungen sind
transparenter und damit demokratischer als bilaterale
Verträge. Deswegen wünschen auch wir, dass der Faden
von Cancun wieder aufgenommen wird und dass es eine
Fortsetzung der Welthandelskonferenz gibt.
Man muss fragen: Woran ist Cancun gescheitert? Was
war das Problem? Meine Einschätzung ist - da gehe ich
mit Ihnen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, einigermaßen konform -, dass die Entwicklungsländer nicht
mehr die armen Länder sind, die nur „Bitte, bitte“ sagen.
Das Kräfteverhältnis hat sich ein Stück verschoben. Die
Entwicklungsländer besitzen einen Anteil am Welthandel von 30 Prozent. Deswegen wollen sie mitreden und
durchsetzen, dass diese Runde, wie versprochen, zu einem echten Benefit für sie wird.
({0})
Mit Blick auf die vorliegenden Anträge muss ich auf
drei Fehler aufmerksam machen, die gemacht wurden.
Die FDP spricht in ihrem Antrag davon, dass auch nach
dem Scheitern von Cancun die Singapur-Themen ganz
oben stehen sollen und dass eine Diskussion darüber mit
Vehemenz eingefordert werden soll. Diese Haltung wird
aber von mehr als 100 Staaten nicht akzeptiert, was eine
der Ursachen für das Scheitern von Cancun war. Dass
man auf der einen Seite sagt, man wünsche sich, dass die
WTO-Verhandlungen wieder in Gang kommen, und auf
der anderen Seite davon spricht, die Singapur-Themen
dürften nicht aufgegeben werden, ist nach meiner Ansicht ein Fehler.
Hinzu kommt, dass die FDP in ihrem Antrag wieder
einmal viel zu schematisch argumentiert - das gilt auch
für Ihre Rede, Frau Kopp -, dass eine Öffnung der
Märkte immer positiv ist. Inzwischen sind wir in der
weltweiten Debatte viel weiter. Selbst die Weltbank und
der IWF räumen ein, dass es die asiatischen Tigerstaaten
richtig gemacht haben. Teilweise haben sie ihre Märkte
geöffnet und teilweise haben sie sie unter Beachtung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen geschützt. Der
richtige Weg ist die schrittweise Öffnung zum Weltmarkt
und nicht der Weg, den Sie vorschlagen und der früher
Argentinien aufgedrängt wurde. Für Argentinien führte
dieser Weg ins Verderben.
Noch eine Bemerkung zum Antrag der CDU/CSU.
Herr Fritz, ich freue mich, dass Sie Gespräche mit Ihren
Kollegen aus dem Agrarausschuss führen. Das ist allemal nötig. Im Ausschuss haben Ihre Kollegen den Vorschlag der EU eindeutig abgelehnt. Die Agrarlobby hat
nicht eingesehen - damit bin ich bei einem weiteren Fehler, einem Fehler, den Europa auf der WTO-Konferenz
gemacht hat -, dass wir tatsächlich bereit sein müssen,
den Entwicklungsländern Zugeständnisse zu machen.
Ich weiß, Sie sehen das anders. Dem entgegne ich: Die
Kollegen, die vor mir gesprochen haben, hätten bei den
Gesprächen dabei sein müssen, um sich dementsprechend äußern zu können.
Die EU hat jetzt ein gutes Angebot gemacht. Sie hat
sehr deutlich gesagt, dass sie das Auslaufen aller Agrarsubventionen akzeptiert, dass im Rahmen der SingapurThemen nur noch Verhandlungen über Handelserleichterungen aufzunehmen sind und dass den bedürftigen Entwicklungsländern zugestanden wird, dass sie im Rahmen dieser Runde keinerlei Zollsenkungen vornehmen
müssen. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Dass Frankreich so heftig dagegen protestiert, bestätigt mich in meiner Auffassung, dass es ein ambitionierter Vorschlag ist.
Es ist ein echtes Angebot - das haben wir Grünen schon
vor Cancun gefordert -, mit dem die EU auf dem richtigen Weg ist. Die Bundesregierung hat sehr eindeutig diesen Schritt der EU-Kommission gefordert und unterstützt ihn. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt wird.
Unter dem Scheitern von Cancun - das ist das eigentliche Thema unserer heutigen Debatte - haben die
GATS-Verhandlungen gelitten, die im März zwar wieder
aufgenommen wurden, die aber noch keine große Dynamik entfaltet haben, weil alles von materiellen Verhandlungsfortschritten auf dem Agrarsektor abhängig gemacht wird. Bei den GATS-Verhandlungen wird es keine
Fortschritte geben, wenn es nicht vonseiten der entwickelten Industrienationen auf WTO-Ebene bei den
Agrarverhandlungen echte Angebote gibt.
Ich möchte für uns Grüne sehr deutlich machen, dass
die Liberalisierung von Dienstleistungen für uns als
Exportnation natürlich ein wichtiger Schritt ist, wir uns
davon Chancen versprechen und wir deswegen diese
Verhandlungen unterstützen. Es gibt allerdings ein paar
Ausnahmen, über die wir im Bundestag schon mehrmals
diskutiert haben. Dazu gehören die Themen Wasser, Bildung, Gesundheit und Kultur. Hierzu haben wir im Bundestag schon einige Anträge verabschiedet.
Abschließend exemplarisch zum Thema Kultur, weil
das in einigen vorliegenden Anträgen eine Rolle spielt.
Die CDU/CSU hat einen Antrag zur Qualitätssicherung
im Bildungswesen und zu kultureller Vielfalt gestellt. Im
Grunde haben Sie unseren Antrag fast wortwörtlich abgeschrieben. Damals haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Sie haben gesagt, dass das eine Überschätzung des
Themas in der Öffentlichkeit bedeute.
({1})
Wir freuen uns, dass Sie sich inzwischen ein Stück weit
bewegt haben.
Kultur ist ein Lebenselixier unserer Gesellschaft. Die
Erfolge des deutschen Films zeigen, dass es wichtig ist,
die eigene Geschichte zu erzählen. Sie zeigen auch, dass
die Vielfalt in der Europäischen Union erhalten bleiben
und man nicht riskieren sollte, dass alles plattgemacht
wird und es auch in Europa zu einer „Hollywoodisierung“ kommt. Deswegen ist die Förderung, die Finanzierung von Kultur durch uns kein Subventionstatbestand.
Wir möchten, dass das auch so bleibt. Wir wissen, die
EU hat hierzu keine Angebote gemacht. Ich möchte ganz
klar sagen: Diese und andere Bereiche sind für uns im
Rahmen von GATS nicht verhandelbar.
Danke schön.
({2})
Frau Kollegin Hustedt, ich hoffe, wir beide sind jetzt
quitt
({0})
und Sie bitten mich nicht bei jeder weiteren Debatte,
später aufgerufen zu werden, um auf diese Weise die Redezeit verlängert zu bekommen.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Marion Seib das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern haben die verehrten Kollegen von Rot-Grün
im Ausschuss für Bildung und Forschung mit Begeisterung über die UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ diskutiert. Dabei geht es um eine
möglichst weltumspannende Einbringung von politisch
korrekten Zielen wie dem Nachhaltigkeitsprinzip in alle
Ebenen der Bildung.
Die Frage sei erlaubt: Würden Sie private Bildungsprogramme aus Nicht-EU-Ländern, die dieses Ziel befördern, in Deutschland zulassen oder ablehnen? Oder:
Würden Sie deutsche Bildungsprogramme, die dieses
Ziel verfolgen, am Export hindern? Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Abkommen als einer von
zwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Öffentliche Bildungsdienstleistungen sind aber von den
EU-Forderungen nicht erfasst.
Das hat endlich auch die SPD verstanden. Deshalb
begrüßen Sie in Ihrem zweiten Antrag, dass die Europäische Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche
Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen von
den Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen hat.
Dies ist dem ersten Antrag Ihrer Fraktion noch nicht zu
entnehmen. Bildung und der Handel mit Bildung sind,
wie sich am Beispiel der USA zeigt, ein bedeutsamer
volkswirtschaftlicher Faktor.
({0})
Allein die Vereinigten Staaten erwirtschaften jährlich
rund 10 Milliarden Dollar in diesem Bereich.
Wichtig ist, dass bewährte Strukturen der öffentlichen
Bildungs- und Kulturförderung in Deutschland durch
GATS nicht infrage gestellt werden.
({1})
Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staates
besonders groß. Bildung gehört zu den Kernaufgaben einer demokratischen Gemeinschaft und darf nicht ausschließlich kommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden. Die Struktur des öffentlich finanzierten
Bildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Disposition gestellt werden, auch nicht durch
eine Subventionsabbaudiskussion.
Das kann aber nicht bedeuten, dass wir ausländische
Bildungsanbieter subventionieren. Die Regeln zur Inländerbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierung
auch privater Anbieter entsteht. Die staatliche Finanzierung von Bildungs- und Kultureinrichtungen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche ausländischer Anbieter erzwingen.
Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr
willkommen. Sie tragen zu mehr Wettbewerb zwischen
den Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierung und zur Qualitätssteigerung bei. Das Gleiche
muss auch für die Kultur gelten. Die von den Bundesländern wahrgenommene Kulturhoheit darf durch das
GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt werden.
Da ich gerade über die Länder spreche: Ich vermisse
auch in Ihrem neuen Antrag eine Aussage zur Rolle der
Länder. Diese hätten etwas mehr Aufmerksamkeit von
Ihnen verdient. Bildung ist und bleibt überwiegend Aufgabe der Länder.
Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrichtungen nicht nur Risiken, sondern auch erhebliche
Chancen im In- und Ausland. Beispielsweise gibt es
über 16 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen
deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung anhalten und sich intensivieren wird.
Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischer
Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz aus den
Vereinigten Staaten, Australien oder anderen Ländern
nicht zu verstecken braucht. Der Bologna-Prozess hat im
Hochschulbereich eine gewaltige Dynamik entwickelt.
Die Chancen, die sich durch ihn ergeben, gilt es auch in
den GATS-Verhandlungen umzusetzen und durch neue
Regelungen zu nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Liberalisierungsverhandlungen so transparent wie
möglich gestaltet werden. Dazu gehört, dem Deutschen
Bundestag mit seinen Fachausschüssen und den Bundesländern im Vorfeld der weiteren Verhandlungsstufen im
Rahmen des GATS Planungsstand, Veränderungen und
weitere Liberalisierungsangebote umfassend und rechtzeitig zur Beratung vorzulegen.
({2})
Ich appelliere an Sie, keine Ängste zu schüren. Wozu
das führt, haben wir bereits in Cancun erlebt. Wir können uns der Globalisierung unserer Welt nicht entziehen.
Der einmal begonnene Weg ist nicht mehr umkehrbar.
Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen und bildungspolitischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Besten Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/
3101. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1008 mit
dem Titel „Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim
Welthandel mit Dienstleistungen - GATS-Verhandlungen zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/1010 mit dem Titel „Internationale
Rechtssicherheit und transparente Regeln für den
Dienstleistungshandel - GATS-Verhandlungen voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
15/3222. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1567
mit dem Titel „Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern
von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache
15/1931 mit dem Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen - Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung
und Wohlstand durch Freihandel“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 10 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1844 zum Antrag der
CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/1095 mit dem
Titel „Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren“.
Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit gleicher
Mehrheit ist diese Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher,
Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Passagierdatensammlungen und Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten
Staaten von Amerika
- Drucksachen 15/2761, 15/3120 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({1})
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
die FDP fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf
Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von einem
bin ich überzeugt: Der internationale Terrorismus kann
nur gemeinsam von der internationalen Staatengemeinschaft erfolgreich bekämpft werden. Aufklärung im Vorfeld ist dabei unsere stärkste Waffe. Ein entscheidender
Aspekt der vorbeugenden Terrorismusbekämpfung ist
eben der Austausch von Daten, um möglichen Attentätern von vornherein auf die Spur zu kommen und sie daran zu hindern, terroristische Anschläge zu begehen.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Verlangen der USBehörden zu sehen, bereits vor dem Start eines Passagierflugzeuges in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika Zugriff auf Buchungsdaten der Passagiere zu erhalten. Auch auf EU-Ebene sind unter dem Aspekt der
Grenzkontrolle mit der Einigung des Rates auf eine
Richtlinie zur Verpflichtung von Fluggesellschaften, bestimmte Passagierdaten vorab zu übermitteln, bereits
erste Schritte getan worden. Dabei dürfen selbstverständlich Datenschutz und Bürgerrechte nicht außer
Acht bleiben.
({0})
- Hören Sie doch einmal zu! - Das Lösungspaket der
Kommission - davon bin auch ich überzeugt - berücksichtigt ebendiese von mir erwähnten Rechte. Frau
Stokar, ich möchte auch sagen: Es ist ausgewogen.
Die Bundesregierung hat deshalb im Außenministerrat am 17. Mai dieses Jahres wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten dem von der Europäischen Kommission
ausgehandelten Abkommen zugestimmt. Ebenso hat die
Kommission zwischenzeitlich ihren Beschluss zur Angemessenheitsfeststellung in Bezug auf die Verarbeitung
der so genannten PNR-Daten durch die US-Zoll- und
Grenzkontrollbehörden gefasst.
Meine Bewertung entspricht der aus unserer Debatte
vom 1. April dieses Jahres: Der gefundene Kompromiss
ist eindeutig dem Status quo vorzuziehen.
({1})
Er entspricht in vielen Punkten dem Anliegen des Antrages, das die Bundesregierung durchaus teilt, oder kommt
diesem, Herr Burgbacher, zumindest sehr nah. Entscheidend ist, dass die Bürgerrechte mit Abschluss des Passagierdatenabkommens deutlich besser geschützt werden,
als dies für USA-Reisende bisher der Fall war.
({2})
Der rechtliche Ausgangspunkt ist klar: Das Bundesdatenschutzgesetz verlangt für Datenübermittlungen in
das nicht europäische Ausland ein angemessenes Datenschutzniveau; es verlangt keine Gleichwertigkeit. Die
Kommission hat in ihren Verhandlungen mit den USA
hinsichtlich der Behandlung dieser Daten Zusagen erhalten, die unter Berücksichtigung des transatlantischen Interesses an einem verbesserten Informationsaustausch
ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten.
Wenn teilweise der Eindruck erweckt wird, die Kommission habe einseitig den Wünschen der USA nachgegeben, ist dies schlichtweg unzutreffend. Auch die USA
haben im Laufe der Verhandlungen Zugeständnisse gemacht. Hierbei sind zu nennen: die enge Beschränkung
des Verwendungszwecks - Herr Burgbacher, auch das ist
von Ihnen eingefordert worden - auf die Bekämpfung
des Terrorismus und insbesondere der internationalen organisierten Kriminalität, die erhebliche Verkürzung der
Speicherungsdauer - auch das ist auf dem Verhandlungswege erzielt worden -, der Verzicht auf bestimmte sensible Daten sowie - auch das darf nicht vergessen werden - die Einrichtung eines förmlichen Beschwerdeverfahrens. Positiv zu bewerten ist auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika einer fortlaufenden jährlichen
Evaluierung unter Beteiligung von EU-Datenschutzbeauftragten zugestimmt haben.
Wer für die Ablehnung des erreichten Ergebnisses
eintritt, muss realistische Alternativen benennen. Genau
das - das muss ich doch noch einmal sagen, Herr
Burgbacher - leistet der von Ihnen eingebrachte Antrag
aber nicht. Die Passagiere mit Reiseziel USA erwarten
jedoch nicht nur eine Problembeschreibung, sondern
auch eine tatsächliche Verbesserung der bisherigen, unbefriedigenden Situation.
Sie sehen es nicht als Überraschung an, dass ich aus
der Sicht der Bundesregierung die Empfehlung abgebe,
diesen Antrag abzulehnen.
({3})
Ich biete jedoch weiterhin ausdrücklich den konstruktiven Dialog über das an, was inhaltlich vereinbart worden
ist, und über die Befürchtungen, die Ihrerseits hier und
da artikuliert worden sind, die sich in der Praxis jedoch
nicht so darstellen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist selten genug der Fall - das habe ich schon einmal gesagt -,
dass Herr Körper bzw. die Bundesregierung und wir uns
so einig sind. Aber in diesem Fall ist das so, weil es vernünftig ist. Deswegen haben wir auch gar keine Schwierigkeiten, das zum Ausdruck zu bringen.
({0})
Wir sind uns darin einig - ich denke, das trifft auch für
die FDP zu -, dass nur eine gemeinsame Bekämpfung
des Terrorismus sinnvoll ist. Auch müsste es die Meinung der FDP sein - das denke jedenfalls ich -, dass
dazu Aufklärung im Vorfeld nötig ist.
({1})
Herr Burgbacher, zu dieser Aufklärung im Vorfeld gehört,
dass Daten ausgetauscht werden, zumal es sich - darauf
komme ich gleich noch im Einzelnen zu sprechen - um
solche Daten handelt, die jeder auch bisher schon immer
und ganz selbstverständlich abgegeben hat.
Es mutet schon ein wenig seltsam an, dass wir hier
darüber streiten, ob Fluggesellschaften, die Amerika anfliegen, Daten, die jeder Fluggast seit jeher angegeben
hat, an die amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörden weitergeben dürfen, wenn zeitgleich, also in diesen
Stunden, in den USA nach sieben al-Qaida-Mitgliedern
gesucht wird und der Justizminister Ashcroft gestern vor
klaren und aktuellen Gefahren für Großereignisse in diesem Sommer gewarnt hat.
Auch der bayerische Innenminister - Herr Burgbacher,
das haben auch Sie sicherlich zur Kenntnis genommen hat diese Warnungen nicht nur sehr ernst genommen,
sondern auch von Warnungen an die deutsche Adresse
gesprochen. Das heißt, dass wir uns in einem nicht
neuen, aber doch sehr ernsten Abwägungsprozess befinden: zwischen dem, was an Prävention in Bezug auf die
Terrorismusbekämpfung zu leisten ist, und dem Datenschutz und den Bürgerrechten, die, wie Sie eben richtigerweise gesagt haben, zweifellos nicht außen vor bleiben dürfen.
Herr Staatssekretär Körper hat eben schon darauf hingewiesen, dass der jetzt gefundene Kompromiss eine
deutliche Verbesserung ist, weil die Vereinigten Staaten
für die Erteilung der Landeerlaubnis seit März letzten
Jahres den unmittelbaren Zugriff auf die Buchungssysteme der betroffenen Fluggesellschaft verlangt haben. Er
ist ihnen - das wissen Sie alle -, ohne dass es eine
Rechtsgrundlage oder konkrete Absprachen gegeben
hat, gewährt worden.
Wäre das Abkommen, wie von der FDP beantragt, gestoppt worden, wäre dieser regelungslose Zustand - das
finde ich jedenfalls sehr logisch - erhalten geblieben. Ich
sage noch einmal, weil ja fürchterliche Szenarien beschrieben wurden: Es handelt sich um völlig normale
und übliche Angaben, die für die Buchung eines Flugtickets auch von Ihnen, Herr Burgbacher, von mir und allen anderen erforderlich sind und die jeder Reisende
ganz selbstverständlich angibt. Dazu gehören zum Beispiel: Name, Adresse, Abflugdaten und Rechnungsanschrift.
({2})
Hinzu kommen Daten, die die Fluggesellschaft braucht,
({3})
wie - das würde ich mir zum Beispiel wünschen - die
Sitzplatznummer. Wenn, wie unlängst in Düsseldorf,
Seuchengefahren bestehen, wäre es sehr interessant zu
wissen, wer wo gesessen hat bzw. wer neben demjenigen, der infektiös angekommen ist, gesessen hat.
({4})
Das können wir im Moment nicht nachvollziehen. Vielleicht wäre es ja eine Anregung, dies demnächst zu regeln. Zu diesen Daten gehören auch die Nummer des
Flugscheins und so spektakuläre Angaben wie die Nummern der Gepäckanhänger. Wie gesagt, jeder kann sich
die 34 Daten, die gar nicht insgesamt erhoben werden,
anschauen. Dann wird er die Aufregung, die hier zum
Teil erzeugt wird, überhaupt nicht verstehen.
Nun geht es noch um so genannte sensible Daten, die
sofort gelöscht werden sollen. Das sind Daten, die gar
nicht erhoben werden, sondern die der Fluggast von sich
aus gerne kundtut, weil es vielleicht während des Fluges
wichtig werden kann:
({5})
wenn er behindert ist, wenn er besonderes Essen bevorzugt. Wer keine E-Mail-Adresse hat, braucht keine anzugeben; wer bar bezahlt hat, gibt keine Bankverbindung
an usw. Ich will das nicht weiter vertiefen.
Wie gesagt: Es ist ein Kompromiss. Sieben Punkte
scheinen mir besonders wichtig, weil sie eine deutliche
Verbesserung sind: Ich nenne erstens: eine ausdrückliche
Zweckbindung an die Bekämpfung des Terrorismus und
von damit im Zusammenhang stehenden Straftaten sowie an die Bekämpfung schwerer, länderübergreifender
Straftaten. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, weil Sie
mich das letzte Mal gefragt haben, habe ich natürlich
aufmerksam gelesen, wie Sie sich geäußert haben. Gegenüber der „Tagesschau“ haben Sie erklärt:
Abermillionen Daten landen künftig in amerikanischen Behörden, wo wir überhaupt nicht wissen,
was damit gemacht wird.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie die Verpflichtungserklärung, von der wir eben gesprochen haben, überhaupt lesen konnten.
Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre
und sechs Monate verkürzt. Wenn wir von Prävention im
Bereich von Terrorismus reden, müssen wir zugestehen,
dass das eine absolut akzeptable Zeit ist.
Drittens. Für Fälle des Datenmissbrauchs durch Mitarbeiter der zuständigen US-Behörden sind in der Verpflichtung strenge Sanktionen - von Entlassung bis hin
zu Freiheitsstrafen - vorgesehen; auch das ist ein Verhandlungsergebnis.
Viertens. Bis zur Einführung des Filter-und-PushSystems ist die sofortige Löschung der sensiblen Daten
zugesagt; darauf habe ich eben schon hingewiesen.
Fünftens. Die Beschwerdemöglichkeit der Passagiere
durch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei der
US-Zoll- und Grenzschutzbehörde ist ein weiteres Verhandlungsergebnis.
Sechstens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung
der Umsetzung der Verpflichtung in den USA durch ein
EU-Team ist vereinbart.
Siebtens. Die Festschreibung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarung. Da zeigt sich deutlich, dass es den Amerikanern
um ernsthafte und gemeinsame Terrorismusbekämpfung
geht, so wie der Herr Staatssekretär das eingangs erwähnt hat.
({6})
Nun stellt sich wirklich ernsthaft die Frage, welches
konkrete Ziel diejenigen verfolgen, die auch diesem
Kompromiss nicht zustimmen können; das ist mir nicht
erkennbar. Die Übermittlungsmethode hat sich schließlich geändert: weg von Pull, hin zu Push. Ich bin optimistisch, dass die Fluggesellschaften das sehr schnell
umsetzen werden, da die Verbesserung des Übermittlungsverfahrens auch in ihrem eigenen Interesse liegt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem
zweiten Schritt strebt die EU-Kommission die Datenübertragung durch eine zentrale Einrichtung der EU an.
Auch diesen Schritt halte ich für richtig, weil er die
Datenübermittlung in einen hoheitlichen Zusammenhang stellt, bei dem sich die Partner auf Augenhöhe, wie
das heute so schön heißt, begegnen werden. Weiterhin
- wir haben das gestern in einem anderen Zusammenhang, im Rahmen einer Anhörung, besprochen - wird es
einen weltweiten Standard für die Fluggastdatenübermittlung geben; die Initiative der ICAO, die auf einheitliche Datenschutzstandards abzielt, stellt auch im Interesse unserer Luftverkehrswirtschaft einen Schritt zu
mehr Sicherheit in der Zukunft dar.
Auch das finde ich richtig: Wir haben zur Kenntnis
genommen, dass es sich bei diesem Kompromiss um
eine zunächst auf dreieinhalb Jahre befristete Zwischenlösung handelt.
Schließlich noch etwas ganz Praktisches: Diejenigen,
die glauben, dass sie mit einer Nichtanerkennung dieses
Kompromisses die deutschen Fluggäste schützen, erweisen ihnen in Wahrheit einen Bärendienst. Denn die Daten werden sie angeben müssen: Wenn sie das nicht hier
tun - bei der Buchung ihres Fluges, im Reisebüro oder
wo auch immer -, dann werden sie sich an einer langen
Schlange bei der Einreise anstellen und dort ihre Daten
abgeben müssen. Dass ihnen Letzteres angenehmer ist,
kann ich mir nicht vorstellen.
({7})
Ferner gibt es, wie Sie wissen, eine privilegierte Behandlung von EU-Bürgern, trotz der heftigen Bemühungen
von Rot-Grün, Frau Stokar, Sand ins Getriebe zu
streuen.
Ich kann nur wiederholen, was ich bei der letzten Debatte bereits ausgeführt habe: Wir haben den Datenschutz der USA überhaupt nicht zu bewerten. Es war
schon immer so, dass die Besucher eines Landes sich
den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten.
Deswegen haben sie die entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren.
({8})
- Sehr richtig, Herr Winkler, und diese Angemessenheit
ist zweifellos gegeben. Ich weiß nicht, ob es Ihnen möglich war, einmal genau zu schauen, wie dieser Kompromiss hinsichtlich der 34 Daten, auf die wir uns beziehen,
aussieht.
Unsere heutige Debatte kann sich also nur auf die auf
europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden und zu
übermittelnden Daten beziehen.
({9})
Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass der
Datenschutz kein Selbstzweck ist, sondern es, wie Herr
Winkler eben richtigerweise gesagt hat, um eine Verhältnismäßigkeitsabwägung geht. Diese hat hier stattgefunden.
Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz
sagt, dass wir hier in Deutschland im Augenblick eine
derartige Normenvielfalt, ein solches Durcheinander im
Bereich des Datenschutzes haben, dass er die Zahl der
Regelungen deutlich reduzieren möchte - eine Hausaufgabe für die nächsten Jahre, denke ich einmal - und eine
Reform für dringend notwendig hält. Ich denke also,
dass auch im Bereich des Datenschutzes weniger oft
mehr wäre.
({10})
Meine Damen und Herren, es bleibt Ihr Problem, wie
Sie die unterschiedlichen Abstimmungen im Europäischen Parlament und hier im Deutschen Bundestag unter
eine Mütze bekommen.
