Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versammlungsgesetzes
und des Strafgesetzbuches
- Drucksache 15/4832 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 15/5051 Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Erwin Marschewski ({2})
Dr. Max Stadler
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
Thomas Strobl ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes ({4})
- Drucksache 15/4731 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6})
- Drucksache 15/5069 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Thomas Strobl ({7})
Volker Beck ({8})
Jörg van Essen
Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.
({9})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Sich über Rechtsextremismus berechtigterweise zu empören reicht nicht; man muss ihn bekämpfen. Die Demokratie ist wehrhaft. Die Bundesrepublik
hat insofern ein Erbe von Weimar übernommen, als wir
wissen: Ein einmal erreichter Grad an Zivilisierung einer
Gesellschaft ist nicht mit einer Ewigkeitsgarantie versehen, sondern wir müssen gemeinsam Tag für Tag und
Jahr für Jahr dafür arbeiten, dass demokratische Grundwerte gelebt werden können.
Es sind in den letzten Wochen mehr oder minder
glückliche Vergleiche zwischen der Bundesrepublik
Deutschland heute und der Zeit der Weimarer Republik
gezogen worden. Was wir von Weimar lernen können,
ist sicherlich, dass eine Demokratie durch hohe Arbeitslosigkeit gefährdet wird. Ebenso wichtig ist aber, zur
Kenntnis zu nehmen, dass Weimar letztlich daran gescheitert ist, dass es zu wenig Demokraten und Demokratinnen gab, die zum Rechtsstaat gestanden haben, und
somit die Demokratie selber nicht hinreichend verteidigt
worden ist.
({0})
Unsere Demokratie ist wehrhaft. Allein einige Meldungen dieser Woche belegen das sehr eindrücklich:
Am Montag hat das Brandenburgische Oberlandesgericht eine Reihe von jungen Männern wegen Bildung
Redetext
einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Diese Bande
hatte den Vorsatz gefasst und auch konkret daran gearbeitet, ausländischen Mitbürgern in Brandenburg durch
Brandanschläge die Existenzgrundlage zu nehmen.
Am Mittwoch hat der Berliner Innensenator, Herr
Körting, zwei neonazistische Kameradschaften auf der
Grundlage des Vereinsrechts verboten. Ich begrüße das
für die SPD-Fraktion ausdrücklich. Wer sich gegen die
Grundwerte unserer Verfassung richtet, der muss wissen,
dass wir ihm dabei nicht tatenlos zuschauen, sondern
handeln.
({1})
Am Donnerstag hat der Bundesgerichtshof erfreulicherweise eine Entscheidung des Kammergerichtes von
Berlin aus dem Jahre 2003 bestätigt, die darin bestand,
dass eine abscheuliche rechtsradikale Musikgruppe
als kriminelle Vereinigung eingestuft wurde. Auch diese
Bestätigung ist wichtig.
Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, gleichwohl
dauerhaft gehalten, das Gesetzesinstrumentarium, das
wir in Deutschland haben, laufend auf seine Tauglichkeit
im Umgang mit den Feinden der Verfassung zu überprüfen. Das enthebt uns nicht - das will ich hier deutlich
zum Ausdruck bringen - der Pflicht, uns auch mit der
Überlegung zu befassen, wie wir es hinbekommen, dass
junge Menschen erst gar nicht anfällig werden für
rechtsextremistische Ideologien. Wir alle wissen, der
Rechtsextremismus in Deutschland ist erschreckend
jung: Es handelt sich meist nicht um Ewiggestrige, sondern häufig um Neugestrige, die da in Erscheinung treten.
Ich hoffe, dass der Konsens, der sich bei der Veränderung des Strafgesetzbuches und des Versammlungsrechts
hinsichtlich unserer Abstimmung andeutet, auch im
Laufe der nächsten Wochen und Monate bestehen wird,
wenn es darum geht, Programme, Initiativen und Projekte zu stärken, die sich gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt einsetzen.
({2})
Meine Damen und Herren, Karl Jaspers hat einmal
formuliert: „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung
der Freiheit.“ Das ist richtig. Gleichwohl gilt, dass auch
Rechtsextremisten, wenn sie nicht entsprechende Grundrechte verwirkt haben, Grundrechtsträger sind. Das festzuhalten ist bisweilen schwer; aber es ist etwas, was uns
von den Totalitaristen qualitativ unterscheidet. Das
heißt, wir müssen uns, wenn wir über den Änderungsbedarf im Strafgesetzbuch und im Versammlungsgesetz reden, vor Augen halten, dass Grundrechte nach Art. 5 des
Grundgesetzes - Meinungsfreiheit - und Art. 8 - Versammlungsfreiheit - ein hohes Gut sind, das man, wie
Heribert Prantl gestern in der „Süddeutschen Zeitung“
zutreffend geschrieben hat,
({3})
„nicht zu kleiner Münze“ machen darf. Das ist wahr. Insofern bewegen wir uns immer auf einem schmalen
Grat, aber - das sage ich zugleich sehr deutlich - auf einem begehbaren Grat.
Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Antwort darauf bieten, wie man, ohne Grundrechte zur Disposition zu stellen, im einfachgesetzlichen
Bereich in einem stärkeren Maße als bisher sicherstellen
kann, dass bestimmte Handlungsweisen schlichtweg
nicht Ausdruck von Meinung sind, sondern ein Verbrechen und damit unter Strafe gestellt werden können.
({4})
Ich will zunächst auf das Bezug nehmen, was wir für
den Bereich des Strafgesetzbuches vorschlagen. Wir haben die Absicht, die bisherige Strafbarkeitsschwelle
für Volksverhetzungstatbestände abzusenken von der
Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust, bei der sie bisher liegt, auf öffentliche oder in Versammlungen getätigte Äußerungen, die darin bestehen, dass das nationalsozialistische Gewalt- und Unrechtsregime gebilligt,
verherrlicht oder gerechtfertigt wird.
Weil das vom Ansatz her ein nicht unerheblicher Eingriff in die Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsfreiheit ist, haben wir gleichzeitig mit einem neuen Abs. 4 in
§ 130 Strafgesetzbuch Sicherungssysteme eingebaut, die
sicherstellen, dass nur dann eine Strafbarkeit vorliegt,
wenn die Würde von Opfern gröblichst verhöhnt und der
öffentliche Friede gestört wird. Wir schlagen vor - ich
will das vorlesen, weil das ein ganz wichtiger Punkt ist,
auch für die heutige Debatte, der eine wesentliche
Grundlage darstellt und auch Auswirkungen auf das Versammlungsrecht haben wird, über das wir in den letzten
Wochen diskutiert haben -:
Mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer
Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die
Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört,
dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.
Damit ist sichergestellt: Der Tatbestand der Störung des
öffentlichen Friedens muss erfüllt sein und die Störung
des öffentlichen Friedens muss dadurch erfolgen, dass
die Würde der Opfer verletzt wird.
Nach unserem Dafürhalten wird diese Neuregelung in
vielen Gerichtsverfahren eine klare Grundlage für entsprechende Entscheidungen bieten. Wir haben bislang
eine sehr gemischte Rechtsprechung. Das Parlament hat
die große Chance, hier und heute deutlich zu machen,
dass diejenigen, die unter Bezugnahme auf die Nazizeit
positive Äußerungen dergestalt tätigen, dass sie die
Würde der Opfer der Nationalsozialisten mit Füßen treten, sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen können,
indem wir eine ganz klare Trennlinie im Sinne der wehrhaften Demokratie aufzeigen und deutlich machen:
Wer diese Grenze überschreitet, der macht sich künftig
strafbar.
({5})
Meine Damen und Herren, die zweite Regelung, die
wir hier zur Abstimmung vorschlagen, ist eine Veränderung des Versammlungsgesetzes. In § 15 des Versammlungsgesetzes soll ein neuer Absatz eingefügt werden,
der darauf Bezug nimmt, dass an bestimmten Orten,
nämlich an Gedenkstätten von historischer, herausragender, überregionaler Bedeutung, dann eine Versammlung
oder ein Aufzug verboten werden kann, wenn zu befürchten ist, dass durch die beantragte Versammlung
oder den beantragten Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird.
Ein solcher Ort, für den Einschränkungen gemäß dem
eingefügten § 15 Abs. 2 des Versammlungsgesetzes explizit gelten, ist das Denkmal für die ermordeten Juden
in Berlin. Die Bundesländer können auf Grundlage der
historischen und überregionalen Bedeutung von Orten
selber Gedenkstätten festlegen, für die dieser neue Passus des Versammlungsgesetzes gelten soll. Wir haben
großes Vertrauen darin, dass unsere Kolleginnen und
Kollegen in den Landtagen mit dieser Regelung sehr
verantwortungsbewusst, maßvoll und der Sache angemessen umgehen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schlagen heute
also zwei Änderungen vor: eine Änderung im Bereich
des Strafgesetzbuches und eine Änderung im Bereich
des Versammlungsgesetzes. Es gehört zu einer lebendigen Demokratie, regelmäßig zu überprüfen, ob unsere
Gesetze ausreichen. Wir sind der Auffassung, dass die
beiden genannten Gesetze gemäß unseren Vorschlägen
verbessert werden sollten. Aber man wird die Debatte
darüber hinaus führen müssen.
Ich will noch eine Bemerkung zum Abschluss machen. Frau Bundesministerin Zypries, ich habe mit großem Interesse gelesen, dass Sie sich in dieser Woche öffentlich für eine Initiative ausgesprochen haben, die
Symbole und Zeichen der NS-Zeit und insbesondere
der NSDAP EU-weit zu verbieten. Ich will Ihnen im Namen der SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich unsere
Unterstützung bei diesem Vorhaben aussprechen.
Danke sehr.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat in
den vergangenen Wochen über die geplanten Änderungen im Versammlungsrecht und im Strafgesetzbuch eine
lebhafte und auch kontroverse, aber zum größten Teil
sachliche Debatte gegeben. Dabei gab es regelmäßig
Kritik an dem, was heute mit großer Mehrheit beschlossen werden wird.
Die erste Kritik lautete, dass wir als Gesetzgeber nicht
über jedes Stöckchen springen dürften, das uns die NPD
oder andere hinhalten. Die zweite Kritik war, dass der
Staat beschämende Bilder von Neonazidemonstrationen
aushalten müsse; man solle und man könne sie auch
nicht verhindern.
Dazu in aller Kürze: Es stimmt, dass wir nicht über jedes Stöckchen springen müssen, das uns Extremisten
hinhalten. Das tun wir auch nicht. Aber der Staat kann
sich nicht alles bieten lassen. Wir können nicht jede Provokation achselzuckend hinnehmen und zur Tagesordnung übergehen.
({0})
In einer Demokratie muss man vieles aushalten. Wir
müssen sogar verfassungsfeindliches Gedankengut und
verfassungsfeindliche Äußerungen hinnehmen. Aber wir
müssen den Feinden der Demokratie und den Feinden
unseres Grundgesetzes auch ihre Grenzen aufzeigen.
Das ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere
Pflicht.
({1})
Eine wirklich wehrhafte Demokratie verdient diesen
Namen nur, wenn sie sich auch wehrt. Tut sie es nicht,
dann ist sie auch nicht wehrhaft. Deshalb, Herr Bundesinnenminister, war das Verbot der Zeitung „Vakit“
richtig.
({2})
Wir verdanken dieses Verbot in erster Linie der Aufmerksamkeit der Kollegin Kristina Köhler, aber auch Ihrer raschen Reaktion. Angesichts der Tatsache, dass Sie
in den türkischen Medien beschimpft und als Adolf
Hitler dargestellt werden und dass der Vorsitzende des
türkischen Presserates sagt, Sie hätten Justizmord begangen, fühlt sich die Opposition mit beleidigt und stellt
sich ebenfalls vor diesen Innenminister.
({3})
Neonazis melden ihre Demonstrationen ganz bewusst
für solche Tage und zu solchen Anlässen an, die an die
Naziherrschaft erinnern sollen. Sie wählen für ihre Aufmärsche bewusst sensible Orte wie beispielsweise das
Brandenburger Tor. Bilder und Berichte von solchen Demonstrationen gehen um die Welt und beschädigen das
Ansehen unseres Landes. Das Ansehen unseres Landes
sollte uns nicht egal sein. Es geht nicht nur darum, was
der Staat und seine Institutionen aushalten können; es
geht auch darum, wie solche Bilder und solche Aufmärsche auf die Opfer des Holocaust, auf die Hinterbliebenen und auf die anderen Opfer von Gewalt- und Willkürherrschaft wirken. Deren Würde wollen wir mit dem
neuen Recht besser schützen.
({4})
Meine Damen und Herren von der Koalition, umso
mehr bedauern wir es, dass Sie sich nicht in der Lage sehen, den befriedeten Bezirk „Deutscher Bundestag“ um
die Liegenschaft „Brandenburger Tor“ zu erweitern. Wir
haben die Anregungen und Bedenken und auch die Kritik der Sachverständigen, die sie in der Anhörung vorgebracht haben, aufgenommen.
({5})
Wir haben unseren Gesetzentwurf geändert. Jetzt kann
man nicht mehr mit verfassungsrechtlichen Bedenken
argumentieren. Wenn Sie dennoch dagegen argumentieren wollen, dann sollten Sie ehrlicherweise sagen: Wir
wollen das Brandenburger Tor nicht schützen. - Das ist
ehrlicher,
({6})
als verfassungsrechtliche Bedenken an den Haaren herbeizuziehen. Das ist ein ganz sensibler Bereich.
Nach geltender Rechtslage schützen wir mit dem befriedeten Bezirk „Deutscher Bundestag“ unter anderem
die Schweizer Botschaft, die Spree, das Parlament der
Bäume, das Sowjetische Ehrenmal und die Dresdner
Bank. Aber das eigentliche Ziel der Demonstrationen
schützen wir nicht. Das halten wir für einen Fehler.
({7})
Deswegen sind wir nach wie vor der Auffassung, dass
unser Gesetzentwurf richtig ist.
({8})
Dessen ungeachtet hoffen wir, dass solche Aufmärsche am Brandenburger Tor durch die im Strafgesetzbuch und im Versammlungsgesetz vorgesehenen Änderungen zukünftig leichter verhindert werden können. Es
ist auch richtig, dass sich der Bundesgesetzgeber darauf
konzentriert, im Bundesrecht nur das Holocaust-Denkmal in einen befriedeten Bezirk einzubeziehen. Ansonsten entscheiden die Landesgesetzgeber zukünftig selber.
Wir sind kein besserer Gesetzgeber. Wir gehen davon
aus, dass die Länder - das war immer unser Vorschlag verantwortungsbewusst mit dem neuen Recht umgehen.
({9})
Ich freue mich, dass es heute eine große Mehrheit für
die Änderungen im Strafgesetzbuch und im Versammlungsrecht gibt. Wir beschwören oft die Gemeinsamkeit
der Demokraten im Kampf gegen den politischen Extremismus von rechts oder links. Es ist gut, dass wir nicht
nur darüber reden, sondern ihn heute auch praktizieren.
Danke für das Zuhören.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere
Verfassung vertraut auf die Fähigkeit der Bürgerinnen
und Bürger, sich mit extremen Positionen auseinander zu
setzen. Nicht durch Verbote, sondern durch öffentlichen
Streit sollen politisch unerträgliche Meinungen abgewehrt werden. Die Meinungsfreiheit findet dort ihre
Schranken, wo gleichwertige Rechtsgüter verletzt werden. Die Verletzung der persönlichen Ehre ist nicht erlaubt.
Die von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen
Änderungen zum Versammlungsrecht und zum Strafrecht bewegen sich in diesem engen verfassungsrechtlichen Rahmen. Wir beziehen uns auf den Schutz der
Würde der Opfer des Nationalsozialismus und wir halten
an dem Grundsatz fest, dass in dem sensiblen Bereich
der Meinungsfreiheit primär nur Strafbewehrtes verboten werden kann.
Mit unseren Änderungsanträgen stellen wir rechtzeitig vor der Einweihung des Holocaust-Mahnmals sicher:
Am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas dulden
wir keine Versammlung von Neonazis. Wir schützen hier
und an anderen herausragenden Orten des Gedenkens
die Würde der Opfer des Nationalsozialismus.
In Richtung FDP sage ich: Ihre Argumentation ist äußerst widersprüchlich. Einerseits behaupten Sie: Der
Schutz der Orte des Gedenkens ist schon auf der Grundlage des heutigen Rechts möglich. Andererseits sagen
Sie, wir gingen mit unseren Klarstellungen zu weit und
beschädigten die Versammlungsfreiheit. Sie lehnen in
Ihrem Entschließungsantrag die örtliche Beschränkung
des Versammlungsrechts ab und haben gleichzeitig die
Erwartung, dass Neonazis nicht am Holocaust-Mahnmal
demonstrieren dürfen.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben offenkundig den Sinn für die Verantwortung des Gesetzgebers verloren. Wir wollen uns nicht auf ein diffuses
Richterrecht verlassen. Sie wissen sehr genau, wie widersprüchlich die Rechtsprechung bei Verboten und Auflagen ist.
Wir - der Bundestag - müssen klipp und klar sagen:
Neonazidemonstrationen am Holocaust-Mahnmal
und an KZ-Gedenkstätten wollen wir nicht dulden.
Das ist unsere Verantwortung als Deutscher Bundestag
und damit als Gesetzgeber.
({0})
Die Liberalität des Versammlungsrechts bleibt durch
die Neuregelung unangetastet. Eine Einschränkung der
Versammlungsfreiheit am Brandenburger Tor lehnen wir
ab. Entsprechende Anträge der Union, die Bannmeile
des Bundestages bis zum Brandenburger Tor auszuweiten, sind weder rechtlich mit dem Grundgesetz noch
politisch mit unseren Überzeugungen vereinbar. Wir
schützen eben nicht die Spree, sondern wir schützen die
Arbeitsfähigkeit des Bundestages.
({1})
Darin sind wir in der Sachverständigenanhörung auch
sehr deutlich bestätigt worden.
Ich möchte mich allerdings bei der Union ausdrücklich für die konstruktiven Gespräche bedanken. Wir begrüßen Ihre Bereitschaft, die Gesetzentwürfe von SPD
und Grünen zu unterstützen. Eine breite Mehrheit des
Bundestages gibt heute den Opfern der NS-Gewalt das
Signal: Deutschland bleibt auch 60 Jahre nach Auschwitz wachsam. Wir lassen nicht zu, dass die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlicht
und ihre Opfer verhöhnt werden. Ich begrüße es, dass
sich eine breite Mehrheit des Bundestages gemeinsam
auf dieses Signal verständigen kann.
({2})
Wir erweitern behutsam den Straftatbestand der
Volksverhetzung. Wer die Verletzung der Würde von
NS-Opfern öffentlich billigt, rechtfertigt oder verherrlicht und dadurch den öffentlichen Frieden stört, muss
mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen.
({3})
Wir schaffen mit diesen Formulierungen im Gesetz
auch eine erweiterte Grundlage für Auflagen oder Versammlungsverbote. Gleichzeitig warnen wir vor einer
falschen Erwartungshaltung. Wir müssen auch den Bürgerinnen und Bürgern in Wunsiedel offen und ehrlich sagen, dass die Gesetzeserweiterung zwar hilfreich ist,
dass wir aber mit gesetzlichen Regelungen nicht generell
ein Verbot von NPD-Versammlungen in Wunsiedel
erreichen können. Hier müssen wir andere Formen der
Unterstützung der Menschen vor Ort finden. Insofern
wäre es gut, wenn wir bei dem nächsten zu erwartenden
Ereignis im August - wenn kein Verbot möglich ist - anwesend wären, um deutlich zum Ausdruck zu bringen,
dass wir uns gegen solche Aufmärsche in Wunsiedel zur
Wehr setzen.
Lassen Sie mich zum Schluss feststellen: Ich halte die
Anregung von Herrn Edathy für richtig, uns für ein
europaweites Verbot von Symbolen und Zeichen der NSZeit, insbesondere der NSDAP, einzusetzen.
An den Bundesinnenminister gerichtet möchte ich
noch etwas anderes anregen. Damit wir nicht warten
müssen, bis auf europäischer Ebene eine Einigung in
dieser schwierigen und sensiblen Frage zustande kommt,
empfiehlt es sich vielleicht, zu prüfen, ob wir in
Deutschland ein gesetzliches Einfuhrverbot für diese bei
uns verbotenen Symbole und Zeichen besser durchsetzen können.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor vier Wochen jährte sich zum 250. Male der Todestag des großen Aufklärers und Vordenkers des Rechtstaats Baron de Montesquieu. Eines seiner berühmtesten
Zitate hat auch heute noch Gültigkeit: „Wenn es nicht
notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig,
kein Gesetz zu erlassen.“
({0})
Meine Damen und Herren, selten hat der Ratschlag
Montesquieus an den klugen Gesetzgeber so gut gepasst
wie auf die von Rot-Grün und CDU/CSU vorgelegten
Verschärfungen des Versammlungs- und Strafrechts.
({1})
Denn diese Änderungen sind erstens zum großen Teil
nicht notwendig, zweitens zum Teil nicht geeignet und
drittens mit verfassungsrechtlichen Risiken und politischen Nebenwirkungen verbunden.
({2})
In der aktuellen Debatte geht es vor allem um drei
Fragen: den Aufmarsch von Neonazis vor dem Holocaust-Mahnmal, den Marsch der NPD durch das Brandenburger Tor am 8. Mai und die jährliche Rudolf-HeßKundgebung in Wunsiedel. In dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen Sie zwei dieser drei Probleme gar nicht
und das einzige Problem, das Sie zu lösen vorgeben,
hätte keiner gesetzlichen Neuregelung bedurft.
({3})
Mit diesem letzten Punkt meine ich den Aufmarsch
von Neonazis vor dem Holocaust-Mahnmal. Es wäre
nicht akzeptabel, wenn dort Neonazis demonstrieren
würden. Darin läge ein Angriff auf die Menschenwürde
der Opfer und ihrer Angehörigen und auf die Würde des
Ortes. Daher kann eine derartige Demonstration vor dem
Holocaust-Mahnmal schon nach geltendem Recht verboten werden.
({4})
Auch die Sachverständigenanhörung des Bundestages
am letzten Montag hat klar ergeben: Dafür brauchen wir
keine Gesetzesänderung.
({5})
Damit komme ich zu den zwei der drei angesprochenen Probleme, die Sie nicht lösen. Ich gebe zu: Schwieriger liegt der Fall zwar beim geplanten NPD-Marsch
durch das Brandenburger Tor; aber dieses Problem
wird durch den Gesetzentwurf von Rot-Grün nicht gelöst.
({6})
Von der Union wird eine unpassende Lösung vorgeschlagen: die Ausdehnung des befriedeten Bezirks, die
verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen würde.
Daher muss ohnehin auf das geltende Recht zurückgegriffen werden.
({7})
Ebenso wie der Berliner Senator Körting, wie Verfassungsexperte Professor Battis und wie Herr Wiefelspütz
von der SPD ist auch die FDP der Überzeugung: Das
geltende Versammlungsrecht reicht aus, um einen Aufmarsch der NPD durch das Brandenburger Tor am
8. Mai zu verbieten. Von den Berliner Behörden erwarten wir, dass sie dieses Verbot aussprechen.
({8})
Diese unerträgliche Provokation hat mit dem Jahrestag
der Beendigung der Naziherrschaft zu tun. Daher dürfen
Neonazis an genau diesem Tag nicht durch das Brandenburger Tor marschieren. Aber wir können nicht schlechthin einen Ort, an dem so viele - auch kommerzielle Veranstaltungen stattfinden, ausgerechnet von politischen Versammlungen freihalten; denn das wäre eine unangebrachte Abwertung politischer Versammlungen und
Demonstrationen.
({9})
Meine Damen und Herren, richtig ist, dass die Versammlungen von Neonazis zum Gedenken an Hitlers
Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel in den letzten
Jahren - im Gegensatz zu früher - von Gerichten gestattet worden sind. Sie, Rot-Grün und CDU/CSU, versuchen nun, dem mit einer Änderung des Strafrechts entgegenzuwirken. Da in meiner Heimatstadt jahrelang
Bundesparteitage der DVU und der NPD stattfanden und
auch ich dagegen demonstriert habe, sage ich ausdrücklich: Ich wünsche den geplagten Bürgern von Wunsiedel, dass sie nicht mehr alljährlich von Tausenden
Rechtsextremisten aus ganz Europa heimgesucht werden. Aber die FDP hat erhebliche Zweifel, dass dies
durch die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes
zu gewährleisten ist; denn sein Wortlaut gibt dafür nichts
her.
Erst in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes wird
erwähnt, dass die Verherrlichung von Personen aus
der NS-Zeit strafwürdig ist. Wir werden sehen müssen,
ob sich Gerichte damit zufrieden geben, dass Sie das,
was Sie eigentlich regeln wollen, in die Begründung des
Gesetzestextes schreiben. Warum haben Sie das, was Sie
wollen, nicht in den Gesetzestext selbst geschrieben?
Deswegen sage ich: Dieser Versuch ist untauglich.
({10})
Da Ihre Vorschläge teils unnötig, teils untauglich sind,
stellt sich die Frage: Lohnt sich im Sinne von
Montesquieu dieser Aufwand, wenn auf der anderen
Seite Risiken und Nebenwirkungen zu befürchten sind?
Sie wissen genau: Kein Sachverständiger in der Anhörung wollte die Hand dafür ins Feuer legen, dass alles
das in Karlsruhe Bestand haben wird. Hierin liegt ein Risiko.
({11})
Und es ist nicht die erste verfassungsrechtlich problematische Gesetzgebung der rot-grünen Koalition in dieser Legislaturperiode. Ich erinnere zum Beispiel an das
Luftsicherheitsgesetz; ich erinnere an die automatisierte
Kontenabfrage oder auch an einzelne Elemente der so
genannten Antiterrorgesetzgebung. Das ist die politische
Nebenwirkung, auf die wir als Liberale aufmerksam machen: Dieser Bundestag gewöhnt sich daran, immer
mehr in Grundrechte einzugreifen. Das ist in jedem Einzelfall vielleicht sogar noch plausibel begründbar, aber
in der Summe ist es unserer Meinung nach eindeutig zu
viel.
({12})
Die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sind von fundamentaler Bedeutung
für jede Demokratie. Wenn also ein Eingriff in Art. 5
und Art. 8 des Grundgesetzes nicht zwingend erforderlich ist, dann sollte man es lieber bei der geltenden
Rechtslage belassen. Aber Sie gehen mit Ihrem heutigen
Gesetzesbeschluss einen Schritt weiter, in Richtung
Gesinnungsstrafrecht und Gesinnungs-TÜV im Versammlungsrecht.
({13})
- Jawohl, genau so ist es.
({14})
Es ist doch gerade die freiheitssichernde Funktion der
Grundrechte, andere Meinungen und ihre öffentliche Demonstration zuzulassen und zu ertragen, soweit nicht die
Menschenwürde Dritter verletzt wird.
Ich erwähne das aus folgendem Grund: Jeder neue
Grundrechtseingriff ist eine gefährliche Gratwanderung. Dem ersten Schritt folgt dann leicht ein zweiter.
Ich muss schon daran erinnern: Wir hatten hier im
Hohen Hause auch schon Vorschläge zu diskutieren, wonach Versammlungen zu verbieten seien, die dem außenpolitischen Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
schaden. Jeder erkennt: Wenn aus diesem Grund schon
Versammlungen verboten werden dürften, wäre das offenkundig mit dem Grundsatz der Meinungsfreiheit unvereinbar. So etwas steht heute nicht zur Abstimmung,
aber dies zeigt: Es gibt auch solche weiter gehenden
Ideen hier im Bundestag. Deswegen ist es richtig, heute
hier den Anfängen zu wehren.
