Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Peter Rauen hat gestern seinen
60. Geburtstag gefeiert. Ich darf ihm dazu im Namen des
Hauses die besten Wünsche übermitteln.
({0})
Außerdem gebe ich bekannt, dass der Kollege JannPeter Janssen mit Wirkung vom 24. Januar 2005 auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet
hat. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Lars Klingbeil
am selben Tag die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr
herzlich.
({1})
Hinsichtlich der Besetzung von Gremien möchte ich
Sie informieren, dass ich auf Vorschlag des Haushaltsausschusses die Kollegen Bernhard Brinkmann für die
Fraktion der SPD, Jochen-Konrad Fromme für die
Fraktion der CDU/CSU und Otto Fricke für die Fraktion der FDP sowie die Kollegin Anja Hajduk für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen als Mitglieder
des Verwaltungsrates der neu errichteten Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben benennen werde.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Unterschiedliche Meinungsäußerungen aus Koalition und
Bundesregierung zu Studiengebühren
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje
Bettin, Volker Beck ({4}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Impulse für eine internationale Ausrichtung des
Schulwesens - Den Bildungsstandort Deutschland auch im
Schulbereich stärken
- Drucksache 15/4723 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung: Entwurf eines Rahmenbeschlusses
über die Vorratsspeicherung von Daten, die in Verbindung
mit der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet und aufbewahrt werden, oder
von Daten, die in öffentlichen Kommunikationsnetzen
vorhanden sind, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus
Ratsdok.-Nr. 8958/04
- Drucksachen 15/3696 Nr. 2.15, 15/4748 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Schäfer ({8})
Michael Grosse-Brömer
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({9}), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Immobilienwirtschaft sicherstellen - Immobilien und Versicherungsmakler stärken
- Drucksache 15/4714 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 10, 12, 13, 16, 18 und 23 d abzusetzen und
Redetext
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
morgen den Tagesordnungspunkt 20, Änderung des
Bundeswahlgesetzes, bereits nach dem Tagesordnungspunkt 15, Änderung der Art. 35 und 87 a des Grundgesetzes, aufzurufen.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
aufmerksam:
Der in der 152. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus ({11}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Olaf Scholz,
Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck ({12}), Jutta Dümpe-Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Umsetzung
europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien
- Drucksache 15/4538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2005 der Bundesregierung
Den Aufschwung stärken - Strukturen verbessern
- Drucksache 15/4700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2004/2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 15/4300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({15})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Wolfgang Clement.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dem bedrückend beeindruckenden Gedenken an die unfassbaren Verbrechen der Deutschen ist es
nicht ganz leicht, jetzt über den Jahreswirtschaftsbericht
zu sprechen, über ökonomische Daten und Fakten, über
Statistiken und Perspektiven. Gerade in einer Zeit, in der
rechtsradikale Geister in unserem Land sich wieder zu
Wort melden, und zwar in einer die Opfer schmähenden
und, wie ich meine, damit uns beleidigenden, geradezu
obszönen Art und Weise, ist das Bemühen um Wachstum, um Arbeitsplätze und um eine neue Balance der sozialen Gerechtigkeit sicher nicht die einzige Antwort,
die wir zu geben haben, aber eine der Antworten, die in
einer solchen Phase der Geschichte der Bundesrepublik
wichtig sein können.
({0})
Ich möchte mich vor diesem Hintergrund auch gegen
so manches Zerrbild wehren, das von unserem Land gezeichnet wird. Diese Bundesrepublik Deutschland ist ungeachtet aller Diskussionen eine der wirtschaftsstärksten
Nationen der Welt; das wissen wir. Es ist ein Land der
sozialen Marktwirtschaft. Es ist ein soziales und ökologisch verantwortetes Land, in dem wir leben. Es gibt
nicht viele Länder auf der Welt mit vergleichbaren ökonomischen Daten, mit einer vergleichbaren sozialen Sicherheit und mit einer vergleichbaren ökologischen Ausstattung zum Schutz von Klima und Umwelt.
({1})
Deshalb wenden wir uns mit dem Jahreswirtschaftsbericht, den Sie offensichtlich schon seit Tagen in der
Hand haben - das entnehme ich der zum Teil munteren
Kritik -, auch gegen den immer noch grassierenden
Negativismus in Deutschland; das ist darin auch im Einzelnen belegt. Wir tun das mit Hinweis auf die Stärken,
auf die Pluspunkte unseres Landes. Davon will ich Ihnen einige nennen:
Erstens. Man muss offensichtlich häufig wiederholen,
dass dieses Land so exportstark ist wie zurzeit kein anderes auf der Welt.
({2})
Kein anderes Land auf der Erde hat im Jahre 2003 mehr
Waren erfolgreich exportiert als die Bundesrepublik
Deutschland. Es spricht alles dafür, dass dies auch im
vergangenen Jahr der Fall gewesen ist, dass wir also von
dieser Exportstärke nichts verloren haben.
Ich verweise zweitens auf die hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Wir haben nämlich in
unserem Land in den letzten Jahren eine außerordentlich
moderate und konstante Entwicklung der Lohnstückkosten zu verzeichnen gehabt - anders als in den meisten
anderen Ländern des Euroraums. Nicht zuletzt dadurch
hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, gemessen an den realen Lohnstückkosten, erheblich verbessert. Im Verein mit dem guten
Image der deutschen Wirtschaft und der hohen Qualität
deutscher Produkte hilft dies, Marktanteile auch angesichts eines im Verhältnis zum Euro schwachen Dollars
zu verteidigen.
Ich verweise als dritte Stärke auf die geringen Inflationsraten in Deutschland. Der harmonisierte Index der
Verbraucherpreise ist in Deutschland zwischen 1995 und
2004 jährlich um 1,3 Prozent gestiegen. Im gesamten
Euroraum betrug die Inflationsrate 1,9 Prozent.
Ich verweise viertens auf die außerordentlich niedrige
Steuerquote in Deutschland: 21,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mit dieser Steuerquote stehen wir im internationalen Vergleich hervorragend da. Wenn ich noch
die Abgabenquote nennen darf - sie erhält man, wenn
man zu der Steuerquote die Sozialversicherungsbeiträge
hinzurechnet -: Wir liegen mit 36,2 Prozent nach Großbritannien mit 35,9 Prozent an zweiter Stelle; wir liegen
aber deutlich vor Frankreich mit 44,2 Prozent oder Italien mit 41,1 Prozent. Der Prozess der Senkung der Steuerquote geht ja weiter. Gerade haben wir die letzte Stufe
der Steuerreform 2000 umgesetzt, die die Unternehmen
und die Bürger noch einmal um 6,8 Milliarden Euro entlastet. Ebenso geht der Prozess der Senkung der Lohnnebenkosten weiter. Ab 1. Juli werden die Unternehmen
- das kommt insbesondere den kleinen und mittleren
Unternehmen in Deutschland zugute - durch die Senkung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung um rund 4,5 Milliarden Euro entlastet. All dies sind
Instrumente und Maßnahmen, mit denen wir die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in Deutschland verbessern.
Ich will fünftens noch auf die hohe technologische
Leistungsfähigkeit in Deutschland verweisen. Auch da
liegen wir international vorn. Nach den Erfindern aus
den USA haben deutsche Erfinder im Jahr 2003 die
meisten Patente in der Welt angemeldet. Der deutsche
Anteil am Aufkommen aller Patente in der Welt liegt bei
19 Prozent.
Als sechsten Pluspunkt verweise ich darauf, dass die
Forschungs- und Entwicklungsausgaben bei uns in
Deutschland seit Jahren ansteigen. Wir liegen jetzt bei
2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Ich bin damit
nicht zufrieden; wir alle sind damit nicht zufrieden. Das
muss weiter steigen. Aber wir haben diese Ausgaben
Schritt für Schritt erhöht und liegen zurzeit vor den großen europäischen Industrienationen, aber beispielsweise
nicht vor den USA oder Japan. Wir müssen dringend die
Aufwendungen für Wissenschaft und Forschung erhöhen. Deshalb werden wir ja nicht müde, an Sie, die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP - insbesondere der Union -, zu appellieren, durch Zustimmung
zum steuerlichen Subventionsabbau dazu den Weg frei
zu machen. Ich denke hier etwa an die Eigenheimzulage.
({3})
Die deutsche Position in diesem Bereich ist trotzdem
gut. Wir haben bei allem, was wir im Bildungssystem zu
korrigieren und zu reformieren haben - wir alle wissen,
worüber wir sprechen -, dennoch keinen Grund, unser
Licht gleich völlig unter den Scheffel zu stellen. Es ist
schon bemerkenswert, dass nur in den USA und in der
Schweiz der Anteil derjenigen Bürgerinnen und Bürger,
die über einen Abschluss des Sekundarbereichs II, nämlich das Abitur, verfügen, höher ist. Aber wir wissen,
dass unser Schulwesen deutlich besser werden muss.
Ferner wissen wir - jetzt greife ich einen Aspekt aus
meinem Geschäftsbereich auf -, dass wir das Verhältnis
zwischen Schulen und Betrieben dringend verbessern
müssen. Ich setze darauf, dass wir mit dem Ausbildungspakt auf diesem Gebiet weiterkommen. Deshalb begrüße
ich ausdrücklich die Kampagne wichtiger deutscher Unternehmen, die gestern in Berlin gestartet worden ist.
Unter dem Stichwort „Wissensfabrik“ wollen sie 1 000
Unternehmen zusammenbekommen, die durch Patenschaften mit Schulen und ihr Engagement dazu beitragen
wollen, dass die Orientierung in unseren Schulen auf das
Berufs- und Wirtschaftsleben intensiver und der Übergang in das Berufs- und Arbeitsleben für viele Schülerinnen und Schüler verbessert wird. Ich habe darauf
schon in unserer letzten Debatte hingewiesen.
Ich verweise auf den siebten Pluspunkt, nämlich die
hervorragende Infrastruktur in Deutschland, und zwar
nicht nur im verkehrlichen Bereich, sondern auch in den
Bereichen der Nachrichtenübermittlung und der Energieversorgung.
Angesichts der Diskussion, die wir um das Energiewirtschaftsgesetz führen - achter Pluspunkt -, ist es mir
sehr wichtig, deutlich zu machen, dass wir, bezogen auf
die Strom- und Gasnetze, zwar selbstverständlich Wettbewerb brauchen, dabei aber auch darauf achten müssen,
dass die Investitionsfähigkeit unserer Energieversorgungsunternehmen erhalten bleibt; denn wir brauchen
eine sichere Energieversorgung. Ich unterstreiche noch
einmal das, was ich gestern schon öffentlich gesagt
habe: Daneben müssen die energieintensiven Unternehmen in Deutschland ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten
können. Das sind insbesondere die Unternehmen, die in
außerordentlich hohem Maße auf die Versorgung mit
Strom angewiesen sind, wie beispielsweise die Aluminiumindustrie. Wir müssen alles tun, damit diese Unternehmen, diese Industrien, diese Branchen am Standort
Deutschland bleiben können.
({4})
Sie gehören zum Cluster der Automobilindustrie in
Deutschland und zu anderen. Deshalb müssen wir bei
der sehr wichtigen Reform des Energiewirtschaftsrechts
mit Augenmaß vorangehen.
Als neunten Punkt hebe ich die Bedeutung des sozialen Friedens in Deutschland hervor. Ich habe den Eindruck, bei mancher Diskussion wird vergessen, wie
wichtig es ist, dass in Deutschland zwischen Unternehmen und Gewerkschaften ein hohes Maß an sozialem
Frieden erzeugt worden ist, sodass beispielsweise die
Zahl der durch Streik verloren gehenden Arbeitstage im
internationalen Vergleich außerordentlich niedrig ist.
Und zwar wurde trotz der vielen Warnungen und Befürchtungen von Ihrer Seite und ungeachtet der Forderungen, die Gesetze zu ändern, auf dem Wege der betrieblichen Vereinbarungen in den Unternehmen in
Deutschland eine Flexibilität herbeigeführt, Herr Kollege Brüderle, die ihresgleichen sucht: 50 Prozent der
heute in Deutschland Erwerbstätigen arbeiten nach flexiblen Arbeitszeiten. Ich weiß nicht, wie viele Volkswirtschaften schon so weit sind. 40 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten
auf der Basis von Arbeitszeitkonten. Wir brauchen diese
Flexibilität, die auf freiwillige Weise, ohne gesetzliche
Änderungen, ohne Eingriffe in die Tarifhoheit und -freiheit hergestellt worden ist. Wir setzen darauf, dass dies
weitergeht.
({5})
Meine Damen und Herren, das sind einige der
Aspekte, die uns veranlassen, zu sagen, dass es in
Deutschland wirtschaftlich aufwärts geht. Das zeigt das
wirtschaftliche Wachstum, das wir im vergangenen
Jahr hatten, und das, was wir für dieses Jahr erwarten.
Die 1,6 Prozent sind nicht zu hoch veranschlagt. Das
wissen alle Beteiligten. Wir brauchen mehr wirtschaftliches Wachstum, um in Deutschland mehr Beschäftigung
erzeugen zu können. Aber wir sind auf dem Pfad des
wirtschaftlichen Wachstums. Es bleibt richtig: Die Phase
der Stagnation ist vorbei. Es kommt jetzt darauf an, uns
insbesondere mit einer Fortsetzung der zügigen Reformarbeit darauf zu konzentrieren, den Aufschwung in
Deutschland in einen lang anhaltenden Wachstumsprozess übergehen zu lassen und dazu alle unsere Kräfte zu
mobilisieren.
({6})
- Richtig, Herr Kollege. Deshalb werde ich nicht müde
werden, dies auch jetzt wieder zu sagen. Darin finde ich
immer mehr Unterstützung, Herr Kollege Hinsken. Das
ist vielleicht etwas, was Sie beachten sollten.
({7})
Es ist sehr gut, dass gerade heute die Gesellschaft für
Konsumforschung nach einer Befragung von 2 000 Bürgerinnen und Bürgern mitgeteilt hat, dass sich das Konsumklima in Deutschland im Dezember deutlich verbessert habe, dass die aus den Untersuchungen dieser
Gesellschaft seit Oktober 2004 berechneten Daten eindeutig nach oben zeigten, dass sich alle Einzelindikatoren - die Einkommenserwartungen der Bürger, die Konjunkturerwartungen der Bürger und ihre Neigung zu
Anschaffungen - in einem deutlichen Aufwärtstrend befänden und dass die Zuversicht vieler Bürgerinnen und
Bürger hinsichtlich der Entwicklung der Einkommen
aufgrund des größten Schrittes, den wir getan haben,
wachse. Sie werden verstehen, dass ich dies sehr begrüße. Ich versuche ja entgegen Ihren Unkenrufen, die
Bürgerinnen und Bürger zum Konsum zu ermutigen. Ich
begrüße natürlich, dass gerade jetzt der Ifo-Geschäftsklimaindex, die ZEW-Konjunkturerwartung der Analysten
und die Ergebnisse der Untersuchung der GfK veröffentlicht wurden. Alle Indikatoren, die uns zurzeit vorliegen,
weisen nach oben. Deshalb ist meine Bitte an Sie: Verabschieden Sie sich von Ihrer Neigung zum Pessimismus
und zur Schwarzmalerei
({8})
und wirken Sie daran mit, alles zu tun, was notwendig
ist, um die Stimmung in Deutschland zu verbessern und
die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen.
In unserem Jahreswirtschaftsbericht sagen wir sehr
deutlich - das habe ich gestern noch deutlicher zu sagen
versucht -: Es dauert länger als erwartet, bis sich die
wirtschaftliche Erholung auch auf den Arbeitsmarkt
auswirkt. Ich habe bezüglich der aktuellen Daten darauf
hingewiesen: Anfang Januar dieses Jahres haben wir die
bisherigen Systeme der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, der staatlichen und der kommunalen Fürsorge, zu
einem System zusammengeführt. Dadurch nehmen wir
einige 100 000 Menschen - niemand von uns weiß zur
Stunde, wie viele es genau sind; es können 200 000,
300 000 oder noch mehr Menschen sein -, die bisher Sozialhilfe bezogen haben und erwerbsfähig sind bzw. als
erwerbsfähig gelten, aber nicht in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt waren, in die Arbeitsvermittlung auf. Der
Effekt ist, dass wir die Dunkelziffer des Arbeitsmarktes
um diese Arbeit suchenden Menschen verringern.
Gleichzeitig entsteht dadurch im Januar dieses Jahres
vom Arbeitsmarkt in Deutschland ein Bild, das viel
komplizierter als je zuvor ist. Darauf will ich in aller
Klarheit und Deutlichkeit hinweisen; denn ich weiß, wie
solche Entwicklungen auch interpretiert werden können.
Die momentan stattfindende saisonal begründete Verschlechterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt, die
Tatsache, dass sich die Arbeitsagenturen auf die Technik
des Zusammenführens von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe konzentrieren mussten, vor allen Dingen aber, dass
jetzt Menschen, die bisher Sozialhilfe bezogen haben, in
der Arbeitslosenstatistik auftauchen - all dies wird dazu
führen, dass die Arbeitsmarktzahlen, die wir für die
kommenden Monate erwarten, mit denen, die wir bisher
gewohnt waren, nicht vergleichbar sein werden.
Dennoch sage ich: Wir müssen damit rechnen, dass
die durchschnittlichen Arbeitslosenzahlen in diesem Jahr
steigen. Das hat mit dem Überhang aus dem Jahr 2004
zu tun. Ende des Jahres 2004 gab es in Deutschland etwa
90 000 Arbeitsuchende mehr, als zuvor kalkuliert worden war. Im Jahr 2005 wird sich dieser Überhang - gerechnet auf den Jahresdurchschnitt - in einer Größenordnung von etwa 50 000 bemerkbar machen. Wenn wir den
aus der Hartz-IV-Reform resultierenden statistischen Effekt berücksichtigen - das haben weder die Sachverständigen in ihrem Gutachten noch wir getan; wir können
ihn auch nur ungefähr beziffern -, dann rechnen wir für
das Jahr 2005 im Jahresdurchschnitt mit einer Erhöhung
der Arbeitslosenzahlen um 150 000.
({9})
- Das ist nur schwer zu verstehen, Herr Kollege. Dennoch wird es zu der Entwicklung kommen, dass die Arbeitslosigkeit - das jedenfalls ist unsere Erwartung, die
in unseren Darstellungen auch belegt ist - im Jahresverlauf um etwa 200 000 sinken wird, sodass die Arbeitslosenzahlen Ende 2005 - das erwarten wir - um etwa
200 000 niedriger sein werden als Ende 2004.
({10})
Das alles ist noch nicht die große Wende am Arbeitsmarkt, die ohnehin niemand auf Knopfdruck herbeiführen kann und für die es auch kein Patentrezept gibt. Aber
das ist der Beginn einer Phase - wir sind überzeugt davon -, die peu à peu zu einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland führen wird, auch wenn sich die
Zahlen zu Beginn dieses Jahres in einer für diejenigen,
die sich nicht mit den einzelnen Effekten beschäftigen
können, erschreckenden Weise verschlechtern werden.
Das ist die gegenwärtige Situation.
Eine weitere Bitte, die ich an alle, die mithelfen wollen, richte, ist: Lassen Sie uns vor allen Dingen darauf
konzentrieren, die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zu senken. Uns allen, den Arbeitsagenturen, den
Arbeitsgemeinschaften und den Kommunen stehen die
entsprechenden Instrumente zur Verfügung. Wir alle haben andere und mehr Instrumente zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit als je zuvor.
Ich setze darauf, dass möglichst viele Bürgerinnen
und Bürger, diejenigen, die in Unternehmen, Verwaltungen, Instituten und Institutionen Verantwortung tragen,
Manager, Unternehmer, Personalräte, Betriebsräte und
vor allen Dingen diejenigen, die in der Jugendarbeit Verantwortung tragen, dabei helfen, dass nach Möglichkeit
- darum habe ich schon einmal gebeten - in vielen, möglichst in allen Regionen Deutschlands Jugendkonferenzen stattfinden und dass wir uns auf jeden Fall mit dem
Thema Jugendarbeitslosigkeit beschäftigen; denn es ist
dringend notwendig, der allgemeinen Arbeitslosigkeit
den Nachwuchs zu entziehen.
Ich habe gesagt, dass wir die Reformarbeit fortsetzen müssen. Dazu sind im Jahreswirtschaftsbericht die
Ansätze genannt. Es geht um die Fortsetzung der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Wir nennen als
Ziel, die Lohnnebenkosten in Deutschland mittelfristig
unter 40 Prozent zu bringen. Ich nenne die Marktliberalisierung und den Bürokratieabbau. Ich habe schon auf die
Notwendigkeit eines unverfälschten Wettbewerbs im
Hinblick auf die Strom- und Gasnetze hingewiesen. Ich
verweise auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das wir jetzt an das europäische Recht anpassen
müssen; das bedeutet dann weniger Bürokratie für die
Unternehmen und mehr Eigenverantwortung in der
Rechtsanwendung. Ich verweise auf die von uns beabsichtigte Reform des Vergaberechts für die öffentliche
Beschaffung. Auch wenn der BDI und andere das kritisieren: Das ist wichtig, weil das öffentliche Auftragswesen auf diese Weise transparenter und anwendungsfreundlicher wird. Ich verweise auf die Notwendigkeit
der Reform der Mittelstandsfinanzierung, der Gründungsfinanzierung, an der wir arbeiten und von der ein
Teil auch davon abhängt, ob wir durch den Wegfall der
Eigenheimzulage die Mittel bekommen, um mit der
Wirtschaft zusammen einen Seed-Kapital-Fonds für die
Gründung von technologieorientierten Unternehmen
aufzubauen.
({11})
Ich verweise auf den Aufbau Ost, bei dem wir durch
die stärkere Konzentration auf die regionalen und sektoralen Potenziale in Ostdeutschland - beispielsweise
durch Innovationskonferenzen, beispielsweise durch
Clusterkonferenzen - mehr Bewegung in die wirtschaftliche, in die strukturelle Entwicklung zu bringen versuchen. Es werden im Laufe dieses Jahres eine Reihe von
Innovationskonferenzen und eine Reihe von Clusterkonferenzen stattfinden, die wir schon angekündigt haben.
Ich will aber auch deutlich machen, meine Damen
und Herren, dass zum Erfolg, zum Wachstum in
Deutschland auch die Einordnung unserer Politik in den
europäischen und in den weltweiten Rahmen gehört.
Deshalb haben wir - der Bundeskanzler, der Bundesfinanzminister und ich - sehr deutlich gemacht und ich
will das unterstreichen: Jawohl, wir brauchen in
Deutschland eine Weiterentwicklung des Stabilitätsund Wachstumspaktes. Wir müssen dafür sorgen, dass
dieser Pakt auch dem Ziel dient, das die Staats- und Regierungschefs uns und sich in Lissabon gesetzt haben:
das Wachstum zu fördern. Das können wir nicht mit einer mechanistischen Politik erreichen, sondern dafür
müssen wir mit Rücksicht auf die konjunkturellen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union angemessen flexibel reagieren können.
Ich verweise auf die Notwendigkeit, den Binnenmarkt in Europa zu vervollkommnen, insbesondere
durch eine weitere Öffnung der Dienstleistungsmärkte,
und plädiere deshalb für eine konstruktive und zügige
Beratung und Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie - selbstverständlich, wie wir es in unserem Bericht
deutlich machen, unter Wahrung der berechtigten
Schutzbelange der Mitgliedstaaten etwa im Arbeitsrecht,
etwa im Gesundheitsrecht, etwa im Bereich der inneren
Sicherheit.
Ich verweise auf die Notwendigkeit der Modernisierung der europäischen Industriepolitik. Wir brauchen
- und dazu haben der Bundeskanzler, der französische
Präsident und der britische Premier die Signale gesetzt eine Erneuerung, eine Renaissance der Industriepolitik
hier in Europa. Wir sind auf dem Wege, dies zu praktizieren, beispielsweise bei der Automobilindustrie, bei
der europäischen Chemikalienpolitik und auf anderen
Feldern. Gerade auf den Märkten in der Welt, auf denen
die deutsche und die europäische Industrie im weltweiten Wettbewerb stehen, brauchen wir ein „level playing
field“, also gleiche oder zumindest annähernd gleiche
Wettbewerbsbedingungen. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, wir in Deutschland oder Europa könnten
die Maßstäbe für den weltweiten Wettbewerb allein setzen. Nein, diese Maßstäbe werden auch in Japan, in den
USA und anderswo gesetzt und darauf muss sich unsere
Industrie einstellen können.
Meine Damen und Herren, es ist natürlich schwer, in
20 Minuten darzustellen,
({12})
was in einem Jahreswirtschaftsbericht enthalten ist; darum konnte ich es nur mit wenigen Strichen zu skizzieren versuchen. Zudem musste ich noch zum Sachverständigenbericht Stellung nehmen. An dieser Stelle
möchte ich die Gelegenheit nutzen, den Sachverständigen für ihre Arbeit zu danken. Ich bin überzeugt, dass
wir mit dem, was wir hier auf den Weg bringen bzw. gebracht haben, und mit dem, was wir - ich kann es hier
nur skizzenhaft andeuten - auf den Weg bringen werden,
die Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland verbessern können. Diese
Voraussetzungen sind zur Stunde günstig wie seit Jahren
nicht mehr. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen.
Damit werden wir dann auch das schaffen können, was
wir uns vorgenommen haben: das Vertrauen der Konsumenten und der Investoren zu stärken und so den Aufschwung zu festigen und auf diese Weise unseren
Beitrag für mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit in Deutschland zu leisten.
Das ist das Hauptziel, das wir verfolgen, nämlich die
Zahl der Arbeitslosen in Deutschland, die uns alle bedrücken muss und viele von uns auch bedrückt, endlich zu
verringern. Damit wir das schaffen können, dürfen wir
von unserem Weg nicht abweichen. Wir müssen den
Weg unserer Reformen, den wir mit der Agenda 2010
und dem, was daraus abzuleiten ist, eingeschlagen haben, konsequent weitergehen. Dazu lade ich ein und bitte
ich um Unterstützung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich stimme Ihnen zu:
Nach dem politischen Terminkalender ist es in der Tat
leider manchmal so, dass unmittelbar im Anschluss an
eine bewegende Gedenkstunde eine Wirtschaftsdebatte
stattfindet. Bei allen Unterschieden, die wir haben, sind
uns allen in der Gedenkstunde die Gemeinsamkeiten der
Demokraten des Deutschen Bundestages zu Recht deutlich geworden. Dafür will ich mich bedanken.
({0})
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich habe Ihrer Rede
sehr aufmerksam zugehört und habe natürlich auch den
Jahreswirtschaftsbericht gelesen. Ich kann es Ihnen nicht
ersparen, zu sagen, dass ich nicht nur von Ihrer Rede,
sondern noch mehr vom Inhalt des Jahreswirtschaftsberichts enttäuscht bin, weil Sie dem deutschen Parlament
trotz der höchsten Arbeitslosigkeit seit der Gründung
der Bundesrepublik Deutschland hier und heute und
auch in dem Bericht keinen einzigen Vorschlag unterbreitet haben, wie Sie als der zuständige Minister diese
höchste Arbeitslosigkeit beseitigen wollen. Das ist ein
erstklassiger politischer Offenbarungseid.
({1})
Der Bundeskanzler hat zum Jahreswechsel mitgeteilt
- Herr Clement, das werden Sie registriert haben -, dass
der Bundeswirtschaftsminister für das Gelingen von
Hartz IV persönlich verantwortlich ist. Ich finde, dass
war eine bemerkenswerte Mitteilung. Als diese Mitteilung kam, habe ich mich gefragt, was Wolfgang Clement
schon wieder angestellt hat. Warum betont der Bundeskanzler die ohnehin eindeutige politische Verantwortlichkeit des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers?
Die Antwort ist relativ klar: Ihr Bundeskanzler wollte
sich vorsorglich von ihm absetzen. In der Politik bezeichne ich das als prophylaktische Distanzierung.
({2})
Herr Clement, um die Jahreswende herum sind Sie für
verschiedene Hintergrundberichte interviewt worden. Ihrer Nervosität zum Jahreswechsel habe ich entnehmen
können, dass Sie genau diese Gefahr gesehen haben. Sie
mussten wissen, dass dieser Bundeskanzler für die einzelnen Bundesminister nicht verlässlich ist, wenn es
schwierig wird.
({3})
Nun zum Layout des Jahreswirtschaftsberichts.
Dort ist ein Kind auf der Schaukel abgebildet. Was soll
uns das sagen?
({4})
Wollten Sie uns damit sagen, dass sich Deutschland im
freien Fall befindet oder dass Deutschland die Bodenhaftung verloren hat? Vielleicht wollten Sie uns hier im
Deutschen Bundestag auch nur verschaukeln. Meine
Antwort ist klar: Sie wollen uns verschaukeln! Das wollen Sie nicht einmal mehr verheimlichen, was Sie durch
ein entsprechendes Layout deutlich machen.
({5})
In den letzten Wochen und Monaten habe ich die Prognosen des Bundeswirtschaftsministers immer wieder
verfolgt. Ich erlaube mir die Anmerkung, Herr Clement:
Sie sind der Prognosemeister dieser Bundesregierung.
Aber die Realität hat gezeigt, dass Ihre Prognosen nicht
nur nicht zutreffend sind, sondern sie auch überholt werden: Jahr für Jahr, Monat für Monat. Zwischenzeitlich ist
die Halbwertszeit Ihrer Prognosen nur noch im Tagesrhythmus zu messen. Bei allen wirtschaftlichen Determinanten - darauf werde ich gleich eingehen - liegen wir
in Europa im Tabellenkeller. Dafür sind Sie persönlich
verantwortlich.
({6})
Vor zwei Jahren, am 14. Februar 2003, sagte Herr
Clement bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht
- ich zitiere wörtlich -:
Wir erwarten … ein Wiederanziehen des Wachstums im zweiten Halbjahr.
Anstatt des versprochenen Wachstumsschubs betrug das
Wachstum in 2003 minus 0,1 Prozent, der zweitniedrigste Wert seit der Wiedervereinigung und das drittschlechteste Wachstum seit 1980. Im letzten Jahr haben
Sie hier im Hohen Hause in dieser Debatte erklärt - ich
zitiere wieder -:
Aufgrund dieser und anderer Reformen wird die
Arbeitslosenzahl weiter sinken. Ab Sommer wird
sie sich … verringern.
Die Wirklichkeit sah - ich betone: leider - erneut anders
aus. Die Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr war, rechnet man Ihre Statistiktricks heraus, die höchste, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen registriert worden ist. Keine Ihrer Prognosen ist
eingetreten, und zwar auf Kosten von Millionen von Arbeitslosen.
({7})
In diesem Jahr setzen Sie Ihre wundervollen optimistischen Ankündigungen nahtlos fort, die aber leider nur
wenig mit der Realität gemein haben.
({8})
Am 2. Januar dieses Jahres - ich rede nicht vom vorigen
oder vorvorigen Jahr - hat der Bundeswirtschaftsminister im Blick auf die Arbeitslosenzahlen gesagt, sie befänden sich „in einem Gleitflug nach unten“. Am
8. Januar, also wenige Tage später, hieß es dann, die Arbeitslosenzahlen würden um 15 bis 20 Prozent sinken;
das wäre ein Rückgang um fast 900 000. Die Aussage ist
gerade einmal 19 Tage alt, Herr Bundeswirtschaftsminister. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es jetzt: Die Arbeitslosigkeit wird im Jahresdurchschnitt bei oberhalb
von 4,5 Millionen liegen. - Herr Minister, das ist kein
Gleitflug, sondern ein Sturzflug auf dem Arbeitsmarkt.
Dafür sind Sie persönlich verantwortlich.
({9})
Kommen wir zu den entscheidenden Wirtschaftsdaten; dabei können wir uns auf Datenmaterial, das der
Bundesregierung und auch dem deutschen Parlament zugänglich ist, berufen. Schauen wir einmal in den Jahreswirtschaftsbericht des Sachverständigenrates aus dem
Winter des vergangenen Jahres.
({10})
In diesem großen Werk von über 1 000 Seiten entwickeln die Wissenschaftler zwei Größen, die sie einander gegenüberstellen: Dem vermuteten tatsächlichen
Wachstum auf der einen Seite steht das so genannte
Potenzialwachstum auf der anderen Seite gegenüber.
({11})
- Herr Poß, wenn Sie schon die Gutachten nicht lesen,
sollten Sie wenigstens die Gelegenheit nutzen und zuhören, damit Sie den Sachverstand dieses Gutachtens zur
Kenntnis nehmen können.
Die Gutachter haben beim Vergleich dieser beiden
Größen Folgendes festgestellt: Das tatsächliche Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland ist
bereits an der oberen Schwelle des Potenzialwachstums
angekommen.
({12})
Anders ausgedrückt: In Deutschland gibt es nicht mehr
Wachstumspotenzial als die 1,7 Prozent des vergangenen
Jahres und die von Ihnen für dieses Jahr erwarteten
1,6 Prozent.
Das bedeutet, dass die Reformen, die in den letzten Jahren von Ihnen begonnen worden sind, eben nicht ausreichen,
({13})
um zu einer substanziellen Veränderung in Deutschland
zu kommen.
({14})
Wir haben ein zweites Problem. Das besteht darin,
dass die Wachstumsschwelle, deren Überschreitung zur
Schaffung von Vollarbeitsplätzen führt, bei circa
2 Prozent liegt.
({15})
Anders ausgedrückt: Bei dem von Ihnen selbst prognostizierten Wachstum von 1,6 Prozent werden wir substanziell in diesem Jahr auf dem Arbeitsmarkt nicht nur
keine Veränderungen, sondern im Jahresdurchschnitt
ohne den Hartz-IV-Effekt 50 000 zusätzliche Arbeitslose
in der Bundesrepublik Deutschland haben. Damit wird
deutlich, dass der Reformprozess, der von dieser Bundesregierung zu Recht an der einen oder anderen Stelle
in Angriff genommen worden ist, eben nicht ausreicht,
um zu Wachstum und zu einer Verringerung der Arbeitslosenzahlen in Deutschland in diesem Jahr und in den
nächsten Jahren zu kommen. Sie haben nicht gesagt, mit
welchen Gesetzen und mit welchen Initiativen Sie versuchen, diese Probleme zu lösen.
({16})
Ich finde es sehr schön, dass auf der Regierungsbank
zwei Minister beieinander sitzen, von denen der eine
heute hier die bundesrepublikanische Situation in rosaroter Farbe gemalt hat, während der neben ihm sitzende
noch im Dezember für den Haushalt der Bundesrepublik
Deutschland im vergangenen Jahr die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt hat.
Was stimmt denn jetzt? Ist die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, das Herr Eichel im Dezember des vergangenen Jahres im Nachtragshaushalt hat
feststellen lassen, gegeben oder kommt - was unserer
Meinung aber jeder Realität entbehrt - die wirtschaftliche Entwicklung in Fahrt, sodass die Euphorie von
Herrn Clement berechtigt ist? Ich glaube, dass leider
- ich betone: leider - Herr Eichel Recht hat, wenngleich
ich der Auffassung bin - aber das wird in Karlsruhe geklärt -, dass die Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie Sie sie vorgenommen haben, verfassungswidrig war. Das war nur der
Versuch, den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Sie sind sich nicht einmal auf der Regierungsbank darüber einig, wie die wirtschaftliche Lage in
Deutschland ist.
({17})
Sie sollten versuchen, sich untereinander abzustimmen,
ob wir die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen müssen oder ob wir eine positive Entwicklung nehmen. Wir können hier angesichts der enormen Zunahme der Arbeitslosenzahlen feststellen, dass
die Entwicklung in Deutschland nicht ausreichend ist
und die Situation in Deutschland weitere Reformen erfordert.
({18})
Wir sind beim Wirtschaftswachstum EU-weit die
Bremse Nummer 1. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs ist in den beiden vergangenen Jahren
um fast 1 Million gesunken, Tendenz weiter fallend. Es
ist bemerkenswert und bezeichnend, Herr Bundeswirtschaftsminister, dass Sie darauf in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit keinem einzigen Satz eingegangen
sind. Offensichtlich wollen Sie genau diese Tatsache
politisch ignorieren.
Die deutschen Unternehmen haben im letzten Jahr
über 50 000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Auch
dazu kein einziger Satz im Jahreswirtschaftsbericht!
({19})
Während in allen anderen Euroländern die Beschäftigung in den vergangenen Jahren teilweise deutlich zugenommen hat, stagniert sie in Deutschland. In keinem Euroland war der Zuwachs so gering wie bei uns.
Ausländische Firmen ziehen ihr Kapital aus Deutschland
ab. Wir leben in dem einzigen großen Industrieland, in
dem die Direktinvestitionen zurückgehen. Noch niemals
zuvor gab es so viele Unternehmenspleiten wie im vergangenen Jahr. Rund 40 000 Unternehmen
({20})
- zu den Gründungen sage ich gleich etwas - haben im
vergangenen Jahr in Deutschland leider die Tore schließen müssen. Auch dazu finden sich nur ganz wenige Anmerkungen im Jahreswirtschaftsbericht.
Herr Minister, Sie haben gestern die steigende Zahl
der Existenzgründungen erwähnt. Das ist sicherlich
eine gute Entwicklung. Aber Sie können nicht leugnen
- diese Zahlen finden sich nur sehr verklausuliert im
Jahreswirtschaftsbericht -, dass der Prozentsatz von neu
gegründeten Unternehmen, die Zuschüsse vom Staat in
Anspruch nehmen, in den vergangenen Jahren enorm gestiegen ist. 1986 betrug dieser Anteil 2 Prozent und 1998
20 Prozent. Mittlerweile sind in 65 Prozent der Fälle
staatliche Zuschüsse Voraussetzung für eine Existenzgründung. Diese falsche Entwicklung ist eingetreten,
weil Sie die entsprechenden wirtschaftlichen Rahmendaten nicht gesetzt haben, damit Unternehmen in Deutschland ohne Staatsgeld gegründet werden können.
({21})
Herr Bundeswirtschaftsminister, damit deutlich wird,
dass zumindest die Opposition im Deutschen Bundestag
zu weiteren Reformen bereit ist, schlage ich Ihnen namens meiner Fraktion einen Pakt für Deutschland vor.
({22})
Dabei möchte ich Ihnen zehn Reformvorhaben vorschlagen, die wir noch in diesem Jahr im Deutschen
Bundestag gemeinsam bewältigen können, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, um Wachstumsimpulse zu
geben, damit Deutschland und die Menschen in
Deutschland wieder eine Perspektive haben:
Erstens. Wir senken noch in diesem Jahr - die Möglichkeiten dazu gibt es - den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte.
({23})
Zweitens. Wir führen endlich die betrieblichen Bündnisse für Arbeit ein. Ich verstehe gar nicht, warum Sie
sich dagegen so sträuben. Wir sind dazu bereit, solche
betrieblichen Bündnisse vor dem Hintergrund gesetzlicher Veränderungen zu ermöglichen, damit in den deutschen Unternehmen mehr Flexibilität möglich ist, als es
bisher der Fall ist.
({24})
Drittens. Wir sorgen dafür, dass Arbeitnehmer die
Chance erhalten, ihren Job zu sichern, indem sie länger
arbeiten dürfen, wenn Not am Mann ist.
({25})
Dazu muss das Günstigkeitsprinzip geändert werden.
Auch dazu stehen wir bereit.
({26})
Viertens. Wir wollen im Tarifvertragsgesetz klar regeln, dass als Einstieg eine 10-prozentige untertarifliche
Entlohnung möglich wird, um insbesondere Langzeitarbeitslosen, um die Sie sich in Ihrer Fraktion mehr kümmern müssten, wieder Möglichkeiten des Einstiegs in
den Arbeitsmarkt zu geben.
({27})
Fünftens. Wir modernisieren das Kündigungsschutzrecht so, dass es vor allem im Mittelstand wieder zu Einstellungen anregt, und zwar auch in Zeiten unruhiger
Konjunktur, wie wir sie derzeit haben.
({28})
Sechstens. Das Jugendschutzgesetz wird so gefasst,
dass Betriebe mehr Möglichkeiten haben, jungen Menschen eine Chance zu geben.
({29})
Auch Sie haben es ja auf Ihre Agenda geschrieben, sich
insbesondere um junge Menschen zu kümmern.
Siebtens. Wir fördern die Einstellung von Teilzeitkräften, indem bei allen Schwellenwerten Teilzeitbeschäftigte nur entsprechend ihrer Arbeitszeit berücksichtigt werden.
Achtens. Wir bauen das Betriebsverfassungsgesetz so
um,
({30})
dass die betriebliche Mitbestimmung für alle Beteiligten
kostengünstiger wird, ohne dass in der Substanz eine Beeinträchtigung eintritt.
({31})
Neuntens. Wir flexibilisieren das Arbeitszeitgesetz
entsprechend dem EU-Recht und schaffen zugleich die
rechtlich klaren Optionen für langfristige Arbeitszeitkonten.
Zehntens. Wir entlasten den Mittelstand, indem die
Pflicht zur Bestellung von Sicherheitskräften und Betriebsärzten sowie zur Aufstellung teurer Statistiken in
kleinen Betrieben ausgesetzt wird, damit bei uns vor allem auch mittelständische Betriebe wieder atmen und
existieren können.
({32})
Herr Bundeswirtschaftsminister, im Zusammenhang
mit diesem Pakt für Deutschland, den wir Ihnen anbieten
und bezüglich dessen aufseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bereitschaft besteht, die Gespräche darüber mit der Bundesregierung sofort aufzunehmen, will
ich einen weiteren Punkt nennen: Das deutsche Arbeitsrecht ist überreguliert. Es ist auch im nicht kodifizierten
und durch die Rechtsprechung entwickelten Recht völlig
überbordet.
({33})
Wir bieten Ihnen an, noch in diesem Jahr in einer Arbeitsgruppe aus Vertretern von Regierungskoalition und
Oppositionsfraktionen an einem Arbeitsgesetzbuch zu
arbeiten mit dem Ziel, das kodifizierte und nicht kodifizierte Recht so zu reduzieren und zusammenzufassen,
dass sowohl Unternehmer als auch Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer wissen, welche Rechte und Pflichten
sie haben, und damit einen Beitrag dazu zu leisten, dass
die Beschäftigungsschwelle beim Wachstum eben künftig nicht mehr so hoch ist, wie es derzeit der Fall ist.
({34})
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich befürchte, dass
Sie selber nicht mehr die Kraft aufbringen, auf diese
Vorschläge einzugehen. Schließlich hatten Sie ja auch
nicht die Kraft, sich der Vorlage des Kabinetts zum so
genannten Antidiskriminierungsgesetz zu widersetzen. Als Bundeswirtschaftsminister predigen Sie tagein,
tagaus, dass die Bürokratie überbordet. Aber als Kabinettsmitglied billigen Sie ein solches bürokratisches
Monster wie diesen Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie im Kabinett deutlich machen, dass dieser Aberwitz, der vor allem mittelständische Unternehmen treffen wird, in die
falsche Richtung geht und dass Sie als Bundeswirtschaftsminister einen solchen Gesetzentwurf nicht mittragen.
({35})
Wir alle bedauern sicherlich die Tatsache, dass es in
Deutschland Millionen von Arbeitslose gibt.
({36})
- Mit dem Helfen ist das so eine Sache, Herr Poß. Der
neue Armutsbericht zeigt, dass in Ihrer Regierungszeit
die Zahl der armen Menschen in Deutschland um fast
3 Prozent gestiegen ist. Das ist eine sozialdemokratische
Leistung, auf die Sie wahrlich nicht stolz sein können.
({37})
Wenn Sie schon nichts tun, dann sollten Sie sich zumindest vorhalten lassen, dass die Armut in Deutschland
- übrigens durch die Arbeitslosigkeit bedingt - in Ihrer
Regierungszeit exorbitant angestiegen ist.
({38})
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich hoffe, dass Sie
die Kraft finden, auf den Pakt für Deutschland einzugehen. Bringen Sie die Kraft auf, sich über Widerstände Ihrer Regierungskoalition hinwegzusetzen und weitere
notwendige Reformvorhaben in Angriff zu nehmen, damit es Deutschland wieder besser geht! Die Deutschen
haben das verdient.
Herzlichen Dank.
({39})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
schließe mich meinen Vorrednern an: Es ist sicherlich
für jeden Redner schwierig, nach dieser eindrucksvollen
Gedenkfeier zur politischen Tagesordnung überzugehen.
Ich glaube, unsere Aufgabe wird darin bestehen, durch
eine verbesserte parlamentarische Arbeit, mehr Transparenz und auch durch die Streitkultur, die wir pflegen, den
rechtsradikalen Tendenzen im Land Paroli zu bieten.
({0})
Was die wirtschaftliche Situation im Land betrifft,
Kollege Pofalla, ist bereits eine Verbesserung zu verzeichnen. Man muss schon ignorant sein, will man die
wirtschaftliche Dynamik, die sich im vergangenen Jahr
entwickelt hat, übersehen. Dass sie sich weiter fortsetzt,
zeigen die Indikatoren und der Ifo-Geschäftsklimaindex.
Auch der Jahreswirtschaftsbericht weist dies eindeutig
aus.
Ich glaube, es ist uns nicht damit geholfen, wenn wir
der Nation permanent schlechte Laune einreden.
({1})
Ich meine, wir haben die Trendwende geschafft, die uns
der Sachverständigenrat im vergangenen Jahr mit dem
Titel seines Gutachtens „Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland“ empfohlen hat. Dort hieß es: Wir
haben die Chance, die Wirtschaftsschwäche, die sich in
der Binnenkonjunktur zeigt, selbst abzustellen, weil wir
die Möglichkeiten dazu haben, unsere Stärken besser herauszuarbeiten.
In der Fußballersprache würde das neudeutsch heißen: Wir sind gut aufgestellt. - Die deutsche Wirtschaft
ist leistungsfähig.
({2})
Es gibt eine leistungsfähige Unternehmerbasis, die es sogar geschafft hat, in den zurückliegenden schwierigen
Jahren die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung für
sich zu nutzen. Der Außenbeitrag ist einfach gut. Der
Export liegt deutlich oberhalb des Imports. Viele Theorien, die derzeit auf dem Markt sind - wie die der so genannten Basarökonomie des Ifo-Professors Sinn -, sind
barer Unsinn.
({3})
Die Wertschöpfung findet in diesem Land statt und nicht
im Wege des Imports überzogener Vorleistungen.
Der Jahreswirtschaftsbericht 2005 liefert den Optimismus, den wir brauchen. Vielleicht müssen wir
manchmal nur die Sichtweise ändern. Anfang dieses
Jahres sind die Mautgebühr und Hartz IV - sicherlich
nach großen Anstrengungen - eingeführt worden. Aber
anstatt das gebührend zu würdigen, lautet der Tenor der
Berichterstattung: Chaos und Katastrophe sind ausgeblieben. Wenn wir so herangehen, dann gute Nacht!
Dann werden wir nie etwas schaffen.
({4})
Hüten wir uns gleichermaßen vor überzogenem Pessimismus und Optimismus. Vielleicht kann uns hier der
russische Lyriker Jewgeni Jewtuschenko weiterhelfen,
der gesagt hat: „Grenzenloser Optimismus ist Mangel an
Wissen. Grenzenloser Pessimismus ist Mangel an Fantasie.“ Ich glaube, in der Wirtschaftspolitik kommt es darauf an, den richtigen Mix aus Wissen und Kreativität
auf der Basis von soliden Zahlen, Daten und Analysen
zu finden sowie tragfähige, praktikable Ideen zu entwickeln, damit eine hoffnungsvolle Perspektive aufgezeigt
werden kann. Das tut der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht.
({5})
Kollege Pofalla, ich finde es unangemessen, wenn Sie
in Ihrer ersten Rede als stellvertretender Vorsitzender Ihrer Fraktion im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht von einem Offenbarungseid sprechen.
Offensichtlich haben Sie den vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht mit dem zweiseitigen CDU-Antrag aus
der letzten Woche verwechselt. Dieser Antrag ist wirklich ein Armutszeugnis und enthält nicht viel Substanzielles. Es tut mir Leid, aber auch der „Pakt für Deutschland“, den Sie vorhin mit großer patriotischer Geste
Werner Schulz ({6})
angeboten haben, kommt mir wie eine Packung alter
Hüte vor.
({7})
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir durch eine Lockerung des Kündigungs- und des Jugendschutzes sowie
durch Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Betriebsverfassungsgesetz, mit Statistiken und Sicherheitsdiensten im Mittelstand oder durch all die anderen zündenden Ideen, die der von Ihnen vorgeschlagene Pakt
enthält, die Arbeitslosigkeit massiv senken werden!
Natürlich ist Ihre zentrale Forderung, die Lohnnebenkosten zu senken, diskussionswürdig; denn die hohen Lohnnebenkosten machen uns allen zu schaffen.
Man sollte aber fairerweise hinzufügen, dass die Höhe
der Lohnnebenkosten von 42 Prozent eine schwere Hypothek der Regierung Kohl ist, die wir nun abtragen
müssen. Das sollte man nicht vergessen.
({8})
Wie schwer das ist, können Sie an der Wirtschaftspolitik
der letzten Jahre sehen. Als es 1990 um Patriotismus
ging, hätten Sie ja das nationale Kapital in die Verantwortung nehmen können. Aber Sie haben die Vermögensteuer abgeschafft und mit der Einführung der Pflegeversicherung für eine weitere Belastung der sozialen
Sicherungssysteme gesorgt. Das ist Ihr Beitrag zu der
momentan schwierigen Situation gewesen.
Außerdem ist das, was Sie dazu gesagt haben - runter
mit den Lohnnebenkosten um 1 Prozent und schon gibt
es 100 000 Arbeitsplätze mehr -, eine Milchmädchenrechnung. Wir wissen nur, dass der Anstieg der Lohnnebenkosten um 1 Prozentpunkt uns 100 000 Arbeitsplätze
gekostet hat. Ob das leicht reversibel gemacht werden
kann, muss noch bewiesen werden. Ich rate an dieser
Stelle auf jeden Fall zur Vorsicht. Sie können gerne versuchen, die Lohnnebenkosten durch die Herausnahme
der versicherungsfremden Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte zu senken. Aber
dann müssen Sie auch sagen, wie Sie künftig Beschäftigungspolitik und Qualifizierungsmaßnahmen bezahlen
wollen. Sie müssen über den Rand des Bierdeckels des
Kollegen Merz hinausschauen, wenn Sie das mit Steuermitteln finanzieren wollen.
({9})
Nehmen wir einmal Ihre naive Vorstellung von
Wachstum als Beispiel. Ich möchte Ihnen erst gar nicht
die Namen der Sachverständigen aufzählen, deren Gutachten Sie nicht gelesen haben. Nur so viel: Allein die
Lektüre des Artikels von Professor Kurt Biedenkopf, der
im November letzten Jahres in der „Zeit“ erschienen ist,
wäre an dieser Stelle sehr hilfreich. Er warnt im Hinblick
auf den Leitantrag zum CDU-Parteitag, in dem es um
Wachstum und Beschäftigung geht, vor der naiven Vorstellung, dass mehr Wachstum zu mehr Beschäftigung
führt. Er weist auf die Ergebnisse seiner Zukunftskommission hin und schreibt: Es gibt keine Korrelation zwischen Wachstum und Beschäftigung. Im Gegenteil:
Wenn man sich die Entwicklungen im letzten Jahrhundert anschaut, dann stellt man fest, dass es zwar einen
Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, des Pro-Kopf-Einkommens und der Pro-Kopf-Produktivität gab, dass aber
gleichzeitig das Arbeitsvolumen abgenommen hat. Wir
sollten daher vielleicht die Formel „mehr Wachstum ist
gleich mehr Beschäftigung“ vom Kopf auf die Füße stellen und eher sagen: Mehr Beschäftigung schafft mehr
Wachstum.
({10})
Dass ein Beschäftigungspotenzial vorhanden ist, zeigt
die Äußerung des Geschäftsführers des DIHK, der großzügig angekündigt hat, dass die Wirtschaft bereit sei,
Menschen auf der Basis von 1-Euro-Jobs einzustellen.
Das kann es wohl nicht sein. Eine solche Äußerung
zwingt fast dazu, die Einführung eines Mindestlohns zu
fordern.
({11})
Ich möchte mich gar nicht wegducken, wenn es um
Wachstum geht. Natürlich brauchen wir Wachstum, aber
ein nachhaltig-ökologisches. Wir brauchen eine ökonomische Entwicklung auf ökologischer Basis. Dabei sind
zwei Aspekte für uns entscheidend: Ein Aspekt ist der
Klimawandel, der andere die schwindende Rohstoffbasis. Beispielsweise hat Tony Blair in Davos interessanterweise verkündet - er hat es erkannt! -: Der Klimawandel
bedroht uns; wir müssen uns mehr um erneuerbare Energien kümmern. Das sagen wir, die Bündnisgrünen, seit
Jahren. Ich freue mich über das, was Tony Blair sagt.
Steigen wir ein!
Wir haben eine Doppelstrategie entwickelt. Sie sieht
zum einen vor, mit den Ressourcen sparsamer umzugehen, und zum anderen, stärker auf nachwachsende
Rohstoffe zu setzen. Das brauchen wir. Wir sagen: vier
mal 25, und zwar bei der stofflichen Nutzung, bei der
Wärmenutzung, bei Kraftstoffen und bei der energetischen Nutzung. Darauf kommt es in den nächsten Jahren an.
Auch an einem Tag wie heute sage ich: Das ist nicht
nur eine Chance für Arbeitsplätze, für neue Technologien und für neue Entwicklungen, sondern auch für die
internationale Sicherheit und für den Weltfrieden. Die
alte Faustregel der Ungerechtigkeit „20 Prozent der
Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent der Rohstoffe“
stimmt nicht mehr. Heute sind es 50 Prozent der Weltbevölkerung, die 50 Prozent der Rohstoffe verbrauchen.
Durch China, Indien, Brasilien, Russland und dergleichen hat sich etwas verändert. Es gibt einen Kampf um
die Rohstoffe.
Wer heute dafür sorgt, dass wir von Erdöl auf nachwachsende Rohstoffe umsteigen und dass wir uns von
der Abhängigkeit vom Erdöl befreien, der tut etwas dafür, den Weltfrieden zu erhalten. Krieg wird uns keine
neuen Ölquellen sichern. Wir haben in der Geschichte
die bittere Erfahrung gemacht, dass Kämpfe um Rohstoffe im Grunde genommen nur sehr viel Zerstörung
Werner Schulz ({12})
dessen, was man eigentlich bekommen möchte, hinterlassen. Das sollten wir uns heute vielleicht merken.
({13})
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle
Redner haben betont, dass es nach einer so bewegenden
Gedenkstunde schwer fällt, eine normale Wirtschaftsdebatte zu führen. Vielleicht ist das für den Ältestenrat eine
Anregung, bei zukünftigen Terminplanungen ein Stück
mehr Distanz zwischen einer solchen Gedenkstunde und
„business as usual“ zu schaffen. Ich glaube, so, wie es
heute läuft, ist es nicht gut.
({0})
Herr Minister Clement, Sie haben Recht: Auch in einer solchen Gedenkstunde wird uns als Demokraten einmal mehr drastisch vor Augen geführt, wie wichtig eine
bessere wirtschaftliche Entwicklung ist. Wir brauchen
mehr Wachstum, wir brauchen mehr Arbeitsplätze und
wir brauchen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, um
radikalen politischen Kräften in Deutschland den Boden
für ihre hinterhältige Agitation zu entziehen.
({1})
Herr Minister, Sie haben gestern im Kabinett den Jahreswirtschaftsbericht vorgestellt. Die Opposition hatte
bis zur heutigen Parlamentsdebatte noch nicht einmal
24 Stunden Zeit, sich damit zu beschäftigen. Ich finde
das nicht gut. Das gab es noch nie. Das ist kein guter
Stil.
({2})
Natürlich müssen wir uns dazu äußern. Sie haben vorhin die ironische Bemerkung gemacht: Der Bericht ist
zwar kaum bekannt, aber die Opposition äußert sich
schon. Es ist doch unsere Aufgabe, sich zu äußern! Wir
sind doch keine zu Ihrer Beweihräucherung bestellten
Akklamateure.
({3})
Das hier ist der Deutsche Bundestag. Er muss sich mit
den Schicksalsfragen dieses Landes beschäftigen. Deshalb gehört es sich, die notwendige Distanz zu schaffen,
damit man sich mit dem Inhalt des Berichts, über den debattiert wird, beschäftigen kann. Es ist nicht gut, dass
sich der Wirtschaftsausschuss erst nach der abschließenden Beratung im Plenum damit beschäftigt. Das sollten
wir zukünftig nicht mehr machen.
Es drängt sich ein bisschen der Eindruck auf, dass die
Landtagswahl in Schleswig-Holstein da Regie geführt
hat, so nach dem Motto: ruhige Hand, zweiter Teil. Sie
scheuen den Realitätstest, Stichwort: Arbeitslosenzahlen
im Januar. Diese Zahlen werden nicht gut sein. Sie lassen die Rekordzahlen aus Nürnberg einen Tag vor Fastnacht verkünden.