({11})
Jedenfalls werden Sie sich damit in nächster Zeit sicherlich ausführlich auseinander setzen müssen.
({12})
Zum Abschluss möchte ich mich gerne noch an Herrn
Burgbacher wenden - vielleicht kann er gleich in seiner
Rede darauf eingehen -: Ich habe natürlich auch auf der
Homepage der FDP nachgeschaut. Dort heißt es:
Die EU-Kommission und die EU-Außenminister
haben den Ausverkauf der Bürgerrechte in Europa
eingeläutet.
Herr Burgbacher, es ist mir völlig schleierhaft, wie Sie
diese Aussage vor dem Hintergrund des eben hier erwähnten Kompromisses aufrechterhalten können. Ich
meine, dass der Wert der Europäischen Gemeinschaft
- nach dem Prinzip „Gemeinsam sind wir stark!“ durch die Verhandlungsleistung der EU-Kommission
eindrucksvoll bewiesen wurde.
Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion
ausdrücklich dafür bedanken, dass es zu diesem Kompromiss gekommen ist. Ich wünsche mir, dass es weitere
gemeinsam erzielte Ergebnisse bei solchen internationalen Verhandlungen gibt, und bedauere natürlich ausdrücklich, dass wir aus sachlichen Gründen dem Antrag
der FDP nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
nach wie vor der FDP durchaus dankbar, dass sie diesen
Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Ich
möchte das auch begründen. Das, was ich besonders kritisiere, ist das Verfahren. Ohne den Antrag der FDP hätten wir nicht die geringste Chance gehabt, über dieses
Thema, das von großem öffentlichen Interesse in den
Medien gewesen ist, hier im Deutschen Bundestag oder
im Innenausschuss überhaupt zu diskutieren. Höchstens
die ganz fleißigen Abgeordneten,
({0})
die die Berichte der EU-Kommission von vorne bis hinten durchlesen - ich weiß, dass das niemand schaffen
kann -, hätten irgendwann im Nachhinein bemerkt, dass
es dieses Abkommen gegeben hat.
An Frau Philipp gerichtet möchte ich sagen: Ihre
Hoffnung, dass es hier in irgendeiner Weise zu unterschiedlichem Abstimmungsverhalten bei Rot-Grün
kommt, ist völlig unbegründet. Wir haben Unterschiede
in der inhaltlichen Bewertung dieses Abkommens - das
ist in den Redebeiträgen hier und auch in der Diskussion
im Innenausschuss deutlich geworden -, aber auch die
FDP wird mittlerweile festgestellt haben, dass es heute
eigentlich gar nicht mehr um die Frage geht, ob wir ihrem Antrag zustimmen oder nicht. Der Antrag hat sich
erledigt, weil man gehandelt hat.
Ich möchte in meiner Kritik hier noch etwas zu dem
Verfahrensverlauf sagen. Am 17. Mai hat der Rat der
Außenminister den Vertragstext angenommen. Ich persönlich kann noch nicht einmal eine Kritik an unserem
Bundesinnenminister anbringen; denn wie gesagt waren
es die Außenminister, die dem Vertragstext zugestimmt
haben. Im Zuge dieses Verfahrens hat das Europäische
Parlament mit einem Mehrheitsbeschluss die Kritik an
diesem Verfahren noch einmal inhaltlich begründet und
sehr kluge Änderungsanträge gemacht. In diesen Änderungsanträgen hat es noch einmal deutlich gemacht, dass
es zwischen dem berechtigten Sicherheitsinteresse der
USA und dem Datenschutz einen besseren Kompromiss
hätte geben können.
Dies war eine Mehrheitsentscheidung des Europäischen Parlaments, das ein Gutachtenverfahren angestrengt hat, um die Frage zu stellen, ob das Abkommen
mit EG-Recht, also mit dem europäischen Datenschutzrecht, vereinbar ist. Ich meine, es wäre im Sinne einer
bürgerfreundlichen Politik gewesen, wenn die Außenund die Innenminister einfach abgewartet, den Mehrheitsbeschluss des Europäischen Parlaments respektiert
und dieses Gutachtenverfahren zugelassen hätten. Dann
müssten wir uns hier und heute nicht über die Angemessenheit und Rechtmäßigkeit dieses Abkommens unterhalten.
({1})
Wir sind jetzt in der Situation, dass das Europäische
Parlament regelrecht ausgebootet ist. Das Europäische
Parlament müsste nämlich innerhalb von zwei Monaten
nach dem Beschluss des Rates eine Überprüfung vor
dem Europäischen Gerichtshof beantragen. Dies ginge
nur noch mit einer Sondersitzung, weil das Europäische
Parlament erst am 19. Juli 2004, dann also in neuer Zusammensetzung, wieder zusammentritt. Ich möchte hier
auch sagen, dass ich die Position der Grünen im Europäischen Parlament, die sich im Moment für die Einberufung einer außerordentlichen Sitzung des Rechtsausschusses einsetzen, ausdrücklich unterstütze.
({2})
Ich weiß, dass auch Europaabgeordnete der Liberalen
an unserer Seite sind.
Es gibt in diesem europäischen Verfahren ein ganz
klares Demokratiedefizit. Ich denke, es würde ein gutes
Bild abgeben, wenn die Regierungskommission - sie
kann das entscheiden, weil es noch keine europäische
Verfassung gibt - bereit wäre, eine solche Überprüfung
zuzulassen. Ich kritisiere, dass der Vertragstext im Wissen um die Auseinandersetzungen im Europäischen Parlament in dieser Eile unterzeichnet worden ist
({3})
und wir als Parlamentarier dadurch handlungsunfähig
geworden sind. Ich denke, dass wir alle ein Interesse daran haben sollten, die europäische Innen- und Rechtspolitik wieder stärker an nationale Parlamente und an das
Europäische Parlament zu koppeln. Dann müssten wir
hier auch nicht solche Auseinandersetzungen über Verfahren führen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission einen
Vertrag mit den USA vereinbart. Demnach werden von
Passagieren, die die Vereinigten Staaten an- oder überfliegen, 30 und mehr persönliche Daten übermittelt. Das
hat meines Erachtens weder etwas mit Bürgerrechten
noch mit Datenschutz zu tun.
Die USA wollen den gläsernen Bürger oder Reisenden und die EU-Kommission ist ihnen dabei zu Diensten. Es geht um den größten Datendeal der Neuzeit. Die
PDS lehnt dies ab. Die Verhandlungen zwischen der EUKommission und den USA liefen schon länger und sie
waren von Anfang an umstritten. Das EU-Parlament hat
vor den Folgen eines solchen Vertrages gewarnt und mit
Mehrheit beschlossen, vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen zu klagen.
Umso unglaublicher - wenn es denn stimmt - finde
ich das, was im „Spiegel“ steht, nämlich dass Bundesinnenminister Schily schon vorab, auch vor den Kompromissverhandlungen, ebendiesem Datendeal zugestimmt
hat und dass der Bundesaußenminister, wie von meiner
Vorrednerin beschrieben, hier Tatsachen geschaffen hat.
Deshalb finde ich auch: Das Problem ist eine echte Chefsache. Entweder haben die beiden Minister eigenmächtig
gehandelt - dann ist es höchste Zeit für ein Kanzlerwort oder aber sie haben in Absprache agiert; dann steht die
gesamte rot-grüne Regierung am Pranger. Liebe Kollegin Stokar von Neuforn, dann hilft auch das „einerseits“
oder „andererseits“ nichts, weil die Tatsachen auch
durch Regierungsmitglieder der Bundesrepublik geschaffen wurden.
({0})
Nun komme ich zu den Versuchen, den Datenschutzbruch zu verharmlosen. Die USA hätten sich verpflichtet, heißt es, die Daten nur drei Jahre zu speichern und
dann zu löschen. Ich finde, wer im Internetzeitalter und
angesichts anhaltender Wortbrüche an solche Versprechen glaubt, der glaubt wirklich an den Weihnachtsmann. Außerdem hätten sich die USA verpflichtet, die
EU zu informieren, falls sie gesammelte Daten an Dritte
weitergeben. Das ist aber nichts anderes als ein Freibrief
zum internationalen und geschäftstüchtigen Handel mit
persönlichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern. Man
muss dieses Geschäft lediglich anzeigen - als ginge es
um die Eröffnung einer neuen Imbissbude. Wir reden
hier aber nicht über Würstchen oder Döner, sondern es
geht um ein verbrieftes Grundrecht, das der informationellen Selbstbestimmung. Deshalb hat die FDP-Fraktion
Recht, wenn sie hier im Bundestag mit ihrem Antrag die
gelbe Karte gezeigt hat. Ich gebe für die PDS noch die
rote Karte dazu.
Dass die Opposition zur Rechten mit Ausnahme der
FDP mit all dem kein Problem hat, wird niemanden verwundern. Ginge es nach Ihnen, dann gäbe es keinen Datenschutz mehr, das Demonstrationsrecht wäre längst
kastriert und wir bekämen einen Überwachungsstaat
neuer Prägung. Wenn es dafür eines Beleges bedurft
hätte, so wurde er im Zuge der Einwanderungsdebatte
geliefert. CDU und CSU haben aus einer Zuwanderungs- und Asyldebatte inzwischen eine Polizei- und Geheimdienstdebatte gemacht.
({1})
Das hilft der Bundesrepublik nicht und das vergiftet das
gesellschaftliche Klima. Das hat auch nichts mit einer
modern verfassten Europäischen Union zu tun. Ich sage
Ihnen: Das hilft Ihnen auch nicht im notwendigen
Kampf gegen den Terror.
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man könnte nach der letzten
Rede sprachlos sein, aber ich bin es nicht geworden. Ich
möchte mich auch nicht mehr auf das beziehen, was wir
im Ausschuss und in der ersten Lesung besprochen haben. Mir geht es um einen anderen Punkt, nämlich um
den Hintergrund.
Die Auseinandersetzung, die wir führen, ist eigentlich
eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Philosophien im Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes.
Als wir im Dezember des letzten Jahres gelesen haben,
was mit den Daten passieren soll, da ging es mir wie vielen anderen so, dass wir wenig Verständnis dafür hatten.
Die Frage war: Warum sollen meine Daten an die USA
weitergegeben werden? Das ist aber nur unsere Sichtweise.
Herr Burgbacher, versetzen Sie sich einmal in die
Lage der US-Amerikaner und beziehen Sie deren kulturellen Hintergrund und deren Befürchtungen ein: Sie
werden feststellen, dass das Verhandlungsergebnis - auch
wenn es nicht mein und sicherlich auch nicht Ihr Wunschergebnis ist - der Kompromiss von autarken Staaten und
Staatengemeinschaften ist. Inhaltlich finden sich darin
unsere Grundzüge von Sicherheitsphilosophie und Datenschutzrecht wieder. Es ist nicht mein Wunschergebnis, aber es ist ein realistisches Ergebnis, das aus meiner
Sicht den Datenschutz angemessen einbezieht.
Ich wünsche und hoffe, dass sich in Zukunft die EU
und das Heimatschutzministerium der USA in Konfliktfällen zusammensetzen, so wie es vorgesehen ist, um im
beiderseitigen Einverständnis zu besseren Lösungen zu
kommen. Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Es wird ein
internationales Abkommen geben. Wir müssen darauf
hinarbeiten, dass wir mit diesem internationalen Abkommen weiterkommen, und dabei unsere Interessen und
unsere Datenschutz- und Sicherheitsphilosophie vertreten.
Ihr Antrag hat bei uns durchaus zu mehr Sensibilität
geführt, aber wir können mit dem Ergebnis der EUKommission durchaus gut leben - genauso wie die Fluggesellschaften und die Passagiere damit leben können -,
weil es Rechtssicherheit gibt. Was die internationalen
Standards betrifft, werden wir in Zukunft mitarbeiten
und aufpassen, dass sich unsere Sicherheitsphilosophien
darin wiederfinden.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst
Burgbacher, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hofmann, ich möchte mich bei Ihnen ausdrücklich für die nachdenklichen Worte bedanken. Frau Kollegin Philipp hat vorhin gesagt, es handele
sich um einen Abwägungsprozess. Es ist wirklich ein
Abwägungsprozess. Wir alle haben das Interesse, Terrorismus zu bekämpfen. Darin sind wir uns alle in diesem
Hause einig. Aber wir von der FDP wehren uns dagegen,
dass unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung
Datenschutz und Persönlichkeitsrechte geschleift werden. Das werden wir nicht mitmachen.
({0})
Liebe Kollegin Philipp, Sie haben sich stets darauf
bezogen, was für die Zukunft geplant ist. Wir halten uns
an das, was im Augenblick vereinbart ist. Mit dieser Lösung können wir nicht leben, um das klar zu sagen, sowohl aus inhaltlichen als auch formalen Gründen.
Die EU-Kommission hat gegen den Widerstand des
Europäischen Parlaments diese Angemessenheitsentscheidung in Verbindung mit dem „light agreement“ getroffen. Wir wollen den Abschluss eines internationalen Übereinkommens mit klar festgelegten
Grundsätzen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Was in die
eine Richtung gilt, muss in die andere Richtung genauso
gelten.
({1})
Sie wissen doch ganz genau, dass es Vorbehalte von
allen Seiten gab. Die EU-Kommission selbst hat im Juni
2002 Vorbehalte geäußert. Auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung im Januar geantwortet - ich zitiere -:
Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die
Bundesregierung der Bewertung durch die Europäische Kommission an. Die Europäische Kommission hat im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNRDaten festgestellt, dass die entsprechende Verpflichtung der Fluggesellschaften mit den infolge
der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenen
Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten in
Widerspruch stehen kann.
({2})
Das war ein Stand, den wir nachvollziehen können.
Dann ging alles ganz schnell. Der deutsche Innenminister hatte nichts anderes zu tun, als ohne Befragung des
Parlaments und gegen den Widerstand der eigenen Koalition nach Brüssel zu gehen und zu sagen: Wir tragen alles mit. - Das kann nicht unsere Politik sein.
({3})
Sie wissen, dass das Europäische Parlament den Gerichtshof angerufen hat und diese Entscheidung auch bestätigt wurde. Meine Damen und Herren von den Grünen, der Tiefpunkt des Ganzen war aber, dass dann der
grüne Außenminister am 17. Mai den Beschluss der EUAußenminister mitgetragen und damit Tatsachen geschaffen hat. Damit müssen Sie sich schon auseinander
setzen.
({4})
Selbstverständlich unterstützen wir, dass Daten abgeglichen werden. Wir fordern aber, dass der Grundsatz
der Zweckbindung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Deshalb, Frau Kollegin
Philipp, bringen wir unsere eigenen Ansprüche ein. Ich
war in den USA. Wir haben eine Woche lang Gespräche
mit Vertretern der Homeland Security geführt. Dort
kannte gar niemand die Datenschutzbeauftragten, die es
offensichtlich gibt. Wir müssen uns doch mit den Realitäten vertraut machen und nicht immer sagen: Vielleicht
so, vielleicht anders.
({5})
Wir sind zu jedem konstruktiven Dialog bereit, aber
wir werden immer darauf achten, dass auch bei der Terrorismusbekämpfung Persönlichkeitsrechte und Datenschutz gewahrt werden. Das entspricht übrigens der
Meinung des neu gewählten Datenschutzbeauftragten,
Herrn Schaar, der genau dies im Innenausschuss geäußert hat.
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen. Frau Stokar hat schon in der Beratung im Ausschuss zum Ausdruck gebracht, dass ihre Fraktion die
Position der FDP unterstützt. Aber nachher werden Sie
gegen unseren Antrag stimmen. Eine solche Politik kann
man nicht mittragen.
({6})
Sie lehnen unseren Antrag ab, Ihr Spitzenkandidat
Cohn-Bendit stimmt im Europäischen Parlament wieder
anders. Das ist Schizophrenie! Ich hoffe nur, dass der
Wähler erkennt, dass eine solche Partei schlichtweg
nicht wählbar ist, und dem am 13. Juni Rechnung trägt.
({7})
Die Wähler haben nichts davon, dass Ankündigungen
gemacht werden. Sie haben nur dann etwas davon, wenn
diese auch umgesetzt werden.
Beim Zuwanderungsgesetz machen Sie derzeit exakt
dasselbe.
({8})
Die nächste Kostprobe werden wir morgen früh in diesem Hohen Hause erleben: Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem wir einen Volksentscheid zur
europäischen Verfassung - eine Forderung, die die Grünen immer wieder erhoben haben - anmahnen. Das beraten wir morgen erneut und Sie werden den Gesetzentwurf wieder ablehnen.
Die Materie ist aber viel zu ernst, um ein Spiel damit
zu treiben, wie es die Grünen tun. Ich bin sicher, Sie
werden von den Wählern dafür die Quittung bekommen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/3120 zu dem Antrag der
FDP mit dem Titel „Passagierdatensammlungen und
Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/2761 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP und der Abgeordneten der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Anlegerschutzes ({0})
- Drucksache 15/3174 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Florian Pronold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße den von der Bundesregierung erarbeiteten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anlegerschutzes.
({0})
Wir schaffen es damit, das Vertrauen in die Märkte wieder zu stärken und den Missbrauch zu bekämpfen.
({1})
- Ja, wir unterstützen ihn, keine Sorge. Ich nehme an,
Sie tun das auch.
({2})
- Das ist schön.
Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass wir
mit dem Gesetzentwurf eine Prospektpflicht für den so
genannten grauen Kapitalmarkt einführen, der in der
Vergangenheit dadurch aufgefallen ist, dass es einen erheblichen Missbrauch gegeben hat, dass sehr hohe Schadensummen entstanden sind und dass viele Anleger Totalverluste erlitten haben. Schätzungen zufolge sind in
den vergangenen Jahren zwischen 1 Milliarde und
30 Milliarden Euro vernichtet worden.
Der graue Markt ist bisher nicht reguliert worden. Mit
der Prospektpflicht, die mit dem Gesetzentwurf eingeführt wird, werden dem Anleger mehr Informationen zur
Verfügung gestellt. Dadurch können bessere Anlageentscheidungen getroffen werden. Insgesamt wird die Beweislage für den Anleger im Falle von Schadenersatzprozessen verbessert. Neu ist auch die Erfassung von
Treuhandvermögen und Unternehmensbeteiligungen
- einschließlich Immobilienfonds - durch die Prospektpflicht.
Die Anlageformen auf dem grauen Kapitalmarkt sind
nicht per se illegal. Es werden viele sinnvolle Vorhaben
finanziert, zum Beispiel in den Bereichen Umweltschutz
und Windkraft, und auch für die Kapitalbeschaffung
kleinerer und mittlerer Unternehmen spielt dieser Markt
eine Rolle.
Aber leider gibt es auch viele unseriöse Anbieter.
Deshalb hoffe ich - auch aus eigener Erfahrung mit der
CSU - auf die Zustimmung der CSU zu dem Gesetzentwurf. Denn wie wir kürzlich den Medien entnommen haben, hat die bayerische Kultusministerin Monika
Hohlmeier im Zusammenhang mit der WABAG-Affäre
({3})
auf dem grauen Kapitalmarkt selber einen Schaden in
Höhe von 27 000 Euro erlitten. Dieser Verlust ist ihr sinnigerweise unter Beihilfe ihres Bruders, Max Strauß,
entstanden.
({4})
Es ist wichtig, solche Formen von Anlagebetrug an dieser Stelle gemeinsam zu bekämpfen. Ich muss allerdings
einräumen, dass selbst unser Gesetz nicht vollständig
vor solchen Formen des Anlagebetrugs schützen kann,
durch den Tausende von Anlegern um rund
150 Millionen Euro geprellt worden sind.
Gleichwohl stellt unser Gesetzentwurf einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Anlegern und den
Anbietern von Produkten auf dem grauen Markt dar. Die
geplante Genehmigungsfrist von 20 Tagen, die für Anbieter gilt, bevor sie ihren Prospekt auf den Markt bringen können, ist angemessen, weil es sich im Regelfall
um langfristige Anlageentscheidungen handelt. Die im
Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen stellen auch
keine Belastung für diejenigen Anbieter dar, die keine
schwarzen Schafe sind. Damit mich die Frau Präsidentin
nicht rügt, füge ich hinzu, dass ich mit schwarzen Schafen natürlich nicht den ehemaligen CSU-Ortsvorsitzenden Max Strauß gemeint habe.
Zudem sind bestimmte Anlageformen, für die bereits
ein hinreichender Schutz besteht, generell von der Prospektpflicht ausgenommen. Dazu gehören Versicherungsund Genossenschaftsprodukte sowie Produkte von Kreditinstituten, die der Aufsicht nach dem Kreditwesengesetz unterliegen. Des Weiteren sind alle Produkte, die
unter eine Bagatellgrenze fallen, und Angebote ausgenommen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt
sind.
Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie, die der Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch dient, in nationales
Recht um. Hervorzuheben ist, dass Personen, die beruflich für Dritte Finanzanalysen erstellen, zukünftig Interessenkonflikte offen legen müssen. Der Gesetzentwurf
lässt im Falle von Journalisten, die im Bereich des
Finanzmarktes tätig sind, Spielraum für eine entsprechende Selbstregulierung. Wir wissen anhand von vielen
Beispielen aus der Vergangenheit, dass gerade Journalistinnen und Journalisten durch Marktmanipulationen
Schindluder getrieben haben, mit entsprechenden Empfehlungen Geschäfte gemacht und Gewinne selbst eingesackt haben. Bisher war in Europa nur der Insiderhandel
verboten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie, die
auch Kursmanipulationen sanktioniert, wird eine einheitliche, europaweite Regelung geschaffen. Die Bundesregierung hat hier durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet.
Die Marktmissbrauchsrichtlinie ist bis zum 12. Oktober
2004 in nationales Recht umzusetzen. Das werden wir
auch machen. Damit werden wir gleichzeitig drei weitere Richtlinien und eine Verordnung umsetzen.
({5})
Unser Gesetzentwurf ist gut und findet breite Zustimmung bei vielen Verbänden. Deswegen appelliere ich an
Sie: Tun Sie mit uns gemeinsam etwas dafür, um die
schwarzen Schafe zu bekämpfen, die grauen Märkte trockenzulegen und die weißen Westen zu stärken.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Da nur noch eine sehr überschaubare Anzahl von Kolleginnen und Kollegen anwesend ist, kann man ruhig auch
einmal über schwarze Schafe philosophieren, wenngleich ich unterstelle, dass das Gesetz nicht speziell für
einzelne Personen aus dem Freistaat Bayern gemacht
worden ist.
In der Tat - hierin bin ich mit dem Kollegen Pronold
ausnahmsweise einig - gibt es noch immer Anlagebetrüger, die jedes Jahr einen enormen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Wenn man sich anschaut, welchen Schaden so genannte schwarze Schafe oder windige
Geschäftemacher in den letzten Jahren angerichtet haben, dann stellt man fest, dass wir Handlungsbedarf haben. Insofern begrüßen wir grundsätzlich jeden Ansatz,
der dazu dient, den Anlegerschutz weiter zu verbessern.
Auch meiner Fraktion ist es ein wesentliches Anliegen,
hier tätig zu werden. Wir unterstützen jede Maßnahme,
die geeignet ist, windigen Geschäftemachern das Handwerk zu legen.
Stefan Müller ({0})
Aber natürlich ist es unsere Aufgabe, klare und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Das gilt sowohl für den Anleger- und Verbraucherschutz als auch
für die berechtigten Anliegen der Finanzwirtschaft. Unser gemeinsames Ziel muss es doch sein - wir haben im
vergangenen Jahr das eine oder andere hier vorangebracht -, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im
Allgemeinen und die Wettbewerbsfähigkeit der Finanzdienstleister im Besonderen zu stärken.
Gut gemeinter Anlegerschutz darf in der letzten
Konsequenz aber nicht dazu führen, dass sinnvolle Kapitalmarktgeschäfte verhindert werden. Ich meine damit
insbesondere Kapitalmarktgeschäfte, die im europäischen Ausland völlig selbstverständlich getätigt werden
können, bei uns aber nicht möglich sind.
({1})
Andernfalls werden deutsche Kapitalanleger gezwungen, ihr Geld legal ins Ausland zu transferieren und dort
anzulegen, und Finanzdienstleistungsunternehmen aus
Deutschland werden gezwungen, im Ausland entsprechende Produkte aufzulegen. Das kann nicht im Sinne
deutscher Finanzmarktpolitik sein.
({2})
Wir müssen also bei jeder Reform des Anlegerschutzes noch stärker als bisher mit Augenmaß vorgehen. Wir
müssen vor allem das Leitbild des mündigen Anlegers
walten lassen, der durchaus imstande ist, selbst zu entscheiden, was für ihn gut und richtig ist.
({3})
Insofern ist natürlich zu berücksichtigen, welcher Nutzen einerseits und welche Kosten andererseits durch
neue gesetzliche Regelungen entstehen.
Übermäßige administrative Auflagen müssen insgesamt vermieden werden und jede neue Regelung muss
auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Wir müssen dabei schon berücksichtigen, dass es gerade die
Finanzdienstleistungsbranche in Deutschland ist, die wie
keine andere Branche reglementiert und reguliert wird.
Allein die deutsche Kreditwirtschaft muss jedes Jahr nur
für die Erfüllung von Kontroll- und Meldevorschriften
1 Milliarde Euro ausgeben. Diese Zahl haben wir schon
des Öfteren gehört, auch im vergangenen Jahr, als wir
über die Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland
gesprochen haben.
Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass es letztlich die Verbraucher und die Anleger sind, die diese
Kosten tragen müssen; insofern haben wir durchaus unser Augenmerk darauf zu richten.
({4})
Übermäßige Haftungsregeln schaden der Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit des Finanzplatzes genauso wie ein zu oberflächliches Haftungsregime. Das
gilt selbstverständlich sowohl für die Wirtschaft als auch
für die Anleger. Das heißt, wir brauchen einen leistungsfähigen Finanzplatz, damit Anlegern und Verbrauchern
gute und attraktive Anlagemöglichkeiten überhaupt angeboten werden können.
Mit dem nunmehr vorliegenden Gesetzentwurf wird
unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie
umgesetzt. Ich möchte im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser EU-Richtlinie eines deutlich festhalten:
Ich halte es schon für wichtig, dass es bei der Umsetzung
von Rechtsetzungsakten der EU nicht zu strengeren Regeln als in den anderen europäischen Ländern kommt,
weil Regeln, die im Inland schärfer als im europäischen
Ausland sind, der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland selbstverständlich Schaden zufügen.