({15})
Sie werden sehen, dass die Ausweisung versammlungsfreier Orte in sehr großer Zahl vorgenommen werden wird. Ein Bundesland hat schon jetzt, ehe das Gesetz
erlassen worden ist, angekündigt, dem Landesgesetzgeber 17 Orte vorzuschlagen, die versammlungsfrei sein
sollen. Das zeigt: Es wird nicht dabei bleiben, dass nur
ausnahmsweise einzelne Orte von herausragender historischer Bedeutung versammlungsfrei gestellt werden.
Wenn das geschieht, was wir befürchten, dann ist dies
nicht mehr mit der Brokdorf-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar, wonach man den Ort
einer Demonstration frei wählen darf.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es gibt eine
große Gemeinsamkeit hier im Parlament, den Rechtsextremismus politisch zu bekämpfen.
({16})
Aber es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass
juristische Maßnahmen in diesem politischen Kampf gegen Rechtsextreme wenig bringen. Das haben wir doch
beim gescheiterten NPD-Verbotsverfahren gesehen.
({17})
Wir als FDP sind der Überzeugung, dass man Rechtsextremismus nicht dadurch wirksam bekämpft, dass man
das für alle Bürgerinnen und Bürger geltende Versammlungsrecht einschränkt. Daher ist die von Ihnen vorgeschlagene Verschärfung des Versammlungsrechts der
falsche Weg in der Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Kollegin Cornelie SonntagWolgast, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Man sieht: Ein Wechselbad der Kommentare begleitet
unsere heutige Debatte. Die einen, Herr Kollege Stadler,
vermissen den „Aufstand der Anständigen“ und die anderen werfen uns Hysterie oder Eiferertum vor und verlangen mehr Gelassenheit.
Ich will uns einmal vor Augen führen, welche Situation wir antreffen. Die rechtsextreme Szene hat weiterhin Zulauf. Seit Jahren organisieren ihre Rädelsführer
Aufmärsche, gegen die sich die Bürger wehren müssen,
mit Gegenkundgebungen, mit bunten Festen, so geschehen in Elmshorn, Nortorf, Passau, Wunsiedel und vielen
anderen Orten. Die NPD festigt ihre Strukturen in Sachsen: Sie wird professioneller und entwickelt eine geradezu perfide Sachkenntnis in Rechtsfragen. Mit dem
Eklat im Dresdner Landtag Ende Januar hat sie die Leitmelodie der Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in ihrer Weise intoniert. In München entlarvt der
Prozess gegen Führungskader der so genannten Kameradschaft Süd einen geplanten Anschlag bei der Grundsteinlegung für das jüdische Zentrum als Gruppenaktion.
In Brandenburg wurden soeben junge Neonazis wegen
Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist die Lage.
Deshalb bin ich nicht gelassen und ich finde es richtig,
dass wir etwas tun. Wir sind auf dem richtigen Weg,
Herr Kollege Stadler.
({0})
Um Ihr Wort „Wehret den Anfängen!“ aufzunehmen: Ich
habe geschildert, welche Anfänge wir meinen und wogegen wir uns mit den Mitteln der Demokratie zur Wehr
setzen wollen.
({1})
Es wird keine Gesinnungsverfolgung geben. Wir werden es weiterhin erleben müssen, dass Rechtsextremisten böswillig die Geschichte verzerren, dass sie sich auf
ihre wirre Art zum Anwalt der angeblich sozial Entrechteten aufspielen, dass sie mit Antiglobalisierungssprüchen auf die nationalistische Pauke hauen. Das alles
muss eine gefestigte Demokratie ertragen. Denn die
Grundprinzipien der Freiheit gelten auch für diejenigen,
die sie zerstören wollen.
Aber eine gefestigte Demokratie muss Grenzen ihrer
Toleranz ziehen können. Die verlaufen dort, wo Unsägliches in Unerträgliches mündet. Das ist dann der Fall,
wenn dem hohen Gut der Meinungs- und Versammlungsfreiheit etwas gleichermaßen Schützenswertes gegenübersteht: die Würde der Opfer der NS-Diktatur.
Das ist das Signal, das wir heute setzen. Herr Kollege
Stadler, das Versammlungsrecht geht nicht zugrunde,
wenn Neonazis nicht grölend am Mahnmal für die ermordeten Juden vorbeiziehen dürfen, weil das unter
Strafe steht. Es wird auch nicht beschädigt, wenn einer,
der die Untaten der Nationalsozialisten billigt oder bejubelt, bestraft werden kann.
Das Städtchen Wunsiedel wird Jahr für Jahr von Tausenden Rechtsradikaler aus ganz Europa heimgesucht
- so kann man ruhig sagen -, die dort mit wachsender
Beteiligung einen Rudolf-Heß-Glorifizierungsmarsch
veranstalten.
Ich habe schon im vergangenen Sommer gemeinsam
mit meinen Kolleginnen Petra Ernstberger und Gabriele
Fograscher darauf gedrängt, den Kommunalpolitikern
und vielen anderen, die sich dagegen zur Wehr setzen,
bei ihren Protestaktionen Schützenhilfe zu leisten. Ich
fand es eindrucksvoll, wie sich eine 30- bis 40-köpfige
Delegation aus Bürgermeister und Landrat, Vertretern
von Schulen und Kirche nach Berlin auf den Weg
machte, um uns im Innenausschuss in Wort und Bild ihre
Nöte zu schildern. Wir haben das eindringliche Plädoyer
des Wunsiedeler Landrats bei der Expertenanhörung
erlebt und uns dann die Köpfe darüber zerbrochen, wie
wir ihnen zu einem verfassungsfesten Verbot dieser perfiden Treffen verhelfen können. Eine Garantie dafür liefert unser Vorschlag zur Verschärfung des Strafrechts
nicht, aber immerhin eine erleichterte Handhabe. Mein
ausdrücklicher Respekt gilt allen Wunsiedelern, die sich
für ihre Sache so hartnäckig ins Zeug gelegt haben.
({2})
Ich freue mich, dass unsere Gesetzesänderung eine so
breite parlamentarische Mehrheit findet. Das ist ein
gutes Signal der wehrhaften Demokratie. Eines ist allerdings auch klar: Nach getaner Gesetzesänderung dürfen
wir uns bestimmt nicht aufs Ruhekissen legen: Das Gedankengut der rechtsextremen Wirrköpfe und die Ansteckungsgefahr, gerade für junge Leute, ist keineswegs gebannt. Es mag ja sein, dass Angst und Unsicherheit dafür
den Nährboden bilden können. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir müssen auch immer wieder deutlich
machen: Kein noch so trister Alltag, keine noch so
schwierige Suche nach Arbeit oder Ausbildung rechtfertigt es, sich den Antisemiten, den Rassisten und den Verfassungsfeinden anzuschließen.
({3})
Gott sei Dank sind viele Bürger wachsamer und sensibler geworden. Sie sind gemeinsam mit uns allen dazu
aufgerufen, mit Argumenten und Aktionen gegenzusteuern: in den Familien, in den Sportvereinen, in den Jugendzentren und vor allem in den Schulen. Das alles ist
eine nachhaltige Aufgabe. Es gibt jede Menge Vorschläge, Ideen und Möglichkeiten des Engagements.
Stützen wir zum Beispiel das Bündnis für Demokratie
und Toleranz und sorgen wir als Parlamentarier dafür,
dass die Bundesprogramme „Civitas“ und „Entimon“
finanziell dauerhaft auf einer verlässlichen Grundlage
stehen!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben keine
„Lex 8. Mai“ gemacht, aber dieses Datum wird die Bewährungsprobe für das zivile Engagement im demokratischen Rechtsstaat.
Wir haben mit gutem Grund und bestätigt durch die
Experten im Hearing davon abgesehen, die Bannmeile
zu verändern und das populärste Bauwerk Berlins zum
politikfreien Raum zu machen. Ich bin mir ziemlich sicher - ziemlich! -, dass am 8. Mai keine Fahnen der
Jungen Nationaldemokraten am Brandenburger Tor flattern werden. Ich hoffe, das ist mit einer guten Portion
pragmatischer und sachkundiger Begründung zu verhindern.
Mindestens ebenso wichtig ist aber auch die Präsenz
der demokratischen Öffentlichkeit. Viele Menschen
müssen dastehen: Alte und Junge, Unbekannte und Prominente, vor allem auch die Meinungsführer aus Politik,
Kunst, Wirtschaft, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und Sport. Sie müssen sich den Krakeelern und
Hetzern, wenn sie denn da sein sollten, friedlich und ruhig entgegenstellen und sagen: Wir besetzen diesen öffentlichen Raum und ihr habt keine Chance, weder am
Brandenburger Tor noch anderswo.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich erteile das Wort dem Bayerischen Staatsminister
des Innern, Günther Beckstein.
({0})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}):
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren,
Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Die Innenminister der Länder haben sich in den vergangenen
Jahren immer wieder mit der Frage des Versammlungsrechts beschäftigt. Insbesondere hat es die Innenministerkonferenz bereits am 24. November 2000 für geboten erachtet, Versammlungen verbieten zu können, die
gegen die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit gerichtet sind und
insbesondere die Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlichen oder verharmlosen.
Das Versammlungsrecht, das wir als ein elementares
Grundrecht kennen und schätzen, hat in der Tat eine
große Bedeutung. Wir wissen um die engen Zusammenhänge zwischen der Meinungsfreiheit und dem Versammlungsrecht. Das Versammlungsrecht stellt gerade
für denjenigen, der keine großen Gelegenheiten hat,
seine Meinung über die Medien kundzutun, eine Möglichkeit dar, in der Demokratie Einfluss zu nehmen. In
unseren juristischen Seminaren in der Ausbildung haben
wir deswegen gelernt: Das Versammlungsrecht ist die
Pressefreiheit des kleinen Mannes.
({2})
Trotzdem ist auch dieses wichtige Recht selbstverständlich nicht schrankenlos.
({3})
Es gibt in mehreren Ländern, gerade aber auch bei
uns in Bayern, Erscheinungen, die als außerordentlich
problematisch angesehen werden müssen.
({4})
Es ist außerordentlich unerfreulich, wenn die Polizei in
eine Auseinandersetzung geschickt werden muss und gezwungen ist, eine Versammlung zu schützen, weil einerseits Rechtsextremisten demonstrieren und andererseits
Linksextremisten und Autonome das verhindern wollen.
Insbesondere die Einstellung der jungen Polizisten - es
gibt ja nicht nur die 50-jährigen Polizeibeamten - wird
durch Sprechchöre wie „Deutsche Polizisten schützen
Faschisten!“ außerordentlich beeinträchtigt. Das ist sehr
unerfreulich.
({5})
Jedes Jahr im August kommen Tausende von Rechtsextremisten aus ganz Europa nach Wunsiedel. Dort
müssen dann zwangsläufig natürlich auch Tausende von
Polizeibeamten eingesetzt werden, um die Gegendemonstrationen von Bürgerlichen, die für die freiheitliStaatsminister Dr. Günther Beckstein ({6})
che Demokratie eintreten, zu schützen und die Trennung
zwischen den Rechtsextremen und den Autonomen bzw.
den Leuten, die dem linksextremen Bereich zuzuordnen
sind, sicherzustellen. Die Stadt befindet sich dann quasi
in einem Bürgerkriegszustand, wie das der Bürgermeister von Wunsiedel immer wieder dargestellt hat.
Herr Kollege Körper hat mit mir an einer eindrucksvollen Veranstaltung in Wunsiedel teilgenommen und
erlebt, wie das die Bürger sehen, die im August ihre
Häuser zusperren und zum Teil die Stadt verlassen, weil
sie derartige Erscheinungen nicht miterleben wollen. Ich
meine, jeder muss sehen, dass hier Grenzen überschritten werden und dass der Staat zu reagieren hat, damit
sich die überwiegende Mehrzahl der Bürger vom Staat
nicht verlassen fühlt.
({7})
Herr Kollege Stadler, ich bin davon überzeugt, dass
auch Sie hier die Notwendigkeit einer Regelung betonen
würden, wenn Sie dies in Wunsiedel selbst miterlebt hätten. Denn es ist eben nicht gelungen, mit Versammlungsverboten diesen Aufmarsch zu verhindern. Die Verbote,
die vom Landratsamt äußerst sorgfältig begründet worden sind, haben mehrfach gehalten. Aber durch sich seit
2000 laufend verschärfende Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts sind mehrfach OVG-Entscheidungen aufgehoben worden. Darum halte ich es für eindeutig, dass der Gesetzgeber reagieren muss, um das,
was er für wünschenswert hält, durchzusetzen.
({8})
Wir haben deswegen als Innenminister den Vorgang
begleitet, um Vorschläge in diesem sensiblen Bereich zu
erarbeiten, und im Herbst des vergangenen Jahres abschließende, übereinstimmende Vorschläge vorgelegt.
Wir waren dann etwas überrascht, dass es Monate gedauert hat, bis die Bundesregierung reagiert hat. Im November hatte der Bundesinnenminister angekündigt,
dass kurzfristig ein Vorschlag gemacht werde.
({9})
Dieser Vorschlag ist dann von Frau Zypries und Herrn
Schily vorgelegt worden; das haben wir begrüßt.
Ich war etwas überrascht, als Rot-Grün dann die eigene Regierung zurückgepfiffen hat. Das ist schon erstaunlich.
({10})
Immerhin haben die Justizministerin und der Bundesinnenminister Regelungen vorgestellt, die mit den Bundesländern erarbeitet und allseits als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen worden sind. Dass solche
Regelungen dann zurückgepfiffen werden, ist erstaunlich; allerdings nicht nach den Erlebnissen, die wir in der
Vergangenheit hatten. So etwas ist nämlich immer wieder einmal passiert. Wir meinen aber, dass die Regelungen, die jetzt gefunden wurden, in die richtige Richtung
gehen. Sie kommen jedoch spät, sind gehetzt und nur
halbherzig. Trotzdem stimmen wir ihnen zu, weil es in
die richtige Richtung geht.
Die erste Änderung betrifft das Strafgesetzbuch. Allerdings fehlt in der entsprechenden Vorschrift - § 130
Abs. 4 - der Begriff der Verharmlosung. Ich verstehe
nicht, warum es dagegen so große Bedenken gegeben
hat.
({11})
Denn in § 130 wird der Begriff der Verharmlosung bereits heute verwendet, und zwar unbeanstandet.
({12})
- Wenn er auf die Frage des Holocaust Anwendung finden soll, dann verstehe ich nicht, warum ein solcher
Begriff im Zusammenhang mit der Verherrlichung der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft plötzlich problematisch sein soll. Denn wenn der Begriff unscharf ist,
ist er auch bei der Frage des Holocausts unscharf. Deswegen verstehe ich das nicht.
Ich sage: Es wäre richtig gewesen, in § 130 Abs. 4
den Begriff „Verharmlosung“ mit aufzunehmen und einen entsprechenden Tatbestand unter Strafe zu stellen,
sodass dies dann im Bereich des Versammlungsrechtes
Wirkung entfaltet.
({13})
Ich meine, auch die Risiken im Zusammenhang mit
Wunsiedel könnten bei einer solchen Regelung eher begrenzt werden, als das jetzt der Fall ist. Ich hoffe sehr,
dass die jetzt getroffene Regelung auch für Wunsiedel
ausreichend ist. Denn in der Tat: Wenn der Hitler-Stellvertreter ohne jede Kritik sozusagen verherrlicht wird,
dann ist das auch eine Verherrlichung der Gewaltherrschaft. Aber es sind jetzt durchaus Gestaltungsformen
möglich, durch die ein Einschreiten sehr schwierig wird.
Wir müssen hoffen, dass Gerichte dem Rechnung tragen,
was der Gesetzgeber gewollt hat. Ich will hier ausdrücklich festhalten, dass das gesamte Hohe Haus die Absicht
hat, mit der jetzt zu treffenden Regelung gerade auch die
Demonstrationen der vergangenen Jahre in Wunsiedel
für verbotsfähig zu erklären. Das ist für uns ganz wichtig
und gewissermaßen der Ausgangspunkt, um dieser
Regelung zustimmen zu können.
({14})
Man hätte sicher leichter zum Ziel kommen können,
wenn man ausdrücklich auch den Begriff der Verharmlosung aufgenommen hätte. Denn dann wäre meines Erachtens kein Zweifel mehr möglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen,
auch die zweite Regelung, die sich mit den befriedeten
Orten beschäftigt, geht aus meiner Sicht zwar in die
richtige Richtung, ist aber durchaus verbesserungsfähig.
Jetzt wird eine Regelung getroffen, die das Brandenburger Tor nicht erfasst. Aber das betrifft nicht den Freistaat
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({15})
Bayern; darum möchte ich mich nicht in erster Linie damit beschäftigen.
({16})
Es betrifft jedoch jedes Bundesland, wenn Bilder dieses
deutschen Symbols in einer Weise durch die Welt gehen,
die wir so nicht wollen.
Meine Ausführungen sollen sich schwerpunktmäßig
mit der Anwendung für die Zukunft beschäftigen. Es
heißt, dass Gedenkstätten von historisch herausragender,
überregionaler Bedeutung befriedete Orte sind. Was in
diesem Zusammenhang „historisch herausragend“ bedeutet, ist nicht ganz einfach zu erläutern. Ist das Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände in
Nürnberg etwas historisch Herausragendes, ist das von
überregionaler Bedeutung? Die Beantwortung dieser
schwierigen Fragen überlassen Sie den Ländern, schränken sie aber insoweit ein. Ich bin allerdings froh darüber,
dass die Länder die Möglichkeit bekommen, weitere
Orte festzulegen. Ich bedauere es jedoch, dass dies nur
mit einem förmlichen Gesetz möglich ist; denn gerade
die Abgrenzung hätte ein Verordnungsgeber ohne weiteres besser als der förmliche Gesetzgeber durchführen
können.
Insgesamt geht diese Verschärfung des Versammlungsrechts in die richtige Richtung. Deswegen stimmen
wir zu. Wir müssen uns mit dem Rechtsextremismus
massiv auseinander setzen. Derzeit läuft in München der
Prozess gegen die „Kameradschaft Süd“ und Herrn
Wiese. Ich füge hinzu: Deren Straftaten konnten, so die
Polizei, nur durch Maßnahmen des großen Lauschangriffs, die heute nicht mehr zulässig wären, verhindert
werden.
({17})
Wir haben hier ganz bewusst Maßnahmen des großen
Lauschangriffs eingesetzt. Nur dadurch konnten diese
Straftaten verhindert werden.
Wir brauchen die Auseinandersetzung mit den
Rechtsextremisten. Allerdings ist eine Auseinandersetzung mit dem Extremismus insgesamt notwendig; denn
Rechtsextremismus und Linksextremismus sind oft nah
beieinander. Die Person des Herrn Mahler führt das eindrucksvoll vor. In dieser Auseinandersetzung ist das vorliegende Gesetz ein Baustein. Aber selbstverständlich
brauchen wir darüber hinaus weitere Maßnahmen, die
wir gemeinsam auf den Weg bringen werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ströbele,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Morgen, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Stadler, das war nicht in
Ordnung: Wider besseres Wissen haben Sie hier behauptet, uns gehe es um Gesinnungsstrafrecht oder etwas
Ähnliches. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir verbieten keine Gesinnung. Das wollen wir nicht, das können wir nicht und das dürfen wir nicht. Nicht einmal die
Gesinnung von Neonazis wird verboten.
Es gibt aber Gesinnungen, die dann, wenn sie geäußert werden, die Würde anderer Menschen dermaßen
verletzen, dass das strafwürdig ist.
({0})
Es kann doch nicht sein, dass wir alle uns dagegen wehren können, wenn wir im Privatleben beleidigt werden,
also unsere Würde angegriffen wird, es aber straffrei
bleibt, wenn im öffentlichen Raum - auf Versammlungen oder öffentlichen Veranstaltungen - die Würde von
Opfern nationalsozialistischer Gewalt und Willkürherrschaft dramatisch verletzt wird. Hier müssen wir mit
gleichem Maß messen und dies unter Strafe stellen.
({1})
Das, was wir an Änderungen vornehmen, ist keine
Verschärfung des Versammlungsgesetzes, sondern es
geht uns bei den beiden Vorschriften, im Strafgesetzbuch
und im Versammlungsgesetz, um den besseren Schutz
der Würde der Opfer des Nationalsozialismus, um
nichts anderes. Das ist richtig und wichtig. Auch in Zukunft wird es in Deutschland keine demonstrationsfreien
Zonen geben. Das gilt auch für das Holocaust-Denkmal.
Auch dort dürfen Versammlungen und Aufzüge stattfinden. Sogar Neonazis dürfen dort demonstrieren. Was sie
aber nicht dürfen, ist, in einer Art und Weise oder mit Inhalten zu demonstrieren, die die Würde der Opfer verletzen. Dagegen wehren wir uns und dagegen richten sich
die Klarstellungen im Versammlungsgesetz und die
neuen Bestimmungen im Strafgesetzbuch. Um nichts anderes geht es hier.
Herr Kollege Stadler, Sie wissen, dass in der Anhörung hier im Deutschen Bundestag auch von den Sachverständigen gesagt worden ist: Wenn wir als Schutzgut
die Würde der Opfer entsprechend der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts aufnehmen, dann sind
solche Regelungen, wie wir sie jetzt im Strafrecht und in
das Versammlungsrecht einführen, zulässig.
({2})
Sie sind dann nach dem Grundgesetz hinnehmbar. Das
entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwa zur Leugnung des Holocaust. Auf dieser
Ebene bewegen wir uns. Deshalb kann man diese Gesetze, wie wir sie heute einbringen und im Bundestag
verabschieden werden, durchaus vertreten.
Ich sage den Kolleginnen von der PDS: Es kann nicht
sein, dass Sie mit den Antifas zu Gegendemonstrationen
zu Neonaziaufmärschen aufrufen und auf entsprechenden Veranstaltungen verlangen, dass Demonstrationen
dieser Art verboten werden, sich aber dann, wenn im
Bundestag die gesetzlichen Voraussetzungen dafür präzisiert werden sollen, dagegen aussprechen. Das ist nicht
ehrlich und das ist nicht folgerichtig. Das ist widersprüchlich. Da sollten Sie Ihre Auffassung einmal überprüfen.
({3})
Hier geht es jetzt ausdrücklich und ausschließlich um
den Schutz der Opfer des Nationalsozialismus, nicht
mehr - wie es früher einmal im Gesetzwurf vorgesehen
war - um die Opfer anderer Völkermorde. Das haben
wir extra herausgenommen, um in der Diskussion nichts
durcheinander zu bringen.
({4})
Deshalb: Zeigen Sie, dass Sie Antifaschisten sind und
stimmen Sie diesem Gesetz zu!
({5})
Jetzt komme ich zu dem Antrag der Union. Wir wollen keine Bannmeile um das Brandenburger Tor. Wir
lehnen auch den neuen Antrag zur Erweiterung des befriedeten Bereichs über den jetzigen Bereich hinaus rund
um das Brandenburger Tor herum ab. Wir verteidigen
das Demonstrationsrecht an diesem wichtigsten Ort in
Deutschland. Wir sagen allen, die vielleicht jetzt in der
Diskussion nicht mehr auseinander halten können, was
sie in Zukunft dürfen und was sie nicht dürfen: Wer am
Brandenburger Tor morgen, übermorgen oder in den
nächsten Jahren demonstrieren will, der kann dort demonstrieren. Er kann dort uneingeschränkt demonstrieren und nicht unter anderen Voraussetzungen, als sie
heute schon gegeben sind.
({6})
Auch in Zukunft ist es nicht notwendig - so wäre es
nach Ihrem Gesetzentwurf -, dass die Leute etwa beim
Bundesinnenminister um Erlaubnis fragen müssen, ob
sie am Brandenburger Tor demonstrieren dürfen.
({7})
Das wollen wir nicht. Wir wollen diesen Demonstrationsort für alle erhalten. Wir sind die Verteidiger des uneingeschränkten Demonstrationsrechts und das werden
wir bleiben.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir haben bisher eine
Auseinandersetzung über die unterschiedliche Bewertung eines Gesetzesvorhabens gehabt. Wir sollten uns allerdings nicht auf ein Niveau begeben, bei dem denjenigen, die diesem Gesetz nicht zustimmen, mangelnder
Wille unterstellt wird, gegen Extremismus und braunen
Geist vorzugehen, Herr Kollege Ströbele.
({0})
Ich jedenfalls möchte Ihre Formulierung „Zeigen Sie,
dass Sie Antifaschisten sind und stimmen Sie diesem
Gesetzentwurf zu!“ für die FDP in aller Entschiedenheit
zurückweisen. Wir sind gegen jeden Extremismus und
gegen jeden Faschismus, übrigens nicht nur gegen den
von rechts, sondern auch, Herr Kollege, gegen den von
links. Trotzdem stimmen wir diesem Gesetzentwurf
nicht zu.
({1})
Zu einer Reaktion haben Sie jetzt Gelegenheit, Kollege Ströbele.
({0})
Herr Kollege Westerwelle, wenn Sie genauer zugehört hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass ich mich
dagegen gewehrt habe, dass der Kollege Stadler uns vorgeworfen hat, wir würden mit diesem Gesetz Gesinnungsstrafrecht betreiben.
({0})
Dagegen wehre ich mich, weil es nicht wahr ist und weil
ich weiß, dass der Kollege Stadler weiß, dass das nicht
wahr ist. Das hat mit Gesinnungsstrafrecht nichts zu tun.
Wenn ich hier die Aufforderung ausgesprochen habe,
dass die Kolleginnen von der PDS, die sich als Antifaschisten bezeichnen, diesem Gesetz zustimmen müssen,
wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden wollen, dann
hat das überhaupt nichts damit zu tun, dass ich irgendjemanden in eine braune Ecke stellen will, Sie schon gar
nicht.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich
Herr Westerwelle nicht zur Intervention gemeldet hätte,
hätte ich die Gelegenheit genutzt, das richtig zu stellen.
Dass er sich gemeldet hat, entbindet mich von dieser
Pflicht. So muss das sein. Auf der anderen Seite - das
gebe ich auch zu -: Der Begriff Gesinnungsstrafrecht
- selbst wenn Sie, Herr Stadler, gesagt haben, das sei ein
Schritt in diese Richtung - dient nicht dazu, ein bisschen
das Timbre herunterzusetzen.
({0})
Meine Damen und Herren, Innenminister Beckstein
hat eben schon gesagt, wir diskutierten hier nicht zum
ersten Mal die Frage, wie das Versammlungsrecht verschärft oder verändert werden kann. Ich meine, wir haben einen unbestimmten Rechtsbegriff in § 15 des Versammlungsgesetzes. Danach sind Versammlungen zu
verbieten oder an Auflagen zu binden, wenn sie gegen
die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen. Nun
ist das ein weites Feld für die Kasuistik sowohl der
Instanzgerichte als auch des Bundesverfassungsgerichts. Wir versuchen seit geraumer Zeit, bei diesem unbestimmten Rechtsbegriff ein bisschen Butter bei die
Fische zu tun, ihn mit Fleisch anzufüttern. Deswegen ist
jetzt in § 15 des Versammlungsgesetzes etwa ein Verbot
von Versammlungen insbesondere an bestimmten Orten
vorgesehen.
Nun muss ich sagen: Die Anhörung in der letzten Woche - jeder nimmt offenbar irgendeinen für sich als
Kronzeugen - hat die breite Palette aller Auffassungen
dargelegt.