Tatsache ist: Sie und diese Regierung stehen für die
höchste Arbeitslosigkeit der Nachkriegszeit. Im letzten
Jahreswirtschaftsbericht haben Sie großspurig angekündigt - ich zitiere -:
Die Zahl der Arbeitslosen wird 2004 um bis zu
100 000 unter dem Durchschnitt des Jahres 2003
liegen.
In Wahrheit ist die Durchschnittsarbeitslosigkeit weiter
gestiegen. Noch nie waren im Jahresdurchschnitt so
viele Menschen arbeitslos wie im Jahr 2004. Sie erwarten für dieses Jahr einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die üblichen blumigen Versprechen zum Abbau
der Arbeitslosigkeit helfen uns nicht weiter. Ihre Art, der
Opposition Schlechtreden vorzuwerfen, ist sehr durchschaubar. Sie machen eine schlechte Wirtschaftspolitik.
Das ist die Tatsache.
({4})
Wenn Sie der Opposition nicht glauben: Schauen Sie
in den aktuellen „Spiegel“ hinein! Der „Spiegel“ hat ein
Meinungsbild der Deutschen wiedergegeben. Erste
Frage: Kann Grün-Rot die Wirtschaft ankurbeln?
74 Prozent sagen: Nein. Zweite Frage: Kann Grün-Rot
die Rente sichern? 80 Prozent der Bevölkerung sagen:
Nein. Dritte Frage: Kann Grün-Rot die Arbeitslosigkeit
bekämpfen? 84 Prozent sagen: Nein. Das ist die Stimmung in Deutschland. Die Deutschen trauen Ihnen
nichts zu. Daran ist auch Ihre verfehlte Politik schuld.
({5})
Sie, Herr Clement, sind, wie ich hörte, Liebhaber von
Trickfilmen. Ihr Lieblingstrick im letzten Jahr war das
Wort Innovation. Mehr als eine Mickymaus ist bei dem
so genannten Jahr der Innovation nicht herausgekommen. Kommen Sie bitte nicht mit dem Projekt Airbus!
Dafür müssten Sie eher Franz Josef Strauß noch eine
Kerze auf sein Grab stellen.
({6})
Ansonsten ist außer Ankündigungen nichts gewesen.
Zur Gentechnik hat der Kanzler gesagt - ich zitiere -:
Die Technikskepsis schadet unserer Position auf dem
Weltmarkt. - Er hat Recht. Sie verteidigen öffentlich die
Stammzellenforschung. Sie haben Recht. Nur, das Handeln der Regierung ist ein anderes.
({7})
Grün-Rot hat ein Gentechnikverhinderungsgesetz
verabschiedet. Frau Künast hat sich allen Ernstes auf
eine Studie von 1940 über das Kreuzungsverhalten von
Mais im Kaukasus berufen.
({8})
Im Innovationsfeld Energie sieht es ähnlich aus. Ein
energiepolitisches Konzept der Bundesregierung mit
markwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die
nächsten Jahrzehnte kenne ich nicht. Sie haben es im
letzten Jahr angekündigt. Es ist immer noch nicht da.
({9})
Ihre chaotische Energiepolitik erfüllt wettbewerbliche
Maßstäbe nicht. Die Regulierung lädt die Konzerne geradezu ein, Preiserhöhungen vorzunehmen. Ein vernünftiger Rechtsrahmen fehlt bis zum heutigen Tag. Bei der
roten Steinkohle und den grünen Windrädchen schaltet
die Koalition den Preismechanismus durch Subvention
aus. Aus purer Ideologie wird die Kernkraft verboten.
Grün-Rot ist für die gigantische Fehlleitung von Kapital
und Arbeitskraft verantwortlich.
({10})
Sie sind auch für monopolistische Strukturen verantwortlich. Die Fusion von Eon und Ruhrgas liegt in Ihrer
Verantwortung. Herr Müller und Herr Tacke lassen
freundlich grüßen. Alles, was Sie da gemacht haben, war
nicht in Ordnung.
({11})
Man kann doch nicht, wie es der Bundeskanzler getan
hat, das Ansteigen der Gaspreise beklagen und gleichzeitig durch Entscheidung der Regierung monopolistische Strukturen zulassen. Das ist nicht redlich. Das ist
Pharisäertum.
({12})
Bei Investitionen und Fortschritt stehen Sie auf der
Bremse. Beim Schuldenmachen geben Sie Gas.
Jetzt ist der europäische Stabilitätspakt dran. Das ist
erneut ein Anschlag auf die Grundachsen deutscher
Wirtschaftspolitik.
({13})
Gerhard Schröder hat den Euro einmal als kränkelnde
Frühgeburt bezeichnet. Sein Vorstoß zum Aufweichen
des Stabilitätspakts darf nicht noch zu einer Spätabtreibung der Gemeinschaftswährung führen.
({14})
Ich kann nur warnen: Der Weg in eine Inflationsgemeinschaft endet in einer Renationalisierung der Geldpolitik
und der Währungspolitik. Das kommt am Schluss dabei
heraus.
Um die Prinzipien der Wirtschaftspolitik geht es Ihnen schon lange nicht mehr richtig. Sie wollen mit neuen
Schulden und mehr Inflation das Wirtschaftswachstum
ankurbeln. Nur, mehr Schulden zementieren die starren
Strukturen. Übrigens frage ich Sie - diese Bundesregierung ist ja Schuldenmeister -: Wie viele Schulden bräuchten wir denn noch, damit die Wirtschaft in Gang kommt?
({15})
Das war doch schon an der Obergrenze dessen, was verfassungsrechtlich überhaupt noch zulässig ist.
({16})
Bei einer Staatsquote von fast 50 Prozent sind die Schulden von heute die Steuern von morgen.
Sie registrieren nicht, was sich draußen in der Welt
tut. Ich rede nicht nur von Asien; ich habe es letzte Woche angesprochen. In Amerika ist man erneut dabei, einen Sprung in der Produktivität und Effizienz zu schaffen. Was Bush in seinem Konzept - am letzten
Wochenende hat es eine große Sonntagszeitung unter
dem Titel „Bush-Revolution“ dargestellt - als Ownership Society bezeichnet, das Reprivatisieren von Verantwortung, das Privatisieren sozialer Sicherungssysteme,
des Gesundheitswesens, wird, wie schon bei Reagan
- den haben Sie auch nicht gemocht, nur beschimpft -,
erneut einen Schub an Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerbskraft geben. Wir dümpeln unverändert im KleinKlein und sehen nicht, was sich draußen tut.
Herr Clement, Sie sind gelernter Journalist. Sie denken eher in Schlagzeilen, weniger in strukturökonomischen Zusammenhängen. Als ich letzte Woche gesagt
habe, das Wachstum sei eine Leihgabe der Weltwirtschaft, haben Sie sich breit über diese Aussage ausgelassen und sie moniert. Ich entgegne Ihnen mit einem
Verweis auf die Überschrift des Sachverständigengutachtens: „Erfolge im Ausland - Herausforderungen im
Inland“. Auf Schlagzeilenniveau reduziert heißt das: außen hui, innen pfui. So wird das vielleicht auch für Sie
verständlich.
({17})
Ohne einen Aufschwung in der ganzen übrigen Welt
kommen wir nicht mehr auf die Beine. Früher war
Deutschland das Land, das als Lokomotive Europa und
die Weltwirtschaft mitgezogen hat. Heute sind wir dankbar, wenn Chinesen, Japaner und Amerikaner erfolgreich sind; denn so können wir unsere Produkte verkaufen. Ja, Sie haben Recht, wir haben gute Produkte. Wir
haben fleißige und fähige Arbeitnehmer, gute Forscher
und Wissenschaftler. Deshalb können wir draußen in der
Welt viele Produkte gut verkaufen. Das zeigt sich an unseren Exporterfolgen. Aber wir schaffen es nicht, mehr
von den gleichen guten Produkten, hergestellt von den
gleichen guten Arbeitnehmern und Ingenieuren, in
Deutschland abzusetzen, weil die Rahmenbedingungen
für den Binnenmarkt nicht stimmen. Hierfür ist die nationale Ebene verantwortlich. Sie tragen dafür Verantwortung, dass von den gleichen guten Produkten in
Deutschland nicht mehr abgesetzt werden.
({18})
Die Wirtschaftsweisen haben festgestellt, dass der
Kern des Problems ist - ich teile das -, dass unser
Potenzial- bzw. Trendwachstum zu gering ist. Der Sachverständigenrat sagt:
Die Ursachen liegen in binnenwirtschaftlichen
Fehlentwicklungen und Versäumnissen.
Mit anderen Worten: Grün-Rot trägt die Hauptverantwortung für die Wachstums- und Beschäftigungsprobleme.
({19})
Die Vereinigten Staaten haben ein Wachstumspotenzial, das über 3 Prozent liegt. In Deutschland liegt das
Wachstumspotenzial bei 1 bis 1,5 Prozent. Selbst wenn
ich die von Ihnen vertretene optimistische Variante - mit
Ihrer Prognose liegen Sie sicherlich am oberen Rand aller Prognosen - nehme, schöpfen Sie gerade einmal dieses Potenzial aus. Das ist dann schon die Spitze des
grün-roten Booms. Aber auch die Bundesbank geht davon aus, dass die Beschäftigungsschwelle unverändert
bei knapp 2 Prozent liegt.
({20})
Gestern hat deren Präsident, Herr Professor Weber, hier
dargelegt, dass die Beschäftigungsschwelle bei etwa
1,9 Prozent liegt. Bei 1,6 Prozent Wachstum wird die
Beschäftigungsschwelle nicht überschritten und gibt es
keine Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die wir so
dringend brauchen. Da liegen also die Probleme.
Weshalb ist das Potenzialwachstum also so schwach?
Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn wir Steuern
senken. Sie aber machen das Gegenteil. Frau Simonis
macht Wahlkampf mit der Propagierung eines Steuererhöhungspaketes in einem Umfang von 20 Milliarden
Euro.
({21})
Die Mehrwertsteuer will sie erhöhen. Sie, Herr Minister,
widersprechen nicht öffentlich, Herr Eichel widerspricht
nicht öffentlich, Herr Müntefering widerspricht nicht
und lässt diesen Unsinn weiterlaufen.
Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn es auf dem
Arbeitsmarkt mehr Flexibilität gibt. Aber da ändert
sich ja nichts. Das Kartell wird nicht aufgebrochen. Weshalb lassen Sie nicht betriebliche Bündnisse der Arbeitnehmer mit ihren Unternehmensleitungen ohne Genehmigung der Kartellbrüder zu? Freiheit auch für die
Arbeitnehmer im Betrieb und weniger Kartellierung und
Zementierung von Machtpositionen!
({22})
Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn wir mehr arbeiten. Das hat ja das letzte Jahr gezeigt. Wir hatten vier
Feiertage weniger und plötzlich über 0,5 Prozent mehr
Wachstum. Es ist eine Illusion, zu glauben, eine 35-Stunden-Woche bringe mehr. Sie sind Jahr und Tag zusammen mit der IG Metall zur Erreichung dieses Ziels marschiert. Nichts hat das gebracht. Das hat Arbeitsplätze
zerstört.
Wir müssen die paritätische Mitbestimmung modernisieren, da sie ein Standortnachteil ist.
Wir müssen uns darum bemühen, die Entscheidungszentralen der Wirtschaft in Deutschland zu behalten. Die
Erfahrung lehrt nämlich, dass, wenn abgebaut wird, zuerst an den Außenstellen abgebaut wird und nicht am
Sitz des Unternehmens. Deshalb müssen wir uns bemühen, die Unternehmenssitze in Deutschland zu halten.
Seit der EU-Erweiterung gibt es Länder mit einer Flat
Tax, mit einer Finalbesteuerung von unter 20 Prozent,
im gemeinsamen europäischen Markt. In Ländern wie
Polen liegen die Arbeitskosten bei Facharbeitern um den
Faktor zehn niedriger als in Deutschland. In diesem
Wettbewerb können wir nur bestehen, wenn wir durch
mehr Leistung, intelligentere Konzepte und mehr Effizienz gegenhalten.
Noch ein Beispiel: Ihre Regelungen zum Ladenschluss. Sie wollen Bürokratie abbauen. Der Bundesrat
hat nach dem Verfassungsgerichtsurteil einstimmig gefordert - also auch Ihre Gesinnungsfreunde waren daran
beteiligt -, dass den Ländern die Möglichkeit gegeben
wird, eigenständig über den Ladenschluss zu entscheiden. Wo ist da der große Bürokratieabbauer, der selbst
ernannte Siegfried, der das Monster „Bürokratie“ besiegen will?
({23})
Er sagt nichts. Er schweigt, weil die Gewerkschaften dagegen sind. Geben Sie den Ländern die Möglichkeit, im
Rahmen des Wettbewerbsföderalismus die Entscheidung
selbst zu treffen.
({24})
Denn sie wissen besser, was für Bayern oder Hamburg
gut ist. Lasst sie so machen, wie sie es im Bundesrat einstimmig gefordert haben, und ihre eigene Entscheidung
treffen.
Wachstumsmöglichkeiten steigen auch, wenn es dem
Mittelstand gut geht. Sie aber machen gerade mit der
Umwidmung eines Teils des ERP-Sondervermögens
Fördermöglichkeiten für den Mittelstand zunichte. Das
ist keine gute Basis, um bessere Ergebnisse zu erzielen.
Wir brauchen keine oberflächliche Politik, sondern mehr
Grundsatztreue. Wir müssen die Grundachsen der deutschen Wirtschaftspolitik in Ordnung bringen.
Das Land ist gut und stark. Es hat eine bessere Rahmensetzung verdient, als Sie sie ihm bisher gegeben haben.
({25})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon seltsam, dass Sie, Herr Brüderle, unsere im Vergleich zu den Amerikanern minimale Verschuldung lauthals geißeln, aber die exzessive Verschuldung der Amerikaner einfach ignorieren und auch noch sagen: Nehmt
euch daran ein Beispiel!
({0})
Das ist wirklich eine gehobene Form der Bewusstseinsspaltung. Ich möchte nicht wissen, wie Sie reagieren
würden, wenn wir in dieser Lage wären.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
letztes Jahr durch Wolfgang Clement ankündigen lassen,
({1})
dass wir den Aufschwung in Gang setzen. Am Ende des
Jahres 2004 konnte er im Gegensatz zu Herrn Merz, der
damals das Gegenteil vorausgesagt hatte, zusammen mit
dem Sachverständigenrat feststellen: Er ist in Bewegung
gekommen.
({2})
Wenn er so gehandelt hätte wie Sie, also immer nur gezaudert, gezögert und gestritten hätte, dann wären wir
keinen Millimeter vorangekommen. Was wollten Sie
- etwa bei Hartz IV - nicht alles vertagen! Der Clement
ist gestanden wie eine Eins. Er wurde jetzt vom Erfolg
belohnt. Sie können Ihren Erfolg an den Umfragen ablesen.
({3})
Ich danke ausdrücklich auch Hans Eichel.
({4})
Unsere Finanzpolitiker haben die eingebauten Stabilisatoren wirken lassen. Wären wir Ihnen gefolgt, wäre der
Aufschwung abgewürgt worden. Deshalb ein herzlicher
Dank ausdrücklich auch an unsere Finanz- und Haushaltspolitiker.
({5})
Ich freue mich, dass sich auch in der Europäischen
Union hinsichtlich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes etwas tut. Sie haben in Oberbuchhaltermentalität
nur Zahlen zusammengerechnet und Prozentzahlen gewogen, während die Wirtschaftspolitik ihr Recht wiederbekommt. Es war ausgerechnet Herr Regling, der Ihrem
Lager zuzurechnen ist, der gestern bei einer Veranstaltung der Bundesbank deutlich gemacht hat, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt strikt eingehalten und voll
angewendet wird und dass insbesondere bei der jahresmäßigen Verteilung auf die besonderen Leistungen der
Deutschen in Bezug auf die deutsche Einheit Rücksicht
genommen wird. Das ist der richtige Weg, den wir miteinander einzuschlagen haben.
({6})
Ich danke Wolfgang Clement ausdrücklich auch für
das, was er für den Ausbildungspakt geleistet hat. Dieser Pakt, Herr Pofalla, hat über 50 000 neue Ausbildungsplätze gebracht. Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Sozialabbauorgie hätte sich die Situation nur
verschlechtert.
({7})
Manche reden so leichthin gegen unsere weltwirtschaftlichen Erfolge. Walther Rathenau hat einmal geschrieben: Die Wirtschaft ist unser Schicksal. Helmut
Schmidt hat geschrieben: Die Weltwirtschaft ist unser
Schicksal.
({8})
Deshalb ist es eine Freude und ein Grund zum Jubeln,
dass die deutsche Wirtschaft weltweit so gut aufgestellt
ist.
({9})
Lasst uns alles tun, dass es auch in Zukunft so bleibt.
Weil wir nur ein relativ kleines Land sind - unser Land
ist nicht viel größer als ein chinesischer Kanton -, sollten wir unsere weltwirtschaftlichen Leistungen ausbauen
und verteidigen.
({10})
Lasst uns daran arbeiten - wir haben jetzt auf einer
Achse einen Antrieb der Konjunktur gehabt -, dass wir
nächstes Jahr in der Binnenwirtschaft den Allradantrieb
bekommen! Dazu sind hier die Voraussetzungen geschaffen worden. Wenn Sie eine solche Steuerreform
hingebracht hätten, wie wir das getan haben, würden Sie
jubeln und Feste feiern. Dagegen wäre der Tanz um das
Goldene Kalb im Alten Testament ein kleiner Event gewesen. Sie haben nichts zustande gebracht. Wir haben
das zustande gebracht.
({11})
Das Verbrauchervertrauen und auch die Bereitschaft zu langfristigen Anschaffungen sind insgesamt
wieder gestiegen. Das Wichtigste ist, dass die Investitionen in Gang kommen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist, dass wir die Kommunen wieder handlungsfähig gemacht haben.
({12})
Nach hartem Ringen mit Ihnen, die Sie im Bremserhäuschen saßen, haben Joachim Poß und seine Truppe mit
der Gewerbesteuerreform die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass die Städte und Gemeinden wieder beginnen können, an Investitionen zu denken. Das ist das
Entscheidende.
({13})
Mit der Hartz-IV-Reform wird in diesem Zusammenhang ein zweiter Teil umgesetzt. Gerade in BadenWürttemberg sind die Kommunen wieder investitionsfähig geworden, wenn das auch noch nicht in allen Ländern der Fall ist. Eine der Hauptaufgaben ist, dass wir
die Städte und Gemeinden wieder voranbringen.
({14})
Wir haben es erreicht, dass sich die großen Unternehmen entschuldet haben und dass bei den großen Unternehmen inzwischen wieder Voraussetzungen für Investitionen gegeben sind. Wir sind dabei, den kleinen und
mittleren Unternehmen wieder die Möglichkeit zu geben
zu investieren. Es ist eine Freude, dass die großen Banken wieder den Mittelstand entdecken. Ich war kürzlich
in Mannheim; da hat ausgerechnet die Deutsche Bank
ihre Räume für einen Mittelstandsempfang zur Verfügung gestellt.
({15})
Die Commerzbank hat sogar wieder angefangen, einen
Vorstand für kleine und mittlere Unternehmen einzurichten. Die wahre Wachstumsbremse war, dass viele kleine
und mittlere Unternehmen von Banken erdrosselt worden sind, die an der Londoner Börse und anderswo große
Teile ihres Kapitals verspekuliert hatten und den Mittelstand hinterher mit einer Überrisikosensibilität erdrosselt
haben.
Mit der Mittelstandsbank des Bundes haben wir
wieder die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Existenzgründer, aber auch kleine und mittlere Unternehmen
wieder investieren können. Lasst uns an diesem Projekt
weiterarbeiten! Das ist die Voraussetzung für Wachstum
und Beschäftigung.
({16})
Wir haben auch beim Aufbau Ost - dazu habe ich von
Herrn Pofalla nichts gehört; das wird immer wieder weggewischt - einiges erreicht. Der Sachverständigenrat hat
allen Schwadroneuren mit ihren Forderungen nach Sonderwirtschaftszonen das Notwendige ins Stammbuch geschrieben. Wir werden mit den Ländern Schritt für
Schritt daran arbeiten, dass die Investitionspotenziale
genutzt werden. Ob Rolls-Royce, Lufthansa Technik,
DHL in Leipzig, Airbus Deutschland oder Rapid Eye
usw., es gibt im Osten Erfolge. Darauf sollten wir gemeinsam stolz sein.
({17})
Ich sage für unsere Fraktion: Wir haben um die Fortführung der Gemeinschaftsaufgabe Ost wirklich gekämpft. Unsere These war immer: Es darf im Osten
keine Investition am Mangel an Fördermitteln scheitern.
({18})
Das haben wir Herrn Milbradt anlässlich der letzten Debatte so entgegengehalten. Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe zusammen mit unseren Haushältern erhalten.
({19})
Es wird im Osten keine Investition an fehlenden Fördermitteln scheitern. Wir halten an der Gemeinschaftsaufgabe fest.
Ich sage für unsere Fraktion auch: Wir teilen die Auffassung des Sachverständigenrates, die I-Zulage abzuschaffen, nicht. Wir meinen, alle Chancen sollten genutzt werden, damit sich die Situation verbessert.
({20})
Herr Pofalla hat hier die alten Merz-Reden wieder
hervorgeholt. Er hat ja fast so begonnen. Aber wo sind
denn Ihre Helden? Letztes Jahr ist Friedrich Merz hier
noch wie das Krokodil am Nil aufgetreten. Jetzt ist er
fort; jetzt hat er seinen Bierdeckel abgegeben und ist verschwunden.
({21})
Wo ist der Held Horst Seehofer?
({22})
Als er mit Ede, dem Wolf, streiten sollte, hat er Zahnweh
bekommen und hat aus dem Blätterwald gezischelt. Das
sind mir die wahren Helden!
({23})
Herr Pofalla, Sie sind mir vorgekommen wie der schneidige Merz: nur Anklagen, keine eigenen Rezepte, nur
der alte Krampf. Sie tun mir fast Leid. Wenn so ein junger Kerl wie Sie bei dem Begriff „Schaukel“ an „Verschaukeln“ denkt, dann muss ihn die Sozialisation in der
CDU schon ziemlich ruiniert haben. Er nimmt gar nicht
mehr wahr, dass für jeden normal sozialisierten Menschen eine Schaukel die Metapher für Schwung und Lebensfreude ist und dass man allenfalls die Bremse nach
oben braucht. Sie sind in diesem Bereich ein armer Kerl.
({24})
Sie haben hier auch über das Wachstumspotenzial
schwadroniert. Herr Brüderle hat von den Amerikanern
geredet, wohl wissend, dass es dort ein irres Potenzial an
Bevölkerungszuwachs gibt. Viel Wenig ergibt eben doch
mehr. Unsere Bundesregierung setzt mit ihrem Innovationsprogramm, mit Forschung und Entwicklung auf die
Qualität des Wachstums und auf Dynamik, damit wir in
einer älter werdenden Gesellschaft mit einem schrumpfenden Arbeitskräfteangebot ein höheres Wachstumspotenzial haben. Herr Brüderle, das sollten Sie als alter
Liberaler eigentlich begeistert mitmachen, anstatt herumzumäkeln. Ihre Lust, Herrn Clement am Zeug zu flicken, hat Sie aber wieder einmal in die Irre geleitet.
({25})
Auch Sie wissen, Herr Brüderle, dass unsere Wachstumswerte, verglichen mit dem EU-Durchschnitt, gesunken sind. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Gutachtens
des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2002. Darin
steht, dass es die Herstellung der deutschen Einheit
- eine Leistung der Deutschen - ist, die unsere Wachstumswerte vorübergehend belastet.
Herr Pofalla, Ihre Vergangenheitsbetrachtungen können Sie sich schenken.
({26})
Norbert Blüm hat kürzlich gesagt: Ich habe an einem so
genannten Beschäftigungsförderungsgesetz mitgewirkt.
Auf die Arbeitsplätze warte ich heute noch. - So Norbert
Blüm, Ihr „Täter“ von damals, der dieses Gesetz mit beschließen musste. Hören Sie auf mit dem alten Krampf!
Lasst uns neue Wege gehen und dem Mittelstand helfen,
indem wir durch Investitionen und Existenzgründungen
wieder breitflächig zu Wachstum und Beschäftigung beitragen.
Danke.
({27})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und lieben Kollegen! Lieber Kollege Stiegler, wir
hören es schon gern, allein uns fehlt der Glaube an das,
was Sie hier alles erzählt haben.
({0})
Ich finde es schon fantastisch, wie Sie dargestellt haben, was im Jahreswirtschaftsbericht über den Osten
steht. Sie scheinen aber einige Passagen überlesen zu haben. Ich habe es mir eben noch einmal angeschaut: bei
den Fördermitteln beträchtliche Mängel, kein Königsweg in Sicht, kein Aufholprozess, Diskussion über Sonderwirtschaftszonen unergiebig usw. Das ist ein total negatives Zeugnis über Ihre Ostpolitik. Sie können deshalb
hier nicht einfach sagen, wie toll es ist, dass alles in den
richtigen Bahnen läuft. Mit Ihnen läuft nichts in den
richtigen Bahnen, vor allem nicht im Osten, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün.
({1})
Sie alle wissen, dass wir das Einstein-Jahr haben. Uns
sollte eigentlich bewusst sein, wie wichtig Fantasie und
Kreativität sind. Einstein hat einmal gesagt, Fantasie sei
wichtiger als Wissen. Wenn ich mir Ihren Jahreswirtschaftsbericht anschaue, habe ich fast das Gefühl, dass
Sie diesen Gedanken vollkommen missverstanden haben. Es ist kaum zu glauben, was für ein Fantasieprodukt
Sie uns hier vorgelegt haben. Es lässt jeden Bezug zur
Realität vermissen. Gut, wir sind es inzwischen gewohnt
und werden langsam resistent gegen Ihre geschönten
Zahlen und die Verharmlosung der Risiken. Es scheint
inzwischen zur Tradition geworden zu sein, uns mit zuversichtlichen Prognosen und unverbindlichen Aussagen
hinzuhalten.
Mit Ihrer Konjunkturprognose von 1,6 Prozent stehen Sie inzwischen ziemlich allein da; das muss man
einmal klar und deutlich sagen. Sogar der designierte
Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, sieht das
skeptisch. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre
Prognosen nach unten korrigiert: auf nur noch 0,8, allerhöchstens auf 1,2 Prozent. Was interessant ist: Ihr eigener Haushaltsplan geht von 1,7 Prozent aus. Das müssen
Sie mir schon erklären; dazu ist nichts gesagt worden.
Das heißt, Sie müssen eigentlich mit weniger Steuereinnahmen und damit rechnen, dass Sie mehr Ausgaben im
Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt haben. Wie Sie
diese Finanzierungslücke, die sich aus Ihren eigenen
Prognosen ergibt - einmal des Finanzressorts, das andere Mal des Wirtschaftsressorts -, schließen wollen, haben Sie nicht dargelegt.
Als ganz großes Manko empfinde ich in diesem Jahreswirtschaftsbericht, dass jegliche Visionen fehlen. Wir
sind in wirtschaftlich schweren Zeiten; das ist überhaupt
keine Frage. Wir leben auch nicht mehr in der Zeit des
Wirtschaftswunders. Außerdem haben wir die Folgen
der Wiedervereinigung zu schultern. Sie müssten aber
sagen, wie Sie das angehen wollen. Wo sind die Konzepte? Wo sind Ihre Strategien? Wie wollen Sie hier wieder Arbeitsplätze schaffen? Wie wollen Sie den Standort
Deutschland nach vorn bringen? Dazu vermisse ich im
Jahreswirtschaftsbericht jegliche Aussage.
Richtig ist, wenn Sie schreiben: Das geschieht über
Beschäftigung und über Wachstum. Das ist vollkommen
richtig. Volltreffer, könnte man sagen. Aber Sie stellen
nicht dar, wie es zu mehr Wachstum kommen soll und
welche Reformen Sie zukünftig in Angriff nehmen wollen. Sie sagen zwar: Die Reformanstrengungen des Jahres 2003 haben sich gelohnt; endlich bewegt man sich
nach vorn. Es ist richtig, dass Sie Reformen in Angriff
genommen haben - das will ich gar nicht leugnen -,
auch unter unserer Mithilfe. Dass es unsere Mithilfe bei
Hartz IV gegeben hat, können Sie nicht bestreiten. Aber
mit Hartz IV werden keine Arbeitsplätze geschaffen.
({2})
Mit Hartz IV soll dazu beigetragen werden, dass die Vermittlung besser funktioniert. Aber von den Gesetzen, die
Sie ansonsten auf den Weg gebracht haben, war keines
wachstumsorientiert. Alle sonstigen Gesetze und Reformen haben im Gegenteil noch mehr Auflagen, noch
mehr Bürokratie und noch mehr Hemmnisse gebracht.
Das kann man auch beim Antidiskriminierungsgesetz,
Ihrem letzten Gesellenstück, sehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
im Jahreswirtschaftsbericht ist vom Anspringen der Inlandsnachfrage und des privaten Konsums die Rede.
Lassen wir einmal das Prinzip Hoffnung außer Acht!
({3})
Sie wissen ganz genau, dass das nur dann eintreten wird,
wenn auch wieder Investitionen getätigt werden, übrigens auch Investitionen des Staates, des Bundes, Herr
Stiegler. Wie schaut es denn in dieser Beziehung beim
Bund aus? In Ihrer Regierungszeit gab es allein
5 Milliarden Euro Investitionen weniger. Das heißt, es
wird gespart bei der Straße, bei der Schiene, überall, also
bei der Infrastruktur - das hat auch der Minister angesprochen -, die für die Wirtschaft wichtig ist. Unsere
Infrastruktur ist immer ein Standortvorteil gewesen.
Diese vernachlässigen Sie vehement. Wenn im Bereich
der Unternehmen nicht investiert wird, dann fehlen Bürogebäude oder Fabrikgebäude und man braucht sich
nicht darüber zu wundern, wenn in der Bauindustrie im
letzten Jahr 75 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind
und in diesem Jahr voraussichtlich 50 000 Arbeitsplätze
verloren gehen werden.
Jetzt haben Sie ein ganz neues Feld entdeckt. Anstatt
wachstumsorientierte Reformen anzugehen, ist es bei Ihnen zu einer seltsamen Mutation gekommen. Früher hat
Ihr Kanzler gesagt: Wir machen keine Programme zulasten unserer Kinder und Kindeskinder. - Richtig! Dafür
haben Sie auch unseren Beifall bekommen. Jetzt heißt
es: Kurzfristig können staatliche Maßnahmen zur Anhebung des Wachstumspotenzials wichtiger sein als Konsolidierung. Das heißt: Bei Ihnen ist Sparen out und
Schuldenmachen in. Sie wollen Wachstum nur noch auf
einem Weg erreichen: auf Pump, Pump, Pump.
({4})
Es ist eine verantwortungslose Politik, die Sie machen.
Wir geben schon jetzt ein Sechstel des Bundeshaushalts
nur für Zinsen aus. Dabei wissen Sie ganz genau, dass
die Zinsen bei uns nicht auf dem niedrigen Stand bleiben
werden, auf dem sie momentan sind, und dass diese Zinsen gezahlt werden müssen. Dabei habe ich von der Tilgung noch gar nicht gesprochen. Sie werden das nicht
mehr zurückzahlen müssen, aber unsere Kinder und Enkel.
({5})
Deswegen ist die Politik, die Sie machen, das Verantwortungsloseste, was ich in diesem Bereich je erlebt
habe.
({6})
Anstatt Maßnahmen für die Nachfrageseite anzugehen und den Arbeitsmarkt aufzulockern, betonieren Sie
ihn immer mehr zu. Aber selbst bei der Angebotsseite,
meine Damen und Herren von Rot und Grün, funktioniert es nicht.
Schauen wir uns doch einmal die Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur an. Was ist denn passiert? Wir
hatten 2004 gerade noch 446 000 Vermittlungen durch
die Bundesagentur, 44 Prozent weniger als im Jahr 2002.
Das bedeutet, dass es pro Monat durchschnittlich nur
1,4 erfolgreiche Vermittlungen auf regulär nicht geförderte Stellen gab. Das ist doch ein Musterbeispiel von
Ineffizienz. Von 90 000 Mitarbeitern der Bundesagentur
sind nur 12 000 für die Vermittlung eingesetzt. Diese
Zahl wird inzwischen weiter reduziert. Hier ist also Reformbedarf angesagt. Damit will ich nicht die Mitarbeiter der Bundesagentur oder deren Führung angreifen,
sondern die Regierung, die die Riesenadministration von
Hartz IV auf die Bundesagentur übertragen und sie damit sozusagen zu einem zweiten Bundessozialamt gemacht hat, dabei aber nicht daran gedacht hat, dass dies
alles voll auf Kosten der Vermittlungstätigkeit geht.
Sie haben die Arbeitslosenzahlen angesprochen.
Lassen Sie uns doch die Statistiken anschauen. Sie weiten den staatlich geförderten Beschäftigungsbereich permanent aus; aber damit lösen Sie keine Probleme. Kein
einziges Problem wird dadurch gelöst, dass Leute irgendwo geparkt sind; denn anschließend stehen sie doch
wieder auf der Straße und suchen Arbeitsplätze. Sie wissen ganz genau, dass wir noch Hunderttausende Arbeitslose mehr hätten, wenn Sie die Statistik nicht geändert
hätten: Die 1-Euro-Jobs fallen heraus, die Trainingsmaßnahmen fallen heraus usw. Ich will gar nicht näher auf
diesen Bereich eingehen.
({7})
Wenn jetzt noch die neue Bewertung nach ILO kommen
und ab 1. März eine monatliche Statistik erstellt werden
wird - liebe Kollegin Dückert, Sie wissen es ganz genau - und dadurch nur derjenige, der weniger als eine
Stunde die Woche arbeitet, als arbeitslos gelten wird,
dann werden künftig 700 000 Arbeitslose aus dieser Statistik herausfallen. Mit diesen Gegebenheiten werden
Sie sich dann auseinandersetzen müssen. Dabei nützen
uns die geschönten Zahlen, die Sie uns vorlegen, überhaupt nichts.
Unser Ticket für die zukünftige Entstehung von Arbeitsplätzen ist Innovation.
({8})
- Sie haben das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausgerufen, aber dabei ist es leider auch geblieben, lieber
Kollege Stiegler.
({9})
Allein in den letzten Jahren haben wir 3 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren. Wir haben eine
schleichende Deindustrialisierung; das dürfen wir nicht
wegwischen. Das müssen wir bedenken, wenn wir Wirtschaftspolitik machen.
({10})
Das ist eine Zeitbombe, auf der wir sitzen; denn was in
diesem Bereich nicht produziert und nicht verdient wird,
fehlt natürlich auf der anderen Seite als Nachfrage beim
Handel, beim Handwerk und bei Dienstleistungen. Auf
diese Weise werden wir keine neuen Arbeitsplätze schaffen, sondern sie zukünftig vernichten.
Früher waren wir in allen Spitzentechnologien Pionier. Woher kommen jetzt die Flachbildschirme und die
Digitalkameras? Sie kommen aus dem Fernen Osten.
Früher waren wir die Apotheke der Welt; jetzt sind wir
auf Platz fünf abgerutscht, hinter den USA, Japan, England und Frankreich.
({11})
Kollege Brüderle hat die Gentechnik angesprochen,
eine für die Zukunft sehr wichtige Schlüsseltechnologie.
Aber Ihre Novelle des Gentechnikgesetzes erschwert die
Anwendung der Grünen Gentechnik und treibt diese
Schlüsseltechnologie ins Ausland.
({12})
Die ersten Konzerne haben schon angekündigt, ihre Forschung ins Ausland zu verlagern. Ist sie erst einmal weg,
wird sie nicht mehr zurückkommen. Dessen können Sie
ganz sicher sein. Wir werden dahin kommen, dass wir
alle gentechnisch veränderten Produkte, die im Ausland
erforscht, entwickelt, angebaut und zur Marktreife gebracht worden sind, hier in Deutschland nur noch konsumieren.
Eine Zeitung hat es vor kurzem sehr treffend angemerkt: Deutschland scheint vom Land der Pioniere, das
wir einmal gewesen sind, zur Provinz der Endabnehmer
zu werden. Das kann man angesichts der Politik, die Sie
hier auf den Weg bringen, nur unterstreichen.
Herr Minister, in Ihrem Ministerium wird es hinter
vorgehaltener Hand ebenfalls gesagt: Das ist eine Spielwiese für die Grünen, eine Spielwiese für die Ökopartei,
damit sie sich bei ihrer Klientel profilieren kann.
({13})
Leider wird hier aber nicht gesehen, dass dies dem
Standort schadet.
Wir müssen uns darum bemühen, vor allem auf dem
Gebiet der Innovationen wieder nach vorn zu kommen.
In Bezug auf Patentanmeldungen sind wir gut; vor allem
die kleinen und mittleren Unternehmen liegen hier an
der Spitze. Auch müssen wir neue Produkte schnell auf
den Markt bringen. Hier sind wir langsamer als alle anderen Länder.
({14})
Deswegen haben viele andere Länder immer die Nase
vorn. Hier müssen wir einen sehr schwierigen Aufholprozess bewältigen. Wir müssen in diesem Bereich besser werden, die Eigenverantwortung unserer Hochschulen stärken und, indem wir die entsprechenden
Rahmenbedingungen setzen, dafür sorgen, dass Hochschulen und Wirtschaft noch intensiver zusammenarbeiten.
Erfreut habe ich zur Kenntnis genommen, dass endlich auch der Energiepolitik in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht breiterer Raum gegeben worden ist. Endlich haben Sie erkannt, dass Energiepolitik Standortpolitik und
Wirtschaftspolitik ist; darüber sind wir froh. Aber die
Energiepreise - einen der wichtigsten Aspekte - haben
Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit keinem einzigen Wort erwähnt.
Sie hatten nicht einmal den Mut, Ihre Preistreiberei zu
begründen und zu sagen, warum Sie die Staatsabgaben
auf die Energiepreise seit 1998 um 10 Milliarden Euro
erhöht haben. Kollege Stiegler, das könnte man als Subvention bezeichnen, da die Verbraucher diese Umlage
zahlen müssen.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Sie vergessen, dass hiervon über 600 000 Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie betroffen sind.
Herr Minister Clement, ich glaube, auch für die Aluminiumindustrie sind die hohen Energiepreise, die Sie zu
verantworten haben, ein wichtiges Thema.
Wir brauchen Vertrauen, um aus der Krise zu kommen. Das schaffen wir nur durch Wachstum, aber nicht
durch ein Wachstum auf Pump. Sie müssen endlich die
richtigen Richtungsentscheidungen treffen. Der Minister
hat Anfang dieses Jahres gesagt: „Eine kräftige und
nachhaltige Trendwende für den Arbeitsmarkt erwarte
ich erst 2006.“ Das erwarten auch wir; denn dann werden wir wieder an der Regierung sein.
In diesem Sinne bedanke ich mich.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Pofalla, vorhin haben Sie in Ihrer ersten Rede, die
Sie als Nachfolger von Herrn Merz gehalten haben, Ihre
Enttäuschung über den Jahreswirtschaftsbericht zum
Ausdruck gebracht. Ich muss Ihnen sagen: Als ich Ihre
Rede gehört habe, war auch ich enttäuscht; denn Sie als
neuer Stern am wirtschaftspolitischen Himmel der
Union haben die Chance vertan, die Gelegenheit zu ergreifen, uns zu sagen, wohin es mit Ihrer Wirtschaftspolitik geht.
({0})
Ich muss Ihnen zugute halten, dass Sie einiges gesagt
und einen Zehnpunktepakt angeboten haben. Wenn
man sich seinen Inhalt ernsthaft ansieht, wird die Enttäuschung wirklich grenzenlos.
({1})
Sie haben zehn Punkte vorgeschlagen, die von vorne bis
hinten alter Wein in alten Schläuchen sind. Sie wollen
zum Beispiel den Kündigungsschutz einschränken und
die Tarifautonomie abbauen. Sie müssten mir übrigens
einmal erklären, warum die Abschaffung von Betriebsärzten in kleinen Betrieben einen großen beschäftigungspolitischen Boom bringen soll.
All dies haben Sie hier vorgetragen. Aber Sie haben
sich in keinem einzigen Punkt Ihres Zehnpunktepaktes
zu den Zukunftsfragen Innovation, Bildung und Investitionen geäußert. Ich verstehe das; denn Sie haben keine
Begründung dafür, warum Sie, gerade was die notwendigen Investitionen in Bildung und ihre Finanzierung anbelangt - als Stichwort nenne ich die Eigenheimzulage -,
auf der Bremse stehen.
({2})
Es gibt viele andere Punkte, zu denen Sie ebenfalls
geschwiegen haben, und das angesichts einer Debatte, in
der es um die Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung
geht. Sie haben sich sogar verstiegen - so etwas habe ich
von der Union überhaupt noch nicht gehört -, zu sagen,
es sei schädlich, wenn Existenzgründerinnen und Existenzgründer in diesem Lande öffentliche Fördermittel erhielten.
({3})
Es tut mir wirklich Leid, Herr Pofalla, aber ich muss Ihnen sagen: Wir brauchen in Deutschland auch den Mut
von Bürgerinnen und Bürgern zur Existenzgründung.
Dabei helfen wir ihnen gerne. Ich bin froh, dass die
Hilfe, die wir hier leisten, wirkt.
({4})
Meine Damen und Herren, wer heute die Zeitung aufschlägt, kann die Überschrift lesen: „Deutsche Unternehmen starten optimistisch ins neue Jahr“. Das ist gut,
weil es bestätigt, was im Jahreswirtschaftsbericht an vielen Stellen belegt ist. Wenn man sich vor diesem Hintergrund noch einmal die Rede von Herrn Pofalla zu Gemüte führt, muss man feststellen, dass Sie mit ihrer
Negativ- und Schwarzmalerei der Situation der deutschen Wirtschaft wohl ziemlich einsam dastehen. Die
Wirtschaft ist, gesamtwirtschaftlich gesehen, längst aus
dem Jammertal heraus. Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, sitzen offenbar noch im politischen
Jammertal.
({5})
- Die Realität, das sage ich Ihnen gerne, ist, dass die
starken Branchen der deutschen Wirtschaft heute volle
Auftragsbücher haben. Der Maschinenbau beispielsweise rechnet für 2005 mit Rekordumsätzen. „Made in
Germany“ ist in dieser Branche, aber auch in anderen ein
Label, auf das wir wirklich stolz sein können.
({6})
Sie reden das klein - auch die Entwicklung im Export -,
Sie nehmen noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die
Überschüsse im Export von Jahr zu Jahr zunehmen.
Nein, Sie recyceln wieder diese abgestandene These der
Basar-Ökonomie; sie ist für die deutsche Wirtschaft eigentlich nichts anderes als üble Nachrede.
({7})
Die Achillesferse ist im Jahreswirtschaftsbericht genannt: die Binnenkonjunktur. Dort ist aber auch beschrieben, dass genau hier sehr positive Zeichen zu sehen sind. Der Wirtschaftsminister hat auch auf eine
aktuelle Meldung von Klaus Wübbenhorst aus der Gesellschaft für Konsumforschung hingewiesen, der gerade
heute noch einmal an ganz aktuellen Zahlen dargelegt
hat, dass die Reformen positiv auf die Binnennachfrage,
auf die Konsumnachfrage wirken und dass wir als Folge
der jüngst umgesetzten letzten Stufe der Steuerreform
bei der Konsumnachfrage vorankommen. Das ist die Situation: Die Daten und die Fakten in Deutschland zeigen
deutlich, dass Sie Ihre Schwarzmalerei langsam einstellen sollten.
Aber die Entwicklung zeigt auch - das sehen wir zum
Beispiel am Arbeitsmarkt, auf dem es, wenn auch nur
Schritt für Schritt, vorwärts geht -, dass wir die erfolgreichen Reformen, die in die richtige Richtung gehen,
definitiv fortsetzen müssen, dass wir in den Reformanstrengungen nicht nachlassen dürfen. Der Minister hat
hier eine zentrale Zielmarke in den Raum gestellt, die
wir in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen
müssen: Das Senken der Lohnnebenkosten auf unter
40 Prozent.
({8})
Das ist extrem wichtig für den Arbeitsmarkt, aber es ist
auch ein extrem schwerer Schritt. Wir haben es in den
letzten Jahren immerhin geschafft, den CDU-Trend der
90er-Jahre, steigende Lohnnebenkosten, zu stoppen und
ein wenig umzukehren.
({9})
Eingedenk zentraler Rahmenbedingungen wie der
schwierigen demographischen Entwicklung und im
Sinne unserer politischen Zielsetzung, weiterhin belastbare, sichere soziale Sicherungssysteme zu haben, müssen wir jetzt mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme fortfahren. Das ist eine sehr schwere Aufgabe,
deren Lösung noch einige Jahre dauern wird. Auch dazu,
lieber Herr Pofalla, habe ich von Ihnen nichts gehört.
Das ist auch gut so. Ich kann verstehen, dass Sie den
CDU-Murks zur Reform der Krankenversicherung nicht
vorgetragen haben. Ich kann auch verstehen, dass Sie
sich zu den notwendigen Reformen, die jetzt zeitnah anstehen, etwa jener der Pflegeversicherung, nicht geäußert haben. Aber da, wo Sie sich geoutet haben, wo Sie
einmal den Mut gehabt haben, über Ihre eigene Forderung nach Senkung der Lohnnebenkosten auf unter
40 Prozent zu sprechen, da war das, was Sie uns vorgetragen haben, wirklich traurig.
Sie haben gesagt, wir sollten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung hier und sofort um 1,5 Prozent auf
5 Prozent senken. Sie haben aber nicht gesagt, wie Sie
das finanzieren wollen bzw. wie Sie das Geld woanders
einsparen wollen. Alle in diesem Saal wissen, warum Sie
hier schweigen. Das ist nämlich exakt die Summe - etwa
20 Milliarden Euro -, die notwendigerweise in die
aktive Arbeitsmarktpolitik gesteckt wird, um die Menschen, die viel zu lange arbeitslos waren, mithilfe von
Qualifizierung, Umschulung, Lohnkostenzuschüssen
oder auch den von Ihnen so beklagten Zuschüssen für
Existenzgründungen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Mit Ihrer Strategie, die Sie hier inhaltlich nicht
aufbauen, kappen Sie für die Langzeitarbeitslosen die
Brücken in den Arbeitsmarkt. Leider haben Sie nicht den
Mut, das hier deutlich zu sagen.
({10})
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja, ich denke an die Zeit. - Eines möchte ich Ihnen
noch sagen, weil Sie auch das hier bestritten haben: Die
im Jahreswirtschaftsbericht belegten Indikatoren zeigen
deutlich, dass die Reformen gewirkt haben. Die
Schwarzarbeit ist definitiv zurückgegangen.
({0})
Im europäischen Vergleich sind wir übrigens das einzige
Land, das 2003 bei der Entwicklung der Schwarzarbeit
einen Knick aufweisen kann.
({1})
Die Beschäftigtenzahlen steigen langsam, und zwar auch
durch eine höhere Quote bei der Selbstständigkeit. Die
Differenz zwischen Neugründungen und Insolvenzen ist
positiv. Die Zahl der Neugründungen in diesem Land
steigt weiter.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schlusssatz
kommen.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.
({0})
Wir haben noch vieles zu lösen,
({1})
zum Beispiel die Probleme mit den Hinterlassenschaften
bei den Zuverdienstmöglichkeiten. Wir werden darangehen, die Brücken in den Arbeitsmarkt zu stärken.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
({0})
- Die FDP hat bisher am meisten überzogen, Herr
Niebel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Dückert, Sie haben hier die Aussage getroffen, dass Kollege Pofalla in seiner Rede ständig
schwarz gemalt habe.
({0})
Damit liegen Sie weit daneben. Es war eine fulminante
und richtungsweisende Rede,
({1})
in der er vor allen Dingen aufgezeigt hat, welche Politik
die Bundesrepublik Deutschland braucht, um in der Welt
künftig besser dazustehen, um bei uns Arbeitsplätze zu
sichern und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen.
({2})
Verehrter Herr Minister Clement, im Geleitwort zum
Jahreswirtschaftsbericht schreiben Sie unter anderem:
Die Bundesregierung trägt mit den Maßnahmen der
Agenda 2010 dazu bei, dass der Investitionsstandort Deutschland attraktiv bleibt usw.
({3})
Das ist er aber nicht.
({4})
Wir brauchen deshalb keine Agenda 2010, sondern eine
Agenda für 2005; denn in wenigen Wochen erreichen
wir in der Bundesrepublik Deutschland mit ungefähr
5 Millionen Arbeitslosen die höchste Arbeitslosigkeit
seit Bestehen der Republik. Hier können wir nicht weiter
zusehen.
({5})
Wir verlieren jeden Tag über 1 000 Arbeitsplätze. Jeden Tag gehen weitere 100 Betriebe über die Wupper.
({6})
Jeden Tag wächst die Staatsverschuldung um
250 Millionen Euro. Jeden Tag zahlen die Bundesbürger
über 100 Millionen Euro nur an Zinsen.
({7})
- Herr Kollege Stiegler, nehmen Sie das einmal zur
Kenntnis und seien Sie bereit, hier eine Umsteuerung
vorzunehmen! - Jeden Tag zahlen die mittelständischen
Betriebe 165 Millionen Euro Ökosteuer. Jeden Tag
wächst die Bürokratie weiter. Des Weiteren ist anzuklagen, dass die Verschuldung der Bundesrepublik
Deutschland allein seit 1998 um 13 Prozent gestiegen
ist.
({8})
- Ich spreche von 1998 bis jetzt. - Von 1999 bis jetzt
sind über 203 000 Unternehmen in Konkurs gegangen.
Lassen Sie mich dazu einen Vergleich anstellen: In dem
Zeitraum zwischen 1993 und 1998 haben 112 000 Unternehmen Konkurs angemeldet, also etwa die Hälfte. So
weit sind wir schon gesunken. So weit haben Sie die
Bundesrepublik Deutschland nach unten geritten. Das
kann so nicht weitergehen. Wir wollen umsteuern. Deshalb bringen wir Konzepte ein, die in die richtige Richtung weisen.
({9})
Allein im letzten Jahr sind über 400 000 Arbeitsplätze
verloren gegangen. Seit 1998 ist die Zahl der versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse um 1,4 Millionen
gesunken. Dafür brauchen Sie sich nicht zu rühmen.
Unser Wirtschaftswachstum ist das niedrigste in der
Europäischen Union. Allein das Handwerk befürchtet in
diesem Jahr den Verlust von weiteren 200 000 Arbeitsplätzen.
({10})
Das ist eine Negativzahl nach der anderen. Aber Sie,
Herr Minister Clement, malen ein rosarotes Bild, als
wäre alles in Ordnung.
({11})
Wie schreibt Friedrich Schiller, dessen 200. Todestag
wir dieses Jahr gedenken? „Herr, dunkel war der Rede
Sinn.“
({12})
Auch das sei Ihnen ins Gedächtnis gerufen.
Herr Clement, seit drei Jahren versprechen Sie eine
Wende auf dem Arbeitsmarkt und bei den Staatsfinanzen. Was haben Sie erreicht? Ihre Politik - das sagte ich
soeben - macht die Bürger arbeitslos und arm. Sie und
Bundeskanzler Schröder können es einfach nicht. Frau
Kollegin Wöhrl hat zu Recht gesagt, dass wir alle auf
das Jahr 2006 warten, in dem eine Wende kommen wird
und wir die Bundesrepublik Deutschland auch auf wirtschaftlichem Gebiet wieder nach vorne bringen werden.
Mit Schönreden allein ist es nicht getan. Bedauerlich
ist nur, Herr Minister, dass Sie das, was Sie uns sagen,
selbst glauben.
({13})
Dazu fällt mir ein Sprichwort ein, das ich entsprechend
abwandeln möchte: Kräht der Clement wie der Gockel
auf dem Mist, dann ändert sich die Wirtschaft, aber sie
bleibt, wie sie ist.
({14})
- Das habe ich speziell auf Herrn Clement umgemünzt.
Ich darf bei dieser Gelegenheit noch sagen: Ein Land
nach dem anderen überholt uns beim Wohlstand: Das
Wirtschaftswachstum in den USA beträgt 4,4 Prozent,
({15})
in Großbritannien 4,4 Prozent und in Frankreich
2,5 Prozent. Der österreichische
Deutschland liegt bereits weit hinter
uns. - Ist das für diese Bundesregierung nicht ein Armutszeugnis? Wir können ja nichts dafür.
Sie in der Regierung haben in Ihrer Regierungszeit
viele Fehler gemacht. Das ging los mit dem Scheinselbstständigengesetz, der Abschaffung der 630-DM-Regelung, der Aufblähung der Mitbestimmung, dem
Rechtsanspruch auf Teilzeit - allein dadurch sind
250 000 Arbeitsplätze verloren gegangen - und der Einführung der Ökosteuer. Sie haben die Bürokratie ausgeweitet, anstatt sie abzubauen. Sie haben die Investitionshaushalte gekürzt und Sie haben die Ich-AGs eingeführt.
Meine Damen und Herren, was bringen uns diese
180 000 vom Staat subventionierten Ich-AGler mit einem Kostenvolumen von circa 1 Milliarde Euro? Die
Ich-AGs bringen die regulären Betriebe in Schwierigkeiten, die brav und fleißig Steuern und Sozialabgaben zahlen, damit die Ich-AGs überhaupt finanziert werden können. Da stimmt doch etwas nicht.
({0})
Die Wirtschaftskrise hat praktisch alle Bereiche erfasst.
({1})
Im letzten Jahr sind in der Bauwirtschaft 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Für dieses Jahr ist ein weiteres
Minus von 32 000 Arbeitsplätzen zu erwarten. Ich
meine, so kann es doch nicht weitergehen. Herr
Clement, ich bitte Sie, dies endlich zu verstehen, die
Probleme zu erkennen und die Sorgen und Nöte der Bürger ernst zu nehmen.
In dieser Zeit, in der wir alle bei Neujahrsempfängen
als Redner auftreten,
({2})
ergibt sich vielfach die Möglichkeit und Gelegenheit,
nach der Veranstaltung mit den Anwesenden zu sprechen. Da kommen Klagen über Klagen. Es kann nicht
weggewischt werden, dass zum Beispiel das Handwerk
- das Rückgrat des Mittelstandes - mit dem Rücken zur
Wand steht. Ein Drittel der Betriebe macht keinen Gewinn mehr. Allein in den letzten fünf Jahren hat das
Handwerk 20 Prozent seiner Beschäftigten verloren. Es
fällt auf den Stand der 70er-Jahre zurück. Es ist kein
Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Frau Kollegin Wöhrl hat darauf hingewiesen, was wir
brauchen. Wir brauchen vermehrt Innovationen. Wir
müssen - das soll gerade im Einsteinjahr nachdrücklich
gesagt werden - mehr für die Bildung tun. Da sind wir
alle zusammen gefordert, ganz gleich, auf welcher Seite.
({3})
Deshalb darf es in Bezug auf PISA für uns alle nicht
„Geiz ist geil“ heißen, sondern es muss „Geist ist geil“
heißen. Daran müssen wir arbeiten.
({4})
Ich habe die Rede von Herrn Minister Clement aufmerksam verfolgt. Ich habe festgestellt, dass sie vieles an Inhalt hatte, aber keine einzige Vision. Herr Minister, ich
möchte wissen, wie Sie die Probleme der Bundesrepublik Deutschland bewältigen wollen, damit es wieder
besser wird.
Was ist deshalb insbesondere für den Mittelstand zu
tun? Ich meine, sechs Vorhaben müssen ganz oben stehen, nämlich einmal die Arbeitslosigkeit reduzieren,
dann die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland
stoppen und die Verschuldung und Bürokratie abbauen,
wie es mein Heimatland Bayern macht. Da kann die
Bundesregierung lernen, wie man vernünftige Politik
macht.
({5})
- Da brauchen Sie, Herr Pronold, überhaupt nichts zu sagen, Sie 17-Prozent-Mann. Sie haben das niedrigste
Wahlergebnis in der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Immer den Mund aufreißen, aber keine Ahnung
haben und nichts verstehen.
({6})
Es gilt vor allen Dingen die Ich-AGs abzuschaffen,
den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und das Betriebsverfassungsgesetz auf den Prüfstand zu stellen, daraus
Konsequenzen zu ziehen und es anders auszurichten.
({7})
Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland
eine dritte Aufbruchstimmung, eine Aufbruchstimmung, wie wir sie nach der Fußballweltmeisterschaft
1954 hatten und wie wir sie nach der Wiedervereinigung
im Jahre 1990 hatten. Ich hoffe, dass die dritte Aufbruchstimmung spätestens im Jahre 2006 kommt.