Schaut man sich diesen Gesetzentwurf an, hat man
den Eindruck, dass das Prinzip, dass in Deutschland
keine schärferen Regeln gelten sollen und dass die nationale Umsetzung von EU-Richtlinien nicht mit zusätzlichen Regelungen befrachtet werden soll, an der einen
oder anderen Stelle nicht eingehalten worden ist. Als
Beispiel möchte ich die weit reichenden Kompetenzerweiterungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nennen. Die Eingriffs- und Auskunftsbefugnisse der BaFin werden insgesamt deutlich erweitert,
ohne dass das in der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie
ausdrücklich so gefordert worden wäre. Das gilt insbesondere für den neuen § 4 des Wertpapierhandelsgesetzes. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist von einer
Generalbefugnisnorm die Rede. Man könnte bei genauerem Hinsehen auch den Eindruck gewinnen, dass es sich
dabei um eine Art „Die-BaFin-darf-alles-Vorschrift“
handelt.
({5})
Ähnliches gilt im Übrigen im Hinblick auf die Vielzahl von Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen. Auch da wird die Möglichkeit, Rechtsverordnungen umzusetzen, vom Bundesfinanzministerium
direkt an die BaFin delegiert. Das erscheint vor dem
Hintergrund europäischer Vorgaben vielleicht dann sinnvoll, wenn eine zeitnahe Umsetzung erfolgen muss. Was
aber nicht passieren darf, ist, dass die BaFin über die
Umsetzung von EU-Richtlinien hinaus die Möglichkeit
bekommt, diese Rechtsverordnungen einseitig auf den
Weg zu bringen.
({6})
Über diese Themen müssen wir im weiteren gesetzgeberischen Verfahren reden. Insgesamt darf sich die
BaFin eben nicht nur als Regulierer und als Aufseher
verstehen; vielmehr muss sie sich auch als Partner der
Finanzdienstleister verstehen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - das möchte ich
noch einmal betonen - setzt sich auch weiterhin für eine
Verbesserung des Anlegerschutzes und eine Fortentwicklung des Finanzplatzes ein. In diesem Sinne, Herr
Kollege Pronold, werden wir uns an der Beratung dieses
Gesetzentwurfs selbstverständlich konstruktiv beteiligen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie eben bereits gesagt wurde, reden wir heute
über das Anlegerschutzverbesserungsgesetz. Dieses Gesetz dient der sinnvollen Weiterentwicklung der Funktionalität des Finanzplatzes Deutschland. An dieser Stelle
will ich die Gelegenheit ergreifen, noch einmal auf die
Bedeutung des Finanzplatzes Deutschland hinzuweisen, weil das in diesen Zusammenhängen immer ein
bisschen aus dem Blickwinkel gerät.
Dabei muss man sich zwei wesentliche Eckwerte vor
Augen führen. Man muss sich klar machen, dass die Finanzbranche in Deutschland rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt - im Vergleich beispielsweise
zu 1 Million Arbeitsplätzen in der auch sehr wichtigen
Automobilindustrie. Die Wertschöpfung der Finanzbranche, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, beträgt
rund 4,6 Prozent - im Vergleich zu 3 Prozent in der Automobilindustrie. Das macht deutlich: Die positive Entwicklung des Finanzplatzes Deutschland ist ein bedeutender Baustein zur Stärkung der bundesdeutschen
Wirtschaft.
Natürlich bedeutet ein gesunder Finanzplatz Deutschland - darüber muss man reden - auch eine gute Kapitalausstattung unserer Unternehmen. Die Diskussion
über die zu geringe Eigenkapitalausstattung insbesondere unserer bundesdeutschen kleinen und mittleren Unternehmen ist bekannt. Gerade vor dem Hintergrund der
Zurückhaltung der deutschen Banken bei der Vergabe
von Krediten an diese Unternehmen, und zwar eher der
Privatbanken als der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, gewinnt der freie Kapitalmarkt in Deutschland
immer größere Bedeutung. Ein gut funktionierender
Kapitalmarkt bedeutet ein Mehr an Wirtschaftskraft, ein
Mehr an Arbeitsplätzen, automatisch dann auch ein
Mehr an Wohlstand.
Das Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist praktisch
eine Weiterentwicklung des von der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg gebrachten Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes. Dieses Vierte Finanzmarktförderungsgesetz - das sollte die Opposition einmal zur
Kenntnis nehmen; auch das wird von Ihnen immer gern
beiseite gewischt - war einer der wirklich großen Erfolge der rot-grünen Bundesregierung, was von allen
Seiten, insbesondere auch von der Fachwelt, anerkannt
wurde.
({0})
Das heute zur Debatte stehende Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist auch ein bedeutender Teil des im
Februar 2003 vorgestellten Zehnpunkteprogramms der
Bundesregierung zur Verbesserung der Unternehmensintegrität und zur Stärkung des Anlegerschutzes. Zu einem
funktionierenden Finanzplatz gehört natürlich ein gutes
Instrumentarium zu dessen Kontrolle.
Was hier zur Debatte steht, ist im Wesentlichen eine
Umsetzung der eben bereits erwähnten Marktmissbrauchsrichtlinie der Europäischen Union. Ein wichtiger
Punkt ist der Insiderhandel. Man muss sich klar machen: Die Insiderhandelstraftatbestände werden in Zukunft so verschärft, dass bereits der Versuch des Insiderhandels strafbar ist. Vor allem nimmt der Gesetzgeber
das Umfeld eines Unternehmens ebenfalls mit in den
Blick, um auch dort die Dinge ans Tageslicht zu bringen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Marktmanipulation. Bisher muss den entsprechenden Leuten der Versuch der Marktmanipulation nachgewiesen werden. In
Zukunft soll bereits die reine Tatsache genügen, dass der
Markt manipuliert war, um strafrechtliche Ermittlungen
gegen den entsprechenden Personenkreis einleiten zu
können.
Die Offenlegungspflichten werden auf alle die Personenkreise ausgeweitet, die beruflich Finanzanalysen
erstellen oder weitergeben; hiervon sind auch Journalisten betroffen.
Die Prospektpflicht wird auf die Produkte des so
genannten grauen Kapitalmarktes erweitert. Diese
Prospekte werden - das ist auch eine Neuerung - von der
BaFin geprüft.
In Zukunft wird die BaFin auch die Prospekte des allgemeinen Kapitalmarktes prüfen. Hierfür sind die Jahre
2008 bis 2013 ins Auge gefasst.
({1})
Heute kontrolliert hier noch die Deutsche Börse. Wichtig
für diese Prüfungen - das wurde eben bereits angesprochen - ist die Prüfdauer. Im Gesetzentwurf steht zurzeit,
dass der BaFin ein konkreter Prüfungszeitraum von ungefähr 20 Tagen vorgegeben werden soll; diese Frist ist
aber fließend. Das bedeutet allerdings für die Emittenten
keine Rechtssicherheit. Bei anderen Wertpapieren liegt
heute die Genehmigungsfiktion bei zehn Tagen. Genehmigungsfiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass
das Produkt, wenn nach zehn Tagen keine Ablehnung erfolgt ist, als genehmigt gilt. Über die Aufnahme einer
solchen Zehntagefrist in den Gesetzentwurf für Prospekte des grauen Kapitalmarkts sollte man meiner Meinung nach nachdenken.
({2})
Alle diese Dinge - diesen Punkt möchte ich abschließend noch einmal ansprechen - brauchen natürlich auch
eine Kontrolle durch die entsprechenden Staatsanwaltschaften.
({3})
Es ist ein großes Defizit, dass es immer noch nicht gelungen ist, eine zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen.
Hier sind insbesondere die unionsgeführten Länder in
der Pflicht, weil sie bis heute verhindert haben, dass eine
solche zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft geschafHubert Ulrich
fen wird. Ich appelliere noch einmal an Sie, darüber
ernsthaft nachzudenken. Die Skandale der Vergangenheit auch in Deutschland - ich erinnere an Flow-Tex,
Comroad und EM-TV - geben genug Anlass, über eine
solche Institution nachzudenken.
({4})
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Mein Schlusssatz: Der Gesetzentwurf stellt insgesamt
einen gelungenen Kompromiss zwischen den Forderungen nach Freiheit des Marktes und dem dringend gebotenen Schutz der Anleger vor Marktmissbrauch dar.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes versucht die Bundesregierung einen Spagat zwischen Anlegerschutz und Überregulierung. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes liegt
in der Umsetzung der europäischen Marktmissbrauchsrichtlinie, die bis Oktober umgesetzt werden muss. Bei
der Umsetzung zeigt sich jedoch wieder der Hang von
Rot-Grün, die deutschen Bürger zu bevormunden, denn
der Gesetzentwurf geht deutlich über die Vorgaben der
Marktmissbrauchsrichtlinie hinaus.
({0})
Das Gesetz enthält im Grundsatz gute Ideen. Der Versuch, das gebeutelte Anlegervertrauen zu stärken, ist
richtig. Die Anleger haben den Kurssturz an den Aktienmärkten nach dem Platzen der New-Economy-Blase immer noch nicht verdaut. Außerdem haben Bilanzmanipulationen von Unternehmen wie Enron, Worldcom in den
USA, aber auch Unternehmen des Neuen Marktes wie
Comroad und Flow-Tex Spuren im Vertrauen der Anleger hinterlassen. Die FDP begrüßt und unterstützt alle
Versuche, dieses verloren gegangene Vertrauen wieder
zu stärken.
Ein besseres Insiderrecht ist notwendig, um Insidergeschäfte an den Kapitalmärkten einzudämmen und so
die Anleger zu schützen. Es kann nicht sein, dass sich
Unternehmensführer auf Kosten von Kleinanlegern die
Taschen füllen. Allerdings schießt der Gesetzentwurf der
Bundesregierung hier über das Ziel der Marktmissbrauchsrichtlinie hinaus.
({1})
Er sieht eine flächendeckende Sanktionierung des unerlaubten Umgangs mit Insiderinformationen vor, obwohl
dieses von der Richtlinie nicht gefordert wird. So soll es
zum Beispiel in Zukunft auf die Eignung der Information zu erheblicher Kursbeeinflussung überhaupt nicht
mehr ankommen, sondern es soll genügen, dass ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde.
Auch bei der Überwachung und Verfolgung von
Verstößen geht der Gesetzentwurf deutlich über die
Vorgaben hinaus. So sollen Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kreditinstitute zur Anzeige von Verdachtsfällen an die BaFin verpflichtet werden. Die BaFin wiederum soll zur Strafanzeige bei der
Staatsanwaltschaft verpflichtet werden. So entwickelt
sich die BaFin aber zu einer Art Strafverfolgungsbehörde. Da sie aber schon jetzt überlastet ist, ist zu befürchten, dass damit zusätzliche Probleme entstehen und
auch das Vertrauen der beaufsichtigten Institute in den
Umgang mit ihr nicht unbedingt gestärkt wird.
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, neben einer Verschärfung des Insiderrechtes ist im Gesetzentwurf die Einführung einer Prospektpflicht für nicht
in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen
vorgesehen. Das ist ein Schwerpunkt des so genannten
grauen Kapitalmarktes, der damit schärfer reguliert werden soll. Nach der Statistik des Finanzministeriums hat
es am grauen Kapitalmarkt allein im Jahr 2002 über
15 000 Betrugsfälle gegeben. Laut Kriminalstatistik sollen allein durch Anlagebetrug Schäden in Höhe von über
220 Millionen Euro entstanden sein; die Dunkelziffer
dürfte höher liegen.
Aber gerade Kleinanleger sind die Dummen. Ihr Vertrauen muss wieder gewonnen werden. Die Schritte, die
dazu unternommen werden, begrüßen wir.
({3})
Deshalb begrüßen wir auch die Prospektpflicht für nicht
in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen.
Herr Ulrich, Sie haben es angesprochen: In der Vergangenheit haben wir gerade im Bereich des Finanzmarktes Wert darauf gelegt, möglichst übereinstimmend,
sachgerecht und ohne Parteipolitik zu Ergebnissen zu
kommen.
({4})
Wir setzen uns bei den Beratungen weiter dafür ein;
denn es ist gut, dass ein so wichtiger Bereich nicht in das
parteipolitische Gezänk gerät, sondern so sachlich behandelt wird, dass am Ende ein Kompromiss stehen
kann, der von allen getragen wird und durch den Probleme ausgeräumt werden können. Wir werden uns bei
den Beratungen des Gesetzes in dieser Form verhalten
und freuen uns auf eine Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Unser europäisches
Haus nimmt immer mehr Gestalt an. Das zeigt nicht nur
die erfolgte Aufnahme von zehn neuen Ländern in unsere Gemeinschaft, sondern auch die Gesetzesharmonisierung auf vielen Gebieten.
Heute beschäftigen wir uns mit einem Gesetzentwurf,
der unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie
auch in Deutschland umsetzt.
({0})
Damit wird der Finanzplatz Deutschland weiter gestärkt, was sich neben einem erhöhten Anlegerschutz
auch auf Wachstum und Beschäftigung auswirkt. Denn
wenn Anlegerinnen und Anleger sich sicher fühlen, dann
sind sie vermehrt bereit, ihr Kapital wieder verstärkt in
unsere Wirtschaft zu investieren. Leider werden sie auch
hier bei uns durch internationale, aber ebenso durch nationale Missbrauchsvorfälle verunsichert. Daher ist es
notwendig, die Transparenz im Kapitalmarkt weiter zu
erhöhen. Damit kann der Schutz vor unzulässigen
Marktpraktiken weiter verbessert werden. Das hat natürlich auch positive Auswirkungen auf unsere Marktintegrität und Markteffizienz.
Mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz leisten
wir unseren Beitrag zu einem europaweiten Standard zur
Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch.
({1})
- Ich habe kein Problem, darüber hinauszugehen, wenn
unsere Anlegerinnen und Anleger dadurch besser geschützt werden.
({2})
In einem enger zusammenrückenden Europa ist das
ein unerlässlicher Faktor einer umfassenden Missbrauchsbekämpfung und des Schutzes der Anlegerinnen
und Anleger.
Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang die auch im
Gesetzentwurf aufgeführte Prospektpflicht für Produkte
im so genannten grauen Kapitalmarkt in Verbindung mit
einer entsprechenden Haftung. Viele Anlegerinnen und
Anleger fühlen sich aufgrund der Entwicklung am Kapitalmarkt in den letzten Jahren tief verunsichert.
({3})
Es ist selbstverständlich, dass Bürgerinnen und Bürger,
die ihr Geld am Kapitalmarkt einsetzen, auch dem Risiko von negativen Kursentwicklungen ausgesetzt sind.
Das ist den meisten auch durchaus bewusst. Aber natürlich muss sich jeder, der sein Geld in diesen Kreislauf
einbringt, der Seriosität des Produktes sicher sein können. Es ist im Interesse der Anlegerinnen und Anleger,
aber auch aller ehrlichen Anbieter im Markt, dass der
Marktzugang für schwarze Schafe wesentlich verschärft
und damit wesentlich schwerer wird.
({4})
Das erhöht auch die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes. Denn der so genannte graue Markt beinhaltet
Teile des Kapitalmarktes, die nicht unter den Wertpapierbegriff fallen. Das sind zum Beispiel Unternehmerbeteiligungen, die nicht börsennotiert sind. Bisher gab es
in diesem Bereich nur unzureichende verbindliche Regelungen und kaum Produkttransparenz. Daher war hier
die Gefahr finanzieller Schäden bis hin zum Totalverlust
besonders hoch. Herr Thiele und Herr Pronold haben bereits ausführlich auf Fallzahlen und die Höhe der Verluste hingewiesen.
Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist diese
Form der Kapitalbeschaffung besonders interessant.
Daher ist es in beidseitigem Interesse, wenn hier Verbesserungen geschaffen werden können. Ich bin mir sicher,
dass eine wesentliche Verbesserung des Anlegerschutzes
in diesem Bereich solide Unternehmen für Investoren
noch attraktiver macht. Ich bin mir deshalb so sicher,
weil ich selbst aus einem Unternehmen stamme, in dem
sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Investoren
und damit als Mitgesellschafter erfolgreich betätigen.
Hätten wir 1996 hinsichtlich der Finanzierung nicht
diese Entscheidung getroffen, würde es die Union Werkzeugmaschinen GmbH heute nicht mehr geben.
({5})
Natürlich war diese Entscheidung nicht ohne Risiko.
Aber wenn man den nötigen Einblick in ein Unternehmen hat und sicher sein kann, dass alle Zahlen in korrekter Weise vorliegen, kann man sein persönliches Risiko
besser einschätzen und eine fundierte Entscheidung treffen. Ich denke, dass eine solche Kapitalbeschaffung
durchaus akzeptabel und unterstützenswert ist und dass
solide Unternehmen nicht durch Betrüger in ein schlechtes Licht gerückt werden dürfen.
({6})
Das gelingt aber nur durch einen umfassenden
Schutz, unter anderem durch eine Prospektpflicht, und
eine wesentliche Verbesserung der rechtlichen Aufsicht.
Ich kann nicht ganz nachvollziehen - dieser Punkt ist
schon angesprochen worden -, dass bemängelt wird, die
Aufsicht sei zu intensiv; denn jeder Unternehmer in diesem Land, der korrekt handelt, hat keine intensive Untersuchung zu befürchten.
({7})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir EUVorgaben um. Wir reagieren aber auch in geeigneter
Weise auf eine lange Reihe von Unternehmensskandalen
im In- und Ausland. Wir müssen die Krise an den
Finanzmärkten überwinden und die Rahmenbedingungen des Finanzplatzes Deutschland weiter verbessern.
Davon profitieren alle Seiten.
Ich freue mich, wenn auch vonseiten der Opposition
gesagt wird, dass wir gemeinsam dieses Ziel erreichen
können. Dass das möglich ist, haben wir in der letzten
Finanzausschusssitzung gemerkt, als aus einem Entschließungsantrag von Rot-Grün plötzlich ein von allen
Fraktionen getragener Antrag zum Thema Girokonto
wurde.
({8})
Ich wünsche mir hier das gleiche Ergebnis wie bei diesem Antrag.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Leo
Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Deutschen Bundestag
herrscht in zwei Punkten weitgehende Einigkeit. Zum einen stimmen wir darin überein, dass der Finanzplatz
Deutschland gute und flexible Rahmenbedingungen benötigt, um seine volkswirtschaftlich wichtige Rolle erfüllen zu können. Zum anderen sind wir uns alle bewusst,
dass die Integration der europäischen Finanzmärkte
weiter voranschreiten muss, wenn wir die potenziellen
Vorteile der Wirtschafts- und Währungsunion voll nutzen
wollen.
({0})
Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion
im Deutschen Bundestag von Anfang an die jüngsten
Initiativen der Europäischen Kommission - Stichwort ist
hier der Aktionsplan Finanzdienstleistungen, abgekürzt
FSAP - unterstützt. Auch das Zehnpunkteprogramm der
Bundesregierung wurde und wird kritisch, aber sehr
konstruktiv von uns begleitet. Es ist damit vor allem der
Union zu verdanken, dass sich Deutschland zu einem attraktiven Finanzplatz entwickelt hat und noch weiter entwickeln wird.
({1})
Damit diese Entwicklung anhält, müssen wir auch
weiterhin genau die Details der von uns angestrebten gesetzlichen Regelungen prüfen. Dies gilt auch dann, wenn
ein Gesetzentwurf im Großen und Ganzen in die richtige
Richtung geht, wie dies beim Anlegerschutzverbesserungsgesetz ohne Zweifel der Fall ist.
Zunächst zur Gesamtbetrachtung. Die Flexibilisierung
der Zusammensetzung des Börsenrates ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die Änderungen im Wertpapierhandelsgesetz setzen weitgehend die Vorgaben der europäischen Marktmissbrauchsrichtlinie um. Zudem schafft
die Einbeziehung des so genannten grauen Kapitalmarktes in die Regelungen des Verkaufsprospektgesetzes sicherlich ein höheres Maß an Transparenz und damit mehr
Anlegerschutz und Markteffizienz.
Beim Einbezug des grauen Kapitalmarktes in das
Verkaufsprospektgesetz fällt vor allem die Regelung in
§ 8 i Abs. 2 auf. Dieser räumt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, 20 Tage zur Prüfung von Prospekten ein, die sich auf öffentlich angebotene, nicht in Wertpapieren verbriefte Anteile beziehen.
Nach Ablauf von 20 Tagen gilt keine Genehmigungsfiktion. Für Verkaufsprospekte, die sich auf Wertpapiere
beziehen, gilt hingegen nach maximal zehn Tagen der
Prospekt als genehmigt, wenn sich die BaFin bis dahin
nicht gegenteilig geäußert hat.
Die in der Gesetzesbegründung gegebene Erklärung,
dass Produkte des grauen Kapitalmarktes komplexer
seien als andere, kann mit Blick auf die Vielzahl individueller Wertpapiere nicht überzeugen. Wir sollten Investmentformen jenseits der Wertpapiere nicht stigmatisieren. Ein funktionsfähiger grauer Kapitalmarkt stellt
heutzutage trotz der vielleicht etwas unglücklichen Bezeichnung einen wichtigen Bestandteil eines guten Finanzplatzes dar. Wir sollten hier seriöse Anbieter nicht
schlechter behandeln als solche in anderen Finanzmarktsegmenten.
({2})
Weiterhin sollte ein Bestandsschutz respektive eine
Übergangsfrist für Angebote gefunden werden, deren
Platzierung bereits läuft. Anderenfalls könnten Unterbrechungen im Vertrieb unnötigerweise ganze Fondskonzepte gefährden.
({3})
Im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes sind vor
allem folgende Kritikpunkte zu nennen - auf einige
wurde schon hingewiesen -: Dies betrifft die Befugnisse
der BaFin im geplanten § 4 Abs. 2 - Einschränkung von
Handelsaktivitäten im Einzelfall - und Abs. 3 des Wertpapierhandelsgesetzes, wonach vorgesehen ist, dass im
Grunde genommen jedermann mitwirken soll, wenn die
BaFin etwas untersucht. Das müsste darauf beschränkt
werden, dass nur dann eine Mitwirkung vorgesehen
wird, wenn es der Funktionsfähigkeit des Marktes dient.
Verordnungsermächtigungen der BaFin und des BMF
sind auf Fälle einzugrenzen, die den fachlichen Level II
beinhalten und nicht darüber hinausgehen, also auf Fälle,
für die die Fachleute der Ministerialbürokratie der einzelnen europäischen Länder Normen entwickelt haben.
Diese müssen so umgesetzt werden, dass sie den Vorgaben der EU entsprechen und nicht darüber hinausgehen.
({4})
Sonst werden nämlich europäische Harmonisierungsbestrebungen durch die nationale Gesetzgebung und Normensetzung wiederum konterkariert. Das gilt auch für
einzelne Punkte des so genannten Insiderhandels, für Insiderinformationen. Dort gibt es schon bisher einen großen Chinese Wall zwischen dem Investmentbanking und
den Anlagestrategen. Diese Bereiche sind ja schon getrennt. Wir sollten diese Situation nicht durch zusätzliche Normen so erschweren, dass internationale Normen
des europäischen Marktes konterkariert werden.
({5})
Weitere Einzelpunkte sollten noch geschliffen werden, insbesondere wenn es um die Definition von
„Marktpraxis“ geht. Da muss die BaFin die Definitionen
übernehmen, die sich auf dem Markt bewährt haben.
Ich bin zuversichtlich, dass wir uns hinsichtlich der
genannten Punkte weitgehend einigen werden. Die Rahmenbedingungen am Finanzplatz Deutschland würden
so weiter verbessert. Die CDU/CSU-Fraktion wird
hierzu ihren Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/3174 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({0}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen
- Drucksache 15/3211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2003
stellte die Kriminalpolizei im Kreis Calw 68 Fälle sexueller Ausbeutung von Kindern fest. Im Landkreis Freudenstadt waren davon 28 Kinder betroffen. Die Aufklärungsquote der Polizei liegt in beiden Landkreisen bei 80
bzw. 90 Prozent. Allein in meiner ländlichen Region im
Schwarzwald sind im vergangenen Jahr 96 Kinder Opfer
sexueller Gewalt geworden. Bundesweit - das ist immer
wieder einmal thematisiert worden - sind circa
20 000 Kinder davon betroffen. Wir wissen aber, dass
die Dunkelziffer ungleich höher ist.
Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, fällt
mir auf, dass nur ganz selten sensibel mit diesem Thema
umgegangen wurde. Entweder versucht man, es zu verharmlosen, oder es wird unangemessen und reißerisch
darüber berichtet. Nicht selten ist die Berichterstattung
auch nicht auf der Höhe der aktuellen Gesetzeslage.
Der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz
von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und
Ausbeutung ist beispielhaft,
({0})
weil er ressortübergreifend ist und ein nachhaltiges Gesamtkonzept verfolgt. Er hat vier zentrale Ziele: den
strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen
weiterzuentwickeln, den Opferschutz und die Prävention
zu stärken, die internationale Strafverfolgung und die
Zusammenarbeit sicherzustellen sowie die Vernetzung
der Hilfs- und Beratungsangebote zu fördern.
Durch den Aktionsplan, der erst am 29. Januar 2003
verabschiedet wurde, wurde bis heute viel auf den Weg
gebracht:
({1})
Das Sexualstrafrecht wurde verschärft, Lücken wurden
geschlossen, vor allem, wenn es um die Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie gegen Menschen mit Behinderungen geht. In diesem Zusammenhang ist es mir besonders wichtig, daran zu
erinnern, dass ein neuer Straftatbestand für Kinderpornographie geschaffen wurde, durch den insbesondere geschlossene Tätergruppen im Bereich des Internets
verfolgt werden können.
({2})
Außerdem gilt - das ist leider nicht überall bekannt -:
Wer sich kinderpornographische Schriften beschafft oder
sie besitzt, wird bestraft, und zwar stärker als in der Vergangenheit.
Bei der jüngst verabschiedeten Opferrechtsreform
wurden die Rechte der Opfer in wesentlichen Punkten
gestärkt. Das Ziel, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden, ist weitgehend erreicht worden. Die Opfer werden
stärker am Verfahren beteiligt.