({1})
Ich erinnere mich an Herrn Battis, der gesagt hat, er
könne sich auch vorstellen, dass es bei der geltenden Gesetzeslage bleibt. Dann gab es andere, die gesagt haben,
es hätte gereicht, wenn man nur an der Schraube des
Versammlungsrechts gedreht hätte. Übrigens wäre das
auch mir näher gekommen. Die - nicht extreme - ganz
andere Position ist, sowohl das Versammlungsrecht als
auch das Strafrecht zu ändern. Das ist der Gesetzentwurf, den wir heute hier beraten und dem wir auch zustimmen.
Meine Damen und Herren, wo sind die Vor- und
Nachteile? Das soll hier heute keine Rechtsvorlesung
sein, sondern wir machen Rechtspolitik. Dennoch muss
man, um das einmal den Leuten klarzumachen, sagen,
wo die Gefahren liegen. Sicherlich wäre es unseriös,
heute hier aufzutreten und zu sagen: Mit diesem Gesetzentwurf ist ein für alle Mal jeder Aufmarsch der Nazis
unterbunden; er ist verfassungsfest und auch gerichtsfest. - Damit würden freilich falsche Begehrlichkeiten
geweckt und wir liefen Gefahr, wenn es keinen Bestand
vor den Gerichten hat, noch schlechter dazustehen als
jetzt; denn es ist nichts schlimmer, als wenn ein Politiker
vollmundig von der Verfassungsmäßigkeit redet und hinterher die Verfassungswidrigkeit attestiert bekommt.
({2})
Andererseits dürfen wir aber auch nicht bei jedem
verbleibenden Rest an Bedenken sofort unsere legislatorischen Maßnahmen runterschrauben auf null, quasi gebannt wie das Häschen vor der Schlange nach Karlsruhe
oder auch zu den Instanzgerichten schauen: Wird das
wohl Bestand haben? Alle Sachverständigen haben gesagt, eine Garantie, dass das vor dem Verfassungsgericht
hält, könnten sie nicht geben. Sie dürften sie auch gar
nicht geben, denn in Deutschland gibt es nur eine einzige
Institution, die feststellen kann, ob etwas verfassungswidrig ist oder nicht: Das ist das Bundesverfassungsgericht. Selbst dort ist in den Senaten die Entscheidung
nicht immer unisono, sondern - wir wissen es alle - wir
haben knappe Entscheidungen von vier zu vier über fünf
zu drei bis sieben zu eins, acht zu null. Die gesamte Palette ist möglich. Niemand soll für sich in Anspruch nehmen, er hätte nun die Weisheit für sich gepachtet.
Meine Damen und Herren, gerade das Bundesverfassungsgericht hat in seiner neueren Rechtsprechung zum
Versammlungsrecht eine Grenze des Versammlungsrechts in den Strafgesetzen gesehen. Nur warne ich davor, grundrechtswidrige Eingriffe etwa dadurch rechtfertigen oder nobilitieren zu wollen, dass man sie einfach
unter Strafe stellt. Die bloße Pönalisierung von Verhalten, auch von Meinungsäußerungen, wird nicht deshalb
grundrechtskonform, weil man es unter Strafe stellt. Allerdings ist hier doch etwas anders gemacht worden,
Herr Stadler: Man hat es nicht dabei bewenden lassen,
die bloße Artikulation von Meinungen strafbewehrt werden zu lassen, sondern man hat den Tatbestand um zwei
Erfolgsmerkmale ergänzt, nämlich die Störung des öffentlichen Friedens und die Verletzung der Menschenwürde. Da gibt es eigentlich an der Verfassungsmäßigkeit keine signifikanten Bedenken. Ich will mich jetzt
nicht selbst einreihen und sagen, ob es verfassungsmäßig
ist oder nicht, obwohl ich eben gesagt habe, außer dem
Bundesverfassungsgericht könne das keiner machen. Es
gibt aber keine durchgreifenden Bedenken. Das ist allerdings durchgängig von den Gutachtern auch gesagt worden, namentlich von Herrn Professor Poscher, von Herrn
Nack und von den anderen auch.
Ich sehe eine kleine andere Schwierigkeit, bedingt dadurch, dass ich hauptberuflich damit sowohl in der Exekutive als auch in der Judikative bereits befasst war,
nämlich die Frage: Wie soll eigentlich ein Beamter in einer Versammlungsbehörde prognostizieren, ob ein Aufmarsch und eine Versammlung der Neonazis - erstens den öffentlichen Frieden stört, und das - zweitens - in
einer die Würde der Opfer verletzenden Weise?
Ein Strafgericht kann das besser, weil es eine Ex-postBetrachtung vornimmt. Da wird durch den Staatsanwalt
ermittelt. Es gibt einen Referendar, der das Votum vorbereitet. Dann beugen sich drei Berufsrichter darüber.
({3})
Dann gibt es einen Anwalt, dann wird Beweis erhoben.
Im Nachhinein ein Verhalten als strafwürdig zu betrachten ist sehr viel einfacher - obwohl es sicherlich noch
schwierig genug ist -, als es prospektivisch beispielsweise durch einen Oberinspektor einer Ordnungsbehörde gerichtsfest machen zu lassen, und zwar weniger
verfassungsgerichtsfest als instanzgerichtsfest; denn zuerst kommen die Verfahren, in denen es um Verbotsverfügungen geht, die mit Widerspruch angegriffen werden,
und in denen einstweiliger Rechtsschutz beantragt wird,
vor die Instanzgerichte. Das endet in der Regel vor dem
OVG oder dem VGH. Dann muss quasi in einer Nachtund-Nebel-Aktion - das Gericht hat oft nicht viel Zeit,
weil die Demonstrationen meistens samstags stattfinden - bei summarischer Würdigung der Sach- und
Rechtslage entschieden werden, ob einstweiliger Rechtsschutz gewährt wird oder nicht. Das ist schwierig.
Wir müssen dem Gesetz trotzdem eine Bewährungschance geben. Wir können natürlich am grünen Tisch
leicht alles abwägen. Aber was sollen wir den Leuten in
Wunsiedel sagen? Herr Kollege Dr. Friedrich - Frau
Sonntag-Wolgast hat schon einen anderen Betroffenen
genannt -, Sie sehen fast täglich, was dort los ist, wir
nicht. Der Kollege Bosbach hat Recht: Wir befinden uns
zwischen Szylla und Charybdis. Entweder kann man uns
vorwerfen: „Ihr lasst euch im Wettlauf mit den Gutmenschen um die beste Lösung gegen die Naziaufmärsche
treiben“ oder es heißt: „Ihr schaut tatenlos zu, wie sich
diese braune Brut kampflos wieder entwickelt.“ In diesem Spannungsbogen mussten wir tätig werden und wir
sind tätig geworden. Ich selber möchte die Verfassungswidrigkeit und die Aufhebung durch Instanzgerichte
nicht herbeireden. Vielmehr möchte ich den Gerichten
und den Behörden die Gelegenheit geben, zu überprüfen,
ob sich dieses Gesetz bewährt oder nicht. Wenn wir keines machen, dann bleibt alles, wie es ist. Nach der momentanen Gesetzeslage - de lege lata - werden eben
nicht alle diese Dinge ausgeschlossen; denn sonst gäbe
es ja keine Gerichtsentscheidungen, mit denen nachträglich Verbotsverfügungen aufgehoben wurden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie es uns bei aller
juristisch-dogmatischen Feinziselierung doch einmal
darauf ankommen, wie sich das Gesetz in der Praxis bewährt. Neben der Juristerei müssen natürlich die mündigen Bürger - davor habe ich keine Bange - zeigen, wer
die Mehrheit im Staate hat und dass Rechtsextremisten
und Linksextremisten bei uns in Deutschland absolut in
der Minderheit sind und auf politischem Wege bekämpft
werden müssen. Wenn das nicht hilft, müssen die Exekutive und die Judikative flankierend tätig werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern,
Otto Schily.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Zuerst gilt es den erfreulichen Sachverhalt festzustellen,
dass unter den Parteien Einmütigkeit darüber herrscht,
dass die Versammlungsfreiheit zu den elementaren Bestandteilen unserer Verfassungskultur und - wir können
das sogar noch weiter fassen - der europäischen Verfassungskultur gehört. Wir verdanken der Versammlungsfreiheit den Aufwuchs des Rechtsstaates und der
Demokratie in Europa. Deshalb haben alle diejenigen
Recht, die diese Verfassungskultur hochhalten und verteidigen.
Eine kleine Fußnote: Wer den Anspruch erhebt, sich
irgendwann einmal unter das Dach der europäischen
Verfassungskultur zu begeben, muss sehr darauf achten,
dass Frauendemonstrationen nicht brutal niedergeschlagen werden, wie es in der Türkei geschehen ist.
({0})
Ich will die Gelegenheit nutzen, mich bei Herrn Kollegen Bosbach für seine Äußerungen ausdrücklich zu bedanken, genauso wie bei Frau Kollegin Köhler, die mich
auf eine schlimme, antisemitische und rassistische Publikation in der Türkei aufmerksam gemacht hat. Es ist
nicht mit der europäischen Rechtskultur zu vereinbaren
und nicht zu dulden, dass ein Blatt in der Türkei die
deutsche Regierung oder ein Mitglied des deutschen Parlaments - in diesem Fall ist Frau Kollegin Köhler betroffen - beleidigt. Auch das halte ich für unmöglich.
({1})
Ein weiterer erfreulicher Sachverhalt ist, dass sich die
großen demokratischen Parteien hier aufeinander zubewegt haben. Zu einer respektvollen politischen Auseinandersetzung gehört, dass wir auch diejenigen achten,
die eine andere Auffassung - der Kollege Stadler hat es
hier vorgemacht - vertreten. Ich finde, das gehört sich
so. Wir sollten niemandem, der diesem Gesetz nicht zustimmt, unterstellen, dass er sich von Rassismus und
Rechtsextremismus nicht ebenso scharf abgrenzt. Das
anzuerkennen gehört zu einer fairen Auseinandersetzung.
({2})
Erwartungsgemäß begrüße ich es sehr, dass dieser
Gesetzentwurf heute vorgelegt wird. Er ist gewiss ein
Kompromiss. Sie werden es mir auch nicht verargen,
wenn ich Ihnen nicht vorenthalte, dass ich es eher begrüßt hätte, wenn der ursprüngliche Entwurf von Frau
Kollegin Zypries und mir Zustimmung gefunden hätte.
({3})
Es wäre unehrlich, wenn ich Ihnen das verheimlichen
wollte.
({4})
Ich teile die Auffassung des Kollegen Beckstein, dass
der Begriff der Verharmlosung in der Gesetzgebung in
der Tat schon heute verwendet wird; deshalb sehe ich
keinen Grund, ihn nicht auch hier zu verwenden.
Aber es gibt immerhin eine Verbesserung. Auch das
ist ein Fortschritt. Wir können jetzt nichts tun - Herr
Gehb hat das richtig dargestellt -; dann bleibt es beim
jetzigen Zustand, und zwar mit allen schlimmen Auswirkungen, die wir aus der Rechtsprechung kennen. Hier ist
mehrfach von der Gemeinde Wunsiedel und dem, was
diese Gemeinde Jahr für Jahr ertragen muss, die Rede
gewesen. Ich begrüße ausdrücklich, dass von allen Seiten Solidarität mit der demokratischen Öffentlichkeit
Wunsiedels geäußert worden ist. Das sollte noch einmal
unterstrichen werden.
({5})
Wenn wir jetzt etwas tun, um diesen Menschen Beistand
zu leisten, dann ist das auf jeden Fall besser, als wenn
wir nichts tun.
({6})
Wie Herr Gehb zu Recht gesagt hat, werden wir sehen, ob sich unser Vorgehen in der Praxis bewährt. Man
kann bezweifeln, dass durch unser Tun alles verhindert
wird; aber immerhin kommt ein weiteres Werkzeug zur
Anwendung. Man muss hier ganz schlicht entscheiden:
Ist es besser, es so zu belassen, wie es ist, oder ist es besser, es in diesem Sinne zu verändern? Ich bin eindeutig
dafür, etwas auf der Grundlage des gemeinsamen Gesetzentwurfs zu tun.
Um hier ganz ehrlich zu sein - wir müssen offen miteinander reden -: Ich bleibe dabei, dass es besser wäre
- ich sage das, obwohl man sich als Vertreter der Exekutive hier zurückzuhalten soll -, wenn der Bundestag den
befriedeten Bezirk um das Brandenburger Tor erweitert.
({7})
Ich weiß, dass ich damit eine gegensätzliche Meinung zu
der meiner Freunde in der Koalition vertrete.
Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass der Ansatz,
den ich vertrete, kein Allheilmittel ist; schließlich soll
diese Regelung nur an Sitzungstagen gelten. Aber es
gäbe an diesen Tagen eben eine gewisse Schutzwirkung.
({8})
Ich teile die Ansicht von Herrn Bosbach - ich muss das
hier offen sagen -: Warum soll durch die Regelung über
den befriedeten Bezirk ausgerechnet das Brandenburger
Tor nicht geschützt werden, wenn wir die unmittelbare
Umgebung des Reichstages dadurch schützen? Das ist
nicht zu verstehen.
({9})
Ich muss noch eine kurze Bemerkung an Frau Kollegin Stokar richten.
({10})
Der Kollege Stadler hat seine Rede mit einem wunderbaren Satz von Montesquieu begonnen. Dieser Satz trifft in
diesem Fall auf Sie, Frau Stokar, zu. Natürlich ist die
Einfuhr von Gegenständen, deren Verbreitung in
Deutschland unter Strafe gestellt ist, verboten. Dafür
braucht man kein zusätzliches Gesetz.
({11})
Wir dürfen keine Gegenstände einführen, deren Verbreitung in Deutschland verboten ist. Insofern brauchen Sie
sich keine Sorgen zu machen. Deshalb verweise ich an
dieser Stelle auf Montesquieu.
Das Versammlungsrecht ist das eine, die Zivilcourage
und das beherzte Auseinandersetzen mit Rechtsextremismus und Neonazismus das andere. In diesem Zusammenhang sollten wir einen wichtigen Satz von Cornelie
Sonntag-Wolgast hervorheben. Ich finde, sie hat vollkommen Recht, wenn sie sagt, dass es - neben allen
polizeilichen, gesetzlichen und strafrechtlichen Maßnahmen - sehr entscheidend ist, dass wir die Öffentlichkeit
selbstbewusst für uns als Demokraten in Anspruch nehmen. Das Wichtigste ist, dass die demokratische Öffentlichkeit am 8. Mai hier vollzählig versammelt ist, damit
kein Neonazi auch nur eine Spur breit Raum hat, sich
dort zu bewegen. Die demokratische Öffentlichkeit muss
dort zeigen, was Demokratie bedeutet.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin
Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind fast am Ende dieser Debatte. Mein
Resümee: Wer ständig und überall Neonazis bekämpfen
will - Herr Westerwelle, das will das gesamte Hohe
Haus -, der muss das insbesondere hier, mitten in Berlin,
auch am Brandenburger Tor, tun.
({0})
Ich teile voll Ihre Auffassung, Herr Bundesinnenminister. Auch der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde dieser Stadt, Herr Nachama, der Berliner Kardinal und Gerhard Schröder im Jahr 2000, auf dem
Geburtstag der Gewerkschaft der Polizei, haben dies gefordert.
Ich finde es unverantwortbar - Günther Beckstein,
das gilt nicht nur für Wunsiedel -, in Berlin die Polizei in
das Feuer zwischen linksradikalen Autonomen und
Rechtsradikalen zu schicken und sie so dafür haften zu
lassen, dass Rot-Grün keine Lösung bietet,
({1})
Erwin Marschewski ({2})
obwohl dies möglich wäre. Das hat die Anhörung ergeben.
Einer Erweiterung des befriedeten Bezirks um das
Brandenburger Tor steht - insbesondere nach dem
neuen Entwurf - eben nicht die Verfassungswidrigkeit
„auf der Stirn“. Das steht im Gegensatz zu dem, was Sie,
Herr Kollege, behauptet haben. Die Funktionsfähigkeit
des Parlaments - der Kollege Hartmut Koschyk hat das
beim letzten Mal erläutert - muss nämlich erhalten bleiben. Der Zugang von den Wohnungen, von den Büroräumen und von den Sitzungssälen Unter den Linden muss
garantiert werden. Dies entspricht voll dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Hierdurch würde der durch das
Gesetz eingeräumte Ermessensspielraum nicht auf null
verkürzt, wie es die Bundesjustizministerin beim letzten
Mal gesagt hat.
Ich möchte noch etwas, ich meine, Bedeutenderes,
anführen. Für uns, für die deutsche Bevölkerung ist das
Brandenburger Tor zum Symbol für die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit geworden. Es erinnert an
die Morde des SED-Regimes an der Mauer, am Brandenburger Tor, vor allem an den 30. Januar 1933, mit
dem alles seinen Anfang nahm: Beseitigung der pluralen
Demokratie, Rassismus, Antisemitismus. All das ist
unvereinbar mit den Menschenrechten. Im krassen
Widerspruch dazu stehen die Neonazis, wenn sie ihre
menschenverachtende Ideologie insbesondere am Brandenburger Tor zum Ausdruck bringen. Denn gerade hier,
so meine ich, verletzen sie die Menschenrechte und die
Menschenwürde, die der Opfer nationalsozialistischer
Gewalt und Willkürherrschaft, die aller Demokraten und
vor allem die unserer jüdischen Mitbürger.
Herr Bundesinnenminister, ich teile erneut Ihre Auffassung. Sie haben unter Hinweis auf die Veranstaltung
zur Befreiung des KZs in Auschwitz darauf aufmerksam
gemacht: Welch seelische Schmerzen tun wir diesen
Menschen, gerade den jüdischen Mitbürgern an, wenn
sie dies alles erleben müssen, hier, unmittelbar nebenan?
Das beschreibt doch unsere gemeinsame Verantwortung.
Dass die Verletzung der Menschenwürde, dieses obersten Wertes unserer gesamten Rechts- und Sozialordnung,
ein Versammlungsverbot rechtfertigt, ist doch völlig unbestritten.
Dies sei auch an die Adresse von Karlsruhe gesagt:
Es geht bei dem Gedankengut der Neonazis eben nicht
um politisch missliebige Meinungen, es geht auch nicht
um politisch unerwünschte Anschauungen,
({3})
es geht vielmehr um Vorstellungen - das hat Karlsruhe
auch einmal gesagt; diese Rechtsprechung kenne ich -,
die mit der historisch bedingten Wertordnung des
Grundgesetzes schlechterdings unvereinbar sind, die die
Nazis aber eben hier aktiv, aggressiv und kämpferisch
verfolgen. Weil die Schwelle zum Unrecht mit der
Bekämpfung der Grundordnung von den Neonazis
überschritten wird, werbe ich um Zustimmung für null
Toleranz, wie es auch der Kollege Wiefelspütz beim
letzten Mal gefordert hat ({4})
ob über die Bannmeilenregelung oder über die Konstruktion, die ich Ihnen anbiete. Dies wollen nämlich
viele Menschen, insbesondere viele Berliner.
Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Ströbele:
Was hier nichts nützt, ist bloße Parteitaktik, bloße Ideologie. Ich weiß zwar nicht, ob heute noch alle Grünen
Ihre Meinung teilen, sie seien geradezu geboren aus dem
Recht, zu demonstrieren. Wie dem auch sei: Das Werden
der Union vor 60 Jahren war ebenfalls Demonstration,
wenn auch ein wenig anders:
({5})
Demonstration gegen totalitäres Denken jeglicher Provenienz. Unser Schutzwall dabei war das christliche Menschenbild, die Würde des Menschen, die Sie ansonsten
richtigerweise auch in den Mittelpunkt stellen, sei es bei
den Formulierungen im Versammlungsgesetz, sei es bei
den Regelungen im Strafgesetzbuch in Bezug auf Versammlungen an Gedenkstätten oder anderswo, wie eben
in Wunsiedel beim Kollegen Hans-Peter Friedrich, wo
Nazigewalt und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht
oder gerechtfertigt werden.
Der Vorschlag, den die Koalitionsfraktionen machen,
ist rechtmäßig, Herr Kollege Stadler, weil die Meinungsfreiheit nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt wird und weil es um
den Schutz gleichwertiger herausragender Rechtsgüter
geht. Deswegen ist das, was hier vorgeschlagen wird,
durchaus rechtmäßig, Herr Kollege,
({6})
und, wie ich im Gegensatz zu dem, was gestern Abend
polemisch in der ARD-Sendung „Panorama“ behauptet
worden ist, meine, auch erfolgversprechend. Deswegen
stimmt die Union diesem Gesetzentwurf zu.
Meine Damen und Herren, hektische Tage liegen hinter uns: Es gab ein Versprechen der Koalition und ihres
Kanzlers, daraufhin wurden mehrere Gesetzentwürfe
eingebracht - wir haben darüber gesprochen -, ein von
beiden Verfassungsministerien eingebrachter Entwurf
stieß schon im Vorfeld auf Ablehnung; dann gab es eine
von der Union beantragte Anhörung, die uns alle zum
Nachdenken gebracht hat, und zwar mit Erfolg, denn
beide Seiten, Koalitionsfraktionen und Union, sind aufeinander zugegangen. Für mich und für meine Fraktion
geht diese Einigung - Sie wissen das -, insbesondere
was die Regelungen zum Brandenburger Tor anbetrifft,
nicht weit genug. Aber das kann sich, so lehrt meine
langjährige Erfahrung in diesem Parlament, noch ändern. Wie vieles, wird sich das auch noch ändern - ich
teile da völlig die Meinung des Herrn Bundesinnenministers -, weil wir darin übereinstimmen, dass die Freiheit des Andersdenkenden ein hohes Gut ist, aber diese
Freiheit in unserer wehrhaften Demokratie dort ihre
Grenze finden muss, wo das menschenverachtende
Gedankengut der Nazis wieder Platz zu greifen droht.
Das dürfen wir nirgendwo und niemals zulassen, meine
Erwin Marschewski ({7})
Damen und Herren, insbesondere nicht an diesem
8. Mai.
Herzlichen Dank.
({8})
Herr Kollege Koschyk hat mir vorhin zugerufen, dass
das Ihre 125. Rede im deutschen Parlament war, Kollege
Marschewski. Respekt!
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
Aufmarsch der NPD, ausgerechnet am 60. Jahrestag der
Befreiung vom Faschismus, ausgerechnet am Brandenburger Tor, ist schwer hinnehmbar und soll verhindert
werden.
({0})
Das ist Konsens. Deshalb begrüßt die PDS auch, dass
sich das breite Berliner Bündnis für ein Europa ohne
Rassismus reaktiviert hat und dass auch alle Parteien im
Bundestag zu Zivilcourage, Frieden und Demokratie
aufrufen wollen.
({1})
Denn das entscheidende Signal gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus kann niemand
anders geben als die Gesellschaft selbst, die Bürgerinnen
und Bürger.
({2})
Die PDS unterstützt das ausdrücklich.
Heute geht es hier um staatliche Sperren, um Änderungen im Versammlungs- und Strafrecht. Sie sollen
rechtsextreme Aufmärsche verbieten helfen. Dazu gab
es am Montag eine Anhörung von Experten. Dabei
warnten nahezu alle vor leichtfertigen und schwerwiegenden Eingriffen in Grundrechte der Verfassung, konkret in das Recht auf Versammlungsfreiheit und in das
Recht auf Meinungsfreiheit. Nach der Anhörung wurden
die ursprünglichen Vorschläge modifiziert.
({3})
- Das gebe ich gerne zu, Frau Kollegin. Ich würdige hier
gerade, dass wir alle klüger geworden sind und jetzt modifizierte Vorschläge auf der Tagesordnung haben.
Es bleiben drei Vorschläge: Die CDU/CSU will den
befriedeten Bezirk rund um den Bundestag ausweiten,
SPD und Grüne wollen das Strafrecht konkretisieren und
die Bundesländer sollen Gedenkorte benennen, an denen
die Würde der Opfer nicht demonstrativ verhöhnt werden darf.
Eine Ausweitung der so genannten Bannmeile oder
des befriedeten Bezirks lehnen wir ab. Sie wäre zweckfremd und unbotmäßig.
({4})
Sie träfe übrigens auch demokratische Initiativen, die am
Brandenburger Tor für ihre Rechte demonstrieren. Wer
das dennoch fordert, setzt sich dem Verdacht aus, auch
diese Einschränkung zu wollen.
({5})
Wir lehnen ebenso ab, dass Gedenkstätten von besonderer Bedeutung benannt werden; denn damit würden zugleich Gedenkstätten sowie Opfer erster und
zweiter Klasse definiert und es würden dort Einfallstore
für Nazidemonstrationen geöffnet, wo das Präventivverbot nicht gilt.
({6})
- Frau Kollegin, das haben wir in der Praxis alles schon
erlebt.
So weit erst einmal in aller Sachlichkeit zu zwei der
hier vorliegenden Vorschläge.
Nun zu Ihnen, Herr Kollege Ströbele. Sie meinten,
definieren zu können, wer Antifaschist ist, nämlich nur
derjenige, der beim Nachdenken zu Ihren Schlüssen gekommen ist und Ihrem Gesetzentwurf zustimmt. Das erlebe ich in letzter Zeit immer öfter, wenn wir hier über
Bürgerrechte reden, zum Beispiel wenn Sie hier plötzlich die Verlängerung des Lauschangriffes begründen
oder Ihre Meinung zum Luftsicherheitsgesetz darlegen.
Ich sage Ihnen deutlich: Die PDS versteht sich als antifaschistische Partei. Meine Kollegin und ich verstehen uns
als Antifaschistinnen, ganz egal ob wir uns am Holocaust-Mahnmal befinden, an der Gedenkstätte der Sozialisten in Lichtenberg oder auf dem Friedhof in Marzahn,
wo das Sammellager für die Berliner Sinti und Roma
während der Olympischen Spiele eingerichtet wurde,
und das gilt auch für den Alltag.
({7})
- Ich gehe auch nach Hohenschönhausen, Herr Kollege
Koschyk, vielleicht viel öfter als Sie.
({8})
Wir verstehen uns als Antifaschisten und brauchen nicht
die Belehrung von Herrn Ströbele, wer hier der richtige
Antifaschist ist.
Ich sage Ihnen noch etwas - das habe ich Ihnen gestern schon gesagt -: Die PDS im Bundestag könnte der
Konkretisierung im Strafrecht zustimmen, vorausgesetzt, SPD und Grüne würden hier heute eine Einzelabstimmung zulassen. Darum haben Sie sich offensichtlich
nicht gekümmert.
Grundsätzlich bleibt die PDS im Bundestag allerdings
bei ihrer Kritik. Solange das Thema Rechtsextremismus
vorwiegend im Innen- und Rechtsausschuss und mit umstrittenen Paragraphen behandelt wird, so lange agieren
wir am Ende des Problems und nicht an den Wurzeln.
CDU/CSU, SPD und Grüne haben sich seit Wochen viel
mit Aktionismus selbst unter Druck gesetzt. Eine gründliche, ressortübergreifende Debatte mit dem Ziel der
politischen Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Ächtung von Rechtsextremismus gab es bislang
nicht. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis, das wir uns
allesamt im Bundestag heute ausstellen müssen.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Hermann Bachmaier,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich
wäre es besser, wenn wir solche Gesetze, deren Änderung wir heute beraten und beschließen, erst gar nicht
brauchen würden. In diesem Punkt gebe ich Herrn
Stadler durchaus Recht. Wir wissen natürlich, dass die
Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus und
mit denjenigen, die zynisch und menschenverachtend
die Gewalttaten der Nazis verherrlichen, in erster Linie
politisch erfolgen muss. Menschenverachtung und
Dummheit kann man nicht mit dem Strafrecht und mit
dem Versammlungsrecht aus der Welt schaffen.
Wir können aber auch nicht tatenlos zusehen, dass auf
der Würde der Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft buchstäblich mit Füßen herumgetrampelt wird. Das kann und darf ein Gesetzgeber
nicht zulassen.