({8})
Lassen Sie mich nochmals Schiller zitieren. In „Don
Carlos“ von Schiller heißt es: „Kardinal! Ich habe das
Meinige getan. Tun Sie das Ihre!“ In Abwandlung dieses
Zitats, sage ich Ihnen, Herr Minister: Minister! Ich habe
das Meinige getan! Tun Sie das Ihre! Machen Sie eine
vernünftige Politik, damit es in der Bundesrepublik
Deutschland auch in Sachen Wirtschaft endlich wieder
nach oben geht!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hinsken hat seine Rede
mit den Worten beendet: Wir brauchen eine dritte Aufbruchstimmung. - Bei der Schwarzmalerei
({0})
kann es keine Aufbruchstimmung geben. Wenn jemand
so schwarz malt, dass er im Kohlenkeller noch Schatten
wirft, Herr Hinsken, dann kann keine Bewegung in diesem Land entstehen.
({1})
Das ist eine Rede gegen die Wirklichkeit in diesem Land
gewesen; denn tatsächlich ist die Schwächephase überwunden, tatsächlich haben wir den Pfad des kontinuierlichen Wachstums beschritten. Das hängt konkret mit unserer Politik zusammen. Umfassende Konzepte sind
gefragt und wir sind in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die sich ergänzen müssen, mit umfassenden Konzepten angetreten. Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungspolitik bedingen sich gegenseitig.
Ich will gerne auf das eingehen, was Frau Wöhrl angesprochen hat, nämlich dass Hartz IV nur zu einer besseren Vermittlung führe. Genau darin liegt der Casus
knacksus, um es deutlich zu sagen.
({2})
Natürlich ist bei der Arbeitsmarktpolitik das Vermittlungsgeschäft wesentlich. Wir alle wissen, dass durch
bessere Vermittlung freie Arbeitsplätze deutlich schneller und besser besetzt werden können. Es sind
300 000 Arbeitsplätze gemeldet, das IAB und manche
Unternehmensverbände gehen von 900 000 freien Stellen aus. Wenn wir also rund 1 Million freier Arbeitsplätze durch eine qualifiziertere Vermittlung besetzen
können, dann organisieren wir einen Wachstumsschub in
diesem Land. Wir sollten die Angelegenheit nicht kleinreden.
({3})
Es gibt ein viel zu hohes Potenzial an Überstunden.
Auch insofern kann die Arbeitsmarktpolitik natürlich
Implikationen für die Beschäftigungspolitik liefern.
Auch gibt es in diesem Lande, was alle beklagt haben,
zu wenige Existenzgründungen. Jetzt hat die Arbeitsmarktpolitik Facetten dafür geliefert, zusätzliche Beschäftigung durch Existenzgründungen zu organisieren.
Das reden Sie jetzt schon wieder klein. Statt zu helfen,
statt notfalls unterstützend tätig zu sein, sodass der Bestand dieser Existenzgründungen gesichert wird, tun Sie
wieder so, als wäre die Arbeitsmarktpolitik nur eine
Frage besserer Vermittlung. Sie ist viel mehr. Sie liefert
beschäftigungspolitische Implikationen, und zwar in einem außerordentlich großen Maß.
({4})
Wenn wir über Beschäftigungspolitik reden, dann
möchte ich Ihnen auch klar sagen, dass unsere Agenda 2010 neben der Arbeitsmarktpolitik natürlich noch
viele andere beschäftigungspolitische Implikationen hat,
weil wir auch die Sozialpolitik den neuen Herausforderungen anpassen. Das haben Sie bisher nicht geschafft,
wie Sie selbst nur zu gut wissen. Auf Details dazu werde
ich noch eingehen.
Richtig ist doch, dass Arbeitsmarktpolitik mit einer
nachhaltigen Beschäftigungspolitik ergänzt werden
muss, damit die Arbeitslosigkeit in diesem Land reduziert werden kann. Aus internationalen Vergleichen wissen wir, dass es dabei keinen Königsweg gibt. Vielmehr
kommt es auf ein stimmiges Gesamtkonzept an. Der
Sachverständigenrat sagt in diesem Zusammenhang über
unsere Arbeitsmarktpolitik, dass dies die bedeutendsten
Reformen sind, die in den letzten Jahrzehnten durch eine
Regierung angepackt worden sind.
({5})
Auch die internationale Anerkennung dieser Reformen ist groß. Wir haben den Mut gehabt, diesen schwierigen Weg zu gehen. Menschen aus anderen Ländern
Europas fragen uns, woher wir den Mut dazu haben.
Sozialdemokraten werden von anderen Parteien nach
Brüssel eingeladen und gefragt, woher wir den Mut genommen haben, ob wir nicht Angst gehabt haben davor,
dass uns wegen dieses mutigen Schrittes die Mehrheit in
diesem Lande entzogen wird. Wir haben den Mut gehabt
und werden dafür belohnt werden, meine Damen und
Herren. Ihre Eierei gerade in der Arbeitsmarktpolitik
nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich
nicht nass!“ wird nicht erfolgreich sein.
({6})
Unser Leitmotiv, der aktivierende Sozialstaat, wird
mit dem Bild der Schaukel sehr schön beschrieben. Besser als Ludwig Stiegler das getan hat, kann ich das nicht
beschreiben. Aber ich weiß natürlich nur zu gut, Herr
Pofalla, dass eine Schaukel dann sicher ist, wenn man
sich mit ihr bewegt. Je schneller und stärker man sich
bewegt, umso mehr macht die Bewegung Spaß und
Freude. Vielleicht hatten Sie als Kind keine Schaukel.
Wir brauchen diese Bewegung in unserem Lande. Wir
müssen weg von „passiv“ und hin zu „aktiv“. Das ist der
Weg, den wir beschreiten müssen. Diesen Weg werden
wir mit unseren Reformen offensiv gehen. Insofern waren viele Ihrer Redebeiträge, sowohl der von Herrn
Pofalla als auch der von Herrn Brüderle, nichts anderes
als der Versuch, wieder etwas schlechtzureden, was nicht
so schlecht ist.
Damit meine ich auch die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. Das sage ich, obwohl wir uns darauf einstellen müssen, dass sie weiter steigen. Der Grund dafür
liegt vor allem darin, dass wir jetzt endlich eine ehrliche
Statistik haben, die ehrlichste, die es in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands gegeben hat.
({7})
- Herr Kollege, Sie wissen doch genau, dass Trainingsmaßnahmen und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einzeln ausgewiesen werden, dass die Statistik also
auch von daher völlig transparent ist.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Nein, ich möchte meinen Gedanken jetzt zu Ende
bringen.
Herr Pofalla hat eben wieder gesagt, wir hätten zurzeit den höchsten Stand der Arbeitslosigkeit seit der
Wiedervereinigung.
({0})
Nach einer dreijährigen Stagnationsphase, Herr
Austermann, gibt es in der Tat einen hohen Stand bei der
Arbeitslosigkeit. Aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis,
dass die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt des Jahres 2004 immer noch unter dem Niveau des Durchschnitts dessen war, was wir im Jahre 1997 von Ihnen
übernommen haben. Der Jahresdurchschnitt im letzten
Jahr Ihrer Regierungsverantwortung ist höher gewesen,
als er jemals war.
({1})
- Sie brauchen sich da gar nicht aufzuregen.
Bei den Lohnnebenkosten ist die Situation ähnlich.
Wir alle wissen, dass die Lohnnebenkosten für die internationale Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere aber für
die Dienstleistungen in diesem Land ein wichtiger Faktor sind. Deshalb haben wir die Sozialsysteme nachhaltig reformiert und werden den Reformprozess weiter vorantreiben. Sie sind aber auch ein sozialer Pfeiler unserer
Arbeit in Deutschland.
Angesichts der harten Daten müssen Sie zur Kenntnis
nehmen, dass in den 80er-Jahren - in Ihrer Regierungsverantwortung - die Lohnnebenkosten bei 32 Prozent lagen. In den 90er-Jahren sind sie von 35,5 Prozent auf
über 42 Prozent im Jahr 1998 gestiegen.
({2})
Wir haben in dieser Situation trotz der viel größeren
Herausforderungen einen Pfad der Kontinuität beschritten.
({3})
Die deutsche Wiedervereinigung ist in der Tat zu berücksichtigen. Der demographische Wandel hat sich verstärkt
und die Arbeitslosigkeit lag beständig auf einem hohen
Niveau. Aber unter diesen Bedingungen haben wir es
geschafft, die Lohnnebenkosten sechs Jahre lang zu stabilisieren und jetzt sogar systematisch zu senken.
({4})
Das ist die Leistung dieser Regierung.
Insofern besteht die beste Politik, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen, in Investitionen in Bildung, Ganztagsschulen und in einer Innovationsoffensive, um die Grundlagen für ein nachhaltiges
Wirtschaftswachstum zu schaffen. Dafür treten wir ein
und das ist der Weg, den wir kontinuierlich weiter beschreiten werden.
({5})
Lassen Sie mich etwas zu den Ausführungen von
Herrn Pofalla zur Arbeitslosenversicherung anmerken.
In einem Presseartikel hat er gefordert, den Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung auf 5 Prozent zu senken. In
dem Artikel heißt es weiter, dass er eigentlich 4 Prozent
betragen müsste. Man muss sich einmal eine Vorstellung
davon machen, was das konkret bedeuten würde. Eine
Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf
4 Prozent der Grundlohnsumme hätte einen Rückgang
der Beitragseinnahmen um 18,75 Milliarden Euro zur
Folge. Konkret bedeutet das, die aktive Arbeitsmarktpolitik, durch die Menschen in Beschäftigung kommen und
für die wir zurzeit 14,1 Milliarden Euro ausgeben, zu ändern. Wer diesen Vorschlag ernsthaft verfolgt, muss dazu
sagen, dass er das Arbeitslosengeld kürzen und keine aktivierenden Maßnahmen mehr anbieten will. Wer das
will, der will die Bundesagentur für Arbeit aufgeben und
zu einer reinen Lohnausfallversicherungsanstalt machen.
Wer das will, muss mit dem erbittertsten Widerstand der
Sozialdemokraten rechnen.
({6})
- Seien Sie doch froh, dass sie zurückgegangen sind.
Das ist doch ein Beleg dafür, dass die Effizienz der Arbeitsmarktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit kontinuierlich verbessert wird und dass nur die notwendigen
Ausgaben getätigt werden. Seien wir doch froh darüber,
statt es zu beklagen!
({7})
Mich hat allerdings überrascht, was in Fragen der Arbeitsmarktpolitik sonst üblich ist. Was zum Beispiel die
Altenpflegeausbildung angeht, hätten die Länder längst
reagieren müssen. Es ist doch interessant, dass auf der
einen Seite gefordert wird, Beiträge zu senken und keine
Mittel für entsprechende Maßnahmen mehr zur Verfügung zu stellen, und auf der anderen Seite im Parlament
in einem Antrag gefordert wird, den Ländern mehr Mittel zuzuweisen, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen können. Eine solche Politik dem Motto „Wasch mir
den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ können wir Ihnen
nicht durchgehen lassen, Herr Pofalla. Das ist Populismus - auch im Wahlkampf -, den wir offen ansprechen
und Ihnen nicht durchgehen lassen werden.
({8})
Lassen Sie mich kurz auf einige weitere Punkte zu
sprechen kommen.
Nein, Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Ihnen bleibt nur noch die Zeit für einen
Schlusssatz.
Dann will ich mich auf die Feststellung beschränken,
dass unsere Reformen für den Fortschritt stehen. Das ist
auch schon deutlich geworden. Bei dem von Herrn
Pofalla vorgetragenen Reformkonzept handelt es sich
um nichts anderes als um ein Abbaukonzept, das Angst
macht. Wir brauchen aber Mut in der Gesellschaft. Wir
müssen dafür eintreten, dass Reformen in der Gesellschaft wieder als etwas Positives begriffen werden. Wir
haben dafür den Grundstock gelegt und werden in dieser
schwierigen Phase mit Mut und Zuversicht dafür sorgen,
dass Deutschland in der Aufwärtsentwicklung bleibt.
({0})
Es befindet sich nicht im freien Fall, wie es hier dargestellt worden ist. Ich lade Sie dazu ein, dabei konstruktiv
mitzuhelfen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung für
das Jahr 2005 gibt eine vorsichtige Wachstumsprognose
für das Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 1,7 Prozent
an. Zugleich wird eine noch höhere Arbeitslosenzahl als
2004 angenommen. Der Trend ist also genau umgekehrt,
als noch im Herbst vorausgesagt und auch im Deutschen
Bundestag von der Bundesregierung verkündet wurde.
Das Hauptproblem für 4,5 bis 5 Millionen unmittelbar
Betroffene und damit auch eines der Kardinalprobleme
für die Sozialsysteme bleibt also unverändert riesengroß.
Die Massenarbeitslosigkeit nimmt sogar zu. Das ist das
belastende Minus der Wachstumsprognose der Bundesregierung.
Als Wirtschaftshemmnisse wird gern auf die hohen
Ölpreise und den im Vergleich zum Dollar zu starken
Euro verwiesen. Dass beide Faktoren Einfluss auf die
Wirtschaft und ihre Entwicklung haben, liegt auf der
Hand. Aber das sind nicht die einzigen Faktoren, die
hemmend wirken. Die entscheidende Schwachstelle ist
nach wie vor der Binnenmarkt. Diese Schwachstelle ist
hausgemacht; denn die Agenda-2010-Politik der Bundesregierung stärkt nicht den Binnenmarkt, sondern
schwächt ihn weiter. Allein durch Hartz IV und das
Arbeitslosengeld II wurden dem Binnenmarkt Milliarden Euro an Kaufkraft entzogen. Das senkt die Nachfrage und gefährdet insbesondere kleine und mittelständische Betriebe. Ergo sind weitere Arbeitsplätze
gefährdet und es werden keine neuen geschaffen. Deshalb hat die PDS im Bundestag immer gesagt: Hartz IV
ist nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten falsch.
Hartz IV ist vielmehr auch in wirtschaftlicher Hinsicht
kontraproduktiv, allemal in ohnehin strukturschwachen
Regionen, und zwar sowohl im Osten als auch im Westen der Republik.
Obendrein werden Begehrlichkeiten geweckt, die unter dem Strich ebenfalls negativ zu Buche schlagen werden. Die so genannten 1-Euro-Jobs für Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Bereich der gemeinnützigen
Leistungen waren noch nicht einmal eingerichtet, da
riefen schon die Unternehmerverbände: Hier sind wir!
1-Euro-Jobs sollten auch in der Wirtschaft geschaffen
werden, so die gesetzwidrige Forderung. Ausgerechnet
der für den Aufbau Ost zuständige Minister Stolpe
wurde in der vergangenen Woche mit den Worten zitiert,
er könne sich das gut vorstellen.
Die PDS lehnt dies konsequent ab. Wir fordern stattdessen, alles zu unterlassen, was Lohndumping befördert, die Kaufkraft der Beschäftigten senkt und den Binnenmarkt weiter schwächt. Es ist höchste Zeit für eine
Grenze, damit Beschäftigte von ihrer geleisteten Arbeit
wirklich leben können. Deshalb begrüße ich, dass nach
Verdi nun auch die IG Metall wieder über einen gesetzlich fixierten Mindestlohn nachdenkt. Nach Berechnungen vieler Sozialwissenschaftler müsste ein Mindestlohn
oberhalb von 1 400 Euro brutto angesiedelt werden. Die
PDS schließt sich dieser Auffassung an. Ich erwarte von
den Fraktionen der SPD und der Grünen, dass sie sich
ebenfalls in Richtung eines Mindestlohngesetzes bewegen.
Es gibt weitere Faktoren, die ihre Schatten vorauswerfen und auf soziale Standards zielen sowie den Binnenmarkt weiter schwächen werden. Ich verweise nur
auf die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Bleibt sie so, wie
sie derzeit geplant ist, dann wird sie einen EU-weiten
Wettlauf um niedrigste Sozial- und Umweltstandards eröffnen. Das ist weder im Sinne der Bürgerinnen und
Bürger noch im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.
Deshalb fordert nicht nur die PDS: Die EU-Dienstleistungsrichtlinie muss gründlich überarbeitet werden, und
zwar auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung.
Zugleich gilt es, gemeinsam mit Polen und Tschechien die EU-Anschlussregionen gezielt und beschleunigt zu entwickeln, so wie es Berlin, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern mit der Oderregion gemeinsam vorhaben. Das ist umso dringlicher, als die anhaltende und notwendige EU-Förderung für ostdeutsche
Regionen zumindest bislang nicht gesichert zu sein
scheint. Die EU-Osterweiterung birgt große Chancen für
alle Beteiligten. Sie birgt aber auch Gefahren für ganze
Regionen. Auch das gehört zur Wirtschaftsprognose.
Schließlich werden der Binnenmarkt und die Wirtschaftsentwicklung so lange schwächeln, solange die
Kommunen als Auftraggeber ausfallen. Anders gesagt:
Wir brauchen eine Steuerreform, mit der die Nachfrage
angekurbelt und nicht weiter gedrosselt wird. Die rotgrüne Politik bewirkt allerdings das genaue Gegenteil.
Gerechtigkeit halber muss man allerdings sagen, dass
die bekannten Forderungen von CDU/CSU das Manko
sogar noch potenzieren würden.
Ich wiederhole: Die meisten Probleme, die wir heute
behandeln, sind in politischer Hinsicht hausgemacht.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pau, ein paar Sätze zu Ihnen. Ich glaube, dass Sie
sich mit dem Leugnen der Notwendigkeit struktureller
Veränderungen wirklich an dem versündigen, was Sie zu
tun vorgeben. Insbesondere gegenüber den Menschen in
Ostdeutschland geben Sie vor, deren Interessen zu vertreten. Derjenige, der sich der Gestaltung verweigert,
versündigt sich aber an den Menschen, die auf Arbeit
hoffen. Das muss man ganz klar feststellen.
({0})
Ich glaube und prognostiziere, dass sich der Optimismus von Wolfgang Clement und dieser Koalition durchsetzen wird. Das, was wir hier heute Morgen erlebt haben, nämlich die Premiere von Herrn Pofalla sozusagen
als Verkörperung der Opposition, hat eines deutlich gemacht: Die Opposition wird immer ideenloser und immer kraftloser. Das ist die Zustandsbeschreibung des
heutigen Tages.
({1})
Die Menschen in unserem Lande sind leider - das zeigen auch die Umfragen - verunsichert. Aber sie sehen
gleichwohl immer stärker die Notwendigkeit, Veränderungen vorzunehmen, um den gesellschaftlichen Wandel
zu gestalten. Außerdem sehen sie in dieser Koalition aus
SPD und Grünen immer stärker diejenige Kraft, die Erneuerung in sozialer Verantwortung in Deutschland anpackt und auch schafft. Auch das ist die Botschaft des
heutigen Tages.
({2})
Die Antwort der Opposition ist altbekannt: Sie besteht in schiefen internationalen Vergleichen; da werden
Äpfel mit Birnen verwechselt. Immer wieder wird die
Lokomotivfunktion der Bundesrepublik Deutschland
beschworen. Wann hatten wir denn diese Lokomotivfunktion? Das war Ende der 70er-Jahre, als Jimmy
Carter Helmut Schmidt sagte, Deutschland solle eine
solche Funktion übernehmen. Unter den zu Beginn der
80er-Jahre herrschenden Umständen hatte die Bundesrepublik Deutschland die Lokomotivfunktion.
Ich möchte, wie es Frau Merkel in den letzten Tagen
getan hat, die Statistik bemühen: Deutschland sei im
Ranking der OECD auf dem 18. Platz. Schauen Sie doch
einmal genau nach: Auf dem 18. Platz standen wir auch
1988, also vor der großen Aufgabe der Vereinigung. Das
ist die Wahrheit.
({3})
Sie werden dieses Spiel weiterspielen, und zwar mit
schiefen Vergleichen, die nicht weiterführen und die vor
allem eines nicht bewirken: dass die Probleme gelöst
werden und dass Menschen verstärkt in Arbeit kommen.
Das ist die Folge Ihres Schwarzredens und entsprechenden Handelns.
({4})
Ich glaube, dass das, was wir in den letzten Jahren unter der Überschrift „Agenda 2010“ verstärkt und auch
schon vorher angepackt haben - das zeigen der Jahreswirtschaftsbericht und auch die Äußerungen des Sachverständigenrates -, ein großer Schritt in die richtige
Richtung ist.
Das, was Sie, Kollege Pofalla, vorgetragen haben, bedeutet im Klartext: Lohnabbau, Sozialabbau, Abbau von
Arbeitnehmerrechten. In der gleichen Rede konfrontieren Sie uns mit tatsächlichen oder vermeintlichen Daten
aus dem Armuts- und Reichtumsbericht. Was meinen Sie
denn? Ihrer Auffassung nach sind unsere Standards doch
viel zu hoch.
({5})
Ich empfehle Ihnen einmal eine Stunde der Einkehr.
Offenkundig haben bisher weder die Oppositionsfraktion CDU/CSU noch die Oppositionsfraktion FDP ihre
Strategie gefunden. Das, was Sie hier geboten haben, ist
doch hilflos.
({6})
Da passt doch eines nicht zum anderen. Sie verbreiten
hier ökonomischen und gesellschaftlichen Unsinn.
Sie blenden zum Beispiel den Umstand aus - meine
Vorredner haben es schon erwähnt; der Sachverständigenrat hat diesen Bereich sehr intensiv bearbeitet; er hat
in seinem aktuellen Bericht noch einmal auf seine vorherigen Studien verwiesen -, dass die Situation in Ostdeutschland die Wachstumsperspektive Gesamtdeutschlands nach wie vor entscheidend tangiert. Das
betrifft die Arbeitslosigkeit, den Rückgang der Erwerbstätigkeit und die unterdurchschnittliche Zuwachsrate
Deutschlands beim Bruttoinlandsprodukt. Die Wahrheit
ist, dass der Aufholprozess in Ostdeutschland ins Stocken gekommen ist. Deswegen müssen wir dieses Stocken gemeinsam überwinden. Das bedeutet aber kein
Abschreiben des Ostens. Die Wiedervereinigung ist für
uns vielmehr ein historischer Glücksfall gewesen. Zur
Vollendung der Einheit brauchen wir weiterhin erhebliche West-Ost-Transfers.
Die CDU/CSU spielt das alte Spiel, indem sie behauptet, wir seien das wirtschaftliche Schlusslicht Europas. Das stimmt nicht. Wenn Sie sich die strukturellen
Probleme des Gesundheitswesens in Großbritannien und
bei der Rente und den Pensionen in anderen Ländern anschauen, werden Sie feststellen - das hat auch ein Mitglied des Sachverständigenrates, Frau Weder di Mauro,
kürzlich in einer Rede in Basel getan -, dass wir durch
die Anstrengungen der letzten Jahre inzwischen weiter
als andere europäische Staaten sind und dass wir das
Potenzial haben, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu
sichern. Nur wir, so der Sachverständigenrat, haben die
große Herausforderung der Bewältigung der Vereinigung wirklich schultern können. Keine andere europäische Volkswirtschaft wäre dazu in der Lage gewesen.
Deswegen haben wir auch das Potenzial, die Probleme
nach und nach zu lösen. Das Ausland sieht das so. Warum Sie das nicht so sehen und damit potenzielle ausländische Investoren sogar abschrecken, versteht im Ausland niemand.
Im Zusammenhang mit der Finanzpolitik und dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt frage ich: Warum haben
Sie, wenn der EU-Währungskommissar Almunia kein
Problem damit hat, die enorme Herausforderung der
deutschen Einheit zur Beurteilung der deutschen Finanzlage im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspaktes heranzuziehen, damit ein Problem?
({7})
Herr Pofalla oder Frau Merkel, Sie tragen vor, Sie
hätten tragfähige Konzepte zur Verbesserung der Wirtschaftsentwicklung und der Beschäftigung in Deutschland. Frau Merkel hat gesagt: „Der inhaltliche Diskussionsprozess in der Union war sicherlich nicht immer
einfach; aber diese Phase ist jetzt vorbei.“ Frau Merkel
ist klug genug, zu wissen, dass das, was sie da gesagt
hat, nicht stimmt. Es gibt in keinem einzigen Bereich ein
Unionskonzept, das die Differenzen und Widersprüche
zwischen CDU und CSU auflöst. Ihr so genanntes Steuerreformkonzept oder Ihr Gesundheitsreformkonzept kaschiert die Widersprüche, mehr nicht. Deswegen haben
Sie diese misslungenen Entwürfe auch in der Schublade
verschwinden lassen.
In der Anhörung des Finanzausschusses in der letzten
Woche wurde Ihnen noch einmal attestiert: Ihr Steuerreformkonzept ist unsozial, unfinanzierbar, fehlerhaft. Es
fehlt der gesamte Bereich der Unternehmensbesteuerung. Das wollen Sie bis zum Jahresende nachliefern.
Das heißt, Sie haben kein Konzept für Bereiche, für die
Sie sich reklamieren, ein Konzept zu haben.
({8})
Das gilt auch für den Bereich Familie. Jetzt endlich
wollen Sie ein Konzept zur Familienpolitik erstellen ebenfalls bis zum Jahresende. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was erzählen Sie im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf oder in Nordrhein-Westfalen oder überhaupt bis zum Ende des Jahres? Wie sind
Sie überhaupt konzeptionell aufgestellt? Sie konstatieren, dass Sie für die Familienpolitik noch etwas erarbeiten müssen.
({9})
Sie konstatieren, dass Sie für andere Bereiche noch etwas erarbeiten müssen. Sie sind weder inhaltlich noch
taktisch noch personell aufgestellt. Das ist Ihre Situation.
({10})
Ihr Prozess der inhaltlichen Klärung ist nicht abgeschlossen. Überall Fehlanzeige! Ihre rein mechanistische
Sichtweise des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts würde zur Schwächung von Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland führen. Auch in 2005 bleiben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
offensichtlich das, was Sie seit Jahren sind: unverbindlich und widersprüchlich. Das ist keine Alternative, jedenfalls keine Alternative, die man den Bürgerinnen und
Bürgern in der Bundesrepublik ernsthaft zumuten sollte.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich
Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Poß hat gefragt, was wir denn den Bürgern in
Schleswig-Holstein vor der Landtagswahl erzählen.
({0})
Ich will die Frage beantworten. Wir sagen ihnen: Frau
Simonis ist ökonomisch gescheitert. Wir sagen ihnen:
Die Bundesregierung ist ökonomisch gescheitert. Ich
will dafür den Beweis antreten.
Wir sind am Anfang einer Debatte oder am Ende einer Debatte,
({1})
die sich mit dem Jahreswirtschaftsbericht befasst, der im
Januar, also zu Beginn des Jahres, Aussagen darüber
trifft, in welche Richtung sich das Land entwickelt.
Wenden wir uns dem zu, was die Bürger am meisten betrifft! Ich vermute, das ist die Frage: Hast du Beschäftigung, hast du ein Einkommen, ja oder nein? Dazu erklärt
die Regierung im Jahreswirtschaftsbericht selbst, dass
die Zahl der Arbeitslosen, also der Menschen, die keine
Arbeit haben, im Jahresverlauf steigt.
({2})
Das heißt, die Situation verschlechtert sich, Herr Kollege
Stiegler.
({3})
Ich will Ihnen das konkret an einem Beispiel belegen.
Als der Bundeshaushalt für das Jahr 2005 aufgestellt
wurde, im Juni letzten Jahres, ging das Kabinett für dieses Jahr von einer Arbeitslosenquote von 4,2 Millionen
aus. Im Herbst kam die Bundesagentur zu dem Ergebnis,
dass sie 4,35 Millionen betragen wird. Der Jahreswirtschaftsbericht geht jetzt von knapp 4,6 Millionen Arbeitslosen aus. Das heißt, allein seit der Vorstellung des
Kabinettvorschlages für den Haushalt dieses Jahres hat
sich nach Einschätzung der Bundesregierung die Zahl
der voraussichtlich Arbeitslosen um 400 000 erhöht. Für
diesen Personenkreis zumindest hat sich also die persönliche Perspektive verschlechtert.
Der Kollege Hinsken hat das ein bisschen anders formuliert, indem er sagte: Rot-Grün macht arm und arbeitslos. Genauso ist das. Sie machen arm, weil ein größerer Teil der Bevölkerung weniger zu tun und damit
weniger Einkommen hat und weil die Zahl derjenigen
Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, immer größer wird.
Sie machen auch den Staat arm, denn der Versuch,
über hemmungsloses Schuldenmachen den Arbeitsmarkt
anzukurbeln,
({4})
hat ja nicht funktioniert. Wir haben die höchsten Schulden - 53,7 Milliarden Euro an Schulden hat der Bund im
letzten Jahr aufgenommen -, die wir je hatten, und wir
haben eine steigende Arbeitslosen- bzw. sinkende Beschäftigtenzahl. Dennoch wird hier immer wieder versucht, den Eindruck zu erwecken, dass man dadurch,
dass man irgendwoher einfach immer mehr Kredite aufnimmt, die Situation verbessern könnte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Spätestens nach ein bis zwei Jahren
rächt sich dieses Schuldenmachen auf grausame Weise.
So liegen die Wachstumserwartungen im Vergleich zum
Vorjahr schon niedriger.
Jetzt ist die Frage, welche Perspektiven der Wirtschaftsminister dafür aufgezeigt hat, dass es später besser wird. Wir sind es von ihm gewohnt, dass er jeweils
zu Beginn des Jahres sagt, die Situation im Moment
sieht zwar so und so aus, aber am Ende des Jahres wird
es 200 000 Arbeitslose weniger geben.
({5})
Im Jahreswirtschaftsbericht gibt es jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass das so kommen wird. Auch aus
Ankündigungen von konkreten Maßnahmen kann man
das nicht ableiten, denn es wurden keine konkreten Maßnahmen angekündigt. Der Einzige, der konkrete Vorschläge unterbreitet hat, wo man ansetzen könnte, um
über das Miniwachstum, das keine konkrete Verbesserung der Beschäftigungssituation mit sich bringt, hinauszukommen, war der Kollege Pofalla. Er hat ein ZehnPunkte-Programm vorgestellt.
({6})
Kein anderer, und erst recht niemand aus den Regierungsparteien, hat einen einzigen konkreten Vorschlag
gemacht. Sie haben nur über erneuerbare Energien und
Ähnliches gesprochen. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Der Kollege Schulz, der hier ein Gesicht
macht, als hätte er die konkreten Wirtschaftsdaten der
Bundesregierung gelesen, sagte, Sie hätten etwas für erneuerbare Energien getan. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben schon im Bereich erneuerbare Energie gehandelt, da
hatten Sie noch die Eierschalen der Göttinger Hausbesetzerszene abzustreifen. Da haben wir uns schon um
Windenergie, nachwachsende Rohstoffe und vieles andere mehr gekümmert.
({7})
Der Herr Kollege Schulz hat, wie ich glaube, mit Göttingen nichts zu tun.
({0})
Es ist erfreulich, dass die Präsidentin mitdenkt. Ich
will ganz klar sagen, wen ich gemeint habe: Es war der
Kollege Trittin. Wir waren beide zu der Zeit in Göttingen.
({0})
Damals musste ich als Stadtdirektor dafür sorgen, dass er
aus einem besetzten Haus verschwindet und sich ordentlichen Dingen zuwendet.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bin gefragt worden,
was wir in Schleswig-Holstein täten. Ich sage Ihnen
noch einmal: Was im Großen für den Bund gilt, gilt in
gleicher Weise für die rot-grün regierten Bundesländer.
Rot-Grün macht arm und arbeitslos. In Schleswig-Holstein gibt es 40 000 Arbeitslose mehr als zu der Zeit, als
Frau Simonis Ministerpräsidentin wurde.
({2})
Im letzten Jahr haben 10 000 Menschen ihre Beschäftigung verloren. Innerhalb eines Jahres 10 000 Menschen!
Die Situation bezüglich der Armut ist so schlimm, dass
45 000 Kinder in Schleswig-Holstein heute Sozialhilfe
beziehen.
Sie haben sich auf aktuelle Daten bezogen. So hat der
Wirtschaftsminister darauf verwiesen, dass die GfK herausgefunden hat, dass es im Dezember eine Veränderung beim Konsum gegeben hat. Das hängt wohl irgendwie mit Weihnachten zusammen. Schauen Sie sich einmal die tatsächliche Situation an. Heute konnte man in
einer neuen Studie lesen, dass sich die Kluft zwischen
Arm und Reich seit der Amtsübernahme durch die rotgrüne Bundesregierung vergrößert habe.
({3})
Deutlicher kann man, glaube ich, gar nicht darstellen,
dass Sie auf dem falschen Wege sind.
Die Energiepolitik ist hierfür ein gutes Beispiel. Der
Wirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein redete davon, dass er im ersten Halbjahr 2004 im Vergleich zum Jahr 2003 ein gutes Wirtschaftswachstum gehabt habe. Worauf ist das zurückzuführen? Im ersten
Halbjahr 2004 war das Kernkraftwerk Brunsbüttel am
Netz, im ersten Halbjahr 2003 nicht. Indem Sie mit Ihrer
Wirtschaftspolitik für höhere Strompreise und insgesamt
für höhere Energiekosten sorgen, verschlechtern Sie zugleich die Situation der Menschen und der Betriebe.
Lassen Sie mich abschließend ein Beispiel nennen,
das meines Erachtens deutlich macht, wo und wie etwas
falsch läuft und warum es anders laufen muss. Die Firma
Dräger in Lübeck, die 1 500 Mitarbeiter beschäftigt,
überlegte, mit dem Teilkonzern Dräger Medical nach
Tschechien zu gehen. Man hat mit dem Betriebsrat verhandelt. Die Ministerpräsidentin des Landes SchleswigHolstein hat - das war ihr einziger Beitrag zu diesem
Thema - die Geschäftsleitung beschimpft. Nach langem
Hin und Her gab es eine Einigung zwischen Betriebsrat
und Geschäftsleitung. Jeder hat gedacht, damit sei die
Kuh vom Eis. Wochen später jedoch war in der Zeitung
zu lesen, der Aufsichtsrat könne das Projekt noch nicht
abschließen, weil der Bundesvorstand der IG Metall in
Frankfurt noch keinen Termin gefunden habe, um sich
mit dem Vorhaben zu befassen.
Wenn Sie etwas für die Wirtschaft tun wollen, dann
sorgen Sie dafür - das hat der Kollege Pofalla vorhin gesagt und das hat ja auch der Bundeskanzler im Rahmen
seiner Agenda 2010 einmal angekündigt -, dass betriebliche Bündnisse möglich sind! Sorgen Sie dafür, dass in
den Betrieben selbst entschieden wird, was für die Betriebe gut und richtig ist, und dass nicht Gewerkschaftsfuzzis weit weg darüber entscheiden, was zum Wohle
- in diesem Falle: zum Schaden - des Landes gemacht
wird.
Rot-Grün macht arm und arbeitslos und die Büchsenspanner der Gewerkschaften stehen dabei und reiben
sich die Hände. Das muss anders werden, damit es in
Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland besser
wird.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4700 und 15/4300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbrechen wirksam bekämpfen - Genetischen
Fingerabdruck konsequent nutzen
- Drucksachen 15/2159, 15/4732 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Christine Lambrecht
Dr. Norbert Röttgen
Jerzy Montag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
vernehme keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So tragisch die Ermordung Rudolph Moshammers war, so erfreulich ist die rasche Aufklärung des Verbrechens. Wir
verdanken sie der DNA-Analyse einer Körperspur, die
am Tatort - genauer gesagt: am Tatwerkzeug - gefunden
wurde, und dem Abgleich mit einer bereits beim BKA
gespeicherten Spur. Der Beschuldigte hatte sie in einem
anderen Strafverfahren zuvor abgegeben. Er konnte
rasch identifiziert werden. Hätte diese Identifizierung
nicht erfolgen können, hätten möglicherweise langwierige Vernehmungen und Untersuchungen erfolgen müssen. Das gesamte Milieu hätte befragt werden müssen.
Wir wissen nicht, ob die Straftat überhaupt aufgeklärt
worden wäre.
({0})
Die DNA-Analyse ist keine Wunderwaffe beim
Kampf gegen das Verbrechen. Aber sie ist ein äußerst
wirksames Instrument, um Straftaten aufzuklären, Straftäter zu überführen, neue Straftaten zu verhindern, aber
auch zu Unrecht Verdächtigte zu entlasten. In den USA
sind über 100 rechtskräftig zum Tode verurteilte „Straftäter“ durch DNA-Analysen entlastet und dann entlassen
worden. In Deutschland wurden zwischenzeitlich dank
der DNA-Analyse 18 000 Straftaten aufgeklärt, darunter
340 Tötungsdelikte und 820 Sexualstraftaten.
Wir registrieren in Deutschland 6,5 Millionen Straftaten pro Jahr. Seit drei Jahren steigt diese Zahl an. Die
Gewerkschaft der Polizei schätzt, dass nur jede zehnte
Straftat entdeckt und zur Anzeige gebracht wird. Die
Aufklärungsquote beträgt nur 53 Prozent. Am höchsten
ist sie in Bayern mit fast 65 Prozent. Allein der Freistaat
Bayern hat 20 Prozent aller DNA-Datensätze an das
BKA geliefert.
Zu viele Straftaten bleiben unaufgeklärt; zu viele
Straftäter kommen ungeschoren davon. Das wollen wir
ändern. Wir wollen Deutschland sicherer machen.
({1})
Wir wollen die Bürger besser, als es zurzeit möglich ist,
vor Straftaten schützen. Dabei kann der so genannte genetische Fingerabdruck helfen. Deswegen wollen wir
ihn zukünftig stärker nutzen, als es derzeit möglich ist.
Die jetzige Rechtslage ist zu restriktiv. Die Voraussetzungen für die Abnahme und Speicherung sind restriktiver, als sie aus rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Gründen sein müssten.
Der genetische Fingerabdruck ist der Fingerabdruck
des 21. Jahrhunderts. Deshalb wollen wir ihn zur Standardmaßnahme bei jeder erkennungsdienstlichen Behandlung machen.
({2})
Das heißt, nicht jeder Täter, nicht jeder Beschuldigte,
nicht jeder Tatverdächtige muss eine Speichelprobe abgeben, sondern nur derjenige, der ohnehin erkennungsdienstlich behandelt wird. Die immer wieder gerne aufgestellte Behauptung, zukünftig müsse jeder Eierdieb,
jeder Ladendieb und jeder Schwarzfahrer
({3})
eine Speichelprobe abgeben, erfüllt den Tatbestand des
groben Unfugs. Man möge hier einmal die Namen der
Eierdiebe und der Schwarzfahrer nennen, die in den vergangenen Jahren erkennungsdienstlich behandelt worden sind. Das alles ist Unfug. Nur 12,7 Prozent aller Beschuldigten werden erkennungsdienstlich behandelt, das
heißt, die große Masse nicht.
Im Übrigen ist die im „Tagesspiegel“ gemachte Aussage, dass die Union einen DNA-Test für alle Verdächtigen fordert, schlicht falsch. Wer gute Argumente hat,
braucht keine absurden heranzuziehen. Wer absurde benutzt, hat keine guten.
({4})
Zudem ist es schlicht falsch, dass die Polizei wahllos
und willkürlich erkennungsdienstliche Maßnahmen
durchführen kann. Sie kann es nur, wenn die Voraussetzungen der Strafprozessordnung gegeben sind. Zurzeit
umfassen diese Maßnahmen die Abnahme des klassischen
Fingerabdrucks, die Aufnahme des berühmten dreigeteilten Bildes und die Beschreibung körperlicher Merkmale. Hinzutreten soll der so genannte Mundschleimhautabstrich, die genetische Analyse. Mehr ist nicht
geplant.
Die dagegen vorgebrachten Argumente überzeugen
nicht. Das erste Argument ist die viel beschriebene
Angst vor dem gläsernen Menschen. Wir wollen keinen gläsernen Menschen; wir wollen keinen Überwachungsstaat. Wir haben vor 15 Jahren einen Überwachungsstaat abgeschafft.
({5})
Beim BKA gibt es 80 000 anonyme Datensätze und
300 000 bekannte Personen. Da müssten wir in Deutschland 300 000 gläserne Menschen haben. Sagen Sie uns
doch einmal, wo diese 300 000 gläsernen Bürger sind!
Was wissen wir von ihnen außer einer Zahlenkombination, die beim BKA gespeichert ist?
Schon die Bezeichnung „genetischer Fingerabdruck“
ist falsch. Untersucht werden nicht die Gene, die Träger
von Erbinformationen, sondern das Füllmaterial dazwischen, der nicht codierende Teil des menschlichen
Erbgutes. Was kann man damit machen?
({6})
Man kann die Spur einer Person zuordnen oder man
kann ausschließen, dass die Spur von einer bestimmten
Person stammt. Das ist exakt das Gleiche wie beim klassischen Fingerabdruck. Es gibt eine Ausnahme: Man
kann noch das Geschlecht bestimmen. Das ist alles;
mehr ist naturwissenschaftlich nicht möglich.
({7})
Wer daran einen Zweifel hat, lese den „Stern“ - er ist
hundertprozentig politisch korrekt und eine Lieblingslektüre von vielen - von dieser Woche, Seite 148/149.
Das zweite Argument ist, dass man falsche Spuren
legen kann. Das ist das Lieblingsargument der Bundesjustizministerin. Es ist ein geniales Argument; denn es
stimmt. Aufgrund dieses Arguments muss man aber
auch den klassischen Fingerabdruck verbieten. Es gibt
doch beim Legen falscher Spuren keinen Unterschied
darin, ob ich eine Kippe mit Speichel oder eine Zigarettenpackung mit einem Fingerabdruck am Tatort deponiere. In beiden Fällen kann man falsche Spuren legen.
Das dritte Argument ist, dass jemand zu Unrecht in
Verdacht geraten kann. Richtig, das kann auch beim
klassischen Fingerabdruck der Fall sein. Wer so argumentiert, unterstellt den ermittelnden Polizeibeamten
nichts anderes, als dass sie ihre Arbeit nicht beherrschen.
({8})
Es ist doch einfach Unfug, zu sagen: Spur gefunden,
Spur analysiert, Spur verglichen, Täter gefunden! Nein,
es muss doch gefragt werden: Hatte der Verdächtige eine
Tatgelegenheit? Hatte er ein Tatmotiv? Wo war er zum
besagten Zeitpunkt? Das alles gehört doch zur Arbeit der
ermittelnden Polizeibeamten. Die DNA-Spur ersetzt die
Kriminalistik nicht.
Dann kommt das vierte Argument, das Hauptargument: dass man die Analyse auch missbrauchen könne.
Wer so argumentiert, unterstellt den Labors bzw. den Landeskriminalämtern nichts anderes als kriminelle Energie.
Bei Autofahrern sind wir übrigens völlig schmerzfrei.
Eine Blutprobe enthält allerfeinstes genetisches Material. In Deutschland dürften Hunderttausende Blutproben abgezapft worden sein. Mir ist nicht ein einziger Fall
bekannt, in dem jemals etwas anderes untersucht worden
wäre als die Blutalkoholkonzentration. Wir wollen nur
wissen, wie viel Schnaps der Betreffende im Blut hat,
und nicht, ob er Träger von Erbkrankheiten ist oder welche gesundheitlichen Merkmale er hat.
Dazu schrieb mir vorgestern ein leitender Kriminalbeamter, ein Kriminalhauptkommissar:
Mittlerweile wundert es mich, dass ein junger Polizeibeamter eine Blutprobe ({9}) wegen Trunkenheit im Straßenverkehr anordnen und auch mit Zwang durchführen
lassen darf, OHNE Richtervorbehalt, dass ein Gerichtsmediziner eine Alkoholbestimmung durchführen darf, OHNE dass die Probe anonymisiert ist.
Kann sich Herr Beck
- gemeint ist der von den Grünen nicht vorstellen, dass ein krimineller Mediziner
eventuell ein wenig Blut an Krankenkasse und Versicherung schickt?
Der Mann - er ist ein Praktiker - hat völlig Recht. Hier
wird ja auch noch anonymisiert untersucht. Das heißt:
Der Untersuchende weiß gar nicht, wer der Spurenleger
ist. Was soll er denn mit dem Material anderes machen,
als lediglich einen Zahlencode herzustellen?
Als fünftes Argument sind natürlich, wie bei fast allem, die Bürgerrechte in Gefahr. Um welche Bürgerrechte geht es hier? Das Recht auf Erbinformation ist
selbstverständlich schützenswert. Es bleibt geschützt,
das interessiert niemanden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann erkennbar nicht gemeint
sein; denn der Mensch wird nicht entschlüsselt durch
den nicht codierenden Teil. Mir geht es aber um andere
Bürgerrechte. Es gibt kein Bürgerrecht, unentdeckt eine
Straftat zu begehen. Der Straftäter hat nicht das Bürgerrecht, ungeschoren davonzukommen.
({10})
Aber es gibt das Recht der Bürger, vom Staat geschützt
zu werden. Wir reklamieren für uns das staatliche Gewaltmonopol. Wir sagen, dass nur eine Instanz Gewalt
ausüben darf, und das ist der Staat. Wenn wir das Monopol reklamieren, dann haben wir die Verpflichtung, unsere Bürger so wirksam, wie wir können, vor Verbrechen, vor Straftaten in allen Erscheinungsformen zu
schützen. Der Bundeskanzler ist dafür, der Bundesinnenminister ist dafür. Die Bundesjustizministerin weiß noch
nicht genau, wofür oder wogegen sie ist. Die Innenminister und die Justizminister der Länder sind dafür. Welche unbekannte Macht hindert diese Bundesregierung eigentlich daran, das zu tun, was sie tun müsste?
({11})
Sie auf der Regierungsbank müssen sich entscheiden,
was Ihnen wichtiger ist: der stärkere Schutz der Bevölkerung vor Straftaten oder der Frieden in der Koalition.
Diese Frage müssen Sie beantworten.
({12})
Kommen wir zum letzten Punkt. Besteht nicht angesichts des Antrags der Union doch Anlass zur Sorge? Ich
kann nur sagen: Ja. Wissen Sie, wer sich Sorgen machen
muss? Die Ganoven müssen sich Sorgen machen. Sie
müssen die Sorge haben, demnächst schneller überführt
und dingfest gemacht zu werden.
({13})
Damit sie sich Sorgen machen, haben wir diesen Antrag
gestellt.
Danke fürs Zuhören.
({14})
Das Wort hat jetzt die Frau Justizministerin Brigitte
Zypries.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Bosbach, der Höhepunkt der Karnevalszeit
ist nächste Woche.
({0})
Das Thema, das wir heute hier behandeln, ist eines, über
das man wirklich ernsthaft diskutieren sollte.
({1})
Ich habe mich über Ihren Einstieg in dieses Thema
gefreut, weil Sie nämlich konzediert haben, dass der
Mord an Herrn Moshammer innerhalb kürzester Zeit
aufgeklärt werden konnte, und zwar auf Grundlage des
geltenden Rechts.
({2})
- Das ändert nichts daran, dass dies geltendes Recht ist,
verehrter Herr Dr. Röttgen.
Mit anderen Worten: Dieser Fall bietet keinen Anlass
für eine aufgeregte Debatte.
({3})
Es ist auch nicht unsere Art, eine aufgeregte Debatte zu
führen. Wir wissen nämlich schon seit einer ganzen Zeit,
dass wir im Zusammenhang mit DNA-Untersuchungen
etwas ändern müssen. Das haben wir bereits in diesem
Hause diskutiert, erst letzte Woche.
Im Bundesministerium der Justiz wurde eine Prüfung
begonnen, bei der wir uns mit den Ländern zusammengeschlossen haben. Ein Ergebnis unserer Prüfung haben
wir bereits in geltendes Recht umgesetzt: Seit dem
1. April des letzten Jahres kann bei allen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die DNA des Täters gespeichert werden, wenn davon ausgegangen werden muss, dass er in Zukunft weitere erhebliche
Straftaten begehen wird. Das heißt, im letzten Jahr haben
wir bereits für Sexualstraftäter eine Erweiterung des
Rechts vorgenommen.
Sie haben aus der Verabredung mit den Justizministern zitiert. Ich weiß nicht, worauf Ihr Zitat beruht. Offenbar wissen Sie schon, was die Minister wollen, ich
zumindest weiß es nicht.
({4})
- Ich weiß nicht, woher Sie den haben.
({5})
Es gibt keinen abgestimmten Entwurf der Justizminister. Die Verabredung war, dass sie das im April gemeinsam vorstellen. Die Justizminister der Länder Bayern und Hessen haben sich aber offenbar nicht daran
gebunden gefühlt, die Ergebnisse einer von ihnen mit
eingesetzten Arbeitsgruppe abzuwarten, und stattdessen
einen Gesetzentwurf vorgelegt. Das verschafft uns die
Möglichkeit, unsere eigenen Vorstellungen offen zu legen.
({6})
Denn an die Verabredung brauchen wir uns dann nicht
mehr zu halten.
({7})
Ich habe eben schon gesagt: Es wäre sinnvoll, wenn
man insofern eine ernsthafte Debatte führen würde. Der
Antrag, über den wir hier heute diskutieren, ist - das
konzedieren Sie wahrscheinlich inzwischen selbst - in
Teilen überholt. Ich habe es eben bereits gesagt: Sexualstraftaten sind bereits aufgenommen, und das ist das,
was Sie in Ihrem Antrag fordern.
({8})
Was Sie ansonsten fordern, bleibt unklar. Denn Sie fordern auf der einen Seite eine Gleichstellung der DNAAnalyse mit dem Fingerabdruck - das hat eben ja auch
Herr Bosbach gemacht - und halten auf der anderen
Seite in dem Antrag daran fest, dass eine Speicherung
nur dann zulässig sein soll, wenn von dem Beschuldigten erhebliche Straftaten zu erwarten sind. So lautet aber
auch der geltende Gesetzestext. Das entspräche dann
nicht der hundertprozentigen Gleichstellung in § 81 b
StPO.
({9})
- § 81 b beträfe die Gleichstellung mit dem Fingerabdruck und dem Lichtbild.
({10})
Genau das wäre es nicht. Das wird ja selbst von den Ländern Hessen und Bayern nicht gefordert.
({11})
- Doch. Lesen Sie den Antrag! Den kann ich Ihnen geben; den habe ich nämlich.
({12})
Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie leicht man sich in
diesem Geflecht verlaufen kann. Das zeigt, dass man mit
diesem Spannungsfeld sehr sorgfältig umgehen muss.
({13})
Das ist in der Tat ein grundrechtssensibler Bereich.
Denn es ist völlig unstreitig, dass die Feststellung und
die Speicherung des Identifizierungsmusters einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen.
({14})
Dies kann nur geschehen, wenn es in überwiegendem Interesse der Allgemeinheit ist und wenn dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Das ist tägliches Geschäft bei der Grundrechtsdogmatik.
Auf der anderen Seite - dies ist bei einer Abwägung
natürlich auch zu berücksichtigen - ist der Staat verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor
Straftaten zu schützen. Dazu gehören sowohl die Prävention als auch die schnellstmögliche Aufklärung von
Straftaten. Darin sind sich die Regierungskoalition, die
Rechts- und Innenpolitiker von SPD und Grünen und darin bin ich mir auch mit dem Herrn Bundesinnenminister
einig.
({15})
Was wollen wir nun ändern? Es werden im Moment
vor allem drei Punkte diskutiert. Der eine Punkt ist der
Richtervorbehalt; das findet sich auch in Ihrem Antrag.
Wir werden zunächst - darüber wird auch schon länger
diskutiert - eine Modifizierung bei der Spurenuntersuchung vornehmen. Das heißt, bei der Untersuchung von
anonymen Spuren am Tatort ist der Richtervorbehalt entbehrlich. In Bezug auf die Entnahme von Körperzellen
beim Beschuldigten und die sich anschließende molekular-genetische Untersuchung wollen wir am Richtervorbehalt grundsätzlich festhalten. Das soll in einem für die
Praxis wichtigen Fall nicht gelten, nämlich im Fall der
Freiwilligkeit, also dann, wenn die Betroffenen damit
einverstanden sind, dass ihre Daten gespeichert werden.
Dann bedarf es künftig auch nach dem Gesetz keiner
richterlichen Anordnung mehr. Bei Gefahr im Verzuge
gilt weiterhin: Der Richter muss nicht eingeschaltet werden, wenn die Untersuchung unaufschiebbar ist und der
Ermittlungserfolg sonst gefährdet wäre.
Gestatten Sie mir, dass ich noch einmal darauf hinweise: Es geht hier nur um künftige Strafverfolgung.
Für die Feststellung während eines laufenden Verfahrens
zur Aufklärung einer Straftat sind jede DNA-Untersuchung und jeder DNA-Abgleich heute grundsätzlich zulässig. Das ist gar nicht das Problem. Wir reden nur über
die Speicherung mit Blick auf künftige Verfahren.
({16})
Auch da wollen wir die DNA-Analyse ausweiten. Neuere Studien des Bundeskriminalamtes zeigen uns, dass
zum Beispiel ein Vergewaltiger in der Regel ein kriminelles Vorleben hat, das nicht unbedingt einen Sexualbezug haben muss, sondern in sehr vielen Fällen einen Bezug zu kleineren Straftaten aufweist. Das gibt uns die
verfassungsrechtliche Legitimation, zu sagen: Wenn wir
aufgrund empirischer Erkenntnisse wissen, dass das so
ist, dann dürfen wir die entsprechende Vorsorgemaßnahme auch treffen. Deswegen werden künftig auch
mehrfach begangene einfache Straftaten eine Speicherung rechtfertigen, wenn von diesem Täter in Zukunft
Straftaten zu erwarten sind. Ob das so ist, muss eine Prognose zeigen. Das ist das, was man unter „Negativprognose“ diskutiert. Für diese ist entscheidend - so hat es
das Bundesverwaltungsgericht formuliert -, dass man
angesichts aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere
angesichts der Art, der Schwere und Begehungsweise
der Taten, des Anlassverfahrens und der Persönlichkeit
des Täters, Anhaltspunkte für die Annahme hat, dass der
Betroffene künftig mit guten Gründen als Verdächtiger
wieder in den Kreis von potenziellen Beteiligten an einer
noch aufzuklärenden Straftat kommen könnte.
Wenn es darum geht, eine Straftat aufzuklären oder
sie zu verhüten - Letzteres wäre noch besser -, dann
muss der Eingriff gegen das Grundrecht des Täters auf
informationelle Selbstbestimmung in dieser Weise abgewogen werden. Damit wird eine Abwägung getroffen,
wie sie auch bei anderen Eingriffen vorgenommen wird,
insbesondere beim normalen Fingerabdruck oder bei der
Erstellung von anderen erkennungsdienstlichen Merkmalen.
Wir wollen in Zukunft auch die Zulässigkeit von so
genannten Reihengentests gesetzlich regeln. Bei diesen
Tests werden Teile der Bevölkerung zur Abgabe ihrer
Speichelprobe aufgefordert, um an der Aufklärung einer
Straftat mitzuwirken; in der Regel geht es um Mord oder
Vergewaltigung. In diesem Bereich sind in der Praxis erhebliche Unsicherheiten aufgetreten, weil unklar war, ob
dies ohne eine richterliche Entscheidung angeordnet
werden darf. Wir wollen deshalb eine klare Rechtsgrundlage schaffen, die insbesondere klären soll, ob dies
durch einen Richter anzuordnen ist, und die die Aufklärungspflichten gegenüber den Betroffenen beschreibt.
Meine Damen und Herren, aus diesen Eckpunkten
können Sie entnehmen, dass es eine völlige Gleichstellung der DNA-Analyse mit Lichtbildern und Fingerabdrücken nicht geben wird. Ich habe es eben schon einmal
gesagt: Davon gehen auch der hessische und der bayerische Antrag nicht aus, denn sie ändern eben nicht § 81 b,
sondern § 81 a und erhalten damit auch den Richtervorbehalt.
Genetische Daten sind etwas Besonderes und die Forschung hinsichtlich ihrer Auswertung ist noch lange
nicht abgeschlossen. Selbst wenn wir heute sagen können, dass zuverlässig nur bestimmte Dinge gemacht werden, muss der Gesetzgeber darauf Rücksicht nehmen,
dass er eine richtige, sachgerechte und verfassungsmäßige Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
vornimmt. Dabei muss er natürlich auch die Realität sowie die Tatsache berücksichtigen, dass auch heute
erkennungsdienstliche Maßnahmen nur bei einem
ganz bestimmten Teil der Beschuldigten durchgeführt
werden, nämlich nur bei ungefähr 12 bis 14 Prozent von
ihnen. Der Eindruck, dass jedem Beschuldigten in einem
Strafverfahren und überhaupt jedem, der vernommen
wird, der Fingerabdruck abgenommen werden würde, ist
schlicht falsch; darauf hat Herr Bosbach eben bereits
hingewiesen.
Aber diese Tatsache hindert nicht, dass eine Norm als
solche verfassungsgemäß sein muss, unabhängig davon,
wie oft sie dann angewandt wird. Wir können davon ausgehen, dass sie richtig angewandt wird. Es ist unstreitig,
dass unsere Justiz und unsere Polizei ordentliche Arbeit
leisten und sich an die Gesetzestexte halten; die müssen
allerdings auch so formuliert sein, dass sie damit umgehen können. Das, was wir bis jetzt mit den Regelungen
erreicht haben, ist gut. Wir sollten deshalb unsere Erfolge nicht klein- und schlechtreden.