Für mich als Politikerin ist es wichtig und selbstverständlich, dass die Täter angemessen bestraft werden.
Mein und unser aller politisches Ziel ist es - dafür arbeiten wir -, dass in Zukunft weniger Kinder Opfer sexueller Gewalt werden.
({3})
Das Kindeswohl hat dabei für mich und für uns alle
oberste Priorität. Es bedarf noch enormer Anstrengungen im Bereich der Prävention. „Hinsehen. Handeln.
Helfen!“ - mit diesem einprägsamen Motto hat das Bundesfamilienministerium am 20. April dieses Jahres eine
Präventionskampagne gestartet. Ein Kampagnenbus veranstaltet 18 Aktionstage vor Ort. Bürgerinnen und Bürger können sich informieren. Die Beratungseinrichtungen haben die Möglichkeit, ihre Arbeit umfassend
darzustellen. Eingerichtet wurden außerdem eine Internetseite und ein Servicetelefon; eine Broschüre mit dem
Titel „Mutig fragen - besonnen handeln“ wurde aufgelegt.
({4})
Zum Handeln und zur Zivilcourage fordert auch die
Informationskampagne gegen die sexuelle Ausbeutung
von Kindern im Tourismus von Terre des Hommes auf,
die ebenfalls vom Bundesministerium unterstützt wird.
An dieser Stelle gratuliere ich ausdrücklich und ganz
herzlich dem Kinderhilfswerk zu einer hohen Auszeichnung für die beste „langfristige PR-Strategie“, die unter
anderem den Inflightspot „Toys“, die Internetplattform
„www.child-hood.com“ und den Spot „Words“ umfasst.
Die Internetplattform wurde bisher von Menschen aus
82 Ländern genutzt. Das ist doch ein schöner Erfolg.
({5})
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die SPDgeführte Bundesregierung bei der Umsetzung des
Aktionsplans unterstützen. Es gilt, diesen im Zusammenhang mit allen Beteiligten stetig weiterzuentwickeln. Meine Vorstellung, unsere Vorstellung - ich
glaube, in diesem Hause sind wir uns diesbezüglich einig - von einer kindgerechten Welt und von einer kinderfreundlichen Gesellschaft beinhaltet, dass sich Kinder und Jugendliche auf Erwachsene verlassen können
müssen. Sie sind darauf angewiesen, ihnen zu vertrauen.
Zwei Drittel der sexuellen Gewalthandlungen gegen
Kinder werden im familiären Umfeld begangen. Ein
nicht unbeachtlicher Teil der Taten wird auch im Rahmen medizinisch-therapeutischer Abhängigkeitsverhältnisse verübt oder durch Personen, die Kinder und
Jugendliche haupt- oder ehrenamtlich betreuen. Von potenziellen Sexualstraftätern ist bekannt, dass sie sich
ganz bewusst auch Arbeit in solchen Feldern suchen, die
ihnen den Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Hier sind insbesondere alle Organisationen und
Institutionen gefordert, die für das Wohl der Kinder Verantwortung tragen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
brauchen dringend Handlungsanleitungen und intensive
Schulungen, um sexuelle Ausbeutung überhaupt erkennen zu können und um geeignete Ansprechpartner und
Ansprechpartnerinnen zu sein.
Anonym, vertraulich und kostenlos können Kinder
und Jugendliche in Not bei bundesweit 95 Kinder- und
Jugendtelefonen anrufen. Diese werden und wurden
auch unglaublich oft genutzt: Mit 7 Millionen Anrufen
im Jahr 2003 ist das Kinder- und Jugendtelefon zu einer
der meistgenutzten Anlaufstellen junger Menschen geworden. Deshalb müssen diese Telefone - das ist eine
Forderung aus unserem Antrag - weiter ausgebaut und
gefördert werden.
({6})
Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass die
Bundesregierung bei den Ländern dafür eintritt, zusätzlichen Fortbildungsbedarf bei der Polizei, aber auch insbesondere im Bereich der Justiz zu prüfen. Gerade diese
Bitte wird immer wieder an uns Abgeordnete herangetragen.
Außerdem müssen auch die 14- bis 18-Jährigen vor
pornographischen Abbildungen strafrechtlich geschützt
werden. Das heißt, das Schutzalter muss heraufgesetzt
werden. Ein solcher strafrechtlicher Schutz wird durch
die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den
Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die
Kinderpornographie erreicht. Die Bundesregierung bereitet diese derzeit vor.
Ganz besonderer Sorgfalt bedarf die Arbeit für die sexuell ausgebeuteten Kinder im Grenzbereich von
Deutschland, Tschechien und Polen. Es geht hierbei
um ein grenzübergreifendes Problem, das nur in Zusammenarbeit zwischen den Ländern gelöst werden kann.
Hierfür wurde eine trilaterale Arbeitsgruppe eingerichtet. Die zusätzliche Aufnahme Österreichs halten wir
für sinnvoll und prüfenswert.
Außerdem sehe ich - sehen wir - Aus- und Fortbildungsbedarf beim Auswärtigen Amt. Das Thema „sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen“ muss
hier ein dauerhafter Bestandteil des Programms werden.
Zusätzlich ist eine Handreichung für den Einsatz bei den
deutschen Auslandsvertretungen notwendig. Die Thematik der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen muss in die Lageberichte der Länder dauerhaft integriert werden.
({7})
- Danke für den Applaus. - Davon versprechen wir uns
eine größere Sensibilität für die Kinder in Not.
In den Schattenberichten von ECPAT und Terre des
Femmes zum CEDAW-Bericht der Bundesregierung
wird kritisiert, dass es sich bei der sexuellen Ausbeutung
von Kindern durch Deutsche im Ausland bisher nicht um
ein Delikt aus dem Katalog der organisierten Kriminalität handelt. Somit stehen den Ermittlern keine
erweiterten Ermittlungsbefugnisse, Sonderzuständigkeiten und Zeuginnenschutzprogramme zur Verfügung. Wir
fordern die Bundesregierung auf, eine Aufnahme in den
Katalog der organisierten Kriminalität zu prüfen.
({8})
Um die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus effektiver bekämpfen zu können - das passt dazu;
deshalb füge ich es hinzu -, ist der Einsatz von weiteren
Verbindungsbeamten in den Herkunftsländern zu prüfen.
Auch hier geht die Bitte an die Bundesregierung, diesen
Prüfauftrag zu unterstützen.
({9})
Wir - ich spreche hier auch als SPD-Tourismuspolitikerin - erwarten, dass sich die deutsche Tourismusbranche an ihren Verhaltenskodex erinnert und ihn endlich
Schritt für Schritt erkennbar umsetzt.
So kann auch diese Branche ihrer Verantwortung gerecht werden und dabei helfen, Kinder und Jugendliche
vor sexueller Ausbeutung zu schützen. „Gemeinsam aktiv für eine gewaltfreie Zukunft der Kinder“, so steht es
im Flyer „Kleine Seelen, große Gefahr...“. Wir hätten
uns gewünscht, dass ihn viel mehr Menschen kennen lernen. Ich meine - damit schließe ich -: Angesichts der
zunehmenden Unverfrorenheit der Täter setze ich - dafür bitte ich um Unterstützung - auch auf praktizierte Zivilcourage.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in der Zielsetzung des Antrags, der
uns heute vorliegt, sind wir uns alle einig. Welches
Thema kann für uns wichtiger sein als der Schutz unserer Kinder? Wer, wenn nicht wir, sollte sich für die Kinder einsetzen, um dafür zu sorgen, dass ihr Schutz verbessert wird und sie wirklich geschützt werden?
Ich persönlich - ich glaube, alle anderen auch - empfinde es als unerträglich, dass heute noch - die Kollegin
hat es gerade gesagt - fast 16 000 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs werden. Die Dunkelziffer - auch darin
sind wir uns einig - ist sehr viel höher. Das kann nicht
sein und darf auch nicht sein, schon gar nicht, wenn wir
sehen, dass die Fälle von schwerem sexuellen Missbrauch sogar um fast 5 Prozent zugenommen haben. Das
macht deutlich, dass das, was bisher getan wurde, nicht
ausreicht und wir eine ganze Menge mehr tun müssen.
({0})
Deshalb sage ich ganz deutlich: In der Zielsetzung
sind wir uns einig. Auch wir wollen den strafrechtlichen
Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern und
weiterentwickeln, Prävention und Opferschutz stärken,
die Hilfs- und Beratungsangebote vernetzen und - was
auch Sie als vierten Aspekt genannt haben - die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich fördern.
Aber in der Vorgehensweise sind wir unterschiedlicher Meinung. Ich bin schon darüber erstaunt, diesen
Antrag zum jetzigen Zeitpunkt auf dem Tisch zu haben,
weil ich auch persönlich betroffen bin. Denn Sie erinnern sich vielleicht, werte Frau Kollegin, dass ich bereits
im Jahre 2001 einen Antrag zu genau diesem Thema eingereicht habe. Die Forderungen, die Sie heute stellen,
waren in diesem Antrag in ähnlicher Weise formuliert.
Wenn ich mich recht erinnere - ich habe noch einmal ins
Protokoll gesehen -, haben Sie ihn seinerzeit abgelehnt,
weil der Antrag in vielen Punkten überholt gewesen sei,
({1})
da Sie schon viel aufgearbeitet hätten,
({2})
und da die Regierungskoalition durch Ihre Anträge
schon in viel größerem Umfang tätig geworden sei.
({3})
Heute stehen - ich könnte es Ihnen an einigen Punkten aufzeigen - fast genau dieselben Forderungen wieder
auf dem Papier. Man könnte fast meinen, wir hätten drei
wichtige Jahre zum Schutze unserer Kinder verpasst. Es
wäre mir wichtig gewesen, wenn wir diese drei Jahre
schon an der einen oder anderen Stelle genutzt hätten,
um unsere Kinder zu schützen.
({4})
Auf einige Punkte Ihres Antrags möchte ich mich
kurz beziehen. Sie sagen, dass der Nationale Aktionsplan weiterentwickelt werden muss. Das haben wir bereits 2001 gefordert.
({5})
- Lassen Sie mich doch ausreden. - Wir wollten ein vernünftiges Konzept, um ihn umzusetzen. Wir haben gesagt, dass wir dieses Thema angehen müssen. Nun sind
drei Jahre vergangen, in denen es gute, aber nicht ausreichende Entwicklungen gab. Das geben Sie ja selbst zu.
Insofern müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir
an diesem Punkt weiterarbeiten.
Sie erwähnen in Ihrem Antrag den Wunsch nach einem Ausbau der Kinder- und Jugendtelefone. Das ist
vollkommen richtig. Sie schreiben, dass es derzeit
95 dieser Telefone gibt und dass es viel mehr werden
müssen. Auch an dieser Stelle möchte ich nur daran erinnern, dass es 1998 bereits 80 solcher Telefone gab. Von
1998 bis jetzt sind also lediglich 15 Telefone hinzugekommen. Das ist zu wenig. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass es mehr werden. Das kann nicht sein.
Sie loben und begrüßen, dass die Bundesregierung
das Informationszentrum zu Kindesmissbrauch und
Kindesvernachlässigung fördert und es an das Deutsche Jugendinstitut angegliedert hat. Das finde ich toll.
Sie loben dafür die Bundesregierung. Aber auch diese
Leistung wurde bereits im Januar 1998 erbracht. Insofern freuen wir uns, dass Sie auch die Leistung der alten
Bundesregierung in Ihrem neuen Antrag lobend erwähnen.
({6})
Wir nehmen es zur Kenntnis und ich denke, das ist auch
der richtige Weg: dass wir gemeinsam nach vorn gehen,
und wenn gute Dinge geleistet worden sind, darf man sie
auch beim Namen nennen.
({7})
Gut finde ich - das ist neu in Ihrem Antrag -, dass Sie
auf die berufsethischen Standards hinweisen und auch
hier einen Verhaltenskodex fordern; das ist neu und das
ist richtig. Denn wir wissen, dass Menschen, die Kinder
missbrauchen, sich gerade im Familienumfeld aufhalten
oder in Bereichen, wo sie Kontakt mit jungen Menschen
haben, ein entsprechendes Arbeitsfeld suchen. Hier auf
einen Verhaltenskodex hinzuwirken, berufsethische
Standards zu benennen finde ich sehr gut. Das ist begrüßenswert, das kann man nur unterstützen. An dieser
Stelle kann man auch sagen, dass das, was die deutsche
Tourismusbranche mit ihrem Verhaltenskodex auf den
Weg gebracht hat, begrüßenswert und unterstützenswert
ist. Es ist wichtig, deutlich zu machen, was da eigentlich
passiert, und zu sensibilisieren; dahin müssen wir kommen: dass es in die Köpfe geht. Wir unterstützen dieses
Anliegen auf jeden Fall.
Internationale Zusammenarbeit kann nur gestärkt
werden; es ist nicht ein deutsches Problem. Wir müssen
natürlich mit den Nachbarstaaten in Europa und weltweit
dieses Thema angehen; insofern begrüßen wir auch, dass
Deutschland im Juli den Vorsitz der Ostseeratskooperation übernimmt. Wir werden in den Beratungen - wir
befinden uns ja jetzt in der ersten Lesung - natürlich
wissen wollen: Welche Visionen haben Sie dafür, welche
Konzepte verfolgen Sie, welche Strategien will Deutschland unter seinem Vorsitz umsetzen und wo sollen wir
hin?
Was ich allerdings in Ihrem Antrag ein wenig vermisse, ist eine stärkere Begleitung der Opfer, das heißt
der Kinder, die Opfer geworden sind. Ich glaube nicht,
dass es ausreicht, auf die Bundesländer einzuwirken,
dass sie entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, um
die Beratungsstellen aufrechtzuerhalten - im Sinne von
Konnexität müsste es eigentlich so sein, dass der Bund
Mittel zur Verfügung stellt, um diese Projekte wirklich
vor Ort weiterführen zu können, um den Opfern Hilfe zu
geben.
Ganz zum Schluss ein Satz - darauf geht meine Kollegin Noll gleich noch ein -: Sie haben deutlich gemacht,
Kollegin Gradistanac, wie sich der Täterkreis zunehmend verändert. Wir kommen nicht umhin, konsequenter
strafrechtliche Schritte einzuleiten und zu gehen.
({8})
Was Sie machen, reicht nicht aus. Ich wünschte mir
schon an der einen oder anderen Stelle eine konsequentere, präzisere Vorgehensweise, etwa wenn es um die
nachträgliche Sicherungsverwahrung geht,
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Sie wollten zum Schluss kommen.
- um die Überwachung der Telekommunikation oder
die DNA-Analyse. Das ist der letzte Punkt: Ich wünschte
mir eine konsequentere Anwendungsweise. Sie haben
uns an Ihrer Seite, aber bitte nicht nur weich formulieren, sondern auch Tacheles reden; dann sind wir dabei.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bekämpfung von sexueller Gewalt und Ausbeutung
ist eine Aufgabe, der wir uns kontinuierlich und mit großem Engagement stellen müssen und auch stellen. Sexuelle Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen sind brutal, sie sind monströs, nicht nur schlimm,
sondern ein Verbrechen. Aber - genau das ist die Herausforderung für uns Politiker - wir müssen es einfach
schaffen, an dieses Thema nicht nur emotional heranzugehen, sondern vor allem rational und differenziert, um
unsere Ziele überhaupt effektiv erreichen zu können. Es
gibt kein einfaches Patentrezept zum Schutz der Kinder
und es gibt auch keine einfachen Lösungen zur Bekämpfung solcher Gewalt gegen Kinder. Auch die Antworten,
die wir darauf geben können, sind komplex; sie sind
nicht einfach: Es gibt ein ganzes Sammelsurium von
Handlungsansätzen und Instrumenten, die wir anwenden
müssen und die wir vor allem aufeinander abgestimmt
zum Einsatz bringen müssen.
Genau an diesem Punkt nimmt die rot-grüne Koalition auch mit diesem Antrag heute diese Aufgabe wahr.
Unsere Kernbotschaft ist: Wir haben eine ganze Menge
dazu gemacht, wir sind gerade dabei, möglichst niedrigschwellig eine ganze Reihe von Maßnahmen in Gang zu
bringen, und werden es auch in Zukunft energisch angehen.
Frau Fischbach, jetzt würde ich gerne zu Ihnen etwas
sagen. Was haben Sie in den drei Jahren gemacht? Wir
haben das Strafrecht verschärft. Wir haben es sehr hart
verschärft. Meine Kollegin Gradistanac ist schon darauf
eingegangen. Wir haben eine ganz deutliche Verschärfung, nur leider ohne Ihre Stimme. Wir haben zum Beispiel auch noch im Jahre 2000 zum ersten Mal ein Gesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht, das die
Rechte der Kinder als subjektive Rechte im Grundgesetz verankert und in dem wir das Recht auf gewaltfreie
Erziehung eingeführt haben,
({0})
nur leider ohne Ihre Zustimmung. Dennoch möchte ich
jetzt genau auf dieses Beispiel eingehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Fischbach?
Nur zu.
({0})
Liebe Kollegin Deligöz, ich weiß nicht, zum wie vielten Male ich das jetzt wiederhole,
({0})
weil Sie immer eine verkürzte Sichtweise der Abstimmung wiedergeben. Ich frage Sie: Ist es Ihnen noch in
Erinnerung, dass Sie damals die Abstimmung zur gewaltfreien Erziehung verbunden haben mit Änderungen
im Unterhaltsrecht und dass wir hier im Bundestag nicht
über die einzelnen Punkte abstimmen konnten, sondern
nur über das Gesamtpaket? Wir haben also gar nicht im
Einzelnen über die gewaltfreie Erziehung abgestimmt,
sondern haben darüber in Kombination mit Unterhaltsrechtsänderungen, bei denen wir erhebliche Bedenken
hatten, abgestimmt. Ist Ihnen das noch bekannt?
Frau Fischbach, ich freue mich richtig, dass Sie mir
diese Frage stellen. Ich war damals dabei und war eine
der Hauptverhandlerinnen. Von daher kenne ich die Reihenfolge der Ereignisse ganz genau. Ich bin damals für
meine Fraktion durch alle Fraktionen gegangen, weil ich
die Meinung vertreten habe, dass es wichtig wäre, dass
wir hier im Bundestag eine einstimmige Meinung zu diesem Thema haben, weil es eine sehr hohe symbolische
Bedeutung hat und weil das ein Signal nach außen gewesen wäre, das ich für sehr wichtig gehalten habe. An Ihren Rechtspolitikern - ich gebe zu, nicht an Ihnen persönlich - bin ich gescheitert: Sie wollten kein
subjektives Recht, sie wollten es nicht in diesem Paragraphen, sondern im allgemeinen Teil, möglichst unbestimmt und ohne Rechtskonsequenzen.
({0})
Das war der Punkt, an dem wir gesagt haben: Schnitt!
Wir nehmen das, was wir machen, ernst - wenn wir es
nicht ernst nehmen, dann machen wir es erst gar nicht.
Deshalb ist dieses Gesetz dort, wo es jetzt steht, und es
ist sehr wirksam. Dazu komme ich noch.
({1})
Zweitens - ich bin noch nicht fertig - zum Huckepackgesetz: Ja, es war noch eine Unterhaltsrechtsklausel
dabei. Diese Klausel ist zu einem Zeitpunkt in das Gesetz gekommen, zu dem wir bereits wussten, dass eindeutig von Ihrer Fraktion beschieden worden ist, dass
Sie sowieso nicht mitmachen.
({2})
Diese Klausel zum Unterhaltsrecht besagte nichts anderes, als dass ein Anspruch auf das gesamte Kindergeld
besteht, wenn Kinder bei einem Elternteil leben und der
andere Elternteil keinen oder zu wenig Unterhalt zahlt.
Wenn keine Unterhaltszahlungen erfolgen, soll das Kindergeld dorthin, wo die Kinder leben.
({3})
Wenn Sie dagegen sind, dann erklären Sie das einmal
den Müttern, die alleine ihre Kinder erziehen. Genau dagegen haben Sie gestimmt, gegen nichts anderes.
({4})
Jetzt bin ich am Ende meiner Antwort.
Wir haben dieses Recht im Jahr 2000 vereinbart. Ich
möchte Ihnen sagen, warum es wichtig war, nicht nur
das Gesetz zu verändern, sondern auch eine Kampagne
dazu durchzuführen. Unsere Kampagne hat dazu geführt, dass ein Paradigmenwechsel in diesem Land eingeleitet wurde. 80 Prozent der Eltern in diesem Land bescheinigen, dass sie darüber erfahren haben, und
erklären, dass sie in Zukunft von alleine darauf verzichten wollen, Gewalt in der Erziehung anzuwenden. Noch
eine Zahl: Noch im Jahre 1992 war eine Ohrfeige völlig
legitim, völlig normal. Heute sagen die meisten Eltern,
nämlich 86 Prozent: Nein, darauf will ich verzichten.
Lediglich 14 Prozent können das noch vertreten. Im
Jahre 1992 meinten 41 Prozent der Eltern, ein Kind mit
dem Stock zu schlagen sei doch kein großes Problem,
das sei ein Teil der Erziehung. Heute sind es nur noch
5 Prozent. Das ist das Ergebnis unserer Kampagne, die
ich als wirklich erfolgreich bezeichne.
({5})
Nichts anderes zählt; denn eines wissen wir: Gewalt
erzeugt Gewalt. Dagegen müssen wir uns auflehnen. Wir
müssen diesen Teufelskreis durchbrechen. Es geht um
den Schutz unserer Kinder; es geht um unsere Kinder
und um nichts anderes. Deshalb gibt es auch heute wieder nicht nur eine Gesetzesänderung - diese haben wir
hinter uns gebracht -, sondern auch einen Aktionsplan,
eine Kampagne, um die Eltern, um die Kinder, um die
Menschen, um unsere Gesellschaft zu erreichen. Es geht
dabei um Prävention, um Intervention und natürlich
auch um Aufklärung.
Noch ein Punkt: die Verschärfung des Strafrechts.
Ja, die Verschärfung ist an diesem Punkt berechtigt. Nur,
mit Strafrecht alleine schrecken Sie keinen Täter ab;
denn die Täter wissen alle schon, dass es verboten ist,
und tun es trotzdem.
Eine große Dunkelziffer der Täter kommt aus dem
Nahbereich des Kindes. Es sind die Familienmitglieder
- Tanten und Onkel - und die Nachbarn. Sie wissen,
dass das verboten ist, es schreckt sie aber nicht ab. Gerade deshalb ist es wichtig, möglichst niedrigschwellig
Angebote zu machen, die Eltern zu ermutigen und die
Offenheit zu wecken, zu diesem Telefon zu greifen. Es
reicht nicht aus, dass diese Telefone existieren. Es muss
auch die Aufmunterung geben, sie zu benutzen.
({6})
Es geht darum, national und international zu handeln
und nicht nur darüber zu reden.
Es geht um eine gesellschaftliche Sensibilität. Wir
wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Deshalb fordern
wir vonseiten der Grünen gerade an der deutsch-tschechischen Grenze, aber nicht nur dort, auch eine Forschung in diesem Bereich, um genau das zu durchbrechen. Wir wollen eine Forschung, die uns gesicherte
Erkenntnisse zur Argumentation und zum Handeln gibt.
Wir wollen mit diesen Erkenntnissen weg von der reinen
Skandalisierung und Emotionalisierung hin zu Wegen,
durch die wir unsere Kinder schützen.
Eines möchte ich noch einmal betonen: Die Zukunft
unserer Kinder ist die Zukunft unserer Gesellschaft.
({7})
Wenn wir es nicht schaffen, die Gewalt zu durchbrechen,
dann wird das auf unsere Gesellschaft zurückschlagen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Kinder gehört
zu den abscheulichsten Verbrechen auf dieser Welt. Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderpornographie
sind ein gigantisches verbrecherisches Geschäft geworden. UNICEF schätzt den Umsatz weltweit auf 6 Milliarden Euro jährlich. 2 Millionen Kinder weltweit sind
von Kinderprostitution betroffen. Das heißt, 3 000 Kinder werden täglich neue Opfer sexueller Gewalt.
Als damaliger Vorsitzender der Kinderkommission
habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der
Konferenz in Yokahama teilgenommen. Dort wurde eines sehr deutlich: Das Problem der sexuellen Ausbeutung ist sowohl in den armen als auch in den reichen
Ländern ein zunehmendes Übel. Man schätzt, dass sich
jährlich 10 000 Deutsche an Kindern im Ausland sexuell
vergehen. In Deutschland kommen jährlich etwa
20 000 Fälle vor Gericht, bei denen Kinder Opfer sexueller Gewalt sind. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzungen sechsmal so hoch. Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und
Missbrauch fügen Kindern schwersten Schaden an Leib
und Seele zu. Die seelischen und womöglich auch körperlichen Narben bleiben lebenslang bestehen. Das
Grundvertrauen der betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört.
Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion den vorliegenden
Antrag grundsätzlich. Sexuelle Gewalt gegen Kinder
darf kein Tabuthema sein. Es muss immer wieder in das
öffentliche Bewusstsein gerufen werden.
({0})
Dazu dient auch die heutige Debatte. Sie ist ein gemeinsames Anliegen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und wir sollten auch über einen gemeinsamen Antrag nachdenken, um die Bedeutung des Anliegens zu
unterstreichen.
({1})
Die stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist
ein wichtiger Aspekt. Viele Missbrauchsfälle könnten
verhindert werden, wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen und bagatellisiert, sondern wahrgenommen und
angezeigt würden. Das Problem ist nie weit weg, es ist
überall. Meist stammen die Täter aus der Familie oder
dem engeren Bekanntenkreis. Hier ist jeder Einzelne gefragt. Die Gesellschaft darf nicht wegsehen, wenn es um
sexuelle Gewalt gegen Kinder geht.
Nationales Handeln allein ist nicht ausreichend. Innerhalb der Europäischen Union und auch weltweit muss
die Zusammenarbeit zur Bekämpfung der sexuellen
Ausbeutung von Kindern intensiviert werden. Besonders
im Bereich der Kinderpornographie ist es notwendig, zu
einem die Landesgrenzen überschreitenden, wirksamen
europaweiten Rechtsstandard zu kommen.