({0})
Es ist eine der vornehmsten Aufgaben des Gesetzgebers,
die Meinungsfreiheit zu schützen. Er muss aber auch
derart menschenverachtende Umtriebe verhindern.
Wir wissen - darauf hat uns bis in die jüngste Zeit nicht
zuletzt das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe
grundlegender Entscheidungen hingewiesen -, dass uns
aufgrund der Meinungsfreiheit manches zugemutet werden kann. Meinungsfreiheit ist in unserem Lande aber nur
dann gewährleistet, wenn wir bereit sind, auch Meinungen zu ertragen, über die wir nicht nur den Kopf schütteln
können, sondern die uns bisweilen geradezu unerträglich
erscheinen. Da gebe ich meinen Vorrednern völlig Recht.
Wie wir in der Anhörung erfahren konnten, geht das
Bundesverfassungsgericht beim Schutz der Meinungsfreiheit sogar so weit, dass Art. 5 des Grundgesetzes
auch noch solche Meinungsäußerungen in seinen Schutz
mit einbezieht, die im Widerspruch zur Werteordnung
der Verfassung stehen. Es gibt also einen sehr weit reichenden Schutz der Meinungsfreiheit.
Dennoch kann in einer Werteordnung, wie sie das
Grundgesetz vorgibt, auch der sehr weitgehende Schutz
der Meinungsfreiheit nicht grenzenlos sein. Art. 5 des
Grundgesetzes nennt als Schranken die allgemeinen Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der
Jugend und das Recht der persönlichen Ehre - man
könnte auch sagen: Würde.
Wenn wir nunmehr neben § 15 des Versammlungsgesetzes vor allem auch § 130 des Strafgesetzbuches behutsam ergänzen, so knüpft das an diesen Rahmen des
Art. 5 an. Das Strafgesetzbuch setzt Grenzen. Meinungsfreiheit darf nicht genutzt werden, um Volksverhetzung
zu betreiben und dadurch die Würde der Opfer zu beschädigen. Wer die heutige Fassung des so genannten
Volksverhetzungsparagraphen im Strafgesetzbuch liest,
wird vor allem auch im Lichte mittlerweile erfolgter
rechtsradikaler Aufmärsche und so genannter Heldenund Opfergedenken erkennen, dass dieser Straftatbestand dringend der Ergänzung bedarf.
Aufbauend auf dem ursprünglichen Vorschlag der
Justizministerin und des Innenministers haben wir deshalb nach sehr intensiven Beratungen, die sicherlich in
kurzer Zeit erfolgten, und unter Mithilfe von Verfassungs- und Strafrechtsexperten jetzt mit dem neuen
§ 130 Abs. 4 des Strafgesetzbuches eine recht gute, wie
ich meine, und höchstwahrscheinlich verfassungsfeste
Lösung gefunden. Sicher kann man sich diesbezüglich
nie sein. Es besteht für den Gesetzgeber immer das Risiko, dass das Bundesverfassungsgericht bestimmte Regelungen in einem neuen Lichte sieht. Der Gesetzgeber
muss aber diesen Mut zum Handeln aufbringen.
Die gefundene Lösung bietet eine Chance, denjenigen
das Handwerk zu legen, die unter Ausnutzung der Meinungsfreiheit die Würde der Opfer verhöhnen. Wir haben dabei peinlich darauf geachtet, dass wir den bewusst
weiten Rahmen, den die Freiheitsordnung der Bundesrepublik der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gewährt, nicht überschreiten. Wer die nationalsozialistische
Gewalt- und Willkürherrschaft in einer die Würde der
Opfer verletzenden Weise billigt, verherrlicht oder rechtfertigt und dadurch den öffentlichen Frieden stört - insofern ist das kein Meinungsdelikt, Herr Stadler, sondern
ein Erfolgsdelikt, wie die Juristen zu sagen pflegen -,
({1})
kann sich in Zukunft für sein menschenverachtendes
Treiben nicht auch noch auf den Schutz des Grundgesetzes berufen. Das war unser Ziel.
({2})
Deshalb muss es neben dem Schutz besonders hervorgehobener Orte des Gedenkens auch einen Schutz vor
allen Formen militanter, zynischer und die Würde der
Opfer verachtender Verherrlichung des Nationalsozialismus geben. Dies ist zwingend geboten. Diesen bisher
nicht hinreichend gegebenen Schutz, der selbstverständlich auch auf das Versammlungsrecht ausstrahlt, soll der
neue Straftatbestand in § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch
bieten. Wir gehen davon aus - das ist schon mehrfach
gesagt worden -, dass die neuen Regelungen auch Orten
wie Wunsiedel weiterhelfen, Orten, die sich Radikale
und Neonazis buchstäblich zur Beute nehmen, um dadurch auf ihr widerliches Geschäft der Verherrlichung
des NS-Regimes aufmerksam zu machen. Ich weiß, wovon ich spreche. Denn die Stadt Schwäbisch Hall in meinem Wahlkreis wird nur deshalb jedes Jahr zum Aufmarschort für dumpfe Parolenschreier, weil sich diese
Stadt aus der Sicht der Rechtsradikalen vor einigen Jahren erdreistet hat, die Wehrmachtsausstellung zu zeigen.
Ich meine, dass wir nunmehr im Rahmen des uns verfassungsrechtlich Möglichen unsere rechtlichen Instrumentarien im Versammlungs- und Strafrecht so geschärft
haben, dass wir in Zukunft den zynischen Herausforderungen auch rechtlich besser begegnen können.
({3})
Trotzdem bleibt die Hauptlast - dies ist gut und richtig so - der politischen Auseinandersetzung überlassen. Es ist Aufgabe von uns allen, die Menschen davon
zu überzeugen, dass eine Verherrlichung des NS-Willkürregimes keine, aber auch gar keine Antwort auf die
Fragen gibt, die uns heute beschäftigen und bedrängen.
Deshalb appelliere ich in diesem Zusammenhang an
uns alle: Auch wenn einige immer wieder einmal versucht sind, den Demokraten die Existenz der Neonazis in
die Schuhe zu schieben, war es bislang eine gute Übung,
dass sich die demokratischen Parteien die Existenz der
Nichtdemokraten und Radikalen nicht gegenseitig zum
Vorwurf machen. Wir sollten vielmehr gemeinsam versuchen, diesen Irrsinn mit allen uns zur Verfügung stehenden, verfassungsrechtlich zulässigen Mitteln einzudämmen.
({4})
Auch deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute die
wohl überlegten Ergänzungen des Versammlungs- und
Strafrechtes weitgehend gemeinsam verabschieden, also
mit den Stimmen der Regierungskoalition und der CDU/
CSU-Fraktion. Auch wenn ich Ihre Meinung, Herr
Stadler, respektiere - wir kennen uns sehr gut; wir unterstellen uns gegenseitig nichts -, würde es mich natürlich
freuen, wenn auch die FDP zustimmen würde. Aber dies
können wir von unserer Seite aus nicht erzwingen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches. Der
Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5051, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU gegen die
übrigen Stimmen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5066. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der
CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der beiden
fraktionslosen Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und
Petra Pau abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 17 b. Abstimmung über den von
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5069, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen,
der FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Andreas Scheuer, Maria Eichhorn, Thomas
Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Jugend in Deutschland
- Drucksache 15/3396 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen, die den Plenarsaal
verlassen wollen, bitte ich, das umgehend zu tun, damit
wir die Beratungen ungestört fortsetzen können.
Präsident Wolfgang Thierse
({1})
Bitte schön, Herr Kollege Scheuer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es wäre gut, wenn die Kolleginnen und Kollegen von
der SPD-Fraktion aufpassen würden;
({0})
dann würden sie die niederschmetternden Zahlen hören,
die die Situation der Jugend in Deutschland deutlich
machen.
Derzeit sind 680 000 Jugendliche arbeitslos. 7,2 Prozent der unter 18-Jährigen sind auf Sozialhilfe angewiesen. Der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss
betrug zuletzt 7,9 Prozent und unter den ausländischen
Jugendlichen sogar 19,2 Prozent. Auf jedes neugeborene
Kind in Deutschland kommen 16 900 Euro Schulden zu.
Es ist kaum verwunderlich, dass knapp die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland die Zukunftsaussichten als
düster beurteilt.
Man muss sich in einer Jugenddebatte sehr eindringlich mit der Politik der zuständigen Frau Ministerin
Renate Schmidt beschäftigen, die heute wegen Krankheit verständlicherweise nicht an dieser Sitzung teilnehmen kann. Wir wünschen ihr gute Besserung.
({1})
Trotzdem wird die Auseinandersetzung mit ihrer Politik recht hart werden. Das kann ich schon ankündigen.
Die Ministerin selber duckt sich weg. Sie ist zwar sonst
rührig im Umgang mit den Medien, aber die Realität
hinsichtlich der Arbeit und der Umsetzung sieht anders
aus. Sie handelt nach dem Motto „Die Jugend einlullen
statt politisch zu handeln“.
({2})
Die Priorität der Politik der Bundesregierung liegt offensichtlich nicht in der Unterstützung der Jugend. Unter
den sehr zahlreichen zu Topthemen erklärten Sachfragen
auf ihrer Homepage kommt die Jugend seit langem nicht
mehr vor. Eine Ausnahme stellt seit gestern die Antwort
auf die Große Anfrage zum Thema Jugend in Deutschland dar. Es ist schon ein Fortschritt, dass auch bei diesem Thema die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung wachgerüttelt hat.
({3})
Ebenso bemerkenswert ist, dass die Jugend auch auf
der Startseite des zuständigen Ministeriums nicht vorkommt. Das ist ein Totalausfall. Im Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht die Jugend somit nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich
an allerletzter Stelle.
({4})
Frau Staatssekretärin, Sie haben längst den roten Faden verloren, der Sie aus der Vogel-Strauß-Politik des
Wegduckens Ihres Ministeriums herausgeführt hat. Wo
ist denn die Ministerin, wenn die Arbeitslosenzahlen
vorgelegt werden? Wo sind die Konzepte zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit? Eigentlich müsste dazu
ein Aufschrei der zuständigen Ministerin im Kabinett erfolgen. Aber nichts dergleichen geschieht.
({5})
Die bayerische Verfassung stellt in Art. 125 treffend
fest: „Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes.“ Wir
stimmen sicherlich alle darin überein, dass dies auch für
die Jugendlichen gilt.
({6})
Darüber sollten wir uns im Bundestag einig sein. Die
CDU/CSU-Fraktion hat der Bundesregierung eine sehr
umfangreiche Große Anfrage mit 225 Fragen zum
Thema Jugend in Deutschland vorgelegt.
({7})
Doch es schien der Bundesregierung schwer zu fallen,
Rechenschaft über ihre eigene Politik abzulegen. Die
Antwort ließ bis gestern und damit neun Monate auf sich
warten - eine wahrhaft schwere Geburt - und wurde erst
kurz vor dieser Debatte am Mittwoch durch das Kabinett
geprügelt.
({8})
Den jungen Menschen in Deutschland wird damit
klar, dass sich die CDU/CSU ihrer Probleme annehmen.
Aber Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, sind
darauf nicht vorbereitet.
({9})
Die Einzelbereiche sprechen eine deutliche Sprache.
Kinder zu haben ist in Deutschland zum Armutsrisiko
geworden. Rund 7 Prozent der Kinder sind Sozialhilfeempfänger. Das ist bitter und peinlich für ein Land wie
Deutschland. Ich verweise in diesem Zusammenhang
auf den Armutsbericht.
Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, den Kindern, Jugendlichen und jungen Familien endlich eine Perspektive zu bieten.
({10})
Zum nächsten Thema: der deutschen Bildungsmisere. Es genügt nicht, sich darüber zu freuen, dass
man nicht mehr unter den Letzten ist. Ziel muss sein,
wieder zu den Besten zu gehören. Das war immer die
Garantie für unseren Wohlstand in Deutschland. Doch
das gebetsmühlenartige Beschwören von PISA und Co.
hat bei der Bundesregierung nur oberflächliche Panikhandlungen bewirkt. Man denke nur an die diffuse Diskussion über Eliteuniversitäten. Der Braindrain, also die
Abwanderung der Talente und der Führungskräfte von
morgen, ist ungebrochen. Die besten Köpfe verlassen
unter Rot-Grün unser Land.
({11})
An diese jungen Menschen kann ich nur den Appell richten: Ab 2006 wird es in Deutschland unter einer unionsgeführten Bundesregierung wieder aufwärts gehen.
Kommt zurück und helft beim Aufschwung mit!
({12})
Zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Erwerbsbiographien
der heutigen Jugendlichen unterscheiden sich gravierend
von denen früherer Generationen. Gute Bildung ist heute
kein Garant mehr für einen Arbeitsplatz. Stattdessen
werden Akademiker, unterstützt von der Bundesagentur
für Arbeit, zunehmend zu Dauerpraktikanten. Wen wundert das angesichts der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage?
In diese Kerbe schlägt das Antidiskriminierungsgesetz. In Wahrheit ist es ein Antiaufschwungs-, ein Antilehrstellen- und ein Antiarbeitsplatzgesetz.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie kapieren es einfach nicht. Wie viele Mühlsteine wollen Sie
dem Standort Deutschland noch umhängen? Sie haben
es zu verantworten, dass den Unternehmen die letzten
noch vorhandenen Anreize, für junge Leute Lehrstellen
zu schaffen, genommen werden. Frau Ministerin, wenn
Sie am Fernseher zusehen, sage ich Ihnen: Kommen Sie
zur Vernunft; denn sonst werden Sie immer mehr zur
Antijugendministerin.
({14})
Ein weiteres drängendes Problem ist die mehr als
mangelhafte Integration ausländischer Jugendlicher,
die Sie nur zu gerne schönreden wollen. Die Schandemorde an jungen Türkinnen hier in Berlin stellen vorläufig den traurigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die
wir seit längerem mit Sorge beobachten. In der gestrigen
Debatte wurde klar: Die Union hat sich dieser Schicksale
angenommen, und das ist gut so.
({15})
Die Bereitschaft der dritten Zuwanderungsgeneration,
sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, nimmt
leider ab bzw. wird in keiner Weise gefördert. Stattdessen scheint gerade bei den Jugendlichen, die wenig
mit unserem Wertekanon, unserer Hausordnung in
Deutschland und unserem Verständnis von Menschenrechten zu tun haben, die Zustimmung zu Praktiken der
Ausgrenzung zu wachsen. Meine Damen und Herren
von Rot-Grün, begreifen Sie endlich, dass sich eine
ethnisch vielfältige Gesellschaft nicht von allein regelt.
Da hilft kein Schönreden, auch dann nicht, wenn man es
noch so oft versucht.
({16})
Ich wünsche mir, dass insbesondere die Kollegin
Claudia Roth - meine Damen von den Grünen, vielleicht
richten Sie ihr das aus - einmal eine empörungsfreie Zeit
einlegt, damit man sachlich und mit kühlem Kopf mit ihr
diskutieren kann,
({17})
was bei ihrem gegenwärtigen Gemütszustand nicht möglich ist.
({18})
Vielleicht haben Sie von den Grünen momentan viel
um die Ohren, weil all Ihre gesellschaftspolitischen Umwälzungen, mit denen Sie unser Land verändern wollten,
wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim weiteren Fortgang des VisaUntersuchungsausschusses.
({19})
Meine Damen und Herren, Parallelgesellschaften sind
längst zur Realität geworden. Hören Sie also endlich auf,
Einzelfälle, die gut verlaufen sind, zu verallgemeinern
und sie ständig als Monstranz vor sich herzutragen. Ich
fordere Sie auf, diesen Jugendlichen endlich eine Identität und Werte zu geben. Ich gebe zu: Das ist sicherlich
schwierig, wenn man selbst als politische Führung mit
diesen Begriffen auf Kriegsfuß steht.
({20})
Damit sind vier von insgesamt 20 Themengebieten
unserer Großen Anfrage beim Namen genannt. Mein
Fazit lautet: Nach sechs Jahren Rot-Grün sind die Kinder und Jugendlichen in unserem Land ärmer: sowohl
materiell als auch an Perspektiven und Chancen. Das ist
sehr traurig. Wir müssen gegensteuern und diesen jungen Menschen endlich Perspektiven geben.
An einem Beispiel sieht man allerdings, wie fahrlässig Rot-Grün handelt. Die Erfahrungen beim Aufbau Ost
zeigen: Man kann es der Jugend in Deutschland nicht
wünschen, dass sie von Rot-Grün zur Chefsache erklärt
wird.
({21})
Wo ist denn der Regierungschef, wenn es um die Jugend
geht? Er schweigt und findet zu diesem Thema keine
Worte.
Meine Damen und Herren, unsere Jugend ist nicht die
so genannte Null-Bock- oder Fun-Generation. Ich bin
von der Kreativität, dem Ideenreichtum und der Eigeninitiative unserer Jugend überzeugt. Allerdings müssen
wir ihr Freiraum lassen, damit sie ihre Eigeninitiative
entfalten kann. Wir müssen ihre Anliegen ernst nehmen
und zukunftsorientierte Rahmenbedingungen in Schulen, Verbänden, Jugendzentren, Behörden und in den
Köpfen schaffen. Die Jugend muss klar sehen - darin
sind wir uns alle einig -, dass es nichts nützt, sein Kreuz
bei extrem rechten oder extrem linken Parteien zu machen oder, statt zur Wahl zu gehen, zu Hause zu bleiben.
Unsere Große Anfrage beweist, dass sich die CDU/CSU
den Problemen unserer Jugend annimmt. Daher kann ich
nur folgenden Appell an die jungen Leute richten: Geht
zur Wahl und wählt CDU und CSU; denn dann wählt ihr
Zukunft.
Herzlichen Dank.
({22})
Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube nicht, dass wir uns irgendwo auf
der Straße im Wahlkampf befinden.
({0})
Deshalb lasse ich die Rede von Herrn Scheuer unkommentiert; es lohnt nicht, sich damit intensiver zu beschäftigen.
Was brauchen Kinder und Jugendliche? Sie brauchen Chancen für ihre Entwicklung; darin sind wir uns
einig. Zu diesen Chancen gehören Freiräume und
Schutz; dazu gehören aber auch Bildung und Erziehung.
Kinder und Jugendliche wollen Teilhabe; dazu brauchen
sie Eltern, Erwachsene und eine Gesellschaft, die ihnen
Spielräume geben. Die Gesellschaft muss ihnen Raum
geben, damit sie ihrer Neugier nachgehen können; denn
- das wissen wir inzwischen - in ihrer Neugier und
Wissbegierde sind die Kleinsten die Größten. Kinder
und Jugendliche brauchen Gelegenheiten, um ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen und in verschiedenen sozialen Beziehungen machen zu können,
mit und in der Familie, mit anderen Kindern, in der
Nachbarschaft, in den Kindertagesstätten, in der Schule,
in der Freizeit. Kinder und Jugendliche brauchen diese
Chancen und Möglichkeiten zum Erleben und zum Erlernen von Anfang an. Damit sind sie auf eine breite Allianz in der Gesellschaft angewiesen.
Was tut die Bundesregierung?
({1})
Wenn Sie die Antworten der Bundesregierung auf die
Große Anfrage gelesen hätten - darüber wollten Sie ja
heute nicht debattieren -, dann wüssten Sie zu dieser
Frage schon einiges.
Ich bin sehr verwundert darüber, dass die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag in ihrer Großen
Anfrage zur nachfolgenden Generation keine einzige
Frage zu früher Förderung und Erziehung, zu Betreuung
und frühkindlicher Bildung gestellt hat.
({2})
Damit ignorieren Sie nicht nur - hören Sie erst einmal
zu; das ist manchmal sehr hilfreich ({3})
wissenschaftliche Erkenntnisse; Sie gehen auch an den
Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Eltern vorbei. Ferner nehmen Sie die Notwendigkeit der frühen
Förderung im Blick auf Schulbildung und Ausbildung
nicht ernst.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheuer?
Nein, im Moment nicht. Herr Scheuer hat hier schon
darlegen können, was er zu sagen hat. Es bedarf also keiner weiteren Frage von ihm.
({0})
Wir brauchen für die Kinder und Jugendlichen eine
bessere und vor allem frühe Erziehung und Bildung der
Kinder in Ergänzung zur Familie, damit die Herkunft
eines Kindes nicht mehr über seine Bildungschancen
entscheidet. Der qualitätsorientierte Ausbau der Kinderbetreuung ist eines der zentralen gesellschaftspolitischen
Vorhaben der Bundesregierung. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz hat die Bundesregierung das Notwendige getan.
({1})
Das Gesetz, das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, war der längst überfällige Schritt zu einer Verbesserung der Tagesbetreuung für die unter Dreijährigen.
({2})
Unser Ziel ist es, für die ganz Kleinen bis 2010 circa
230 000 zusätzliche neue Plätze zu schaffen. Die Zahl
der öffentlich geförderten Tagesmütter und Tagesväter
soll mittelfristig von 10 000 auf etwa 70 000 steigen.
Frau Kollegin, gestatten Sie zwei Zwischenfragen,
von der Kollegin Klöckner und von der Kollegin Lenke?
Nein, ich gestatte im Moment gar keine Zwischenfragen.
({0})
Ich werde das, was ich zu sagen habe, vortragen und
dann haben die Kolleginnen und Kollegen die Chance,
im Rahmen einer Kurzintervention
({1})
- nein, nicht schriftlich - die Fragen zu stellen oder in
ihren Redebeiträgen das darzustellen, was sie in die Debatte einbringen wollen.
In Westdeutschland ist es nötig, die magere Quote
von 2,7 Prozent Krippenplätzen - an dieser Stelle sollten
die Damen und Herren, die jetzt eine Zwischenfrage
stellen wollten, gut zuhören - für die unter Dreijährigen
in den fünf Jahren bis 2010 auf ein bedarfsgerechtes
Niveau zu steigern und in Ostdeutschland die gute und
ausreichende Betreuung zu erhalten. Im Osten nehmen
wir mit dem Angebot an Kinderbetreuung weltweit
einen Spitzenplatz ein,
({2})
wie uns die jüngste OECD-Studie bescheinigt hat. Das
nützt dem Kindeswohl und hilft den Eltern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Betreuung, die
Bildung und die Erziehung - diese Trias wird auch von
der OECD begrüßt: als genau das, was jetzt getan werden muss. Diese Trias gilt jetzt auch in der Kindertagespflege. Der Förderauftrag bezieht sich auf die soziale,
die emotionale, die körperliche und die geistige Entwicklung eines Kindes.
Es ist aber Aufgabe der Länder, Qualitäts- und
Bildungskriterien detailliert zu regeln. Ich bin froh,
dass sich alle Länder auf vorschulische Bildungsziele
verständigt haben und dass die Nationale Qualitätsinitiative unseres Ministeriums mit der Mehrzahl der Bundesländer durchgeführt wird. Das ist übrigens ein gutes Beispiel für funktionierenden Föderalismus: Der Bund gibt
einen verlässlichen Rahmen vor, den die Länder, auch
im Wettbewerb miteinander, ausfüllen. Deshalb ist es gut
und liegt auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen,
dass das Kinder- und Jugendhilferecht in der Zuständigkeit des Bundes liegt.
Meine Damen und Herren, nicht nur Kinder, sondern
auch Eltern brauchen Bildung. Sie haben Fragen und
Beratungsbedarf zur Erziehung ihrer Kinder. Kinder und
Eltern in schwierigen Situationen haben einen besonderen Bedarf an Unterstützung. Sie werden aber durch die
Standardangebote oft nicht erreicht. Das Nebeneinander
verschiedener Hilfsangebote reicht nicht mehr aus. Daher haben wir das Modell „Häuser für Familien und Kinder“ gestartet. Auch bei den lokalen Bündnissen, die
schon an vielen Orten in Deutschland - es gibt inzwischen über 200 - initiiert worden sind, geht es darum,
das zusammenzuführen, was schon da ist, oder aber, Defizite miteinander zu beseitigen und das Engagement
verschiedener Akteurinnen und Akteure vor Ort für die
Kinder und für die Familien zu bündeln.
Kinder und Jugendliche brauchen aber auch mehr
Zeit zum Lernen.
({3})
Jugendliche in Deutschland brauchen neue Räume, brauchen mehr Zeit dafür. Deshalb ist der Kurswechsel in der
Bildungspolitik überfällig gewesen. Entscheidend ist
auch hier eine frühe Förderung von Schülerinnen und
Schülern.
({4})
Gerechte Chancen für alle Kinder
({5})
und Jugendlichen sind nötig, und zwar sowohl für die
Kinder und Jugendlichen aus benachteiligten und aus
Migrantenfamilien als auch für die besonders Begabten
und diejenigen, die einen besonderen Förderbedarf haben. Deshalb hat die Bundesregierung das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ gestartet.
Es ist mit 4 Milliarden Euro das größte je auf den Weg
gebrachte Bildungsprogramm. Bis Sommer 2005 wird es
3 000 neue Ganztagsschulen in Deutschland geben. Die
Ganztagsschulen geben Raum und haben Raum für neue
Konzepte. Das, meine Damen und Herren, ist auch nötig.
Wir haben eben vom Kollegen Scheuer gehört, wie
viele Jugendliche ohne Schulabschluss dastehen. Das ist
ein Problem der Bildungspolitik der Bundesländer. Deshalb war es notwendig, dass die Bundesregierung an dieser Stelle für eine optimale Förderung und Entfaltung
der individuellen Begabung das entsprechende Geld bereitgestellt hat. Notwendig ist jetzt für die gemeinsame
Entwicklung mit den Ganztagsschulen die Kooperationen zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und
Akteuren. Ich zähle hier nur stellvertretend auf: die zwischen der Jugendhilfe und der Schule, die zwischen den
Verbänden und der Schule, aber auch die zwischen Kindertageseinrichtungen und der Schule. Ich kann es auch
anders sagen, sehr viel globaler - Sie alle sind mit aufgefordert -: Was wir brauchen, ist eine nationale Kraftanstrengung für Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss verlassen haben. Deshalb brauchen der Bund,
vor allen Dingen aber die Länder hier einen entsprechenden Kurswechsel.
Wir geben in Deutschland mehr Geld für Bildung und
Forschung aus, als das bisher der Fall war - jetzt ist die
nächste Altersstufe dran, die der Studierenden. Noch
nie hat eine Bundesregierung so viel in Forschung und
Bildung investiert: 2005 allein fast 10 Milliarden Euro.
Denn gute Bildung - das wissen wir alle - ist die beste
Versicherung gegen Arbeitslosigkeit - und auch für eine
funktionierende Volkswirtschaft.
({6})
Erste Erfolge sind sichtbar: Über 2 Millionen junge
Menschen studieren. Die Studierendenquote liegt inzwischen bei 36,5 Prozent. Sie lag einmal bei 28 Prozent.
Das ist ein Erfolg, vor allen Dingen für die jungen
Frauen und die jungen Männer. Damit wird das Ziel, das
die OECD vorgibt - 40 Prozent aller jungen Leute ein
Studium zu ermöglichen - bald erreicht. Entscheidende
Beiträge zu diesen Erfolgen sind die BAföG-Reform, die
neuen Bachelor- und Master-Studiengänge und vor allen
Dingen auch die praxisnähere Ausbildung.
Meine Damen und Herren, ich habe es schon festgestellt: Kinder und Jugendliche sind von Natur aus neugierig und innovativ. Das merken wir besonders deutlich
bei den Schüler- und Jugendwettbewerben. Bei
„Jugend forscht“ gab es 2004 erneut einen Teilnahmerekord, nämlich 8 315 Anmeldungen. Es ist auch interessant, dass davon fast 40 Prozent junge Frauen und
Mädchen waren. Die Unterstützung vonseiten der Bundesregierung lag im Jahre 2004 bei 820 000 Euro. Das
halte ich für gut investiertes Geld, das in der Zukunft
eine wirklich gute Rendite erbringen wird; denn wir wissen, dass die Jugendlichen auch innovative Beiträge geleistet haben, die zum Teil in der Produktion umgesetzt
werden können.