({17})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt kaum eine Entwicklung in der Kriminalistik, die eine
solche Erfolgsgeschichte darstellt wie die Genanalyse,
und zwar auch deshalb, weil sie nicht nur zur Ergreifung
von Tätern geführt, sondern in einigen Fällen auch deutlich gemacht hat, dass es leider gravierende Fehlurteile
gegeben hat.
Ich habe das in meiner eigenen dienstlichen Tätigkeit
erlebt; ich war an einem Verfahren beteiligt, bei dem
sich aufgrund der neuen Möglichkeiten ergeben hat, dass
ein wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilter
britischer Soldat mit Sicherheit nicht der Täter war.
Das macht deutlich, dass dies ein Bereich ist, den wir
in der Rechtspolitik in besonderer Weise betrachten
müssen. Ich bedauere, dass das in den letzten Wochen
nicht mit dem Tiefgang und nicht mit der Sorgfalt geschehen ist, die man gerade bei einem solch wichtigen
Thema erwarten kann.
({0})
Ich bedauere dies auch deshalb, weil ich der Auffassung bin, man sollte, bevor man Forderungen nach
neuen gesetzlichen Bestimmungen stellt, erst einmal die
alten Regelungen beurteilen.
({1})
Dazu müssen nach meiner Auffassung zwei Feststellungen getroffen werden: Erstens hat der Fall Moshammer gezeigt, dass ein so schwerwiegendes Verbrechen
offensichtlich mit den bestehenden Bestimmungen ganz
schnell aufgeklärt werden konnte.
({2})
Das ist die erste Feststellung.
Meine zweite Feststellung ist, dass Datensätze nach
den bestehenden Bestimmungen, wenn es um Alttäter
geht, an das Bundeskriminalamt geliefert werden dürfen. Ich stelle dankbar fest: Dort, wo Justizminister meiner Partei, der FDP, Verantwortung tragen - in BadenWürttemberg und in Rheinland-Pfalz -, ist dies in vollem Umfang geschehen.
({3})
Aber in meinem Heimatland, in Nordrhein-Westfalen,
sind 3 000 Spuren leider noch immer nicht an das Bundeskriminalamt geliefert worden. Wer weiß, wie wichtig
es ist, neue Fälle mit alten Spuren vergleichen zu können, der legt natürlich erheblichen Wert darauf, dass ein
solcher Missstand - in Nordrhein-Westfalen besteht ein
gravierender Missstand - abgebaut wird.
({4})
An der Diskussion, die wir bisher geführt haben, ist
mir aufgefallen, dass wir die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage nur gestreift haben.
({5})
Das bedauere ich;
({6})
denn das Bundesverfassungsgericht hat uns Vorgaben
gemacht.
({7})
Es ist immer gut, wenn die Politik die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, das für uns die Verfassung
auslegt und damit die Grundlage unseres politischen Lebens schafft, beachtet.
({8})
Wir, die FDP, legen Wert darauf, dies zu tun. Dennoch
denke ich, wir sollten in dieser Diskussion offen sein
und die Spielräume, die uns das Bundesverfassungsgericht eröffnet, nutzen. Immerhin geht es um die Aufklärung, gegebenenfalls sogar um die Verhütung schwerster Straftaten. Diese klare und eindeutige Haltung wird
in dieser Diskussion unsere Linie sein.
Da von den anderen Fraktionen angesprochen wurde,
mit welchen Positionen sie in diese notwendige Debatte
gehen, will auch ich das für meine Fraktion tun. Erstens.
Wir haben bereits den Antrag eingebracht, bei anonymen Spuren in Zukunft auf den Richtervorbehalt zu
verzichten.
({9})
Diese Auffassung teilt auch der Bundesdatenschutzbeauftragte. Eine anonyme Spur, durch die keine Rechte
einer bestimmten Person verletzt werden können, soll in
Zukunft ohne die Einschaltung eines Richters untersucht
und gegebenenfalls auch gespeichert werden dürfen. Das
ist der erste Punkt.
({10})
Auch der zweite Punkt ist sehr wichtig. Wir wissen,
dass insbesondere nach Morden an Kindern an der Bevölkerung, die als Täter in Betracht kommt, ein Massengentest durchgeführt wird. Wir machen das im Augenblick ohne jegliche rechtliche Grundlage. Vor allen
Dingen ist völlig unklar, wie mit jemandem, der sich
weigert, daran teilzunehmen, umzugehen ist. Ist er nur
aufgrund seiner Weigerung bereits ein Beschuldigter
oder nicht?
({11})
Daran wird deutlich, dass wir diese wirklich wichtige
rechtliche Frage auf ein vernünftiges Fundament stellen
müssen. Auch müssen wir über die Aufbewahrung der
Proben diskutieren.
Sofern es sich um freiwillige Tests handelt - auch
hierzu gibt es unterschiedliche rechtliche Auffassungen -,
habe ich eine klare Meinung: Wenn jemand freiwillig
seinen Speichel - beispielsweise für eine gentechnische
Untersuchung - abgibt, bedarf es grundsätzlich keines
Richtervorbehaltes. Jeder ist selbst Herr über seine Daten. Wenn man sie freiwillig hergibt, wie es auch im Fall
Moshammer geschehen ist, dann ist selbstverständlich
keine Beteiligung eines Richters notwendig.
({12})
- Herr Gehb, das ist eben nicht selbstverständlich.
({13})
Wie Sie wissen, gibt es hierzu unterschiedliche rechtliche Entscheidungen.
({14})
Ich habe hier lediglich meine Auffassung deutlich gemacht. Sie können ganz ruhig sitzen bleiben. Meine Position jedenfalls ist klar und eindeutig.
({15})
Ein letzter Punkt ist mir ebenfalls außerordentlich
wichtig. Es ist so, dass für eine Untersuchung im Augenblick nur einzelne Straftaten von Gewicht in Betracht
kommen. Wie die Justizministerin, deren Auffassung in
dieser Frage ich teile, bin ich der Meinung: Auch eine
Fülle von kleineren Straftaten kann insgesamt das Bild
ergeben, dass ein Krimineller Straftaten von Gewicht
begangen hat. In diesem Fall muss er anders behandelt
werden als derjenige, der beispielsweise eine Flasche
Bier oder etwas anderes in einem Kaufhaus hat mitgehen
lassen.
Das sind die Eckpunkte, mit denen wir in diese Debatte gehen. Wir sind offen für eine Diskussion, orientieren uns gleichzeitig aber ganz klar an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf und Antrag der Union
reden. Ich habe für die Union zwei gute und zwei
schlechte Nachrichten.
Die erste schlechte Nachricht: Die Koalition hat sich
bei der Debatte über den so genannten genetischen Fingerabdruck nicht zerstritten und wird dies auch nicht tun.
({0})
Wir haben uns gestern noch einmal zusammengesetzt: In
wesentlichen Punkten sind wir uns einig.
({1})
Jetzt kommt eine gute Nachricht für Sie ({2})
ich will einmal aus dem Ritual ausbrechen, das in diesem Hause sonst üblich ist -: Es gibt auch Anträge der
anderen Seite, also der Opposition, bei denen man nach
vielen Diskussionen und nach umfangreicher öffentlicher Debatte sagen muss: Das Ziel dieses Gesetzentwurfes ist richtig. - In diesem Sinne sage ich Ihnen: Das,
was Sie im Dezember 2004 in Ihrem Antrag geschrieben
haben - dass bei anonymen Spuren der Richtervorbehalt wegfallen sollte -, ist richtig.
({3})
Ich habe - das hatten Sie von mir im Rechtsausschuss ja
verlangt bzw. erbeten - aus den vielen Diskussionen, an
denen ich beteiligt war, gelernt; das sage ich hier so klar.
Da sind wir uns offenbar schon alle einig.
Ich habe eine weitere gute Nachricht für Sie:
({4})
Auch in weiteren Punkten, die Sie in Ihrem Antrag vom
Jahr 2003 angesprochen haben, bahnt sich eine weitgehende Verständigung an, also auch in der Frage: Was ist,
wenn eine Speicherung freiwillig erfolgt? In diesem Fall
bin auch ich der Auffassung, dass Einschränkungen der
Grundrechte, hier: des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, für den Grundrechtsinhaber
disponibel sind. Das tun wir ja auch selber, zum Beispiel
wenn wir jemanden mithören lassen, wenn wir telefonieren.
({5})
Ja bereits dann, wenn wir in der Wohnung einmal laut
sind, lassen wir andere mithören. Das ist zwar ein Eingriff, aber einer, der mit Einverständnis geschieht. Dasselbe gilt für diesen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Auch über andere Punkte kann man durchaus reden
- Sie haben das angesprochen und dem habe ich mich
nie verschlossen -, etwa über die Frage, ob es sich um
eine Straftat von besonderer Bedeutung handelt. Natürlich muss man dabei einbeziehen, ob ein Täter das erste
Mal, das zweite Mal, das zehnte oder das 16. Mal straffällig wird; dass das bei der Beurteilung eine erhebliche
Rolle spielt, ist für jeden Strafjuristen eigentlich selbstverständlich.
Ich füge noch einen Punkt hinzu, der mir in den vielen
Diskussionen immer wieder vorgehalten worden ist: Es
gab in Niedersachsen den Fall einer versuchten Vergewaltigung, bei dem gar nicht einmal der Richter einen
Fehler gemacht hat, sondern offenbar die Staatsanwaltschaft: indem die Prognose nicht gestellt wurde, dass so
etwas wieder passieren könnte, dass der Täter wieder
straffällig werden könnte. Deshalb ist keine Speicherung
erfolgt. Da wird man darüber nachdenken können und
müssen, ob man, damit so etwas nicht wieder passiert,
dem Richter - so ähnlich wie das auch beim Haftrecht
ist - bei besonders schweren Straftaten, bei denen die
begangene Tat eine Wiederholung geradezu indizieren
könnte, Vorgaben macht. - Das war die zweite gute
Nachricht für Sie.
({6})
Jetzt komme ich zur zweiten schlechten Nachricht für
Sie: Wir werden uns dem Antrag, den Sie gestellt haben,
trotzdem nicht anschließen.
({7})
Es ist schon darauf hingewiesen worden - und das müssen auch Sie erkennen -: Ihr Antrag spiegelt eigentlich
nicht mehr den aktuellen Diskussionsstand wider. In
ihm wird nur ein Punkt angesprochen. Doch inzwischen
haben wir eine ganze Reihe von zusätzlichen Punkten,
die geregelt werden müssen. Wir müssen uns jetzt die
Zeit nehmen, uns anhand der Tatsachen, die uns die Justizminister der Länder hoffentlich mitteilen, genau zu
überlegen, welche Bereiche wir wie regeln müssen.
Dann müssen wir da relativ zeitnah herangehen.
Die schlechte Nachricht geht noch weiter: Ich folge
Ihrer Auffassung nicht, Herr Bosbach - das können Sie
auch nicht ernsthaft vertreten, wenn Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gelesen haben -,
dass es sich hier nicht um einen Grundrechtseingriff handelt. Natürlich handelt es sich um einen Eingriff, nämlich in das Grundrecht auf informationelle SelbstbestimHans-Christian Ströbele
mung. Für mich sind weiterhin die beiden Kriterien
maßgebend, die das Bundesverfassungsgericht in allen
seinen Entscheidungen immer wieder betont hat:
Erstens. Nicht bei jeder Straftat - es muss sich um
eine schwerwiegendere Straftat handeln - ist eine solche
Maßnahme richtig und vom Grundgesetz her zulässig.
Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und daraus, dass es sich hier um einen Grundrechtseingriff handelt.
Zweitens. Den Richtervorbehalt möchte ich grundsätzlich bis auf die Fälle beibehalten wissen, die wir hier
angesprochen haben, bei denen ein genetischer Fingerabdruck nämlich keinen Sinn macht. Der Richter kann
bei anonymen Spuren keine Abwägung vornehmen,
wenn es gar keinen Beschuldigten gibt und er somit auch
keinen Beschuldigten kennen kann. Wie soll er dann
eine Prognose erstellen, ob dieser wieder straffällig
wird? Das heißt, hier wäre das einfach unsinnig. Deshalb
habe ich das am Anfang auch gesagt.
Mit anderen Worten: Bei vielen Dingen liegen wir in
der Grundanalyse noch auseinander, bei vielen Einzelforderungen sind wir uns aber auch mit der Opposition
einig. Wir werden ein Gesetz verabschieden, das sicherlich nicht in allen Punkten dem entspricht, was Sie in der
Öffentlichkeit gefordert haben, durch das aber dem
Rechnung getragen wird, was auch ich für richtig halte.
Das habe ich immer wieder betont. Ich glaube, es
herrscht Einigkeit hier im Saal - natürlich auch in meiner Fraktion - darüber, dass wir erstens die Begehung
schwerer Straftaten so gut es irgendwie geht verhindern
wollen und dass wir zweitens an einer schnellen Aufklärung interessiert sind, wenn solch schreckliche Straftaten
wie zuletzt in München begangen werden.
Unter dieser Voraussetzung gehen wir daran. Für uns
ist das Grundgesetz der Maßstab, an dem wir unsere Gesetzgebung ausrichten.
({8})
Ich habe manchmal den Eindruck, dass das bei Ihnen
nicht der Fall ist.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist von der Union gemäß
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung erzwungen worden,
weil unser Antrag, um den es heute geht, seit über einem
Jahr nicht behandelt und diskutiert wird. Die rot-grüne
Regierungskoalition hat mit ihrer Mehrheit eine Beratung und Beschlussfassung darüber verhindert.
({0})
Wir sind der Meinung, dass dieses Nichthandeln unverantwortlich ist;
({1})
denn jeder verlorene Tag ist ein Tag, an dem Verbrechen
mit DNA-Analysen aufgeklärt und neue möglicherweise
verhindert werden könnten.
({2})
- Regen Sie sich wieder ab! Sie können gleich gerne zustimmen und unsere Forderungen umsetzen. Darauf
freuen wir uns.
Es gibt zwar eine Menge öffentlicher Erklärungen der
Bundesjustizministerin und des Bundesinnenministers,
die uns alle sehr vernünftig vorkommen; die Behandlung
und Umsetzung dort, wo es sich gehört, nämlich nicht in
irgendwelchen Interviews von Illustrierten, sondern hier
im Parlament, sieht aber ganz anders aus. Das erinnert
ein wenig an die Überschrift in der „Bild“-Zeitung, in
der der Bundeskanzler bezogen auf die Sicherungsverwahrung mit den Worten „Wegsperren für alle Zeit“ zitiert wurde, und das, was nachher dabei herausgekommen ist.
Wir haben in unserem Antrag ganz klar formuliert,
dass in Zukunft in all den Fällen, in denen bisher der
klassische Fingerabdruck genommen werden kann, auch
die DNA-Analyse möglich sein soll. In allernächster
Zeit werden wir vonseiten der CDU/CSU-Fraktion
hierzu einen Gesetzentwurf einbringen mit dem Inhalt,
dass der genetische Fingerabdruck zum erkennungsdienstlichen Standard wird und dass ein gesonderter
richterlicher Beschluss in Zukunft nicht mehr notwendig
ist. Mit anderen Worten: Die Polizei soll in Zukunft
selbst über die Anwendung der DNA-Analyse entscheiden können.
({3})
Sie wissen, dass das bayerische Kabinett bereits gestern einen Gesetzentwurf beschlossen und damit auf dem
Gebiet der Verbrechensbekämpfung wie so oft die Initiative ergriffen hat.
({4})
- Frau Ministerin, ich darf Ihnen die kleine Empfehlung
geben, sich den Gesetzentwurf etwas näher anzusehen.
Möglicherweise hatten Sie noch nicht die Zeit dazu.
Auch mir liegt er vor. In § 81 a Abs. 2 Nr. 3 dieses bayerischen Entwurfs ist ganz klar davon die Rede, dass die
DNA-Analyse von der Polizei in Zukunft eigenverantwortlich durchgeführt werden kann. Nichts anderes haben wir gesagt. Dabei bleiben wir auch.
({5})
Bayern sucht jetzt Verbündete im Bundesrat. Es gibt
einige Landesinnenminister, deren Meinungen in unsere
Richtung gehen und die Zustimmung signalisieren.
Frau Ministerin, ich darf hierzu den schon vom Kollegen Bosbach zitierten Bericht der Arbeitsgruppe der
JuMiKo erwähnen. Da steht klipp und klar - ich darf zitieren -:
Die Arbeitsgruppe kommt mit großer Mehrheit
({6}) zu einer grundsätzlich positiven Bewertung
der DNA-Analyse als Standardmaßnahme.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schily?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege, Sie beschäftigen sich mit dem bayerischen Entwurf. Ich hatte Gelegenheit, mit dem Kollegen
Beckstein über diesen bayerischen Entwurf zu reden. Er
sieht auch in der Systematik der Strafprozessordnung
keinen Unterschied zwischen der Entnahme von Körperzellen für eine DNA-Untersuchung zum Zwecke der
Speicherung nicht quantifizierender Elemente und der
Entnahme von Körperzellen für andere Zwecke, beispielsweise eine Blutuntersuchung. Die Systematik der
Strafprozessordnung besagt: Die gewaltsame Entnahme
von Körperzellen ist ein Eingriff, der einen Richtervorbehalt erfordert. Das ist meines Wissens - so hat es mir
jedenfalls der Kollege Beckstein geschildert - die Auffassung der bayerischen Landesregierung.
Ich bin erstaunt, dass Sie hier etwas anderes vortragen. Wem soll ich jetzt glauben? Ich muss ehrlich sagen:
Ich traue eher dem Kollegen Beckstein als dem, was Sie
hier vorgetragen haben.
({0})
Herr Kollege Schily, ich bin gerne bereit, diese Frage
mit Ihnen, zusammen mit der bayerischen Justizministerin und dem bayerischen Innenminister in einem intensiven Gespräch zu klären. Ich kann Ihnen nur sagen, dass
in der Neufassung des § 81 e Abs. 2 StPO steht, dass
Untersuchungen in Zukunft an den beim Beschuldigten
erlangten oder nach § 81 a StPO entnommenen Körperzellen zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren ohne Einschränkung zulässig sein
sollen, wenn die Polizei wegen der Art oder Ausführung
der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme hat, dass gegen ihn künftig Strafverfahren zu führen sind. Künftig
kann die Polizei also in diesen Fällen eigenverantwortlich die Entscheidung über die DNA-Analyse treffen.
Meine Informationen sind, dass dies aus rechtssystematischen Gründen nicht in § 81 b angesiedelt ist, sondern
der neue § 81 e StPO geschaffen wird.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie können sich
unserer Forderung eigentlich nicht verweigern, wenn Ihnen die Sicherheit unserer Bürger am Herzen liegt. Die
Bürger haben ein Recht darauf, mit modernsten Methoden vor Kriminellen geschützt zu werden. Die DNAAnalyse ist nun einmal eine der modernsten Methoden
und ein Glücksfall für die Verbrechensaufklärung. Sensationelle Erfolge bei bekannten Fällen sind schon erwähnt worden, zum Beispiel der Fall Moshammer oder
der Briefbombenattentäter in Bayern. Insgesamt wurden
seit 1998, seit der Einführung der DNA-Datenbank durch
die Regierung Kohl, 320 Tötungsdelikte, 820 Sexualstrafdelikte und 2 000 Körperverletzungs- bzw. Raubdelikte
aufgeklärt. Es könnten aber noch viel mehr Straftaten
aufgeklärt und weitere verhindert werden, wenn man die
rechtlichen Voraussetzungen für einen weiter gehenden
Einsatz der DNA-Analyse schafft.
Zurzeit sind bundesweit circa 380 000 Datensätze erfasst. Ich habe mir auch die Zahlen aus Bayern - Sie
werden das bei mir als bayerischem Abgeordneten verstehen - geben lassen. Der bayerische Anteil an diesen
Datensätzen beträgt über 73 000. Das ist fast ein Fünftel
und damit bundesweit der höchste Anteil aller Datensätze. Ich sage das nicht einfach nur aus einem gewissen
Stolz heraus und um zu zeigen, wie gut die bayerischen
Behörden arbeiten. Denn wenn man weiß, dass jede
vierte Spur, die in die DNA-Datei eingestellt wird, trifft,
dann weiß man auch, dass Erfolge bei der Aufklärung in
hohem Maße vom Umfang des Datenbestandes abhängig sind. Deswegen wiederholen wir einmal mehr unsere
Forderung nach Ausweitung der DNA-Analyse.
({1})
Von den Linken bei der SPD und von den Grünen
kommen nur Bedenken über Bedenken. Dass die von
uns gewollte Ausweitung der DNA-Analyse im Einklang mit dem Grundgesetz steht, kann niemand ernsthaft bezweifeln. Die DNA-Analyse greift in die Rechte
des Bürgers nicht mehr ein als der klassische Fingerabdruck. Auch hier wurde die Gefahr des Missbrauchs beschworen, die man natürlich nicht negieren kann. Dazu
will ich nur so viel sagen, weil Kollege Bosbach dazu
sehr ausführlich Stellung genommen hat: Bei einer forensischen DNA-Analyse wird lediglich der nicht codierende Bereich des menschlichen Genoms untersucht.
Erbinformationen mit Ausnahme des Geschlechts können damit nicht erlangt werden. Mit unseren und den
bayerischen Forderungen ändert sich daran überhaupt
nichts. Das hat damit nichts zu tun.
Außerdem haben wir jetzt schon das Anonymisierungsgebot in der Strafprozessordnung. Es gibt eine Beschränkung auf das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter und dort auf ausgesuchte verantwortliche
Personen. Wir haben - Herr Kollege van Essen, Sie haben das angesprochen - bei den Massenscreenings, also
den freiwilligen DNA-Reihenuntersuchungen, schon
jetzt den Zustand, dass diese nicht gespeichert werden.
Es gibt andererseits die Gefahr des Missbrauchs auch bei
schon jetzt zulässigen und möglichen erkennungsdienstlichen Maßnahmen, zum Beispiel bei der Blutentnahme
im Rahmen einer Alkoholkontrolle. Obwohl so viele Sicherungsmechanismen eingebaut sind, haben wir kein
Problem damit, Missbrauch unter Strafe zu stellen und
alles zu tun, was möglich ist, wenn jemand Angst vor
Missbrauch hat.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({3})
- Ich glaube, dass Ihnen das nicht gefällt, was ich sage.
Zuhören ist aber eine parlamentarische Tugend, auch
wenn einem der Inhalt nicht immer gefällt.
Die DNA-Analyse muss zum Standard moderner Ermittlungsmethoden und damit zum Fingerabdruck des
21. Jahrhunderts werden. Unsere Kernforderung lautet,
dass die DNA-Analyse künftig in all den Fällen möglich
sein muss, in denen eine erkennungsdienstliche Erfassung mit Lichtbild oder Fingerabdruck zulässig ist.
Selbstverständlich muss der Schutz vor Missbrauch sichergestellt werden. Er wird auch sichergestellt. Aber eines muss klar sein: Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden.
({4})
Vorrang für uns hat der Schutz der Bürger vor Verbrechen.
({5})
Daran werden wir Sie messen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU will in größerem Umfang als bisher üblich DNA-Analysen zur Identifizierung potenzieller
Straftäter verarbeiten. Bundesinnenminister Schily will
das auch. Die PDS im Bundestag will das so nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 14. Dezember 2000 die Ermittlungsarbeit mit dem
so genannten genetischen Fingerabdruck für grundgesetzkonform erklärt, aber zugleich hohe Hürden gesetzt.
Diese sollen mit dem vorliegenden Unionsantrag erheblich gesenkt werden. Nicht nur Straftaten von erheblicher Bedeutung, auch andere Delikte sollen künftig zur
DNA-Analyse berechtigen. Diesem Vorschlag stimmen
wir nicht zu.
Nun führen die Befürworter der DNA-Analyse ganz
harsche Worte im Mund. Bayerns Ministerpräsident
spricht sogar von Technikfeinden, die Angst schürten,
anstatt Kriminalität zu bekämpfen. Ich finde: Das ist
schlecht gebrüllt. Es geht nicht um Technikfeinde, es
geht aber sehr wohl um Bürgerrechtsfreunde. Denn die
DNA fällt unter das informationelle Selbstbestimmungsrecht und das ist durch das Grundgesetz geschützt. Deshalb teilt die PDS im Bundestag grundsätzliche Bedenken, die nicht nur von Datenschützern erhoben werden.
Aus demselben Grund lehnen wir auch Verharmlosungen ab, die ins Feld geführt werden, wie etwa die, der
genetische Fingerabdruck sei überhaupt nichts anderes
als der herkömmliche Fingerabdruck. Natürlich ist er etwas anderes; denn er enthält mehr Informationen über
die jeweilige Person. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, Sie sollten durchaus den Forschern
folgen, die Ihrer Position relativ nahe stehen, wie zum
Beispiel Matthias Platzer aus Jena, der im Nachsatz zu
einer Befürwortung der DNA-Analyse mahnt, dass die
Forschung neue Erkenntnisse über weitere Erbinformationen einer DNA bringen wird und damit aus seiner
Sicht sehr wohl ein Datenschutzproblem entsteht.
Deshalb sage ich: Der Umgang mit der DNA muss
restriktiv bleiben. Ich bitte auch, zu bedenken: Es geht
heute nicht nur um polizeiliche Ermittlungen. Es geht
bei diesem Antrag und bei der gesamten Debatte um ein
weit reichendes politisches Signal. Längst stehen Versicherungsunternehmen Schlange. Sie wollen Gentests,
ehe sie überhaupt eine Versicherungspolice abschließen.
Ähnliche Begierden gibt es in Unternehmen in Zusammenhang mit der Einstellung von neuen Mitarbeitern.
Dort sind die Missbrauchsgefahren riesig und sie wachsen noch. Dort nimmt dann auch der „gläserne Bürger“
Gestalt an. Deshalb ist die PDS dagegen, an dieser Stelle
die Büchse der Pandora zu öffnen.
Mit Blick auf die Antragsteller von CDU und CSU
bemühe ich daher abschließend gern die einschlägige Literatur:
Genug, ich traue den Geschenken nicht, die mir von
solchen Freunden
- ich füge hinzu: des Grundgesetzes kommen!
Danke.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich
mich bei all denjenigen bedanken, die einen Beitrag zur
Versachlichung dieser Debatte geleistet haben,
({0})
weil diese Debatte nur in der gebotenen Sachlichkeit
verantwortlich geführt werden kann. Hierbei geht es
nämlich nicht um eine Lappalie, um irgendetwas, was
mit populistischen Parolen und hitzigen Beiträgen zu einem vertretbaren Ergebnis geführt werden könnte. Es
geht um nicht mehr und nicht weniger als einen verfassungsrechtlichen Zielkonflikt. Deshalb sollten wir mit
diesem Thema sehr verantwortungsbewusst umgehen.
({1})
Auf der einen Seite steht das Interesse der Gesellschaft an einer möglichst weit gehenden Verhinderung
bzw. Aufklärung von Straftaten. Daran gibt es überhaupt
keinen Zweifel. Auf der anderen Seite steht selbstverständlich - da muss ich mich über einige Beiträge, die
ich hier gehört habe, wirklich wundern - das durch
Art. 2 und 1 des Grundgesetzes verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das seinen Trägern
Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen individualisierten oder individualisierbaren Daten gewährt.
Das ist eine klare Aussage, die sich aus beiden zentralen
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus
den Jahren 2000 und 2001 ergibt.
({2})
Wir debattieren hier also über grundlegende Werte,
die unsere Gesellschaft gestalten.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Bundesregierung und der Bundesministerin der Justiz. Sie hat mit der
erforderlichen Sachlichkeit und Vernunft Vorschläge gemacht, die den Fortgang der Debatte auf rationaler
Ebene ermöglichen und auf deren Grundlage wir nach
gründlicher Diskussion hier zu guten Ergebnissen kommen werden.
Diese Ernsthaftigkeit vermisse ich auch heute wieder
in den Beiträgen von Ihnen aus der CDU/CSU. Sie suchen leider auch mit dem Antrag, den Sie hier vorgelegt
haben, aus meiner Sicht nicht die sachliche Diskussion.
Den Vorwurf des Nichtstuns hätten Sie doch sehr leicht
dadurch beseitigen können, dass Sie frühzeitig beantragt
hätten, diesen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen,
statt dies erst dann zu tun, wenn ein spektakulärer Fall
diskutiert wird, von dem Sie glauben, Sie könnten ihn
für Ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Das ist
doch die Wahrheit.
({3})
Wir wollen die Debatte um die Möglichkeiten und die
Chancen, aber auch die Risiken einer DNA-Analyse,
weil wir wissen, dass dies eine effektive, erfolgreiche
und ausbaufähige Methode zur Verhinderung bzw. Aufklärung von Straftaten ist. Wir stehen, wie ich noch ausführen werde, jeder Ausweitung des Anwendungsbereichs der DNA-Analyse natürlich nicht von Anfang an
und grundsätzlich ablehnend gegenüber. Das wissen Sie.
Wer hier etwas anderes behauptet und das hier vorführen
will, hat nicht richtig zugehört.
Wir wollen aber keine Schnellschüsse und kein Stückwerk, wie es sich aus Ihrem Antrag ergibt. Es ist schon
mehrfach darauf hingewiesen worden, dass in dem Antrag zum Teil überholte Dinge noch einmal thematisiert
werden. Wir wollen ein Gesamtpaket mit verfassungsrechtlich vertretbaren Lösungen unter Einbeziehung der
unterschiedlichen Rechtspositionen. Wie die Frau Ministerin eben ausgeführt hat, wird die Justizministerkonferenz erst im April dieses Thema abschließend beraten.
Wir warten sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Tagung, weil wir wissen, dass diese Ergebnisse für unsere
Arbeit und auch für das Gesetzgebungsverfahren, das
hier angekündigt worden ist, von sehr großer Bedeutung
sind.
Wir wissen, dass wir den genetischen Fingerabdruck,
die DNA-Analyse, auf der Grundlage des geltenden
Rechts, das sich, wie niemand hier wird bestreiten können, bewährt hat, fortentwickeln können, ja fortentwickeln müssen. Das wird auf der Basis der Vorstellungen
von CDU/CSU, wie sie auch heute noch einmal geäußert
worden sind, nicht gelingen. Ich gehe nämlich davon
aus, dass Sie dann, wenn Sie den vom Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle definierten Gleichklang
von erstens Richtervorbehalt, zweitens qualifizierter Negativprognose und drittens Vorliegen einer erheblichen
Straftat mit einem Federstrich in vollem Umfang streichen, nach dem, was das Bundesverfassungsgericht immer wieder erklärt hat, mit einem entsprechenden Vorhaben dort auf dem Bauch landen werden. Das können wir
uns aber nicht erlauben.
({4})
Lassen Sie mich abschließend Folgendes festhalten:
Wir haben auf der Grundlage der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Erfolge,
die mit der Genanalyse erzielt worden sind, einer Modifizierung der Rechtslage zugestimmt und werden das
- das werde ich anhand einiger Beispiele kurz skizzieren - auch in Zukunft tun und bei dem Gesetzgebungsverfahren mit berücksichtigen.
Erstens, zu den Anlassstraftaten: Wir sind bereit und
werden dies auch mittragen, bei den Anlassstraftaten
nach § 81 g StPO über eine Modifizierung im Sinne der
Absenkung der Schwelle der Zulässigkeit zu diskutieren.
Hier ist nach unserer Auffassung bei einer entsprechenden Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Einsatz der DNA-Analyse auch dann
zulässig, wenn es sich um Verurteilungen oder Wiederholungsstraftaten handelt, bei denen auch - wie bisher
gefordert - eine nicht erhebliche Gefährdung vorliegt.
Allerdings - ich glaube, darin sind wir uns einig - kann
dies nicht bei Bagatellstraftaten gelten.
({5})
Zweitens. Wir sind auch weiterhin der Auffassung,
dass eine qualifizierte Prognose für die Anwendbarkeit
der DNA-Analyse vorliegen muss. Ich denke, das muss
unter rechtsstaatlichen Aspekten auch und erst recht
dann gelten, wenn wir die Schwelle bei den Anlassstraftaten senken. Ich halte das für unverzichtbar.
Drittens. Zum Richtervorbehalt: Es gibt eine Vielzahl von Vorurteilen gegenüber dem Richtervorbehalt.
Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass sich ein Praktiker - wir zitieren schließlich immer
wieder gerne die Praktiker - wie der Vorsitzende des
Deutschen Richterbundes sehr deutlich zu der AufheChristoph Strässer
bung der Schranken geäußert hat, wie sie von Ihnen vorgeschlagen wird. Wir wollen, dass der Richtervorbehalt
so ausgestaltet wird, dass seine Handhabung praktikabel
ist. Auch das ist sicherlich unstreitig.
Wir wollen aber den Richtervorbehalt in den Bereichen, in denen wir ihn nicht für erforderlich halten, nicht
weiter in den Vordergrund stellen. Die Gründe dafür
wurden schon genannt. Hinsichtlich der Untersuchung
und Speicherung anonymer Spuren sind wir der Auffassung, dass der Richtervorbehalt nicht mehr erforderlich
ist. Insofern sind wir auf der Seite derjenigen, die in diesem Zusammenhang seine Abschaffung fordern.
Wir sollten auch eine Änderung des Richtervorbehalts
bei Gefahr im Verzug und Eilbedürftigkeit - diese Fälle
wurden schon angesprochen -, zugunsten der Zuständigkeiten von Polizei und Staatsanwaltschaft in Erwägung
ziehen. Ich denke, auch darüber sollen wir mit dem entsprechenden Verantwortungsbewusstsein nachdenken.
Für sehr wichtig - ich bin froh, dass das Thema heute
angesprochen worden ist - halte ich die Frage der so genannten Massengentests. Ich bleibe hier bei meiner
Meinung, auch wenn sie in meiner eigenen Fraktion umstritten ist. Auch an dieser Stelle gilt: Ein genetischer
Fingerabdruck umfasst hinsichtlich seiner Qualität mehr
als der normale Fingerabdruck, wie wir ihn kennen. Er
liefert nämlich Genmaterial. Diese Tatsache wird von
Wissenschaftlern und zum Beispiel auch vom Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes nicht bestritten. Insofern sollten wir die beiden Möglichkeiten auseinander
halten.
Aber nichtsdestotrotz sind wir der Meinung, dass wir
an dieser Stelle die Aufweichung des Richtervorbehalts
mittragen können. Das werden wir auch tun. Wir wollen
zügig verhandeln und zu einem guten Ergebnis kommen.
Dabei wollen wir dafür sorgen, dass das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger zufrieden gestellt
wird. Wir wollen die Sicherheitsbehörden und die Polizei in ihrer verantwortungsvollen Arbeit unterstützen
und ihnen eine verfassungsrechtlich abgesicherte Grundlage bieten. Wir wollen aber auch für die Werte unserer
Verfassung eintreten, zu deren Erhaltung wir uns alle
verpflichtet haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Statistikregistergesetzes und sonstiger Statistikgesetze
- Drucksache 15/4696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4230 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000
über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4232 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die
Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4233 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker
Beck ({4}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Impulse für eine internationale Ausrichtung
des Schulwesens - Den Bildungsstandort
Deutschland auch im Schulbereich stärken
- Drucksache 15/4723 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c und 23 e
bis l sowie Zusatzpunkt 3 auf. Dabei handelt es sich um
die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. April
2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Polen und der Tschechischen Republik über den Bau einer Straßenverbindung in der Euroregion Neiße, im Raum
zwischen den Städten Zittau in der Bundesrepublik Deutschland, Reichenau ({6}) in
der Republik Polen und Hrádek nad Nisou/
Grottau in der Tschechischen Republik
- Drucksache 15/4467 ({7})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
- Drucksache 15/4697 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Henry Nitzsche
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/4698 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Gunter Weißgerber
Jürgen Koppelin
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4697, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/3351 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({11})
- Drucksache 15/4730 Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4730, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Apothekengesetzes
- Drucksachen 15/4293, 15/4643 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({13})
- Drucksache 15/4749 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolf Bauer
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4749, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung luftversicherungsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 15/4637 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 15/4747 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Ingo Wellenreuther
Rainer Funke
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4747, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Änderungsurkunden vom 18. Oktober
2002 zur Konstitution und zur Konvention der
Internationalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember 1992
- Drucksache 15/3879 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({17})
- Drucksache 15/4678 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4678,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im
Sozialrecht ({18})
- Drucksache 15/4228 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({20})
- Drucksache 15/4751 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Storm
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4751, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({21}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur
Ermächtigung Frankreichs zur Staffelung der
Steuern auf Kraftstoffe ({22})
KOM ({23}) 597 endg.; Ratsdok. 12534/04
- Drucksachen 15/4001 Nr. 1.9, 15/4462 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({24})
Georg Fahrenschon
Kerstin Andreae
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({25}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch zur Überprüfung der Verordnung
({26}) Nr. 4056/86 über die Anwendung der
EG-Wettbewerbsregeln auf den Seeverkehr
KOM ({27}) 675 endg.; Ratsdok. 13808/04
- Drucksachen 15/4213 Nr. 2.49, 15/4675 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({28})
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 23 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 15/4667 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 15/4668 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 178 ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 15/4669 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen von CDU/CSU angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({32}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die
Vorratsspeicherung von Daten, die in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet
und aufbewahrt werden, oder von Daten, die in
öffentlichen Kommunikationsnetzen vorhanden sind, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von
Straftaten, einschließlich Terrorismus
Ratsdok.-Nr. 8958/04
- Drucksachen 15/3696 Nr. 2.15, 15/4748 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Schäfer ({33})
Michael Grosse-Brömer
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a)
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der beruflichen Bildung ({34})
- Drucksache 15/3980 ({35})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Uwe Schummer, Werner Lensing,
Katherina Reiche, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der
dualen Berufsausbildung in Deutschland
durch Novellierung des Berufsbildungsrechts
- Drucksache 15/2821 ({36})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph
Hartmann ({37}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Berufsausbildungsrechts
- Drucksache 15/3325 ({38})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({39}), Ulrike Flach, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 15/3042 ({40})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 15/4112 ({41})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({42})
- Drucksache 15/4752 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Grietje Bettin
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
und Technikfolgenabschätzung ({43})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2004
- Drucksachen 15/3299, 15/4752 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Grietje Bettin
Zum Entwurf eines Berufsbildungsreformgesetzes
der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die FDP
neun Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Willi Brase.
({44})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden
heute den Entwurf des Berufsbildungsreformgesetzes.
Ich möchte zu Beginn darauf hinweisen, dass wir eine
sehr gründliche Beratung und im November 2004 eine
sehr ordentliche Auswertung der Anhörung vorgenommen haben. Wir haben uns in diesem Gesetzesvorhaben
gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion auf Kompromisse geeinigt.
Wir alle wissen, dass dieses Gesetz zustimmungspflichtig ist, also der Zustimmung durch den Bundesrat
bedarf. Ich glaube, mit Recht sagen zu können: Das, was
wir heute vorlegen und verabschieden werden, begründet unsere Hoffnung, dass ein Vermittlungsverfahren
überflüssig wird.
({0})
Ich möchte in diesem Zusammenhang allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern für die angenehme, faire und
fruchtbare Arbeit danken. Ebenfalls möchte ich mich bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bedanken.
({1})
Lassen Sie mich auf einige wenige Punkte eingehen,
die die Diskussion und auch die Zielrichtung noch einmal deutlich machen:
Erstens. Wir haben nach der Anhörung in unserem
gemeinsamen Änderungsantrag die Qualitätssicherung
als Aufgabe für die Berufsbildungsausschüsse und für
die Landesausschüsse für berufliche Bildung aufgenommen und festgeschrieben. Wir haben nicht festgelegt, in
welcher Art und Weise, mit welchen Formen, mit welchen Schritten die Qualitätssicherung in der Berufsbildung herbeizuführen ist. Wir wollten bewusst, dass dies
die Partner, die Mitglieder der Berufsbildungsausschüsse
und der Landesausschüsse, vor Ort umsetzen. Damit geben wir ihnen einen Gestaltungsspielraum, der bisher
nicht vorhanden war. Das ist notwendig und der richtige
Weg.
({2})
Wir haben zweitens die Verbundausbildung im Zusammenhang mit Ausbildungspartnerschaften bis hin
zum externen Ausbildungsmanagement zur besseren Beteiligung von kleinen und mittleren Unternehmen oder
Betrieben aufgenommen. Ich glaube, dass wir damit die
Kooperation qualitativ nach vorn bringen. Wir haben die
begründete Hoffnung, dass sich durch diese Formen, die
wir in den Änderungsantrag aufgenommen haben und
die wir somit im Gesetz festschreiben werden, wesentlich mehr Betriebe an der Ausbildung beteiligen können,
dass sie auch in der Lage sind, jederzeit die notwendigen
Qualitäten sicherzustellen. Das ist ein guter und richtiger
Weg.
({3})
Wir haben in der Vergangenheit festgestellt, dass diejenigen Jugendlichen, die ihre Berufsausbildung an
Schulen absolvieren, häufig einen sehr erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
({4})
Vor diesem Hintergrund haben wir Überlegungen dazu
angestellt und Formen und Verfahren dafür entwickelt,
wie zukünftig die vollzeitschulische Ausbildung mit
Kammerprüfung verbessert wird. Dabei war es uns gemeinsam wichtig, dass die Entscheidung darüber, in welcher Art und Weise vollzeitschulische Ausbildung
durchgeführt wird, welche Ausbildungsgänge notwendig
sind, im Landesausschuss für Berufsbildung mit den beteiligten Sozialpartnern getroffen wird und dass gleichzeitig durch Kriterien die Bundeseinheitlichkeit und das
Berufsprinzip eingehalten werden. Gerade diese stärkere
Beteiligung der Sozialpartner wird dazu führen, glaube
ich, dass die Akzeptanz solcher Ausbildungsgänge steigt
und vermehrt Jugendliche nach Abschluss der Ausbildung Zugang zum Arbeitsmarkt finden, also von Betrieben eingestellt werden. Auch das ist notwendig und richtig.
({5})
Dass wir die Bildungsgänge für vollzeitschulische
Ausbildung entsprechend den inhaltlichen Kriterien in
§ 43 Abs. 2 konzipiert haben, sollte dazu führen - das
möchte ich hier noch einmal deutlich machen -, dass
man nicht nur darauf schaut, den Kammerstempel zu bekommen; entscheidend ist in diesem Fall, dass die inhaltliche Qualität vollzeitschulischer Ausbildung nach
vorn gebracht wird; denn dann haben die Jugendlichen
auch eine bessere Perspektive.
({6})
An die Länder geht daher der Appell: Bitte keine neue
Sparpolitik zulasten der Jugendlichen, sondern Qualitätsoffensive für Beruflichkeit und Berufsprinzip! Das
ist der richtige Weg.
({7})
Wir haben zur Neuausrichtung der Stufenausbildung den Passus aufgenommen: im Ordnungsverfahren
stets zu prüfen, ob es sinnvoll und möglich ist. Auch
nach unserer Entschließung sollen bestehende Ausbildungsordnungen daraufhin überprüft werden, ob Stufenausbildung sinnvoll ist und wie sie vernünftig gemacht
werden kann. Das soll der Hauptausschuss in Form von
Empfehlungen auf den Weg bringen. Wenn wir stärker in
die Stufenausbildung hineingehen, dann wollen wir
auch, dass die Ausbildungsverträge über die Regelausbildungszeit laufen. Damit wird den Jugendlichen mehr
Sicherheit gegeben. Alle Formen der zweijährigen Ausbildungsverhältnisse werden davon nicht tangiert. Das
wollten wir nicht. Aber wir sorgen dafür, dass es nicht
wahllos zu verkürzter Ausbildung en masse kommt,
({8})
wovon manche träumen. Das ist nicht unser Ziel.
Wir haben ebenso verhindert, dass es zu einer weiteren Absenkung der Ausbildungsvergütungen kommt.
Wir wissen, dass einige hier im Hause dies wollten.
({9})
Wie das im Kompromissverfahren so ist, muss man an
einer Stelle etwas geben, damit man an einer anderen
Stelle etwas bekommt. Ich bin dankbar dafür, dass wir in
dieser Frage standhaft geblieben sind. Die Verringerung
der Ausbildungsvergütungen wäre der falsche Weg.
({10})
Wer sich die Zahlen vom Bundesinstitut für Berufsbildung anschaut, wird uns darin Recht geben.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zuge der Debatte haben wir das Ganze noch einmal durchdacht und
Maßnahmen aufgenommen, die auch die Interessen benachteiligter Jugendlicher stärker berücksichtigen. Ich
glaube, dass wir so zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und Ausbildung eine bessere Durchlässigkeit erreichen. Unser Ziel ist es, dass gerade auch in der Berufsausbildungsvorbereitung wieder mehr Jugendliche
mit mehr Praxis in Berührung kommen. Das haben wir
in der vergangenen Legislaturperiode schon beschlossen,
aber das fügt sich jetzt gut ein. Ich glaube, dass diese
Dualität bei der Förderung der beruflichen Ausbildung
richtig ist. Deshalb haben wir ja im Entschließungsantrag darauf hingewiesen, dass die bestehenden unterschiedlichen Förderinstrumente der Bundesagentur für
Arbeit, der Länder und der Wirtschaft im Bereich der so
genannten Benachteiligtenförderung besser und mehr
miteinander verzahnt werden müssen.
({12})
Wir haben sehr lange darüber diskutiert, wie wir die
Mitbestimmung und Beteiligung der Lehrer bei einer
Verbesserung der Kooperation der Lernorte ein Stück
weit sicherstellen können. Ich glaube, dass wir das nun
klar formuliert und festgelegt haben. Wir haben die
Möglichkeit eröffnet, dass Prüfungsausschüsse gutachterliche Stellungnahmen Dritter, insbesondere der Berufsschulen, einbeziehen können. Nicht zuletzt solche
Maßnahmen führen dazu, dass die Kooperation zwischen den schulischen und den betrieblichen Ausbildungsstätten verbessert wird. Aus der Debatte heraus hat
das ja Eingang in das Gesetz gefunden. Weil es auch im
Sinne der Jugendlichen ist, war es uns wichtig, dass zukünftig die Kooperation zwischen Betrieb und Berufsschule verbessert wird.
({13})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Das Berufsbildungsreformgesetz eröffnet in Verbindung mit den
gemeinsam eingebrachten Änderungs- und Entschließungsanträgen ein breites Handlungsfeld in der beruflichen Bildung für alle Beteiligten, es wird die
Modernisierung der Ausbildung vorantreiben und die
betriebliche Ausbildung sichern, die ja das entscheidende Qualitätsmerkmal der Ausbildungspraxis in
Deutschland ist. Angesichts der Tatsache, dass wir im
europäischen Vergleich weniger arbeitslose Jugendliche
als andere Länder haben - es sind immer noch zu viele -,
kann man festhalten, dass der Weg richtig ist, der auf die
Sicherung von Qualität und die Ausweitung betrieblicher Berufsausbildung setzt und einheitliche Berufsbilder im Bundesgebiet sicherstellt.
Ich danke für das geduldige Zuhören.
({14})
Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Bulmahn, es gibt einen Konflikt innerhalb
der Regierung um die so genannten Elite-Unis, bezüglich des Verbots von Studiengebühren ist die Regierung
vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert,
({0})
es gibt einen Konflikt um die Einheitsschule, es gibt aber
auch Konsens - das ist der Lichtblick -, nämlich bezüglich der Berufsbildungsreform, zwischen Rot-Grün und
den christlichen Demokraten bzw. den christlichen Sozialen. Wenn Sie also pragmatisch und ohne ideologische Scheuklappen ein Thema anpacken, dann sind wir
gerne vonseiten der Opposition bereit, mitzuziehen,
({1})
damit sich etwas bewegt zugunsten der Menschen in unserem Land.
({2})
Das Berufsbildungsgesetz stammt aus dem Jahre
1969; damals gab es eine große Koalition.
({3})
- Herr Kollege Rossmann, Sie sind heute aber geladen.
Dabei besteht doch Konsens; gewöhnen Sie sich daran,
zumindest bei diesem Thema. - Die letzte große Novellierung fand 1977 statt. Vor diesem Hintergrund hat die
Unionsfraktion bereits im März 2003 als erste Fraktion
Eckpunkte für eine Novellierung des Berufsbildungsgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben im März 2004 einen konkreten Gesetzentwurf nachgeliefert. Es ist gut, dass auch die Bundesregierung im
Oktober 2004 entsprechend gesprungen ist. Wir haben
durch die wirre Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe Zeit vertan. Uns war immer klar, dass der sinnvolle
und notwendige Ausbildungspakt durch eine längst
überfällige Modernisierung der Berufsausbildung ergänzt werden muss.
({4})
Die Erosion bei der betrieblichen Ausbildung muss
gestoppt werden. Diese erkennen wir daran, dass im letzten Jahr genauso viele Schulabgänger in Ersatzmaßnahmen gelandet sind wie in betrieblichen Ausbildungsverhältnissen. Deshalb besteht hier Handlungsbedarf.
Deshalb ist die Union auch bereit, hier etwas zugunsten
der Menschen mitzubewegen.
Die duale Ausbildung - das haben Sie vollkommen
richtig gesagt, Herr Brase - ist ein Standortvorteil unseres Landes. Bei uns ist die Jugendarbeitslosigkeit im
Durchschnitt um ein Drittel geringer als in den europäischen Ländern, in denen es eine verschulte Berufsausbildung gibt. Das gilt sogar für Finnland, dessen Bildungssystem laut PISA-Studie vorbildlich ist. Auch Finnland
kann bei der dualen beruflichen Ausbildung von
Deutschland lernen.
Es gibt eine starke Integrationskraft der dualen Ausbildung in die Arbeitswelt hinein. So ist es gut und richtig, dass auf unser Streben hin in dem Berufsbildungsreformgesetz endlich die Verbundausbildung rechtlich
abgesichert wird. 40 Prozent aller Betriebe sind zu klein,
um umfassend ausbilden zu können. Sie sind also de
facto nicht ausbildungsfähig. Es macht daher Sinn, dass
sie im Verbund mit anderen Betrieben oder mit überbetrieblichen Ausbildungsstätten in die Lage versetzt werden, betriebliche Ausbildungsplätze bereitzustellen.
Das STARegio-Programm im Rahmen des Ausbildungspaktes ist ein gutes Instrument, das fortgesetzt
werden muss. Zusammen mit den Kammern muss dafür
gesorgt werden, dass die noch nicht ausbildungsfähigen
Betriebe informiert und begleitet werden, damit sie verstärkt betriebliche Ausbildungsplätze bereitstellen. Das
wäre eine wirkliche Entstaatlichung der Berufsausbildung.
({5})
Für uns war auch wichtig, eine engere Lernortkooperation zwischen Betrieb, Berufsschule und Kammer
festzuschreiben. Dazu gehört auch die frühzeitige Information der Bundesländer über berufliche Neuordnungskonzepte, damit sich die Berufsschulen rechtzeitig darauf einstellen können.
Unser Herzblutthema ist in der Tat die Aufwertung
der Stufenausbildung. Wir haben im Gesetzentwurf
festgelegt, dass sie von einer Ausnahme zu einer gleichwertigen Option wird. Wir haben des Weiteren im Gesetzentwurf festschreiben können, dass bei allen neuen
Berufsbildern eine Regelanfrage nach einer Stufenausbildung beantwortet werden muss. Es bedarf einer Begründung, wenn sie nicht stufenweise organisiert wird.
Das dritte Element im Entschließungsantrag ist die
Überprüfung, ob die bestehenden 360 Berufsbilder im
Nachhinein stufenweise organisiert werden können.
Wir appellieren an die zuständigen Tarifparteien, dass
sie das von uns entwickelte Schlichtersystem anwenden.
Aus den Arbeitskämpfen wissen wir, dass Streik und
Aussperrung nicht alles sein können - das wäre verantwortungslos -; denn dadurch werden die Konflikte nicht
beendet. So muss auch bei den Verhandlungen über neue
Berufsbilder zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine Schlichtung stattfinden, damit in absehbarer Zeit und nicht irgendwann der Knoten durchgeschlagen werden kann und nicht die eine Seite die andere
Seite blockiert.
({6})
Wenn dies durch Schlichter nicht möglich ist, dann ist
der Wirtschaftsminister gefordert.
Mit der Stufenausbildung verfolgen wir das Ziel, dass
die 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre ohne eine
Berufsausbildung zumindest im Rahmen der ersten
Stufe, also einer zweijährigen Ausbildung, die Chance
auf einen Einstieg bekommen. Das würde die berufliche
Perspektive dieser jungen Menschen verbessern. Wir
wollen damit Berufsbilder für Hauptschüler im Bereich
der Heil- und Pflegeberufe wie auch im Bereich der KfzMechatroniker öffnen.
Wir müssen auch - entweder gemeinsam oder wir
alleine - die Umsetzung einer zu erwartenden europäischen Richtlinie über den Ausbildungspass anpacken.
Uns liegt daran, dass der Auszubildende, wenn er nach
der ersten Stufe aufhört, über Ausbildungsmodule und
über die betriebliche Praxis im Rahmen eines Ausbildungspasses die zweite Stufe später nachholen kann. Wir
brauchen eine Verzahnung von Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung. Diese Verzahnung fehlt noch im
Gesetzentwurf. Wir werden dies aber im Rahmen der
Umsetzung der europäischen Richtlinie, die wir erwarten, politisch einfordern.
Für uns ist es wichtig, dass die Stufenausbildung
grundsätzlich über drei Jahre geht. Aber wir sollten dafür sorgen, dass die Möglichkeiten im Rahmen einer
zweijährigen Berufsausbildung - beispielsweise im Baubereich - weiterhin erhalten bleiben. Hier sollte es einen
Bestandsschutz für diese Berufsbereiche geben. Wir
wollen am Ende nicht weniger, sondern mehr Stufenausbildung, damit ein Einstiegskorridor für praktisch Begabte in die berufliche Ausbildung geschaffen wird.
({7})
Wenn wir es erreichen, dass in den nächsten zwei Jahren durch die Regelüberprüfung auch bei den bestehenden Berufsbildern der Anteil der Stufenausbildung von
derzeit 8 Prozent auf ein Drittel erhöht werden kann,
dann würde dies bedeuten, dass etwa 40 000 Schulabgänger nicht mehr in Ersatzmaßnahmen landen, sondern eine konkrete betriebliche Ausbildung erfahren.
Das wäre eine echte Entstaatlichung der Berufsausbildung.
Wir haben für die Zulassung der vollzeitschulischen
Ausbildung zur Kammerprüfung klare Kriterien festgelegt. Die Zulassung muss sich am Berufsbild orientieren.
Es muss ein hoher Praxisanteil im Betrieb stattfinden.
Mit dem Landesbildungsausschuss wie auch mit den
Kammern sowie den Wirtschafts- und Sozialpartnern
muss Benehmen hergestellt werden. Diese Festlegung ist
bis zum Jahre 2011 befristet. Dann muss sie überprüft
werden. Das heißt, die betriebliche Ausbildung hat weiter Vorrang und die Verschulung sollte nur eine Ausnahme sein.
Eine gemeinsame Aufforderung ist, verstärkt betriebliche Bündnisse für Ausbildung zu schließen. Hierfür
sind natürlich ausbildungshemmende Vorschriften abzubauen, indem wir beispielsweise fordern, dass von einem
Betrieb, der über Bedarf ausbildet, nicht erwartet werden
kann, dass er eine Übernahmeverpflichtung eingeht. Bereits heute besteht nach Richterrecht die Möglichkeit,
dass man in Verträgen und betrieblichen Vereinbarungen
den gesetzlich festgelegten Tarif um 20 Prozent unterschreiten kann, wenn im Gegenzug mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Solche betrieblichen Bündnisse für Ausbildung sind wichtig. Wir müssen dafür
sorgen, dass alle Schulabgänger eine Chance haben, betrieblich ausgebildet zu werden.
({8})
Die Verlängerung der Probezeit auf vier Monate ist
eine Antwort darauf, dass 25 Prozent der Auszubildenden ihre Ausbildung abbrechen und hiervon ein Drittel
sagt, dass sie aus persönlichen Gründen abbrechen, da
sie den falschen Betrieb oder den falschen Beruf gewählt
haben. Wir wollen verstärkt Blockunterricht einführen.
Das bedeutet aber auch, dass innerhalb der ersten drei
Monate sechs Wochen in der Schule verbracht werden.
Es bleibt zu wenig Zeit, um den Betrieb und den Beruf
kennen zu lernen. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir gemeinsam die Ausweitung der Probezeit auf vier Monate
erreicht haben - mit der Zielsetzung, dass sich sowohl
der Jugendliche als auch der Betrieb frühzeitiger entscheiden kann.
Meine Damen, meine Herren, ich danke Ihnen für die
konstruktive Zusammenarbeit, die wir in diesem Hause
miteinander erlebt haben. Natürlich werden wir in zwei
Jahren mit einer unionsgeführten Bundesregierung das
neue Recht überprüfen. Wir werden Sie als Opposition
einladen, pragmatisch und ohne ideologische Scheuklappen mit uns über eine weitere Verbesserung zu reden.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Lazar,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sieben von zehn jungen Leuten in Deutschland
werden beruflich ausgebildet. Sie absolvieren entweder
eine betriebliche Ausbildung oder einen schulischen
Lehrgang. Leider gibt es viele, die in Warteschleifen auf
eine Ausbildung warten müssen. Unsere Gesetzesreform
beschäftigt sich also mit einem ganz drängenden Problem unseres Bildungswesens. Mit der Novelle zum Berufsbildungsgesetz, die wir heute abschließend beraten,
machen wir einen wichtigen Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit der beruflichen Bildung in Deutschland.