In diesem Zusammenhang hat sich das Internet nicht
nur als Segen, sondern eben auch als Fluch erwiesen: Per
Mausklick sind hunderttausend einschlägige Adressen
und Hunderte von Webseiten täglich abrufbar - und das
im Schutze der Anonymität, die solche Perversionen begünstigt. Deshalb muss das Problem auf allen Ebenen
energisch angegangen und müssen wirksame Strategien
international angelegt werden; denn das schmutzige Geschäft mit Kindersex ist grenzüberschreitend. Der Missbrauch der Schwächsten der Gesellschaft, der Kinder, ist
ein Verbrechen an der Zukunft unserer Gesellschaft und
an der Menschheit.
Danke.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Alle meine Vorredner hatten das Glück, schon
vorher Mitglieder des Bundestages zu sein. Was will ich
damit sagen? Sie haben bereits von meiner Kollegin
Ingrid Fischbach gehört - ich glaube, sie hat es wirklich
dezidiert dargelegt -, dass wir das, was Sie jetzt hier fordern, bereits vor Jahren gefordert haben und Sie unsere
Anträge immer abgelehnt haben. Die 16 000 Fälle von
Kindesmissbrauch jährlich, die die Kollegin Fischbach
erwähnt hat, zwingen uns, weiter zu handeln.
Tatsache ist, dass immer mehr Pädophile gezielt Chatrooms nutzen, um minderjährige Opfer anzusprechen.
Mein Kollege Klaus Haupt hat auch schon von den Kinderpornos gesprochen. Diese dürfen nicht verharmlost
werden.
Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Strafvollzugsbediensteten. Wenn man mit ihnen gesprochen hat,
dann weiß man, was draußen los ist. Sie haben mir klipp
und klar gesagt: Die Zahl der gefährlichen, gewaltbereiten und behandlungsresistenten Strafgefangenen steigt
jährlich. Das geht zulasten der Kinder. Die Opfer leiden
unter schwerwiegenden Folgen für Seele und Körper.
Kollege Haupt hat auch richtig dargestellt - ich
glaube, das sehen wir alle so -, dass dies zunehmend zu
einem grenzüberschreitenden Problem wird; denn Kinderprostitution macht an Grenzen nicht Halt. Obwohl
der Besitz von Kinderpornographie und deren Austausch
im Internet seit dem 1. April schärfer bestraft wird, besteht meiner Meinung nach nach wie vor die Gefahr,
dass die Machenschaften der Triebtäter in der virtuellen
Welt meistens ungestraft bleiben.
Deshalb sage ich an diesem Punkt: Dieser Antrag
geht in die richtige Richtung, denn ohne eine umfassende internationale Zusammenarbeit aller Länder
werden wir nichts erreichen. Es ist auch richtig, dass sich
internationale Organisationen mit dieser Problematik befassen; denn sexuelle Ausbeutung von Kindern findet
eben nicht nur in Deutschland statt. Aber um das wirksam zu bekämpfen, müssen alle betroffenen Länder die
Strafverfolgungsmöglichkeiten verbessern. Trotzdem:
Diese Forderungen sind nicht neu. Das waren unsere
Forderungen.
Sehr geehrte Frau Kollegin Gradistanac, ich kann Ihnen eine kritische Bemerkung zu Ihrem Antrag leider
nicht ersparen; denn das gerade in Kraft getretene Gesetz
zur angeblich umfassenden Verschärfung im Sexualstrafrecht ist halbherzig und unzureichend. Da ich in
allen Debatten zur Verschärfung des Sexualstrafrechts,
zur Opferrechtsreform, zum Opferschutzgesetz und zur
nachträglichen Sicherungsverwahrung für die Schwachen dieser Gesellschaft gekämpft habe, glaube ich
schon, dass ich dies gut beurteilen kann.
In vielen Punkten haben Sie sich mit wichtigen Maßnahmen zurückgehalten. Kindesmissbrauch und vor allem sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen bleiben Vergehen und werden nicht als Verbrechen
geahndet. Was heißt das für einen Nichtjuristen? Der
Versuch ist nicht strafbar. Das aber haben wir gefordert.
Das gleiche Problem stellt sich bei der Überwachung
des Fernmeldeverkehrs, die für die vielen Fälle von
Kindesmissbrauch und der Verbreitung von Kinderpornographie wichtig wäre. Auch da haben Sie uns nicht zugestimmt, geschweige denn die Zulässigkeit der DNAAnalyse unterstützt. Viele wissen aus der Presse, dass
die DNA-Analyse wesentlich dazu beigetragen hat, dass
viele Täter überführt werden konnten.
In Ihrem Antrag steht, massiv traumatisierte Kinder
sollen dabei unterstützt werden, eigene Interessen wahrzunehmen, damit sie Subjekte des Geschehens werden.
Liebe Kollegin Deligöz, als ich das in dem Antrag gelesen habe, war ich - gelinde gesagt - sehr enttäuscht und
betroffen. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Ich
habe für das Mainzer Modell im Strafverfahren gekämpft. Opferschutz heißt für die CDU/CSU-Fraktion,
sich am Wohl des Kindes zu orientieren. Für alle die, die
nicht wissen, was das Mainzer Modell beinhaltet, sage
ich: Es geht darum, dass kindliche Opfer im Strafverfahren sich in einem gesonderten Raum mit dem Vorsitzenden befinden und eben nicht nur in eine Kamera sprechen müssen. Das hat etwas mit Kindeswohl zu tun.
({0})
Ich habe es noch einmal erklärt, weil dieses Mal die
Familienpolitiker hier sitzen. Mein Appell an die Familienpolitiker geht dahin, hin und wieder Einfluss auf
Rechtspolitiker zu nehmen, damit diese ihr Herz und ihren Verstand für die Kinder öffnen.
({1})
In diesem Punkt haben Sie leider kein deutliches Signal
für kindlichen Opferschutz im Strafverfahren gesetzt.
In Bezug auf die grenzüberschreitenden Maßnahmen
- ich muss Sie einmal direkt ansprechen - rate ich Ihnen,
über die Grenze zu schauen, was Österreich gemacht
hat. Österreich hat das Mainzer Modell bereits eingeführt. Können wir uns nicht vielleicht einmal daran annähern?
Das Gleiche betrifft die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Kollege Ströbele ist leider nicht mehr hier.
Mit dem habe ich an diesem Punkt heftig gestritten. Wir
wollten genau das tun, was notwendig ist, nämlich die
Bevölkerung und vor allem die Kinder vor hochgefährlichen Gewaltverbrechern schützen. Wir haben Sie an dieser Stelle mehrfach zum gesetzgeberischen Handeln aufgefordert. Was haben wir dazu von den Rechtspolitikern
gehört? - Es sei Ländersache. Dann kam die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Da haben Sie sich
ein bisschen bewegt.
Die Anhörung dazu im Rechtsausschuss hat ergeben,
dass der Regierungsentwurf viele kritische Punkte enthält, die geklärt werden müssen. Was heißt das
wiederum? - Das heißt, dass das Zeitfenster, das das
Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich der
30. September, vielleicht nicht eingehalten werden kann.
Was das heißt, muss ich Ihnen, glaube ich, nicht erklären. Das heißt, dass die hochgefährlichen Kinderschänder, die jetzt einsitzen, dann rausgelassen werden. Dass
wir viel Zeit verloren haben, müssen Sie sich selber anlasten. Ich glaube, gut gemeinte Kampagnen allein nützen nichts, wenn der Gesetzgeber selbst diese Wertung
nicht ernsthaft ausspricht.
Fazit: Ihre gut gemeinten Forderungen in dem Antrag
beinhalten die Ziele, Projekte und weltweite Standards
zu entwickeln, zu fördern, Maßnahmen zu prüfen, aber
Sie fordern nicht eine einzige konkrete gesetzliche Regelung. Dennoch: Ich mache Ihnen ein Angebot. Es ist ein
gutes Signal, aber damit allein ist es nicht getan. Lassen
Sie mit uns gemeinsam den guten Ansätzen Taten folgen. Es liegt jetzt an Ihnen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der
Tagesordnung soll die Vorlage jedoch nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lietz, Anita Schäfer ({0}), Christa Reichard
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Frauen und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern
- Drucksache 15/3049 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am
11. Januar 2000 hat der Europäische Gerichtshof in
seinem Grundsatzurteil die Bundesrepublik aufgefordert, alle Bereiche und Teilstreitkräfte der Bundeswehr
für Frauen grundsätzlich zu öffnen. Mit der Überarbeitung unter anderem des Grundgesetzes haben wir in diesem Hohen Hause die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen und dem somit zugestimmt.
Seitdem hat sich eine beachtliche Anzahl von jungen
Frauen für die Bundeswehr entschieden. Diese Soldatinnen tun dort sehr selbstbewusst und sehr zielsicher ihren
Dienst. Es ist eine gute Gelegenheit, ihnen an dieser
Stelle dafür ganz herzlich zu danken.
({0})
Um die Bedingungen für Frauen und Soldatenfamilien den neuen Gegebenheiten anzupassen, hat die Fraktion der CDU/CSU den Antrag mit dem Titel „Frauen
und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern“
gestellt, der im Vorfeld mit betroffenen Frauen abgesprochen worden ist und von Frauen des Bundeswehrverbandes unterstützt wird.
Zurzeit dienen immerhin 9 800 Frauen als Soldatinnen in der Bundeswehr. Knapp 700 sind bereits Offiziere
und 4 900 sind Unteroffiziere. Das sind insgesamt
5 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten. Nach den Erfahrungen verbündeter Armeen wissen wir, dass damit
zu rechnen ist, dass sich der Anteil weiblicher Soldaten
bei circa 10 Prozent stabilisieren könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass dies so sein wird, dann müssen einige Konsequenzen gezogen werden, die ich Ihnen hier
gerne darstellen möchte.
Der Verteidigungsminister ist aufgefordert, dreieinhalb Jahre nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen
endlich ein Gesetz für deren Gleichstellung zu schaffen.
({1})
Ankündigungen haben wir mittlerweile genug gehört.
Schwierigkeiten scheint es im Verhältnis zwischen dem
Familienministerium und dem Verteidigungsministerium
zu geben. Fakten sind bis jetzt keine geschaffen worden.
Dass so etwas möglich und nötig ist, zeigen in vorbildlicher Weise andere Streitkräfte. Ich möchte hier in
besonderer Weise die Niederlande erwähnen. Ein
Gleichstellungsgesetz allein reicht jedoch nicht aus.
Folgende Punkte, die unsere besondere Aufmerksamkeit brauchen, möchte ich Ihnen im Einzelnen vorstellen: Aufstiegsmöglichkeiten und Beförderungschancen
müssen für Männer und Frauen in der Bundeswehr gleichermaßen vorhanden und attraktiv sein. Das hört sich
zwar banal an und sicherlich wird Ihnen jeder versichern, dass dies der Fall ist, aber es ist leider nicht so.
Das werden Sie feststellen, wenn Sie mit Soldatinnen
sprechen. Deshalb sollten in der Nachwuchsgewinnung
und in der Wehrdienstberatung verstärkt erfahrene Soldatinnen eingesetzt werden.
Teilzeitarbeit für Soldatinnen und Soldaten ist speziell während der Elternzeit oder der Pflege von Angehörigen zu ermöglichen. Das ist möglich und wird in
anderen Ländern bereits so gehandhabt. Ich bin dem
Wehrbeauftragten, Herrn Dr. Penner, sehr dankbar dafür,
dass er in der Vergangenheit im Ausschuss immer wieder bestätigt hat, dass dies möglich ist.
({2})
In Zukunft wird es eine steigende Zahl von Soldatenehen geben. Damit meine ich Ehen, in denen beide Ehepartner bei der Bundeswehr dienen. Dem ist unsererseits
mit einer entsprechenden Entwicklung der Bedingungen
zugunsten einer familienfreundlichen Ausgestaltung des
Dienstes Rechnung zu tragen. Die Personalplanung der
Bundeswehr sollte hierbei die notwendige Flexibilität
zeigen. Dazu gehört selbstverständlich - es ist kaum zu
glauben, aber derzeit ist das noch nicht selbstverständlich -, dass bei einer Inlandsverwendung beide Ehepartner möglichst am selben Standort eingesetzt werden.
Auch das gehört zur Familienfreundlichkeit.
Wenn die Politik in allen Bereichen der Gesellschaft
für mehr Familienfreundlichkeit und damit für mehr
Kinder plädiert, die wir uns alle für die Zukunft wünschen, dann muss das auch für die Bundeswehr gelten.
Denn sie ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft.
({3})
Dazu gehört auch, dass Eltern von Kleinkindern nicht
gleichzeitig in Auslandseinsätze geschickt werden. Das
ist derzeit nicht sicher. Dass Alleinerziehende mit kleinen Kindern den Einsatz in anderen Ländern auf einen
späteren Zeitpunkt verlegen können sollten, ist wohl
auch selbstverständlich.
Kinderbetreuung zu organisieren ist ebenfalls eine
Aufgabe des Arbeitgebers Bundeswehr. Das muss nicht
heißen, dass die Bundeswehr in jeder Kaserne eigene
Kindergärten einrichtet. Aber zumindest die Kooperation mit kommunalen Einrichtungen - deren Schließungen zum Teil bereits diskutiert wird, weil es zu wenig
Kinder gibt - wie auch mit konfessionellen Einrichtungen - ich bin mir sicher, dass sich die Kirchen sehr
schnell für die Bundeswehr öffnen würden - mit einer
bestimmten Anzahl von Plätzen für Bundeswehrkinder
bei möglicherweise flexibleren Öffnungszeiten, die zu
verhandeln sind, ist kein unüberwindbares Problem.
In dem Zusammenhang erwähne ich noch einmal die
zügige und schon seit längerer Zeit angekündigte Verkürzung der Einsatzdauer auf vier Monate. Ich wäre
dankbar, wenn der Herr Verteidigungsminister diese Ankündigung endlich in die Tat umsetzen würde. Aus
einem Papier geht hervor, dass dies im Rahmen der Verteidigungspolitischen Richtlinien vorgesehen ist. Diese
werden allerdings bis 2010 umgesetzt. So lange können
unsere Familien nicht warten, denke ich.
({4})
Des Weiteren ist die Einrichtung von 31 Familienbetreuungszentren mit fünf hauptamtlichen Beschäftigten
- darunter sollte immer eine Frau sein - angekündigt
worden. 19 davon sind bis jetzt verwirklicht worden. Ich
hoffe sehr, dass mit der Reduzierung der Zahl der Soldaten nicht auch die Zahl der Familienbetreuungszentren
reduziert wird. Denn deren Notwendigkeit richtet sich
nach den Einsatzkonditionen im Ausland und nicht nach
der Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr.
({5})
Wir müssen insofern auch weiterhin darauf achten, dass
die Familienbetreuungszentren errichtet werden.
Ich möchte Sie alle sehr herzlich darum bitten, sich
mit dafür einzusetzen, dass neben den hauptamtlichen
Mitarbeitern auch auf die Erfahrung von Ehrenamtlichen - meist Soldatenfrauen - zurückgegriffen wird.
Ich möchte in diesem Zusammenhang das wunderschöne
Projekt „Von Frau zu Frau“ in Coesfeld erwähnen, in
dem sich erfahrene Soldatenfrauen um Frauen kümmern,
deren Männer zum ersten Mal im Ausland eingesetzt
werden und die damit noch Probleme haben.
Zur Familienfreundlichkeit gehört aber viel mehr als
das Angebot von Teilzeitarbeit und Kindergartenplätzen.
Wir möchten, dass sich qualifizierte junge Frauen weiterhin für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Sie
nehmen für uns Aufgaben wahr, die dem Frieden und der
Freiheit der Bundesrepublik Deutschland dienen. Sie
verteidigen uns und unsere Verbündeten. Ich denke, für
diese Soldatenfamilien, Soldaten und Soldatinnen müssen wir unsere Hausaufgaben machen.
({6})
Ich weiß, dass wir uns in diesem Bereich nicht in allen Punkten mit anderen Nationen vergleichen können.
Die USA oder andere befreundete Nationen haben wirklich nachahmenswerte Modelle. Wir müssen uns dagegen noch immer auf die Anforderungen weltweiter Einsätze einstellen, weil wir erst seit einigen Jahren über
entsprechende Erfahrungen verfügen. Finanzielle Investitionen sind auf jeden Fall notwendig. Aber sie werden
sich in Grenzen halten und werden überschaubar sein.
Wer mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft
einfordert, sollte nicht nur entsprechende Sonntagsreden
halten, sondern auch konkret etwas dafür tun.
({7})
Lassen Sie mich noch ganz kurz ein Wort zu den Auslandseinsätzen und den Konsequenzen sagen, die für
die Bundeswehr daraus zu ziehen sind. Die Bundeswehr
war früher eine reine Verteidigungsarmee. Sie alle wissen, dass das nicht mehr der Fall ist. Heute ist sie zu einer weltweit einsatzfähigen Interventions- und Krisenpräventionsarmee geworden. Wir haben die weltweiten
Auslandseinsätze der Bundeswehr immer gemeinsam
beschlossen. - Herr Nachtwei, Sie schütteln den Kopf.
Auch ich wünsche mir ein Weißbuch, in dem die deutschen Interessen im Hinblick auf Auslandseinsätze ein
bisschen deutlicher formuliert sind. Das steht leider noch
immer aus.
({8})
Nachdem wir gemeinsam beschlossen haben, unsere
Soldatinnen und Soldaten in weltweite Auslandseinsätze
zu schicken, würde ich mich sehr freuen, wenn wir auch
gemeinsam die Rahmenbedingungen verabschieden würden. Es wäre gut, wenn wir alle hinter unseren Soldaten
stehen. Damit meine ich nicht nur die bestmögliche technische Ausrüstung, die eigentlich selbstverständlich sein
sollte - hier gibt es ja gelegentlich Kritik -, sondern auch
die sozialen Rahmenbedingungen. Es gibt Studien eines Instituts der Bundeswehr, die klar besagen, dass es
entscheidenden Einfluss auf den Einsatz hat, wenn die
Soldaten nicht wissen, ob ihre Familien gut versorgt sind.
Wenn sie sorgenfrei, beruhigt und motiviert in den Einsatz gehen können, dann ist das für sie selber angenehmer und - das behaupte ich einmal - möglicherweise
kostengünstiger, weil sie nicht aus der einen oder anderen Not heraus früher nach Hause fahren wollen und im
Einsatz nicht falsch reagieren.
Für mich ist wichtig, festzuhalten, dass Frauen in der
Bundeswehr die Chancen bekommen, die sie erwarten,
und dass Soldatenfamilien genauso wie Alleinerziehende das Gefühl haben, dass sie uns am Herzen liegen,
dass wir uns um sie kümmern. Dazu sollten wir alle bereit sein. Dieses Ziel verfolgt der heute von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Antrag. Die
Schritte, mit denen wir dieses Ziel erreichen können,
habe ich Ihnen aufgezeigt. Ich würde mich - ich wiederhole das ausdrücklich - über einen gemeinsamen Beschluss betreffend diese Themen freuen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lietz, es fehlt heute bei diesem wichtigen Thema
an Präsenz.
({0})
Sie ist aber nicht aus mangelndem Interesse, sondern
aufgrund der mangelnden Substanz Ihres Antrages dürftig. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung
und zur Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr entspricht im Wesentlichen den Anliegen und
den Initiativen, die das Bundesministerium der Verteidigung seit langem verfolgt und in vielen Bereichen bereits umgesetzt hat. Unsere Soldatinnen erfahren innerhalb der Bundeswehr nicht nur eine gute Aufnahme,
sondern auch eine sehr große Akzeptanz. Sie sind hoch
qualifiziert und motiviert und zeichnen sich durch
Engagement und Leistungsbereitschaft aus. Ich möchte
in diesem Zusammenhang ein ganz praktisches Beispiel
nennen. Die Jahrgangsbesten der Marineschule Mürwik
waren im vorletzten und im letzten Jahr Frauen.
({1})
Wie mir in vielen Gesprächen versichert wurde, hat
sich mit dem Eintritt von Frauen in die Bundeswehr gerade die Motivation ihrer männlichen Kameraden erhöht, die durch die sehr guten Leistungen der Soldatinnen angespornt werden, es ihnen gleichzutun. Auch der
bekanntermaßen manchmal etwas raue Umgangston innerhalb der Bundeswehr hat sich seit der Öffnung für
Frauen sehr zum Positiven gewendet. Natürlich gibt es
wie im zivilen Bereich auch in der Bundeswehr noch Bedarf, die Integration von Frauen weiter zu verbessern.
Daran arbeiten wir.
({2})
Das geplante Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung für Soldatinnen und Soldaten, dessen Entwurf sich zurzeit in der Ressortabstimmung befindet,
zeigt dies eindrucksvoll. Wir werden den Gesetzentwurf
- ich komme damit auf Ihre Frage zurück - noch in diesem Jahr einbringen, damit das Gesetz 2005 in Kraft treten kann.
({3})
Ihr Vorwurf, die Bundesregierung belasse es diesbezüglich bei Ankündigungen, ist somit schlichtweg falsch.
Das Soldatengleichstellungsgesetz wird unseren Soldatinnen und Soldaten einen gesetzlichen Anspruch an
die Hand geben, den Angehörige im zivilen Bereich bereits seit Jahren durch das Frauenfördergesetz und das
Bundesgleichstellungsgesetz genießen. Die Integration
von Frauen in die Bundeswehr wird somit weiter vorangetrieben werden.
Besonders hervorheben möchte ich hierbei, dass im
Gesetz künftig festgeschrieben sein wird, dass eine
Unterrepräsentierung von Frauen dann vorliegt, wenn
ihr Anteil in den einzelnen Streitkräften unter 15 Prozent
und im Sanitätsdienst unter 50 Prozent liegt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Gut.
Für die Praxis ist relevant, dass Bewerberinnen bei
gleicher Leistung, bei gleicher Eignung und bei gleicher
Befähigung wie ihre männlichen Bewerber bevorzugt
eingestellt werden, wenn in ihrem Bereich nicht die erforderlichen 15 bzw. 50 Prozent erreicht werden.
Das Gleiche gilt für den beruflichen Aufstieg von
Soldatinnen und Soldaten. Ist auch hier die entsprechende Quote nicht erreicht, werden Soldatinnen gegenüber ihren männlichen Kameraden bei gleicher Qualifikation bevorzugt. Das Gleichstellungsgesetz schafft
künftig auch die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung
von Soldatinnen und Soldaten mit Familienpflichten.
Damit wird ein Meilenstein für die Durchsetzung der
Gleichstellung und die Verbesserung der Vereinbarkeit
von Familie und Dienst in den Streitkräften erreicht.
({0})
Betrachtet man diese und weitere Regelungen im geplanten Gesetz, lässt sich feststellen, dass mit diesem
Gesetzentwurf die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundeswehr konsequent vorangetrieben
wird.
Wie ernst der CDU/CSU die Forderungen in ihrem
Antrag wirklich sind, kann sie dieses Jahr unter Beweis
stellen, indem sie zusammen mit der Regierungskoalition
das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung von
Soldatinnen und Soldaten verabschiedet.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
hinsichtlich der Forderung in Ihrem Antrag, künftig
mehr Soldatinnen in den Nachwuchsgewinnungszentren und mehr Frauen als Wehrdienstberaterinnen einzusetzen, kann ich Ihnen sagen, dass diese Entwicklung
bereits eingesetzt hat - für mich ist das ein ganz natürlicher Prozess - und sich in Zukunft noch verstärken wird.
({2})
- Sie müssten vielleicht einmal in die Nachwuchsgewinnungszentren oder in die Wehrdienstberatungszentren
gehen.
({3})
Seit nunmehr 1991 verrichten Frauen ihren Dienst in
der Bundeswehr. Wir sind froh darüber, dass sich immer
mehr Frauen für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Anteil der
Frauen an der Gesamtgröße der Bundeswehr zurzeit bei
gerade einmal 5 Prozent liegt.
({4})
Es ist momentan also gar nicht so leicht, eine entsprechend hohe Anzahl erfahrener Soldatinnen für diese
Dienstposten zu finden. Aber ich bin mir sicher, dass
sich dies in den nächsten Jahren wirklich sichtbar verändern wird.
Die Bundeswehr hat im Übrigen ein ureigenes Interesse daran, Soldatinnen im Bereich der Nachwuchsgewinnung einzusetzen,
({5})
um gerade weiblichen Interessenten den Einstieg in die
Bundeswehr zu erleichtern.
({6})
- Da stimme ich Ihnen zu.
Probleme gibt es, wenn Alleinerziehende mit kleinen
Kindern in den Einsatz sollen. Ich denke, dem kommt
man mit der momentan gängigen Praxis entgegen, Alleinerziehende auf Wunsch von Auslandseinsätzen freizustellen.
({7})
- Das haben Nachfragen ergeben.
Ihre Forderungen zu den Maßnahmen für spezielle
Kinderbetreuungsangebote sind meines Erachtens sehr
unspezifisch. Gerade hier gibt es sehr unterschiedliche
Auffassungen darüber, was gut für Kinder ist, was den
Soldatinnen und Soldaten zuzumuten ist und wie die
Ausgestaltung im Einzelnen aussehen könnte. Der Bedarf wird derzeit abgefragt. Wenn ich eines nicht will
- ich glaube, das wollen auch Sie nicht -, dann das, dass
es zukünftig eine Kasernierung von Kindern in Bundeswehrstandorten gibt.
({8})
Es wird deshalb keine Lex Bundeswehr geben. An
dieser Stelle ist nach wie vor eine enge Zusammenarbeit
mit den Kommunen gefordert und gefragt. Die Bundesregierung hat ihrerseits gehandelt und ein Milliardenprogramm für die Kommunen aufgelegt, welches eine
Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten und Schulen
künftig erleichtern und in einigen Regionen ermöglichen
wird.
Jedem Kommunalpolitiker ist klar, dass die Bereitstellung von Kindertagesstättenplätzen die Attraktivität
eines Bundeswehrstandortes erhöht. An dieser Stelle
könnte man eine ganze Anzahl positiver Beispiele, insbesondere aus den neuen Bundesländern, anführen. Aber
auch Kooperationen an großen Bundeswehrstandorten
haben sich bewährt.
Es bleibt festzustellen: Ganztagsbetreuung, Kindertagesstätten sind und bleiben Ländersache. Der Bund kann
und wird die Betreuungsreform auch künftig begleiten
und unterstützen.