({7})
Wir brauchen besondere Anstrengungen für bessere
und gerechte Chancen auf Arbeit und Bildung. Ich
nenne einige Punkte, die die Bundesregierung in der
Vergangenheit auf den Weg gebracht hat: Beispielgebend sind der Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland und die Erhöhung der
Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung im
Jahre 2004 um 20 Prozent. Damit werden insgesamt
14 000 Ausbildungsplätze vor allem in den neuen Bundesländern finanziert. Außerdem ist es uns durch eine
Modernisierung und Neuschaffung von Ausbildungsberufen gelungen, neue Möglichkeiten für Jugendliche zu
eröffnen. Hier nenne ich besonders die Neuordnung
zweijähriger Berufe, weil wir an diese Jugendlichen besonders denken müssen. Daneben nenne ich noch das
Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus“.
Die Bundesinitiative „wir … hier und jetzt“ in den
neuen Bundesländern möchte ich hier noch besonders
ansprechen, weil diese Initiative von allen Politikerinnen
und Politikern auf den unterschiedlichsten Seiten unterstützt worden ist. Durch diese Initiative wurden die erfolgreichen Programme „Die soziale Stadt“, „Regiokom“, „Soziales Kapital für soziale Zwecke“ sowie die
Plattform „Entwicklung und Chancen junger Menschen
in sozialen Brennpunkten“ - E & C - ergänzt. Diese
Bundesinitiative war sehr erfolgreich. Ich nenne nur
kurz ein paar Zahlen dazu: Durch 416 Projekte in allen
ostdeutschen Bundesländern wurden 13 000 junge Menschen zusammengebracht, die eine regionale Verbundenheit entwickelt haben und denen Perspektiven zum Bleiben in den östlichen Bundesländern aufgezeigt wurden.
Nicht wenige haben aus dieser Initiative heraus einen
Arbeitsplatz gefunden.
({8})
Die Bundesregierung hat mit dieser Initiative einen
Anschub gegeben. Nachhaltigkeit war ein Auswahlkriterium bei der Auftragsvergabe. Zu meiner Freude laufen
jetzt viele Projekte weiter, weil Kommunen oder Länder
die Finanzierung übernommen haben. Zum Teil haben
die Jugendlichen es aber auch geschafft, eine eigene
Finanzkraft zu entwickeln.
Meine Damen und Herren, der Nationale Aktionsplan
„Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“
liegt Ihnen vor. Sie hatten viele Fragen. Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie in diesem Nationalen Aktionsplan nach.
Dort finden Sie alles zu Ihrer Großen Anfrage aufgelistet. Dort steht, was die Jugendlichen in Deutschland
brauchen, was die Bundesregierung schon getan hat und
was sie in Zukunft noch tun wird.
Ich habe mit der Aussage begonnen, auf den Anfang
komme es an. Meine Damen und Herren von der CDU/
CSU, auch bei Ihnen kommt es auf den Anfang an. Fangen Sie also an, mitzutun und Ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, und reden Sie die Jugend
und das, was für die Jugend in Deutschland getan wird,
nicht nur schlecht.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Staatssekretärin, mir sei eine Vorbemerkung gestattet: Wie wichtig Sie in Ihrem Haus die Jugendpolitik
nehmen, zeigt sich daran, dass ich die Antwort auf die
Große Anfrage vorgestern Abend erhalten habe.
({0})
Deshalb sehe ich mich außerstande, Ihre Antwort, die sicherlich klug und weise formuliert ist, in meiner Rede
überhaupt zu berücksichtigen.
({1})
So darf man mit einer Großen Anfrage zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema nicht umgehen.
({2})
Die Rechte und Interessen von Kindern und
Jugendlichen sind im politischen Handeln gegenwärtig
längst noch nicht ausreichend berücksichtigt. Ich glaube,
wir sind uns einig: Wir alle sind gefordert, darauf zu achten, welche Auswirkungen unsere Politik gerade auf die
junge Generation hat. Wir müssen zum Beispiel Kindern
und Jugendlichen ernst gemeinte, auf sie zugeschnittene
und altersdifferenzierte Angebote zur Teilhabe am
politischen und gesellschaftlichen Leben machen.
Für die FDP ist die aktive Einbeziehung und politische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ein
Leitziel, das nur erfolgreich erreicht werden kann, wenn
Scheinpartizipation vermieden wird.
({3})
Alle Vorschläge der Kinder und Jugendlichen sollten
von den politischen Instanzen und sonstigen Entscheidungsträgern wirklich ernsthaft überdacht und im Rahmen der Möglichkeiten umgesetzt werden. Denn Mitwirkung muss Wirkung zeigen.
Die Union spricht in ihrer Anfrage berechtigt die
Frage der Finanzierung von Jugendpolitik an. Dazu
muss ganz klar gesagt werden: Ausgaben für Kinder und
Jugendliche sind Investitionen in die Zukunft.
({4})
Wer hier zu sehr spart, spart an der falschen Stelle und
verursacht damit zum Teil wesentlich höhere Folgekosten.
Allerdings muss Kinder- und Jugendarbeit einerseits
sparsam und effizient und andererseits mit Kontinuität
und Nachhaltigkeit verfolgt werden. Nachhaltigkeit und
Kontinuität sind derzeit durch die Tendenz zu kurzfristiger Projektförderung gefährdet. Langfristiges Engagement ist aber eine wichtige Voraussetzung für die Qualitätssicherung in der Jugendarbeit.
({5})
Die jüngsten beträchtlichen Haushaltskürzungen der Regierungskoalition im Bereich der Jugendverbandsarbeit
stehen dazu im Widerspruch.
({6})
Sie treffen übrigens, Frau Staatssekretärin, insbesondere
die neuen Bundesländer, wo die Verbandsstrukturen
noch im Aufbau oder weniger gefestigt sind.
({7})
Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund ist Herausforderung und - das
betone ich - Chance zugleich. Diese jungen Menschen
können Brücken bilden und Vermittler zwischen den
Kulturen sein. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dürfen aus unserer Sicht nicht nur als Problemfälle behandelt werden, sondern müssen auch in ihren Stärken gefördert werden. Voraussetzung für die
Nutzung dieser Chancen ist eine umfassende Sprachkompetenz. Das Beherrschen der deutschen Sprache
muss in den Fokus der gesamten Bildungslaufbahn rücken. Das gilt insbesondere deshalb, weil Zuwanderer in
unterschiedlichen Lebensphasen nach Deutschland kommen.
({8})
Ausbildung und Arbeit sind für Jugendliche mehr
als nur Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges
Leben. Sie haben auch zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirklichung und die Selbstbestimmung. Die bisherige Politik hat jedoch nicht verhindern können, dass vielen Jugendlichen die Chance, in ein
qualifiziertes und erfülltes Erwerbsleben einzutreten, erschwert, ja sogar verwehrt wird.
Im Februar hatten wir eine Steigerung der Arbeitslosenquote bei jungen Menschen unter 25 Jahren auf
13,6 Prozent, im Osten sogar auf 20,5 Prozent. Fehlende
Ausbildungs- und Berufsperspektiven sind wiederum die
entscheidenden Gründe für die dramatischen Abwanderungszahlen junger Hoffnungsträger aus den neuen Ländern in Richtung Westen. Dies wiederum entvölkert zunehmend ganze periphere Regionen mit allen fatalen
Folgewirkungen wie Wohnungsleerstand, Rückgang von
kommunalen Steuereinnahmen, sinkende Nachfrage,
Rückgang von Investitionen usw.
Jüngst haben sowohl UNICEF als auch der Armutsund Reichtumsbericht den dramatischen Anstieg der
Kinderarmut in Deutschland aufgezeigt. Die Zahl der
Kinder, die von Sozialhilfe leben, ist erneut gestiegen:
um rund 64 000 auf 1,08 Millionen. Die Zahl der von
Armut betroffenen Kinder ist laut UNICEF noch höher
und liegt bei 1,5 Millionen. Das ist ein Armutszeugnis
für unsere Gesellschaft. Die Bundesregierung ist in der
Armutsbekämpfung gescheitert. Arbeitsplätze und Vereinbarkeit von Beruf und Familie - vor allem durch gute
Kinderbetreuungsangebote - sind letztlich die besten
Wege aus der Armut. Beides verspricht die Regierung
seit Jahren, ohne dass wirklich etwas geschieht.
({9})
Fazit: Grundlegende Reformen in der Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind für die Zukunft der
jungen Menschen in Deutschland drängender denn je.
Bildung ist für die späteren gesellschaftlichen Chancen junger Menschen von zentraler Bedeutung. Bildung
ist daher ein wichtiges Ziel der meisten jungen Leute.
Diejenigen Heranwachsenden, die mit den Anforderungen in Schule und Beruf weniger gut zurechtkommen,
fühlen sich benachteiligt, reagieren darauf mit Aggression oder Resignation und sind überproportional häufig
von der Demokratie als Staatsform enttäuscht. Sie waren
beispielsweise bei der Landtagswahl in meinem Ländle
Sachsen das größte Wählerreservoir der NPD.
In vielen Gebieten Ostdeutschlands ersetzen die so
genannten Kameradschaften die im Westen über Jahrzehnte gewachsene soziale Infrastruktur für Kinder und
Jugendliche. Kameradschaften formen das FreizeitverKlaus Haupt
halten der Mitglieder, wobei rechtsextremistische
Grundpositionen gleichsam als weltanschauliche Klammer dienen, die die Gruppenidentität prägt. Viele Jugendliche schließen sich ihnen aus einem Hang zur Provokation an. Aber wenn junge Menschen nicht die
Perspektive haben, sich in den Städten und Gemeinden,
in denen sie zu Hause sind, ihren Lebensunterhalt zu
verdienen und beruflich eine Zukunft zu haben, dann
wird es schwer, die daraus folgenden Frustrationen aufzufangen und die viel beschworene Bürgergesellschaft
zu stärken. Deshalb müssen wir der Jugend Chancen bieten, Talente und Fähigkeiten zu entfalten und eine Aufgabe zu haben.
({10})
Die positive Zukunftssicht der jungen Generation,
die sich etwa in der 14. Shell-Jugendstudie zeigt, darf
auch die Politik optimistisch stimmen. Die Jugendlichen
von heute stellen sich den großen gesellschaftlichen und
persönlichen Herausforderungen mit Pragmatismus,
Fleiß und Ehrgeiz. „Aufstieg statt Ausstieg“ ist das
Motto für die meisten der jungen Generation. Diese Generation kann nach liberaler Auffassung wirklich im
positiven Sinne als die Zukunft unserer Gesellschaft bezeichnet werden.
({11})
Ihren Mut zur Zukunft darf Politik nicht durch Bürokratismus, Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit
behindern,
({12})
sondern muss ihn konsequent und nachhaltig stärken.
Die Regierung ist in der Pflicht, die dazu unabdingbaren
Reformen nicht im Hinblick auf anstehende Wahltermine aufzuschieben, sondern unverzüglich anzupacken.
Danke.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta DümpeKrüger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Große Anfrage der Union zum Thema „Jugend in
Deutschland“ vor dem Hintergrund der 14. Shell-Studie
hat 225 Fragen mit 138 Unterfragen. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht und sie alle zusammengezählt,
was 363 ergibt.
({0})
Die Antwort der Bundesregierung umfasst 265 Seiten.
Ich finde, das Motto „Fragen und Lesen bildet“ kann
durchaus zur Aufklärung beitragen.
({1})
Herr Scheuer, zu Ihrem Beitrag von heute Morgen muss
ich allerdings sagen: Es gehört dazu, dass man sich zumindest mit einigen der eigenen Fragen und auch mit
den Antworten inhaltlich auseinander setzt. Davon habe
ich heute Morgen gar nichts gehört. Das finde ich
schade.
({2})
Zwei Bemerkungen vorab. Die 14. Shell-Studie beweist, dass junge Menschen in Deutschland leistungsbereit, zukunftsorientiert und engagiert sind. Diesen
Schluss zieht auch die Union. Ich finde, das ist schon etwas. Leider entgleist Ihnen dann aber schon der zweite
Satz im zweiten Absatz Ihrer Anfrage - ich zitiere -:
Wenn aber die Politik der Bundesregierung Bedingungen und Zukunftsaussichten für die junge Generation massiv negativ beeinträchtigt, drohen selbst
für optimistische Jugendliche Verunsicherung und
Perspektivlosigkeit.
({3})
Das steht selbstverständlich nicht in der 14. Shell-Studie. Das ist allein die etwas boshafte Herangehensweise
der Union
({4})
nach dem Motto: Wir stellen unsere Fragen so, weil wir
die Antworten gar nicht hören wollen, sondern sowieso
von vornherein wissen.
({5})
Jugendsprachlich formuliert, Herr Scheuer, würde ich
gerade in Ihre Richtung sagen - Sie sind ja der Hauptautor dieser Großen Anfrage -: Das war voll der unterirdische Touchdown.
({6})
Etwas irritiert war ich auch, als ich gesehen habe,
dass die Union in ihren Fragen die Altersgrenze für Jugend fast durchgängig bis 35 Jahre zieht. Grundsätzlich
beschreibt der Begriff Jugend den Zeitraum zwischen
dem Eintritt der biologischen und dem der sozialen Reife
bzw. der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Heranwachsenden. Jugendpolitik vertritt daraus abgeleitet
junge Menschen zwischen dem 14. und 27. Lebensjahr.
Auch das SGB VIII geht davon aus, bei Bedarf Hilfen
bis 27 Jahre zu leisten.
Ich habe mich wirklich gewundert und gefragt, woher
der schleierhafte Ansatz von 35 Jahren kommt. Dann
habe ich nachgelesen, dass die Mitgliedschaft in der Jungen Union mit dem 35. Lebensjahr erlischt. Aus Sicht
von Jugendfachleuten ist das zwar mit Sicherheit nicht
unbedingt SGB -VIII-kompatibel; darauf kommt es Ihnen aber auch nicht an. Es ist aber immerhin eine Erklärung, wie diese unfachliche Zahl in Ihr Papier gekommen ist.
({7})
Ich möchte jetzt zum Bereich des Jugendstrafrechts
kommen. Interessant sind die Fragen zum Jugendstrafrecht, besonders wenn sich die Union um „innovative
Formen von Strafsanktionen“ kümmert.
({8})
- Sie sollten jetzt einmal die Ohren spitzen und zuhören.
Wer die CDU/CSU und ihren ständigen Ruf nach Verschärfungen des Jugendstrafrechts kennt, bei dem gehen
dabei alle Warnlichter an: Sicherungsverwahrung für
Heranwachsende, Warnschussarrest, Erhöhung der
Höchststrafe auf 15 Jahre bis hin zur Herabsetzung des
Strafmündigkeitsalters auf 12 oder 10 Jahre, um nur die
absurdesten Vorschläge zu nennen.
({9})
Das sind dann Ihre so genannten Innovationen.
({10})
Dabei sollten Sie eigentlich wissen, dass Verschärfungstendenzen im Jugendstrafrecht allen fachlichen Erkenntnissen zur Verhinderung von Jugendkriminalität widersprechen. Kern unseres Jugendstrafrechts ist der
Erziehungsgedanke.
({11})
Das oberste Ziel jeder jugendstrafrechtlichen Intervention ist die Vermeidung künftiger Straftaten. Das erreichen wir am besten durch Prävention. Alle Akteure, die
mit jungen Menschen zu tun haben, sind hier gefragt. In
den allermeisten Fällen fehlt es nicht an geeigneten Konzepten, sondern an echtem Willen und ausreichenden
Mitteln für die Umsetzung.
({12})
Ich komme zum Bereich Kinder- und Jugendhilfe,
also zu den Fragen ab 214. Sie wollen wissen, ob die
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in der Lage
sind, die Probleme benachteiligter Jugendlicher zielsicher und effektiv zu bekämpfen. Die Antwort darauf
kann nur sein: Natürlich sind sie dazu in der Lage. Man
muss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Das
SGB VIII stellt die nötigen fachlichen Instrumente zur
Verfügung. Die Träger der Jugendhilfe können darauf
virtuos spielen. Für Missklang sorgen nur diejenigen, die
ihnen die nötigen finanziellen Ressourcen vorenthalten
wollen. Da will ich niemanden scharf angucken.
Hinter der Frage 218, die die Zuordnung junger Volljähriger mit seelischen Behinderungen zum Gesamtsystem der Sozialhilfe und Reha beinhaltet, versteckt sich
eine weitere Begehrlichkeit der Union. Sie wollen nämlich den gesamten Bereich der Hilfen für junge Menschen im Sozialhilferecht regeln. Aus fachlicher Sicht
gehen Sie damit nicht einen Schritt vor, sondern mindestens zehn zurück.
§ 35 a wurde im SGB VIII eingeführt, damit für Kinder und Jugendliche passgenaue Angebote gestrickt werden können, nämlich eine Kombination von medizinischen und pädagogischen Angeboten. Ich bin dafür, dass
wir endlich alle Kinder und Jugendlichen gleich behandeln. Unabhängig von der Art ihrer Behinderung sollten
alle Hilfen über das SGB VIII erhalten. Das wäre eine
Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und darüber sollten wir streiten.
({13})
Ich komme zum Bereich Ehe und nachhaltige Partnerschaft. Interessant ist die Fragestellung der Union,
wie viele Jugendliche, und zwar ausschließlich mit der
Betonung auf deutsche Jugendliche, sich vorstellen können, eine Ehe einzugehen, und ob es hierbei Ost-WestUnterschiede gebe. Ergebnis: Neben der Ehe gibt es - wer
hätte das gedacht? - auch noch andere attraktive Formen
des Zusammenlebens. Familie haben heißt nicht mehr automatisch, dass man verheiratet sein muss. Das meinen
junge Menschen aus den neuen Bundesländern noch häufiger als Jugendliche aus den alten.
Richtig spannend aber wird es in diesem Zusammenhang bei Frage 119 der Union. Da wollen Sie wissen, ob
es Daten darüber gibt, „welcher Anteil deutscher Jugendlicher eine nachhaltige Partnerschaft als notwendig
betrachtet, um Kinder zu erziehen“. Die Bundesregierung sagt hierzu, dass ihr keine Datenquelle mit genau
dieser Fragestellung bekannt ist. Mich hat das nicht gewundert. Ich kannte auch nur nachhaltige Holzwirtschaft, meine Damen und Herren, was ja bedeutet, dass
nur so viel Holz geschlagen wird, wie in derselben Zeit
nachwachsen kann.
({14})
Die Bezeichnung „nachhaltige Partnerschaft“ als Abgrenzung zur Ehe war mir hingegen neu. Aber wenn die
Shell-Jugendstudie dazu beigetragen hat, dass für die
Union 36 Jahre nach Woodstock durch den Begriff
„Nachhaltigkeit“ ein Stück weit die Zeit der freien Liebe
angebrochen ist, dann haben Sie aus familienpolitischer
Sicht endlich etwas Neues am Start.
({15})
Warum haben wir einen Schwerpunkt auf das „Projekt P“ gelegt? Die Antwort ist ganz einfach: Kinder und
Jugendliche brauchen eine starke Stimme, und zwar ihre
eigene. Sie sollen selbst Anwälte ihrer Interessen sein.
Nur so können sie sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln und nur so können anstehende Probleme
am besten gelöst werden. Warum versteht das die Union
nicht?
Sie machen mit der Frage 22 ganz deutlich, dass Sie
nicht verstehen, warum die Bundesregierung die Partizipation fördert, wo das doch - so Ihre Auffassung - bereits die Jugendverbände machen. Sie müssen einfach
einmal zur Kenntnis nehmen, dass es unterschiedliche
Beteiligungsformen gibt. Es gibt die parlamentarischen
Formen, beispielsweise Kinder- und Jugendparlamente.
Es gibt offene Formen, beispielsweise Zukunftswerkstätten. Darüber hinaus gibt es verwaltungsorientierte Formen, beispielsweise Kinderbeauftragte und Kinderbüros.
Schließlich gibt es noch unsere Jugendverbände, die hervorragende Arbeit leisten.
Jede dieser Formen hat ihre Berechtigung und alle gemeinsam sorgen dafür, dass Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird, die bei allen politischen Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Denn
Partizipation und lebendige Demokratie gehören zusammen.
({16})
Ich komme nun auf den Bereich „Programme gegen
Rechtsextremismus“ zu sprechen. Damit sind wir bei
dem Komplex angelangt, bei dem Sie immer wieder wie
Don Quichotte unverdrossen gegen Windmühlen kämpfen.
({17})
Ich sage an dieser Stelle: Setzen Sie sich mit den Antworten der Bundesregierung auseinander! Wer lesen
kann, ist klar im Vorteil. Ich fand die Antworten der
Bundesregierung richtig gut. Die Bekämpfung von
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist ein Schwerpunktthema der Bundesregierung. Es sollte - es ist mir ganz wichtig, an dieser Stelle
darauf hinzuweisen - ein Schwerpunkt aller Demokraten
sein.
Meine Damen und Herren, ich komme leider nicht
mehr zum Thema Migration, das ich mir auch vorgenommen hatte. Es bleibt zu sagen: Meine Damen und
Herren von der Union, mit Ihrer Anfrage haben Sie in
erster Linie zwei Dinge deutlich gemacht: Erstens. Papier ist geduldig. Zweitens. Im Bereich der Jugendpolitik
haben Sie nach allem, was bisher hier zu hören und zu
lesen war, ich will nicht sagen: nichts, aber nicht viel dazugelernt. Darum nutzen Sie die Chance, die Ihnen die
Antwort der Bundesregierung bietet. Lebenslanges Lernen gilt schließlich nicht nur für junge Menschen.
({18})
Danke schön.
({19})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Kretschmer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Woche begann mit einem unangenehmen Zeitungsartikel, der einen Vorfall in einer S-Bahn beschrieb: Eine
junge Frau wurde von fünf Jugendlichen belästigt und
geprügelt und keiner hat reagiert. - Das, was wir gerade
gehört haben, ist eine viel zu einfache Antwort auf diese
Fragen. Man kann nicht einfach den Problemen in der
Jugendpolitik und der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen nur mit Sozialpolitik begegnen. So einfach ist es
eben nicht.
({0})
Wenn wir über Jugendpolitik und über die Frage, wie
es den Jugendlichen in Deutschland geht, reden wollen
und dabei nicht ein Mitglied der Bundesregierung anwesend ist, dann zeigt das, wie wichtig Rot-Grün dieses
Thema nimmt. Ich finde es gut, dass die CDU/CSUFraktion diese Anfrage in ihrer umfassenden Form gestellt hat. Frau Dümpe-Krüger, Ihre Antwort war angesichts der Komplexität des Themas in der Tat zu dumpf
und viel zu einfach.
Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland ist das
Problem noch viel größer als im Rest des Landes. Für
viele hängt von der Perspektive einer Berufsausbildung
alles ab: die Möglichkeit, in der Heimat zu bleiben, eine
eigene Familie zu gründen und sich ein Leben mit selbst
verdientem Geld aufzubauen.
Viele Jugendliche stimmen seit Jahren mit den Füßen
ab. Sie verlassen ihre Heimat. Im Februar 2005 waren
224 000 Jugendliche unter 25 Jahre in den neuen Bundesländern arbeitslos. Trotz Ausbildungspakt und Nachvermittlung haben 4 700 Jugendliche in den neuen Bundesländern bis Ende 2004 keine Lehrstelle gefunden.
174 000 Jüngere sind in Maßnahmen wie JUMP oder in
Berufsvorbereitungen geparkt. Das ist zwar besser als
nichts, aber kein Ersatz für eine Lehrstelle, für eine Berufsausbildung.
Schon längst ist der Wegzug aus Ostdeutschland dramatisch. Aus meiner ehemaligen Schulklasse haben
nicht mehr als drei oder vier einen Ausbildungsplatz in
ihrer Heimat gefunden, der ihnen eine Chance bietet. Die
meisten sind aber weggegangen. Der dadurch bedingte
emotionale Sprengstoff bei Großeltern und Eltern sowie
Freunden ist gewaltig. Die Frustration steigt und wir verlieren unsere Zukunft im Osten. Aber Ostdeutschland ist
zunehmend überall in Deutschland. Perspektivlosigkeit
gibt es auch in anderen Regionen, wenn auch nicht so
flächendeckend und ausgeprägt wie in Ostdeutschland.
Aber wir können an Ostdeutschland ablesen, was auch in
Westdeutschland passieren wird, wenn sich nichts ändert, wenn wir die wirtschaftlichen Probleme unseres
Landes nicht lösen.
({1})
Die Lösung der wirtschaftlichen Probleme ist die
Antwort auf die Frage, wie es mit der Jugend in
Deutschland weitergeht. Seit der Wiedervereinigung haben über 1 Million Menschen Ostdeutschland verlassen.
Davon waren zwei Drittel zwischen 18 und 25 Jahre.
Gegangen sind vor allen Dingen junge, gut ausgebildete
Frauen. Sie bekommen ihre Kinder in Zukunft in Westdeutschland. Die Folgen für unser gesellschaftliches
Klima und die Infrastruktur werden verheerend sein. Solange Sie unfähig sind, die Konjunktur in Schwung zu
bringen, wird sich die Perspektive der Jugend in
Deutschland nicht bessern. Wir brauchen keine Programme wie „wir … hier und jetzt“ zur Förderung des
Heimatgefühls. Wir lieben nämlich unsere ostdeutsche
Heimat.
({2})
- Meine Herren von der Regierung, wenn Sie zuhören
mögen! - Wir brauchen aber Arbeit, damit die Jugend in
Ostdeutschland bleiben kann. Wir haben kein Verständnis dafür, dass Rot-Grün mit Überregulierung und Besitzstandsdenken die Lösung der Probleme unseres Landes verhindert.
({3})
Frau Präsidentin, ist es möglich, dass Herr Staffelt auf
der Regierungsbank Platz nimmt?
({4})
Ich bin gehalten, darauf zu achten, dass von der Regierungsbank aus nicht dazwischengeredet wird. Aber
ich glaube, dass ich Aufstehen nicht verhindern kann
und sollte.
Es ist recht. Aber es ist bei einem solchen Thema eine
Frage des Anstandes, dass man sich voll und ganz dem
Redner widmet und zuhört; denn die Probleme sind in
der Tat gewaltig.
Wenn ich an meine ostdeutsche Heimat denke und die
Lethargie sehe, die weite Teile des Landes im Griff hat,
dann wird mir angst und bange. Ich frage mich, warum
die Bundesregierung nicht längst gehandelt hat.
({0})
Das Institut der deutschen Wirtschaft sagt ganz klar: Die
wirtschaftliche Lage und insbesondere die Lehrstellenlücke sind die Hauptursachen für die Abwanderung. Wir
brauchen deshalb keine Programme, die die Rückkehrbereitschaft fördern sollen. Vielmehr brauchen wir
Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze, damit die Jugend in Ostdeutschland eine Chance hat.
In unserer Großen Anfrage haben wir auch das
Thema Berufsbildungsrecht angesprochen und uns
nach Berufen mit zweijähriger Ausbildung erkundigt. In
Ihrer Antwort, die Sie kontinuierlich verschleppt haben,
sodass sie erst einen Tag vor der heutigen Debatte vorlag
und niemand die Möglichkeit hatte, sie genau zu lesen,
werden Sie diesem Thema nicht gerecht. In der Tat brauchen wir mehr zweijährige Ausbildungen; denn gerade
Jugendliche ohne Schulabschluss oder mit schlechten
Noten haben immer weniger Chancen auf eine Lehrstelle. Die Konkurrenz ist einfach zu gut und zu zahlreich. Deutschland ist das einzige Land mit einer dreijährigen Berufsausbildung zum Tankwart. Wir wollten
das ändern. Wir haben vorgeschlagen, die Stufenausbildung zur Regel zu machen. So könnte eine Verkäuferin
schrittweise zur Einzelhandelskauffrau weitergebildet
werden. Aber Ihre Parteigenossen haben das bei der Novelle zum Berufsbildungsgesetz verhindert; denn die Gewerkschaftsideologen hatten nicht die Jugendlichen,
sondern ihre eigenen Pfründe im Sinn.