({0})
Damit schaffen wir Perspektiven für viele junge Menschen in unserem Land.
Deshalb freut es mich besonders, dass wir diese Reform mit einer großen Mehrheit in diesem Hause verabschieden können. Diese Reform ist ein gutes Beispiel
dafür, dass der Föderalismus in unserem Lande im Bildungsbereich durchaus vernünftig funktionieren kann.
Alle haben sich auf die Arbeitsteilung eingelassen. Die
Bundesebene regelt die Mobilität und die Einheitlichkeit
der Abschlüsse. Dabei arbeiten die Bildungs- und Wirtschaftsseite zusammen. Der Weg zu diesen Abschlüssen
wird aber von denen gestaltet, die am nächsten dran
sind: von den Sozialpartnern für die betriebliche Seite
der Ausbildung und von den Bundesländern für die
schulische.
Ein besonderer Knackpunkt der Reform war für uns
die Frage: Wie gehen wir in Zukunft mit den so genannten vollzeitschulischen Ausbildungen um? Ich freue
mich, dass wir die Möglichkeit der Zulassung zur
Kammerprüfung für diese Ausbildungsgänge jetzt
deutlich verbessern. Mit der Zulassung zur Kammerprüfung sichern wir die tatsächliche Gleichwertigkeit von
schulischen und betrieblichen Ausbildungen. Ich bin mir
darüber im Klaren, dass nicht alle in diesem Hause restlos davon überzeugt sind.
Fest steht für mich aber, dass die Schule unter den
klaren Anforderungen, die wir jetzt in das Gesetz geschrieben haben, eine sinnvolle Alternative zur dualen
Ausbildung ist und auch sein muss. Das ist eine Aufwertung, die gerade vor dem Hintergrund der Lehrstellenknappheit dringend notwendig ist. Die Zulassung vollzeitschulischer Ausbildungsgänge zur Kammerprüfung
bringt neue Flexibilität mit sich und ist keine Gefahr für
das duale Ausbildungssystem, sondern eine sinnvolle
Ergänzung.
({1})
Eine weitere Verbesserung sehe ich in den neuen Regelungen zur Arbeitszeit während der Ausbildung. Es
war bisher schon möglich, die Ausbildungszeit insgesamt zu verkürzen, sofern das Ausbildungsziel in dieser
Zeit erreicht wird. Unser neuer Gesetzentwurf geht noch
mehr auf persönliche Bedürfnisse ein, indem er eine Verkürzung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit
einschließt. Das ist für viele junge Leute eine große
Hilfe, zum Beispiel für Mütter mit kleinen Kindern oder
für Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen. Damit wird klar, dass es nicht nur um persönliche, sondern
auch um wichtige gesellschaftliche Anliegen geht.
Diese Reform kann und darf aber nicht unser letztes
Wort in Sachen beruflicher Bildung gewesen sein. Wir
müssen mehr tun.
({2})
Wir Bündnisgrünen haben schon lange eine gute Idee:
die Stiftung Betriebliche Bildungschance. Ausgehend
von unserer Grundidee einer eigenverantwortlichen Bürgergesellschaft wollen wir die Ressourcen für mehr Ausbildung besser erschließen. Betriebe, die innovativ ausbilden, werden ideell und finanziell durch die Stiftung
direkt gefördert. Jeder Betrieb, der ausbildet, kann aus
den Stiftungsmitteln einen Teil der Ausbildungskosten
erstattet bekommen. Eine weitere Aufgabe dieser Stiftung soll in der Vernetzung von Akteuren wie Unternehmen, Kammern, Arbeitsvermittlungen und Schulen bestehen.
Bildung ist nicht mit der beruflichen Ausbildung abgeschlossen. Wer auf dem neuesten Wissensstand bleiben will, muss sich auf lebenslanges Lernen einstellen.
Leider ist es uns Grünen nicht gelungen, die Fortbildung mit in das Gesetz aufzunehmen, obwohl nur
eine stetige berufliche Weiterbildung die Innovationsfähigkeit in unserem Land sichern und stärken kann. Mit
dem Gesellenbrief oder dem Diplom in der Hand mögen
die Lehrjahre vorbei sein, lernen müssen wir aber unser
ganzes Leben lang. Wir brauchen einfache und bürgernahe Anreize, um die Bereitschaft zur Weiterbildung in
der Gesellschaft zu erhöhen.
({3})
Das gilt insbesondere für die Menschen, die nur eine geringe Qualifikation haben oder ganz ohne Berufsausbildung dastehen. Ihr Armutsrisiko ist höher als das jeder
anderen gesellschaftlichen Gruppe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Novelle
zum Berufsbildungsgesetz hat der Gesetzgeber einen
großen Teil seiner Hausaufgaben erledigt. Für die jungen
Menschen in unserem Land werden die Veränderungen
aber nur dann positiv erlebbar sein, wenn alle Beteiligten
in unserer Gesellschaft an einem Strang ziehen. In Sachen Ausbildung sind nun die Unternehmer gefragt. Sie
müssen die Verbesserungen nutzen, damit mehr junge
Leute als in den vergangenen Jahren eine berufliche Perspektive erhalten.
({4})
Vielen Dank.
({5})
Frau Kollegin Lazar, Sie haben heute Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag gehalten. Ich gratuliere Ihnen
recht herzlich und wünsche Ihnen persönlich alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Lazar hat eben zu Recht festgestellt, dass junge Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss die sozialen
Härtefälle von morgen darstellen. Es muss Aufgabe dieses Parlaments sein, nicht nur der Sozialpolitiker, sondern auch der Bildungspolitiker, jungen Menschen, die
keinen Schul- oder Berufsabschluss schaffen, zu helfen;
denn auch sie sollen ihren Lebensunterhalt verdienen,
sich selbst eine Zukunft schaffen können.
({0})
Deswegen glauben wir Liberale, dass das Berufsbildungsreformgesetz der Schlüssel ist, um diesen jungen
Menschen die Chance auf eine hervorragende und qualitätsorientierte Ausbildung zu verschaffen, insbesondere
den praxisorientierten jungen Menschen. Die FDP-Fraktion hat daher bereits im Jahre 2001 einen Antrag eingebracht, der darauf abzielt, ein duales und modulares Berufsausbildungssystem in Deutschland einzuführen. Für
uns ist das heute zu verabschiedende Gesetz, Herr Tauss,
ein Lohn dafür, dass wir sehr frühzeitig den Finger in die
Wunde gelegt haben und Sie auf den richtigen Weg gebracht haben.
({1})
Ich weiß: Sie winken jetzt ab. Aber ich darf Sie daran erinnern: Die Modularisierung und die Stufenausbildung waren für Sie am Anfang nicht selbstverständlich.
Für uns dagegen ist es, wie gesagt, der Schlüssel für die
Zukunft eher praxisorientierter junger Menschen.
Trotzdem ist Ihr Berufsbildungsreformgesetz nur ein
halber Schritt nach vorn. Für die FDP war und ist - ich
sagte es schon - die Modernisierung der Berufsbildung
und des Berufsbildungssystems eine äußerst wichtige
Aufgabe. Sie haben in Ihren Gesetzentwurf einige
wichtige Punkte aufgenommen, die auch uns wichtig
sind; das hebe ich hier ausdrücklich hervor. Das betrifft
nicht nur die Verbesserung der Lernortkooperation,
sondern auch die Möglichkeit gestreckter Abschlussprüfungen. Ebenfalls betrifft es die Verwertbarkeit von berufsbegleitenden Qualifikations- und Fortbildungsmaßnahmen.
({2})
Trotzdem sage ich: Sie sind nicht weit genug gesprungen. Die Wirtschaft, insbesondere der Zentralverband
des Deutschen Handwerks, bestätigt jetzt genau das, was
wir immer befürchtet haben, dass nämlich mit einer nur
halbherzigen Einführung der Stufenausbildung - ich
denke insbesondere an die entsprechende Ergänzung des
§ 21 des Berufsbildungsgesetzes im Änderungsantrag zweijährige Berufsausbildungen eigentlich konterkariert
werden. Wir wollten die Stufenausbildung von Anfang
an in allen Berufsbildern; wir wollen eine zweijährige
Berufsausbildung mit einem ordentlichen Abschluss, damit die jungen Menschen, die eher praxisorientiert sind,
schnell einen Arbeitsplatz finden. Darum geht es doch.
({3})
Von daher glauben wir, dass Ihre Reform nur halbherzig
ist.
Einen anderen Punkt möchte ich ebenfalls ansprechen: Die Gefahr der Abwertung der dualen Berufsausbildung durch vollzeitschulische Ausbildung ist aus
unserer Sicht nicht grundlegend gebannt. Die Zuständigkeit für die Zulassung von staatlichen Vollzeitschülern
zur Kammerprüfung kann der Sache nach nur bei den
Berufsbildungsausschüssen der Kammern liegen. In Ihrem Gesetzentwurf wird das den Landesregierungen
übertragen. Ob dazu das geforderte Benehmen mit den
Landesausschüssen ausreichend ist, ist aus meiner Sicht
der Dinge mehr als fraglich.
({4})
Ferner glauben wir, dass eine vernünftige Verschlankung der Berufsbildungsausschüsse in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen ist. Das ist schlecht. Stattdessen wird das am besten arbeitende Gremium, der
Ständige Ausschuss beim Berufsbildungsinstitut, abgeschafft - eine Entscheidung, die von der Wirtschaft, aber
auch von den Gewerkschaften kritisiert worden ist und
auf Unverständnis stößt.
({5})
Zum Bürokratieabbau tragen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf letztlich auch nicht bei; das wissen Sie. Sie wollen aufwendigere Berufsbildungsstatistiken einführen,
die natürlich auch mehr Kosten für die Kammern, für die
Wirtschaft, in Sonderheit für die kleinen und mittelständischen Betriebe, bedeuten. Auch das kann nicht das
Ziel eines solchen Gesetzentwurfes sein.
Last, but not least möchte ich auf Folgendes hinweisen: Es hat schon seinen Sinn, dass heute der sachsenanhaltinische Minister für Wirtschaft, Dr. Rehberger, den
Bundesratsgesetzentwurf einbringen wird. Wir wollen
flexiblere Ausbildungsvergütungen zulassen. Ich frage
mich, warum Sie dabei nicht mitmachen.
({6})
Ihr Bundeswirtschaftsminister, Herr Clement, hat einen
vernünftigen Vorschlag gemacht, nämlich die lokale und
regionale Arbeitsmarktsituation bei den Ausbildungsvergütungen zu berücksichtigen.
Frau Kollegin Pieper, Sie müssen zum Schluss kommen.
Auch das ist ein Punkt, den wir noch einmal aufgreifen wollen. Wir werden dem Gesetzentwurf des Bundesrates zustimmen.
Im Interesse der Jugendlichen werden wir uns heute
bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung der Stimme enthalten. Wir werden diesen
Gesetzentwurf nicht blockieren. Ein halber Schritt ist
aber noch kein ganzer; es gibt also noch viel zu tun.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Ministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Mit dem Berufsbildungsreformgesetz, das wir heute in der abschließenden dritten Lesung gemeinsam erörtern, hat die Bundesregierung die
umfassendste Novelle zum Berufsbildungsgesetz seit
seinem In-Kraft-Treten im Jahre 1969 vorgelegt.
({0})
Der Gesetzentwurf enthält genau die Innovationen, mit
denen die duale Berufsausbildung auch in Zukunft einen ganz wesentlichen Beitrag für die Qualifizierung
sehr vieler Menschen in unserem Land, aber auch dafür
leisten wird, dass Unternehmen auch in Zukunft hervorragend ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
haben werden.
({1})
In den letzten Wochen und Monaten gab es zahlreiche
Gespräche zwischen den Regierungsparteien, zwischen
Regierung und Opposition, zwischen Ländern und Bund
sowie mit den Sozialpartnern. In diesen Gesprächen, die
ganz überwiegend von einem konstruktiven Miteinander
getragen waren - das empfand ich als sehr positiv -, ist
es uns gelungen, tragfähige Kompromisse zu erarbeiten,
ohne die grundsätzlichen Ziele der Reform infrage zu
stellen. Das, was wir hier erreicht haben, halte ich für ein
gutes Ergebnis.
({2})
In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ganz
ausdrücklich bei den Berichterstattern, die hierbei eine
wichtige Aufgabe erfüllt haben, und ebenso dafür, dass
die Verabredungen und Absprachen von allen Beteiligten zuverlässig eingehalten worden sind. Dies ist eine
sehr wichtige Voraussetzung, um zu einem tragfähigen
Kompromiss zu kommen. Ich muss leider feststellen,
dass Absprachen und Vereinbarungen in anderen Bereichen nicht immer zuverlässig eingehalten worden sind.
({3})
Dies trifft, wie einer meiner Vorredner angesprochen hat,
zum Beispiel auf die Absprachen in Bezug auf Spitzenuniversitäten und Exzellenzzentren zu. Hinsichtlich dieses Punktes waren sich die Wissenschaftsminister auch
einig, aber ihre Einigung ist dann leider von CDU-Seite
- nicht von der Bundestagsfraktion, sondern von der
Länderseite - infrage gestellt worden.
({4})
Zuverlässigkeit ist insofern ein wichtiger Punkt, um gute
Kompromisse und Ergebnisse tatsächlich umsetzen zu
können.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, das System
der dualen beruflichen Bildung ist wirklich zu Recht
weltweit anerkannt; darüber sind wir uns wohl einig.
Diese hohe Anerkennung liegt darin begründet, dass es
tatsächlich allen jungen Menschen die Chance bietet,
eine qualifizierte Beschäftigung aufzunehmen und damit
ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Gleichzeitig
sichert das System der beruflichen Ausbildung der Wirtschaft die Fachkräfte der Zukunft. Damit trägt es ganz
entscheidend zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Wohlstand unserer Gesellschaft bei.
({5})
Damit dies so bleibt, muss sich die duale Berufsausbildung immer wieder neuen Herausforderungen stellen.
Ziel der Bundesregierung war es deshalb von Anfang an,
das Berufsbildungsgesetz auf der Grundlage bewährter
Prinzipien so zu modernisieren, dass Ausbildung für alle
sichergestellt ist, dass neue Chancen sowohl für Betriebe
als auch für Jugendliche eröffnet werden, dass Qualität
und Attraktivität der beruflichen Ausbildung weiterentwickelt werden, dass die Arbeitsmarktverwertbarkeit der
Berufsausbildung verbessert und die Mobilität der Fachkräfte gesteigert wird. An diesen Zielen haben wir festgehalten, wir haben sie mit der Novellierung zum Berufsbildungsgesetz auch erreicht.
Der vorliegende Kompromiss knüpft an die bewährten Strukturen der beruflichen Bildung an, integriert aber
auch die Erkenntnisse aus über 30 Jahren Berufsbildungsforschung und aus der Entwicklung der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte. Er wird damit den Ordnungsrahmen für eine moderne berufliche Ausbildung
darstellen.
An dieser Stelle will ich noch einmal einige Kernpunkte herausstellen, weil der gesamte Entwurf weitaus
umfassender ist und viele Aspekte enthält:
Erstens. Wir haben in der Vergangenheit festgestellt,
dass diejenigen, die eine Berufsausbildung an einer Vollzeitschule absolvieren, einen erschwerten Zugang zum
Arbeitsmarkt haben. Dabei handelt es sich vorwiegend
um Mädchen, die überwiegend gute Schulabschlüsse
vorweisen können. Rund ein Drittel dieser Jugendlichen
haben trotz dieser guten Ausbildung erhebliche Schwierigkeiten bzw. schlechtere Berufschancen als diejenigen,
die eine betriebliche Ausbildung absolviert haben. Deshalb wollen wir ihnen die Möglichkeit erschließen, eine
Kammerprüfung abzulegen.
({6})
Das von uns hier Vorgelegte halte ich für einen vernünftigen Vorschlag. Damit geben wir dem Drittel der
Jugendlichen, die sonst nach einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung an einer Vollzeitschule
erneut eine vergleichbare berufliche Ausbildung durchlaufen, die Chance, eine Kammerprüfung abzulegen.
Dadurch erreichen wir - das ist hier schon gesagt worden -, dass die jungen Leute weder Lebenszeit noch
Ressourcen vergeuden, indem sie zum zweiten Mal die
gleiche berufliche Ausbildung machen. Vielmehr bekommen sie im Anschluss an die Kammerprüfung einen
erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Beschäftigung. Ich erwarte - das möchte ich ausdrücklich feststellen, weil ich das auch in meinen Gesprächen mit den
Vertretern von Kammern und Schulen immer wieder klar
gesagt habe - eine stärkere und bessere Zusammenarbeit
zwischen Kammern, Betrieben und vor allen Dingen
Vollzeitschulen, also den Fachschulen.
({7})
Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt; denn die
Fachschulen und Kammern können, wenn sie schon vor
der Prüfung gut zusammenarbeiten, gewährleisten, dass
die Ausbildungen sehr nah beieinander liegen, wodurch
die Beschäftigungschancen gewahrt bleiben.
Zweitens. Jedes Jahr kämpfen wir für ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot. Durch unsere Sonderprogramme und die Maßnahmen der Bundesagentur für
Arbeit können wir, was den Mangel an Ausbildungsplätzen
betrifft, nur bedingt Abhilfe schaffen. Mit dem Pakt für
Ausbildung haben wir in diesem Jahr wirklich einen
deutlichen Erfolg erzielt; denn es sind über 53 000 neue
betriebliche Ausbildungsplätze entstanden. Ich weiß allerdings sehr wohl, dass wir diese Aufgabe auch weiterhin mit großem Engagement anpacken müssen.
Nun erleichtern wir die Anrechnung von Qualifikationen, die im Rahmen dieser Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit erworben wurden, auf die sich anschließende Ausbildungszeit. Das ist mir besonders
wichtig, weil wir als einen Bestandteil des Paktes für
Ausbildung Qualifikationsbausteine und Praktika hervorheben, wodurch die Jugendlichen in Form einer Einstiegsqualifikation Teile einer vollständigen Berufsausbildung erwerben. Es ist für beide Seiten - sowohl für
die Betriebe als auch für die Jugendlichen - wichtig,
dass diese Qualifikationen nicht als nutzlos wahrgenommen werden, sondern ohne Probleme als Teil der beruflichen Ausbildung anerkannt werden.
({8})
Genau das ist die Zielsetzung, die wir mit dieser Bestimmung verfolgen.
Von mehreren Kollegen ist auf die Stufenausbildung
eingegangen worden. Diese Kollegen bitte ich, daran zu
denken, dass wir bis jetzt schon 320 Berufe geschaffen
haben. Das Spektrum unterschiedlicher Qualifikationsebenen innerhalb der Berufsausbildung ist also sehr
breit. Es gibt Berufe, die auch mit einem niedrigeren
schulischen Qualifikationsniveau erlernbar sind, und es
gibt Berufe, die sehr hohe Qualifikationsanforderungen
stellen. Die Anforderungsebenen in diesen 320 Berufen
sind sehr unterschiedlich. Deshalb sollte und darf man
nicht alle Berufe über einen Kamm scheren. Die Ausbildung zu manchen Berufen dauert drei Jahre, andere kann
man in nur zwei Jahren erlernen. Deshalb war es mir immer sehr wichtig, aus der Ausbildungsdauer kein Dogma
zu machen, sondern aufgrund der Anforderungen des
Berufsbildes zu entscheiden, in welchem Zeitraum man
einen Beruf erlernen kann.
({9})
Ich denke, genau das ist der richtige Weg, den wir gehen
sollten und müssen.
Drittens. Das duale Berufsbildungssystem hat sich
in Deutschland bewährt. Das kann man auch daran ablesen, dass die Jugendarbeitslosigkeit bei uns im internationalen Vergleich gering ist. Was bisher zu kurz kam, ist
die internationale Ausrichtung der beruflichen Ausbildung.
({10})
Das neue Berufsbildungsgesetz eröffnet auch hier die
richtigen Möglichkeiten. So ist es möglich, eine Ausbildung, die man im Ausland gemacht hat, in die Gesamtausbildung zu integrieren.
({11})
Dabei handelt es sich also um keine Vergeudung von
Zeit, sondern um einen wichtigen Ausbildungsbestandteil.
Viertens. In diesem Gesetzentwurf geben wir keinen
Königsweg vor, sondern wir bauen die Flexibilität aus
und verstärken die Qualität. Kurz gesagt: Das Berufsbildungsgesetz enthält ein umfassendes Instrumentarium
zur Sicherung der Qualität der beruflichen Bildung,
({12})
gestattet aber auch eine flexible Anpassung an die Bedürfnisse einzelner Berufsbereiche. Dieses Instrumentarium wird durch die im Änderungsantrag enthaltenen
Regelungen zur Qualitätssicherung ergänzt, deren stetige
Entwicklung als Aufgabe für den Landesausschuss und
den Berufsbildungsausschuss in den Gesetzentwurf aufgenommen wird.
Fünftens. Im Bereich des Prüfungswesens haben wir
die Durchführung von Abschlussprüfungen in zwei
Teilen ermöglicht. Diese Erfahrung haben wir in den
letzten Jahren und Jahrzehnten gewonnen. Nun schaffen
wir hier Klarheit und führen diese Möglichkeit ein. Dadurch wird die Durchführung von Prüfungen für beide
Seiten erheblich erleichtert.
Sechstens. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um die
Verfahren im Bereich der beruflichen Bildung zu verschlanken, Gremien abzuschaffen oder zusammenzulegen und damit auch die Zuständigkeitsregelungen transparenter zu gestalten.
Ganz sicher werden wir in den kommenden Jahren
auch die Verbundausbildung ausbauen und das STARRegio-Programm weiter stärken. Ebenfalls werden wir
die Berufe immer wieder modernisieren, wie wir das
auch in den letzten Jahren unter großen Anstrengungen
gemacht haben. Wir haben von den 320 Berufsausbildungen rund 160 modernisiert. Kurz: Ich denke, wir
schaffen mit diesem Gesetz den Rahmen für eine gute
Ausbildung für alle Jugendlichen, von der gleichzeitig
auch die Unternehmen profitieren.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Lensing,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Lassen Sie sich überraschen, Herr Tauss!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Ministerin Bulmahn, ich habe Sie selten so
entspannt und mit solch strahlenden Augen gesehen
({0})
wie heute bei Ihrem Beitrag, bei dem Sie auf einem
Kompromiss aufbauen konnten, den wir zwischen unseren Fraktionen erzielt haben. Ich denke, dass Ihnen diese
Novellierung ein Aufatmen beschert, nachdem unser
höchstes deutsches Gericht gleich zweimal - mit seinen
eindeutigen Urteilen zur Juniorprofessur und zu den Studiengebühren - aus verfassungsrechtlichen Gründen die
Umsetzung von Kernpunkten Ihrer Bildungspolitik verhindert hat und verhindern musste.
({1})
Sie, Frau Bulmahn, plagt halt zu sehr die unselige Umständlichkeit einer überstürzten Bildungspolitik und Ideologie.
({2})
Wir hingegen haben uns, unter anderem unter Federführung von Herrn Brase, den es einmal zu loben gilt
({3})
- natürlich nicht zu viel -, bei unseren interfraktionellen
Gesprächen mit der Bundesregierung vom Gedanken
- und das ist jetzt entscheidend - realitätsbezogener
Überlegungen und pragmatischer Handhabe leiten lassen.
({4})
Von daher begrüße ich den erzielten Konsens generell,
unterstützt er doch nicht nur die ausbildenden Betriebe:
Er nützt vor allem auch den vielen jungen Menschen, die
eine duale Ausbildung absolvieren wollen.
Der heutige Tag kennt letztlich eine eindeutige Gewinnerin: die Jugend. Sie wird und sie soll zu unser aller Freude die wahre Nutznießerin des neuen Berufsbildungsgesetzes sein - und sie wird es sein.
({5})
Dies ist umso wichtiger, weil Ende Oktober 2004
zwar 9 500 Ausbildungsplätze unbesetzt waren, aber zugleich immer noch 34 500 Jugendliche nach einem Ausbildungsplatz suchen mussten - eine entschieden zu
hohe Anzahl! Allerdings sind die Ausbildungsvoraussetzungen immer noch nicht akzeptabel. Der Berliner
SPD-Bildungssenator hat es in einem völlig unerwarteten Akt der Einsicht Anfang dieser Woche auf den Punkt
gebracht - ich zitiere -:
Wir entwickeln eine Schülergeneration, die auch
nicht annähernd die Anforderungen der Wirtschaft
erfüllt.
Hierauf mussten wir bei unseren Überlegungen zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes Rücksicht nehmen und wir haben es getan. Wir haben auch berücksichtigt, was man traurigerweise feststellen muss: dass die
Mängel der jungen Menschen nicht zuletzt auch mit der
Bildungsferne und dem Desinteresse ihrer Familien zusammenhängen. Genau an diesem Punkt beginnt bekanntlich ein verhängnisvoller Kreislauf: zuerst keine
ausreichende Schulbildung, dann keine Lehrstelle und
schließlich keine Beschäftigung. Hier müssen wir gegensteuern, und mit dem neuen Gesetz steuern wir auch
gegen.
Deswegen ist für die berufliche Bildung ein dringender Handlungsbedarf angezeigt und nicht etwa, Frau
Bulmahn, Ihre verhängnisvolle Devise zu verteidigen:
„Wir werden alles ändern, wenn wir das gegliederte
Schulwesen abschaffen und die Einheitsschule einführen.“
({6})
Ihre Vorstellungen in diesem Bereich sind fataler Ausdruck blanker Illusion. Der Leiter des neu gegründeten
Berliner Instituts für Qualitätssicherung im Bildungswesen, Professor Dr. Köller, mahnt zu Recht eine grundlegende Reform berufsvorbereitender Schulen an. Daher
sollen gerade den Schulen, die zur Ausbildungsfähigkeit
hinführen wollen, Chancen zur verstärkten Sozialarbeit,
Chancen zur Sprachförderung und Chancen zur Vermittlung von Basiskompetenzen eröffnet werden. Wir brauchen eine stärkere Anbindung der Lehrkräfte in den
Schulen an die Praxis. Daher fordere ich: Praktiker in die
Schulen und Lehrer in die Betriebe!
({7})
Das fördert den Weitblick und wird ein Mittel gegen berufliche Langeweile sein.
Wir, die CDU/CSU, haben wesentliche Aspekte, die
zum Teil heute auch schon gewürdigt wurden, bei der
Novellierung umgesetzt. Ich will nur drei benennen:
Erstens. Durch die von der Unionsfraktion erreichte
Einführung sicherer Kriterien für die Zulassung vollzeitschulisch Ausgebildeter zur Kammerprüfung können
besagte Absolventen eine reguläre Kammerprüfung ablegen, wenn deren schulischer Bildungsgang nach Inhalt,
Anforderung und zeitlichem Umfang einem anerkannten
Ausbildungsgang entspricht.
({8})
- Herr Dr. Rossmann, ich merke Ihnen an, wie begeistert
Sie von dieser Idee meiner Fraktion sind.
({9})
Einer drohenden Verschulung der dualen Ausbildung haben wir durch diese Bedingungen einen Riegel vorgeschoben. Daneben haben wir uns bemüht, das Problem
der zeitraubenden Warteschleifen ebenfalls zu lösen.
Gleichwohl - das ist schon angesprochen worden - können die Länder die entsprechenden Rechtsverordnungen
nur im Benehmen mit dem Landesausschuss für Berufsbildung erlassen. Pragmatisch gesprochen: Es ist alles
frei von Ideologie.
Zweiter Gedanke. Entsprechend den Vorschlägen von
Baden-Württemberg können auf dem Kammerzeugnis
nun entweder die Abschlussnote der Berufsschule als
Ganzes oder auch einzelne Zeugnisnoten der Schulen
gesondert ausgewiesen werden. Ich halte das deswegen
für enorm wichtig und entscheidend, weil auf diese Art
und Weise der dringenden Notwendigkeit entsprochen
werden kann, Schüler und Lehrkräfte bei ihrer Arbeit zu
motivieren.
Drittens. Mit der Einführung eines Stimmrechts für
Lehrerinnen und Lehrer in den Berufsbildungsausschüssen konnte die CDU/CSU-Fraktion die Attraktivität der Berufsschulen in einem vertretbaren Maß weiter
steigern. Ich weiß wohl, wie problematisch das ist. Wir
sind jedoch begeistert und freuen uns.
Ich komme auf den Anfang meiner Ansprache
({10})
und auf die Begeisterung der Ministerin darüber zurück,
dass wir folgende Ziele erreicht haben:
Erstens nenne ich die Aufwertung der Stufenausbildung, die Bündnisse für Ausbildung und das Schlichtermodell für die Schaffung moderner Berufsbilder.
Zweitens nenne ich die Verbundausbildung und die
Kooperation der Lernorte.
Drittens haben wir mit der Unterbreitung und Durchsetzung von 15 weiteren ausbildungsfördernden Vorschlägen nur einem gedient, nämlich unserer Jugend.
({11})
Frau Präsidentin, ich komme zu meinem Schlussgedanken. Wenn allerdings die Bundesregierung die Fesselung durch die Überregulierung am Arbeitsmarkt
nicht endlich löst,
({12})
dann wird es sowohl mit einem als auch ohne ein novelliertes Berufsbildungsgesetz keine ausreichende Arbeit
und auch keine Aussicht auf eine qualitätsreiche Ausbildung für unsere Jugend geben.
Ich bedanke mich, nicht zuletzt für die Begeisterung
in den Reihen der SPD.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lensing, Herr Schummer, wenn sich Ideologen
wechselseitig Ideologie vorwerfen, dann sollten wir uns
darauf besinnen, dass Sie genauso Interessen vertreten
wie wir; das ist auch so in Ordnung.
({0})
Damit ist aber niemand frei davon, dass er sie engagiert
vertritt. Wenn wir ein gemeinsames Ergebnis erreichen,
dann gehört dazu auch eine ausdrückliche Anerkennung
der Tatsache, dass dieses Ergebnis auf dem fußt, was die
Regierung vorgelegt hat. Dies im Nachhinein immer
auseinander zu rechnen - hier Sie und da wir -, entfernt
uns ein bisschen von dem Geist, den man sich beim gemeinsamen Arbeiten souverän wechselseitig bescheinigen könnte.
({1})
Ich fühle mich deshalb ermutigt, Gemeinsamkeiten
hervorzuheben, wobei vielleicht ein Blick in die Geschichte hilft. Dieses Berufsbildungsgesetz ist jetzt
35 Jahre alt und ist schon damals ein hervorragendes Gesetz gewesen. Es ist in erster Lesung 1966 entstanden.
Das war übrigens in der Zeit, als die FDP aus der Regierung ausschied und es zur großen Koalition kam. Es ist
in der großen Koalition unter dem Arbeitsminister
Katzer beschlossen worden. Folgende kleine Bemerkung
sei mir erlaubt: Das waren noch Sozialausschüsse, Herr
Schummer.
({2})
Es war insoweit ein gutes Ergebnis, als auch in den
Debattenbeiträgen gesagt wurde - wenn ich das richtig
nachgelesen habe, war das der Kollege Diebäcker,
CDU -: Eine Reform der Berufsbildung ist in den seltensten Fällen spektakulär. Sie ist dann gut, wenn sie
konsensual ist, weil sie viele Beteiligte braucht und viele
Beteiligte mitnehmen muss. Sie ist dann erfolgreich,
wenn sie sich auf Veränderungen einstellt.
Ich will einmal einen Blick zurück wagen: Was war
vor 35 Jahren, was ist jetzt? Damals gab es zwar noch
keine Berufsbildungsstatistik, aber sicher ist, dass damals die Quote der Betriebe, die ausgebildet haben,
deutlich höher war, als sie es jetzt ist. Heute liegt die
Kennzahl bei 25 Prozent, vor 20 Jahren lag sie bei
35 Prozent, vor 35 Jahren wahrscheinlich sogar bei
40 bis 50 Prozent. Jetzt Verbundausbildung, Berufsbildungsplanung in der Region und Lernortkooperationen
zu verbessern, ist eine adäquate Reaktion darauf.
({3})
Wir wissen auch, dass es damals nicht so viel schulische
Ausbildung gab. Heute liegt die Zahl der schulischen
Ausbildungsverhältnisse bei rund 500 000, die der vollzeitschulischen bei 200 000. Ich bin sicher, damals lag
diese Zahl eher bei 20 000 oder 30 000.
Das heißt für unseren Blick in die Zukunft: Es ist
wichtig, das duale Berufsbildungssystem als zentralen
Teil zu stärken. Gleichzeitig müssen wir anerkennen,
dass es mittlerweile in der beruflichen Bildung einen
Dualismus gibt. Auf diesen Dualismus - neben einer
qualifizierten schulischen Ausbildung muss eine berufliche Ausbildung stehen - können wir nicht mehr verzichten; wir müssen beide Elemente weiterhin anbieten und
uns um sie bemühen.
Das wird für die Zukunft - insofern wird daraus ein
Trialismus - noch wichtiger werden: Damals war es
noch unvorstellbar, dass es berufliche Bildung in diesem
Sinne auch an Hochschulen geben würde. Aber natürlich
kommen wir in eine solche Entwicklung hinein, dass
auch an den Hochschulen die Bachelor- und Masterabschlüsse mehr und mehr zu einem Maßstab der beruflichen Ausbildung werden. Das wird die Reformperspektive für das sein, was in 20 Jahren neu diskutiert werden
wird. Inwieweit hat man es geschafft, das klassische duale System mit der Perspektive für eine hochschulische
Ausbildung zu verbinden? Dies ist bisher noch ungenügend geschehen, aber diese Durchlässigkeit muss hergestellt werden: duale Ausbildung, schulische Ausbildung,
hochschulische Ausbildung.
({4})
Ich spreche dies deshalb an, weil wir hier auch eine Zukunftsperspektive über das hinaus gewinnen können,
was wir alles schon geregelt haben. Dies sollten wir im
Interesse der Jugendlichen und der Qualitäten am Wirtschaftsstandort Deutschland angehen.
Eine kleine Bemerkung möchte ich machen, um eine
fachliche Differenz anzusprechen. Was passiert jetzt mit
der Stufenausbildung? Dazu gibt es zwei verschiedene
Blickwinkel. Der eine Blickwinkel ist, dass man die Stufenausbildung, die gesetzlich schon lange möglich ist, so
durchstrukturiert, dass sich gewissermaßen eine Führung
ergibt, in deren Zuge man sich von Stufe zu Stufe weiterentwickeln kann. Wenn es Ihnen darum geht - eine neue
Strukturierung -, dann sollten wir uns zusammen engagieren. Wenn es Ihnen bei der Stufenausbildung - das ist
der andere Blickwinkel - darum geht, diese abbrechen
zu können, und zwar gegen den Willen desjenigen, der
den Einstieg geschafft hat, dann unterscheidet uns das.
({5})
An der Stelle jetzt den Kompromiss gefunden zu haben,
dass derjenige, der für drei Jahre ein Ziel und anschließend eine Qualifikation hat, auch sicher sein kann, dass
ihm für drei Jahre diese Chance bleibt, ist etwas, wofür
wir uns ganz vehement und ganz ideologisch immer wieder einsetzen, weil wir ein Interesse an diesen jungen
Menschen haben.
({6})
Ich will mit einem Bezug auf die damaligen Debatten
enden. Das Berufsbildungsgesetz ist gegen Ende der
großen Koalition verabschiedet worden. Es gab damals
fantastische Anträge - mich zumindest hat es gefreut,
das lesen zu können -, unterzeichnet von Stücklen,
CDU/CSU, und Genossen.
({7})
Das hatte historischen Wert. Willi Brase und Herr
Schummer, vielleicht geht das, was jetzt von Ihnen parlamentarisch mit erarbeitet worden ist, in eine spätere
Debatte einmal so ein: Anträge Brase/Schummer, große
Mehrheit, Berufsbildungsreform gut verbessert. Wir bedanken uns dafür.
({8})
Das Wort hat der Minister für Wirtschaft und Arbeit
des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Horst Rehberger.
Dr. Horst Rehberger, Minister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es war eine sehr gute Entscheidung, dass im
Jahre 2004 keine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt
worden ist.
({1})
Trotz schwieriger Rahmenbedingungen hat es die gewerbliche Wirtschaft geschafft, den nationalen Ausbildungspakt einzuhalten und durch die Schaffung von
54 000 neuen Ausbildungsplätzen einen tatsächlichen
Zuwachs von immerhin rund 14 000 Arbeitsplätzen zu
erreichen. Marktwirtschaft braucht eben nicht staatlichen Zwang, sondern die Freiheit, unternehmensbezogen die richtigen Entscheidungen treffen zu können.
({2})
Die Zahl der Ausbildungsplätze, insbesondere in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, hätte noch deutlich
gesteigert werden können, wenn wir eine flexiblere Regelung der Ausbildungsvergütung hätten.
({3})
In den beiden zurückliegenden Jahren waren bei mir im
Ministerium wiederholt mittelständische Unternehmer
mit Lehrlingen. Weder die Unternehmer noch die Lehrlinge konnten es fassen, dass das Lehrverhältnis von der
zuständigen IHK nicht anerkannt werden durfte, weil die
zwischen ihnen vereinbarte Lehrlingsvergütung von
200 bis 250 Euro pro Monat mehr als 20 Prozent unter
der im einschlägigen Tarifvertrag festgelegten Höhe lag.
({4})
Für die jungen Leute hatte dies einen fatalen Doppeleffekt und das war das Gegenteil einer vernünftigen
Lösung.
({5})
Erstens mussten sie sich mit einer außerbetrieblichen
und damit eindeutig schlechteren Ausbildung zufrieden
geben und zweitens erhielten sie nicht die 200 bzw.
250 Euro Vergütung im Monat, wie es im Vertrag stand,
sondern die staatlich festgelegten 150 Euro für die außerbetriebliche Ausbildung. Welchen Vorteil soll das für
junge Menschen bringen?
({6})
Minister Dr. Horst Rehberger ({7})
Jeder, der sich nur ein wenig in Ostdeutschland auskennt,
({8})
wird bestätigen, dass das, was ich hier geschildert habe,
keine ungewöhnlichen Fälle sind.
({9})
Inzwischen ist es offenbar auch nicht mehr ungewöhnlich, dass Lehrherr und Lehrling zwar die tarifvertraglich
vorgegebene Vergütung in den Vertrag aufnehmen, in
der Praxis aber niedrigere Vergütungen bezahlt werden.
({10})
Ich sage Ihnen offen: Ich finde es bedrückend, dass gestandene Handwerksmeister und junge Auszubildende
den Weg eines Rechtsverstoßes gehen müssen, um etwas
bildungspolitisch Gewolltes mit dem ökonomisch Machbaren auf einen Nenner bringen zu können.
({11})
Hier im Bundestag muss ich sagen: Welches Bild von
unserem Staate bekommen 16-, 17- und 18-Jährige,
wenn sie schon bei der Ausbildung einen solchen Weg
gehen müssen?
({12})
Der Bundesrat schlägt deshalb vor, anstelle der bisherigen Regelung der Ausbildungsvergütung im Berufsbildungsgesetz nur noch eine Untergrenze festzulegen, die
bei circa 180 Euro in den alten Bundesländern und circa
150 Euro in den neuen Bundesländern liegt.
Damit wir uns nicht missverstehen: Selbstverständlich ist es den Tarifvertragsparteien sowie den einzelnen
Unternehmern und Auszubildenden völlig unbenommen, für ihren jeweiligen Verantwortungsbereich höhere
Vergütungen festzulegen. Das steht also gar nicht zur
Debatte.
({13})
Aber man kann nicht alle über einen Leisten schlagen.
Das ist das Entscheidende.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Dr. Horst Rehberger, Minister ({0}):
Ich bin mit meinen Ausführungen gleich am Ende
und bin dann gern bereit, die Zwischenfrage zuzulassen.
Nein, am Ende der Redezeit kann ich keine Zwischenfrage mehr zulassen.
Dr. Horst Rehberger, Minister ({0}):
Ich bitte um Nachsicht. Ich möchte dann - - Ach,
Frau Pieper! Dann gerne.
({1})
- Wenn jemand aus der Fraktion der SPD oder aus der
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hätte fragen wollen, dann wäre es noch lebendiger geworden. Aber bei
der Kollegin Pieper ist es kein Problem.
({2})
Auch wenn das vielleicht überraschend ist, so möchte
ich doch eine Zwischenfrage stellen. Herr Minister
Dr. Rehberger, ich möchte Sie fragen, ob es richtig ist,
dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
unter der Leitung von Herrn Clement an einer Lösung
der Frage der Angemessenheit der Ausbildungsvergütungen sehr interessiert war und gern wollte, dass die lokale und regionale Arbeitsmarktsituation angemessen
berücksichtigt wird, und somit den Gesetzentwurf des
Bundesrats unterstützt hätte, wobei dieser Gesetzentwurf
nicht nur von CDU/FDP-Landesregierungen im Bundesrat unterstützt wurde, sondern auch von einigen anderen.
({0})
Dr. Horst Rehberger, Minister ({1}):
Frau Pieper, das ist gar nicht überraschend, sondern
das ist Gedankenübertragung; denn genau darauf wollte
ich eben hinweisen.
({2})
Es ist in der Tat so, dass den Betroffenen größere Spielräume für die Vergütungsregelung eingeräumt werden
müssen.
Im Interesse einer guten Ausbildung der jungen Generation bitte ich Sie, dem Vorschlag des Bundesrats zu
folgen. Nicht zuletzt wegen der von Frau Pieper zu
Recht angesprochenen weitgehenden Übereinstimmung
zwischen der Auffassung des Bundeswirtschaftsministers und dem, was ich hier vorgetragen habe, fände ich es
wunderbar, wenn man dem Konsens, der in anderen Fragen bereits gefunden worden ist, hier noch einen Konsens hinzufügen würde. Das käme der jungen Generation zugute.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie
eindringlich: Helfen Sie mit, dass möglichst vielen jungen Menschen gute Ausbildungsplätze in der gewerblichen Wirtschaft angeboten werden können.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das geltende Bundesbildungsgesetz stammt aus dem
Jahre 1969. Es ist also mehr als 35 Jahre alt. Allein das
zeigt, dass das Gesetz erneuert und den Bedingungen des
21. Jahrhunderts angepasst werden muss.
Hinzu kommt, dass es zwischen uns im vergangenen
Jahr einen auch bis jetzt noch nicht ausgestandenen
Konflikt gab über die Zahl der verfügbaren Ausbildungsplätze und über den Weg, allen Jugendlichen eine
Ausbildung zu ermöglichen. Dieser Streit, Ausbildungsumlage oder Ausbildungspakt, beantwortet allerdings
noch nicht die Frage nach der Ausbildungsqualität.
Hierzu muss das Berufsbildungsreformgesetz, über das
wir hier sprechen, Maßstäbe setzen.
Die Frage, die sich logisch stellt, lautet also: Entspricht der vorliegende Kompromissentwurf den Kriterien für eine qualifizierte Berufsausbildung im 21. Jahrhundert? Nach Prüfung der Vorlage und Beratung mit
den zuständigen Abgeordneten in den PDS-Fraktionen
der Landtage lautet meine Antwort, dass diese Qualitätskriterien leider nicht gegeben sind.
Sie wissen, dass wir mit unserer Kritik nicht allein
stehen. Zum Beispiel auch der DGB hat grundsätzliche
Bedenken und hat deshalb einen eigenen Entwurf in die
Debatte gedrängt. Er kommt den Vorstellungen der PDS
näher als die Entwürfe, die heute zur Abstimmung stehen. Wir halten zum Beispiel die Qualitätsansprüche an
eine moderne Berufsausbildung für unzureichend normiert. Dazu bedürfte es anspruchsvollerer Standards bei
den Auszubildenden und ehrgeiziger Ziele für die Auszubildenden.
Ich habe bereits in der ersten Lesung festgestellt, dass
die vorgeschlagene Arbeit mit Ausbildungsmodulen
sinnvoll sein kann. Sie darf allerdings nicht dazu führen,
dass die Gesamtausbildung aus dem Blick gerät. Diese
Gefahr ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht gebannt.
Auch das viel gelobte duale Ausbildungssystem wird
durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht gestärkt, im
Gegenteil. Wie Sie wissen, ziehen sich immer mehr
- insbesondere große - Unternehmen aus der Berufsausbildung zurück. Diesem Trend müsste ein modernes Gesetz Einhalt gebieten. Stattdessen versuchen Sie, die außerbetriebliche Ausbildung aufzuwerten. Die Praxis
zeigt, dass dies pure Theorie ist. Denn außerbetriebliche
Ausbildung kann nicht auf demselben anerkannten Niveau angeboten werden, wie es den Betrieben möglich
ist.
Außerdem geht Ihr Ansinnen wieder einmal zulasten
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Schließlich ist
noch ein weiterer wichtiger Aspekt anzuführen, der zwar
immer wieder betont wird, im Gesetzentwurf aber unzureichend berücksichtigt ist: der richtige und wichtige
Anspruch auf lebenslanges Lernen.
Kurzum: Die Reform der Berufsausbildung ist überfällig, aber sie geht uns, der PDS im Bundestag, nicht
weit genug.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind gemeinsam angetreten, um die längst
fällige Novellierung des Berufsbildungsgesetzes zu erreichen,
({0})
und zwar nicht deshalb, weil wir ein ausgesprochenes
Harmoniebedürfnis gegenüber Rot-Grün haben, sondern weil im Interesse der jungen Menschen in unserem
Land ein modernes Berufsbildungsrecht dringend notwendig ist, das von zwei Leitgedanken geprägt ist. Erstens brauchen wir mehr Ausbildungsplätze für die jungen Menschen in unserem Land und zweitens ist der
Erhalt des dualen Ausbildungssystems in Deutschland
zwingend erforderlich.
Wir, die CDU/CSU, haben die wesentlichen Beiträge
zur Erreichung dieses Ziels in den vorliegenden Gesetzentwurf aufnehmen können. Die maßgeblichen Punkte
aus dem Gesetzentwurf der CDU/CSU wurden übernommen, sodass wir trotz der von Ihnen zum Schluss
eingeschmuggelten Änderungen, die das Ergebnis - und
die Zufriedenheit unserer Wirtschafts- und Arbeitspolitiker; darauf komme ich gleich noch - etwas trüben, im
Endeffekt von einer zukunftsweisenden und substanziellen Verbesserung für die ausbildungswilligen jungen
Menschen in unserem Land sprechen können.
({1})
Ich will aber ausdrücklich betonen, dass mehr Ausbildung in Deutschland nur dann möglich ist, wenn es auch
der Wirtschaft in unserem Land wieder besser geht. Deswegen will ich es an dieser Stelle nicht versäumen, den
Unternehmen und Betrieben zu danken, die trotz der
schwierigen Situation in einem hohen Maß die erfolgreiche Nachvermittlung an Lehrstellen - nämlich doppelt
so viele wie im vergangenen Jahr - erreicht haben. Das
ist das Ergebnis von freiwilligen Kraftanstrengungen
Tausender von Betrieben, die ihrer Verantwortung nachkommen, und zwar ohne die staatliche Zwangsregulierung durch eine rot-grüne Ausbildungsplatzabgabe.
({2})
Wenn wir mit einem neuen Berufsbildungsgesetz diese
freiwillige Bereitschaft noch erhöhen können, dann wäre
das sehr positiv.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt zwar einen
Kompromiss dar, aber dies rechtfertigt nicht, dass die
IG Metall in ihrer gestrigen Pressemeldung von einem
„faulen Kompromiss“ gesprochen hat, nur weil darin
keine Ausbildungsplatzabgabe vorgesehen ist.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, nehmen Sie
Ihre Verantwortung wahr und erklären Sie den Gewerkschaften, dass es unverantwortlich ist, wenn es um die
existenziellen Belange der jungen Menschen in unserem
Land geht, alle Leistungen schlechtzureden, nur weil wir
der ideologischen Zwangsregulierung des Ausbildungsmarktes nicht folgen! Darin liegt Ihre Verantwortung.
({3})
Die CDU/CSU hat substanzielle Verbesserungen in
den Gesetzentwurf eingebracht. Wir haben Ihnen deutlich gemacht, dass es uns auf drei entscheidende Punkte
ankommt. Erstens muss die Anzahl der ausbildungsfähigen Betriebe gesteigert werden. Zweitens muss die Entwicklung neuer Berufsbilder beschleunigt werden. Drittens muss es zu einer stärkeren Flexibilisierung und
Kostensenkung in der Ausbildung kommen. Dies alles
muss mit der Stärkung des dualen Ausbildungssystems
einhergehen, weil dies das oberste Qualitätsmerkmal unserer Berufsausbildung darstellt und weil es wichtig ist,
dass die Ausbildung praxisbezogen und anwendungsorientiert in den Betrieben stattfindet.
Deswegen bin ich außerordentlich froh darüber, dass
die beabsichtigte Gleichstellung von dualen Berufsbildungssystemen und schulischer Berufsausbildung vom
Tisch ist und in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht
festgelegt wird. Wir haben klare Grenzen gezogen, die
eine praxisfremde Ausbildung nicht zulassen. Ein angemessener Anteil an fachpraktischer Ausbildung muss
gewährleistet sein. Dies soll durch Lernortkooperation
erreicht werden. Die Wirtschaftsverbände und die Kammern entscheiden mit, wie ein angemessener Teil fachpraktischer Ausbildung auszusehen hat. Wir haben die
entsprechende Regelung zeitlich befristet, sodass eine
schleichende Verschulung der Berufsausbildung nicht
möglich ist.
CDU und CSU haben „betriebliche Bündnisse“ in den
Entschließungsantrag hineingeschrieben. Wir haben damit einen Meilenstein im Hinblick auf die weiter gehende Frage gesetzt: Was kann zukünftig vor Ort in den
Betrieben, abweichend von tarifvertraglichen Vereinbarungen, an Regeln getroffen werden? Wörtlich heißt es:
Der Deutsche Bundestag begrüßt ausdrücklich bestehende betriebliche Bündnisse für mehr Ausbildung
und fordert die betrieblichen Partner auf, dieses Instrument der Steigerung des Ausbildungsplatzangebotes verstärkt zu nutzen.
Ich hoffe darauf, dass dieses Instrument verwendet wird,
um einmal ohne jegliche Aufgeregtheiten über die Höhe
der Ausbildungsvergütungen zu reden. Denn ich bleibe
dabei: Mir ist jeder Ausbildungsplatz lieber, der für
500 Euro geschaffen wird, als derjenige, der für
750 Euro nicht geschaffen wird.
({4})
Wir hätten eine klare Aufwertung der Stufenausbildung
erreicht, wenn Rot-Grün nicht zuletzt noch Änderungen
vorgenommen hätte, die die Wirkung der Stufenausbildung leider nicht voll entfalten lassen. Herr Kollege
Brase, darüber haben wir bereits in der gestrigen Ausschusssitzung diskutiert und wir haben deutlich darauf
hingewiesen, dass wir das so nicht akzeptieren können.
Darüber werden wir in aller Deutlichkeit noch einmal reden müssen. Natürlich muss praktisch begabten Auszubildenden, die in den heutzutage oft theorieüberlasteten
Ausbildungsgängen vielleicht gar keine Chancen hätten,
in einer gestuften, theoriegeminderten Ausbildung ein
„echter“ Abschluss ermöglicht werden. Natürlich muss
es also denjenigen möglich sein, einen Ausbildungsvertrag auch auf die erste Stufe abzuschließen. Darin liegt
doch die echte Chance, die Verbreiterung der Ausbildungsplatzangebote zu schaffen.
Der von Ihnen kurzfristig geänderte Gesetzentwurf
untersagt dies jetzt leider. Der Ausbildungsvertrag muss
über die komplette Regelausbildungsdauer abgeschlossen werden. Damit wird teilweise der Zweck der Stufenausbildung konterkariert. Sie vertun hier eine echte
Chance, mehr Ausbildungsstellen in den Betrieben zu
schaffen. Aber wie gesagt, darüber werden wir noch einmal reden müssen.
„Wir brauchen nicht mehr Bürokratie, sondern mehr
Flexibilität in der beruflichen Bildung.“ Das hat Frau
Ministerin Bulmahn in der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs gesagt. Daraufhin habe ich sie auf
die von Ihnen vorgesehenen regionalen Berufsbildungskonferenzen hingewiesen. 180-mal in Deutschland, bei
jedem Arbeitsamt, haben Sie sich so ein Ungeheuer vorgestellt. Über 30 Personen hätten jeder Konferenz angehört. Ich erspare Ihnen die Aufzählung der einzelnen
Personen. Der Kollege Tauss hat damals von „lauter
Fachleuten“ gesprochen, die hier zusammenkommen.
Herr Tauss, ich bin froh und glücklich darüber, dass wir
diesen Dschungel von Fachleuten verhindert haben.
({5})
Sie können es dennoch nicht lassen - egal wie oft wir
hier über Bürokratieabbau reden -, immer wieder eine
Schaufel draufzulegen. So haben Sie diesmal kurz vor
knapp einen Art. 2 a in den Gesetzentwurf eingefügt auch darüber haben wir in Verhandlungen nicht gesprochen -, der die bestehenden Regelungen betreffend die
Berufsbildungsstatistik erheblich erweitert. Die Datenmenge wird ausgeweitet und eine Einzeldatenerhebung
wird gefordert. Aber auch darüber - so haben wir es vereinbart - werden wir noch einmal reden müssen.
Frau Ministerin, CDU und CSU haben ihren Beitrag
für ein modernes Berufsbildungsgesetz geleistet. Erfüllen Sie bitte nun Ihre Aufgabe ordentlich und setzen Sie
den Gesetzentwurf ohne den weiteren Ausbau von bürokratischen Mauern um.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Reform der beruflichen Bildung, Drucksache 15/3980.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/4752, in Kenntnis des
Berufsbildungsberichtes 2004 auf Drucksache 15/3299 -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 5 b - den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/
CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit mit derselben Mehrheit wie zuvor an-
genommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4753. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalition bei Enthaltung der CDU/CSU und bei
Zustimmung der FDP abgelehnt.
Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Modernisierung
der dualen Berufsausbildung in Deutschland durch Novel-
lierung des Berufsbildungsrechts, Drucksache 15/2821.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/4752, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den von der Fraktion der FDP ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Reform des Berufsausbil-
dungsrechts, Drucksache 15/3325. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und der CDU/
CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung zu dem von der Fraktion der FDP ein-
gebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3042 zur
Änderung des Berufsbildungsgesetzes. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbil-
dungsgesetzes auf Drucksache 15/4112. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Berufs-
bildungsbericht 2004, Drucksachen 15/3299 und 15/4752.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 6 seiner Beschluss-
empfehlung, in Kenntnis des Berufsbildungsberichtes
2004 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 f auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({1}), Dr. Klaus W. Lippold ({2}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland braucht Klarheit bei der Verkehrsinfrastruktur
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({3}), Joachim Günther
({4}), Eberhard Otto ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Investitionen in Verkehrsinfrastruktur sicherstellen
- Drucksachen 15/2603, 15/2423, 15/3938 Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Schmidt ({6})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({8}),
Joachim Günther ({9}), Eberhard Otto ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten
in Ostdeutschland
- Drucksachen 15/3203, 15/4096 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Weis ({11})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({12}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({13}),
Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Kurskorrektur bei Verkehrsinvestitionen - Finanzierung des Bundesverkehrswegeplans
2015 sicherstellen
- Drucksachen 15/3470, 15/4097 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Weis ({15})
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({16}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Initiative für EU-Sonderprogramm „Verkehrsprojekte Europäische Einheit“
- Drucksache 15/3720 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2004
- Drucksache 15/4621 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2004
- Drucksache 15/4609 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
({20})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 1998 jagt nicht nur ein Verkehrsminister den
nächsten, sondern auch eine verkehrs- und finanzpolitische Fehlleistung die andere. Dabei ist ein gut funktionierendes Verkehrssystem das Schwungrad für eine positive Wirtschaftsentwicklung. Stolpe und Eichel aber sind
mit ihrer jahrelangen Kahlschlagspolitik bei den Verkehrsinvestitionen
({0})
in Wahrheit Bremsbacken für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland.
({1})
Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung muss auf die Steigerung der tatsächlichen Verkehrsleistungen in unserem
Land dringend wieder angemessen reagieren. Die ProgTrans AG prognostiziert in ihrer gestern veröffentlichen
Mittelfristprognose zum Personen- und Güterverkehr - immerhin im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen - im PKW-Verkehr eine Zunahme der Verkehrsleistungen um jährlich 0,4 Prozent bis
2008, im LKW-Verkehr sogar von jährlich 2,7 Prozent.