Wie überholt der Antrag der CDU/CSU zur Stärkung
und Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr ist, zeigt sich einmal mehr an der Forderung nach
Einrichtung von 31 Familienbetreuungszentren. Wer
sich wirklich ernsthaft mit der Materie befasst, weiß,
dass es diese Familienbetreuungszentren bereits gibt,
({9})
einige mitunter seit zwei Jahren. Einige arbeiten im Moment noch ehrenamtlich. Bis zum Jahresende sollen
diese 31 Familienbetreuungszentren aber mit hauptamtlichem Personal besetzt werden.
({10})
Zurzeit wird der STAN erstellt, der dazu erforderlich ist.
Ich bin mir sicher, dass wir am 31. Dezember ein sehr
gutes Resümee werden ziehen können. Unser gemeinsames Ziel sollte hierbei sein, dass in jedem der Familienbetreuungszentren ein Dienstposten durch eine Frau zu
besetzen ist.
Davon, welch hervorragende Arbeit in den Familienbetreuungszentren geleistet wird, konnte ich mich bei
mehreren Besuchen vor Ort - wie Sie offensichtlich
auch - überzeugen. Wir hatten zum Beispiel vor einigen
Monaten Angehörige von im Ausland stationierten Soldaten und Soldatinnen als Gäste im Kanzleramt bzw. im
Bundestag. Diese Angehörigen haben uns bestätigt, dass
die Familienbetreuungszentren wirklich eine ausgesprochen gute Arbeit leisten. Ich möchte die Gelegenheit
nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
die dort ihren Dienst tun, vor allem bei den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die oftmals Soldatenfrauen sind
- Sie haben es vorhin schon erwähnt -, ganz herzlich zu
bedanken; denn sie leisten dort eine ausgezeichnete und
fachlich sehr qualifizierte Arbeit.
({11})
Die Forderung in Ihrem Antrag nach geeigneten Maßnahmen zur Förderung der Akzeptanz von Soldatinnen
und Soldaten mit Kindern ist zu unspezifisch
({12})
und wirkt ein bisschen konzeptionslos.
({13})
Die Berücksichtigung von so genannten Soldatenehen erfolgt in der Bundeswehr bereits weitestgehend.
Es ist gängige Praxis, dass Verheiratete ihren Dienst gemeinsam an einem Standort leisten können bzw. eine
entsprechende Versetzung erfolgt, wenn es der Wunsch
beider ist.
({14})
Des Weiteren ist die Forderung nach einem Bericht
über den Stand der Integration der Soldatinnen in der
Bundeswehr nicht mehr aktuell. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr - Sie wissen das - hat bereits einen Auftrag vom Bundesverteidigungsministerium erhalten.
({15})
Die entsprechenden Fragebögen sind entworfen worden.
Sie werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt versandt.
({16})
Diese Befragung findet also zurzeit statt.
Mit der Verkürzung der Einsatzdauer von sechs auf
vier Monate ist das Verteidigungsministerium den Bedürfnissen der Soldatinnen und Soldaten entgegengekommen.
({17})
Dementsprechend gut wird diese Änderung von der
Truppe angenommen. Diese Änderung erfolgt noch
nicht überall, denn sie wird schrittweise umgesetzt.
Die kürzeren Stehzeiten - das können Sie sicherlich
nachvollziehen - bedeuten aber eine enorme Kraftanstrengung für die Bundeswehr. Gerade auch für unsere
einheimischen Truppen, die die Einsätze vorbereiten, ist
das eine enorme Kraftanstrengung. Ein großer Rückhalt
sind hierbei unsere Wehrpflichtigen, die nach ihrer
Ausbildung in großem Umfang für eben diese Einsatzvorbereitung eingesetzt werden. Würde die Bundeswehr
nicht über dieses große Potenzial verfügen, könnten unsere jetzigen Auslandseinsätze in diesem Umfang nicht
fortgeführt werden.
({18})
Ganz abgesehen davon sind es gerade unsere Wehrpflichtigen gewesen, die bei den Hochwasserkatastrophen in den letzten Jahren Großartiges geleistet haben.
({19})
Ich bitte daher alle Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hause, dies auch in der aktuellen Debatte über die Wehrpflicht zu bedenken.
Die intensive Beschäftigung mit dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion bestätigte leider den Eindruck, der
sich mir schon bei der ersten Lektüre aufdrängte. Daher
lautet mein Fazit: Hier wurde ein Antrag hervorgekramt,
({20})
der bereits seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren in
irgendeiner Schublade schlummerte; denn viele Feststellungen und Forderungen sind inzwischen wirklich überholt.
({21})
Dabei ist das Thema von einer enormen Bedeutung, die
keineswegs unterschätzt werden darf. Ich komme nicht
umhin, festzustellen,
({22})
dass der Antrag der Union dieser Bedeutung nicht gerecht wird.
({23})
Erlauben Sie mir am Ende eine ganz persönliche Bemerkung. Ich finde es insgesamt äußerst bedauerlich,
dass ein so brandaktuelles Thema dermaßen altbacken
aufgearbeitet wurde.
({24})
Eine Erörterung der im Antrag enthaltenen Vorschläge
als Denkanstöße halte ich somit für nicht erforderlich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({25})
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Kollegin, ich schätze Sie wirklich sehr, aber
bitte kritisieren Sie nicht andere Anträge, wenn Sie
einerseits zugestehen, dass das Thema brandaktuell ist,
aber andererseits dazu noch nichts vorgelegt haben. In
diesem Punkt möchte ich die CDU/CSU jetzt einmal in
Schutz nehmen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative
der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung und Förderung
von Frauen und Familien in der Bundeswehr; denn der
Antrag - das wissen Sie - greift nicht nur Diagnosen aus
dem aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten auf, sondern vor allem auch Ergebnisse aus der Kleinen Anfrage
der FDP-Bundestagsfraktion zur Situation von Frauen in
der Bundeswehr.
({1})
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Anfrage zeigen, dass es die gläsernen Decken, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen,
für Frauen beim beruflichen Aufstieg auch in der Bundeswehr gibt. Erinnern Sie sich: Seit 1975 werden
Frauen als Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnen
und Veterinärinnen eingestellt. In der Laufbahn der Offiziere des Sanitätsdienstes gibt es aber, obwohl sie seit
1975 für Frauen geöffnet ist, nur fünf Soldatinnen mit
der Besoldungsstufe A16 und höher, dagegen gibt es
245 männliche Soldaten in den Besoldungsstufen A16
und höher.
Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich dieser Zustand ändern: Im Bereich der Nachwuchsgewinnung und
der Ansprache junger Menschen für die Bundeswehr
- das ist vonseiten der CDU/CSU ja auch zum Ausdruck
gekommen - spielen Frauen nämlich keine Rolle. Ich
fordere die Bundesregierung auf - hier sitzt ja auch der
Staatssekretär -, umgehend eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ich weiß, dass es lange dauert, bevor
man im Rahmen der Nachwuchsgewinnung vor jungen
Leuten sprechen darf, aber es gibt sicherlich eine Möglichkeit, Frauen schneller zu qualifizieren und sie im
Rahmen der Nachwuchsgewinnung einzusetzen.
({2})
Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
gewinnen für Soldatinnen und Soldaten immer größere Bedeutung.
Das sage nicht ich, sondern das hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages gesagt.
({3})
Er sagt weiter, die Truppe warte auf strukturelle Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Leider muss er dazu feststellen, dass der Bundesverteidigungsminister konkrete Konsequenzen aus den
herrschenden Missständen nicht gezogen hat.
Meine Kolleginnen und Kollegen, selbst die Bundesregierung hat mittlerweile bemerkt, dass die Karrierechancen von Frauen in der Truppe nicht so gut sind, wie sie
eigentlich sein sollten. Und siehe da: Schon steht ein
Gleichstellungsgesetz vor der Tür. Aus Sicht der FDP
will ich Ihnen sagen: Quoten werden weder der besonderen Situation der Bundeswehr noch den Interessen der
Soldatinnen gerecht. Unsere Soldatinnen - auch ich habe
diesbezüglich persönliche Gespräche geführt - wollen
nach dem Grundsatz von Eignung, Befähigung und Leistung behandelt werden.
({4})
Sie wollen nicht bevorzugt werden. Sie wollen nur, dass
spezielle Situationen, zum Beispiel der Fall, dass sie
Kinder haben, berücksichtigt werden.
Die FDP - das kündige ich hier schon an - wird in einem eigenen Antrag aufzeigen, wie wir uns vorstellen,
dass Soldatinnen und auch Soldaten in der Bundeswehr,
die Familienarbeit übernehmen, unterstützt werden. Wir
wollen, dass die Bundeswehr für Frauen ein attraktiver
Arbeitgeber wird. Das ist sie bis heute nicht. In einigen
wenigen Jahren - das wissen wir beide, Herr Nachtwei,
der Sie als einziger Grüner hier sitzen - wird die Bundeswehr nämlich eine Berufsarmee sein, die mit Wirtschaft und öffentlichem Dienst um Arbeitskräfte konkurrieren muss. Die FDP im Deutschen Bundestag hat mit
als erste Partei Soldatinnen in der Truppe gefordert.
({5})
Gerade haben Sie, liebe Kollegin von der SPD, gesagt, was Sie alles Tolles machen wollen. Denken Sie
einmal an die früheren Diskussionen: Die SPD hat sich
bis zum Schluss dagegen gewehrt, dass Frauen als Soldatinnen in der Bundeswehr zugelassen werden. Erst als
es das Urteil vom Europäischen Gerichtshof gab, haben
Sie sich bequemt, etwas zu machen.
({6})
Es steht also fest: Liberale waren wieder einmal an der
Spitze der Bewegung.
Zur Bundesregierung sage ich Folgendes: Sie muss
noch stark daran arbeiten, dass endlich etwas für Frauen
in der Bundeswehr geschieht und ihnen gemäß ihrer Eignung, Befähigung und Leistung Aufstiegsmöglichkeiten
in der Bundeswehr eröffnet werden. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD und den Grünen, tun Sie etwas und warten Sie nicht auf die Bundesregierung, die
sich dafür seit Monaten und Jahren Zeit lässt.
({7})
Die Rede der Kollegin Marianne Tritz vom Bündnis 90/
Die Grünen soll zu Protokoll gegeben werden.1) - Gut,
wir nehmen sie zu Protokoll.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3049 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19 a bis
19 c:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Rudolf Bindig, Lothar Binding ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung der neuen Regierung Boliviens
bei der demokratischen Stabilisierung des
Landes
- Drucksache 15/2975 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({3}), Dr. Christian Ruck,
Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Chance zum demokratischen Neubeginn in
Haiti unterstützen
- Drucksache 15/2746 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß
({6}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Nach der Neuwahl in Argentinien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien und
Uruguay zielgerichtet fortführen
- Drucksachen 15/1015, 15/2706 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sascha Raabe
Peter Weiß ({7})
Hans-Christian Ströbele
Markus Löning
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann von
der SPD-Fraktion, Peter Weiß von der CDU/CSU-Frak-
tion, Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen
Amt, und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1) Eine
Aussprache findet also nicht statt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2975 und 15/2746 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
auf Drucksache 15/2706 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Nach der Neuwahl in Argenti-
nien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien und
Uruguay zielgerichtet fortführen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1015 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({8}), Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren
- Drucksache 15/2819 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den
Jahren 2001 und 2002
- Drucksache 15/2967 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Erwin Marschewski von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine eigenartige Furcht geht offenbar bei Rot-
Grün um: die Furcht vor den Landsmannschaften der
1) Anlage 6
Erwin Marschewski ({0})
Vertriebenen und der Flüchtlinge, vor denen aus Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland, Pommern oder
anderswo.
({1})
- Die Reaktion zeigt es ja. - Was ich bei Ihnen sehe, ist
keine feine Dosierung. Es ist Unverständnis, zumindest
Skepsis, im Ergebnis Ablehnung.
Dabei ist doch das Recht auf die Heimat ein Menschenrecht.
({2})
Dabei sind und bleiben Vertreibungen großes Unrecht.
Dabei ist kulturelle Besinnung, ist Austausch Verständigungspolitik im umfassenden Sinne, weil Austausch
und Verständigung historische Vergewisserung verlangen und eben nicht Verdrängung, meine Damen und
Herren.
Wenn dies nun richtig ist, warum dann die Ablehnung
der Bundesregierung gegenüber denjenigen, die für dies
alles stehen, eben die Vertriebenen, die Flüchtlinge und
deren Verbände, die seit der Vertreibung an die jahrhundertealte Kultur und Geschichte erinnern, die - ich war
im Französischen Dom selbst dabei - Kants „Kritik der
reinen Vernunft“ oder „Kritik der Urteilskraft“ wieder
aktuell machen oder die bei Hauptmanns „Weber“ oder
Eichendorffs „Oh Täler weit, oh Höhen“ ihre Heimat
Schlesien nicht vergessen? Warum diese Ablehnung,
warum diese Negierung?
({3})
Nur ein Zitat aus der „Konzeption zur Erforschung
und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im
östlichen Europa“ der Bundesregierung, die alles zum
Nachteil der Vertriebenen und Flüchtlinge verändert hat:
In dem Bericht heißt es - hören Sie gut zu -, der Kulturaustausch und die Aufarbeitung der Siedlungs- und Kulturgeschichte dürfe nicht „Domäne einzelner Interessengruppen der Vertriebenenverbände sein“. Schon die
Wortwahl stößt bei mir auf Ablehnung.
({4})
- Ich komme aus dem Bereich des Sports. Ich muss Sie
fragen: Würden Sie einen Sportverein oder eine Sportbewegung genauso gängeln? So darf man nicht mit den
Menschen umgehen, die in diesem Bereich jahrzehntelang segensreich gewirkt haben.
({5})
Erst recht auf Ablehnung stößt die Folgerung, nämlich der Versuch von Rot-Grün, den Einfluss der Vertriebenenverbände auf die bundesgeförderte Kulturarbeit
weitgehend auszuschalten und somit die Autonomie zu
beeinträchtigen. Meine Damen und Herren von der SPD,
alle Landsmannschaften, aber auch die Menschen in den
ehemals deutschen Gebieten haben mir dies gesagt. Ich
meine, was Sie machen, ist falsch; denn Sie verzichten
auf den Sachverstand derer, die sehr lange das deutsche
Kulturerbe im Bewusstsein gehalten haben. Das ist nicht
richtig.
({6})
Die Vertriebenen haben in ihrer Stuttgarter Erklärung
auf Rache und Vergeltung verzichtet. Deswegen sage ich
Ihnen - ich muss es jetzt etwas härter ausdrücken -: Ihr
so genanntes Erforschungspräsentationskonzept ist eine
Demontage des Wirkens von 2 Millionen Flüchtlingen,
Vertriebenen, Spätaussiedlern und deren 21 Landsmannschaften innerhalb des Bundes der Vertriebenen.
({7})
- Herr Kollege, alle 21 Vertriebenenverbände - ich war
in Oberschlesien und Schlesien - bestätigen mir das. Sie
erheben den Vorwurf, dass der Bundeskanzler, wenn er
nach Schlesien kommt, lieber in die Kneipe nach nebenan geht, anstatt mit den Menschen dort zu sprechen.
Das ist das Problem.
({8})
Wir müssen uns der Menschen annehmen, wie es zum
Beispiel der polnische Staatspräsident in Litauen oder
anderswo tut. Das wäre richtig.
({9})
Sie haben viel gekürzt im Bereich der Kulturreferenten, im Bereich der institutionellen Förderung und im
Bereich der grenzüberschreitenden Arbeit, was für mich
das Maß übervoll macht. Auch die Erinnerungen an Lebens- und Herkunftsstätten großer Deutscher aus Kunst,
Literatur und Wissenschaft aus den früheren ostdeutschen Regionen werden kaum noch gefördert. Neben
den bereits genannten Kant und Hauptmann denke ich an
die Ostpreußen Herder, E. T. A. Hoffmann, Ernst
Wichert, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, um nur ein paar
Künstler aus der Heimat meiner Eltern zu nennen, wo
doch gerade die Erinnerung, das Gedächtnis und das aktuelle Sich-Auseinander-Setzen mit diesen großen Deutschen Bewusstsein schafft, auch Verbindung in neuer
politisch-europäischer Beziehung.
So nicht, meine Damen und Herren von Rot-Grün!
Sie werden es nicht schaffen, die Vertriebenen und die
Jahrhunderte alte deutsche Kultur in Ost- und Südosteuropa in die Museen zu verbannen. Vertriebenenkulturarbeit bedeutet eben nicht bloße Erinnerungsarbeit. Sie
ist vielmehr aktuelle Suche nach den Wurzeln und Kontinuitäten unserer Nationalgeschichte. Darüber hinaus ist
sie gesetzliche Verpflichtung. § 96 des Bundesvertriebenengesetzes besagt dies ausdrücklich. Ich hoffe, dass Sie
zumindest lesen können.
({10})
- Hören Sie zu und machen Sie nicht so unqualifizierte
Zwischenrufe, lieber Herr Kollege.
({11})
Erwin Marschewski ({12})
Ich zitiere aus § 96:
... das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem
Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des
gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu
erhalten ...
({13})
- Dann müssen Sie sich danach richten und daraus die
Konsequenzen ziehen. Vielleicht tun Sie es persönlich.
Aber die Bundesregierung tut es nicht. Sie wissen, das
ist hochrangiges Recht. Sie wissen, Herr Kollege
Dr. Küster, dass es Inhalt des Einigungsvertrages ist.
Deswegen entspricht es nicht dem Wesensgehalt dieser
Vorschrift, die Förderung um 40 Prozent auf nur noch
15 Millionen Euro weitgehend zusammenzustreichen,
was Sie leider tun.
Dies wollen wir ändern. Deswegen haben wir eine
neue Konzeption unterbreitet. Wir wollen die Erhaltung
und Weiterentwicklung ostdeutscher Kultur. Wir wollen
die Heimatvertriebenen mit einbeziehen und wir wollen
vor allem weg vom rot-grünen Zentralismus wieder hin
zur dezentralen Förderung.
({14})
Ich verspreche schon jetzt den Vertriebenen und
Flüchtlingen, dass wir, wenn wir dann in zwei Jahren die
Regierung übernehmen, die Politik der rot-grünen Bundesregierung umkehren und sie wieder vom Kopfe auf
die Füße stellen.
({15})
- Sie haben wirklich überhaupt keine Kenntnis; deswegen, Herr Kollege Küster, mein Einwand gegen diesen
hochqualifizierten Zuruf Ihres Kollegen.
({16})
Kulturelles Schaffen und dessen Teilhabe sind zutiefst
Handeln in Freiheit, die es zu beachten gilt, was mir bei
Vertriebenen und Flüchtlingen besonders leicht fällt;
denn sie sind Brücken und Botschafter für Aussöhnung
und Verständigung. Nicht zuletzt meine gerade angesprochene Reise nach Schlesien und Oberschlesien hat
mir dies noch einmal in aller Breite deutlich gemacht.
Herzlichen Dank.
({17})
Die Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die
Grünen hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Deswegen
ändere ich jetzt entsprechend die Reihenfolge.
1) Anlage 7
Das Wort hat die Staatsministerin Christina Weiss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt den Bericht über die Maßnahmen zur
Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz zu einem Zeitpunkt vor, der gerade für die
hiervon angesprochenen Menschen und Regionen von
historischer Bedeutung ist. Unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn kehren nach Europa zurück, das sie
- ihrem eigenen Selbstverständnis nach - nie verlassen
haben. Sie entdecken es neu und sie entdecken es für uns
neu. Nach und nach erkennen wir wieder, was uns einst
verbunden hat. Wenn wir uns bewusst machen und wenn
wir bereit sind, sowohl die vergessenen Schätze als auch
die verbrannten Trümmer zu heben, dann werden wir die
Frage beantworten können, wo Europa aufhört, nämlich
dort, wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung verlaufen.
({0})
Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag
im Jahr 2000 die Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen
Europa zugeleitet. Damit wurde die Grundlage geschaffen, deutsche Kulturtraditionen im östlichen Europa zu
bewahren und auch zu pflegen. Wir haben natürlich ein
großes Interesse daran, die vielfältige Kulturarbeit in
erster Linie zu professionalisieren und effizienter zu gestalten.
({1})
Zudem soll sie nicht im Verborgenen geschehen. Sie
braucht eine breite Öffentlichkeit und sie muss diese
breite Öffentlichkeit erreichen. Dabei wird von einem
aufrichtigen Geschichts- und Kulturverständnis ausgegangen, das weder die historischen Belastungen ausklammert noch die unterschiedlichen nationalen und regionalen Traditionen vernachlässigt.
Die Neukonzeption hat im Berichtszeitraum zu erfreulichen Ergebnissen geführt.
({2})
- Das hörte sich etwas anders an. - Zunächst einmal
konnte im Berichtszeitraum das finanzielle Niveau gehalten werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit in
diesen Zeiten. Mein Haus hat es zudem ermöglicht, dass
sich einige Einrichtungen zu wirklich renommierten wissenschaftlichen Institutionen entwickeln konnten.
({3})
Ich denke etwa an die früheren Kulturwerke, die nun als
Institute für Kultur und Geschichte der Deutschen in
Nordosteuropa, in Lüneburg, und in Südosteuropa, in
München, als universitäre An-Institute mit einer wirklich wichtigen Multiplikatorenfunktion wirken können.
Sie folgen damit dem Vorbild des Oldenburger Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im
östlichen Europa, das in Kooperation mit der Universität
Oldenburg von Anfang an den grenzübergreifenden wissenschaftlichen Dialog zur Grundlage seiner Arbeit gemacht hat.
Die von uns geförderten Stiftungslehrstühle für Geschichte an den Universitäten Stuttgart und Erfurt sowie
für Kunstgeschichte in Leipzig haben sich inzwischen
etabliert. Vor zwei Jahren konnte zudem im Rahmen der
internationalen Kooperation in Olmütz, in Tschechien,
ein Stiftungslehrstuhl für deutsch-mährische Literaturgeschichte entstehen. Außerdem wurde in diesen Tagen ein
vergleichbares Vorhaben an der Universität Klausenburg
in Rumänien aus der Taufe gehoben.
Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Museen zu
den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten
eine ganz hervorragende Arbeit leisten, wenn es darum
geht, das Bewusstsein für das kulturelle Erbe wach zu
halten. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht,
dass es mit der deutschen Einheit gelungen ist, zusätzliche Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu eröffnen.
({4})
Die Kooperation mit Partnerinstitutionen in Ostmitteleuropa ist mittlerweile für alle Museen zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie funktioniert sehr gut und
ist dort anerkannt. Auch die Arbeit der Kulturreferenten
in den Landesmuseen hat sich bewährt. Sie gestalten Begleitprogramme zu den Aktivitäten der jeweiligen Museen und entwickeln eigene Initiativen speziell zur kulturellen Breitenarbeit. Zur Verbreitung von Kenntnissen
über deutsche Kultur und Geschichte im östlichen
Europa soll auch das Deutsche Kulturforum östliches
Europa mit Sitz in Potsdam beitragen, das seit 2002 institutionell vom Bund gefördert wird und sich bislang
durch große Aktivitäten - Vorträge, Tagungen, Ausstellungen und Publikationen - hervortat.
Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen wir, was
für den Erhalt von Kulturdenkmälern getan wird, die
von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen
Europa zeugen. Hier zeichnet sich eine sehr gute, enge
Kooperation mit den örtlichen Institutionen der Denkmalpflege ab, die wir finanziell unterstützen, deren Unterstützung wir aber auch brauchen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die neue Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur
und Geschichte im östlichen Europa einen wesentlichen
Beitrag zur Verständigung zwischen Deutschland und
seinen östlichen Nachbarn leistet.
({5})
Wir wissen alle, dass das wichtig, notwendig und fundamental ist. Das wird sich im Übrigen auch in den
deutsch-polnischen Kulturbegegnungen im nächsten
Jahr zeigen, die wir derzeit vorbereiten. Ähnliche
Kulturbegegnungen sind mit Ungarn, Tschechien
und den baltischen Staaten geplant, die ebenfalls gemäß
§ 96 BVFG gefördert werden.
Um ihre Zukunft in Vielfalt geeint zu gestalten, müssen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern,
der gemeinsamen und der trennenden. Deshalb bin ich
sehr froh darüber, dass die Kulturminister aus sechs Ländern noch vor der EU-Erweiterung damit begonnen haben, ein europäisches Netzwerk für Zwangsmigration
und Vertreibung zu knüpfen. Es gibt in allen Völkern
Europas vielfältige Varianten des Leidens. Dieses Netzwerk soll die vielen Geschichtswerkstätten, Museen, Archive und Denkmäler in ganz Europa miteinander verbinden. Wir wollen auf interessengeleitete Aktionen mit
einer aufrichtigen europäischen Initiative antworten und
damit verdeutlichen, dass es nicht reicht, das nationale
Gedenken zu organisieren, sondern dass wir die europäische Forschung zu diesem Thema voranbringen müssen.
Wir behandeln heute auch den Antrag der CDU/CSUFraktion „Das gemeinsame historisches Erbe … bewahren“. Wenn Sie meine Ausführungen und den Bericht zur
Kenntnis nehmen, dann sehen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, dass Ihr Antrag einer konstruktiven Grundlage entbehrt.
Die Bundesregierung nimmt ihre Verpflichtungen
sehr ernst.
({6})
Mit ihrer konzeptionellen Arbeit sichert sie den Erfolg
für eine Modernisierung und für eine Zukunftsorientierung im Geist der europäischen Verständigung. Sie wird
dies auch künftig tun.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
doch immer wieder eine Freude, unserer Staatsministerin
zuzuhören.
({0})
Sie versteht es in vorbildlicher Weise, schwierige, traurige Sachverhalte mit glänzenden Worten zu ummänteln.
Ich möchte Ihnen ausdrücklich zubilligen, dass es schön
ist, Ihnen zuzuhören; mit der Wirklichkeit hat das aber
leider nicht immer viel zu tun.
({1})
Ich möchte Ihnen eingangs zwei Zahlen entgegenhalten. Zahlen sind etwas objektiver als schöne Beschreibungen. Im Jahre 1998 hatte der Bundeshaushalt für die
Mittel im Zusammenhang mit § 96 BVFG noch umgerechnet 22 Millionen Euro im Ansatz, die auch umgeHans-Joachim Otto ({2})
setzt wurden. Im Jahre 2004 betragen diese Titel nur
noch 15,7 Millionen Euro. In einer Zeit, in der andere
Haushaltspositionen dramatisch gestiegen sind, gibt es
in diesem Bereich Kürzungen um rund 30 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich verstehe, dass Sie vorhin aufgeregt den Ausführungen von Herrn Marschewski gefolgt sind und dies
jetzt auch bei meiner Rede tun, aber das hat natürlich
seinen Grund. Mir fällt auf, mit welcher Aggressivität
Sie in diesen Bereich hineingehen.