({1})
Vom Osten kann man lernen; denn dort werden trotz
eines schwierigen wirtschaftlichen Umfelds - prozentual - mehr Lehrstellen bereitgestellt als anderswo. Doch
dafür ist insgesamt mehr Flexibilität notwendig. Wir
wollten das im Berufsbildungsrecht verankern. Wir
wollten die Stufenausbildung zur Regel machen sowie
eine angemessene und verbindliche Ausbildungsvergütung festlegen. Aber Sie haben die Chancen vertan, mehr
Ausbildungsplätze in kleinen Betrieben zu schaffen.
Wer, wie ich in einem Gespräch mit einer zehnten
Klasse, erlebt, wie niedergeschlagen Jungen und Mädchen nach 30 oder 40 erfolglosen Bewerbungen sind,
den befällt ein kalter Schauer. Diese Jugendlichen sind
beinahe noch Kinder. Was würden Sie antworten, wenn
Jugendliche Ihnen erzählten, sie wollten bei der Prüfung
absichtlich durchfallen, weil noch ein Jahr in der Schule
besser als ein sinnloses Jahr in der Berufsvorbereitung
sei?
Nur eine persönliche Perspektive kann diese Jugendlichen überzeugen.
({2})
Der Wert von Demokratie und Freiheit ist für die Jugendlichen mit einer beruflichen Chance unmittelbar
verbunden. Sie wollen arbeiten; sie wollen ihr Geld
selbst verdienen. Aber statt neuer Ideen sendet die Bundesregierung immer mehr verheerende Signale in den
Osten. Der Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit soll eingestellt werden. Die
Bundesagentur sagt: Arbeitslose über 55 sollen nicht
mehr vermittelt werden. Die Jugendlichen fragen sich:
Sind wir die Nächsten? So wird es nichts mit dem Aufbau Ost und so wird es uns auch nicht mehr gelingen,
diesen jungen Leuten eine Perspektive zu schaffen.
Das muss uns aber gelingen. Wir müssen eine andere
Politik machen, eine Politik, die jungen Leuten in
Deutschland und vor allen Dingen in Ostdeutschland
eine Chance gibt. Wir müssen die jungen Leute zurückholen und ihnen sagen: Ihr habt eine Chance. Schreibt
euch nicht ab, wir kümmern uns um euch!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Bätzing.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen hier im Deutschen Bundestag
zur besten Sendezeit über die Jugendpolitik in Deutschland.
({0})
Ich hoffe sehr, Herr Kretschmer, dass möglichst viele,
vor allem junge Menschen diese Debatte verfolgen. Ich
bin der Auffassung, dass Ihre Polemik heute Morgen
völlig fehl am Platz ist.
({1})
Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen; denn ich bin
Ihnen für Ihre Große Anfrage an die Bundesregierung
zur Jugendpolitik in Deutschland eigentlich dankbar.
Getreu dem Motto „Wer nicht fragt, bleibt dumm“ hoffe
ich sehr, dass nicht nur Sie von der Opposition, sondern
vor allem viele Jugendliche die Antworten lesen werden.
({2})
Jugendpolitik ist für uns eine Politik für das Kostbarste, wofür wir Verantwortung tragen: für unsere Zukunft. Alles, was in jungen Jahren gesät wird, werden
wir ernten: Erfolge und Misserfolge. Daher sind wir alle
hier gemeinsam in der Pflicht, für die jungen Mitglieder
unserer Gesellschaft Zukunftschancen zu sichern. Ein
Markenzeichen sozialdemokratischer Jugendpolitik ist,
dass wir junge Menschen ernst nehmen. Wichtig war
und ist uns, dass wir Politik nicht nur für, sondern auch
gemeinsam mit den jungen Menschen machen.
({3})
Denn wer kennt die Nöte, die Ängste und die Bedürfnisse von Jugendlichen besser als sie selbst? Genau darum haben wir unsere Beteiligungskampagne ins Leben
gerufen.
Damit sind wir beim Thema Partizipation. Partizipation ist ein oft bemühtes Wort, das wir mit Leben gefüllt
haben.
({4})
Was heißt überhaupt Partizipation? Partizipieren bedeutet laut Duden: etwas abbekommen, teilhaben. Was bekommen die Jugendlichen also ab? Wir wollen junge
Menschen für die Kernwerte einer demokratischen Gesellschaft gewinnen. Dazu gehören Toleranz und Mitgestaltung. Wir wollen der Entwicklung, dass immer mehr
Jugendliche demokratischen Institutionen, Parteien und
Repräsentanten gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen, entgegentreten. Daher müssen wir den Teufelskreis durchbrechen, der entsteht, wenn sich Jugendliche
nicht beteiligen, weil Politik von oben gemacht wird,
und wenn Politik von oben gemacht wird, weil sich Jugendliche nicht beteiligen.
Wir wollen junge Menschen dafür begeistern, sich in
ihre Angelegenheiten einzumischen. Kurzum, wir wollen, dass sie mitmischen. Wir wollen ihr Vertrauen gewinnen. Genau an dieser Stelle setzt das „Projekt P“ an:
„P“ steht für Partizipation und für Politik. Ich muss sagen: Ich bin ein großer Fan von diesem Projekt; denn es
funktioniert.
({5})
Mit dieser Initiative lernen junge Menschen, dass jeder Einzelne Einfluss nehmen kann. In mehr als
200 Projekten haben sich bereits 6 000 Jugendliche engagiert. Dass dieser Erfolg in knapp anderthalb Jahren
erzielt werden konnte, liegt sicherlich auch an der hervorragenden Kooperation mit unseren erfahrenen Partnern, dem Deutschen Bundesjugendring und der Bundeszentrale für politische Bildung.
({6})
Aber nicht nur Junge können hier lernen, sondern
auch Erwachsene und damit auch Sie, meine Damen und
Herren. Oftmals fehlt den Erwachsenen der Mut, Verantwortung an junge Menschen abzugeben und mit ihnen
auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Genau das ist
zum Beispiel beim Projekt „Come in Contract“ möglich - der Beitrag der Jugendverbände zum „Projekt P“.
({7})
Hier entstehen Lernpartnerschaften zwischen Jugendlichen und politischen Instanzen. Ich selbst habe Verträge mit dem schwul-lesbischen Jugendnetzwerk
Lambda und mit dem Kreisjugendring meines Wahlkreises geschlossen. Die Professionalität und die Bereitschaft der Jugendlichen, Verantwortung zu übernehmen,
haben mich bei beiden Gruppen begeistert.
({8})
Bei dem Projekt in meiner Heimatstadt Altenkirchen
wird vor allem deutlich, dass gerade durch die projektbezogene Förderung - unabhängig von bestehenden
politischen Organisationen - junge Menschen erreicht
werden können, die noch nie vorher mit politischem Engagement in Berührung gekommen sind. Ich habe zum
Beispiel einen Vertrag mit einer Gruppe von Cheerleadern, Mädchen von 9 bis 17 Jahren, zur erweiterten Nutzung der örtlichen Turnhalle geschlossen. Auch das mit
Erfolg. Diese hatten vorher noch nie Kontakt mit Politik
gehabt. Hier haben sie zum ersten Mal ernstes Interesse
für ihre Anliegen erfahren. Mit diesen Beispielen
möchte ich auch Sie ermutigen, sich am „Projekt P“ zu
beteiligen.
„Projekt P“ ist übrigens auch auf europäischer Ebene
auf großes Interesse gestoßen. Eine Zusammenarbeit
wird angestrebt - für die Demokratinnen und Demokraten von morgen. „Projekt P“ als Blaupause für die EU ich glaube, das ist ein großartiger Erfolg und führt uns
vor allen Dingen direkt zu einem anderen wichtigen Bereich der Jugendpolitik, dem internationalen Jugendaustausch.
Wenn einer eine Reise tut, kann er viel erzählen, und
Reisen bildet. Das wissen wir alle. Ein Blick über den
Tellerrand, die Erweiterung des eigenen Horizonts ist für
viele junge Menschen der Impuls für eine tolerante und
interessierte Lebenseinstellung. Ob Schüleraustausch für
zwei Wochen oder Auslandssemester, die Möglichkeiten
sind vielfältig, die Erfahrung einmalig. Ob es nun unsere
Programme „Leonardo da Vinci“ oder „Sokrates“, das
EU-Programm „Jugend“ oder Aktionen außerhalb der
EU sind: Insgesamt unterstützen wir den Jugendaustausch mit 16 Millionen Euro.
({9})
Aber auch die Wirtschaft trägt Verantwortung für die
junge Generation im Rahmen von Public Private Partnership.
Wichtig ist aber auch, dass diese Angebote für den internationalen Jugendaustausch nicht nur existieren, sondern dass sie den Jugendlichen auch bekannt und vor allem attraktiv für sie sind. Die Internetseiten des IJAB
oder „rausvonzuhaus.de“ sind an der Stelle gelungene
Beispiele. Die machen richtig Lust auf die große weite
Welt.
({10})
Auch für Sie gilt: Einen Blick über den Tellerrand zu
werfen ist nicht verkehrt.
Jugendaustausch trägt zum Aufbau von Vertrauen und
zum Abbau von Ängsten bei. Damit tragen wir auch
dazu bei, gegen den Rechtsextremismus anzugehen. Wir
haben etwas gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, nämlich unser Aktionsprogramm „Jugend
für Toleranz und Demokratie“. Denn in toleranten, weltoffenen Köpfen ist kein Platz für Hakenkreuze.
Sosehr wir den Kindern eine Welt ohne Grenzen wünschen, so sehr müssen wir uns auch den Gefahren stellen, denen sie dadurch ausgesetzt sind. Wir können sie
nicht vor den Gefahren durch Drogen oder Gewaltmedien wegsperren, wenn wir Kinder aufwachsen sehen
wollen, die sich entfalten. Darum sind Politiker im Rahmen der Gesetzgebung und jeder Einzelne von uns verantwortlich dafür, dass wir Kindern und Jugendlichen
Kompetenzen vermitteln, um selbstbewusst mit diesen
Risiken umzugehen. Prävention ist der beste Schutz.
({11})
Ganz besonders ist jeder verpflichtet, sich für Kinder
verantwortlich zu fühlen, deren eigene Eltern und Angehörige sie missbrauchen und vernachlässigen; denn sie
haben niemand außer vielleicht Ihnen, der auf sie Acht
gibt. Die kleine Jessica aus Hamburg hatte leider niemanden. Die Präventionskampagne „Hinsehen.Handeln.Helfen!“ ist ein durchaus erfolgreicher, aber noch
lange nicht der letzte Schritt auf dem Weg zu einer verantwortungsvollen und sensibilisierten Gesellschaft.
Fernsehen, Internet und DVDs prägen das Aufwachsen in einer modernen Welt. Kein Medium ist von vornherein gut oder schlecht für unsere Kinder. Es kommt
immer darauf an, was man damit macht.
({12})
Mit dem gesetzlichen Kinder- und Jugendmedienschutz sind wir dabei einen großen Schritt nach vorn gegangen. Medienkompetenz ist das Stichwort. Diese gilt
es Kindern und Eltern zu vermitteln. Die Kampagne
„SCHAU HIN! Was deine Kinder machen.“ zeigt beispielhaft, dass wir alle in der Verantwortung stehen,
wenn es um unsere Kinder geht.
Meine Damen und Herren, aus Kindern werden Senioren. Damit komme ich zum Thema Jugend und Demographie. Wir Abgeordnete, und nicht nur wir, sind
nicht nur dem Hier und Jetzt verpflichtet, sondern auch
der Zukunft.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Scheuer?
Gerne, Herr Scheuer.
Wir machen es dann so, dass Sie die Antwort mit Ihren Schlusssätzen verbinden; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Frau Präsidentin! Hochgeschätzte Frau Kollegin
Bätzing, Sie waren vorher beim Jugendschutz. Im nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ wird ja von der Bundesregierung der Jugendschutz
groß ausgebreitet. Können wir uns darüber unterhalten,
ob Ballerspiele und ähnliche Dinge verboten werden,
wie wir es in dem von uns vor einiger Zeit eingebrachten
Antrag vorgesehen haben, und würden Sie dabei mitmachen?
Herr Scheuer, ich bin nicht erstaunt, dass Sie das
Thema schon wieder ansprechen. Wir haben uns ja bereits oft im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend sowie im Ausschuss für Kultur und Medien darüber unterhalten. Ich habe Ihnen immer gesagt - und
das ist auch heute wieder meine Antwort -, dass wir das
Jugendschutzgesetz evaluieren.
({0})
Dabei werden wir sehen, welche Entwicklungen es gibt.
Wenn es dann erforderlich sein sollte, werden wir uns
vielleicht auch über solche Maßnahmen Gedanken machen.
({1})
Eigentlich war ich ja schon in der Schlussphase meiner Rede, Frau Präsidentin, angekommen. Ich möchte
die Zeit nutzen, um mit Ausführungen zum Thema
Generationengerechtigkeit meinen Beitrag in dieser jugendpolitischen Debatte zu beenden. Der Begriff Generationengerechtigkeit wird ja in Ihrer Großen Anfrage
erwähnt. Er wird aber durchaus unterschiedlich definiert.
Ich finde, er darf nicht nur, wie aus Ihren Fragen hervorgeht, auf die sozialen Sicherungssysteme bezogen werden. Er muss auch Eingang in die Finanzpolitik genauso
wie in die Bildungs- und Wirtschaftspolitik finden.
Standortpolitik ist eben auch Jugendpolitik und Bildungspolitik ist Standortpolitik.
Unsere Regierung, meine sehr geehrten Damen und
Herren, hat Jugendpolitik als eine Querschnittsaufgabe
erkannt. Die Interessen der jungen Menschen finden auf
allen Handlungsebenen Berücksichtigung. Ohne die Jugend und ohne ein Miteinander von Jung und Alt sieht
unser Staat alt aus. Damit ist kein Staat zu machen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Bätzing, Sie haben eben gesagt, die
Bundesregierung will Lust auf die große weite Welt machen. Ich muss Ihnen da entgegenhalten: Wir wollen unseren Jugendlichen erst einmal Lust auf Deutschland,
auf ihr Heimatland, machen.
({0})
Der eine will die Jugend ewig haben, der andere will
noch einmal 16 sein. Angeblich soll ja die Jugendzeit
eine der schönsten im Leben sein. Damals, als Sie und
ich vielleicht noch 16 waren und sich so mancher
wünschte, auch noch einmal in unserem Alter zu sein,
haben wir diesen Wunsch, jung sein zu wollen, vielleicht
noch verstanden. Wie sieht es denn heute aus? Ehrlich
gesagt möchte ich heute nicht in der Haut einer 16-Jährigen stecken.
({1})
Die Perspektive für die Zukunft ist alles andere als
optimal:
({2})
Rekordverschuldung, Rekordarbeitslosigkeit, Rekordinsolvenzen. Wenn Sie uns auffordern, Deutschland bei
den jungen Menschen nicht mies zu machen,
({3})
erwidere ich Ihnen: Sie dürfen die Lage auch nicht
schönzeichnen, sonst bricht man nämlich in das Eis ein.
Hüten Sie sich davor, warnen Sie die Jungen und
schauen Sie sich einmal die Zahlen an! Von diesem
Standpunkt aus müssen wir die Richtung noch einmal
korrigieren. Das ist nämlich eine traurige Spitzenleistung der Bundesregierung.
({4})
Das, was für viele Jugendliche gewiss ist, ist, dass sie
die Rechnung dafür zahlen müssen, was heute schief
läuft. Schauen wir uns das einmal genauer an: Sie werden die Rechnung für die optische Schönung von Arbeitslosenzahlen zahlen müssen,
({5})
sie werden die Rechnung für das Türken von Bundeshaushalten und für den Verkauf des Tafelsilbers, der von
Ihnen betrieben wird, zahlen müssen. Sie werden auch
die Rechnung für die Abschaffung des demographischen
Faktors unter Rot-Grün bezahlen müssen, der dann
irgendwann wieder unter dem Namen Nachhaltigkeitsfaktor - der Begriff Nachhaltigkeit wird ja sehr oft inflationär gebraucht - eingeführt wurde.
({6})
- Leider ist Ihre Jugendzeit, Herr Tauss, schon länger
vorbei. Sie hatten es vielleicht noch ganz gut. Für die
heutige Jugend sieht es aber anders aus.
({7})
Die verfehlte Renten- und Gesundheitspolitik trägt das
Ihrige dazu bei.
Das Schlimmste, was diese Regierung - die heute leider sehr übersichtlich hier vertreten ist - der Jugend antun kann, ist, ihr den Glauben an die Zukunft zu nehmen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
reden ja gerne von Nachhaltigkeit. Sie benutzen dieses
Wort ziemlich oft und inflationär, wodurch es immer
inhaltsleerer wird. Nachhaltig wäre es gewesen, wenn
Sie unserem Antrag auf Einrichtung eines Zukunftsausschusses vom vergangenen Jahr zugestimmt hätten. Jährliche Generationenbilanzen und Gesetzeschecks vor dem
Hintergrund der Generationengerechtigkeit wären ein
Warnsignal gewesen, auch über die nächsten Wahlen hinaus.
({9})
Mittlerweile lebt - Sie haben es im Armutsbericht gelesen - jedes zehnte Kind in relativer Armut. Hinzu
kommt ein neuer Aspekt, dem wir uns noch nicht
genügend zugewendet haben: die Verschuldung von
Jugendlichen und die Verstrickung in Kostenspiralen.
Das ist ein neues Problem, das auf uns zurollt. Die Kaufanreize sind groß, Verträge sind problemlos geschrieben,
bargeldlos ist schnell eingekauft. Die jugendliche Zielgruppe steht im Fokus von Lockangeboten. Auch die
mangelnde Kenntnis vom Haushalten, vom Umgang mit
Geld wird ein Problem werden, dem wir uns zuwenden
wollen. Hier brauchen die jungen Menschen unsere Unterstützung.
Es wird gewiss nicht einfacher werden, für die Jugendlichen in diesem Land eine Lanze zu brechen. Wir
reden fast über Minderheitenpolitik.
({10})
- Das ist ein bisschen schwierig. Wahrheiten tun oft
weh. - Bis 2050 wird sich der Anteil der unter 20-Jährigen von derzeit 21 Prozent auf 16 Prozent verringern.
Besonders bedrückend ist die Entwicklung im ländlichen Raum. Ein Blick zeigt, dass die Jugend dort sehr
schwach vertreten ist bzw. abwandert. Laut Statistischem Bundesamt sind nur rund 19 Prozent der Bevölkerung im ländlichen Raum angesiedelt. Abgewandert
sind von 1996 bis 2001 rund 300 000 Jugendliche. Die
Dörfer aber entwickeln sich nur mit den Jugendlichen
und umgekehrt entwickeln sich die Jugendlichen mit ihren Dörfern.
Eine kräftige Wirtschaft ist einer der wichtigsten demographischen Faktoren. Laut Aussage der Bundesregierung, auch in einer Antwort auf unsere Große Anfrage - die, nachdem sie so oft verschoben wurde,
vorgestern Abend auf dem Tisch lag; ich finde es eine
Unverschämtheit, dass Sie sich jetzt auf eine Antwort
beziehen, über die noch nicht einmal die Staatssekretärin
gesprochen hat; außerdem ist es ein starkes Stück, einfach nur einen Berg Papier zu produzieren; Gesetze müssen Sie uns in der Antwort nicht erklären, die können wir
selbst nachlesen, stattdessen hätten wir gerne konstruktive Ansätze und Perspektiven für die Zukunft erfahren -,
({11})
ist es ihr Ziel, allen Jugendlichen die Chance einer
Ausbildung zu eröffnen. Das hört sich sehr gut an. Aber
wie sieht es denn konkret aus? In unsere Abgeordnetensprechstunden kommen in jüngster Zeit immer mehr Jugendliche, die sich darüber beklagen, dass ihre Lehrverträge aufgelöst werden, und zwar nicht deshalb, weil ihre
Betriebe sie nicht wollten, sondern weil den Betrieben
von der Bundesagentur für Arbeit Praktikanten angeboten werden, die mobil sind und Auto fahren können. Ein
Lehrling kostet Zeit, Nerven und auch Geld und die
Praktikanten werden zurzeit wie „sauer Bier“ angeboten.
Das hat einen Kannibalisierungseffekt. Auf der einen
Seite fordern Sie, dass die Betriebe einstellen, auf der
anderen Seite subventionieren Sie diesen Ausverkauf.
({12})
Schauen Sie, dass Ihre Umsetzungen stringent sind! Bekundungen allein helfen nicht, schon gar nicht den Jugendlichen.
Zum Thema Rechtsextremismus hat schon mein
Kollege Michael Kretschmer einiges gesagt. Da stehen
wir alle zusammen, auch parteiübergreifend.
({13})
Wir sind uns sicher, dass Demokratie und ein tolerantes,
weltoffenes, soziales Miteinander erlernbar sind. Wir
möchten die Jugendlichen nicht abschreiben. Aber eines
fällt uns schon auf. Jugendliche sind dort gefestigt, wo
sie in ländlichen Strukturen, Vereinen und demokratisch
legitimierten Jugendgruppen integriert sind. Uns wundert, dass die Bundesregierung gerade die Gelder für
diese Jugendorganisationen streicht.
({14})
- Wenn das nicht stimmt, hat leider auch Ihr Juso-Vorsitzender aufgrund einer falschen Sachlage die Bundesregierung kritisiert. - Diese Jugendorganisationen müssen unterstützt werden, damit Demokratie erlernbar
bleibt.
({15})
Ein letzter Blick auf die Landwirtschaft. Diese Bundesregierung hat nur eine Museumslandschaft im Auge.
Ich denke in diesem Zusammenhang an Ministerin
Künast, die ein Denkverbot in Richtung Grüne Gentechnik ausgesprochen hat. Die Landwirtschaft ist aber mehr
als nur eine Museumslandschaft. Sie ist ein starker Wirtschaftsfaktor; denn die Produktivität pro Arbeitskraft ist
in den letzten Jahren gestiegen. Außerdem bietet sie mit
13 grünen Berufen den Jugendlichen eine Zukunft.
Wenn die Bundesregierung den Jugendlichen wirklich
eine Chance geben will, dann darf sie nicht weiter den
Ausverkauf unserer Landwirtschaft betreiben. Wir brauchen vielmehr ein Bekenntnis zur Landwirtschaft im
deutschen Raum und wir müssen diejenigen unterstützen, die Betriebe übernehmen.
Lassen Sie uns die Jugendlichen und die Kinder in
den Mittelpunkt unserer Politik stellen! Bei dem, was
jetzt entschieden wird, sollten Sie nicht nur an die
nächste Wahl denken, sondern auch daran, dass diejenigen, die nach uns kommen, die späteren Lasten und Kosten tragen müssen.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Klöckner, diese Schwarzmalerei passt
eigentlich gar nicht zu Ihrem Gemüt.
({0})
Wir sollten nicht alles schwarz malen, sondern wir sollten uns die Fakten einmal genau ansehen. Es gibt durchaus ernsthafte Probleme. Daher muss man ernsthaft nach
Lösungen suchen und darf nicht billige Taktiererei betreiben.
({1})
Der Rekordhalter im Schuldenmachen ist immer noch
Theo Waigel.
({2})
Man muss sich einmal die Entwicklungen ansehen, um
erkennen zu können, was wir für die Zukunft unseres
Landes und für die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen tun können.
Wenn man einmal die verschiedenen Lösungen vergleicht, die die Opposition
({3})
und die SPD und die Grünen anbieten, dann kann man
sehr deutliche Unterschiede feststellen. Herr Scheuer,
ich möchte zunächst ein Beispiel aus Bayern anführen.
Der Freistaat Bayern hat - unterstützt von der CDU/
CSU - in den Bundesrat das kommunale Entlastungsgesetz eingebracht. Schauen wir uns dieses Gesetz doch
einmal genauer an. Es beinhaltet, dass soziale Leistungen in den Kommunen reine Sparmasse sein sollen und
dass ein Finanzvorbehalt eingeführt werden soll. Das widerspricht aber dem, was im Sozialgesetzbuch steht,
nämlich dass die Menschen ein Recht auf ein menschenwürdiges Dasein haben. Die von Ihnen geplante Einführung einer Finanzklausel würde dazu führen, dass die
Ausgaben für Kinder und Jugendliche nur noch Manövriermasse wären.
({4})
Sie senden ein falsches Signal aus. Denn Ihre Vorschläge beinhalten, dass Menschen, die wirklich Hilfe
brauchen, sie nicht in Anspruch nehmen können und
dass sie nur zu einer finanziellen Belastung der Kommunen degradiert werden. Wir brauchen eine sozial gerechte Lösung. Wir müssen zwar die Finanzierbarkeit
beachten. Aber die Hilfe für Menschen, die sie brauchen,
muss im Vordergrund stehen. Die Konzepte der Union
beinhalten dagegen nur Abbau von Rechten. Die Jugendlichen in Bayern sollten sich daher genau überlegen, wo sie ihr Kreuz machen.
Unsere Reform der Kinder- und Jugendhilfe sieht
anders aus. Wir werden sie sinnvoll und nachhaltig weiterentwickeln. Wir werden dabei übrigens die Kommunen entlasten. Wir werden keine Ausgaben streichen,
sondern wir werden dafür sorgen, dass jedes Kind und
jeder Jugendliche, das bzw. der Hilfe braucht, diese
Hilfe auch bekommt.
({5})
Wir werden die Jugendämter stärken und wir werden
das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterentwickeln, um
Missbrauch zu verhindern. Wir werden die Eingliederungshilfen zielgenauer formulieren und die Qualität
sichern. Wir werden außerdem - auch das gehört zur
sozialen Gerechtigkeit - finanzstarke Eltern stärker an
den Kosten beteiligen. Es handelt sich also um eine gute
und sinnvolle Weiterentwicklung von bestehenden Regelungen und um eine sinnvolle Investition in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen.
({6})
Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel, das zeigt, wie
wir die Chancen und Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen verbessern können. Es geht um
den Bereich Ausbildung, der schon häufig angesprochen
worden ist. Sie sollten nicht immer mit einem Finger auf
andere zeigen; denn vier Finger zeigen auf Sie zurück.
Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, die Ausbildungssituation zu verbessern. Wir haben den Ausbildungspakt auf den Weg gebracht. Es zeigen sich bereits
deutliche Erfolge. Es gibt mehr Ausbildungsplätze, weil
sich Politik und Unternehmen verstärkt darum gekümmert haben, dass Jugendliche eine Chance bekommen.
Die Lösung, die Sie in Ihrem „Pakt für Deutschland“
vorschlagen, beinhaltet als einzigen Ansatz, die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes zu verschärfen. Es wird dabei aber vergessen, dass darin weder die
Vergütung noch Einstellungsvoraussetzungen geregelt
werden. Mit den Änderungen im Jugendarbeitsschutzgesetz wollen Sie nur die Regelungen hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten für Jugendliche verschlechtern.
Ich glaube, das ist nicht der richtige Ansatz, um Jugendlichen mehr Chancen auf Bildung zu geben.