Die am 18. Januar 2005 vom Statistischen Bundesamt
veröffentlichten vorläufigen Zahlen zur Güterverkehrsleistung belegen diesen Trend. Schienengüterverkehr
2004: plus 8,2 Prozent;
({2})
Binnenschifffahrt 2004: plus 6,6 Prozent; Straßengüterverkehr 2004: plus 4,5 Prozent. - Herr Kollege Schmidt,
so erfreulich die 8,2 Prozent sind, so muss man doch immer die Basis kennen. 8,2 Prozent von etwa 80 Milliarden sind leider Gottes absolut viel weniger als 4,5 Prozent von 380 Milliarden.
({3})
Das ist der markante Unterschied. Dennoch ist das eine
für uns alle erfreulich positive Entwicklung.
({4})
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen braucht Deutschland dringend Klarheit über die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung. Die Schere zwischen Wachstum und Investitionen öffnet sich aber auch 2005 gegenüber 2004
weiter. Bundesfernstraßen: minus 262 Millionen Euro;
Schienenwege des Bundes: minus 697 Millionen Euro;
Bundeswasserstraßen: minus 7,3 Millionen Euro. Als
i-Tüpfelchen darauf wieder einmal eine globale Minderausgabe, diesmal in Höhe von 244 Millionen Euro! Wo
denn, wenn nicht bei den Investitionen, so frage ich,
wird dieses Geld am Ende gestrichen? Sie haben die Verteilung noch nicht vorgenommen. Das wird bei den Investitionen noch einmal kräftig negativ zu Buche schlagen.
Ich gehe davon aus, dass die Koalition und die Bundesregierung heute wieder einmal den Versuch unternehmen werden, alles zu verharmlosen und alles schönzureden. Aber was für uns und das Land zählt, sind schlicht
und ergreifend Fakten, Fakten, Fakten. Diese Fakten
können Sie nicht bestreiten.
Dirk Fischer ({5})
({6})
- Herr Kollege Schmidt, wenn man in der Regierungsverantwortung ist und Fakten nicht mehr ernst nimmt,
dann ist man wirklich auf der schiefen Bahn. Ich warne
Sie! Orientieren Sie sich bitte an Fakten und nicht an
Wünschen!
({7})
Insbesondere durch die EU-Osterweiterung wird die
Bedeutung unseres Landes als Verkehrsdrehscheibe weiter wachsen.
({8})
Für den grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr
mit den neuen EU-Nachbarn geht die Verkehrsprognose 2015 von einem erheblichen Anstieg aus, allerdings - das ist auch dabei wieder zu bedenken - auf einer bisher relativ niedrigen Basis. Polen: Steigerung um
275 Prozent gegenüber dem Verkehrsaufkommen von
1997. Tschechien: plus 235 Prozent gegenüber dem Verkehrsaufkommen von 1997.
Der nach dem Fernstraßenausbaugesetz und dem
Bundesschienenwegeausbaugesetz formal festgestellte
Ausbaubedarf bleibt aber vor allem auf den Ost-WestAchsen weit hinter dem realen Ausbaubedarf zurück,
obwohl hier aufgrund der Folgen des Zweiten Weltkriegs und der langen Teilung unseres Landes ein besonders großer Nachholbedarf besteht. Selbst dieses festgeschriebene minimale Ausbauziel ist bei der derzeitigen
Finanzplanung der Bundesregierung überhaupt nicht zu
erreichen.
({9})
Deshalb, Herr Kollege Danckert, kann Deutschland ohne
eine finanzielle Beteiligung der Europäischen Union
durch ein Sonderprogramm „Verkehrsprojekte Europäische Einheit“ - wir haben beantragt, dass sich die Bundesregierung in Brüssel endlich dafür einsetzt - seiner
Funktion als wichtigstes Transitland in Europa niemals
gerecht werden. Die Leute sollen hier fahren, aber sie
müssen dafür bezahlen, weil wir das sonst nicht leisten
können; denn dieses Land trägt besondere Lasten der
Europäischen Union.
Die nötige Klarheit bei der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung hätte die Einführung der LKW-Maut bringen können. Wann aber hört die Bundesregierung endlich auf, die klare gesetzliche Regelung des § 11 des
Autobahnmautgesetzes vorsätzlich zu verletzen und den
Nutzern tief in die Tasche zu greifen,
({10})
ohne dieses Geld zusätzlich zugunsten gut ausgebauter,
moderner Infrastruktur zu investieren? Das ist die völlige Diskreditierung des Gedankens der Nutzerfinanzierung.
({11})
Gemäß dem genannten Paragraphen sollen die erzielten
Mauteinnahmen abzüglich der Systemkosten zusätzlich
zu den zur Zeit des Vermittlungsverfahrens bestehenden
Haushaltsansätzen des Jahres 2003 in Verkehrsinfrastruktur und dabei überwiegend in den Straßenbau fließen. Sie tun dies nicht.
Es ist ja schon ein Jammer, dass trotz der Mauteinnahmen, die, nachdem das System jetzt Gott sei Dank endlich
funktioniert, 2005 zur Verfügung stehen, für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung 500 Millionen Euro weniger zur
Verfügung stehen als in den Jahren 2003 und 2004, in
denen es keine Mauteinnahmen gab.
({12})
Das heißt, wir fallen zurück und die Mauteinnahmen haben überhaupt keinen Effekt auf die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung in Deutschland. Das muss man den Leuten draußen immer wieder sagen.
({13})
Der unprofessionelle Umgang der Bundesregierung
mit diesem für Deutschland so wichtigen Projekt hat laut
Bundesminister Stolpe einen Schaden für unser Land in
Höhe von 4,6 Milliarden Euro verursacht.
({14})
Dies ist das schlimme Resultat eines schlimmen Regierungsversagens.
({15})
Ein weiteres Beispiel einer unseriösen Investitionspolitik à la Stolpe: Am 27. Oktober letzten Jahres versprach er unserem Ausschuss, dass die Schiene ab dem
Jahre 2008 zusätzlich 1 Milliarde Euro bekommen soll.
Darüber sei er mit Eichel einig.
({16})
Wahrscheinlich hat er im Ausschuss in das sorgenvolle
Gesicht des Kollegen Schmidt geschaut und gedacht, ihn
müsse er dringend beruhigen.
({17})
Auch wir haben es für eine positive Botschaft gehalten,
dass es 1 Milliarde Euro mehr geben wird und dieses
Geld der Schiene zugute kommt. Was Stolpe uns aber
verschwiegen hat, ist: In einem Gespräch nur einen Tag
zuvor vereinbarte er mit Eichel, die Finanzierung der zusätzlichen investiven Maßnahmen durch Kürzungen bei
den GVFG- und den Regionalisierungsmitteln insbesondere zulasten des Nahverkehrsangebotes in den Ländern
sicherzustellen. Ganz erstaunlich, dass Stolpe sich daran
nicht mehr so recht erinnern kann; denn das Ministerium
behauptet, die Meldung sei falsch. Aber die Vereinbarung mit dem Finanzminister ist ja wohl schriftlich festgehalten worden.
Dirk Fischer ({18})
({19})
Deswegen kann ich nur sagen: Kehren Sie an dieser
Stelle zur Darstellung des wahren Ablaufes zurück und
führen Sie die Leute nicht an der Nase herum.
({20})
Wie dem auch sei: Der Bundesverkehrsminister muss
erklären, wie die versprochene Milliardensumme finanziert werden soll. Gegen den harten Widerstand der Länder, die bei beiden Gesetzen - GVFG und Regionalisierungsgesetz - Zustimmungsrechte haben, wird dies wohl
kaum durchsetzbar sein. Wenn aber nicht so, wie dann?
Wir verlangen, dass uns der Minister auch erläutert, wie er
glaubt, dieses Wort einlösen zu können, und dies mit klaren Beschlusslagen und belastbaren Aussagen unterlegt.
Ansonsten bleibe ich dabei, dass er sich im Hinblick auf
das Jahr 2006, für das er sein definitives Ausscheiden
angekündigt hat, immer mehr als ein Ankündigungsminister im gleitenden Vorruhestand profiliert.
Auch bei den Schienenweginvestitionen ist Klarheit
bitter nötig. Die Investitionen in die Schienenwege der
Eisenbahnen des Bundes betragen im Jahre 2004 nur
noch 3,2 Milliarden Euro für Neubau und Bestandsnetz.
Das heißt also, in diesem Bereich sind außer den
2,5 Milliarden, die für das Bestandsnetz nötig sind, überhaupt nur noch 700 Millionen für Neu- und Ausbaumaßnahmen verfügbar. Weitere rund 286 Millionen Euro
sind von der Schiene zur Straße bzw. zu den Wasserstraßen umgeschichtet worden. Sie sind bis 2008 zurückzuzahlen und werden bei diesen Verkehrsträgern neue Lücken reißen.
Es kommt in den nächsten Jahren noch schlimmer. Für
Ersatzinvestitionen in das Bestandsnetz sowie für den
Neu- und Ausbau der Schienenwege sind für 2005 3,5 Milliarden Euro, für 2006 3,1 Milliarden Euro, für 2007
3,0 Milliarden Euro und für 2008 2,0 Milliarden Euro
vorgesehen. Das heißt, die Mittel fallen - anders kann
man das nicht bezeichnen - die Treppe herunter.
Ich komme zum Schluss. Mit dieser undurchsichtigen
und fehlgesteuerten rot-grünen Finanz- und Investitionspolitik muss endlich Schluss gemacht werden.
({21})
Wir brauchen zukunftsorientierte und verlässliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, damit es mit dem
Wirtschaftsstandort Deutschland wieder aufwärts geht.
Stellen Sie Ihre Investitionspolitik endlich auf ein tragfähiges Fundament! Ich denke, die Anträge, die wir gestellt haben, bilden dafür eine sehr gute Basis.
({22})
Das Wort hat jetzt der Herr Staatssekretär Großmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir wissen, dass Herr Fischer ein Meister der
verbalen Aufrüstung ist. Ich will aber dazu beitragen,
dass wir wieder mehr über die Sache reden.
Wir debattieren über Anträge der Union, die schon
ziemlich alt sind. Auch inhaltlich sind sie wahrlich keine
Offenbarung. Sie sind teilweise sogar ziemlich unsinnig.
Die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur des Bundes lagen 1997 und 1998 bei etwa 9 Milliarden Euro.
Von 1999 bis 2004 haben wir zwischen 10 und
12 Milliarden Euro jährlich in die Verkehrsinfrastruktur
investiert.
({0})
Wir haben also die Ausgaben deutlich gesteigert, zunächst mithilfe der Zinsgewinne aus dem Erlös der Versteigerung der UMTS-Lizenzen und - als diese wegfielen - mit den Einnahmen aus der Maut. Selbst den
Einnahmeausfall bei der Maut im letzten Jahr haben wir
durch eigene Vorschläge und mit Unterstützung des
Bundesfinanzministers und der Haushälter überbrücken
können.
({1})
Generell ist festzustellen, dass seit Übernahme der
Regierungsgeschäfte durch die Koalition die Bauinvestitionen des Bundes deutlich angehoben worden sind.
({2})
Die Daten der amtlichen Statistik belegen dies eindeutig.
Sie belegen auch, dass der Bund die einzige föderale
Ebene ist, die so gehandelt hat.
Die Ausgaben der Länder und Gemeinden für Bauinvestitionen hingegen sinken seit 1997 kontinuierlich.
Das gilt besonders für die Verkehrsinfrastruktur.
({3})
Es gibt Länder, die dies ehrlicherweise zugeben. Mir
liegt hier der Staatsanzeiger für Baden-Württemberg
vom 11. Oktober 2004 vor - Herr Brunnhuber spitzt
schon seine Ohren -, in dem eine Schlagzeile „Weniger
Geld für Universitäten und Straßenbau“ lautet. Gott sei
Dank gibt es Länder, die zugeben, dass sie anders handeln als wir. Denn unsere Ausgaben sind in diesem Zeitraum gestiegen.
In Ihrem Antrag, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, heißt es - das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen -, dass es bei
Straße und Schiene im Jahre 2004 erstmals seit Bestehen
der Bundesrepublik Deutschland keinen einzigen Neubeginn eines Projektes geben wird. Sie müssten eigentlich schamrot werden. Denn bei der Straße haben wir
mit 36 Projekten begonnen. Beispielhaft erwähne ich
den Spatenstich bei der A 66 bei Wiesbaden, auf der
A 4, Aachen-Köln, bei der B 112, Neuzelle-Guben, bei
der B 269, Überherrn-französische Grenze, bei der B 85
bei Cham sowie die Grundsteinlegung für die Talbrücke
St. Kilian im Zuge der A 73 und den Tunnelanschlag für
den Guggenbergtunnel im Zuge der Ortsumfahrung Peißenberg. Das sind, wie gesagt, nur wenige Beispiele aus
den insgesamt 36 begonnenen Projekten.
Bei der Schiene wurden 2004 17 Finanzierungsvereinbarungen mit 1,6 Milliarden Euro Investitionsvolumen - das ist der Bundesanteil - abgeschlossen. Mit dem
Bau - sprich: Spatenstich - wurde bei folgenden Vorhaben begonnen: Buschtunnel zwischen dem Hauptbahnhof Aachen und der belgischen Grenze - derzeit können
die Züge dort nur 30 Kilometer pro Stunde fahren -,
Umbau des Bahnhofs Frankfurt-Sportfeld, KLV-Terminal Ulm-Dornstadt, Gleiserneuerung zwischen Hamburg-Harburg und Buchholz, Südhalle Dresden Hauptbahnhof, Gleistragwerke. Außerdem ist Ende 2004 der
Großauftrag für den Rohbau des City-Tunnels in Leipzig
vergeben worden.
({4})
Ich glaube, das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen
kann. Leider habe ich nicht die Zeit - es wäre auch ermüdend -, Ihnen die gesamte Liste vorzulesen.
Es ist kein Geheimnis, dass es die Deutsche Bahn AG
2004 etwas schwerer hatte. Die Finanzierungsvereinbarungen mussten neu getroffen werden. Das kostet, wie
wir wissen, Zeit. Über die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft ist es aber möglich, Mittel zwischen
Schiene und Straße umzuschichten. 2004 sind deshalb
keine investiven Mittel verfallen. Das war schon einmal
anders.
({5})
Damit ist das Maß an Flexibilität ermöglicht, das notwendig ist, um den jeweiligen Verfügungsrahmen vollständig ausschöpfen zu können. Nutznießer ist nicht nur
die deutsche Bauwirtschaft, sondern die deutsche Volkswirtschaft im Ganzen. Selbstredend ist diese Flexibilität
keine Einbahnstraße zugunsten des Straßenbaus. Ich bin
zuversichtlich, dass die gemeinsam mit dem Vorstand
der Deutschen Bahn AG vorgenommene Festlegung der
einzelnen Investitionsmaßnahmen in die Schieneninfrastruktur zukünftig zu einem vollständigen Mittelabfluss
führt.
({6})
Dann will ich mit der Legende aufräumen, was die
1 Milliarde Euro mehr für die Schieneninfrastruktur im
Jahr 2008 betrifft. Ich habe das schon gestern im Ausschuss dargestellt; aber auch wenn man den Sachverhalt
aufklärt, bedeutet das nicht, dass unwahre Behauptungen
nicht aufrechterhalten werden. Wir haben durchgesetzt,
dass die 66er-Liste, die mit der Bahn vereinbart worden
ist, durchfinanziert wird; ansonsten kann man gar nicht
damit beginnen, solche Projekte umzusetzen. Das ist der
entscheidende Durchbruch. Das bedeutet, dass wir 2008
mehr Geld zur Verfügung haben.
Natürlich ist es Aufgabe des Bundesfinanzministers,
uns im Gegenzug zu sagen: Schaut bitte in eurem Haushalt nach - es ist ja nicht nur von den Regionalisierungs-,
sondern auch von den GVFG-Mitteln und dem gesamten
Haushalt gesprochen worden - und überprüft, wenn die
Revision der Gesetze ansteht, ob es da unter Umständen
Bewegungsspielräume gibt! Denn wir alle wissen, dass
das aufgrund des Realisierungsgesetzes vorgesehene
Geld nicht immer in die Projekte fließt, für die wir das
Gesetz ausgehandelt haben.
({7})
Von daher ist es ganz normal, dass man die der
Agenda 2010 zugrunde gelegte Maßregel, darauf zu achten, welches Geld der Staat für welche Projekte einsetzt,
auch an den Verkehrshaushalt anlegt.
Angesichts der Leistungsgrenzen der klassischen
Haushaltsfinanzierung werden wir im Straßenbau verstärkt die Projektfinanzierung im Rahmen von Betreibermodellen anwenden. Dazu brauchen wir Pilotprojekte; denn wir betreten Neuland. Deshalb sage ich
warnend: Auch PPP-Projekte müssen ihre wirtschaftliche Effizienz beweisen und dürfen sich nicht auf eine
reine Vorfinanzierung konzentrieren; denn sonst würden
die Projekte in Wirklichkeit teurer als das, was wir beabsichtigen: den Bau preiswerter zu machen.
({8})
Demnächst werden wir über die Einleitung der Präqualifikationsverfahren der ersten A-Modell-Projekte
entscheiden. Weitere Projekte nach dem F-Modell sollen
folgen. Erfahrungen aus bisherigen, auch problematischen F-Modellen - ich habe von Neuland und von Entwicklungen gesprochen, die wir in unserem Land vorantreiben - werden dabei ausgewertet.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung einer
leistungsfähigen und modernen Infrastruktur in den
neuen Ländern bewusst. Das spiegelt sich natürlich insbesondere in dem hohen Realisierungsgrad und Baufortschritt der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ - hier
sind zwei Drittel des Gesamtvolumens von
36 Milliarden Euro realisiert - und an dem nach wie vor
hohen Anteil der neuen Länder an den für den Neu- und
Ausbau geplanten Investitionen in Höhe von 35 Prozent
wider.
Herr Fischer, unter Mitwirkung der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern
ist speziell zur Frage der Kapazitätsauslastung der Straßeninfrastruktur, was die Osterweiterung anbetrifft, eine
Untersuchung durchgeführt worden. In dieser Untersuchung kommt man zu dem Ergebnis, dass die jetzt vorhandene Verkehrsinfrastruktur plus der Projekte, die im
Bundesverkehrswegeplan stehen, die Anforderungen,
die sich durch die EU-Osterweiterung ergeben, grundsätzlich erfüllen. Ein Sonderprogramm ist nun wirklich
nicht erforderlich.
Einige wenige Sätze zu den vorliegenden Berichten.
In den Berichten 2004 über das Jahr 2003 werden der
Einsatz von 4,1 Milliarden Euro für die Schiene und der
Einsatz von 4,653 Milliarden Euro für die Straße dokumentiert. Hinzu kommen im Straßenbereich nicht investive Mittel von 918 Millionen Euro. Das heißt, wir sind
kontinuierlich dabei, die Straßen- und Schieneninfrastruktur unseres Landes aufzubauen.
Natürlich wünschen wir uns, dass es mehr Mittel gibt.
Dabei können Sie, sehr geehrte Damen und Herren von
der Opposition, helfen, beispielsweise dadurch, dass Sie
uns darin unterstützen, Subventionsabbau zu betreiben,
({9})
und indem Sie den falschen Subventionsbegriff aus dem
Koch/Steinbrück-Papier relativieren. Ich möchte Sie bitten, bei Ihren Ministerpräsidenten darum zu werben, die
Blockade des Bundeshaushaltes 2005 zu beenden. Man
muss sich das einmal vorstellen: Damit wird verhindert,
dass wir in die Straße und in die Schiene investieren. Es
gibt also viel zu tun.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2005 hat mit einem Ereignis begonnen, das wir nicht mehr erwartet hatten: Die
LKW-Maut in Deutschland funktioniert.
({0})
Das ist das Positive. Das Negative daran ist, dass die Abgabenbelastung für den Straßenverkehr damit auf die
neue Rekordhöhe von 53 Milliarden Euro angehoben
wird, Herr Staatssekretär.
({1})
Als Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben, lag die Abgabenbelastung für den Straßenverkehr
bei knapp 38 Milliarden Euro. Die Differenz ist Ergebnis
Ihrer Politik.
Sie haben mit Einführung der Ökosteuer und der
Maut die Chimäre verbreitet, damit werde eine gigantische Verlagerung der Güterströme von der Straße auf die
Schiene stattfinden. Die schon zitierte Prognose von
Pro-Trans, von Ihnen selbst in Auftrag gegeben, belegt
deutlich, dass zwei Tatsachen unverrückbar sind, auch
wenn Sie sie aus ideologischen Gründen noch immer
völlig ignorieren:
Erstens. Die mit der Ökosteuer von der Bundesregierung angestrebte Verkehrswende zugunsten der Bahn
ist in der Realität ausgeblieben. Im Gegenteil: Nach der
Langfristprognose bis 2008 verliert die Bahn im ModalSplit gegenüber der Straße.
({2})
Zweitens. Für den LKW-Verkehr wird bis zum
Jahr 2008 ein Wachstum von jährlich 2,7 Prozent prognostiziert und damit deutlich mehr als für den Güterverkehr auf der Schiene.
Was ziehen Sie daraus für Konsequenzen? Sie halten
nach wie vor an einer völlig ungleichgewichtigen Dotierung der Verkehrsträger in Deutschland fest, weil Sie aus
ideologischen Gründen nicht eingestehen können, dass
der Verkehrsträger Schiene, auch wenn er gut ist, niemals in der Lage sein wird, auch nur annähernd zu einer
wirklichen Entlastung des Straßenverkehrs beizutragen.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant,
Herr Staatssekretär, dass Sie jetzt behaupten, Sie hätten
höhere Ausgaben getätigt. Wenn ich mir die Zahlen auf
Seite 33 Ihres Straßenbauberichts auf Drucksache 15/4609
ansehe - diese Zahlen haben Sie visualisiert - und die
Säulen vergleiche, komme ich zu dem Schluss, dass Sie
hinsichtlich der absoluten Höhe nicht die Verkehrsausgaben des Jahres 1992 erreicht haben. Auch in den Jahren
1999, 2000, 2001 und 2003 lagen die Ausgaben niedriger als die durchschnittlichen Haushaltsansätze in unserer Regierungszeit. Lediglich in den drei Jahren, als die
UMTS-Erlöse gegriffen haben, waren die Ausgaben höher. Ich sage es aber noch einmal: Im gleichen Zeitraum
haben Sie die Abgabenbelastung für den Straßenverkehr
um fast 17 Milliarden Euro erhöht. Das ist die Bilanz, an
der Sie sich messen lassen müssen.
({4})
- Das ist weder Quatsch, Frau Kollegin RehbockZureich, noch Unsinn.
({5})
- Der Herr Staatssekretär hat gesagt, unsere Anträge
seien unsinnig.
In dem gleichen Bericht wird dokumentiert, dass die
Ingenieurbauwerke in Deutschland, was ihren Zustand
angeht, weiter auf dem Weg nach unten sind. Nur noch
ein knappes Drittel ist in der Einstufung gut oder sehr
gut. Ein weiteres Drittel ist gerade noch befriedigend.
Der Rest ist bestenfalls ausreichend mit der Tendenz
nach unten: kritisch oder ungenügend. Das sind auch
schon 12 Prozent. Nehmen Sie dies doch einmal zur
Kenntnis und kürzen Sie dort nicht weiter! Angesichts
Ihrer Mittelfristplanung bis 2008 sind Ihre Zahlen doch
eher Wunsch und Wolke und durch nichts unterlegt.
Horst Friedrich ({6})
Jetzt komme ich zu Ihren Aussagen von gestern, Herr
Staatssekretär. Wenn ich Ihren schriftlichen Bericht, den
Sie selbst vorgelegt haben, richtig gelesen habe, steht
dort nichts anderes, als dass die 1 Milliarde in 2008 damit im Zusammenhang zu sehen ist, dass zu diesem Zeitpunkt der Mittelansatz für das GVFG und für die Regionalisierung geprüft wird.
({7})
In Kenntnis dessen, was Sie unter „zu prüfen“ verstehen,
ist das nichts anderes als ein Tausch von der linken in die
rechte Hosentasche. Das haben Sie mit der Maut vorgemacht. Sie haben die Fiktion vermittelt, mit Einführung
der Maut sei eine Umstellung der Finanzierung möglich.
Was haben Sie erreicht? Den Tausch von Steuermitteln
durch so genannte Mauteinnahmen, die Sie immer noch
nicht richtig handhaben, weil die von Ihnen selbst gegründete Gesellschaft, die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, eine taube Nuss ist; denn sie darf ja
nichts.
({8})
Mich ärgert es schon ein bisschen, Herr Staatssekretär, dass Sie unsere Anträge als unsinnig bezeichnen und
ablehnen. In unserem Antrag vom 28. Januar 2004 haben wir Sie zum Beispiel aufgefordert, die Ausdehnung
der Anwendungsmöglichkeiten der A- und F-Modelle
vorzubereiten und einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorzulegen. Wieso ist das unsinnig? Jetzt lese ich, dass
Sie versuchen, das, was Herr Bodewig im Jahr 2000
- zufälligerweise vor dem Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen - versprochen hat, nämlich die A-Modelle umzusetzen, also den Anbau weiterer Spuren von
den Einnahmen aus der LKW-Maut abzutrennen, in trockene Tücher zu bringen? Nur weil dies die Opposition
ein Jahr früher gefordert hat, kann es doch nicht unsinnig
gewesen sein.
Was das F-Modell angeht, sehr verehrter Herr Staatssekretär, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich dazu sagen soll. Herr Stolpe geht durch das Land und sagt, man
müsse die Möglichkeiten dieses Modells ausschöpfen.
Das heißt nichts weiter, als dass auch der PKW-Fahrer
Maut zahlen muss zur Finanzierung dieser Projekte.
Gleichzeitig erklärt er vollmundig, mit ihm sei eine
PKW-Maut nicht zu machen. Entschuldigung, weiß der
Minister überhaupt, wovon er redet und wie die Gesetze
aussehen?
Wenn Sie mit dieser Verkehrspolitik die Sicherheit
der Finanzierung der Infrastruktur gewährleisten wollen,
dann ist das ungefähr wie bei der Bahn: Herr Mehdorn
sagt, dass er alle Mittel ausgibt, aber die Bauindustrie
bescheinigt uns, sie bekomme keine Aufträge und habe
deswegen Probleme. Irgendwo muss ein schwarzes Loch
sein. Die Frage ist nur, wo.
Diese Politik ist nicht seriös und schon gar nicht planbar. Deswegen können Sie nicht von uns erwarten, dass
wir diese Infrastrukturpolitik mittragen. Das wäre nicht
im Interesse dessen, der hier die Hauptlast trägt, nämlich
des deutschen Autofahrers.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor uns hier noch Tränen der Rührung
kommen wegen Ihrer heldenhaften Forderungen nach
mehr Geld für Verkehrsinvestitionen, möchte ich in aller
Ruhe mit einem Ammenmärchen aufräumen, das Sie uns
hier immer wieder erzählen. Es muss Ihnen selbst schon
zum Halse heraushängen und durch Wiederholungen
wird es nicht wahrer. Das Ammenmärchen lautet: Sie
waren die Helden der Investition. Wir haben gekürzt, gespart, Kahlschlag - so hat es der Kollege Fischer gesagt - betrieben.
Liebe Leute, jetzt einmal ganz nüchtern und kühl
- ich bin ja sehr geduldig, ich versuche es einmal mit
Ruhe -: Wie lausig war denn Ihre Abschlussbilanz? Ich
will Ihnen nicht ersparen, dies ein weiteres Mal für das
Protokoll zu sagen: 1998 habt ihr Investitionsmittel für
den Straßenbau in Höhe von 4,4 Milliarden Euro hinterlassen; heute betragen sie 4,7 Milliarden Euro. Was ist
jetzt mehr, 4,7 oder 4,4 Milliarden Euro? Politik gegen
Adam Riese zu machen heißt die Leute für dumm zu
verkaufen.
({0})
Zweitens. Eure lausige Abschlussbilanz bei den Investitionen in die Schiene wies nur noch 2,7 Milliarden
Euro auf. Das ist eine Tatsache. Heute stehen wir bei
3,7 Milliarden Euro. Das sind fast 40 Prozent mehr. Was
ist denn mehr, 3,7 oder 2,7 Milliarden Euro? Jeder
Grundschüler könnte diese Frage richtig beantworten,
nur Sie wollen uns das Gegenteil weismachen. Sie können sich Ihre scheinheilige Heldenpose sparen. Sie haben bei den Investitionen am Ende Ihrer Regierungszeit
kläglich versagt. Deswegen haben Sie jede Glaubwürdigkeit verloren, uns jetzt belehren zu können.
({1})
Wir haben es mit dieser Koalition aber auch geschafft,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die Investitionen in die
Schiene mit denen in die Straße gleichzustellen. Wir haben im Jahr 2003, genau dem Jahr, über das uns heute
der Bericht zum Ausbau der Schienenwege vorliegt,
einen einmaligen Peak - das gebe ich zu - von
4,5 Milliarden Euro für den Schienenbau erreicht. Davon konnten Sie vielleicht einmal träumen. Darüber hinaus haben wir 7 Milliarden Euro im Regionalisierungsgesetz für die Bereitstellung von Nahverkehrsleistungen
und für investive Bezuschussung in den Bundesländern
für den öffentlichen Nahverkehr bereitgestellt. Wir haben in jedem Jahr 1,5 Milliarden Euro für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, für die Verbesserung der
Verhältnisse in den Gemeinden und vor allem im öffentlichen Verkehr bereitgestellt. Diese Gesamtbilanz macht
Albert Schmidt ({2})
uns ein kleines bisschen stolz, aber nicht nur deshalb,
weil das viel Geld ist, sondern auch wegen des Effektes:
Wir hatten im letzten Jahr zum ersten Mal 10 Milliarden
Fahrgäste im öffentlichen Verkehr. Diese Erfolgsstory
des öffentlichen Verkehrs lassen wir uns von Ihnen nicht
kleinreden und auch nicht kaputtmachen.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Eine Sekunde. - Auf diesen Erfolg sind wir stolz, wir
lassen uns ihn nicht kleinreden und von niemandem kaputtmachen.
({0})
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Friedrich?
Aber gern.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben uns vorgehalten, wir
hätten im Jahr 1998 weniger als 5 Milliarden Euro investiert. Ausweislich des von der Bundesregierung selbst
vorgelegten Straßenbauberichts 2004 auf Seite 33 sind
die Istzahlen aufgelistet. Wenn ich nicht ganz blind bin,
so zeigt die Säule für das Jahr 1998 ungefähr
5,2 Milliarden Euro. Stimmen Sie mit mir überein, dass
diese Zahlen richtig sind, oder meinen Sie, dass die Zahlen des Straßenbauberichts nicht die Realität wiedergeben?
Richtig ist die Zahl 4,4 Milliarden Euro. Ich will Ihnen sagen, warum sie richtig ist: Das sind die Nettoinvestitionen. In Bezug auf die gesamte Berichterstattung
spreche ich die ganze Zeit von Nettoinvestitionen.
Wir können gern auch über Bruttoinvestitionen sprechen, bei denen wir beim Straßenbau nicht bei
4,7 Milliarden Euro, sondern deutlich über 5 Milliarden
Euro liegen. Meine Herrschaften, wir können nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
({0})
Das alles sind Taschenspielertricks, die den Blick auf die
Wahrheit nicht verstellen können.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, stelle ich
gar nicht in Abrede, dass auch ich mir Sorgen mache.
Wir machen uns Sorgen um die zukünftigen Investitionen, um die mittelfristige Planung. Wir sind alles andere als zufrieden mit dem Zahlenwerk, das vom Bundesfinanzminister vorgelegt worden ist.
({1})
Ein Absinken der Schienenbauinvestitionen im Jahr
2008 auf unter 2,5 Milliarden Euro - weniger, als allein
das Bestandsnetz braucht - wäre in der Tat ein Desaster.
({2})
Deshalb sage ich Ihnen: Die Horrormeldungen der letzten Tage, wonach, um dieses Loch zu vermeiden, Umschichtungsaktionen aus dem Regionalisierungsgesetz,
aus dem GVFG, also aus dem Nahverkehr, in den Schienenbau zwischen zwei Ministern vereinbart worden
seien, haben uns sehr aufmerksam gemacht. Ich will es
ganz klar und deutlich sagen -
Herr Kollege, es möchte noch jemand eine Zwischenfrage stellen, Ihre Kollegin Eichstädt-Bohlig.
Lassen Sie mich diesen einen Satz noch sagen, Frau
Präsidentin: Einen solchen Verschiebebahnhof vom
Nahverkehr zum Schienenbau machen wir nicht mit. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.
({0})
Frau Kollegin, bitte.
Herr Kollege Schmidt, stimmen Sie mit mir - unabhängig von der Erfahrung, wie die Bilanz bei der Opposition aussah, als sie das Zepter an die rot-grüne Regierung abgeben musste -, überein, dass zwei Fraktionen,
die dem Bürger ständig Steuersenkungen versprechen,
überhaupt nicht in der Lage sind, einen Antrag zu stellen, in dem gefordert wird, mehr Mittel für Investitionen
bereitzustellen, egal ob für Schiene, Straße oder Wasserstraße, und dass das praktisch Scheinanträge sind, die
überhaupt nicht der politischen Zielsetzung dieser Fraktionen entsprechen?
Verehrte Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, das Wort
„Scheinanträge“ würde ich jetzt nicht unbedingt benutzen. Vielmehr scheint mir das Wort „Scheinheiligkeit“
angebracht zu sein; denn wenn jemand etwas fordert,
was er selber viel schlechter gemacht bzw. nicht hinbekommen hat, dann betrachte ich dies zumindest als das
Erwecken eines falschen Anscheins. Insofern kann ich
Ihrer Einschätzung nur zustimmen.
Ich möchte noch etwas zu dieser 1 Milliarde Euro sagen, die im Jahr 2008 angeblich verschoben werden soll.
Albert Schmidt ({0})
Wir sind uns erstens in der Koalition absolut einig, dass
es ausgeschlossen ist, dass 2008 nur noch 2,3 Milliarden
Euro für den Schienenbau zur Verfügung stehen. Weil
wir uns in diesem Punkt absolut einig sind, gibt es diese
Protokollerklärung zu einer Sitzung des Bundeskabinetts
vom Juni 2004, in der Folgendes festgehalten ist: Dieser
Betrag muss, vereinfacht gesprochen, um mindestens
1 Milliarde Euro aufgestockt werden.
Zweitens sind wir uns absolut einig, dass im Jahr
2007 - so steht es im Gesetz - die Revision des Regionalisierungsgesetzes ansteht. Das heißt, dann muss neu
verhandelt werden, wie es weitergehen wird.
Eine Bemerkung zum Regionalisierungsgesetz. Es
war unser Verdienst, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Dynamisierung hineingeschrieben zu haben. Ich
kenne kein einziges Bundesgesetz, in dem mit einem Zuwachs von jährlich 1,5 Prozent - das sind ein paar hundert Millionen Euro - über fünf Jahre eine solche Sicherheit gewährt, ein solches Füllhorn für gute Zwecke
ausgeschüttet wird, in diesem Falle für die Zwecke des
Nahverkehrs. Es ist eine Sache der Rationalität, dass dies
nach fünf Jahren überprüft werden muss, ganz abgesehen davon, dass es im Gesetz so vorgesehen ist.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass der Staatssekretär
Achim Großmann gestern im Ausschuss und heute hier
im Plenum deutlich gemacht hat, dass solche schlichten
Streichungen und Kürzungen nicht geplant seien.
({1})
Ich sage aber genauso deutlich: Wir werden dies sehr genau überwachen und dieses Thema auch in den Koalitionsverhandlungen 2006 erörtern.
({2})
Auf diesen Punkt werden wir besonders viel Sorgfalt
verwenden, Herr Kollege Kalb, denn wir wollen hier in
Deutschland nicht weniger Nahverkehr, sondern wir
wollen, dass die Erfolgsstory des Nahverkehrs fortgeschrieben wird.
Vor dem Hintergrund immer neuer Kürzungsbegehren
müssen sich die Länder fragen lassen, was die Regionalisierungsmittel und die GVFG-Mittel in dieser Hinsicht
so angreifbar und anfechtbar macht. Ich will es ihnen sagen: Die Mittelverwendung ist nicht transparent genug;
das ist das eigentliche Problem. Wir brauchen Nachweise der Bundesländer, dass sie die Mittel, die wir ihnen in großer Fülle überweisen, tatsächlich zweckbestimmt verwenden.
An diesem Punkt sind die Länder am Zug. Wenn sie
die Revisionsverhandlungen für 2007 selbst so vorbereiten wollen, dass sie für sie erfolgreich verlaufen, dann
erwarte ich, dass Berichte auf den Tisch gelegt werden,
in denen jedes Bundesland nachweist, wofür es die Mittel für den Nahverkehr, die wir ihm überwiesen haben, in
diesem Jahr und in den kommenden Jahren zweckbestimmt einsetzt. Nur dann wird man erfolgreich verhandeln können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Verkehrsleistung ist bereits angesprochen worden. Nicht
nur der öffentliche Verkehr - auf Schiene und Straße,
mit Bussen und Bahnen -, sondern auch der Güterverkehr auf der Schiene entwickelt sich positiv. Ich verstehe
überhaupt nicht, warum man dazu zynische Bemerkungen machen sollte.
({4})
Herr Fischer hat die Feststellung des Statistischen
Bundesamtes vorgelesen, dass die Leistung des Schienengüterverkehrs in Deutschland - gemessen in Tonnenkilometern - allein im letzten Jahr um 8,2 Prozent zugenommen hat. Das ist für mich kein Grund, eine zynische
Bemerkung zu machen, sondern vielmehr ein Grund, zu
sagen, dass es in diesem Bereich vorangeht.
({5})
Das ist nämlich eine enorme Leistung, erst recht, weil sie
trotz eines gedämpften Wirtschaftswachstums erbracht
wurde.
({6})
Das ist nicht nur die Leistung der Deutschen
Bahn AG; auch das sage ich ganz klar. Vor allem NEBahnen, private bzw. nicht staatliche Eisenbahnen, haben daran aufgrund ihrer zum Teil zweistelligen Zuwachsraten wesentlichen, zunehmenden Anteil. Ihre Angebote sind innovativ. Das ist es, was wir wollen: dass,
auch im privaten Güterverkehr, Leben in der Bude bzw.
auf dem Schienensystem entsteht. Das ist für uns ein
Grund, zu konstatieren, dass wir auf dem richtigen Weg
sind. Sie können sich ausrechnen, wie weit wir in zehn
Jahren wären, wenn wir diese Zahlen fortschreiben würden. Ich will aber nicht so vermessen sein und annehmen, dass das möglich wäre; denn der Zuwachs betrug
in nur einem Jahr 8 Prozent. Aber dann wären wir von
einer Verdopplung der Leistung des Schienengüterverkehrs gar nicht weit entfernt.
({7})
Das überfordert vielleicht die Rechenkünste mancher
Kollegen; hierbei geht es nämlich um Prozentrechnung.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss sagen: Investitionen in die Verkehrswege
sind essenziell und unverzichtbar. Kürzungen sind das
falsche Signal. Wer nicht investiert, glaubt nicht mehr an
seine Zukunft. Deshalb brauchen wir gesicherte Investitionen in den Bestand, die Erhaltung und die Modernisierung unseres gesamten Verkehrssystems. Dass Straße
und Schiene dabei gleich behandelt werden, dafür werden wir auch in Zukunft sorgen. Darauf können Sie sich
verlassen.
({9})
Das war ein lustiges Bild: das Leben in der Bude und
auf dem Schienenstrang.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der bisherige Verlauf dieser Debatte zeigt, dass Rot-Grün unser
Land auch verkehrspolitisch gegen die Wand gefahren
hat.
({0})
Jeder weitere Tag ist ein schlechter Tag für den Innovationsstandort Deutschland und für die Infrastruktur in
Deutschland.
({1})
Vor fünf Jahren wurde eine Regierungskommission
zum Thema Verkehrsinfrastrukturfinanzierung gebildet,
die ermittelt hat, dass der Investitionsbedarf für Straße,
Schiene und Wasserstraße pro Jahr mindestens 12 Milliarden Euro beträgt.
({2})
In der aktuellen mittelfristigen Finanzplanung bis zum
Jahr 2008 sind weniger als 8 Milliarden Euro pro Jahr
ausgewiesen. Das ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Aber die Bundesregierung hat ja immer Kommissionen gebildet und Gutachten erstellen lassen, ohne
ihre Ergebnisse jemals umzusetzen.
Zu wenig Geld für die Infrastruktur ist ökonomisch
und ökologisch schädlich; denn pro Jahr entstehen Staukosten in Höhe von rund 100 Milliarden Euro. Im
Durchschnitt, Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün,
steht jeder Autofahrer 65 Stunden pro Jahr im Stau.
Diese Zeit könnte sinnvoller genutzt werden, zum Beispiel für Weiterbildung. Zustand und Gebrauchswert der
Bundesfernstraßen und der Brücken werden immer
schlechter. Die finanziellen Mittel, die für ihre Erhaltung
und Nutzungsfähigkeit bereitgestellt werden müssen,
steigen von Jahr zu Jahr. Dadurch wird der Spielraum für
Neu- und Erweiterungsinvestitionen immer enger.
Meine Damen und Herren, der Verkehrsbereich ist
kein Zuschussgeschäft, sondern eine sprudelnde Geldquelle. Jährlich fließen mehr als 50 Milliarden Euro an
Einnahmen aus der Mineralölsteuer in die Kasse des Finanzministers. Das ist genug Geld, um ein insgesamt
komfortables Verkehrsnetz vorzuhalten. Den Verkehrsträger Straße, der zehnmal mehr einbringt, als er kostet,
ständig zu schröpfen, ist schlichtweg ungeheuerlich.
({3})
Im Jahr 2003 sind gerade einmal 4,6 Milliarden Euro in
den Straßenbau investiert worden; ich rede von Investitionen und von Istzahlen, Kollege Schmidt.
Die Gesamtausgaben für die Schienenprojekte nach
dem geltenden Bedarfsplan betrugen sage und schreibe
nur 2,3 Milliarden Euro; das ist im Bundesschienenwegeausbaugesetz nachzulesen. Obwohl man zu dem Ergebnis gelangt ist, dass allein die Investitionen in den
Schienenbestand einen Umfang von jährlich 2,5 Milliarden Euro erreichen sollten, stehen im Haushalt nur
3,2 Milliarden Euro. Für den Neubau bleiben dadurch
gerade noch 700 Millionen Euro. Wie und wann dann
alle im Bundesschienenwegeausbaugesetz festgestellten
Maßnahmen umgesetzt werden, bleibt mir ein Rätsel aber wahrscheinlich nicht nur mir. Ich erwähne zwei
Beispiele: Die ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt, Teilstück
der Transeuropäischen Netze, bleibt dabei auf der Strecke, ebenso der notwendige Ausbau der S-Bahn von
Nürnberg nach Erlangen. Rot-Grün vernachlässigt also
den öffentlichen Personennahverkehr. Mit bestandserhaltenden Maßnahmen im Umfang von 10 Milliarden Euro bis 2008 versucht man trickreich, für diese
Strecke geflossene EU-Fördergelder nicht zurückzahlen
zu müssen.
Die rot-grüne Verweigerungshaltung beim Wasserstraßenausbau ist gänzlich unverständlich. Die Ablehnung eines noch aus der Opposition heraus geforderten
und noch mit dem Investitionsprogramm 1999 folgerichtig in Aussicht gestellten Wasserstraßenausbaugesetzes
offenbart, dass Reden und Handeln bei Rot-Grün nicht
übereinstimmen. Der umweltfreundliche Verkehrsträger
Binnenschifffahrt wird wieder einmal schnöde vernachlässigt. Ausgerechnet die Grünen, die sich immer als
Wahrer des Umweltschutzes darstellen, sind hier die
wirklichen Blockierer.
({4})
- Da geht es nicht ums Wachstum, es geht um die Ausbaumaßnahmen und um eine ganzjährige Befahrbarkeit
der Wasserstraßen.
({5})
Mit der vollzogenen EU-Osterweiterung sind auf die
deutsche Verkehrsinfrastruktur zusätzliche Lasten zugekommen: Seit Mai 2004 hat der deutsch-tschechische
LKW-Verkehr um 40 Prozent zugenommen, der
deutsch-polnische um 30 Prozent. Beide werden garantiert weiter wachsen. Damit diese Zuwächse bewältigt
werden können, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich auf europäischer Ebene initiativ für die Schaffung
eines Sonderprogramms „Verkehrsprojekte Europäische
Einheit“ einzusetzen.
Zum Baurecht. Wir haben insgesamt 150 nicht im
Bau befindliche Maßnahmen mit einem Volumen von
rund 4,7 Milliarden Euro planfestgestellt. Für 18 Maßnahmen im Volumen von rund 1 Milliarde Euro lief bzw.
läuft die Fünfjahresfrist in den Jahren 2004/2005 ab. Damit müssen wir Planungskosten in den Wind schreiben,
nur weil Rot-Grün nicht in der Lage ist, die Verkehrsinvestitionen zu erhöhen. Auf die LKW-Maut ist der Kollege Fischer schon eingegangen; dazu will ich nichts
weiter sagen. Die Planungskosten, in etwa 15 Prozent,
gehen zulasten der Länder. Gerade Baden-Württemberg
hat sehr viele planfestgestellte Baumaßnahmen.
({6})
Und da werfen Sie, Herr Staatssekretär, Baden-Württemberg seine Planungskosten vor! Dabei dürfte doch klar
sein, dass diese sich irgendwo im Haushalt des Landes
widerspiegeln. Ich würde sagen: Bringen Sie die Maßnahmen zum Laufen, dann müssen die Länder die Planungskosten, die sie verausgabt haben, nicht in den
Wind schreiben.
({7})
Wie Sie das alles weiter abwickeln wollen, Herr
Staatssekretär, wundert mich auch. Denn nach Erkenntnissen der Bundesregierung - das haben Sie in Beantwortung unserer Kleinen Anfrage ausgeführt - betragen
die Aufwendungen für Vorhaben mit bestandskräftigem
Baurecht etwa 3 Milliarden Euro. Hier ist also auf jeden
Fall noch sehr viel zu tun, damit Baurecht nicht verfällt
und uns in Deutschland nicht der Verkehrsinfarkt droht.
Wir brauchen dringend mehr Geld. Deswegen sind unsere Anträge, Herr Staatssekretär, keinesfalls unsinnig,
sondern sie sind folgerichtig gestellt.
({8})
Kollege Schmidt, die Grünen haben sich von einigen
Lebenslügen verabschiedet. Ich nenne nur Ihre Aussage,
dass mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden
kann.
({9})
- Das ist schon länger her. - Die Grünen gibt es jetzt seit
25 Jahren. Herr Kollege Schmidt, es wurde bemerkt,
dass Sie das Strickzeug abgelehnt haben - ich will jetzt
nicht davon reden, ob das diskriminierend ist oder
nicht ({10})
und dass Sie sich lieber einen kleinen VW wünschen.
Ich überreiche Ihnen jetzt keinen kleinen VW, sondern
einen Transporter, mit dem alle Lebenslügen der Grünen, zum Beispiel die Möglichkeit der Verlagerung des
Verkehrs auf die Schiene, abtransportiert werden können. Ich hoffe, dass Sie nach 25 Jahren irgendwann einmal in der Realität ankommen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Irgendwie erhält die Debatte eine interessante Wendung, jetzt werden hier nämlich schon Geschenke verteilt.
({0})
Ich weiß nicht, ob das witzig war.
Das ist aber keine Bestechung.
Wenn man die Anträge der Opposition liest, über die
heute mit abgestimmt werden soll, dann hat man das Gefühl, dass
({0})
ein Bild von etwas gemalt wird, das sich irgendwo in der
großen weiten Welt, aber nicht in Deutschland abspielt.
Das ist wirklich so absurd wie nur irgendetwas.
({1})
Wir haben das modernste Infrastruktursystem Europas, wenn nicht sogar der Welt, und Sie malen ein düsteres Bild von Deutschland. Das ist wirklich grotesk. Die
Menschen draußen können sehr gut beurteilen, wie die
Situation ist. Unsere Bahn wird immer besser - Frau
Rehbock-Zureich wird nachher etwas dazu sagen - und
wir haben ein ganz modernes Straßennetz, an dem wir
natürlich weiterarbeiten müssen; das ist gar keine Frage.
({2})
Lassen Sie uns heute dort erst einmal eine ganz nüchterne und unaufgeregte Bilanz ziehen. Schauen Sie sich
den Straßenbericht 2004 an! Ich meine, diese Bilanz
sieht in vielen Details sehr gut aus. Auch Sie haben Ihren
Anteil daran gehabt; das will ich gar nicht bestreiten.
({3})
Es ist wirklich absurd, dass Sie jetzt so vortragen, dass
man das Gefühl haben muss, man sei im Dschungel. Das
können die Leute draußen sehr gut beurteilen.
({4})
Ich möchte zwei Details vor die Klammer ziehen, die
uns und der Welt beweisen, wie die Situation in
Deutschland ist.
Erstens. Im nächsten Jahr gibt es bei uns ein Weltsportereignis, nämlich die Fußball-WM 2006.
({5})
Für dieses Ereignis werden alle zwölf Austragungsorte
mit einem Verkehrsleitsystem, das seinesgleichen suchen wird, bestens angebunden sein. Ich kann an dieser
Stelle die Bahnhöfe in den Austragungsorten mit einbeziehen.
({6})
Ich danke an dieser Stelle der Bahn, der Bundesregierung und dem Bundesverkehrsministerium. Auch hier
werden wir uns nach einem erheblichen Aufwand aller
Beteiligten bestens präsentieren.
({7})
Es ist geradezu grotesk, dass Sie an dieser Stelle immer
nur das Negative und nicht das Positive nennen.
({8})
In einem zweiten Bereich haben wir - nicht allein,
sondern in Fortführung der Arbeit früherer Regierungen - ebenfalls etwas ganz Wesentliches getan. Ich
nenne hier das Stichwort „Radwege an den Bundesstraßen“. Inzwischen haben wir 16 000 km Radwege an
etwa 40 000 km Bundesstraßen. 40 Prozent der Bundesstraßen werden von Radwegen begleitet. Dieses Thema
ist für die Verkehrssicherheit ungeheuer wichtig. Das
kann man doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen! In den letzten 15 Jahren ist dafür fast 1 Milliarde
Euro zusätzlich aufgewendet worden. An dieser Stelle
sollten wir alle auf dem Teppich bleiben und das Positive
sehen.
({9})
Radwege sind für die Verkehrssicherheit sehr wichtig.
Dies wird auch draußen bemerkt, weil sie nachgefragt
werden. Wir tun etwas dafür. Ich denke, das ist etwas
ganz Wichtiges.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas zu einem
Thema sagen, das in Ihren Anträgen gestreift wird, die
Verkehrsprojekte in Ostdeutschland. Diese sind auf
einem sehr guten Weg. Wer sich in den neuen Ländern
auf den Straßen bewegt, merkt, dass sie inzwischen fast
vollkommen sind. Egal, ob man von Berlin aus nach
Leipzig, Halle oder Dresden fährt, überall sind die Verkehrswege so weit, wie sie sein sollten. Das, was wir in
Fortführung dessen, was Sie getan haben - das will ich
gar nicht unter den Tisch kehren -,
({10})
gemacht haben, hat dazu geführt, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ auf einem guten Weg sind.
({11})
Eine Zahl finde ich sehr bemerkenswert. Inzwischen
sind seit 1991 154 Milliarden Euro für Verkehrsprojekte
und Infrastrukturmaßnahmen ausgegeben worden. Das
ist wirklich eine gewaltige Summe. Das ist vielleicht an
manchen Stellen nicht immer genug, aber immerhin sind
davon 60 Milliarden Euro in die neuen Länder geflossen. Das ist eine großartige Leistung. Diese Summe ist
nämlich im Verhältnis zur Bevölkerung überproportional. Auch da ist genügend für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur getan worden. Es wurden überproportional Leistungen erbracht, die uns allen zugute kommen
und die übrigens auch von den Menschen anerkannt werden. Es ist eben nicht so, dass sie das Gefühl hätten, sie
würden an dieser Stelle vernachlässigt. Wir sollten uns
gemeinsam bemühen, auf diesem Wege fortzufahren.
({12})
Die wichtigen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
wie die A 20 sind fast zu 100 Prozent fertig gestellt,
90 Prozent sind tatsächlich fertig und 10 Prozent sind im
Bau. Diese West-Ost-Verbindung an der Ostseeküste ist
sehr wichtig. Auch da hat sich etwas getan.
Ich nenne in diesem Zusammenhang ebenfalls die
A 4. Diese ist mit 450 Kilometern im Süden der neuen
Länder ein gewaltiges Vorhaben, davon sind inzwischen
330 Kilometer fertig gestellt. Auch das muss man sehen
und anerkennen. Das wird ebenso von der Bevölkerung
gesehen. Das ist notwendig und muss zu Ende geführt
werden. Wir sollten nicht so tun, als ob es große Probleme gegeben hätte. Wir sind dabei, die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügig umzusetzen. Ich unterstelle einmal, dass dies auch der gemeinsame Wille des
Parlaments ist.
({13})
Diese Projekte werden fortgeführt werden. Das ist auch
wichtig, damit notwendige Benachteiligungen - das war
der Ausgangspunkt - ausgeglichen werden können. An
dieser Stelle haben wir nichts zu beklagen. Es liegt überhaupt keine Gefährdung vor, wie es in einem Antrag
heißt.
Wir haben also sehr viel erreicht. Wir müssen uns
- das will ich auch im Sinne von Albert Schmidt betonen - für die Jahre 2005 und folgende gemeinsam bemühen - in erster Linie wäre ich sehr dankbar, wenn unser
Haushalt für 2005 verabschiedet werden könnte; Sie haben im Bundesrat eine völlig unnötige Blockadehaltung
eingenommen, aber sei es drum, so sind nun einmal die
Spielregeln -, die Mittel bereitzustellen, die wir brauchen, um die Infrastrukturmaßnahmen fortzuführen. Das
wird sehr schwierig sein.
An dieser Stelle will ich eine allgemeine Bemerkung
machen. Auf welcher Seite des Hauses wir auch immer
sitzen, müssen wir uns - so will ich es einmal formulieren - eines Tages darüber im Klaren sein, ob wir weiter
in dem bisherigen Umfang konsumieren oder ob wir bereit sind, zu investieren.
({14})
- Bitte keinen Beifall von der falschen Seite.
({15})
Wir dürfen nicht nur in Bildung investieren. Wenn wir
umsteuern wollen, dann müssen wir uns darüber einig
sein. Hier ist das Stichwort Eigenheimzulage zu nennen; das wäre nämlich der erste Schritt in die richtige
Richtung.
({16})
Wenn wir auf die Eigenheimzulage verzichten würden,
könnten wir diese Mittel in Bildung und meinetwegen
auch in Verkehrsinfrastruktur investieren. Darüber müssen wir uns klar sein; denn wir konsumieren sehr viel in
Deutschland. Ich weiß nicht, ob Sie, die Sie eben Beifall
geklatscht haben, sich dessen bewusst sind, was es bedeutet, wenn wir den Konsum einschränken würden,
({17})
und welche Konsequenzen das für unsere Bevölkerung
hätte.
({18})
Ich wiederhole mich: Investitionen in Bildung und
Forschung sind unabdingbar, aber - aus unserer Sicht auch in Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen.
({19})
Das wird ein ganz wichtiges Arbeitsfeld sein. Das ist
wenig geeignet, um parteipolitische Süppchen zu kochen. Das ist nicht in unserem Sinne. Die Bürger erwarten, dass wir nicht nur fordern, wenn wir über Infrastrukturmaßnahmen reden, sondern auch sagen, woher das
Geld kommen soll.
({20})
Wenn wir Ihren Anträgen, Herr Fischer, folgen und das
Volumen in Ihren Anträgen hochrechnen, dann kommen
wir auf einen Milliardenbetrag. Sie müssten sagen, woher das Geld für diese Maßnahmen kommen soll. Die
Antwort auf diese Frage wird mit Ihren Anträgen, die
wir ablehnen, nicht gegeben.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Brunnhuber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man wundert sich, wenn man hier hört, wie gut alles funktioniert und wie viele Mittel investiert werden.
Jeder Kollege, egal auf welcher Seite des Hauses er sitzt,
bekommt jede Woche Briefe von SPD-Bürgermeistern,
SPD-Landräten, selbst von SPD-Landtagsabgeordneten
- von den Verkehrsministern der SPD und den Ministerpräsidenten der SPD ganz zu schweigen -,
({0})
die alle eines feststellen: Es ist zu wenig Geld für die
Verkehrsinfrastruktur vorhanden.
({1})
Das könnten Sie wenigstens einmal zugeben.
({2})
Wir möchten mit Ihnen diskutieren und fragen, wie man
zu mehr Geld für diesen Haushaltstitel kommt. Ich
werde nachher einige Vorschläge machen, möchte aber
zunächst einmal auf die LKW-Maut eingehen.