({3})
- Machen Sie nur so weiter! Ich glaube, das disqualifiziert Sie. Wir ringen hier um Lösungen für einen wichtigen Bereich der Kultur und Sie machen solche Äußerungen. Das finde ich nicht gut.
({4})
Die Konzeption der Bundesregierung aus dem
Jahre 2000 sollte eine Neuausrichtung der Kulturarbeit bewirken. Es gab sicherlich gute Ansätze - das
können wir feststellen -: Straffung der institutionellen
Förderung, Orientierung an einem Regionalprinzip, internationale Kooperation und kulturelle Breitenarbeit.
Das sind Leitlinien, die im Grunde gut klingen. Der Bericht zeigt aber, dass es lediglich bei Ansätzen blieb. Institutionelle Straffung und Regionalisierung haben oft zu
einer Zentralisierung musealer Darstellung geführt, zahlreichen kleinen Einrichtungen wurde die Förderung gestrichen und Zentralmuseen wurden ausgebaut. Dem
Grundsatz der kulturellen Breitenarbeit entspricht dies
nicht. Ich plädiere für eine intensive Zusammenarbeit
zwischen allen Einrichtungen, zum Beispiel durch Wanderausstellungen. Wenn nämlich die Kulturpflege eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sollte auch die gesamte Gesellschaft Zugang zur Kultur haben.
Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Regionalprinzip möchte ich das völlige Fehlen eines Museums
für die russlanddeutsche Kultur ansprechen. Eine entsprechende Einrichtung würde nicht nur eine bestehende
Lücke in der derzeitigen Kulturpflege schließen, sondern
sich mit Sicherheit auch positiv auf die Integration von
Spätaussiedlern auswirken.
({5})
Die Kulturpflege muss in einem europäischen
Kontext gesehen werden. Nur so wird es uns langfristig
gelingen, geschichtliche Tabus und Vorurteile, die es leider gibt, abzubauen. Jugendaustausch an der Schnittstelle zur auswärtigen Kulturpolitik und gemeinschaftliche wissenschaftliche Forschung mit unseren Nachbarn
sind daher unerlässlich und werden von den Verbänden
befürwortet.
Was die Bundesregierung in ihrer Konzeption aus
dem Jahre 2000 als Neuorientierung verkauft, ist - das
erweist sich in der Praxis leider immer deutlicher - im
Grunde eine reine Etatkürzung. Ich will an dieser Stelle,
liebe Frau Dr. Weiss, ausdrücklich sagen, dass Ihre
Worte sehr viel sensibler sind als die Ihres Vorgängers
Naumann, der hier in einer Weise über die Vertriebenenkultur hergezogen ist, dass es einen schaudern konnte.
Aber er war der Begründer einer Entwicklung, der Sie
leider nichts entgegensetzen konnten. Die Kürzungen
schreiten fort. In diesem Bereich ist gekürzt worden wie
in kaum einem anderen im Haushalt des Bundes. Deswegen kann ich nur sagen, dass Ihren schönen Worten jetzt
wirklich Taten folgen müssen.
({6})
Das sind wir gerade in einem zusammenwachsenden
Europa auch der Integrationsleistung, die die Vertriebenen in den letzten Jahren gezeigt haben, schuldig.
Ich möchte ausdrücklich sagen: Es hat Zeiten gegeben, in denen wir als FDP-Fraktion manche Äußerungen
aus diesem Bereich mit Skepsis betrachtet haben. Frau
Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen,
ist nicht anwesend. Ich möchte betonen: Es hat in den
letzten Jahren politische Veränderungen gegeben, die auf
Aussöhnung und Brückenbau - Herr Marschewski hat es
schon angesprochen - gesetzt haben. Ich meine, wir als
Bundestag sollten die Aussöhnungs- und Integrationsleistung der Vertriebenen honorieren.
Herr Kollege Otto, denken Sie bitte an die Redezeit.
Deswegen ist mein letzter Satz ein Appell an die Kollegen von der SPD und von den Grünen, dass wir uns
aus den alten Schützengräben lösen, unsere Aufgaben
nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wahrnehmen und
gemeinsam mehr als diese Geplänkel, die es hier gelegentlich gegeben hat, erreichen. Es ist eine Aufgabe der
Zukunft, dieses kulturelle Erbe zu pflegen. Es geht nicht
nur um die betroffenen Menschen, sondern es geht auch
um ein kulturelles Erbe, das bewahrt werden muss.
In diesem Sinne möchte ich darum bitten, dass der
Antrag der CDU/CSU in aufgeschlossener und fairer
Weise behandelt wird. Vielleicht kommen wir dann auf
diesem Feld ein bisschen weiter.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Otto, Sie wissen, dass wir im Kulturausschuss immer sehr ernsthaft und qualifiziert diskutieren.
Ich bin der Ansicht, das werden wir sicherlich auch über
diesen Antrag tun. Aber lassen Sie mich eines bitte
gleich klarstellen: Wir sind weder gegen die Pflege des
Kulturgutes der Vertriebenen noch sind wir gegen die
Kulturarbeit, die die Vertriebenen leisten. Auch wollen
wir niemanden aus der geförderten Kulturarbeit drängen.
Im Gegenteil, wir halten es für eine wichtige Aufgabe, die kulturellen Leistungen, die in den Vertreibungsgebieten auch von Deutschen erbracht wurden
- Herr Marschewski hat wichtige Namen genannt -, zu
würdigen und sie im gemeinsamen Gedächtnis zu erhalten. Denn dieses Kulturgut ist Zeugnis eines wichtigen
Teils unserer deutschen und auch unserer europäischen
Geschichte. In diesem Punkt sind wir uns, denke ich, alle
einig.
({0})
Genau deshalb nehmen wir unseren gesetzlichen Auftrag, der uns in § 96 des Bundesvertriebenengesetzes
aufgegeben ist, sehr ernst. Ich gehe so weit zu sagen:
Erst, seitdem wir diese Kulturförderung vor vier Jahren
auf eine neue Grundlage gestellt haben, werden wir unserer Verpflichtung wirklich gerecht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir bitte
einmal an Folgendes:
({2})
- Lassen Sie mich bitte weiterreden. - Wir mussten im
Wesentlichen aus zwei Gründen umsteuern - Herr Otto,
Sie waren damals dabei; auch Sie saßen im Kulturausschuss -: Erstens haben sich die Rahmenbedingungen
- ich denke, das bestreitet niemand - seit Anfang der
90er-Jahre grundlegend verändert, und zwar nicht nur
die haushaltspolitischen Bedingungen, sondern vor allem auch die außenpolitischen. Durch letztere sind ganz
neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kooperation entstanden. Das wird doch niemand bestreiten.
({3})
- Hören Sie mir doch weiter zu.
({4})
Zweitens hat es im Bereich der geförderten Kulturarbeit über die Jahre hinweg Entwicklungen gegeben, die
sowohl ihre Qualität als auch ihre Effizienz grundsätzlich infrage stellten. Ich erinnere Sie daran: 1997 - damals waren Herr Marschewski und ich Mitglieder des
Innenausschusses - hat der Bundesrechnungshof Doppelförderungen und Mittelverschwendung beanstandet.
Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht dabei waren,
möchte ich das in Erinnerung rufen. Er hat die damalige
Bundesregierung - zuständig war damals Innenminister
Kanther - aufgefordert, eine grundlegende Umorientierung und Straffung dieser Förderung vorzunehmen. Auf
all diese Notwendigkeiten haben wir mit unserer neuen
Konzeption reagiert. Sie wurde gründlich vorbereitet
und ausführlich beraten. Damals, im Oktober 1999, fand
in unserem Ausschuss eine große Anhörung statt, zu der
auch die betroffenen Verbände eingeladen waren.
Der Bericht der Bundesregierung, der heute zur Beratung vorliegt, befasst sich mit der - ich will betonen: behutsamen - Umsetzung dieser Neukonzeption. Hier
wurde nichts über das Knie gebrochen. Wir alle wissen:
Auch heute ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.
Aber ich denke, dieses Ergebnis kann sich nach vier Jahren sehen lassen. Ganz besonders freut mich, dass ich jedenfalls in meiner Region merke, dass dieses Konzept in
der Zwischenzeit bei vielen Verbänden zunehmend auf
Akzeptanz stößt.
Da passt es eigentlich gar nicht ins Bild, dass die
CDU/CSU-Fraktion einen Antrag vorlegt, mit dem sie
das Rad einfach wieder zurückdrehen will:
({5})
zurück zu der Förderpraxis, die vom Bundesrechnungshof kritisiert wurde. Zugleich fordert sie aber eine stärkere Zukunftsorientierung. Genau das wollen wir mit
unserem Konzept erreichen. Ich denke, auch darüber
wurde schon gesprochen. Es geht um den grenzüberschreitenden Austausch mit unseren osteuropäischen
Nachbarländern. Das zieht sich wie ein roter Faden
durch die geförderte Kulturarbeit und das kann man im
Bericht der Bundesregierung anhand zahlreicher Beispiele nachlesen.
Schwerpunkt ist die gemeinsame Aufarbeitung des
gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil unserer europäischen Geschichte; das ist der wichtigste Pfeiler für eine
friedliche und gutnachbarliche Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neukonzeption ist ein Erfolg: Die
Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge
hat eine neue Qualität gewonnen, die weit höheren Ansprüchen gerecht wird und - ich denke - wirklich zeitgemäß ist. Das, was der Unionsantrag will, passt nicht zusammen: Er fordert eine auf die Zukunft gerichtete
Förderung, will aber gleichzeitig die alten, überlebten
Strukturen wiederherstellen; ich denke, die Zeiten sind
längst darüber hinweggegangen.
Zum Schluss noch: Ich kann mich eigentlich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir diesen Antrag schlicht
dem Kalender zu verdanken haben: Pfingsten steht nämlich mit seinen zahlreichen Treffen der Landsmannschaften vor der Tür und da scheint es angesagt zu sein,
nicht das, was wir von den Landsmannschaften heute als
positive Akzeptanz unserer Kulturarbeit leisten, hervorzuheben, sondern das Rad wieder ein Stück zurückzudrehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wohl wir alle empfinden den Beitritt
unserer unmittelbaren Nachbarstaaten zur Europäischen
Union als Rückkehr nach Europa. Unter ihnen sind auch
Länder, in denen lange Zeit Deutsche lebten, die in ihnen
über Jahrhunderte Heimatrecht erwarben, diese Länder
aber 1945/46 durch Flucht und Vertreibung verlassen
mussten. Fast 15 Millionen Menschen haben nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren, aber
sie haben wenigstens ihr geistiges Fluchtgepäck mitnehmen können: ihre Kultur, ihre Eigenart, ihr handwerkliches und technisches Können, ihr Brauchtum und
ihren Dialekt.
Die Bundesregierung will die Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete heute ins Museum verbannen, sie bestenfalls als Aufgabe der Heimatvertriebenen selbst verstehen, aber bitte ja nicht ihrer Landsmannschaften oder
sonstigen Verbände. Ich halte das für einen Riesenfehler.
Die Kultur der Vertreibungsgebiete ist - das ist vorher zu
Recht gesagt worden - Teil der Kultur aller Deutschen
und sie ist auch Teil der Kultur aller Europäer.
({0})
Das ist nicht nur so, weil es im Gesetz steht und im Einigungsvertrag ausdrücklich bestätigt wurde, das ist auch
sachlich so: Hat etwa Gerhart Hauptmanns „Die Weber“,
die Geschichte vom Weberaufstand von 1844 im Zeitalter der industriellen Revolution, nicht gesamtdeutsche
wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung?
({1})
Steht sein Drama nicht auch für die Industriegeschichte
ganz Europas? Hat der im böhmischen Eger geborene
Balthasar Neumann nicht Architekturgeschichte weit
über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus geschrieben? Und gehört nicht Franz Kafkas literarisches
Erbe ebenso zur böhmischen Wirklichkeit wie zum jüdisch-deutschen Kulturerbe Prags, jener Stadt, in deren
Mauern 1348 die erste deutschsprachige Universität errichtet wurde? Das kulturelle Erbe der Vertreibungsgebiete sollte deshalb heute als europäisches Kulturerbe
verstanden und weiterentwickelt werden
({2})
- ich freue mich, Herr Kollege Kubatschka, dass Sie mir
zustimmen; vielleicht finden wir eine Einigung -, ohne
dass wir Deutschen die Verantwortung für die Pflege und
Weiterentwicklung dieses Erbes von uns weisen. Zu
Recht werden deshalb von den Bundesländern derzeit lagerübergreifend Überlegungen angestellt, die Europäische Union auf ihre neue Verantwortung für die Kulturpflege dieser Vertreibungsräume hinzuweisen und auch
finanziell in Anspruch zu nehmen.
An die Bundesregierung aber muss sich heute unser
Appell - von CDU und CSU - richten, den eigenständigen Wert der Kulturpflege der Vertreibungsgebiete endlich anzuerkennen. Die jetzt schon mehrfach zitierte so
genannte Neukonzeption aus dem Jahre 2000 hat unter
dem Vorwand der Professionalisierung zu einer Entmenschlichung dieser Kulturarbeit geführt, zu einer gewollten Musealisierung. Die Tausenden, die in der
Breitenarbeit bis heute ehrenamtlich in privaten Heimatstuben, in Heimatarchiven und kleinen Vereinsmuseen
die Erinnerung an die alte Heimat und ihre kulturellen
Eigenheiten wachhalten, leisten in Wahrheit vorbildliches bürgerschaftliches Kulturengagement.
({3})
Diese soziokulturelle Breitenarbeit - es ist nicht die
einzige, aber es ist auch eine - muss endlich anerkannt
und ideell, aber auch materiell gefördert werden und darf
nicht länger politisch ins Abseits gedrängt werden.
({4})
Sehr verehrte Damen und Herren, leisten wir doch
jetzt, da aus Altersgründen immer weniger Menschen
diese praktische Kulturarbeit leisten können, eine gemeinsame Anstrengung. Die Opposition bietet Ihnen Zusammenarbeit an bei einer Neukonzeption der Neukonzeption, bei der fachlichen Überprüfung der Wirkungen
dieser Maßnahme aus dem Jahr 2000 und bei der Suche
nach einer Neuregelung, die die jetzigen Hauptaktiven in
dieser Arbeit, die Heimatvertriebenen selbst und ihre
Nachkommen, wieder aktiv in diese Arbeit mit einbezieht.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/2819 und 15/2967 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia
Klöckner, Peter H. Carstensen ({0}),
Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes für Tierärzte und Landwirte
praxisgerecht und verbraucherfreundlich gestalten
- Drucksache 15/3112 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Julia Klöckner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor dreieinhalb Monaten habe ich mich schon einmal
hier in diesem Plenum an Sie wegen der dringend notwendigen Novellierung des Tierarzneimittelrechtes gewandt. Über ein Jahr ist es mittlerweile her, dass wir im
Ausschuss darüber debattiert hatten.
Damals war ich sehr hoffnungsfroh; denn die Einsichten in der Debatte waren doch sehr klug. Ich war sehr
überrascht, dass wir mit den Vertretern der Grünen und
der SPD Einvernehmlichkeit erzielen konnten. Seinerzeit hatte gerade die CDU/CSU-Fraktion - auch aufgrund des Antrages von Bayern im Bundesrat - im Sinne
des Verbraucherschutzes und im Sinne des Tierschutzes die Notwendigkeit der Erarbeitung einer sachgerechten und vor allen Dingen praktikablen Lösung unterstrichen. Wir hatten angemahnt, praktikabel vorzugehen.
Wir haben eine Zusammenarbeit ausdrücklich angeboten. Ich danke hier auch den Berichterstattern der anderen Parteien für die Bereitschaft und für die anfängliche
Initiative dazu.
({0})
Ich danke deshalb auch dem Kollegen Goldmann,
dem Kollegen Priesmeier und dem Kollegen Ostendorff.
In der Haut der letzten beiden möchte ich natürlich nicht
stecken. Manchmal wünscht man sich sicherlich auch an
Ihrer Stelle, man würde die Regierung nicht stellen,
wenn einem untersagt wird, miteinander zu arbeiten.
({1})
- Es tut mir sehr Leid, aber das wurde eben abgelehnt; so
war es leider.
({2})
- Sie waren leider nicht dabei, Sie können das aber gerne
im Protokoll nachlesen. Auch wenn es schmerzhaft ist,
muss man das zur Kenntnis nehmen. Ich danke dennoch
für die anfänglichen Initiativen.
({3})
- Das ist so ein bisschen das schlechte Gewissen.
({4})
Meine Herren, seien Sie doch Kavaliere.
Weil das dann leider ins Stocken geriet und weil letztlich den Tierhaltern, den Tierärzten, aber auch den Tieren nicht geholfen war, mussten wir dann das Heft in die
Hand nehmen. Das haben wir getan und einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
({0})
- Wir haben einen Antrag vorgelegt, vielleicht sollten
Sie ihn einmal durchlesen.
Leider warten wir seit langem vergeblich auf den Gesetzentwurf, der durchaus von Frau Ministerin Künast
angekündigt wurde und der eigentlich kurz vor der Verabschiedung stehen sollte. Es kommt aber nichts.
({1})
- Vielleicht schreiben sie gerade an dem Antrag. - Sie
müssen bedenken, es geht hier nicht um eine Spielerei.
Es geht darum, dass Tiere leiden, dass Tierärzte unpraktikabel arbeiten müssen, dass Tierhalter schikaniert werden und dass letztlich überhaupt keinem geholfen ist. So
können wir nicht miteinander umgehen. Wir erkennen
doch wirklich alle, dass diese Dinge so nicht praktikabel
sind. Ich denke, es ist nicht lauter, das so auf die lange
Bank zu schieben.
({2})
Ich bitte Sie daher, den Ball, den wir Ihnen jetzt zuspielen, auch aufzunehmen
({3})
und endlich mit vereinten Kräften an einer konstruktiven
Lösung zu arbeiten. Ganz klar feststeht: Wir halten an
den vorrangigen Zielen - zum einen dem Verbraucherschutz und zum anderem dem Tierschutz - fest und wir
sind ihnen auch heute noch verpflichtet. Ich glaube, hier
gibt es zwischen uns keinen Dissens, sondern einen
Konsens.
Dieser verbesserte Verbraucher- und Tierschutz ist
mit dem jetzigen Arzneimittelgesetz nicht zu erreichen
und nicht vereinbar. Sie erinnern sich noch an die Aussagen der Sachverständigen. Ich denke, Anhörungen werden nicht aus Spaß durchgeführt und sind nicht dazu da,
dass sich Sachverständige auf lange Wege nach Berlin
machen. Die Ergebnisse von Anhörungen sollte man
ernst nehmen und in Gesetzesentwürfe und Anträge einarbeiten. Wir haben das im Gegensatz zu Ihnen getan.
Bisher liegt kein Antrag von Ihnen vor.
({4})
- Herr Kollege Ostendorff, ich weiß nicht, ob Sie über
den Ablauf des parlamentarischen Verfahrens Bescheid
wissen. Ich kann nicht in Ihre Köpfe schauen und ich
kann auch nicht nachsehen, was in Ihren Schubläden
liegt und Sie nicht rausholen. Wir würden gerne sehen,
was vorliegt.
({5})
- Wir werden nichts finden, das ist das Tragische. - Wir
haben einen Antrag vorgelegt. Erst dann, wenn etwas
vorliegt, kann man auch darüber debattieren.
Die Folge - ({6})
Entschuldigung, Frau Klöckner. Meine Herren - es
sind ja so wenige und Herr Ostendorff kommt nachher
noch zu Wort - : Halten Sie sich ein wenig zurück und
lassen Sie Frau Klöckner ihre Rede halten. - Bitte schön.
({0})
Das ist eben das schlechte Gewissen. Ich weiß, es tut
weh, wenn man selbst nichts zu bieten hat und andere
haben etwas vorgelegt.
({0})
Sehen Sie das doch einfach mal im Sinne derjenigen, die
es betrifft.
Wir sagen ganz klar: Ein zentrales Problem ist der
mangelnde Tierschutz. Ein anderes zentrales Problem
- das haben Sie damals auch gesagt; es steht im
Protokoll - ist die 7-Tage-Regelung. Ich weiß nicht,
welches Tier sich mit seiner Krankheit plötzlich an die
Regelung der Beamten hält und sagt: Okay, sieben Tage
sind herum, also ist auch meine Krankheit überstanden.
Wer das glaubt und annimmt, dass Praktiker damit umgehen können, der war noch nie im Stall und der hat sich
noch nie mit der Klientel befasst, die er hier vertreten
soll.
({1})
Um zu verhindern, gegen das Gesetz zu verstoßen,
müsste der Tierarzt, wenn er sich daran hielte, wie es
jetzt geregelt ist, jedem kranken Tier einen persönlichen
Krankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behandlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter
die nötige Behandlung durchführen darf. Solange leidet
das Tier eben. Würde der Tierarzt dann noch vor und
nach jedem Stallbesuch durch die Hygieneschleuse geführt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krankheiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre dieses Unterfangen endgültig undurchführbar.
Das Ergebnis - der Tierschutz steht im Grundgesetz wäre eine himmelschreiende Tierquälerei. Wir müssen
schon versuchen, verschiedene Ziele unter einen Hut zu
bringen und nicht immer neu zu definieren. Einmal
- wenn wir zum Beispiel über die Legehennenverordnung und die Größe von Ställen reden - ist Ihnen der
Tierschutz sehr wichtig und steht ganz oben und hier
spielt der Tierschutz auf einmal keine Rolle mehr. Ich
bitte hier doch um Stringenz und einen roten Faden.
({2})
Die Abschaffung der 7-Tage-Regelung ist aber noch
längst nicht alles. Wenn durch das Arzneimittelgesetz
mehr Verbraucherschutz erbracht werden soll ohne Tierquälerei - wir müssen eben Behandlungen untersagen,
damit ein Tierarzt und ein Tierhalter nicht das Gesetz
übertreten; das muss man sich einmal vorstellen - zu
verursachen, dann müssen wir folgende Punkte, die auch
in unserem Antrag stehen, beherzigen:
Erstens. Um einer etwaigen Vorratshaltung von Tierarzneien in den landwirtschaftlichen Betrieben vorzubeugen und eine einfache, aber effiziente Überwachung
gewährleisten zu können, brauchen wir statt der 7-TageRegelung, die sehr willkürlich ist - das sagen wir hier
explizit -, tierärztliche Behandlungspläne als ein geeignetes Instrument. Eine reine Veränderung der zeitlichen Anforderungen wäre nicht akzeptabel, da eine
starre Frist - egal, wie lang sie auch ist - der Vielfalt der
Tiererkrankungen und deren Verläufe nicht gerecht werden kann.
Zweitens fordern wir: Durch eine entsprechende Ergänzung des bisherigen Voraussetzungskataloges für die
Abgabe von Tierarzneimitteln muss der Behandlungsplan als neuer zentraler Begriff und als Bedingung für
die Arzneimittelabgabe in den Mittelpunkt der tierärztlichen Betreuung treten.
({3})
Drittens. Die Menge der an den Tierhalter abzugebenden Arzneimittel richtet sich zum einen nach der festgelegten Anwendungsdauer für das zum Zeitpunkt der Untersuchung als behandlungswürdig eingestufte Tier und
zum anderen - das ist ganz wichtig - nach dem Stand der
tierärztlichen Wissenschaft. Die Tierärzte haben ihren
Beruf nicht in einem kurzen Abendkurs erlernt.
Kollege Priesmeier, ich schätze Sie und Ihr Wissen
als Tierarzt sehr. Sie selbst wissen, dass Tierärzte aufgrund ihrer Erfahrungen nicht immer in einem Handbuch nachschlagen müssen. Deshalb ist es sehr wichtig,
dass hier der Stand der tierärztlichen Wissenschaft eine
Rolle spielt.
({4})
Diese Regelung führt zu einer Vermeidung der Abgabe von Arzneimitteln für noch nicht erkrankte Tiere,
wie sie unter der bestehenden 7-Tage-Regelung häufig
praktiziert wird. Das heißt, der Behandlungsplan ist
wichtig. Es ist klar, dass der Tierarzt nicht willkürlich
handeln kann. Der Tierarzt muss einen Bestand vor Augen haben, ihn prüfen und dann sagen, wie zu behandeln
ist.
Ganz entscheidend für uns ist, dass zwischen den Gesellschafts- und Sporttieren sowie den Lebensmittel liefernden Tieren eine Grenze gezogen wird.
({5})
- Das stellt hier aber ein Problem dar. Reden Sie mal mit
Tierhaltern und Tierärzten. Dann werden Sie feststellen,
dass diese Zuordnung nicht gewährleistet ist. - Eine
Begriffsbestimmung der Lebensmittel liefernden
Tiere ist erforderlich, da sich in der Praxis eine Zuordnung bestimmter Tiere und die damit verbundene Arzneimittelabgabe als sehr schwierig erwiesen hat. Es ist
schon sinnvoll, bei der Behandlung von Tieren abzuwägen, was sie an Medikamenten bekommen, wenn diese
nachher verzehrt werden sollen. Das ist der Unterschied
zu einem Hamster, den ich nicht vorhabe zu verzehren.
Bei uns Menschen geht es ausschließlich darum, wie wir
Schmerzen lindern und Krankheiten behandeln. Das ist
für uns wichtig. Warum müssen wir Tierärzten und Tierhaltern unnötig Steine in den Weg legen?
Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimitteln zu gewährleisten, ist auch zu prüfen, ob es den Tierärzten künftig ermöglicht werden kann, Arzneien aus
fertigen Gebinden umzufüllen, fachgerecht neu zu verpacken und an den Tierhalter abzugeben.
({6})
- Referentenentwurf hin oder her, aber ich habe noch
keine Drucksache gesehen. Auch ich könnte jetzt ausführen, welche Papiere wir schon vorbereitet haben. Wir
möchten gerne etwas auf dem Tisch liegen sehen. Im
Moment werden wir nur hingehalten.