({7})
Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Seit 2004 konnte
die Zahl der Ausbildungsverträge zum ersten Mal wieder
erhöht werden. Bundesweit wurden 573 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das ist ein Plus von fast
3 Prozent. Ich sage aber sowohl an die Adresse der Unternehmen als auch an die Adresse der Politik sehr deutlich, dass das noch nicht genug ist. Aber diese Trendwende, die wir eingeleitet haben, ist ein erster richtiger
Schritt.
Ein drittes Beispiel dafür, was wir Sinnvolles tun, ist
der europäische Pakt für die Jugend. Wir haben heute
schon über Identität und Werte gesprochen. Dies ist eine
Diskussion, die ich für durchaus wichtig halte. Ich finde
es deshalb gut, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder
zusammen mit drei anderen Staats- und Regierungschefs
die Errichtung eines europäischen Pakts für die Jugend
vorgeschlagen hat, um die Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe in der Europäischen Union zu verankern
und die junge Generation in Europa zukunftsweisend
auszubilden, ihr Beschäftigungschancen zu geben und
ihr natürlich auch, Frau Klöckner, Chancen auf Jugendaustausch zu geben. Ein solcher Austausch ist doch dazu
da, dass man etwas lernt, mit diesem Wissen wiederkommt und es hier im Lande anwenden kann. Wir alle
kennen Jugendliche, die an dem Parlamentarischen Patenschafts-Programm des Bundestages teilgenommen
haben, und wissen, wie sinnvoll es ist. Wir wollen aber,
dass mehr Jugendliche diese Chance erhalten.
({8})
Uns geht es darum, das, was im Weißbuch Jugend
vorgesehen ist, nämlich Partizipation, Information und
mehr Freiwilligendienste, tatsächlich in Deutschland zu
verankern. Dafür haben wir wichtige Projekte gestartet;
meine Kolleginnen haben schon darauf hingewiesen.
Ich will zu einem weiteren Punkt etwas sagen; denn
Sie behaupten immer wieder, wir hätten die Mittel für
die Jugendverbände gekürzt. Das stimmt nicht. Wir haben im derzeitigen Haushalt - im Gegenteil - die Mittel
im Kinder- und Jugendplan noch einmal um 2 Millionen
Euro erhöht. Wenn man sich all die Streichungsvorschläge, die auf dem Tisch lagen, ansieht, kommt man zu
dem Ergebnis, dass es viel schlimmer hätte aussehen
können. Wir haben also die Mittel erhöht und zusätzlich
EU-Mittel, die diese Summe um ein Vielfaches übersteigen, ganz gezielt im Bereich der Jugendlichen eingesetzt.
({9})
Besonders wichtig ist dabei das Programm „Jugend
für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Die
Mittel für dieses Programm haben wir - das wissen Sie;
wir haben darüber diskutiert - nicht gekürzt. Wir halten
diese Aufgabe vielmehr weiterhin für äußerst wichtig.
({10})
Das Deutsch-Polnische und das Deutsch-Französische Jugendwerk sind zwei wichtige Säulen des Jugendaustausches. Wir haben mit Tandem im Rahmen des
deutsch-tschechischen Jugendaustausches und mit ConAct im Rahmen des deutsch-israelischen Jugendaustausches und jetzt neu mit dem deutsch-russischen Jugendaustausch einen wichtigen Schritt gemacht und finanzielle Mittel dafür eingesetzt, dass Jugendliche die
Erfahrung des Jugendaustausches machen können.
Ich will in diesem Zusammenhang die gute und wichtige Arbeit der Jugendverbände ausdrücklich hervorheben, die einen wertvollen Beitrag dafür leisten, dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft lernen,
solidarisch und demokratisch miteinander aufzuwachsen
und Eigenverantwortung zu übernehmen. Diese Arbeit
unterstützen wir im Kinder- und Jugendplan.
({11})
Ich denke, dass wir hoffentlich gemeinsam erkannt
haben - dies müssen wir aber auch umsetzen -, dass die
Integration von Jugendlichen besonders aus dem Kreis
der Spätaussiedler und ausländischer Jugendlicher bzw.
Jugendlicher mit Migrationshintergrund äußerst wichtig
ist. Sie kennen vielleicht das Programm „Entwicklung
und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“. Dies ist ein wichtiges Programm, in das viele EUMittel fließen. Fast 1,8 Millionen Euro werden im Haushalt des Jugendministeriums zur Verfügung gestellt.
Damit wird vor Ort, in den Stadtteilen, soziale Ausgrenzung bekämpft, werden Kompetenzen und Qualifikationen für die Zukunft erworben und Eigenverantwortung
und soziales Engagement gestärkt. Es werden soziale
Räume geschaffen, die eine Aus- und Weiterbildung ermöglichen. Das ist ein sinnvoller Schritt, um dies tatsächlich nachhaltig - da hat das Wort seine richtige Bedeutung - zu sichern.
Wir haben im Bereich des Internets große Fortschritte gemacht; darüber haben wir schon häufig diskutiert. Wir haben, nachdem die Schulen in Deutschland
am Netz sind - obwohl wir dort gern noch mehr Computer und eine bessere Ausstattung hätten -, einen nächsten
wichtigen Schritt mit der Bundesinitiative „Jugend ans
Netz“ gemacht. Damit wird Jugendlichen in Jugendeinrichtungen die Möglichkeit eines Zugangs zu Computern
und damit zum Internet gegeben. Das ist ein kostengünstiges Angebot. Das führt dazu, dass mehr Jugendliche
auf das Internet zugreifen können.
Sie sehen, wir haben alles in allem viel getan, damit
Jugendliche eine größere Perspektive und Chancen haben. Es geht darum, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen für Kinder und Jugendliche die Zukunft zu
gestalten. Wir haben die Investitionen in Bildung und
Ausbildung erhöht.
Dazu muss man ganz deutlich sagen: Ich glaube, es ist
weitaus sinnvoller, in Bildungschancen, in Kinderbetreuung und in Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche zu investieren als weiterhin in die Eigenheimzulage. Das wäre ein Schritt, bei dem Sie beweisen
könnten, dass Sie in die Zukunft investieren wollen.
({12})
Wir haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Wir
haben die Angebote für Kinder und Jugendliche verbessert. Wir alle wissen, dass es heute für junge Frauen und
Männer wichtig ist, dass die Kinderbetreuung ausgebaut
wird, damit sie die Chance haben, ihre Kinderwünsche
zu verwirklichen und damit Männer und Frauen sich tatsächlich gleichberechtigt berufliches Engagement und
Erziehungsarbeit teilen können.
Dieses Thema gehört ebenso zur Jugendpolitik, auch
wenn das in den 225 Fragen Ihrer Großen Anfrage nicht
vorkommt. Die Masse macht ja bei den Anfragen oft
nicht die Klasse. Auch wir haben in der letzten Wahlperiode eine Große Anfrage zur Jugendpolitik gestellt.
Vielleicht schauen Sie noch einmal nach; wir haben
81 Fragen gestellt. Aber diese haben alle Themenfelder
umfasst, die Kinder und Jugendliche angehen. Deshalb
muss auch das, was wir im Bereich der Frühförderung
von Kindern tun, eine wichtige Rolle spielen.
Alles in allem muss unser Motto lauten: „Auf ins Leben“, und zwar mit vielen guten Ansätzen, die die jungen Menschen unterstützen. Die „Rheinische Post“
schreibt auf der Titelseite ihrer heutigen Ausgabe: Die
Jungen kommen. Ich glaube, wir brauchen keinen billigen Schlagabtausch. Wenn es darum geht, die Chancen
von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, ist vielmehr eine ernsthafte Zusammenarbeit notwendig.
Wir haben als rot-grüne Koalition gute Ansätze gewählt und wirkliche Verbesserungen erzielt. Ich kann
das für mein Bundesland Nordrhein-Westfalen bestätigen, wo mit einer nachhaltigen Jugendpolitik die Jugendarbeit deutlich gestärkt wird. Das werden die Jugendlichen auch merken.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt müssen Sie erst einmal durchatmen. - Das Wort
hat nun die Abgeordnete Ingrid Fischbach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich muss erst einmal Luft holen, Frau Griese. Es trifft
nicht nur zu, dass in der Masse nicht die Klasse liegt,
sondern auch nicht in der Schnelligkeit. Es war sehr
schwer, Ihnen zuzuhören. Vielleicht war sogar etwas
Gutes dabei. Wir konnten Ihnen aber kaum folgen.
({0})
Ich bin richtig aufgeregt und muss mich erst einmal etwas beruhigen.
Wir haben aber trotzdem zugehört. Sie haben vom
lebenslangen Lernen gesprochen und festgestellt, dass
Lesen bildet.
({1})
Diese Tatsache gilt nicht nur für die Opposition, sondern
sicherlich auch für die Regierung.
({2})
Sie gilt auch für die Frau Staatssekretärin, die die Antworten aus ihrem eigenen Haus nicht gelesen zu haben
scheint.
Da Lesen bildet und wir lebenslang lernen wollen,
Frau Staatssekretärin, zitiere ich die von Ihnen angegebene Zahl der Ausbildungsplätze, die die Bundesverwaltung anbietet. Auf Seite 5 der Antworten ist von
30 Prozent die Rede, um die sich die Zahl dieser Ausbildungsplätze erhöht hat.
Die Opposition liest.
({3})
Sie hat das in der Schule noch gelernt. In den guten Regierungszeiten von Helmut Kohl haben wir noch richtig
viel mitbekommen.
({4})
Wir haben sogar bis Seite 86 gelesen.
Ich zitiere nochmals aus Seite 5:
Die Bundesregierung hat ihrerseits im Jahr 2004
die Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung um 30 Prozent erhöht.
Ich zitiere aus Seite 86:
Die Bundesregierung erhöht die Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung in 2004 um
20 Prozent.
({5})
Wenn ich bis Seite 210 weiterlese, dann sind es 10 Prozent und in Wirklichkeit null.
Allein dieses Beispiel - auf weitere gehe ich gar nicht
ein - zeigt, wie Sie auf die Anfrage eingehen und mit
welcher Ernsthaftigkeit Sie sie beantwortet haben.
({6})
Das ist ein Schlag ins Gesicht der jungen Leute, die sich
von Ihnen veräppelt fühlen.
({7})
Anders als Sie haben wir nicht gesagt: Auf den Anfang kommt es an. Wir meinen vielmehr, dass es auf die
Jugend ankommt. Deshalb haben wir im vergangenen
Jahr ein erstes Expertengespräch in der Fraktion durchgeführt, in dem junge Leute aus ganz Deutschland zu
Wort kamen.
({8})
Wir haben zugehört. Aufgrund der Wünsche und Vorstellungen der jungen Leute ist die vorliegende Anfrage
zustande gekommen. Wir geben ihnen nämlich nicht vor,
was sie zu fragen oder zu beanspruchen haben oder welche Ideen sie äußern sollen.
Frau Staatssekretärin, Sie haben bedauert, dass Kinderbetreuungsangebote und frühe Förderung in unserer
Anfrage fehlen. Diese Punkte interessieren die Jugendlichen zurzeit überhaupt nicht. Sie haben andere Sorgen,
und zwar hinsichtlich der Arbeitslosigkeit.
({9})
Sie aber sind nur in den letzten drei Minuten Ihrer zwölfminütigen Rede mit ein paar Halbsätzen auf die Arbeitslosigkeit eingegangen, Frau Staatssekretärin. Deshalb
denke ich, dass Sie an der Jugend vorbeireden. Sie wissen nicht, was die Jugend bewegt und was sie will.
({10})
Ich möchte einige Sätze des Bundeskanzlers aus dem
Jahr 1998 zitieren: Wir brauchen eine bessere Ausbildung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitslosigkeit
zurückgedrängt wird.
Wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht die Möglichkeit geben, für sich selber zu
sorgen? Wir stehen für das Zukunftsprojekt
Deutschland. Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen.
Wir alle wissen, dass die Arbeitslosenzahlen 1998/99
zurückgingen. Insofern stellen die Zahlen von heute
- sechs Jahre nach Beginn Ihrer Regierungszeit - einen
dramatischen Anstieg allein gegenüber dem Vorjahr dar.
Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich um 28,5 Prozent erhöht.
({11})
680 000 junge Menschen unter 25 sind ohne Arbeit. In
Nordrhein-Westfalen - Frau Griese, Sie haben auf NRW
hingewiesen - ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit
ebenso eklatant: Dort sind im Februar 23 000 junge
Leute mehr ohne Arbeit, insgesamt nun 129 300.
Nun sagen Sie, das liege an den Hartz-Gesetzen und
das sei so, weil Sie das gesamte System umgestaltet hätten. Ich nenne Ihnen nur einmal die Zahlen, die uns zu
neuen Ausbildungsverträgen vorliegen. Bereits im
Jahr 2001 sank die Anzahl der neuen Ausbildungsverträge. Damals waren noch keine Hartz-Gesetze in Kraft.
Allein im Jahr 2003 sank die Anzahl der Ausbildungsverträge junger Leute um mehr als 20 000. Das hat also
nichts mit den Hartz-Gesetzen, sondern mit verfehlter
Wirtschaftspolitik zu tun. Das möchte ich Ihnen einmal
sagen.
({12})
Jetzt komme ich auf Frau Dümpe-Krüger zu sprechen. Wer lesen kann, ist glatt im Vorteil.
({13})
Sie haben ja aus dem zweiten Abschnitt unserer Großen
Anfrage zitiert:
Wenn aber die Politik der Bundesregierung Bedingungen und Zukunftsaussichten für die junge Generation massiv negativ beeinträchtigt, drohen selbst
für optimistische Jugendliche Verunsicherung und
Perspektivlosigkeit.
Meine Damen und Herren, Sie sollten einmal hören, was
der Kanzler dazu gesagt hat:
Es ist kein Zweifel: Unser drängendstes und auch
schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen,
zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen
macht sie Angst.
Das haben nicht wir gesagt, sondern Ihr Kanzler.
({14})
Wo er Recht hat, hat er Recht.
({15})
Herr Müntefering hat am 6. dieses Monats gesagt:
Wir haben die Arbeitslosigkeit in der Größenordnung
98 Helmut Kohl plus Statistik Hartz. Es ist ein Schlag
ins Gesicht der jungen Leute, wenn er weiter ausführt:
„Das ist bedrückend viel, aber es ist nicht mehr geworden. Liebe Leute, so geht das nicht.
({16})
Nun gehe ich ganz kurz auf zwei weitere Aspekte ein,
die Sie sehr gerne ansprechen. Frau Dümpe-Krüger, zum
KJHG. Ist Ihnen der gemeinsame Antrag NordrheinWestfalens und Bayerns zu den Änderungen im KJHG
bekannt?
({17})
In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, aus dem Sie
kommen, wurde eine Volksinitiative gegen die Kürzungen durchgeführt, die das Land im Jahr 2003 im gesamten Jugendbereich durchführen wollte. Wenn nicht die
CDU und verschiedene Organisationen, zum Beispiel
Jugendverbände, gemeinsam eine Volksinitiative ins Leben gerufen hätten, hätten Sie dort schon im Jahre 2003
- und zwar ohne Bayern - die Mittel gekürzt.
({18})
Das ist die Realität.
({19})
Das muss ich leider auch der Kollegin Griese sagen.
Ich könnte es mir einfach machen, Frau Griese, und sagen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich entsprechend all den Gesprächen, die wir geführt haben,
verhalten
({20})
und ihre Entscheidung im Interesse der Jugendlichen
treffen. Aber, wie gesagt: Lesen bildet. Wer liest, ist glatt
im Vorteil. Daher empfehle ich Ihnen, Frau Griese, die
Lektüre Ihres Gesetzentwurfes zum SGB XII, den Sie
- auch das ist schon eine Weile her - im Jahre 2003 vorgelegt haben.
Jetzt müssen Sie bitte auf Ihre Redezeit achten. Keine
langen Lesereien mehr!
Das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - In Ihrem
Gesetzentwurf zum SGB XII steht unter § 70 - Einrichtungen und Dienste -:
Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der
Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen und
- jetzt kommt es die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen berücksichtigen.
Das ist nichts anderes als eine Finanzkraftklausel.
Diese war in Ihrem Gesetzentwurf zum SGB XII enthalten.
({0})
- Nein, wir vermischen gar nichts. Sie müssen nur richtig lesen.
({1})
- Ich lese wahrscheinlich besser und schneller als Sie,
weil ich eine Brille aufhabe. Aber eine Brille haben Sie
ja auch, Frau Humme.
Ich möchte Sie daran erinnern:
({2})
Die Jugend will und braucht Zukunft. Die CDU/CSUFraktion bietet der Jugend Zukunft. Da Sie nicht alles
anders, aber vieles besser machen wollten, und der
Kanzler gesagt hat, wir seien abgewählt worden,
Frau Kollegin!
- weil wir die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff bekommen haben, vermute ich,
Frau Kollegin, jetzt geht es nicht mehr.
({0})
- dass auch Sie abgewählt werden, spätestens im
Jahr 2006.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen
- Drucksache 15/3640 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1})
- Drucksache 15/5049 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, Daniel Bahr
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für einen wirksamen Wettbewerbsschutz in
Deutschland und Europa
- Drucksachen 15/760, 15/3136 Berichterstattung:
Abgeordneter Hartmut Schauerte
Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und zwei Entschließungsanträge der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist zweifelsfrei
für die Wirtschaftsordnung unseres Landes von großer
Bedeutung. Tatsächlich zeigt die Erfahrung: Ein funktionierender Preis- und Qualitätswettbewerb ist eine ganz
entscheidende Voraussetzung für wirtschaftlichen und
technologischen Fortschritt.
({0})
Er ist unerlässlich, wenn die Wahlmöglichkeiten und die
Bewertungsfähigkeit der Verbraucher sichergestellt sein
sollen.
Anlass und Hauptanliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die Anpassung des deutschen Wettbewerbsrechts an das zum 1. Mai 2004 geänderte europäische Wettbewerbsrecht. Die Zeit drängt. Seit letztem
Mai gilt für die deutschen Unternehmen zweierlei Recht:
ein deutsches für rein regionale und lokale Vereinbarungen, ein europäisches für nationale und grenzüberschreitende Bindungen. Es ist Zeit, diesen Zustand zu beenden.
({1})
Ziel ist, das deutsche Wettbewerbsrecht europatauglich
zu machen; denn das europäische Recht hat Vorrang vor
anders lautenden nationalen Vorschriften. Wo dies der
Fall ist, zeichnen wir im Gesetzentwurf europäisches
Recht nach. Aber auch dort, wo wir eigene Gesetzgebungshoheit haben, bei Vereinbarungen ohne zwischenstaatliche Relevanz, übernehmen wir die Prinzipien
europäischen Rechts. Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen wird an das europäische Recht
angepasst. Gleiches gilt für die Ausgestaltungen der
Ausnahmen von dem Kartellverbot. So entsteht im Interesse der Unternehmen ein einheitliches Wettbewerbsrecht, das wir dringend benötigen. Die Unternehmen
können sich nunmehr auf einheitliche Rechtsstandards
einstellen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen,
dass dies insbesondere für unsere kleinen und mittleren
Unternehmen wertvoll ist und für sie dadurch eine
Gleichbehandlung mit den großen Unternehmen ermöglicht wird.
Wie im europäischen Recht wird das bisherige Anmelde- und Genehmigungssystem für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen abgeschafft und durch ein
System der so genannten Legalausnahme ersetzt. Dies
bedeutet, dass Vereinbarungen automatisch freigestellt
sind, wenn sie die gesetzlichen Freistellungstatbestände
erfüllen. Wichtig hierbei ist: Das bisherige behördliche
Prüf- und Freistellungsverfahren entfällt nunmehr. Damit trägt das Gesetz ganz im Sinne dieses Hauses und
auch im Sinne der Politik der Bundesregierung dazu bei,
Unternehmen ein weiteres Mal von Bürokratie zu entlasten.
({3})
Ich glaube, dass wir so die Wachstumskräfte unserer
Wirtschaft stärken können. Zweifellos werden auch in
Zukunft die Kartellbehörden für die Diskussion über
konkrete Einzelfälle zur Verfügung stehen. Die Unternehmen haben also von dem neuen System keinerlei
Nachteile zu erwarten. Dies ist auch der Grund dafür,
dass wir uns in diesen Fragen in absoluter Übereinstimmung mit den Verbänden der deutschen Wirtschaft befinden.
({4})
Um sicherzustellen, dass mit dem Systemwechsel
kein Verlust an Wettbewerbsschutz verbunden ist, sind
im Gesetzentwurf eine Reihe flankierender Maßnahmen
vorgesehen. So werden die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der Kartellbehörden gestärkt, etwa durch die
Einführung eines Enqueterechts und durch die Erhöhung
des Bußgeldrahmens. Auch der Rechtsschutz Privater
gegen Kartellrechtsverstöße wird verbessert. Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche werden deutlich erleichtert. In diesem Zusammenhang weist der Gesetzentwurf auch den Verbraucherverbänden - das möchte ich
besonders hervorheben - eine stärkere Rolle bei der
Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu:
({5})
Sie können Unterlassungsansprüche geltend machen,
vor allem aber können sie von Kartelltätern unter bestimmten Voraussetzungen die Herausgabe der so genannten Kartellrendite verlangen, also der Einnahmen,
die zu Unrecht durch die Unternehmen realisiert worden
sind; ich denke, auch das ist ein ganz wichtiger Fortschritt durch dieses Gesetz. Dies alles - ich sage es noch
einmal - stärkt das Wettbewerbsprinzip und macht deutlich, dass funktionierender Wettbewerb immer auch dem
Verbraucher dient und dass wir, diese Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen, den Wettbewerb in diesem
Lande ganz entschieden fördern, weil wir von seinen
Vorteilen überzeugt sind.
({6})
Insbesondere zwei Änderungen waren in den letzten
Monaten Gegenstand vertiefter Diskussion: Erstens. Im
Bereich der Zusammenschlusskontrolle wird der vorläufige Rechtsschutz gegen Freigabeentscheidungen des
Bundeskartellamtes maßvoll zurückgeführt. Wie im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht kommt es künftig
auf die Verletzung eigener Rechte an. Damit verfolgen
wir ein wichtiges Ziel: Der vorläufige Rechtsschutz darf
nicht zur Blockade wichtiger Investitionsentscheidungen
am Standort Deutschland missbraucht werden;
({7})
auch das müsste eigentlich allgemeine Auffassung in
diesem Hause sein.
Zweitens. Der vorläufige Rechtsschutz gegen Ministererlaubnisse des Bundesministers für Wirtschaft und
Arbeit bleibt davon ausgenommen. In diesem besonders
sensiblen Bereich soll der Rechtsschutz der Unternehmen nicht eingeschränkt werden. Auch der Rechtsschutz
in der Hauptsache bleibt selbstverständlich unverändert.
Dies ist - auch hier gibt es wieder große Übereinstimmung mit der deutschen Wirtschaft und ihren Verbänden - eine insgesamt ausgewogene, den Wettbewerb und
die Investitionskraft dieses Landes stärkende Lösung.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen - das hat
uns ja sehr bewegt -, dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch Änderungen der pressespezifischen Regelungen des GWB vorgeschlagen hat. Ziel
ist es, die seit 1976 geltenden Regelungen im Lichte der
strukturellen und konjunkturellen Probleme der Zeitungsverlage zu modernisieren. Damit sollten die wirtschaftlichen Grundlagen für Anbieterpluralität auf der
einen und Meinungsvielfalt auf der anderen Seite verbessert und gesichert werden. Die Bundesregierung begrüßt deshalb, dass die Koalitionsfraktionen mit ihren
Beschlüssen dieser Initiative gefolgt sind.
({9})
Die jetzt gefundene Lösung wird einen wichtigen und
nachhaltigen Beitrag zur Bewältigung der Probleme der
Zeitungsverlage leisten. Ziel der Vorschläge des Regierungsentwurfes war immer, die Selbstständigkeit der
Zeitungsverlage durch Stärkung ihrer wirtschaftlichen
Basis zu erhalten.
({10})
Das ist unserer Auffassung nach der beste Garant für
eine gesicherte strukturelle Eigenständigkeit der Redaktionen und es ist Voraussetzung für den Erhalt der in
Europa und in der Welt einmaligen Vielfalt der deutschen Zeitungslandschaft.
({11})
Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf ein Konzept zur Erreichung dieses Ziels mit den Elementen
Schwellenerhöhung, Kooperations- und Fusionserleichterungen vorgeschlagen. Sie hat dabei immer ihre Offenheit für bessere Wege zur Erreichung dieses Ziels betont.
Nur: Am Ziel - das war für uns der entscheidende
Punkt - sollte festgehalten werden. Wir glauben, dass
wir diesen Weg gemeinsam in sehr konstruktiver Weise
gegangen sind.
({12})
Durch den jetzt zur Abstimmung anstehenden Kompromiss werden wesentliche Teile des Regierungsentwurfs, aber auch eine ganze Reihe von Kritikpunkten berücksichtigt und verlagswirtschaftliche Kooperationen
in den Vordergrund gestellt. Diese Kooperationen können durch Gemeinschaftsunternehmen abgesichert werden, solange der redaktionelle Teil ausgeklammert
bleibt. Ausgangspunkt der Vorschläge im Regierungsentwurf war eine Problemlage bei einer beteiligten Zeitung. Wenn sich eine solche abzeichnet oder tatsächlich
vorhanden ist, dann werden die entsprechenden weiteren
Schritte eingeleitet. Auch dabei ist es geblieben: Ansatzpunkt ist die Erforderlichkeit der Kooperation für die
langfristige Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage
und die Fortführung der Not leidenden Zeitung.
({13})
Wir finden, dass die obligatorische Einschaltung
der Kartellbehörden eine insgesamt gesehen starke
Verbesserung ist.
({14})
Wegen des Verfahrensaufwandes stellt sie einerseits
zwar eine gewisse zusätzliche Belastung für die Unternehmen dar, andererseits bietet sie aber auch eine ganze
Reihe von Vorteilen; denn größere Projekte werden in aller Regel ohnehin vorab informell mit den Kartellbehörden besprochen. Das formale Verfahren, das wir einführen, garantiert hier letztlich Rechtssicherheit und damit
auch Investitionssicherheit für alle Beteiligten.
({15})
Bei den im Regierungsentwurf vorgeschlagenen
Schwellenerhöhungen ist es geblieben. Deren Bedeutung sollte nicht unterschätzt werden. Dies ist vor allem
eine mittelstandsfreundliche Maßnahme. Die Handlungsspielräume mittelständischer Verlage für Fusionen
untereinander werden durch diese Regelung erweitert.
Kleinen Verlagen wird es ermöglicht, bei der Suche nach
Nachfolgern den Marktwert ihrer Zeitungen zu realisieren.
Wesentliche Ziele des Regierungsentwurfs sind durch
den nun vorliegenden Entwurf aus unserer Sicht erreicht.
Die jetzige Lösung ist ein Kompromiss, den wir als Bundesregierung ausdrücklich mittragen.
({16})
Ich möchte allerdings nicht verhehlen, dass sich die
Bundesregierung weiter gehende Spielräume für die
Zeitungsverlage gewünscht hätte. So könnte noch stärker, als es in der Begründung anklingt, verdeutlicht werden, dass die Sicht der betroffenen Verlage beim Erforderlichkeitstest ein hohes Gewicht haben sollte. Die
Erforderlichkeit muss in der Rechtsanwendung nach
praktischen Gesichtspunkten geprüft werden und darf
sich nicht nur an theoretischen Prinzipien orientieren;
das wollen wir in dieser Debatte ausdrücklich betonen.
Ich will damit sagen: Wichtig ist eine vernünftige kaufmännische Betrachtung und nicht nur eine juristische
Betrachtung aus der Sicht der Verlage und des Verlegers.