({3})
Gott sei Dank können wir seit 1. Januar sehen, dass
die Technik funktioniert. Aber es gibt auch hier schon
wieder Fragen. Diese Fragen müssen im Parlament gestellt und von der Regierung und von Toll Collect beantwortet werden. Alle gingen davon aus, dass täglich circa
800 000 LKWs auf Autobahnen unterwegs sind und bezahlen. Nur so kommt übrigens die Summe von netto
2,1 Milliarden Euro für den Haushalt des Bundes zusammen. Wir haben von Toll Collect gehört, dass in der letzten Woche an einem Spitzentag nur 500 000 LKWs bezahlt haben. Jetzt gibt es drei Möglichkeiten. Entweder
war die Berechnungsgrundlage falsch, was fürchterlich
fatal wäre, weil dann die Menge und die Summe nicht
stimmen, oder aber es gibt so viele Mautpreller, die einfach durchfahren, weil die Kontrolldichte nicht stimmt,
oder, was genauso schlimm wäre, die LKWs weichen
auf parallele Bundesstraßen aus. Das sind Fragen, die
nicht einfach so weggedrückt werden können. Wir
möchten vielmehr exakt wissen, Herr Staatssekretär:
Was ist wirklich Realität? Nicht nur wir Parlamentarier,
sondern auch die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf,
dass diese Fragen richtig und sauber beantwortet werden.
({4})
Es ist merkwürdig, wie die Regierung und auch die
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition mit
dem Mautgesetz umgehen. In § 11 Mautgesetz ist
schwarz auf weiß festgeschrieben, dass die Einnahmen
aus der LKW-Maut zusätzlich zum Haushaltsbasisjahr
2003 insbesondere den Straßeninvestitionen zugeführt
werden sollen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Das wischen Sie kalt lächelnd weg. Damit begehen Sie
nicht nur Wortbruch, sondern brechen auch ein geltendes
Gesetz. Sie tun so, als wäre das eine Lappalie.
({5})
Das sehen übrigens nicht nur wir so, sondern das haben Sie selbst bei der Debatte über das Mautgesetz im
März 2003 genauso gesehen. Ich habe mir aus dem Protokoll der betreffenden Sitzung einen Auszug mit der
Rede des Kollegen Albert Schmidt herausgesucht.
({6})
Mit Genehmigung der Frau Präsidentin möchte ich
aus diesem Protokoll zitieren:
Von daher haben sie
- die Transportunternehmen auch Anspruch darauf, verlässlich zu erfahren, dass
die Gelder reininvestiert werden. Akzeptanz gewinnen wir nur, wenn wir glaubhaft machen können,
dass nicht jedes Jahr darum gezittert werden muss,
ob der Bundesfinanzminister das Geld für diesen
Zweck einsetzt, … sondern dass dieses Geld
- man höre! gleichsam mit einem rosa Schleifchen umwunden
wird, in die Schatulle der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft gelegt wird und damit dem
Verkehrswegebau gewidmet ist.
({7})
Herr Kollege Schmidt, wenn Sie konsequent wären,
dann müssten Sie diese Bundesregierung heute an den
Pranger stellen;
({8})
denn sie bricht dieses Wort, das Sie uns hier gegeben haben.
({9})
Bezogen auf das Zitat könnte man noch sagen, dass aus
dem rosa Schleifchen inzwischen ein schwarzer Trauerflor geworden ist.
({10})
Die Frage ist jetzt, wie wir dazu kommen, dass mehr
für Investitionen bereitgestellt wird. Dazu schlage ich
Ihnen im Namen meiner Fraktion vor,
({11})
in aller Sachlichkeit darüber zu diskutieren, ob wir die
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft nicht
anders ausstatten sollten. Dazu könnten wir uns in Europa umschauen, um zu sehen, welche intelligenten Lösungen andere gefunden haben. Das kleine Land Österreich hatte die gleichen Probleme wie wir. Dort hat man
erkannt, dass die Infrastruktur, die für ein modernes
Wirtschaftsland gebraucht wird, aus dem Haushalt allein
irgendwann nicht mehr zu finanzieren ist.
Deshalb sollten wir überlegen, die Einnahmen aus der
Maut nicht beim Finanzminister durchfließen zu lassen,
sondern sie direkt dorthin zu geben, nämlich an die
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, wo sie
auch wieder entsprechend verwendet werden. Dann hätten wir schon einmal 2 Milliarden Euro ausschließlich
für die Verkehrsinfrastruktur gesichert. Anderenfalls
wird der Finanzminister - ich gebe zu: jeder Finanzminister, auch einer unserer Couleur - dann, wenn Haushaltslöcher vorhanden sind, zunächst einmal seinen Anteil kassieren.
({12})
Daher mein Angebot, dass wir unter uns Verkehrspolitikern vernünftig darüber diskutieren. Wir wollen doch
die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Wir brauchen uns hier doch nicht gegenseitig Vorhaltungen zu
machen, wobei Sie uns sicherlich gestatten werden, dass
wir als Opposition mehr fordern als die Bundesregierung.
Das wäre ein intelligenter Vorschlag, um zu mehr Investitionsmitteln zu kommen. Auch hätten wir dann die
riesige Chance, den Investitionsstau abzubauen. Dass ein
Investitionsstau besteht, merken wir doch alle, merken
die Bürgerinnen und Bürger, die täglich unterwegs sind.
Es muss in diesem Hause doch auch einmal möglich
sein, dass vernünftige Ideen, auch wenn sie von der Opposition kommen, von der Bundesregierung nicht sofort
in den Papierkorb geworfen werden, sondern dass man
gemeinsam darüber diskutiert.
({13})
Wir bieten Ihnen das an. Wenn Sie intelligent genug
sind, dann machen Sie mit. Alle profitieren davon, insbesondere unsere Bürgerinnen und Bürger und vor allem
die deutsche Wirtschaft, die dann auch wieder Arbeitsplätze schaffen kann.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Abgeordnete Karin RehbockZureich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Brunnhuber, Ihre Rede hat sich zum Ende hin
von allen anderen Reden, die wir gehört haben, etwas
unterschieden.
({0})
Wir sind immer zu Gesprächen bereit, wenn es um mehr
Verkehrsinfrastrukturinvestitionen geht. Ich bitte aber
darum, sich zuerst das Thema vorzunehmen, das ganz
oben auf der Tagesordnung steht, und zwar den Subventionsabbau. Bei diesem Thema schleichen Sie sich aber
im Bundesrat immer wieder davon.
Ich will auf einige Zahlen eingehen, die hier verbreitet werden. Es ist abenteuerlich, wenn man sich bei einem Investitionsvolumen für die Verkehrsinfrastruktur
von 10 Milliarden Euro bis einschließlich 2008 - denn
die 1 Milliarde wird noch hinzukommen ({1})
von Ihnen sagen lassen muss, wir hätten die Investitionen gegen die Wand gefahren.
({2})
Frau Blank, wenn Sie verbreiten, wir hätten im
Jahr 2003 nur 2,3 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur investiert,
({3})
und aus dem Bericht zum Ausbau der Schienenwege zitieren, dann bitte ich darum, dass auch richtig zitiert
wird. Auf Seite 6 werden die Maßnahmen des Bedarfsplans aufgeführt. Was an dieser Stelle nicht genannt wird
und was Sie nicht erwähnen, sind die Investitionen in die
Erhaltung des Netzes.
({4})
- Die hat sie in der Tat völlig unter den Tisch fallen lassen. Dabei handelt es sich aber um einen beträchtlichen
Betrag. Im Berichtszeitraum 2003 geht es um eine Größenordnung von 4,5 Milliarden Euro.
({5})
Es sind auch keine ideologischen Gründe, Kollege
Friedrich, aus denen wir noch in dieser Größenordnung
in die Verkehrsinfrastruktur, und zwar in die Schiene, investieren; vielmehr sprechen die Gründe der Vernunft
dafür. Angesichts der Zuwächse im Güterverkehr muss
einem klar sein, dass wir alle Verkehrsträger auf den
Weg bringen und für die Zukunft fit machen müssen.
({6})
Dies ist nur dann möglich, wenn Investitionen in der bisherigen Größenordnung in die Schieneninfrastruktur
fließen.
Wir müssen das Schienennetz Deutschland nicht
schlechtreden. Es ist mit einer Streckenlänge von
35 000 Kilometern und einer Gleislänge von
70 000 Kilometern das fünftgrößte Schienennetz der
Welt.
Wir haben in dem Berichtszeitraum wichtige Projekte
auf den Weg gebracht. Die Strecken Berlin-Hamburg
und Frankfurt-Köln stellen wichtige Fortschritte dar.
({7})
Die Strecke Berlin-Hamburg zeigt, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ weit gediehen sind.
70 Prozent der Investitionssummen fließen in diese Projekte.
({8})
- Bei dem Projekt Erfurt-Nürnberg geht es nicht um
die Frage, ob dieses Projekt auf den Weg gebracht wird;
es geht vielmehr darum, wie dies geschehen soll.
Sie stellen immer wieder die EFRE-Mittel infrage.
Allein für den Schienenausbau im Osten sind in den vergangenen Jahren EU-Mittel in Höhe von 700 Millionen
Euro geflossen.
({9})
Da es sich bei dieser Förderung immer um eine Kofinanzierung handelt, kommen entsprechende Bundesmittel
hinzu.
Wir leiden gegenwärtig im Schienenbereich auch darunter, dass Großprojekte, für die zunächst Kosten in
Höhe von 4 Milliarden veranschlagt wurden, letztlich
6 Milliarden gekostet haben. Das haben Sie übrigens in
Ihrer Regierungszeit mitverantwortet. Sie haben seinerzeit zugeschaut.
({10})
Die Folge war, dass das Bestandsnetz in Ihrer Regierungszeit verrottet ist. Sie haben nicht darauf geachtet,
dass regelmäßig Mittel in den Erhalt des Bestandsnetzes
fließen. Der Mittelbedarf bei der Bestandserhaltung ist
erst von der rot-grünen Regierung ermittelt worden. Wir
sind diejenigen, die seit 1998 dafür sorgen, dass regelmäßig Mittel in den Erhalt des Bestandsnetzes fließen.
({11})
Wir haben außerdem zusätzliche Mittel in den Bereich Schiene fließen lassen. Die Gelder für das Zukunftsinvestitionsprogramm, ZIP, wurden auf die Haushaltsmittel draufgesattelt. Das ZIP hat es im
Berichterstatterzeitraum ermöglicht, 18 000 Maßnahmen
durchzuführen, zum Beispiel in den Bereichen der Langsamfahrstellen sowie der Leit- und Sicherungstechnik.
Nun möchte ich auf die Diskussion über die Mauteinnahmen eingehen. Es ist zwar richtig, dass sie zu den
Haushaltsmitteln hinzukommen. Aber, Herr Brunnhuber,
nirgendwo ist zu lesen - auch nicht im Protokoll -:
Haushaltsmittel plus ZIP-Mittel plus Mauteinnahmen.
Dies ist so nicht richtig.
({12})
Als die Mauteinnahmen 2003 ausgelaufen sind, war klar,
dass die zukünftigen Mauteinnahmen ein Ersatz für die
ZIP-Mittel sein werden.
({13})
- Richtig, Herr Fischer, Haushaltsmittel plus ZIP-Mittel.
Aber Sie werfen ständig alles in einen Topf. Sie können
sich nicht herausreden. Ihre Bewertung ist nicht richtig.
({14})
Es wurde bereits mehrfach infrage gestellt, ob es
möglich sein wird, 2008 Regionalisierungsmittel in
Höhe von 1 Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen. Eines ist klar: Diese Mittel benötigen wir. Es wurde vonseiten der Bundesregierung mehrfach versichert, dass
hier nicht nach dem Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“ verfahren wird und dass die Regionalisierungsmittel nicht in die Investitionsmittel fließen werden. Eines
ist aber auch klar: 2007 werden wir bei der Revision sehr
genau darauf achten müssen, wohin die Regionalisierungsmittel geflossen sind. Die Länder haben gegenüber
dem Bund die Berichtspflicht, darzulegen, für welche
Zwecke sie
({15})
die ihnen zur Verfügung gestellten 7 Milliarden Euro
verwendet haben. Für mich heißt Revision Berichtspflicht und Transparenz. Das wünsche ich mir.
Frau Kollegin, denken Sie daran, dass Ihre Redezeit
bereits abgelaufen ist.
Ich möchte nur noch einen kurzen Satz aus einer Pressemitteilung Baden-Württembergs vom April 2004 zitieren, in der es um die Regionalisierungsmittel geht. Darin
heißt es, für GVFG-Vorhaben in den Bereichen des
ÖPNV und des kommunalen Straßenbaus stünden rund
210 Millionen Euro zur Verfügung; hinzu kämen umgeschichtete Regionalisierungsmittel. So viel zu Transparenz und Verwendung. Hier besteht Handlungsbedarf.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/3938. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/2603 mit dem Titel „Deutschland braucht Klarheit bei der Verkehrsinfrastruktur“.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP angenommen worden.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/
2423 mit dem Titel „Investitionen in Verkehrsinfrastruktur sicherstellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/4096 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine
Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ostdeutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3203 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen
worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/4097 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Kurskorrektur bei Verkehrsinvestitionen - Finanzierung des
Bundesverkehrswegeplans 2015 sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3470
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/3720, 15/4621 und 15/4609 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) zu dem Antrag
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef
Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zusätzliche Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bei Versorgungsbezügen durch
das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig
machen
- Drucksachen 15/2472, 15/4451 Berichterstattung:
Abgeordneter Detlef Parr
Ich weise darauf hin, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Antrag möchte
die FDP erreichen, dass die von Rot-Grün und der Union
beschlossene kalte Enteignung durch die Gesundheitsreform rückgängig gemacht wird.
({0})
Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben im
letzten Jahr einen Überschuss von 3 Milliarden Euro erzielt. Durch die Verbeitragung der Betriebsrenten und
Direktversicherungen wurden Millionen Menschen, die
zusätzlich private Altersvorsorge betrieben haben, im
letzten Jahr 2 Milliarden Euro abgenommen. Wohlgemerkt: Das war keine Sparmaßnahme, sondern ein zusätzliches Abkassieren bei Menschen, die mühsam gespart und für ihre Altersvorsorge etwas zurückgelegt
hatten.
({1})
Diesem Antrag liegt eine - ich bitte sehr um Nachsicht - Riesensauerei zugrunde, mit der das Vertrauen
von Millionen Versicherten missbraucht wurde. Jahrelang war trotz anders lautender Äußerungen bekannt,
dass die Rente allein den Lebensabend nicht sichern
kann. Jahrelang hat es Aufforderungen gegeben, zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben. Jahrelang wurde von
Gewerkschaften, von Steuerberatern und von Betrieben
darauf hingewiesen, zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben: durch Betriebsrenten, durch Direktversicherungen. Diesem Appell sind Millionen von Bürgern gefolgt,
indem sie auf Konsum verzichteten und Teile ihres Einkommens in Betriebsrenten und Direktversicherungen
einzahlten.
({2})
Nachdem dies von diesen Personen nicht nur jahre-,
sondern jahrzehntelang betrieben wurde, hat der Gesetzgeber mit den Stimmen von Rot-Grün und der Union
durch das GKV-Modernisierungsgesetz Teile der Altersvorsorge von Millionen Menschen mit einem Federstrich
kalt enteignet.
({3})
Dies geschah ohne öffentliche Ankündigung, ohne öffentliche Diskussion und ohne öffentliche Vorbereitung.
Millionen Menschen konnten und können auf diese gesetzgeberische Willkür nicht mehr reagieren, weil ihre
finanzielle Altersplanung längst abgeschlossen ist. Diese
Personen haben daran geglaubt, dass Recht in Deutschland Recht bleibt und dass der Gesetzgeber in schon laufende Verträge nicht in einer Form eingreift, die dem
Vertrauensschutz voll zuwiderläuft.
({4})
Deshalb muss diese Regelung rückgängig gemacht werden.
Ohne Vorwarnung, ohne Übergangsregelung, ohne
ein Gesamtkonzept erfolgte eine Mehrbelastung der gesetzlich versicherten Rentnerinnen und Rentner durch
das Gesundheitsreformgesetz. Mit diesem Gesetz wurde
beschlossen, dass für Betriebsrenten statt des hälftigen
Beitrags der volle Krankenversicherungsbeitrag erhoben
wird. Zur Kapitalauszahlung von Direktversicherungen,
die bis dahin steuer- und abgabenfrei erfolgte, wurde beschlossen, dass auf Verträge, die ab dem 1. Januar 2004
ausgezahlt werden, innerhalb von zehn Jahren der volle
Krankenversicherungsbeitrag erhoben wird. Das ist eine
kalte Enteignung in Höhe von einem Sechstel des angesparten Betrages.
({5})
Seit 1990 bin ich Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich habe es noch nicht erlebt, dass eine so weit reichende gesetzliche Regelung in einer solchen Weise beschlossen wurde. Sie wurde beschlossen, ohne dass
dieser Punkt mit dieser Tragweite vorher in einem der
Beiträge in den Debatten am 18. Juni, am 9. September,
am 26. September 2003 auch nur von einem einzigen
Redner, der an den Verhandlungen beteiligt war, überhaupt angesprochen worden war. Das Ganze wurde im
Dezember Gegenstand öffentlicher Erörterung. Das
Ganze ist auch von den Verhandlungsführern - Gesundheitsministerin Schmidt und Herrn Seehofer - überhaupt
nicht angesprochen worden, obwohl sie die Regelung
und die Bedeutung dieser Regelung sehr wohl kannten.
Das einzige Motiv von Frau Schmidt und Herrn
Seehofer war, dass mehr Geld in die Krankenkassen
kommt - ohne Rücksicht auf die Versicherten, ohne
Rücksicht auf den Rechtsstaat. Allein 2 Milliarden Euro
sind im letzten Jahr auf diesem Weg den Menschen abgenommen worden, die eine zusätzliche Altersvorsorge
betrieben haben.
Die Präsidentin des Bundesfinanzhofs, Frau Ebeling,
hat zu Recht festgestellt: „Die Geldnot des Gesetzgebers
rechtfertigt nicht jeden Eingriff.“
({6})
Für die FDP kann ich nur feststellen: Recht hat die Präsidentin des Bundesfinanzhofs. Recht muss auch Recht
bleiben. Deshalb muss diese Regelung rückgängig gemacht werden.
({7})
Nach Gesprächen mit vielen Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen gehe ich davon aus, dass mindestens 80, wenn nicht sogar 90 Prozent der Abgeordneten
des Bundestages bei der Abstimmung damals überhaupt
nicht wussten, dass diese Regelung Teil des Gesetzes ist.
({8})
Sie sind richtig hinters Licht geführt worden. Auch als
Mitglied des Finanzausschusses bin ich, wie die meisten
anderen, erst im Dezember auf diese Regelung aufmerksam geworden.
({9})
- Wenn Sie alle das wussten, dann stimmen Sie guten
Gewissens gegen unseren Antrag! Sie alle haben ein
schlechtes Gewissen. Sie von Rot-Grün hatten die Sorge
- das weiß ich -, der erste Baustein der Agenda 2010
würde fallen, wenn diese Regelung zurückgenommen
würde. Deshalb haben Sie diese Regelung ohne Differenzierung beibehalten.
Parallel dazu ist im Alterseinkünftegesetz beschlossen worden, dass die Lebensversicherungen besteuert
werden, aber nur neue Verträge nach dem neuen Rechtsstatus. Im Gegensatz dazu sind hier Altverträge in einer
Form betroffen - die Menschen konnten überhaupt nicht
mehr umdisponieren -, die Anfang letzten Jahres Zehntausende Mitglieder der SPD dazu trieb, aus der SPD
auszutreten.
({10})
Herr Abgeordneter.
Meine sehr verehrte Präsidentin, ich komme zum
Schluss.
Bitte.
Altersvorsorge ist wichtig und notwendig. Wer Vertrauen beim Aufbau einer privat finanzierten Altersvorsorge durch einen solch sorgsam geplanten und der Öffentlichkeit verschwiegenen Eingriff verspielt, der hat
Schwierigkeiten, dieses Vertrauen wieder zurückzuerwerben. Wenn die Politik nicht mehr planbar ist und
nicht mehr berechenbar ist, dann hat sie ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Lassen Sie uns nicht auf die Gerichte warten, die
diese Regelung korrigieren werden! Lassen Sie uns als
Gesetzgeber diese Fehlentwicklung selbst korrigieren!
Stimmen Sie dem Antrag der FDP zu!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Warten Sie doch ab! - Der Antrag der FDP mit dem
Titel „Zusätzliche Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bei Versorgungsbezügen durch das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig machen“ ist - Herr Kollege Thiele, ich sage das ungern, aber das ist leider die
Wahrheit - ein schillerndes Beispiel für puren und
heuchlerischen Populismus.
({1})
- Doch, das ist so.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie tun so, als
ob Sie Sachwalter der Krankenversicherten wären, und
fordern als Fraktion Vertrauensschutz für die Bezieher
von Betriebsrenten, Versorgungsbezügen und anderen
Einkünften, während es Beschlusslage der FDP - damit
muss man sich doch einmal auseinander setzen - ist, die
gesetzliche Krankenversicherung komplett abzuschaffen.
({2})
Nach Ihrer Beschlusslage müssten sich alle bislang gesetzlich Versicherten - darauf gehe ich gerne näher ein privat versichern. Dass dies für die Mehrheit der Menschen in unserem Land, insbesondere für die Kranken,
für die Familien, für die Bezieher niedriger und mittlerer
Einkommen und für die Rentner, für die Sie sich ja jetzt
angeblich mit Ihrem Antrag einsetzen, erheblich teurer
würde, das schert Sie sonst in der Regel nicht.
({3})
- Lieber Herr Kollege Thiele, ich werde Ihnen nicht den
Gefallen tun, nur über ein Segment Ihrer Politik zu diskutieren, wie es Ihnen gerade gefällt, sondern ich setze
mich mit der Haltung der FDP insgesamt auseinander.
Allein die Verwaltungskosten verschlingen bei den
privaten Krankenversicherungen mit 12,3 Prozent der
Gesamtausgaben mehr als doppelt so viel wie bei den
gesetzlichen Krankenkassen. Ginge es nach der FDP
- Sie haben ja die Zahl von 2 Milliarden Euro genannt,
die die Bezieher von Versorgungsbezügen und Betriebsrenten jetzt insgesamt abführen müssen -,
({4})
müssten von den Rentnerinnen und Rentnern, wenn das
Ausgabevolumen der GKV von circa 140 Milliarden
Euro jährlich privatisiert würde, allein 9 Milliarden Euro
mehr an Verwaltungskosten aufgebracht werden. Dem
stehen die von Ihnen genannten 2 Milliarden gegenüber.
Auch das muss man einmal der Öffentlichkeit sagen.
({5})
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie fordern
doch Wettbewerb. Die Verwaltungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 5,39 Prozent zeigen
- ich wusste doch, was Sie sagen; dafür braucht man ja
kein Hellseher zu sein -, dass der Wettbewerb die gesetzlichen Kassen - nur dort findet ja überhaupt einer
statt; um die Privatversicherten findet ja kein Wettbewerb mehr statt, da die nur theoretisch, aber in der Praxis
überhaupt nicht wechseln können - zu wirtschaftlichem
Handeln zwingt. Die Verwaltungskosten bei den gesetzlichen Krankenkassen fallen also gegenüber denen der
PKV-Unternehmen geradezu bescheiden aus. Ich sage
Ihnen noch eines: Aus einer solchen Privatisierung erwächst wahrlich kein Effizienzgewinn, weder in Bezug
auf Qualität noch auf Wirtschaftlichkeit. Letzten Endes
wären die Versicherten diejenigen, die die Zeche bezahlen müssten.
({6})
Ich möchte jetzt gern auf Ihre Klage, verehrter Herr
Kollege Thiele, dass hier überfallartig etwas durchgesetzt wurde,
({7})
eingehen. Vertreter Ihrer Partei waren doch bei den Konsensgesprächen zum GKV-Modernisierungsgesetz im
Sommer 2003 dabei.
({8})
Die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Partei - Herr Kollege Parr ist ja anwesend - sind ausgestiegen, weil sie
mit der einzigen Forderung, die von ihnen gebetsmühlenartig wiederholt worden ist, nämlich nach Einführung
von Kostenerstattung - was ja den ersten Schritt in die
Privatisierung darstellen würde -, bei keinem der anderen Beteiligten auf Gehör stießen und damit keine
Chance zur Umsetzung sahen. Deshalb sind Sie doch
ausgestiegen.
({9})
Sie haben sich der Gesamtverantwortung entzogen
und versuchen stattdessen jetzt mit Ihrem Antrag, populistisch Stimmen zu fangen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Die Menschen durchschauen diese Art von Spielchen, denn Ihre Vorschläge münden immer nur in
erhebliche, unnötige finanzielle Mehrbelastungen bei
den Versicherten und in die Erschließung zusätzlicher
Einnahmequellen für die Leistungserbringer. Darum
geht es Ihnen doch eigentlich.
Herr Kollege Thiele, bezüglich des in Ihrem Antrag
eingeforderten Vertrauensschutzes möchte ich auf ein
Urteil des Sozialgerichts München hinweisen. Es hat zu
dieser Regelung des GKV-Modernisierungsgesetzes am
30. September letzten Jahres festgestellt, dass sie verfassungskonform ist. Wörtlich heißt es in dem Beschluss:
Im Verhältnis zu anderen Einkunftsarten, die zur
Beitragsbemessung … herangezogen werden, unterfällt die Heranziehung des Versorgungsbezuges
zur Beitragsbemessung dem allgemeinen Gleichheitssatz.
Und weiter:
§ 248 SGB V verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot, …
Solch ein Urteil sollten Sie sich schon einmal zu Gemüte
führen, ehe Sie, wie im Antrag Ihrer Fraktion, behaupten, die Neuregelung verstoße gegen den Tatbestand des
Vertrauensschutzes. Diesbezüglich will ich Sie auch darauf hinweisen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Neuregelungen, die belastend
auf gegenwärtige und zukünftige Sachverhalte einwirken, grundsätzlich zulässig sind. Voraussetzung ist, dass
bei der Abwägung das Allgemeinwohl Vorrang hat. Das
besagt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Sie doch kennen. Betriebsrenten, Versorgungsbezüge und Direktversicherungen waren bisher die
einzigen nennenswerten beitragspflichtigen Einnahmen,
die nicht zum vollen Beitragssatz herangezogen wurden.
Auch daran will ich erinnern: Das Bundessozialgericht kommt in einem früheren Urteil zu dem Schluss,
dass Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung
auch dann beitragspflichtig sind, wenn sie allein auf
freiwilligen Beiträgen beruhen und der Rentenbezieher
früher keine Berufstätigkeit ausgeübt hat. Deshalb können für Versorgungsbezüge keine anderen Grundsätze
gelten als die, die wir aufgestellt haben.
({10})
Ich will zusammenfassend feststellen: Mit Ihrem Antrag wollen Sie, meine Damen und Herren von der FDP,
davon ablenken - das werden wir Ihnen aber nicht
durchgehen lassen -, dass Ihnen ein gänzlich anderes
Gesundheitssystem zugunsten der Besitzstandswahrer
und zulasten der Versicherten und Patienten vorschwebt.
Sie wollen schlicht die Privatisierung von Gesundheitsrisiken. Das würde insbesondere die 10 Prozent der
Versicherten treffen, die 80 Prozent der Ausgaben der
gesetzlichen Krankenkassen verursachen. Das sind die
chronisch Kranken und die Sterbenskranken. Diesen helfen Sie mit Ihren gesundheitspolitischen Vorstellungen
nicht.
Die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen - das
ist die Konsequenz - würden bei schweren Erkrankungen
allein gelassen. Sie wollen die Gesellschaft - das zeigt
Ihr Antrag - aus der sozialen Gesamtverantwortung
entlassen. Bei der Abwägung und vor die Entscheidung
gestellt: volle Beiträge auf Betriebsrenten, Versorgungsbezüge und Direktversicherungen oder Privatisierung
der gesundheitlichen Risiken, wird die Entscheidung der
Bürger so ausfallen - da bin ich mir ganz sicher -, wie es
Ihren Wahlergebnissen entspricht.
({11})
- Ich weiß natürlich, dass Ihnen das nicht gefällt. Aber,
verehrter Herr Kollege Dr. Kolb, ob es Ihnen gefällt oder
nicht: Wir werden nicht schweigen und werden der Bevölkerung deutlich machen, wohin Ihre Vorstellungen
letzten Endes führen. Sie nehmen sich in populistischer
Weise ein Segment heraus, das bei der Bevölkerung sicherlich nicht gerade Freude ausgelöst hat. Ich sage aber
noch einmal: Wenn die Bevölkerung vor die Alternative
gestellt wird: ein Gesamtversorgungssystem mit einem
breiten Leistungskatalog oder ein abgespeckter Leistungskatalog, den Sie im Rahmen einer so genannten
Grundversorgung einführen wollen, dann wird der Anteil der Bevölkerung, der sich für Ihren Vorschlag ausspricht, nur so hoch sein, wie es Ihren Wahlergebnissen
entspricht.
({12})
Deshalb wird es Sie, meine Damen und Herren von
der FDP, sicherlich nicht überraschen, wenn ich namens
meiner Fraktion ankündige, dass wir Ihren Antrag - wie
schon im Ausschuss - auch hier ablehnen werden.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Hennrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP fordert in ihrem Antrag - ich denke, dass dieser
Antrag in erster Linie auf Sie, werter Herr Kollege
Thiele, zurückzuführen ist - die Rücknahme der höheren Beitragszahlungen auf Betriebsrenten und andere
Versorgungsbezüge. Damit finden Sie große Zustimmung bei der Klientel der Rentner und natürlich auch
große Zustimmung bei den Angehörigen der freien Berufe, die über die Versorgungsbezüge der entsprechenden Versorgungswerke - bei Ihnen, Herr Thiele, ist es
das Versorgungswerk der Rechtsanwälte ({0})
im besonderen Maße betroffen sind. Aber Sie leisten damit keinen Beitrag zur Lösung der Finanzprobleme in
den gesetzlichen Krankenversicherungen.
({1})
Wir waren uns darüber im Klaren, dass wir die gesetzliche Krankenversicherung mittelfristig auf ein stabiles finanzielles Fundament stellen mussten, damit wir
eine große Gesundheitsreform vorbereiten können.
An dieser Stelle muss ich natürlich die rot-grüne
Mannschaft anschauen. Wir warten bis zum heutigen
Tag auf Ihre Vorschläge. Lieber Herr Kollege Kirschner,
Sie haben sich sehr ausführlich mit der FDP beschäftigt,
aber mit keinem Wort erwähnt, was Sie gerne durchsetzen würden.
({2})
Ich möchte auf die finanzielle Situation der GKV zurückkommen. Es bestand jährlich ein Defizit von rund
2 Milliarden Euro. Hätten wir denn einfach zuschauen
sollen, wie unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem an die Wand fährt?
({3})
- Das denke ich auch. - Also mussten wir handeln. Lieber Kollege Thiele, im Gegensatz zu Ihnen und Ihrer
Partei haben wir Verantwortung übernommen, obwohl
wir in der Opposition waren. Sie waren, wie es der Herr
Kollege Kirschner schon ausgeführt hat, zu Beginn der
Konsensgespräche dabei und haben sich dann verabschiedet.
({4})
Jetzt kommt der eigentliche Treppenwitz: Über die Länder Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg, in deren Regierung die FDP vertreten ist,
haben Sie im Bundesrat doch wieder zugestimmt.
({5})
Das ist nichts anderes als Populismus.
({6})
Ich hätte erwartet, dass Sie in Ihrem Antrag auch Alternativen aufzeigen. Das haben Sie nicht getan. Ich will
Ihnen einmal mögliche Alternativen nennen. Das wären
höhere Beiträge oder das Ausgrenzen von Leistungen.
Wollen wir einmal die einzelnen Möglichkeiten
durchgehen: Höhere Beiträge gingen insbesondere zulasten der jüngeren Generation. Wäre das gerecht vor
dem Hintergrund, dass wir alle wissen, dass wir das soziale Netz, das wir momentan haben, für künftige Generationen nicht mehr aufrechterhalten können? Viele
junge Familien haben heute keinerlei finanziellen Spielraum. Ist das die Alternative der FDP gewesen? Ich weiß
es nicht.
Die andere Alternative wäre die Ausgrenzung von
Leistungen. Damit hätten wir gerade die finanziell
Schwächeren in unserer Gesellschaft getroffen. Das Problem, das wir heute ohnehin schon haben, hätten wir zusätzlich verschärft.
({7})
Entscheidend war, dass wir die Lasten ausgewogen
zwischen den Generationen sowie zwischen den finanziell Schwachen und denjenigen, die mehr leisten können,
verteilen. Das ist der Grund dafür, dass wir uns entschieden haben, auf die Versorgungsbezüge die vollen Beitragssätze zu erheben.
Hinzu kommt - das muss man ausdrücklich erwähnen -: Im Jahr 1970 haben die Rentner mit ihren
Beitragszahlungen noch 70 Prozent ihrer Ausgaben gedeckt. Jetzt, in diesem Jahr, sind es gerade noch
40 Prozent. Wenn man das unter dem Grundsatz der Generationengerechtigkeit betrachtet, kommt man zu dem
Ergebnis, dass die hier getroffene Entscheidung richtig
war.
Ich weiß, dass viele Rentnerinnen und Rentner diese
Maßnahmen als ungerecht empfinden und diese für viele
eine soziale Härte darstellen. Ich habe erst heute wieder
mehrere Briefe zu diesem Themenkomplex beantwortet.
Weil wir das wissen, haben wir gerade in Bezug auf die
Betriebsrenten und die Direktversicherungen, die in
Form von Einmalzahlungen ausgezahlt werden, Regelungen getroffen, die sozial abfedern und es ermöglichen, dass die Beiträge gestaffelt geleistet werden können. Ich sage es noch einmal: Wir hatten schlicht und
ergreifend keine Alternativen.
Herr Thiele, ein rechtlicher Aspekt kommt hinzu. Seit
20 Jahren zahlen freiwillig Versicherte auf die monatlich
ausgezahlten Betriebsrenten die vollen Beiträge. Warum
sollen diejenigen besser gestellt werden, die sich ihre
Betriebsrente oder Direktversicherung auf einmal auszahlen ließen? Weshalb soll der freiwillig Versicherte
schlechter gestellt werden als der Pflichtversicherte?
Soll er dafür bestraft werden, dass er sich bewusst für
das GKV-System entschieden hat? Ist das die Politik der
FDP?
Ich will gar nicht verschweigen, dass die jetzt gefundene Lösung weitere rechtliche Probleme aufwirft.
Stichworte sind auf der einen Seite die Direktversicherung, die vom Arbeitnehmer aus versteuertem Einkommen bedient wird,
({8})
und die Kapitallebensversicherung auf der anderen
Seite.
({9})
Warum muss derjenige, der monatlich Beiträge aus seinem versteuerten und der Sozialversicherungspflicht unterliegenden Einkommen in eine Direktversicherung einzahlt, Beiträge an die GKV zahlen und warum ist dies
bei der Kapitallebensversicherung nicht der Fall? Da
kann ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren
von SPD und Grünen, schon jetzt nur viel Spaß mit der
Bürgerversicherung wünschen; diese Probleme haben
Sie bei einer Gesundheitsprämie schlicht und ergreifend nicht.
({10})
Die Gerichte setzen sich gegenwärtig damit auseinander. Ich bin zuversichtlich, dass die Regelung weiterhin
Bestand haben wird. Herr Kollege Kirschner, Sie haben
schon auf das Urteil des Bundessozialgerichts und auf
das des Sozialgerichts München hingewiesen. Weitere
Urteile werden ergehen. Aber ich bin mir sicher, dass wir
die richtige Entscheidung getroffen haben.
Weil ich hinter dieser Entscheidung stehe, werde ich
auch gegen Ihren Antrag stimmen, meine Damen und
Herren von der FDP. Ich hoffe, dass Sie zu der Einsicht
gelangen, dass solche populistischen Anträge nicht in
die Zeit passen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgitt Bender.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag muss für uns Anlass sein, über die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung zu reden. Der Sachverständigenrat hat uns bereits
vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die
Finanzierungsbasis zu schwinden drohe, weil die Lohnquote sinkt. Denn die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung sind die beitragspflichtigen
Arbeitnehmerentgelte. Wenn deren Anteil am Volkseinkommen abnimmt, dann bekommt die GKV ein Problem.
Dies wirft ein Licht auf ein Strukturproblem, das
darin liegt, dass die Finanzierung der Gesundheitsversorgung in unserem Land einseitig auf die Lohneinkommen ausgerichtet ist. Historisch ist dies gut zu erklären:
Zunächst einmal war diese Versicherung eine reine
Krankengeldversicherung; das Krankengeld wurde nach
der Lohnhöhe ausgezahlt. Auch war es eine reine Arbeiterversicherung; die Arbeiter hatten bekanntlich kein anderes Einkommen als ihren Lohn. Heute aber macht das
Krankengeld 5 Prozent der Leistungsausgaben aus, während 95 Prozent der GKV-Ausgaben vom Lohn unabhängig sind.
Auch in der Bevölkerung hat sich etwas verändert:
Die Einkommensquellen sind heute vielfältiger. Vermögenseinkommen ist nicht mehr ein Privileg weniger
Reicher, sondern zum Beispiel auch für die Alterssicherung von Bedeutung. Die einseitige Ausrichtung auf die
Lohneinkommen bedeutet kurzfristig aber einen Druck
in Richtung Anstieg der Beiträge; langfristig führt sie
dazu, dass die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt infrage gestellt ist.
Darüber hinaus stellt sich ein Gerechtigkeitsproblem, weil in unserem System nicht die Höhe des tatsächlichen Einkommens des Versicherten für die Höhe
seines Beitrags maßgeblich ist.
({0})
- Herr Kollege Kolb, vielleicht sollten Sie einmal richtig
zuhören. Die FDP scheint das noch nicht verstanden zu
haben.
Je nach Einkommensquelle kann bei gleicher Höhe
des Einkommens der Beitrag durchaus unterschiedlich
hoch ausfallen. Daher ist es richtig, alle Einkommensarten gleichzustellen. Dies ist der Hintergrund der Diskussion, die wir heute führen. Es geht nicht nur darum,
durch die hier angesprochene Verbeitragung der Betriebsrenten kurzfristig die Beiträge zu stabilisieren, sondern es geht auch um einen Beitrag der Älteren zur nachhaltigen Finanzierung des Systems sowie um mehr
Gerechtigkeit.
Herr Kollege Thiele, Sie haben sicherlich die Ausführungen des Sozialgerichts München nachgelesen.
({1})
Die Richter haben uns bestätigt, dass die bis zur Gesundheitsreform geltende Besserstellung von Versorgungsempfängern dem Grundsatz der Beitragsgerechtigkeit
widersprach, und dem Gesetzgeber attestiert, dass die
neue Regelung weitaus eher zur Gleichbehandlung beiträgt. Die Richter haben ferner darauf hingewiesen, dass
die volle Beitragspflicht für Versorgungsleistungen einen Beitrag zur Generationengerechtigkeit darstellt.
Unser Argument, dass es angesichts der wachsenden
Kluft zwischen Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben innerhalb der Krankenversicherung der Rentner ein
Gebot der Solidarität der Rentner mit den Erwerbstätigen ist, wenn Erstere einen höheren Finanzierungsanteil
übernehmen, ist vom Gericht ausdrücklich anerkannt
worden.
Meine Damen und Herren, die Debatte, die wir heute
führen, gibt einen Vorgeschmack auf die Debatten, die
wir erleben werden, wenn wir über eine veränderte
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in
einem größeren Rahmen reden. Eines ist ganz sicher:
Bei einer Debatte über eine große Reform der Krankenversicherung wird man sich nicht auf Klientelpolitik beschränken können.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Brüning.
Sie ist die letzte angemeldete Rednerin in dieser Debatte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz
nach In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform hat die FDP
mehrere Anträge in den Bundestag eingebracht, um einzelne Regelungen dieser Reform - Praxisgebühr, höhere
Beitragsbelastung bei der Zusatzversorgung - rückgängig zu machen. Heute stimmen wir über den Antrag ab,
der die Anhebung der Beiträge auf Versorgungsbezüge betrifft.
Ich möchte auf das Vorgehen der FDP mit einem Wort
aus der Bibel antworten: „Alles hat seine Zeit.“
({0})
Die FDP hätte während der Konsensverhandlungen zur
Gesundheitsreform konstruktiv mitarbeiten und ihre Kritik einbringen können. Aber, meine Damen und Herren
von der FDP, was haben Sie stattdessen getan? Sie haben
sich aus den Gesprächen zurückgezogen.
({1})
Als dann durch das Kommunikationschaos der rotgrünen Regierung viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert waren, was mit der Gesundheitsreform auf sie
zukomme, da trat die FDP wieder in Erscheinung. Sie
forderte öffentlichkeitswirksam die Rücknahme der Praxisgebühr und der Erhebung höherer Beiträge auf Versorgungsbezüge. Ich kann mich leider des Eindrucks
nicht erwehren, dass es hier um Populismus ging.
({2})
Es wäre verantwortungsvoller gewesen, sich mit den inhaltlichen Positionen in die Konsensverhandlungen einzubringen und die Reform mitzugestalten, vor allem
wenn man bedenkt, dass es um ein so zentrales Thema
wie die gesundheitliche Versorgung der Bürgerinnen und
Bürger ging.
Wir als Union haben uns der Verantwortung gestellt.
Durch unsere Teilnahme an den Konsensgesprächen
konnten wir sogar einige von der Regierung geplante
Einschnitte für Rentner verhindern. Bundesfinanzminister Eichel hatte nämlich vor, die hälftige Zahlung des
Krankenversicherungsbeitrages durch Rentenversicherungsträger und Rentner zulasten der Rentner aufzuheben. Davon konnten wir die Regierung abhalten.
({3})
Natürlich haben wir es uns nicht leicht gemacht, die
Rentner mit Versorgungsbezügen zusätzlich zu belasten.
Aber erinnern wir uns doch, in welcher Situation sich die
gesetzliche Krankenversicherung vor der Reform befand!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Thiele?
Nein. Wir wollen alle abstimmen.
({0})
Der durchschnittliche Beitragssatz hatte eine Schwindel erregende Höhe von über 14 Prozent erreicht. Wie
wir mittlerweile außerdem wissen, hatten die Krankenkassen Schulden in Milliardenhöhe angesammelt. Die
Finanzlage war insgesamt desolat.
Um das System zu stabilisieren, gab es kurzfristig
keine andere Wahl, als alle Beteiligten maßvoll in die
Sparmaßnahmen einzubeziehen: Ärzte, Krankenkassen, Pharmaunternehmen, Versicherte und Patienten. Bei
den Rentnern mit zusätzlichen Versorgungsbezügen hatten wir abzuwägen zwischen dem Vertrauensschutz einerseits und der Solidarität zwischen den Generationen
andererseits.
Die Frage des Vertrauensschutzes ist eine sensible
Frage. Darin sind wir uns einig. Sie ist hier sicherlich
nicht ganz unproblematisch. Selbstverständlich wäre es
uns lieber gewesen, wenn wir mit Übergangsfristen hätten arbeiten können. Die Aussage vonseiten der FDP,
dass Vertrauensschutz nicht gewahrt wurde, vermag ich
jedoch bei allen Bedenken so nicht zu teilen.
Grundsätzlich wird dem Gesetzgeber ein durchaus
großer Gestaltungsspielraum eingeräumt, wenn es darum geht, ernste Gefahren für die sozialen Sicherungssysteme abzuwehren. Dass eine Finanzlücke von mehreren Milliarden Euro grundsätzlich hierzu zählt, dürfte
unstrittig sein. Die derzeit anhängigen Musterklagen der
Sozialverbände werden in der Frage des Vertrauensschutzes sicherlich Klärung bringen.
Übrigens hat das Sozialgericht München mit dem
Hinweis auf die intergenerative Solidarität die erste
Musterklage der Sozialverbände gegen die Verdopplung
der Krankenkassenbeiträge auf Versorgungsbezüge abgewiesen. Das Gericht hat am 30. November 2004 entschieden, es sei ein Gebot der Solidarität der Rentner mit
den Erwerbstätigen, deren Anteil an der Finanzierung
des Gesundheitswesens nicht höher steigen zu lassen.
Sicherlich haben die heutigen Rentner während ihres
Arbeitslebens die damaligen Rentner mitfinanziert. Das
will niemand kleinreden. Aber in früheren Zeiten waren
die Beitragssätze niedriger und der Umfang der Leistungsausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung
erheblich geringer. Somit mussten die heutigen Rentnerinnen und Rentner nur einen kleineren Anteil der Leistungsaufwendungen finanzieren, als dies heute der Fall
ist.
Die Entlastungen, die den Kassen aus den zusätzlichen Einnahmen erwachsen, müssen zeitnah an die Versicherten weitergegeben werden. Die Beiträge und damit
die Lohnnebenkosten müssen endlich sinken. Das sind
wichtige Schritte auf dem Weg zu mehr Wachstum und
Arbeit. Denn das muss ganz klar gesagt werden: Wir als
Union haben der Gesundheitsreform zugestimmt, weil
mit ihr ein Beitrag zur Konsolidierung der gesetzlichen
Krankenversicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten erreicht werden sollte.
Ein Jahr nach In-Kraft-Treten der Reform zeichnen
sich schon erste Wirkungen und Erfolge ab. So erzielten
die gesetzlichen Krankenkassen im ersten Halbjahr 2004
einen Überschuss von 2,4 Milliarden Euro. Leider ist
trotzdem der Beitragssatz in der GKV nur um 0,1 Prozentpunkte zurückgegangen. Das liegt auch an der Finanzsituation der Kassen. Gesundheitsministerin Schmidt
hatte in den Konsensgesprächen die Gesamtverschuldung für Ende 2003 noch mit 4 Milliarden Euro
angegeben. 2004 wurden dann Berechnungen der Bundesbank bekannt, nach denen es sich um etwa 8 Milliarden Euro handelte. Hier hat das Bundesgesundheitsministerium also mit falschen Zahlen operiert. Das ist
nicht akzeptabel und fördert sicher nicht das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger in die Zahlenkünste der rotgrünen Regierung.
({1})
An die Vorgabe, die Rentnerinnen und Rentner nicht
weiter zu belasten, hat sich Rot-Grün jedoch nicht gehalten. Die nachgelagerte Besteuerung der Renten, die Verdoppelung des Beitrags zur Pflegeversicherung, die
Nullrunden bei der Rente bedeuten eine zusätzliche Belastung der einzelnen Rentner.
Wir als Union haben daher Ende November 2004 den
Antrag „Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV-Modernisierungsgesetzes“ in den Bundestag eingebracht.
Darin fordern wir von der Gesundheitsministerin eine
kritische Bestandsaufnahme der Gesundheitsreform. Für
die Empfänger von Versorgungseinkünften muss geprüft
werden, ob gesetzliche Regelungen erforderlich sind, die
eine zeitnahe Weitergabe von Beitragssatzänderungen sicherstellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Thiele das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich werde mich kurz
fassen. - Sehr geehrte Frau Brüning, nachdem Sie dargestellt haben, wie gut die Gesundheitsreform war, verstehe ich nicht, dass die Union im November einen Antrag mit dem Titel „Wirkungen und Nebenwirkungen des
GKV-Modernisierungsgesetzes - Kritische Bestandsaufnahme“ eingebracht hat. Wir haben uns in dem Antrag,
der gleich zur Abstimmung stehen wird, ausschließlich
auf einen Punkt konzentriert. In Ihrem Antrag, zu dem
nur wenige Vorredner in der Sache gesprochen haben,
haben Sie ausgeführt - ich zitiere -:
Es ist gerechtfertigt, die Regelungen zur Erhebung
von Beiträgen auf Betriebsrenten und Direktversicherungen im Hinblick auf deren Auswirkungen
und unter dem Aspekt der Wahrung des Vertrauensschutzes durch die Verfassungsressorts prüfen zu
lassen und den Deutschen Bundestag über das Ergebnis der Prüfung zu unterrichten.
Wenn Sie keine Bedenken hätten, dann hätten Sie diesen
Antrag nicht stellen müssen. Wenn Sie aber diese Bedenken haben, dann könnten Sie unserem Antrag zustimmen, weil sie durch seine Annahme ausgeräumt werden
würden.
({0})
An dieser Stelle abschließend ein Wort an die Regierung: Wenn das Justizministerium bei der Gesundheitsreform geschlafen hat, dann vermute ich, dass die Antwort auf Ihren Antrag nicht anders ausfallen wird, als sie
bisher ausgefallen ist. Die einzige Regelung, diesen Vertrauensbruch rückgängig zu machen und neue, dann aber
differenzierte, detailgenaue Beratungen aufzunehmen,
bestünde darin, diesen Teil zurückzunehmen und über
diesen Aspekt neu zu beraten.
Herzlichen Dank.
({1})
Möchten Sie antworten, Frau Kollegin Brüning? Nein. Dann schließe ich damit die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale
Sicherung auf Drucksache 15/4451 zum Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Zusätzliche Krankenund Pflegeversicherungsbeiträge bei Versorgungsbezügen durch das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig
machen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2472 abzulehnen. Die Fraktion der FDP
hat namentliche Abstimmung verlangt. Jetzt müssen Sie
also über die Beschlussempfehlung des Ausschusses abstimmen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das geschehen?
Sind alle Plätze besetzt? - Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung.
Darf ich hören, ob ein Mitglied des Hauses anwesend
ist, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat?
({0})
- Das ist offensichtlich der Fall. Dann warte ich noch ei-
nen Moment.
Zweiter Versuch: Ist ein Mitglied des Hauses anwe-
send, das noch nicht abgestimmt hat? - Ich sehe nicht,
dass sich jemand meldet. Dann schließe ich die Abstim-
mung.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes
- Drucksache 15/4638 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/4744 -
Berichterstattung:
Abgordnete Anette Kramme
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/4745 -
Berichterstattung:
Abgordnete Volker Kröning
1) Ergebnis Seite 14458 A
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Otto Fricke
Die Abgeordneten Wetzel, Börnsen ({4}), Kurth
und Goldmann sowie der Parlamentarische Staatssekretär Andres haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden, dass
wir so verfahren? - Dann machen wir das so.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Seemannsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4744, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Darf
ich das Stimmverhalten der CDU/CSU erfahren, oder
stimmen Sie nicht mit ab? - Es geht um den Gesetzentwurf zur Änderung des Seemannsgesetzes. Stimmt die
CDU/CSU zu? - Es wäre doch schade gewesen, wenn
Sie nicht abgestimmt hätten. Wer stimmt dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
dieser Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Ernst Hinsken, Dr. Peter Ramsauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Mineralölsteuerentwicklung und Tanktourismus
- Drucksache 15/4387 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Otto Bernhardt.
({6})
({7})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bei diesem Tagesordnungspunkt geht es um negative Nebenwirkungen der Ökosteuer. Sie wissen, die
rot-grüne Mehrheit in diesem Hause hat 1999 im Alleingang die Ökosteuer eingeführt. Unsere Auffassung war
von Anfang an, dass man so etwas nur EU-weit machen
kann oder es lassen sollte.
({0})
Leider sind Sie unseren Argumenten nicht gefolgt. Ich
sage mit aller Deutlichkeit: Einer der Gründe, warum
das Wirtschaftswachstum in Deutschland in den letzten
Jahren deutlich niedriger war als in der Mehrzahl der anderen EU-Länder, ist die falsche Entscheidung Ihrer
Mehrheit für die Ökosteuer.
({1})
Heute geht es um einen Teilaspekt dieses Themas, der
unter der Überschrift „Tanktourismus“ bekannt ist.
Durch die Ökosteuer ist der Dieselkraftstoff in Deutschland der teuerste innerhalb der EU und bei den Benzinpreisen sind wir die Nummer zwei. Die Abweichungen
zu benachbarten Staaten betragen bis zu 25 Cent bzw.
50 Pfennig pro Liter. Das heißt, wer über die Grenze
fährt, hat die Möglichkeit, bei einer Tankfüllung
12,50 Euro zu sparen.
({2})
Es kann nicht überraschen, dass dies in einzelnen Regionen dazu geführt hat, dass Tausende von Bürgern
kurz über die Grenze fahren und dort tanken. Die Folgen
davon sind zum Teil katastrophal:
Erstens. Über 100 Tankstellen in diesen Regionen
sind inzwischen kaputtgegangen. Das bedeutet die Vernichtung von über 100 Existenzen.
({3})
Wenn wir nichts unternehmen, werden in diesem Jahr
weitere 100 oder 200 Tankstellen in den Grenzregionen
schließen müssen.
({4})
Zweitens. Mehr als 1 000 Arbeitsplätze sind durch
diese Maßnahme vernichtet worden und wenn wir nicht
bald handeln, werden weitere Arbeitsplätze vernichtet.
({5})
Ein dritter Punkt müsste insbesondere die Grünen
nachdenklich stimmen: Natürlich führt dieser Tourismus
zu Staus an den jeweiligen Grenzen und damit zu erheblichen Belastungen der Anwohner und der Umwelt. Gerade in den letzten Monaten hat es wiederholt enorme
Protestaktionen gegeben.
Schließlich ein Punkt, der den Finanzminister besonders interessieren müsste:
({6})
Die Steuerverluste liegen bei rund 1 Milliarde Euro im
Jahr. Das, meine Damen und Herren, sind die Fakten!
({7})
Nun gibt es natürlich auch in den Grenzregionen anderer Länder ähnliche Probleme, wenn sie auch nicht so
gravierend sind, weil die Benzin- und Dieselpreise dort
nicht ganz so hoch sind. Wie Sie wissen, hat Italien als
erstes Land reagiert und gibt seinen Bürgern besondere
Möglichkeiten, im Grenzbereich günstiger Benzin einzukaufen. Frankreich plant eine ähnliche Regelung. Es
kann nicht überraschen, dass in manchen betroffenen
Gemeinden alle politischen Parteien dafür sind, dass bei
ihnen besondere Lösungen eingeführt werden. Auch
wenn es nicht unbedingt populär ist, sage ich als Finanzpolitiker dazu ganz deutlich: Nein.
({8})
Wir können nicht auf der einen Seite immer kritisieren,
dass die Steuergesetzgebung zu kompliziert ist, und einen Subventionsabbau fordern und auf der anderen Seite
durch solche Insellösungen neue Subventionen und in
erheblichem Umfang auch eine neue Bürokratie beschließen.
({9})
Deshalb kann unsere Antwort nur sein - dies steht
auch in unserem Antrag; wir bitten, ihm zuzustimmen -:
Die Bundesregierung muss endlich handeln. Sie muss
auf die EU-Länder einwirken, sodass die Steuern auf
Benzin und Diesel stärker vereinheitlicht werden. Nur so
kann man das Problem ordnungspolitisch vernünftig lösen.
({10})
Der Finanzminister hat sich im Rahmen einer Kleinen Anfrage sinngemäß geäußert, dass man wartet, bis
die anderen auf dem gleichen Steuerniveau sind. Das
wird nichts. Wir werden eine Vereinheitlichung nur erreichen, wenn wir mit unseren Steuern ein Stück heruntergehen.
Abschließend sage ich: Wenn hier nicht bald gehandelt wird, dann werden noch in diesem Jahr einige
100 Existenzen mehr kaputtgehen und einige 1 000 Arbeitsplätze gefährdet. Dies kann nicht unser Ziel sein.
Deshalb lautet unserer Bitte: Stimmen Sie unserem Antrag zu, mit dem wir die Bundesregierung auffordern,
endlich zu handeln.
({11})
Bevor wir die Debatte fortsetzen, gebe ich das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und
Soziale Sicherung zum Antrag der Abgeordneten
Dr. Thomae, Detlef Parr, Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP mit dem Titel
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
„Zusätzliche Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge
bei Versorgungsbezügen durch das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig machen“ bekannt. Abgegebene
Stimmen 527. Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 41, Enthaltungen gab es keine. Damit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 526;
davon
ja: 485
nein: 41
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Martina Eickhoff
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({5})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({6})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({7})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({8})
Walter Hoffmann
({9})
Iris Hoffmann ({10})
Frank Hofmann ({11})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Lars Klingbeil
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({12})
Christine Lehder
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({13})
Christian Müller ({14})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({15})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({16})
Michael Roth ({17})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({18})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({19})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({20})
Ulla Schmidt ({21})
Silvia Schmidt ({22})
Dagmar Schmidt ({23})
Heinz Schmitt ({24})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Brigitte Schulte ({25})
Reinhard Schultz
({26})
Swen Schulz ({27})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({28})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({29})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({30})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({31})
Heidi Wright
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({32})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({33})
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({34})
Cajus Julius Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({35})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({36})
Dirk Fischer ({37})
Axel E. Fischer ({38})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({39})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Robert Hochbaum
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({40})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({41})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({42})
Dr. Karl A. Lamers
({43})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Ursula Lietz
Walter Link ({44})
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({45})
Stephan Mayer ({46})
Dr. Conny Mayer ({47})
Dr. Martin Mayer
({48})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({49})
Doris Meyer ({50})
Maria Michalk
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({51})
Bernward Müller ({52})
Bernd Neumann ({53})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({54})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz Romer
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({55})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({56})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({57})
Andreas Schmidt ({58})
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Heinz Seiffert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({59})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({60})
Gerald Weiß ({61})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({62})
Volker Beck ({63})
Cornelia Behm
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Jutta Krüger-Jacob
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({64})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({65})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Claudia Roth ({66})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({67})
Werner Schulz ({68})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({69})
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Nein
FDP
Daniel Bahr ({70})
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({71})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({72})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({73})
Eberhard Otto ({74})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Wir setzen die Debatte zum Tagesordnungspunkt 9
fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Ingrid ArndtBrauer, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich denke, der vorliegende Antrag
„Mineralölsteuerentwicklung und Tanktourismus“ ist einer aus der langen Serie „Ökosteuer - nein danke“ vonseiten der CDU/CSU, die wir jedes Jahr - anfangs mehrmals im Jahr, im Moment gibt es, so glaube ich, nur
einen pro Jahr - auf den Tisch bekommen.