({7})
Die ganze Zeit wird gesagt, dass dieser Antrag der
Union zur Unzeit kommt. Wenn Dinge geregelt werden
müssen, dann gibt es keine Unzeit. Wir hatten schon
Jahre Zeit, etwas zu machen. Wenn man sich bei der Erarbeitung des Referentenentwurfs nicht einig war und
deshalb nichts vorliegt, dann ist das nicht unser Problem.
Wir nehmen uns dieser Sache an. Das, was in unserem
Antrag steht, können Sie gerne übernehmen.
Es kann nicht sein, dass für die Behandlung eines
kleinen Hamsters eine große Arzneimittelpackung abgegeben wird, die normalerweise für die Behandlung einer Kuh oder eines Schweins nötig ist. Das ist aus ökonomischen und ökologischen Gründen nicht sinnvoll.
Bisher ist es so, dass der Tierhalter selbst bei Kleinsttieren die Großpackung abnehmen muss, aber den Rest
nicht mehr verwerten darf und kann. Es gibt keinen
Grund, nicht unseren Vorschlägen zuzustimmen. Es gilt,
die Tierärzte aus der Grauzone herauszuführen. Es geht
nicht darum, irgendwelche Hygienevorschriften nicht
mehr einzuhalten. Das ist nicht der Fall. Wir müssen uns
darüber einig werden, wie das Ganze später im Gesetzestext formuliert wird.
Im Verlauf der Arbeit an dieser Novelle habe ich mich
mit anderen Kollegen der Unionsfraktion wiederholt mit
Vertretern aller beteiligten Kreise zusammengesetzt. Im
Verlauf der Gespräche zeigte sich schnell, dass die Interessen der Länder, der Tierärzte und der Tierhalter sicherlich nicht einfach unter einen Hut zu bekommen
sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir eine einvernehmliche Lösung vorgelegt und Ihnen einen verwertbaren
Lösungsansatz an die Hand gegeben haben.
Wir sind weiterhin daran interessiert, mit Ihnen zusammen an einer praktikablen Lösung zu arbeiten. Anfangs war der gemeinsame Wille vorhanden, fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten. Warum das nicht
mehr möglich war, möchte ich jetzt nicht erwähnen. Das
ist Fakt. Diejenigen, die nicht mit dabei waren, können
darüber gerne den Kopf schütteln. Aber das ist nun einmal so. Mir tut es um die Kollegen Leid, die bereit waren, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir bieten Ihnen eine
gute Vorlage. Erlauben Sie mir, an Ihre politische Vernunft zu appellieren. Es gibt keinen Grund, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Über alle Punkte hatten wir
schon einmal Einvernehmen erzielt. Sie haben Ihr Einvernehmen leider zurückgezogen.
Ich verstehe auch nicht, warum die Ministerin nicht
da ist.
({8})
- Wie ich sehe, ist Herr Berninger etwas verspätet hinzugekommen. Ich denke, er wird den Antrag lesen und ihn
weiterreichen, damit er als gute Grundlage dienen kann.
Stimmen Sie zu! Es gibt keinen Grund, dagegen zu sein.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es nützt wenig, wenn hier Sperrfeuer geschossen
wird. In der Diskussion über den Referentenentwurf, der
bereits seit Oktober vorliegt,
({0})
ist in den letzten Monaten vieles weiterentwickelt worden.
({1})
- Über die Zeitschiene kann man sich unterhalten. Die
beteiligten Verbände haben vorgetragen, dass man sich
gerne auf eine gemeinsame Position einigen wollte. Das
erfordert naturgemäß Zeit. Die Zeit haben wir den Verbänden eingeräumt. Mittlerweile liegt dort eine gemeinsame Position vor.
({2})
Es hat erhebliche Diskussionen im Hintergrund gegeben,
die noch lange nicht abgeschlossen sind. In dem Zusammenhang ist Ihr Antrag heute, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, weder zeitgemäß noch
passend.
In der Analyse des Problems sind wir uns im Wesentlichen einig, auch nach der Anhörung im letzten Juni.
({3})
Die gemeinsame Position, die hier im Verlauf der Diskussionen gefunden worden ist, trägt auch noch. Wenn
man meint, aus nahe liegenden Gründen - das mag bei
Ihnen aus einem gewissen Populismus resultieren - jetzt
einen Antrag stellen zu müssen, dann ist das wenig
zweckdienlich.
Ich glaube, alle Beteiligten sind daran interessiert,
eine praxisnahe und vernünftige Regelung zu finden.
({4})
Gerade Sie, verehrte Frau Kollegin Klöckner, haben in
den letzten Monaten auch in den Gesprächen mit der
Länderebene gemerkt, wo dort die Befindlichkeiten liegen und dass es nicht ganz so einfach ist, ein einfaches
Konzept in einem Antrag zu formulieren, das hinterher
auch noch juristisch tragen und eine einfache Regelung
enthalten soll, damit alle Beteiligten zufrieden sind.
Die anfängliche Forderung, die 7-Tage-Frist ersatzlos zu streichen, findet auf der Länderebene überhaupt
keinen Wiederhall.
({5})
Bei der Anhörung zum Referentenentwurf im BMVEL
wurde von zehn anwesenden Ländern, mindestens aber
von acht, signalisiert, dass sie mit der Streichung mit Sicherheit nicht einverstanden sind. Auch das Instrumentarium, das Sie auf den Tisch gelegt haben, ist ein durchaus
anerkennenswerter Diskussionsansatz. Das Instrument
Behandlungsplan ist schon bei den Beratungen zur elften
Novelle diskutiert worden, dann aber nicht zum Tragen
gekommen.
({6})
Die Ursache für das eigentliche Problem und für den
Handlungsdruck, den man vor der elften Novelle verspürt hat, liegt in der mangelnden Kontrolle und in den
Schwächen des bisherigen Kontrollsystems. Da kann ich
als jemand, der davon direkt betroffen ist, zumindest im
Augenblick auf der Länderebene keine wesentliche Verbesserung erkennen.
Weder sind die personellen Ressourcen vorhanden,
um eine effiziente Kontrolle zu gewährleisten, noch das
dafür notwendige Instrumentarium. Auch ist die Bereitschaft dazu in vielen Bereichen nicht vorhanden. Die gegenwärtige Situation mit all den Schwierigkeiten, die
wir im Augenblick mit der Umsetzung bzw. der Rechtswirklichkeit der elften Novelle haben, hält einige Bundesländer davon ab, intensiv zu kontrollieren. In Bayern
sind vor der Landtagswahl keine Kontrollen erfolgt.
({7})
Warum wohl? Die Frage ist berechtigterweise zu stellen.
Auch das von Bayern auf den Tisch gelegte Instrumentarium des Behandlungsplans ist wieder aus den Diskussionen verschwunden. Das ist heute kein Thema mehr.
({8})
Kein Bundesland fühlt sich bemüßigt, in diesem Zusammenhang die im Referentenentwurf unter Umständen gewährte Möglichkeit einer eigenständigen Regelung in
dem Bereich umzusetzen. Darum drückt man sich. Aus
diesem Grunde ist es vernünftig, unter Umständen an
dem Instrument des Behandlungsplanes weiterzuarbeiten und dieses weiterzuentwickeln. Im Referentenentwurf ist der Behandlungsplan als eine Möglichkeit vorgesehen, eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung unter
der Maßgabe zuzulassen, dass das für einen ganz bestimmten Indikationenkatalog von Erkrankungen gilt.
Das sind in der Hauptsache Bestandserkrankungen.
Herr Kollege Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Klöckner.
Herr Kollege Priesmeier, was mich und sicherlich
auch die Tierhalter und Tierärzte interessiert, ist die
Frage, wann ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, aus dem
hervorgeht, welche Richtung eingeschlagen werden soll.
Es reicht nicht, festzustellen, was alles nicht möglich ist.
Wir müssen vielmehr wissen, welche Möglichkeiten bestehen. Dafür sind wir als Politiker schließlich an dem
Verfahren beteiligt. Ich möchte konkret wissen, wann die
Betroffenen endlich aufatmen können.
Ich gehe davon aus, dass die Beratungen in absehbarer Zeit so weit gediehen sind,
({0})
dass ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werden
kann, der auch beratungsfähig ist.
({1})
- Zurzeit kann ich Ihnen keinen konkreten Zeitpunkt
nennen, aber ich gehe davon aus, dass im Ministerium
fleißig daran gearbeitet wird. Der Gesetzentwurf wird
eine entsprechende Qualität haben.
({2})
Das würde ich nicht in Abrede stellen.
In diesem Zusammenhang wird von verschiedenen
interessierten Seiten unter Umständen ein Popanz aufgebaut. Sie kennen vielleicht den gemeinsamen offenen
Brief der vier beteiligten Verbände, den ich in dieser Situation für wenig zweckdienlich halte. Damit wird eine
politische Linie verfolgt, die offensichtlich auf Profilierung ausgelegt und der Diskussion wenig förderlich ist.
Ich glaube, wir sollten wieder zur Sachlichkeit zurückkehren
({3})
und unter dieser Maßgabe versuchen, eine Lösung zu
finden. Dazu sind wir auch bereit.
({4})
Mein Gesprächsangebot in diesem Zusammenhang
gilt weiterhin. Ich habe vorhin mit Freude zur Kenntnis
genommen, dass auch Ihr Angebot weiter gilt. Insofern
sind die besten Voraussetzungen gegeben, um eine vernünftige Lösung zu finden, die auch auf die Befindlichkeiten der Länder abstellt. Denn was nützt uns ein Gesetz, das im Bundestag beschlossen wird, aber
anschließend im Bundesrat keinen Bestand hat?
({5})
- Sie wissen genau, verehrter Kollege Goldmann, dass
die Einschätzung des richtigen Instrumentariums in diesem Zusammenhang nicht davon abhängig ist, von welchem politischen Lager die Landesregierungen derzeit
gestellt werden.
({6})
Das ist eine klare Erkenntnis; das wissen Sie so gut wie
ich.
({7})
- Nicht nur NRW. Ich habe in den vergangenen Wochen
und Monaten mit den Vertretern der Länder in der
LAGV gesprochen, und zwar nicht nur aus NRW oder
Bayern, sondern unter anderem auch aus BadenWürttemberg und meinem Heimatland Niedersachsen,
das bekanntlich von dieser Problematik in besonderer
Weise betroffen ist. Es gibt durchaus einen vernünftigen
Ansatz, der kompromissfähig ist. Ich bin bereit, auch
weiterhin an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten, die
auch langfristig tragbar ist und länger Bestand hat als
das, was uns mit der Elften Novelle des Arzneimittelgesetzes vorgelegt worden ist.
Dabei nützt es nichts, sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen. Denn wie jeder weiß, ist die Elfte Novelle mit
16 : 0 im Bundesrat beschlossen worden. Der Bundesregierung bzw. dem BMVEL die Schuld daran zuzuweisen
ist weder korrekt noch fair.
({8})
Denn sie haben weitere wesentliche Erschwernisse, die
unter Umständen in die Elfte Novelle Eingang gefunden
hätten, verhindert.
({9})
In diesem Zusammenhang lohnt es sich nicht, alte Kamellen aufzuwärmen.
({10})
Meines Erachtens sind die in Ihrem Antrag enthaltenen
Forderungen bereits in wesentlichen Teilen Bestandteil
des Referentenentwurfs.
({11})
Das Umverpacken wird dort einwandfrei eingeräumt.
Das ist auch unbestritten.
({12})
- Das ist in Ordnung. Wenn Sie dem zustimmen, dann
verfolgen wir wieder eine gemeinsame Linie, die sich
wahrscheinlich auch als tragfähig erweisen wird.
Ich appelliere an Sie, wieder auf den Boden des Konsenses zurückzukehren und gemeinsame Gespräche zu
führen. Ich sehe in diesem Zusammenhang keine Alternative, wenn wir sinnvoll gestalten wollen. Das Angebot
der Fraktionen von SPD und - das nehme ich an - Grünen, in einem konstruktiven Dialog zu einer Lösung zu
kommen, gilt auf jeden Fall weiter.
Ein Modell, das ich auch auf der Länderebene für
kompromiss- und konsensfähig halte, könnte sich wie
folgt darstellen: Der Behandlungsplan wird zur Grundlage gemacht, um Ausnahmen von der 7-Tage-Regelung
zuzulassen. Darüber hinaus sollte ein Expertengremium
geschaffen werden, das Leitlinien zur Anwendung von
Antibiotika und Voraussetzungen für Ausnahmen von
der Siebentageregelung definiert. Das soll kein statischer
Prozess per Verordnung sein. Vielmehr soll dieses Gremium, besetzt mit Fachleuten und Praktikern, ein dynamisches Instrument sein, mit dessen Hilfe man letztendlich in der Lage ist, den Stand der tierärztlichen
Wissenschaft zu definieren. Ich glaube, dass diese Lösung bei allen Kolleginnen und Kollegen konsensfähig
ist, sofern ich das als Tierarzt beurteilen kann. Das können Sie vielleicht nicht so gut, Herr Kollege Goldmann.
Ich gehe davon aus, dass Sie nicht mehr so stark im täglichen Dialog mit den Kollegen involviert sind wie ich.
Ich appelliere an Sie, die gemeinsame Linie nicht auf
Dauer zu verlassen, wie Sie das in Ihrem Antrag bereits
tun. Wir sollten weiterhin versuchen, gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung zu kommen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
ungerecht ist die Welt: Mein Vorredner hat zwölf MinuHans-Michael Goldmann
ten hier herumgeblubbert und nichts gesagt, während ich
leider nur drei Minuten habe.
({0})
Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Wilhelm
Priesmeier, bei dir ist es immer das Gleiche: In populistischen Botschaften bist du allererste Sahne. Du plusterst
dich zum Tierschutzbeauftragten auf und lässt seit geraumer Zeit ein Arzneimittelgesetz gelten, von dem du
als Praktiker genau weißt, dass sich jeder, der dieses Gesetz befolgt, am Tierschutz sowie an den Interessen der
Bauern und im Grunde genommen auch der Tierärzte
vergeht.
({1})
Die Tiere sind aufgrund dieses Gesetzes - um in der
Agrarsprache zu bleiben - traurig und beschissen dran.
Die Bauern leiden darunter. Es kostet sie eine Menge
Geld. Aber es kommt nichts dabei herum.
({2})
- Herr Kollege, Sie haben keine Ahnung davon. Sie haben wahrscheinlich noch nie bei einem Tier gestanden.
({3})
- Im Schreien sind Sie ziemlich gut. Wahrscheinlich sitzen Sie deshalb in der ersten Reihe. Manche sitzen dort
wegen ihrer guten fachlichen Qualität. Aber das, was Sie
eben von sich gegeben haben, war nur in der Lautstärke
überzeugend. Sie sollten einmal zuhören.
({4})
Ich finde es beeindruckend, welche Rolle Sie hier spielen. Ich bin todsicher, dass Sie kein einziges Mal in den
Antrag der CDU/CSU hineingeschaut haben.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen: Dieser Antrag ist allererste
Sahne.
({6})
Das weiß auch Kollege Priesmeier genau.
Herr Küster, Sie brauchen nicht noch die Hände an
den Mund zu legen, um einen Trichter zu bilden. Ich verstehe auch so alles bestens, was Sie sagen, oder - besser
gesagt - es kommt akustisch einiges bei mir an.
({7})
- Frau Hiller-Ohm, ich verstehe euch nicht. Zuerst wolltet ihr doch gar nicht reden. Dann habt ihr dafür gesorgt,
dass diese Debatte in die Nachtstunden verschoben wird,
damit nicht auffällt, dass ihr im Grunde genommen seit
anderthalb Jahren eurer Verpflichtung nicht nachkommt.
({8})
Entschuldigen Sie, aber der Redner hat das Wort.
Herr Küster, wenn Sie meinen, dass Sie sich weiter
disqualifizieren müssen, dann bitte. Ich fände es aber
besser, wenn wir unsere Auseinandersetzung auf privater
Ebene fortsetzen würden. Dann bräuchten Sie auch nicht
mehr so zu schreien.
({0})
Wenn Sie informiert sind, dann wissen Sie, dass alle,
vor allen Dingen Herr Kollege Priesmeier von Ihrer
Fraktion, Herr Küster, und Herr Kollege Ostendorff, in
der Ausschussanhörung erklärt haben, dass dieses Gesetz dringend verbessert werden müsse. Daraufhin haben
Frau Klöckner und ich gemeinsam einen Brief aufgesetzt
- wir hatten den Auftrag dafür - und versucht, die Unterschriften von Herrn Priesmeier und Herrn Ostendorff für
diesen Brief zu bekommen. Doch leider sind Herr
Ostendorff und Herr Priesmeier vom Ministerium vorher
angerufen worden, woraufhin sie nicht mehr unterschreiben durften, obwohl wir alle uns einig waren, dass es in
dieser Frage Verbesserungsbedarf gibt.
({1})
Daraufhin sind wir einen eigenen Weg gegangen. Genau so ist es, Herr Kollege. Das kann ich Ihnen auch belegen.
({2})
Wenn Sie nachschauen, werden Sie feststellen, dass wir
einen eigenen Antrag eingebracht haben. Dank der hervorragenden Arbeit von Frau Julia Klöckner hat auch die
CDU/CSU einen eigenen Antrag eingebracht.
({3})
- Sie hat nicht bei mir abgeschrieben. Wie du genau
weißt, ist meiner nämlich etwas kürzer; aber in den Inhalten stimmen wir sehr wohl weitestgehend überein.
Im Grunde genommen wisst ihr beide ganz genau,
dass es, wenn ihr nur dürftet, ein Leichtes wäre, den parlamentarischen Mut aufzubringen und zu sagen: Jawohl,
wir wissen, dass das derzeitige Arzneimittelgesetz für
die in der Praxis Tätigen verbessert werden muss. Es
wurde völlig zu Recht bemerkt, dass dieses Gesetz damals mit den Stimmen des ganzen Hauses auf den Weg
gebracht worden ist. Heute wissen aber alle, dass bei
dem Zustandekommen dieses Gesetzes einige wenige
gravierende Fehler passiert sind. Diese Fehler könnte
man mit ein bisschen gutem Willen zum Wohle der Bauern, der Tierärzte und vor allen Dingen der Tiere, Herr
Tierschutzbeauftragter, beseitigen - wenn man es nur
wollte. Kollege Priesmeier weiß hundertprozentig, dass
es dort Probleme gibt. Das sagen ihm nämlich seine Kollegen, wenn er mit ihnen spricht.
Herr Kollege Goldmann, bitte.
Ich komme zum Schluss.
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Lieber
Kollege Priesmeier, wenn du als praktizierender Tierarzt
mit einer pharmakologischen Ausbildung, der auch Fortbildungen absolviert hat, wirklich der Meinung bist, dass
wir eine Kommission brauchen, um hoch qualifizierten
Tierärzten zu sagen, was sie mit den Bauern zu tun und
zu lassen haben, dann kann ich nur sagen: Du hast dein
Studienziel verfehlt. Wir wollen, dass es im Ausschuss
zu einer Lösung kommt. Legt in der nächsten Sitzung
euren Referentenentwurf auf den Tisch! Kein Thema,
wir setzen uns zusammen und innerhalb von einer
Stunde ist die Sache erledigt, wenn ihr nur wollt oder,
besser gesagt, wenn ihr dürft.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Friedrich Ostendorff vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mich erstaunt schon, was ich hier in Berlin
alles lerne: dass der Bauer Ostendorff und auch der Tierarzt Priesmeier vom Ministerium ferngesteuert sind.
({0})
Ich habe heute Abend eine ganz neue Erkenntnis gewonnen. Das hat schon einen gewissen Unterhaltungswert.
Aber wir wollen uns darauf gar nicht weiter einlassen;
denn diesem Thema gebührt Sachlichkeit.
Die Behandlung von erkrankten Tieren mit Arzneimitteln ist ein sensibler Bereich mit direktem Bezug zum
Tier- und Verbraucherschutz. Alle arzneimittelrechtlichen und tiergesundheitlichen Maßnahmen in diesem
Tätigkeitsfeld müssen also mit Blick auf Verbraucherschutz und Tierschutz abgewogen werden.
Wir haben uns interfraktionell viele Male getroffen,
({1})
um eine einvernehmliche Regelung zu erarbeiten. Frau
Klöckner hat das ja gerade bestätigt. Umso mehr erstaunt es uns, Frau Klöckner, dass die Opposition in ihrem Antrag zum Arzneimittelgesetz für Tierärzte und
Landwirte fordert, dass verbraucherschutzpolitische
Herzstück der Elften Arzneimittelgesetzesnovelle, die so
genannte 7-Tage-Regelung zur Befristung der Abgabe
von Arzneimitteln, vor allem von Antibiotika, an Tierhalter einfach zu streichen.
({2})
Frau Klöckner, dafür haben wir überhaupt kein Verständnis. Beim Umgang mit Tierarzneimitteln ist eine
verantwortungsvolle Vorgehensweise sowohl vom Tierarzt als auch vom Tierhalter essenziell. Für Tierärzte gilt
dies in besonderem Maße, da sie - als Ausnahme vom
Apothekenmonopol - das Dispensierrecht haben. Das
heißt, dass Tierärzte Arzneimittel direkt abgeben dürfen.
Am Beispiel des Schweinemastskandals 2001 - ich
erinnere an die vielen mit den Autobahntierärzten verbundenen Skandale - wurde uns allen doch deutlich,
dass es immer wieder Missbrauchsfälle gegeben hat. Die
darauf folgende Ländergesetzesinitiative, die in der Elften AMG-Novelle mündete, führte zu einer deutlichen
Verschärfung der Vorschriften über den Verkehr mit
Tierarzneimitteln. Ich denke, daran sollte sich Herr
Carstensen erinnern.
Die Elften AMG-Novelle wurde vom Bundesrat einstimmig verabschiedet. Auch die maßgeblichen Verbände waren einverstanden.
({3})
Ich möchte keine Fragen zulassen.
Keine Zwischenfragen. Gut.
Ich möchte gerne fertig werden.
({0})
- Ich sage Ihnen auch, warum. Dieses Thema eignet sich
meiner Meinung nach nicht für dieses Spielchen. Dazu
ist es viel zu ernst.
({1})
Mit diesem Gesetz und insbesondere der 7-Tage-Regelung wurde ein Fortschritt für den Verbraucherschutz
erreicht, da die Regelungen entscheidend zur Minimierung des Arzneimittelbestandes beim Tierhalter beigetragen haben. Eine restriktive Anwendung von Antibiotika ist auch ein wichtiger Beitrag zur Beschränkung der
Ausbreitung der Antibiotikaresistenz. So wird möglichem Missbrauch durch klare Verbotsnormen entgegengewirkt. Nicht zuletzt ist die enge Bindung der Arnzeimittelanwendung an die tierärztliche Untersuchung auch
ein Beitrag zum Tierschutz.
({2})
Dies alles will die Opposition durch die vollständige
Streichung der 7-Tage-Regelung offenkundig aufs Spiel
setzen.
({3})
Die in dem Antrag genannten Voraussetzungen, die an
die Stelle der 7-Tage-Regelung treten sollen, sind als
Kriterien zur Befristung der Abgabe ungeeignet.
({4})
Was die Opposition will, würde im Ergebnis dazu führen, dass für jede Krankheit Arzneimittel in unbegrenzter Menge abgegeben werden können, da eine Kopplung
an bestimmte Behandlungsarten keinerlei Kontrolle ermöglicht.
({5})
Vermeintlich praxisgerecht zu sein, Frau Klöckner, hat
dort seine Grenzen, wo die Belange des Verbraucherschutzes berührt sind, und das ist hier eindeutig der Fall.
({6})
Zu dem in der Presseerklärung der CDU/CSU geäußerten Vorwurf, die Bundesregierung sei nicht tätig geworden, um bestimmten Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschriften der Elften AMG-Novelle
abzuhelfen, ist festzustellen:
({7})
Das BMVEL hat unter Wahrung der 7-Tage-Regelung
für Antibiotika - das ist die einzig richtige Deutung längst einen Entwurf zur Änderung des Arzneimittelgesetzes erarbeitet, der eine Flexibilisierung bestimmter
Verkehrsregelungen enthält, und intensiv mit den Ländern und den Verbänden, aber auch mit den Fraktionen
- Sie haben es selbst bestätigt - diskutiert.
({8})
Dies erfolgte allerdings erst nach eingehender Prüfung
der Frage, ob die vonseiten der Praktiker und der Bauern
herangetragenen Anliegen fachlich gerechtfertigt und
mit dem Verbraucherschutz vereinbar sind.
Ergebnis ist eine fachlich konsistente Regelung, die
bei bestimmten Krankheiten, bei denen dies sinnvoll ist,
eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung - 31 Tage vorsieht.
({9})
Damit ist den Hinweisen aus der Praxis präzise Rechnung getragen worden. Gleichzeitig wird gewährleistet,
dass die zuvor skizzierten Ziele der Elften AMGNovelle erreicht werden.
Zu den übrigen Punkten des CDU/CSU-Antrags: Bei
näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um Themen
handelt, die erstens entweder bereits im Entwurf des
BMVEL enthalten sind oder zweitens nur im Rahmen
der EU geregelt werden können
({10})
oder drittens gar nichts im Arzneimittelgesetz zu suchen
haben. Der im Antrag eine so wichtige Rolle spielende
Begriff der Behandlung ist in der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken geregelt; berücksichtigt werden
neben der Einzeltierbehandlung längst auch die Behandlung von Tierbeständen.
({11})
Dies alles ist also nichts Neues. Im Übrigen waren sechs
der neun Punkte des Antrags bereits wortgleich im Antrag der FDP,
({12})
den der VEL-Ausschuss gerade abgelehnt hat.
Das alles heißt schlussfolgernd: Dieser Antrag kann
nur abgelehnt werden.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3112 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar
Mark, Ute Kumpf, Dr. Christine Lucyga, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian
Ströbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Intensivierung der Beziehungen zwischen der
Europäischen Union, Lateinamerika und der
Karibik
- Drucksache 15/3205 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Lothar
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Mark, SPD, Claudia Nolte, CDU/CSU, Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Claudia Winterstein,
FDP.1)
Da eine Aussprache nicht stattgefunden hat, brauche
ich sie auch nicht zu schließen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3205 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
1) Anlage 8
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Mai 2004, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.