({0})
Ich denke, es wird langsam langweilig. Ich warte vor allen Dingen immer noch auf eine Aussage darüber, wie
Sie die 10 Milliarden Euro, die zum Beispiel im
Jahr 2003 in die Rentenkasse geflossen sind, aufbringen
wollen. Dazu habe ich noch keinen Vorschlag gehört.
Vielleicht machen Sie sich darüber einmal Gedanken
und sagen Sie uns das im nächsten Jahr.
({1})
Zurück zum Antrag. Es ist richtig, dass es die
Ökosteuer gibt. Dadurch erhöhten sich die Spritpreise
im Laufe der Jahre um 18 Cent.
({2})
Wir wollen aber nicht ganz vergessen, dass die Spritpreise zwischen 1989 und 1994 um 28 Cent erhöht wurden. Diese 28 Cent sind in dem aktuellen Preis noch enthalten.
({3})
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, dass beachtliche Steuereinnahmen verloren gehen, weil die Leute im
Ausland tanken. Ich darf Ihnen kurz erklären, wie das in
meinem Wahlkreis ist, der im nördlichen Münsterland an
der niederländischen Grenze liegt.
({4})
- Genau, das ist eine schöne Gegend. - Dort ist es üblich, dass die Bevölkerung der Niederlande zu uns herüberfährt - Frau Wülfing wird das wissen - und bei uns
Benzin und Super tankt, während die Bevölkerung aus
dem Münsterland in die Niederlande fährt und dort Diesel tankt.
({5})
Die jugendliche Bevölkerung aus dem Münsterland fährt
in die Niederlande, um Klamotten zu kaufen, während
die niederländische Bevölkerung ins Münsterland fährt,
um Lebensmittel zu kaufen.
({6})
Es ist also ein munteres Hin- und Hergefahre, das die
Straßen natürlich belastet - das ist keine Frage -, aber
den kleinen Grenzverkehr am Laufen hält und, so denke
ich, uns alle bereichert.
({7})
Sie haben Lösungen angesprochen, die im Ausland
praktiziert werden. Ein Beispiel dafür ist Italien. Die
Ausnahmeregelung mit Drittstaaten in Italien läuft aus.
Nach meinen Erkenntnissen gibt es auch keine Aussicht
auf Verlängerung. Da Deutschland von wenig Drittstaaten umgeben ist, wird bei uns die italienische Regelung
nicht zum Erfolg führen.
Sie haben als weiteres Beispiel Frankreich angeführt. Frankreich hat die Genehmigung bekommen, die
Preise regional um höchstens 3,54 Cent zu senken. Dabei geht es allerdings nicht um die Grenzregionen. Wenn
Sie in meinen Wahlkreis fahren - ich habe wie Frau
Wülfing einen Flächenwahlkreis -, wird Ihnen auffallen:
Der Unterschied beim Spritpreis macht mehr als
3,54 Cent aus. Mir selber passiert oft Folgendes: Ich
fahre in einen Ort hinein und sehe, dass der Diesel
93,9 Cent kostet. Da ich etwas knapp in der Zeit bin,
nehme ich mir vor, auf dem Rückweg zu tanken. Anderthalb Stunden später beträgt der Dieselpreis schon
98,9 Cent. Ich denke, solche Erlebnisse haben auch Sie.
Diese Preissprünge sind wesentlich höher als das, was
die Franzosen regional ausgleichen wollen.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheuer?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, es ist wunderbar und sehr nett, wenn
Sie aus der Lebenswirklichkeit Ihres Wahlkreises erzählen.
({0})
Ich bestreite auch nicht, dass Ihre Region schön ist. Aber
ich frage Sie: Sind Sie schon einmal im Grenzgebiet zu
Österreich gewesen?
Ja.
Sind Sie schon einmal im Grenzgebiet zu Tschechien
gewesen? Sind Sie schon einmal im Grenzgebiet zu Polen gewesen? Wissen Sie, dass unsere Städte, die an der
Grenze liegen, massiv belastet sind?
Ich komme aus der unnachahmlich schönen Region
Passau. Bereits 6 bis 7 Kilometer vor der Grenze zu
Tschechien bilden sich in der Altstadt Autoschlangen zur
Tankstelle, weil aus dem Zollhäuschen an der Grenze in
Passau leider eine Tankstelle gemacht wurde. Wie reagieren Sie darauf? Diese Lebenswirklichkeit könnten
Sie auch einmal in Ihre Überlegungen einbeziehen. Mich
interessiert, was Sie bzw. die Bundesregierung dagegen
machen wollen.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich kenne Passau sehr
gut, Ich habe selber sechs Jahre in Bayern gelebt.
({0})
Aber ich möchte dazu anmerken: An der österreichischen Grenze wird wahrscheinlich nur getankt; im
Grenzgebiet in Polen wird zudem noch eingekauft. Das
können wir wohl nur verhindern, wenn wir die Grenzen
wieder dichtmachen. Das wollen Sie sicherlich nicht.
({1})
Es gibt ein Gefälle zu den Ländern im Osten und teilweise zu den Ländern im Süden, das sich aber nicht nur
beim Tanken bemerkbar macht. Dieses Gefälle kann
man in meinen Augen - das haben Sie in Ihrem letzten
Punkt vorgeschlagen - nur durch eine Harmonisierung
ausgleichen. Die Harmonisierung der Steuersätze ist das
Endziel. Das wird auch irgendwann kommen. Wenn wir
die Ökosteuer absenken, wird es den Tourismus weiterhin geben. Schließlich wird im Nachbarland nicht nur
getankt. Ihr Antrag greift nur einen viel zu kleinen Teil
des Problems heraus; er löst also das Problem als solches
nicht.
({2})
Zu dem, was Sie ansprechen, kann ich nur sagen: Wir
können zwar den Spritpreis beeinflussen. Aber ich garantiere Ihnen, dass die Industrie die Preise durchsetzt,
die sie am Markt erzielen kann. Das ist auch in den
Nachbarländern so. Das wird dazu führen, dass in den
Nachbarländern die Spanne immer kleiner wird, weil
sich so die Mineralölgesellschaften einen größeren Gewinn verschaffen können. Wenn wir die Preise senken,
wird das nicht dazu führen, dass keiner mehr zum Tanken ins Ausland fährt. Im Gegenteil: Die Spannen werden bleiben. Es wird immer Unterschiede geben. Die
Unterschiede gibt es bereits innerhalb einer Stadt. Ich
wundere mich immer wieder - das ist aber Fakt -, dass
Tankstellen in räumlicher Nähe Preise mit einem Unterschied von 3 Cent am Markt durchsetzen können.
Sie sind doch eigentlich auf der Seite der Deregulierer
und da sollten Sie auch bleiben.Wir machen es ähnlich:
Wir lassen alles, wie es ist.
({3})
Wir freuen uns, wenn
({4})
Menschen aus den Nachbarländern zu uns einkaufen
kommen. Menschen aus dem gesamten Norden Europas
kaufen bei uns Alkoholika ein. Dagegen haben Sie anscheinend nichts einzuwenden und fordern nicht irgendwelche Sondersteuern.
({5})
Wir hoffen auf eine zügige Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie durch die benachbarten Mitgliedstaaten. Wir
denken, es wird über kurz oder lang eine Harmonisierung geben. Darauf freuen wir uns.
({6})
Bis dahin werden wir mit der Ökosteuer ebenso gut leben wie in den vergangenen Jahren. Vielleicht fällt Ihnen
nächstes Jahr, wenn Sie einen Antrag zur Ökosteuer stellen, auch etwas zur Gegenfinanzierung ein.
({7})
Darauf freuen wir uns alle. In diesem Sinne: Einen schönen Abend noch.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal vor, Sie wohnen in einer
grenznahen Region und im Nachbarland ist vieles wesentlich billiger, das Einkaufen, wie in Polen, oder das
Tanken, wie in fast allen Ländern um uns herum. Das
Ganze verbinden Sie dann noch mit einem schönen Familienausflug und schon scheinen alle glücklich zu sein.
Aber der Schein trügt. Das ist das Problem: Dadurch
kommt zwar ein Teil unserer Bevölkerung in eine günstige Situation, aber ein anderer Teil wird in eine existenzielle Krise gestürzt. Unserem Land gehen allein durch
den Tanktourismus - das kann man der Presse entnehmen - im Jahr rund 1,5 Milliarden Euro verloren.
({0})
Deutschlands Steuerpolitik erlebt ein weiteres Desaster.
Ich nenne die rund 5 000 Arbeitsplätze im Tankstellengewerbe und, was in Ihrem Antrag, der sich auf Tankstellen bezieht, natürlich nicht enthalten ist, den Bereich
Handel, Handwerk und Gewerbe. Sie sind durch diese
ideologisch verbohrte Steuerpolitik von Rot-Grün bedroht. Kaum ist die Maut - hier muss man sagen: bisher
ohne Kompensation - auf den Weg gebracht, schon sprechen unsere so genannten Ökogutmenschen von einer
weiteren Verteuerung im Mineralölbereich.
({1})
Diese Unterschiede, die zu den Nachbarländern bestehen, hat mein Kollege von der CDU/CSU bereits dargelegt. Die menschlichen Schicksale, die viele unserer
Bürger im grenznahen Raum erleiden müssen, scheinen
einigen hier ein kleineres Übel zu sein als das Eingeständnis,
({2})
dass diese Ökosteuer eine verfehlte Politik war.
Als ich vor Monaten die erste Sonderregelung für
grenznahe Gebiete forderte, verschanzte man sich hinter der typischen Ausrede, das sei mit der EU nicht
machbar. Inzwischen schlagen aber andere Bereiche
ebenfalls Alarm. Schauen Sie sich die Einzelhändler, die
Gastronomen, die Bäcker an: Viele sind durch diesen
Tanktourismus unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen
worden und viele kämpfen um ihre Existenz.
Nun kann man allgemein dazu sagen, dass es das
schon immer gab, dass im Ausland Dinge billiger als
hier sind; aber diese Antwort ist zu leicht. Es mag sein,
dass es Preisunterschiede gibt; es mag sein, dass es Gehaltsunterschiede gibt. Die Grenzen wollen wir deshalb
nicht dichtmachen. Aber die Steuerunterschiede, die hier
hervorgerufen wurden, hat Deutschland allein zu verantworten. Wir haben die Chance, hieran etwas zu ändern.
({3})
Vor allem die Ökosteuer - sie ist bereits mehrfach angesprochen worden - hat sich inzwischen zu einem Bumerang und zu einem Preistreiber für unsere Wirtschaft
entwickelt. Es ist endlich Zeit, auf diesem Weg umzukehren und Veränderungen herbeizuführen. Beim Tanktourismus heißt das: Abschaffung der Ökosteuer, um
konkurrenzfähig zu werden. Wenn das aufgrund des
Haushaltes im Moment nicht möglich ist, dann muss
man, selbst wenn es bürokratisch ist, einen Sonderweg
gehen. Die Italiener haben es uns in einer schwierigen
Situation vorgemacht, wenn auch die Maßnahme vielleicht nicht verlängert wird; aber sie haben erst einmal
geholfen. Das ist ein Punkt, den wir angehen müssen.
Sie sind einfach kreativer in Brüssel. In Frankreich diskutiert man über ähnliche Dinge. Wer genau hinschaut,
weiß, was sie im Hinterkopf haben. Auch sie wollen diesen Tanktourismus abschöpfen.
Aus unserer Sicht sind Sonderregelungen nicht der
große Wurf. Wir brauchen eine radikale Steuerreform,
damit es in unserem Land wieder vorangeht. Unsere
Fraktion hat dafür ein Modell vorgelegt. Die Chance
zum Neuanfang - das werden wir deutlich machen wird 2006 sein. Bis dahin werden aber noch viele Menschen in den Grenzregionen einiges Leid ertragen müssen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um den Steuerabfluss
zu verhindern und die Energiekosten in Deutschland
wieder auf ein europäisch verträgliches Maß zu bringen.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal - zum wievielten Mal
eigentlich? ({0})
steht das Thema Ökosteuer, dieses Mal in Verbindung
mit dem Tanktourismus, auf der Tagesordnung. Gerechtfertigt wird die erneute Diskussion seitens der Opposition mit einer Korrelation zwischen Ökosteuer, Tanktourismus und dem Wegfall von Arbeitsplätzen in
grenznahen Regionen. Einer genauen Betrachtung hält
diese Behauptung allerdings nicht stand, schon gar nicht
dann, wenn die Aspekte gesamtwirtschaftlich betrachtet
werden.
Zwischen den Jahren 1989 und 1994 wurde die Mineralölsteuer, wie die Kollegin von der SPD-Fraktion
eben schon gesagt hat, durch die damalige Bundesregierung Kohl um umgerechnet 28 Cent erhöht. Begründet
wurde diese Maßnahme damit, dass die einigungsbedingten Zusatzkosten für die Modernisierung und Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern diese Erhöhung erforderlich mache.
({1})
So weit, so gut. Ich kann mich jedenfalls nicht mehr
an große Proteste in der Öffentlichkeit erinnern, obwohl
der damalige Betrag das Doppelte der von Ihnen ach so
gescholtenen Ökosteuer ausmachte.
({2})
- Das ist doch Quatsch. - Diese Steuererhöhung wurde
damals akzeptiert, weil die Einsicht vorhanden war, dass
die Wiedervereinigung nicht zum Nulltarif zu haben war
und deshalb auch außergewöhnliche Anstrengungen seitens der Steuerzahler wie die Einführung des Solidarzuschlag erforderlich waren.
Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass der
Kollege Michelbach von der CSU noch in der letzten
Woche die sofortige totale Abschaffung des Solidarzuschlags gefordert hat. Damit hätten wir dann eine weitere Lücke. Wir schaffen die Ökosteuer ab, wir schaffen
den Solidarzuschlags ab. Dann sind wir bei einer Lücke
von 20 Milliarden Euro angekommen. Allerdings müssen Sie mir erklären, wie Sie das gegenfinanzieren wollen.
Bei der Sozialversicherung hat die Regierung Kohl
der Mut verlassen. Da waren Sie nicht konsequent. Sie
haben nicht, wie es hätte sein müssen, die einigungsbedingten Mehrkosten bei der Sozialversicherung über
Steuern finanziert, sondern haben die Beiträge weiter erhöht. Seit 1989 sind die Sozialversicherungsbeiträge um
insgesamt 7 Prozent gestiegen. Damit wurde der Faktor
Arbeit erheblich verteuert. Das trug zu einem nicht unerheblichen Teil zu den aktuellen Problemen am Arbeitsmarkt bei.
Unabhängig davon haben wir als Grüne schon lange
vor der Endlichkeit der Erdölreserven und den negativen
Folgen der verkehrsbedingten Emissionen gewarnt.
Lange Zeit hat sich aber nichts geändert.
({3})
- Warten Sie mal ab! - Der Mineralölverbrauch und damit auch die Emission klimaschädlicher Gase stiegen
weiter an.
Wir haben uns im Jahre 1998 mit unserem Koalitionspartner SPD darauf verständigt, diesem Prozess durch
ein geeignetes Lenkungsinstrument entgegenzuwirken,
statt dabei einfach nur weiter zuzusehen.
({4})
Mit der Ökosteuer ist uns dies in zweierlei Hinsicht
gelungen. Zum einen stagnieren die Jahresfahrleistungen
und der Mineralölverbrauch in Deutschland bzw. steigen
nur noch in geringem Maße. Zum anderen wurden die
Einahmen aus der Ökosteuer dazu verwendet, den Rentenversicherungsbeitrag zu senken und auf einem Niveau von derzeit 19,5 Prozent zu halten.
({5})
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten Sie sich
immer erinnern, wenn Sie die hohen Differenzen bei der
Mineralölbesteuerung zwischen Deutschland und einigen unserer Nachbarländer beklagen.
Nun zum Thema Tanktourismus. Das ist kein neues
Thema; denn das war schon vor 1989 ein Thema in den
Grenzgebieten von Luxemburg, die ich recht gut kenne.
Daran hat sich bis heute nichts geändert, wobei der
Tanktourismus im Bereich von Luxemburg natürlich lokal begrenzt ist.
({6})
Anders sieht es in den Grenzgebieten von Polen und
der Tschechischen Republik aus. Hier besteht auf den
ersten Blick zunächst einmal ein mengenmäßig größeres
Problem. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben
Sie sich schon einmal überlegt, was die Tankpreise in
Polen oder in der Tschechischen Republik für die dortige
Bevölkerung bedeuten? Für die sind das beileibe keine
günstigen Treibstoffpreise. Würde man das Durchschnittseinkommen der Polen oder der Tschechen zu den
dortigen Treibstoffpreisen in Relation setzen, dann erhielte man einen Äquivalenzpreis, der in Deutschland einem Preis von 2,50 Euro pro Liter entspräche.
({7})
- Rechnen Sie das einfach einmal nach! Aber das kriegen Sie offenbar nicht hin.
({8})
Wollen Sie allen Ernstes, dass in Polen und in der Tschechischen Republik die Mineralölsteuer auf das deutsche
Niveau angehoben wird? - Nein, das wollen Sie nicht.
Aber Sie wollen die Ökosteuer abschaffen; denn Tanksonderzonen wollen Sie ja nicht. Das hat der Kollege
Bernhardt eben ausgeschlossen. Dann sollten Sie den
Bürgerinnen und Bürgern aber auch reinen Wein einschenken und ihnen sagen, dass dann eben demnächst
mit Rentenversicherungsbeiträgen von mehr als
21 Prozent zu rechnen ist, und sollten sagen, welche
Wirkungen auf die Arbeitsplätze eintreten würden. Sie
wissen doch genau, dass eine Senkung der Beiträge um
1 Prozentpunkt zwischen 30 000 und 60 000 Arbeitsplätze schafft. Umgekehrt würde eine Steigerung der
Beiträge also zwischen 30 000 und 60 000 Arbeitsplätze
vernichten. Haben Sie darauf eine Antwort? - Nein.
Wann stellen Sie eigentlich eine Anfrage zum Friseurtourismus, zum Lebensmitteltourismus, zum Biertourismus? Mir fallen auch noch andere grenznahe Dienstleistungen ein, die ich jetzt aber nicht benennen will.
({9})
Wollen Sie auch dafür Sonderregelungen oder Chipkarten haben? - Nein, auch das wollen Sie nicht. Sie fordern in Ihrem Antrag immer noch die Einführung des
italienischen Chipkartenmodells, obwohl Sie wissen,
dass die EU-Energierichtlinie dieses Modell gar nicht
mehr zulässt.
Sie haben keine Antworten auf diese Fragen. Das erinnert mich an meine alte Englischlehrerin, die in solchen Fällen immer sagte: Kommen Sie mir bloß nicht
mit Argumenten!
Danke schön.
({10})
Die letzte Bemerkung war sicherlich keine Aufforderung an den letzten Redner in dieser Debatte. Das Wort
hat der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Für den tausendfachen Tanktourismus in der Bundesrepublik Deutschland
({0})
trägt einzig und allein die Bundesregierung die Verantwortung.
({1})
Insbesondere der Tanktourismus im Grenzland brennt
uns auf den Nägeln. Wir bekommen fast täglich Hilferufe betroffener Tankstellen. Monat für Monat schließen
Tankstellen in diesen Regionen. Nach Angaben des Mineralölwirtschaftsverbandes sind bisher insgesamt
300 Tankstellen von der Schließung betroffen. Umsatzeinbrüche von bis zu 80 Prozent sind keine Seltenheit.
Herr Kollege Hinsken, schon zu diesem frühen Zeitpunkt möchte der Kollege Rose Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Trotz der Überraschung wird die Zwischenfrage
genehmigt. - Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Da er mit seiner Feststellung Recht
hat, dass einzig und allein die Bundesregierung die
Schuld trägt, möchte ich den lieben Kollegen Hinsken
fragen, ob er bereit wäre, zu bestätigen, dass die CSULandesgruppe spätestens seit der Verabschiedung des
rot-grünen Gesetzes zum Einstieg in die ökologische
Steuerreform vom 24. März 1999 auf die schädlichen
Auswirkungen auf die Wirtschaft - besonders auf die
Energie verbrauchende Wirtschaft - aufmerksam gemacht hat, dass auch ich persönlich in vielen parlamentarischen Anfragen - beispielsweise im Januar 2003, im
August 2003,
({0})
im Januar 2004, im März 2004 oder im Juni 2004 - ein
Umdenken der Bundesregierung wegen des Riesenproblems des Tanktourismus gefordert habe und dass die
Bundesregierung bisher alle entsprechenden Vorstöße
und Vorschläge kaltherzig abgeschmettert hat?
({1})
Wären Sie bereit, das zu bestätigen? Ein klares Ja reicht
mir.
Selbstverständlich, Herr Kollege Rose. Sie treffen den
Nagel auf den Kopf. Die Probleme des Grenzlands und
auch der Tankstellenbesitzer wurden ebenso wie die Belastung durch die Ökosteuer von der Bundesregierung
bisher immer wieder negiert. Deshalb pflichte ich Ihnen
bei, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass die
Unternehmen in Deutschland - gerade auch mittelständische Betriebe im Grenzland - jährlich bis zu
60 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen müssen. Das
ist eine Benachteiligung. Eine solche Kostenbelastung
kann nicht ohne weiteres getragen werden. Insofern bin
ich Ihnen für Ihre Zwischenfrage dankbar, weil sie den
Nagel auf den Kopf trifft
({0})
und bestätigt, dass die Bundesregierung nichts für den
Bereich übrig hat, um den es heute geht.
({1})
Viele der 1 200 Tankstellen in diesem Bereich stehen
auf der Kippe. 5 000 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Aus
einer Studie der Universität Leipzig geht hervor, dass
jährlich Steuerausfälle in Höhe von über 1 Milliarde
Euro zu verzeichnen sind. Die Mineralölsteuer erbrachte
mit 43,2 Milliarden Euro rund die Hälfte aller Bundessteuern. Hauptursache für den Tanktourismus ist aber
nicht die Mineralölsteuer - diese gibt es auch in anderen
Ländern -, sondern die Ökosteuer, die Benzin und Diesel in Deutschland um gut 15 Cent pro Liter verteuert
hat. Im Jahr 2000 lag der Unterschied noch bei 3 Cent;
jetzt beträgt er das Vierfache. Diesel ist mit Ausnahme
der Schweiz in Deutschland am teuersten. Benzin ist außer in den Niederlanden überall deutlich günstiger als
bei uns. Entlang der deutschen Grenze zu Belgien,
Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen und
Tschechien nimmt der Tanktourismus deshalb zu. Die
Bundesregierung steckt den Kopf in den Sand.
({2})
Dabei könnte sie so viel Geld einnehmen.
Frau Staatssekretärin Hendricks, wie kann man angesichts leerer Kassen zulassen, dass das Geld wegen der
Ökosteuerbelastung ins Ausland fließt, statt es in der
Bundesrepublik Deutschland zu halten?
({3})
Das Wichtigste ist, dass Sie endlich etwas dagegen tun.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage
zeigt, dass sie viel zu wenig über den Tanktourismus
weiß. Fehlanzeige Nummer eins: Keine Information
über die Anzahl der Tankstellen in den Grenzregionen!
Fehlanzeige Nummer zwei: Keine Aussagen darüber,
wie viele Tankstellen bereits schließen mussten, wie
viele Arbeitsplätze dabei verloren gingen und wie hoch
die Steuerausfälle sind! Die Beantwortung der Fragen,
die meine Kolleginnen und Kollegen gestellt haben, ist
mangelhaft. Während sich die Bundesregierung weigert,
etwas zu tun, haben andere Staaten längst reagiert.
({4})
- Das ist schon von meinem Vorredner, dem Kollegen
Bernhardt, gesagt worden. Er hat den Finger auf die offene Wunde gelegt. Wenn Sie in der Lage sind, dem zu
folgen, was er ausgeführt hat, dann wissen Sie auch, wo
Unterschiede und Benachteiligungen für uns bestehen.
({5})
Ich halte es für unmöglich, dass die Bundesminister
Eichel und Clement gegen den französischen Vorstoß
nichts unternehmen und daraus keine Konsequenzen ziehen. Sie lassen die deutschen Unternehmen im Stich,
obwohl es eine Möglichkeit gäbe. Mitte 2003 hat Bundesminister Clement der Forderung der Interessengemeinschaft mittelständischer Mineralölverbände das
Wort geredet und sich für eine Senkung des Mineralölsteuersatzes zugunsten grenznaher deutscher Tankstellen
ausgesprochen. Gemacht hat er aber bisher nichts. Kleinlaut hat er sich zurückgezogen, obwohl er die Hoffnung
geweckt hat, dass er das Problem erkannt hat und lösen
will.
Wäre der politische Wille vorhanden, würde nicht
wochenlang, ja sogar monatelang geprüft, sondern endlich gehandelt. Der Freistaat Bayern hat bereits im Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, sich endlich
des Problems anzunehmen. Aber es herrscht Schweigen
im Walde. Sie tun einfach nichts. Sie verzögern und halten hin und sehen tatenlos zu, dass viele Existenzen vor
die Hunde gehen, obwohl die betroffenen Menschen um
jeden Pfennig ringen. Es ist aber noch viel schlimmer
- ich muss es leider noch einmal sagen -: Man schafft
damit die Voraussetzungen dafür, dass weiterhin Hunderte Millionen, vielleicht sogar 1 Milliarde Euro ins
Ausland abwandern, obwohl diese Gelder dringend in
der Bundesrepublik Deutschland benötigt werden.
Fragen Sie einmal die Grenzlandabgeordneten - ob
das nun der Kollege Scheuer, der vorhin eine Zwischenfrage gestellt hat, die Kollegin Kaupa oder der Kollege
Dr. Klaus Rose ist -, die sich täglich mit diesem Thema
auseinander setzen müssen! Fragen Sie die Kollegen aus
den neuen Bundesländern wie Kollegin Veronika
Bellmann, die ebenfalls den Finger auf die offene
Wunde gelegt hat! Fragen Sie die Mitglieder des Finanzausschusses, die sich mit dem Thema eingehend beschäftigt haben! Leider Gottes ist festzustellen, dass Sie
nicht bereit sind, das Notwendige und Erforderliche zu
tun.
Zum Schluss möchte ich Folgendes anmerken: Die
Bundesregierung ist in der Pflicht, die in dem Antrag
meiner Fraktion enthaltenen Forderungen umzusetzen
und erstens Maßnahmen gegen die im europäischen Vergleich viel zu hohe Energiebesteuerung in Deutschland
zu ergreifen, zweitens den enormen Abfluss an Steuereinnahmen durch den von ihr verursachten Tanktourismus in die Nachbarschaften durch entschiedenes und rasches Handeln auf EU-Ebene einzudämmen und drittens
die Harmonisierung der Mineralölsteuersätze in Europa
voranzutreiben. Ich darf Ihnen versichern: Wir werden
nicht ruhen und weiterhin bohren; denn wir sind als Abgeordnete aus dem Grenzland in besonderem Maße berechtigt, auf solche Missstände hinzuweisen, nach dem
Rechten zu sehen und so lange den Finger auf die offene
Wunde zu legen, bis endlich gehandelt wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4387 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen
Entwicklung einer thematischen Strategie für
städtische Umwelt
KOM ({1}) 60 endg.; Ratsdok. 6462/04
- Drucksachen 15/2793 Nr. 2.25, 15/4280 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit ihrer Mitteilung vom Februar 2004 „Entwicklung einer thematischen Strategie für städtische
Umwelt“ will die Europäische Kommission Ursachen
von Umweltproblemen in europäischen Städten angehen. Die Mitteilung soll, so die Kommission, eine erste
Stufe für die Entwicklung einer speziellen Strategie zur
Bewältigung städtischer Umweltprobleme darstellen.
Grundlage für die Thematisierung umweltbezogener
städtischer Fehlentwicklungen ist das 6. Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft mit dem
Titel „Umwelt 2010: Unsere Zukunft liegt in unserer
Hand“.
Die Entwicklung dieser Strategie ist eine von insgesamt sieben thematischen Strategien zur Bewältigung
von Umweltproblemen auf europäischer Ebene, die ein
ganzheitliches Konzept für ökologische Fragen bilden
sollen. Das Globalziel der thematischen Strategie ist die
Verbesserung der Umwelteffizienz und der Lebensqualität in städtischen Gebieten, um ein gesundes Lebensumfeld für die Stadtbewohner in Europa zu gewährleisten. Der ökologische Beitrag zur nachhaltigen
Entwicklung soll gestärkt und gleichzeitig sollen wirtschaftliche und soziale Fragen berücksichtigt werden.
Die Strategie konzentriert sich auf vier Querschnittsthemen: nachhaltige Städtepolitik, städtischer Nahverkehr, nachhaltiges Bauen und nachhaltige Stadtentwicklung. Die lokalen Entscheidungsträger aller europäischen
Städte und Gemeinden sind im Rahmen dieser Strategie
angesprochen. Als Kern der Strategie schlägt die Europäische Kommission in Bezug auf nachhaltige Städtepolitik
und nachhaltigen städtischen Verkehr für Hauptstädte
und Städte mit über 100 000 Einwohnern die Aufstellung
spezieller Pläne vor.
Mit dieser Mitteilung verdeutlicht die Kommission,
dass sie eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften auf
EU-Ebene zu diesem Thema erwägt, die deutsche Regelwerke verkomplizierten und letztlich ineffektiv machten.
Des Weiteren würde die kommunale Planungshoheit
unvertretbar eingeengt. So möchte die Kommission offenbar umweltpolitische Rechtsvorschriften vorschlagen, die die Bodennutzung, den Städtebau und die
Raumordnung berühren. Das Städtebaurecht würde damit in Teilen von der nationalen auf die europäische
Ebene verlagert und die kommunale Planungshoheit
würde voraussichtlich erheblich eingeschränkt werden.
Im Hinblick auf die Struktur- und Kohäsionspolitik beabsichtigt die Kommission eine teilweise Ausweitung
dieser Politik über die benachteiligten und strukturschwachen Regionen hinaus auf Städte in vergleichsweise strukturstarken Gebieten.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Nachhaltigkeit
des Bauens und der Flächennutzung greifen darüber hinaus wesentlich in städtebau- und wohnungspolitische
Belange ein, da eine restriktive Flächenausweisung
negative Auswirkungen auf Bauleitplanung, Wohnungsversorgung und Bauwirtschaft haben kann. Das Gleiche
gilt für die Gewerbeansiedlung. Damit wäre auch eine erhebliche Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Wachstums verbunden. Im Übrigen hat die Kommission keine
Kompetenzen für städtebauliche und wohnungspolitische Maßnahmen und sie sollte nach deutscher Auffassung auch keine erhalten.
Angesichts der inzwischen engmaschigen Umweltrechtsetzung der EU und offenkundiger Haushalts- und
Vollzugsengpässe besteht derzeit - unabhängig von dem
hier sicher relevanten Subsidiaritätsprinzip - auch kein
Bedarf an neuen Initiativen der Kommission. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Umsetzung
der so genannten EU-Umgebungslärmrichtlinie, über die
derzeit im Vermittlungsverfahren beraten wird.
({0})
Aus deutscher Sicht sind zusätzliche rechtlich verbindliche Vorgaben der Kommission nicht der richtige
Weg zu einem effektiven und bürgernahen Umweltschutz, sondern führen eher zu zusätzlichem bürokratischen Aufwand bei der Bewältigung der Umweltprobleme in den Städten. Die bestehenden Instrumente auf
nationaler und europäischer Ebene sind hinreichend geeignet, das Globalziel einer Verbesserung der Lebensqualität in städtischen Gebieten zu erreichen. Die Bundesregierung hat der Kommission in ihrer Stellungnahme
zu dieser Mitteilung die von mir gerade beschriebenen
Bedenken und Vorbehalte mitgeteilt.
Die Bundesregierung begrüßt also das Anliegen der
Kommission. Dies darf aus unserer Sicht jedoch nicht
mit einer Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung einhergehen.
({1})
In der vorliegenden Form lehnt die Bundesregierung die
Mitteilung der Kommission ab und plädiert allenfalls für
eine unverbindliche Empfehlung auf freiwilliger Basis.
Nur in Klammern sei hinzugefügt - ich kann das hier
aufgrund der kurzen Redezeit nicht weiter ausführen -:
Vieles ist bei uns schon nationales Recht; ich habe bereits darauf hingewiesen. Natürlich unternehmen wir
große Anstrengungen, weniger Fläche zu verbrauchen.
Wir betreiben eine integrierte Städtebau- und Stadtentwicklungspolitik, in der die ökologischen Gesichtspunkte eine große Rolle spielen. Wir sind hierbei insgesamt, glaube ich, sehr gut aufgestellt.
Der EU-Umweltrat hat am 14. Oktober 2004 die von
der niederländischen Präsidentschaft vorgeschlagenen
Ratsschlussfolgerungen zur Mitteilung der Kommission
einstimmig angenommen. Wichtig erscheint in diesem
Zusammenhang, dass diese Schlussfolgerungen bedeutende Elemente der deutschen Stellungnahme aufgreifen.
Dazu gehören: erstens das Subsidiaritätsprinzip, zweitens der Verweis auf bestehende Rechtsvorschriften,
drittens die Freiwilligkeit von Aktionen und Maßnahmen sowie viertens vonseiten der Kommission die Überprüfung der Frage, ob Umweltmanagementpläne und
Pläne für einen nachhaltigen Stadtverkehr notwendig
sind.
Für die Stadtentwicklung in Deutschland ist es von
besonderer Wichtigkeit, das Zieldreieck von sozialen,
ökonomischen und ökologischen Anliegen ständig im
Blick zu behalten. Unsere städtebaulichen Instrumente
in Deutschland sind so ausgerichtet, dass diese Entwicklung zukunftsfähig gestaltet werden kann. Wir sollten an
diesen bewährten Instrumenten festhalten.
Die politische und planerische Herausforderung ist,
Lösungen zu finden, die - ich will es noch einmal betonen - für ökonomische, für soziale und für Umweltanliegen gleichermaßen einen Gewinn bringen. Den Mehrwert für alle drei Bereiche sollten wir nicht zugunsten
eines einzigen Anliegens opfern.
Vielen Dank.
({2})
Ich gratuliere dem Parlamentarischen Staatssekretär
Großmann zur Punktlandung bei seiner Redezeit
({0})
und erteile nun dem Kollegen Peter Götz für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute, Herr Staatssekretär, eine Vorlage der Europäischen Kommission, die für den Umgang
Brüssels mit der kommunalen Selbstverwaltung in
Deutschland typisch ist. Unter dem Vorwand der Umweltpolitik versucht die Kommission ständig, schleichend Teile des Städtebaurechts von der nationalen auf
die europäische Ebene zu verlagern. Dagegen sollten wir
uns eindeutig wehren.
({0})
Die Europäische Kommission verfügt über keinerlei
Kompetenzen im Bereich der Stadtentwicklung.
({1})
Wir sollten dies vielleicht deutlicher sagen, Herr Staatssekretär, als Sie es eben zum Ausdruck gebracht haben.
({2})
CDU und CSU wollen nicht, dass die kommunale Planungshoheit durch die Europäische Kommission ausgehöhlt wird. In Deutschland sind die Städte und Gemeinden sehr wohl in der Lage, ihre städtebauliche
Erneuerung und Entwicklung im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Selbstverwaltungsrechte eigenverantwortlich zu steuern und zu gestalten.
Umweltschutzbelange - Sie haben es angesprochen müssen bei der städtebaulichen Entwicklung und Erneuerung von den Gemeinden schon heute im Planungsprozess berücksichtigt werden
({3})
und mit den anderen Belangen abgewogen werden.
({4})
Sie sind bereits heute integrierter Bestandteil der Stadtentwicklung.
Wir brauchen in Deutschland keinen von der Europäischen Union vorgegebenen zusätzlichen städtischen
Umweltmanagementplan. Wir brauchen keinen europäischen Plan für nachhaltigen städtischen Verkehr. Genau
das Gegenteil ist notwendig. Wir wollen eine Vereinfachung und Beschleunigung von Planungsprozessen. Wir
wollen keine Ausweitung von Kompetenzen der Europäischen Union.
({5})
Wir müssen vielmehr alles daransetzen, dass das Subsidiaritätsprinzip wieder stärker in den Mittelpunkt der
politischen Entscheidungen rückt. Alles, was auf der unteren politischen Ebene, also auf der kommunalen
Ebene, geregelt werden kann, soll, bitte schön, auch dort
geregelt werden.
Mit der Weiterentwicklung der europäischen Integration hat die Europäische Kommission nach unserem Verständnis genug zu tun. Sie braucht sich weder um die
Gestaltung der Fußgängerzonen in Deutschland noch um
die Flächennutzung in den Gemeinden noch um den Verkehr in den Städten, Gemeinden und Kreisen zu kümmern.
({6})
Das Gleiche gilt übrigens auch für die Wasserversorgung. Die Kommission bastelt auch ständig an Vorschriften dafür. Die Wasserversorgung gehört nach unserem
Verständnis genauso zum Kernbereich der kommunalen
Selbstverwaltung.
({7})
CDU und CSU wollen, dass die kommunale Planungshoheit unangetastet bleibt. Wir wollen keine neue Bürokratie, die sagt, wie es in den Kommunen gehen soll.
Wir wollen keine neue Bürokratie, weder aus Brüssel
noch aus Berlin. Wir brauchen auch keinen neuen Brüsseler Kontrollapparat, der viel Geld des Steuerzahlers
verschlingt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon heute haben
nahezu 70 Prozent aller Bestimmungen, die aus Brüssel
kommen, Auswirkungen auf die Kommunen. Nach unserem Verständnis gilt es nun, nicht weiter an diesem
Rad zu drehen, sondern den Umfang der Bestimmungen
wieder auf das Notwendigste zurückzuführen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dem Votum des Bundesrates anzuschließen und entsprechend ihrer Stellungnahme dafür zu sorgen, dass diese Strategie auf
europäischer Ebene nicht weiter verfolgt wird, vielleicht
noch deutlicher, als Sie es, Herr Staatssekretär, eben zum
Ausdruck gebracht haben. Wir fordern die Bundesregierung auch auf, sich in Brüssel endlich qualifiziert, frühzeitig und konsequent darum zu kümmern, dass die EUKommission nicht ständig neue Vorlagen produziert, die
hier im Parlament nur mehr oder weniger zustimmend
zur Kenntnis genommen werden können.
Über Belange des Städtebaus, des Wohnens, der
Raumordnung müssen nicht teure Beamte in der Europäischen Kommission entscheiden. Die gewählten kommunalen Vertreter vor Ort kennen ihre Gemeinde besser. Sie
können durchaus die unterschiedlichen Belange selbst
abwägen und ihre Entscheidungen eigenverantwortlich
treffen. Deshalb müssen anders lautende Ansinnen der
Europäischen Kommission bereits im Keim erstickt werden.
({9})
Ich hätte mir gewünscht - ich sage das an die Adresse
der Kolleginnen und Kollegen im Verkehrs-, Bau- und
Wohnungsausschuss -, diese Zielstellung in einem gemeinsamen fraktionsübergreifenden Antrag zu formulieren. Aber leider war das nicht möglich; Rot-Grün hat
sich wie bei vielen anderen vernünftigen Vorschlägen im
Ausschuss verweigert.
In jedem Fall würde uns interessieren, wie Sie den
Widerspruch auflösen wollen, dass Sie in Ihrem rot-grünen Koalitionsvertrag das Bestreben der Kommission,
die nachhaltige Stadtentwicklung zum Leitbild europäischer Städtebau- und Wohnungspolitik zu machen,
begrüßen, die Bundesregierung aber in ihrer Stellungnahme zu der gleichen Thematik zu Recht, wie ich finde,
Bedenken gegen diese Strategie geltend macht. Sie sollten sich nach meiner Meinung darauf verständigen, was
Sie wirklich wollen.
Im EU-Verfassungsvertrag, mit dem wir uns im Deutschen Bundestag demnächst ebenfalls befassen werden,
haben die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und damit die kommunale Selbstverwaltung zu Recht einen
neuen Stellenwert erhalten. Die nationalen Parlamente
werden auf diesem Gebiet gegenüber der EU gestärkt
werden. Europapolitik wird mehr denn je zur Innenpolitik. Wir brauchen für die EU-Vorlagen einen wirksamen
Parlamentsvorbehalt, damit wir frühzeitig aktiv mitwirken können und nicht immer, wie auch heute bei diesem
Tagesordnungspunkt, ohnmächtig hinterherhinken. Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass CDU und CSU in diesen Tagen einen Gesetzentwurf zur Ausweitung der
Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union eingebracht haben.
Ich lade Sie alle ein, dieses Gesetz mitzutragen.
Es liegt an uns, wie wir in Zukunft mit Vorlagen der
Europäischen Union wie der heutigen umzugehen haben. Wir von der Union wollen weder ein zentral organisiertes Europa noch ein zentralistisches Deutschland.
Wir wollen ein Europa, in dem die Menschen stolz auf
ihre nationale Identität sein können, ein Europa, das eine
hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genießt. Dies wird
umso leichter erreichbar sein, wenn sich die EU um die
für die Gemeinschaft wichtigen Zukunftsthemen kümmert und das, was die Menschen eigenverantwortlich auf
kommunaler Ebene entscheiden können, auch dort entscheiden lässt.
({10})
Das sollte unser gemeinsames Ziel sein. Daran sollten
wir, wie ich finde, auch gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Götz, ich kann schon sagen, warum wir
nicht zu einem gemeinsamen fraktionsübergreifenden
Antrag gekommen sind.
({0})
Mit Ihrer Rede jetzt haben Sie nämlich ein Stück weit
das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
({1})
Der Herr Staatssekretär hat vorhin sehr deutlich gemacht, dass es um zwei Aspekte geht.
Der erste Aspekt betrifft das Konzept, das die EU im
Rahmen ihrer Strategie für die städtische Umwelt vorgelegt hat. Dieses Konzept halten wir alle für sehr gut
und sehr qualifiziert. Wir empfehlen unseren Ländern
und vor allen Dingen unseren großen Städten, es umzusetzen. Ich glaube, dass die Umweltmanagementplanung
Stockholms vorbildhaft für unsere großen Städte ist.
Jede Stadt sollte bis 2006 folgende Ziele erreichen: einen
ökologisch effizienten Verkehr, sichere Produkte, einen
nachhaltigen Energieverbrauch, Umweltmanagementplanung, eine ökologisch effiziente Abfallwirtschaft und
eine gesunde Innenraumwelt. Das alles sind Ziele, die
wir für unterstützenswert halten.
({2})
- Moment! Im Bereich der gesunden Innenraumwelt gibt
es durchaus noch viel Handlungsbedarf.
Wir wollen keinen bürokratischen Apparat - das hat
der Herr Staatssekretär eben sehr deutlich gesagt; in diesem Punkt sind wir uns einig - und auch keine zentralistischen Vorgaben. Aber ich glaube schon, dass wir die
Empfehlungen, die sich aus diesem Konzept ergeben,
hier sehr ernsthaft diskutieren sollten. Aber dazu haben
Sie nicht einen Satz gesagt.
({3})
Für unsere Länder und unsere Städte und zum Teil auch
für den Bund besteht an dieser Stelle durchaus noch
Handlungsbedarf.
Wir sind uns einig - auch darüber haben wir im Ausschuss diskutiert -, dass wir kein zentrales Konzept haben wollen, das eine bürokratische Kontrolle beinhaltet.
({4})
- Die Konsequenz ist, dass wir uns mit den Inhalten befassen müssen und dass wir in den Diskussionen mit
unseren Ländern und unseren Städten für diese Inhalte
werben. Wir sollten entsprechende Empfehlungen aussprechen.
({5})
Diesen Aspekt habe ich in Ihrem Beitrag hier und auch
im Ausschuss vermisst. Ich halte es für sehr wichtig,
dass wir so vorgehen.
Der zweite Aspekt betrifft den neuen EU-Strukturfonds, den es ab 2007 geben soll. Dabei geht es sowohl
um die Geldproblematik als auch um die Problematik
der Ausgestaltung. Ich trete dafür ein, dass hierbei die
sehr positiven Erfahrungen mit dem Urban-Programm
und auch die Erfahrungen mit der Stadterneuerung in
umfassender Form berücksichtigt werden. Die Ziele, die
von der EU vorgegeben werden, sollten dabei eine zentrale Rolle spielen.
Ich halte es für richtig, dass wir jetzt den Verfahrensvorschlag der EU nicht weiter verfolgen; darüber sind
wir uns einig. Es reicht aber nicht, nur die Inhalte zu kritisieren. Wir müssen vielmehr sehr genau auf das
schauen, was schon erreicht wurde. Darauf hat der Herr
Staatssekretär vorhin hingewiesen. Wir müssen sehen,
an welchen Stellen wir noch eigenen Handlungsbedarf
haben. In diesem Punkt können wir von der EU lernen.
Ich fände es gut, wenn unsere Städte ein Umweltmanagement wie Stockholm betreiben würden. Ich glaube,
es gibt eine Reihe von Städten, die hinsichtlich des städtischen Nahverkehrs Nachholbedarf haben.
({6})
Dieses Thema muss engagiert weiter verfolgt werden.
Auch beim Thema Zersiedelung gibt es einen entsprechenden Handlungsbedarf. Ich hätte es als gut empfunden, wenn es gelungen wäre, im Baugesetzbuch die
Erschließung von neuen Gebieten von ihrer Anbindung
an den öffentlichen Nahverkehr abhängig zu machen. Es
gibt also noch eine Reihe von Punkten, bei denen wir
von der EU lernen können.
In dem Sinne danke ich Ihnen ganz herzlich für die
Mitarbeit und hoffe, dass wir unsere Vorhaben umsetzen.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eberhard Otto,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Großmann, ich bin sehr überrascht
über die Rede, die Sie soeben gehalten haben. Denn in
vielen Punkten, die Sie genannt haben, stimmen wir
überein. Das wird aus diesem Strategiepapier gar nicht
ersichtlich.
Daraus geht vielmehr hervor: Ziel der Strategie für
die städtische Umwelt in der EU sind europarechtliche
Vorbereitungen, die die Bodennutzung, den Städtebau
und die Raumordnung berühren. Im Ergebnis bedeutet
dies eine Verschiebung des Städtebaurechts von der nationalen auf die europäische Ebene. Es ist jedoch so,
dass die Europäische Union im Bereich der Siedlungspolitik überhaupt keine Eingriffsrechte besitzt.
({0})
Nach meiner Auffassung ist das Konzept ein Versuch, in
die Planungshoheit des Bundes, der Länder und der
Kommunen einzugreifen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Warum brauchen wir
diese Strategie überhaupt? Neben der fehlenden Kompetenz der EU für Raumordnung und Bauleitplanung ist
aus meiner Sicht auch kein dringender Handlungsbedarf
vorhanden, da es ja bereits ein von den Mitgliedstaaten
erarbeitetes europäisches Raumentwicklungskonzept
gibt. Dieses enthält Zielstellungen zur Entwicklung der
Städte. Die angestrebten Vereinheitlichungen, die den
Kommunen Vorgaben machen würden, die den lokalen
Bedürfnissen oft nicht entsprechen würden, sind überflüssig und zudem eine unnötige Gleichmacherei. Beispielsweise werden die Mitgliedstaaten angehalten, eine
Mindestbesiedelungsdichte bei der Flächennutzung festzulegen. Besiedelungsdichten von weniger als 40 bis
60 Personen pro Hektar sollen vermieden werden. Aber
gerade das ist in einem Flächenland, wie mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern eines ist, gar nicht
machbar.
({1})
Deswegen muss die Planungshoheit der Kommunen erhalten bleiben.
Weiterhin sieht das Konzept Berichtspflichten vor.
Diese würden den Verwaltungsaufwand vergrößern und
hohe Kosten verursachen. Wir als Liberale stehen ja für
den Bürokratieabbau. Alle zusätzlichen bürokratischen
Aufwendungen lehnen wir ab.
({2})
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass bereits mit dem kürzlich verabschiedeten Europarechtsanpassungsgesetz Bau umfangreiche umweltrechtliche
Regelungen in das Baurecht einschließlich des Städtebaurechts aufgenommen wurden. Da das so ist, lehnt
meine Fraktion die vorgeschlagenen Maßnahmen ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Aus drei Gründen halte ich die abendliche Debatte für
wichtig:
({0})
Ich halte sie erstens für wichtig, weil sie zeigt, dass wir
uns sorgfältig mit europäischen Vorhaben auseinander
setzen. Ich glaube, das ist von Bedeutung und sollte in
allen Bereichen so sein. Ich halte sie zweitens für wichtig, weil sie zeigt, dass wir das rechtzeitig tun, zu einem
Zeitpunkt, zu dem es noch keine Vorschriften bzw.
Richtlinien aus Europa gibt, die wir dann umsetzen müssen. Ich halte sie drittens für wichtig - das möchte ich
ausdrücklich betonen -, weil wir uns alle, also alle Fraktionen im Deutschen Bundestag zusammen mit der Bundesregierung und dem Bundesrat, in der Sache einig
sind; das ist das Entscheidende.
Die Zielsetzung der Europäischen Kommission hat
Herr Staatssekretär Achim Großmann vorhin erläutert.
Ich möchte, so wie es gerade Frau Eichstädt-Bohlig getan hat, ausdrücklich unterstreichen: In der Sache halten
wir diese Zielsetzung für richtig. Sowohl in Europa als
auch in der Bundesrepublik Deutschland betreiben wir
eine Stadtentwicklungspolitik unter dem Leitbild der
Nachhaltigkeit. Daran gibt es nichts zu deuteln. Deswegen spricht nichts dagegen, dass Europa in die gleiche
Richtung denkt. Es spricht nichts dagegen, dass möglicherweise Empfehlungen entwickelt werden. Es spricht
nichts dagegen, dass es einen Austausch zwischen den
Kommunen der einzelnen Mitgliedstaaten über diese
Thematik gibt.
Das Vorhaben der Europäischen Kommission geht jedoch weiter. Das Übel liegt in den konkreten Absichten.
({1})
Es sind gesetzliche Vorschriften zur Erstellung von Umweltmanagementplänen für alle Hauptstädte und alle
Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern und Berichtspflichten geplant.
({2})
Nichts gegen Umweltmanagement; das ist sicherlich
ein vernünftiges Instrument. Aber warum muss dies auf
europäischer Ebene vorgeschrieben werden und warum
müssen Berichte erstattet werden?
({3})
Ich nenne nur den Plan zum nachhaltigen städtischen
Nahverkehr. Wir wollen nichts anderes. Deswegen
freuen wir uns auch, dass die Europäische Kommission
dies für richtig hält. Aber wir sind gegen eine Berichtspflicht der Kommunen gegenüber Brüssel, gegen einen
Bericht zur Zersiedlung, zur Flächennutzung. Wir selbst
haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt, was die Flächennutzung anbetrifft. Aber eine Berichtspflicht unserer Kommunen gegenüber Brüssel halten wir schlichtweg für
überflüssig. Die Mindestbesiedlungsdichte bei der Flächennutzung ist ein weiteres Beispiel, das angeführt
werden kann.
Es ist hier mehrfach gesagt worden - darin stimmen
wir im Wesentlichen überein -: Entscheidend ist, dass
wir die Übertragung von Teilen unseres Städtebaurechts,
von umweltpolitischen Rechtsvorschriften hinsichtlich
der Bodennutzung, des Städtebaus und der Raumordnung auf die europäische Ebene ablehnen; denn dadurch
würde die kommunale Planungshoheit eingeengt. Ich bin
der FDP dankbar, dass sie in ihrem Antrag darauf hingewiesen hat, dass die Selbstverwaltung unserer Kommunen im Grundgesetz verankert ist. Das ist ein hohes
Gut, das es zu verteidigen gilt.
({4})
Wir wollen keine überflüssigen EU-Vorgaben. Wir wollen keine überflüssigen bürokratischen Kontrollen durch
die EU. Es ist unsere ganz klare Position: Es gibt keine
Kompetenz der Europäischen Union in der Städtebaupolitik. Hier wird eindeutig der Grundsatz der Subsidiarität verletzt; das ist bereits gesagt worden.
Das heißt aber nicht, dass wir grundsätzlich gegen europäische Richtlinien sind. Das haben wir auch bewiesen, indem wir gemeinsam mit dem Europarechtsanpassungsgesetz europäische Vorgaben fachpolitisch gezielt
in nationales Recht umgesetzt haben. Ich denke, das war
vernünftig. Genauso sind wir beim UVP-Gesetz und zuletzt bei dem Gesetz zur Einführung der Strategischen
Umweltprüfung verfahren, obwohl wir da keine Gemeinsamkeit erzielt haben - das sei hier aber nur ergänzt.
Das Entscheidende ist - das ist das gemeinsame Anliegen aller drei Entschließungsanträge -, dass wir diese
unterschwellig - ja, ich würde schon sagen: offenkundig - angestrebte Kompetenzerweiterung der Europäischen Union im Bereich der Stadtentwicklungspolitik
ablehnen.
({5})
Noch einmal: Die inhaltlichen Ziele, die hier diskutiert werden, sind durchaus vernünftig. Manchmal gelingt es jedoch einfach nicht, zu einem gemeinsamen
Antrag zu kommen.
({6})
Die Akzentsetzung ist vielleicht etwas unterschiedlich.
Aber das sollte uns nicht hindern, gemeinsam der Bundesregierung den Rücken zu stärken, damit bereits im
Vorfeld verhindert wird, dass im Sommer 2005 das umgesetzt wird, was die Kommission hier vorhat.
Herzlichen Dank.
({7})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Spanier, da wir uns in den Sachfragen so
einig sind, sollten wir uns auch in dem entscheidenden
Punkt einig sein,
({0})
dass diese Dinge nicht in Brüssel geregelt werden sollen,
dass wir vielmehr national versuchen sollten, diese
Ideale und Ziele umzusetzen.
({1})
Wir bemühen uns zurzeit, eine gemeinsame Verfassung zu verabschieden. Zu den Zielen dieser Verfassung
gehört unter anderem eine klare Kompetenzabgrenzung, eine Beschränkung der europäischen Regelungswut. Dieser Kommissionsvorschlag widerspricht jedoch
allen Idealen der zukünftigen Verfassung. Deswegen
müssen wir verhindern, dass dieser Vorschlag in Kraft
tritt.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, erlauben Sie mir,
eine Bemerkung zu dem zu machen, was Sie gesagt haben. Sie haben unter anderem angesprochen, dass die
Strukturpolitik bei dieser Initiative eine entscheidende
Rolle spiele. Aber eines muss uns bewusst sein - hier
herrscht zum Teil in diesem Hause Einigkeit -: Wir wollen die Zahlungen nach Brüssel reduzieren. Wir wollen
nicht erst die Gelder nach Brüssel überweisen, um dann
auf Umwegen mit vielen Auflagen ein paar Cent zurückzubekommen. Gerade das Argument der Strukturpolitik
spricht ganz entschieden gegen diesen Kommissionsvorschlag, den wir mit allen Mitteln ablehnen sollten.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube
feststellen zu dürfen, dass wir bereits national so viele
Regelungen, so viele Vorschläge, Gesetze und Verordnungen haben, dass man diese Ideale auch mit unseren
Regelungen umsetzen kann.
({3})
Wenn Stockholm ein gutes Beispiel ist, warum müssen
wir es in ganz Europa regeln? Wir wollen keinen europäischen Einheitsbrei, insbesondere nicht in der Kommunalpolitik, insbesondere nicht auf der untersten Ebene.
Wir wollen Vielfalt und Entfaltungsmöglichkeiten der
Kommunen, die wir durch einen solchen Vorschlag ganz
gewaltig einschränken würden.
Ich möchte meine Redezeit nicht in Gänze beanspruchen. Wir sollten alles daran setzen, die Ideale dieser
Verfassung, die wir in Zukunft haben werden, durchzusetzen. Deswegen sollten wir verhindern, dass dieser
Kommissionsvorschlag in Kraft treten kann.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung über eine Mitteilung der EU-Kommission zur Entwicklung einer thematischen Strategie für städtische Umwelt, Drucksache 15/4280. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis
der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das Erste war die Mehrheit.
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition angenommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die
Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu
einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens zu erweitern und diese jetzt sofort als
Zusatzpunkt 5 - wie üblich ohne Aussprache - aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe also diesen Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 15/4775 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner verteilten Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4775, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2005,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.