({17})
Die zeitliche Befristung der Gültigkeit des § 31 GWB
und die Pflicht, nach drei Jahren einen Erfahrungsbericht
vorzulegen, geben dem Parlament die Möglichkeit, die
Angemessenheit der Regelung zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu korrigieren. Dies ist übrigens ein gutes
Beispiel für ein zeitgemäßes Vorgehen.
({18})
Im Übrigen sind wir auch sehr erfreut darüber - dazu
wird nachher sicherlich noch einiges zu sagen sein -,
dass wir in Sachen Grosso-Vertriebssystem eine ordentliche, tragfähige und für alle Beteiligten akzeptable Lösung gefunden haben.
({19})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Ich
möchte Sie alle bitten, diesem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu geben. Das ist wichtig für unser Land. Sie
unterstellen in Ihrem Entschließungsantrag, dass es sozusagen nur die Behauptung einer Strukturkrise gibt, die
jedoch nicht real ist.
({20})
Das zeugt davon, dass Sie offensichtlich nicht in der
Lage sind, die realen wirtschaftlichen Verhältnisse dieser
Branche einzuschätzen.
({21})
Wir sehen uns hier in einem Boot mit der Wirtschaft
und mit den Verlegern in diesem Lande. In diesem Sinne
hoffe ich auf Zustimmung und gute Diskussionen.
({22})
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für Ihre Rede.
Ich möchte aber, dass Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen die Botschaft ausrichten, dass ich es nicht als Respekt gegenüber einer Parlamentsdebatte und Ihnen als
Redner ansehe, wenn niemand auf der Regierungsbank
sitzt. Ich bitte Sie, diese Anmerkung weiterzuleiten.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut
Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wettbewerbsrecht ist für viele Normalbürger fast
so etwas wie ein Fremdwort. Für alle, die etwas von
Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft verstehen, ist klar, dass es so etwas wie das Grundgesetz der
Wirtschaft ist. Es sind Spielregeln, die nicht nur im Sport
gelten müssen, sondern natürlich auch in der Wirtschaft.
Sie müssen ordnend eingreifen. Ihr oberstes Ziel sollte
sein, Wettbewerb zu fördern und zu sichern
({0})
und so die Kreativität zu stärken und die Innovationsgeschwindigkeit, die Erträge und die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland zu erhöhen.
({1})
Das ist ein wichtiges Thema. Deswegen ist es schade,
dass so wenige Abgeordnete anwesend sind. Es ist auch
schade, weil wir heute nicht nur über das allgemeine
Wettbewerbsrecht reden, sondern insbesondere über die
Sonderstellungen im Pressebereich. Die Pressevielfalt ist
ein hochsensibles Gut, eines der höchsten Güter, das wir
in der Demokratie zu verteidigen haben.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf, muss daraufhin geprüft
werden, ob er diesen Ansprüchen gerecht wird.
Ich beginne mit den allgemeinen Grundsätzen, bei denen unsere Meinungen gar nicht so weit auseinander liegen. Die CDU/CSU war sehr konstruktiv. Wir haben bereits 2001, als sich die SPD noch scheute, die
Legalausnahme für richtig gehalten. Das ist wichtig für
den Bürokratieabbau. Es muss nicht mehr jedes Vorhaben bei der Kartellbehörde angezeigt werden. Eigentlich
müssen die Marktteilnehmer mittlerweile wissen, was
sie dürfen und was sie nicht dürfen und deswegen sollen
sie handeln. Aber wenn sie falsch gehandelt haben, wenn
sie Regelverstöße begangen haben, die den Wettbewerb
gefährden, oder wenn sie Marktmacht ausgeübt oder
Marktmachtmissbrauch betrieben haben, sollen sie auch
drastisch bestraft werden. Das ist völlig unstreitig.
Wir haben immer wieder eine Bitte vorgetragen - sie
ist ernst gemeint -, die Sie aber leider nicht aufgenommen haben. Das war die Bitte, dass in besonders schwierigen Fällen insbesondere mittelständische Unternehmen, die keine großen Rechtsabteilungen haben, das
Recht haben müssen, eine Rechtsauskunft vom Kartellamt zu bekommen, ob ihr Vorgehen rechtmäßig ist.
({3})
Bei allem gewachsenen Kenntnisstand über das Wettbewerbsrecht gibt es eben doch noch erhebliche Lücken.
Ich denke, die Bundesregierung hätte sich diesem
Thema öffnen können. Sie hat es nicht getan. Auch die
Koalition hat dieses Thema übersehen. Wir werden im
Bundesrat versuchen, diesen Punkt, vielleicht unterstützt
durch eine praktikable Lösung, noch einmal aufzugreifen.
({4})
- Ob es nun ein Versehen war oder ob sie es nur nicht
wollen, jedenfalls ist es eine Schwäche im allgemeinen
Wettbewerbsrecht.
({5})
In diesem Zusammenhang muss man daran erinnern,
warum wir jetzt darüber diskutieren. Es gab eine Ministererlaubnis für die Fusion von Eon und Ruhrgas, die
peinlich war. Der Clement-Entwurf wollte darauf reagieren und Ministererlaubnisse noch leichter machen. Ich
finde es gut, dass insbesondere die Grünen in diesem
Fall unserer Meinung waren und zu der Erkenntnis gekommen sind, dass eine Aufweichung, eine Erleichterung von Ministererlaubnissen schädlich wäre. Das
würde einer falsch verstandenen Industriepolitik Tür und
Tor öffnen. Insoweit ist dies eine Verbesserung. Aber ich
finde es interessant, dass man im Haus Clement, das ja
eigentlich der Wettbewerbshüter in diesem Land ist, zunächst einen völlig anderen Weg gehen wollte. Das
wurde gestoppt; das begrüßen wir.
Im Zeitungsbereich hatten wir auch einen konkreten
Anlass, tätig zu werden. Ich meine den „Tagesspiegel“
und die „Berliner Zeitung“ in Berlin. Wir haben den
ganz großen Verdacht, dass all das, was wir im Pressefusionsrecht jetzt an Sondertatbeständen zu erwarten haben, letztlich eine Antwort auf diese Situation geben
soll. Wer weiß, wer wem in diesem Zusammenhang welche Zusagen gemacht hat.
({6})
Auch deswegen sind wir hochnervös und hochaufmerksam, was in diesem Bereich passiert. Wir müssen darauf
bestehen, dass diese Sache in einem Vermittlungsausschussverfahren noch einmal gründlich geprüft wird.
Das können wir Ihnen und Ihren internen Absprachen
mit wem auch immer beim besten Willen nicht überlassen. Ich sage es noch einmal: Wir operieren hier am offenen Herzen der Demokratie, weil es darum geht, Meinungsvielfalt zu erhalten.
({7})
Auf diesem Gebiet dürfen wir uns gegenseitig keinen
einzigen Fehler erlauben.
Lassen Sie mich jetzt auf das Thema pressespezifisches Kartellrecht zu sprechen kommen denn das ist im
Moment die wichtigste Frage; alles andere ist eher vernachlässigbar. Es geht im Prinzip um die Anpassung an
das europäische Kartellrecht mit einigen wenigen
Schwächen in Ihrem Entwurf, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte. Ich möchte mich besonders mit
dem pressespezifischen Kartellrecht beschäftigen.
Ich habe in dieser Frage eine lange Erfahrung. Ich
glaube, 1970 habe ich die erste Diskussion mit dem damaligen stellvertretenden Chefredakteur der „Westfälischen Rundschau“, Herrn Clement, zum Thema Pressefusion und -konzentration gehabt. In den 70er-Jahren
kam es zu einer erheblichen Konzentrationswelle. Herr
Stiegler, Sie erinnern sich. Sie waren ja einer, der mit gerufen hat: Haut dem Springer auf die Finger! Zerschlagt
die Pressekonzerne! - Ich darf daran erinnern: Im Nachbeben dieser Diskussion haben wir beobachtet, dass in
der Gesellschaft wahnsinnig viele Konzentrationsprozesse abliefen. Diese haben wir mit der Schaffung eines
Sonderrechts für die Presse im Kartellrecht gestoppt.
Wir haben der Presse sehr enge Regeln vorgegeben.
Diese Operation war ausgesprochen erfolgreich. Dass
Herr Staffelt vorhin erklären konnte: „Wir verfügen in
Deutschland über eine der vielfältigsten Presselandschaften in Europa“, ist richtig und hängt damit zusammen,
dass wir damals übereinstimmend, Sozialdemokraten
und CDU/CSU, dieses Gesetz zur Pressefusion und -konzentration beschlossen und damit Ruhe in die Presselandschaft gebracht haben, die der Meinungsvielfalt in
Deutschland und der mittelständischen Struktur unserer
Presse, den Verlagen und Unternehmen ausgesprochen
gut getan hat.
({8})
Ich sage Ihnen: Der konkrete Anlass für Ihr Handeln
sind die „Berliner Zeitung“ und „Der Tagesspiegel“. Sie
geben aber vor, dass es ein besonderes Pressestrukturproblem gebe, und deswegen müsse etwas geändert werden.
Lassen Sie mich zum wirtschaftlichen Problem etwas
sagen. Der Presse in Deutschland geht es so schlecht wie
der übrigen Wirtschaft - nicht besser und auch nicht
schlechter. Ich sehe keine Zusammenbrüche und auch
keine Konkurse. Die Konkurse sehe ich auf anderen
Wirtschaftsfeldern. Die Presse hat in der Tat ein konjunkturelles Problem; denn die Anzeigenerlöse sind
weggebrochen. Sie hat auch Modernisierungs- und
Strukturprobleme, weil neue Wettbewerber auf den
Markt gekommen sind. Das haben alle Unternehmen in
Deutschland.
Was mich an diesem Thema aber besonders nervös
macht, ist Ihre Begründung. Aus der konjunkturellen
Delle, von der einige behaupten, sie sei insbesondere
strukturell, bei der aber niemand einen volkswirtschaftlich erklärbaren und nachvollziehbaren Nachweis geliefert hat, was an dieser Welle strukturell bedingt sei
({9})
- Delle, Welle oder Wellendelle; auch eine Welle kann
nach unten gehen -,
({10})
schaffen Sie ein Presserecht, das nicht die damaligen
Verengungen im allgemeinen Kartellrecht aufhebt. Sie
gehen über die damaligen Verengungen im Kartellrecht
hinaus und erklären: Jetzt kann ohne Berücksichtigung
der Größe das größte mit dem kleinsten Unternehmen in
Deutschland ohne jede Deckelung fusionieren und kooperieren, wie immer man will.
({11})
Das ist an sich schon verheerend genug. Aber was die
Sache neben dem sehr sensiblen Gut Presse noch verheerender macht, ist Folgendes:
({12})
Mit dieser oberflächlichen Begründung können Sie das
gesamte deutsche Kartellrecht im Grunde in den Papierkorb werfen. Mit der gleichen Begründung kann man sagen: Natürlich behindern Auflagen für Zusammenschlüsse in der Entsorgungsbrache, Herr Repnik, viele
unternehmerische Initiativen. Manch einer würde gerne
ganz anders in der Fläche operieren und sich rechts oder
links verbrüdern, verbinden und organisieren können. In
der Automobilzuliefer- und Lebensmittelbranche haben
wir diese Probleme bereits. Sie können jeden Wirtschaftsbereich nehmen. Alle großen Unternehmen in
Deutschland hätten lieber weniger Kartellrecht. Die
Masse der kleinen Unternehmen in Deutschland hätte
lieber mehr Kartellrecht, weil sie sich dann etwas besser
gegen Macht- und Marktmissbrauch geschützt wähnen.
Sie sollen ja auch geschützt werden.
Mit der Begründung, die Sie hier vortragen und die
durch keine wirklich nachvollziehbare wirtschaftswissenschaftliche Analyse und durch kein Gutachten bewiesen ist,
({13})
wird behauptet, wir hätten ein Strukturproblem und
müssten deshalb alle Grundsätze über Bord werfen.
({14})
Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Deswegen können wir diesem Gesetz leider nicht mehr zustimmen, was
wir sonst gerne getan hätten, weil es immer gut ist, wenn
alle Beteiligten bei Spielregelsetzungen, bei Grundsatzfragen der Volkswirtschaft oder bei verfassungsähnlichen Fragen, die das Funktionieren der sozialen Marktwirtschaft berühren, an einem Strang ziehen; denn die
Akzeptanz solcher Regeln wird erhöht, wenn die Menschen, die diese Regeln beachten und anwenden müssen,
wissen, dass das der Wille des gesamten deutschen Parlaments ist. Insoweit ist das schade. Sie haben uns aber
durch diese Art der Vorgehensweise die Zustimmung unmöglich gemacht.
({15})
Die ersten Steine sind aus dem Damm herausgebrochen. Wir können Ihrer Begründung nicht folgen, weil
wir nicht bereit sind, das Kartellrecht insgesamt zu
schwächen. Dies ist aber ein erster und entscheidender
Punkt zur Schwächung des Kartellrechts. Sie könnten
bei jedem Wirtschaftsbereich die gleichen Begründungen anführen; es gäbe sogar noch gewichtigere Gründe.
Deshalb sage ich: Sie müssen an dieser Stelle noch einmal nachdenken. Ich hoffe, wir werden es im Bundesrat
hinkriegen, dass Sie nachdenken.
Jetzt will ich in die Einzelheiten gehen. Die Altverlegerklausel - das war der Ansatz von Clement - ist jetzt
beerdigt, obwohl noch Elemente in der Fünferregelung,
auf die ich noch zu sprechen komme, durchschimmern.
Darin überlebt der alte Vorschlag in modifizierter Form.
({16})
Es gibt Sondertatbestände, die wir ablehnen; ich habe
das angesprochen. Wir meinen, dass Sie mit dieser Regelung nicht einmal mehr die Obergrenze von
500 Millionen Euro bei Kartellen einhalten, die für alle
Wirtschaftskreise gelten. Es ist bedauerlich, dass Sie das
eingebaut haben. Ich weiß, warum das passiert ist. Ich
muss das hier nicht weiter erläutern; das kann sich jeder
denken. Ich glaube, dass nur bei wenigen Gesetzen so
viel Lobbyarbeit betrieben worden ist wie bei diesem.
Sie haben sich der Lobbyarbeit ein Stück weit ergeben.
Ich meine, dass das zu weitgehend war. Dass sie stattfindet, wissen wir alten Fuhrleute. Wie weit man sich ihr
ergibt, ist jedoch immer die Frage. Daran müssen wir
uns messen lassen.
({17})
Sie sind zu nachgiebig gewesen.
Sie hätten mit uns eine Regelung finden können, um
dem Mittelstand eine stärkere Kooperation zu erlauben,
wenn eine Deckelung vorgesehen worden wäre. Das
wäre vernünftig. Wir haben doch die erfreuliche Bilanz
des Hauses Springer gesehen. Sie wurde gestern veröffentlicht.
({18})
Die Bilanz ist doch erfreulich.
({19})
Die Bilanzen von Bauer und Holtzbrinck sind doch erfreulich. Die Bilanz der WAZ ist ebenfalls erfreulich.
Bei der WAZ arbeitet übrigens ein ehemaliger Kanzlerberater. Vielleicht hat der seine Beratungen wieder aufgenommen.
({20})
Die WAZ kann ertragsmäßig - das ist ihr von Herzen
gegönnt - vor Kraft nicht laufen. Sie hat das strukturelle
Problem, das Sie anführen, nicht. Die WAZ weiß, dass
sie in Zukunft vor allem auf dem europäischen Markt
agieren muss. Eine weitere Konzentration auf Deutschland ist nicht gut bekömmlich, aus welchen Gründen
auch immer, übrigens auch aus unternehmerischen
Gründen nicht. Insoweit ist die WAZ gehalten - das tut
sie auch -, in Osteuropa Fuß zu fassen. Die Expansion,
die wir positiv sehen und der WAZ wünschen, wird auf
europäischer Ebene erfolgen. Das sind nicht die Punkte,
die so wichtig waren. Sie sind ihr gefällig gewesen. Es
hat Verflechtungen gegeben. Ich weiß nicht, was versprochen worden ist.
({21})
Das macht uns an dieser Stelle so besonders ängstlich
und zurückhaltend.
Ich möchte noch etwas zu den Presse-Grosso-Vertretern sagen. Die Verteilung der Zeitungen in Deutschland ist ein sehr komplizierter Vorgang. Insoweit kann
man Ausnahmen von eigentlichen unternehmerischen
und kaufmännischen Prinzipien nicht nur akzeptieren,
sondern sogar mit erfinden, damit das vernünftig läuft.
Ich begrüße sehr, dass es eine Vereinbarung zwischen
den Verlagen und dem Presse-Grosso gegeben hat und
man diese Art der Verteilung stabilisieren will. Das haben Sie jetzt in den Änderungen bezüglich Abonnement
und Vertrieb akzeptiert. Wir haben immer gefordert, dass
das beachtet werden muss. Trotzdem bleibt natürlich
auch da richtig: Jede weitere Konzentration in der Presselandschaft wird diese Presse-Grosso-Vertriebe unvermeidlich gefährden.
Deshalb können Sie keine reine Freude an diesem
Vorgang empfinden. Sie sind froh, dass die Vereinbarung
zustande gekommen ist. Sie sitzen aber zwischen Baum
und Borke und hoffen, dass das Eis trägt, auf dem Sie
miteinander gehen wollen. Ich sage Ihnen aber: Die
Konzentrationsvorschübe, die Sie leisten, bleiben in diesem Bereich problematisch.
Ich habe noch eine Frage: Wie kommen Sie eigentlich
darauf, die Sonderregelung zu treffen, dass sich fünf Zeitungen bzw. fünf Verlage zusammentun dürfen? Ich habe
darüber nachgedacht.
({22})
- Ich werde das noch erläutern. - Im Kartellrecht kennen
wir eigentlich nur Größenordnungen in Höhe von 25 Millionen oder 50 Millionen. Manchmal spricht man auch
von Größenordnungen in Höhe von 100 Millionen oder
500 Millionen. Diese Größenordnungen kann man vertreten.
Sie sagen einfach fünf, ohne dabei eine finanzielle
Größenordnung anzugeben.
({23})
Hängt es vielleicht damit zusammen, dass es fünf Finger
an einer Hand gibt? Das wäre ja eine natürliche, biologische Erklärung für diese Zahl. Die Zahl ist doch eigenartig und nicht begründbar; sie wird auch nirgendwo erklärt.
({24})
Deswegen muss der Verdacht aufkommen, dass es eine
5-er Konstellation gibt, die schon mit Ihnen gesprochen
hat. Gibt es so etwas? Wurde das schon berechnet? Haben einige schon eine Strategie?
({25})
- Nein, es sind schon so viele, die mit der Zahl Fünf
rechnen. Sie glauben gar nicht, wer mir schon alles vorgerechnet hat, was man mit Fünf alles machen kann.
({26})
Genau deswegen sind wir dagegen. Das sprengt jeden
Ansatz, den wir sonst im Kartellrecht haben. Ich sage Ihnen: Sie richten mit dieser Aktion erheblichen Schaden
an.
({27})
- Nein, auch die Sechs hätte eine biologische Erklärung.
Nein, ich bleibe dabei: Wo kommt die Zahl Fünf her?
({28})
Sie bleibt unerklärlich.
Der Gesetzgeber sollte jedoch rational und nachvollziehbar handeln. Hier handelt es sich um reine Spekulation, nehme ich zu Ihren Gunsten an. Das kann nicht vernünftig sein, das ist falsch.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, der mir in
diesem Zusammenhang sehr wichtig ist: Wie wertvoll ist
die Presse? Ich bitte die SPD noch einmal, ihre Pressebeteiligungen zu überprüfen.
({29})
Es ist der SPD unbenommen, ihre Gelderträge
({30})
in der Volkswirtschaft zu organisieren.
({31})
Da es doch so große strukturelle Probleme in der Zeitungsbranche gibt - Sie behaupten, diese seien der
Grund für die Reform ({32})
und die Risiken groß sind, würde ich Ihnen auch im Interesse Ihres eigenen Vermögens empfehlen, aus der Zeitungsbranche auszusteigen. Handeln Sie doch kaufmännisch vernünftig und lassen Sie in Zukunft gelten: Das,
was draufsteht, muss auch drin sein.
({33})
Das, was drin ist, muss auch auf den Titelblättern stehen.
Wenn auf Zeitungen, die Ihnen zum Teil gehören und
von Ihnen maßgeblich beeinflusst werden,
({34})
„unabhängig, überparteilich“ steht, dann ist das eine Verbrauchertäuschung, die Sie in jedem anderen Bereich, in
dem Sie nicht selber betroffen sind, durch Ihre Verbraucherministerin längst gestoppt hätten. An dieser Stelle
lassen Sie die Verbrauchertäuschung weiter zu.
({35})
- Nein, es ist eine Frage der politischen Hygiene, über
die wir hier reden,
({36})
und keine Frage des Klagerechts.
({37})
Wenn die CDU die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
oder den „Spiegel“ eigentümermäßig mit 30 oder 40 Prozent beeinflussen könnte,
({38})
wollte ich sehen, wie Sie, die Sie hier alle sitzen, mit diesem Thema umgehen würden.
({39})
Ich kann Sie beruhigen: Wir hätten das Geld, um uns an
der einen oder anderen Seite zu beteiligen; aber wir tun
es aus Prinzip nicht. Es gehört sich nicht, dass politische
Parteien Zeitungen herausgeben und beeinflussen, die
nicht nur für ihre eigenen Mitglieder bestimmt sind.
({40})
Ansonsten müssten Sie darauf schreiben: Dies ist eine
Zeitung der SPD. - Wir werden daher den Verdacht nicht
los, dass Ihre eigenartige Großzügigkeit in der Pressefusionsfrage
({41})
etwas damit zu tun hat, dass Sie auch eigene, für uns im
Moment nicht wirklich erkennbare, aber aus gutem
Grund vermutete wirtschaftliche Interessen an diesen
Regelungen haben. Das verbietet sich und ist ungehörig
bei einem solchen für die Demokratie und die Presse
wichtigen Recht.
Ich bedanke mich.
({42})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Schauerte, ich freue mich, dass wir uns über die Bedeutung und den Stellenwert des Wettbewerbsrechts als
Magna Charta in der Marktwirtschaft einig sind. Das
klang jedenfalls in Ihren ersten Sätzen an. Ich hätte mich
noch mehr gefreut, wenn sich die Einigkeit auch auf
sämtliche Kapitel und Detaillösungen erstreckt hätte und
wenn Sie nicht auf dem schwierigen Feld der Pressefusion spekulative Attacken geritten und Eskapaden gemacht hätten.
({0})
Sinn und Zweck der siebten Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist die Anpassung an
das seit Mai vorigen Jahres geltende, vorrangige europäische Kartellrecht. Damit wird ein einheitliches Recht
für große, grenzüberschreitende Unternehmen sowie für
kleine und mittelständische Unternehmen geschaffen.
Das neue Wettbewerbsrecht bringt etliche Verbesserungen. Hervorheben möchte ich die Stärkung der Verbraucherinteressen sowie ein verbessertes Anhörungsrecht
und die Möglichkeiten für Verbraucherverbände, gegen
den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen
vorzugehen.
Für uns gehören hohe Wettbewerbsintensität und hoher Verbraucherschutz zusammen. Bei der Kontrolle der
Einhaltung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen wird das Anmelde- und Genehmigungsverfahren
durch das System der Legalausnahme ersetzt. Die Unternehmen selbst müssen einschätzen, ob eine Vereinbarung zu unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen führt
oder nicht. Damit setzen wir künftig auf mehr Eigenverantwortung der Unternehmen und leisten einen Beitrag
zum Bürokratieabbau.
Um der Gefahr von Missbrauch und Intransparenz
entgegenzuwirken, werden die Sanktions- und die Ermittlungsbefugnisse der Kartellbehörden gestärkt und
die private Rechtsdurchsetzung vereinfacht. Ziel ist, die
Kartellbehörden von unnötigen Verfahren zu entlasten.
Dem stehen erweiterte Einspruchs- und Klagemöglichkeiten der von solchen Vereinbarungen möglicherweise
betroffenen Wettbewerber und Verbraucherverbände gegenüber. Deswegen haben wir nach ausführlicher Diskussion den ursprünglichen Gesetzentwurf im Punkt
„vorläufiger Rechtsschutz bei Ministererlaubnis“ geändert. Eine solche Ausnahmeerlaubnis kann von Drittbetroffenen weiterhin angefochten werden. Es gibt also
keine Beschränkung.
Um Rechtsklarheit zu schaffen und ein zweiteiliges
Kartellrecht zu verhindern, werden Vereinbarungen ohne
zwischenstaatliche Bedeutung dem europäischen Recht
angepasst. Dabei geht es unter anderem um die Beibehaltung der Freistellung von Mittelstandskooperationen.
Dies erhöht die Rechtssicherheit für kleine und mittlere
Unternehmen.
Ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten des Gesetzes
eingehen. Nur einige Worte zur Kritik der FDP-Fraktion:
Sie lehnt unter anderem eine Vorteilsabschöpfung
durch die Verbraucherverbände ab und begründet das damit, dass sich sonst das deutsche Sanktionsrecht dem
US-amerikanischen annähere. Wenn man das genau betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass das nicht der
Fall ist; denn das Recht auf Vorteilsabschöpfung bietet
keine Möglichkeit für eine Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild, sondern eröffnet die Möglichkeit
für eine echte Verbandsklage. Nach unserer Auffassung
sind Missbrauchsmöglichkeiten dabei ausgeschlossen.
Außerdem folgt die Regelung ganz klar dem Vorbild des
Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb.
Sie haben sicherlich noch meine kritischen Worte bei
der Einbringung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend
das Kartellrecht im Pressebereich in Erinnerung; das haben Sie angesprochen. Wenn Sie sich den vorliegenden
Gesetzentwurf genau anschauen und ehrlich sind, dann
können Sie wesentliche Verbesserungen im Vergleich
zum ursprünglichen Gesetzentwurf feststellen.
({1})
Die einhellige Kritik am Redaktionsmodell oder an der
so genannten Altverlegerlösung, die in der Sachverständigenanhörung geäußert wurde, ist fast vollständig aufgegriffen worden.
Nach intensiven Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner haben wir uns auf einen tragfähigen Kompromiss in Sachen Pressefusion geeinigt. Wir haben eine
Lösung gefunden, die Verlagen in der Krise die Möglichkeit bietet, mit anderen Verlagen - unter bestimmten
Umständen und bei Garantie ihrer redaktionellen Selbstständigkeit - zu kooperieren. Es gibt nun also - im Gegensatz zum ursprünglichen Gesetzentwurf - keine
Möglichkeit mehr für eine verschwiemelte Fusion. Diese
Lösung trägt der Erkenntnis Rechnung, dass auch
Presse- und Meinungsvielfalt einer wirtschaftlichen
Grundlage bedürfen.
Werner Schulz ({2})
Zu der berechtigten Kritik, dass der Gesetzgeber
keine sektorale Strukturpolitik betreiben darf, muss ich
natürlich sagen: Wir dürfen den Strukturwandel durch
eine restriktive Gesetzgebung nicht verhindern. Auch da
müssen wir einen Ausgleich schaffen. Ich glaube, dass
die notwendige Balance mit dem jetzt vorliegenden Ansatz gewahrt ist.
({3})
Künftig sind Kooperationen zwischen Presseverlagen im Bereich „Anzeigen, Vertrieb und Druck“ möglich, wenn eine solche Kooperation zur langfristigen Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage mindestens
einer der beteiligten Zeitungen erforderlich ist. Damit
wollen wir das Überleben bedrohter Zeitungen ermöglichen, ohne dass diese auf ihre publizistische Eigenständigkeit verzichten müssen.
Weil wir davon ausgehen, dass auch solche Kooperationen den Wettbewerb einschränken und die Vielfalt gefährden können, muss das Kartellamt sie vorher genehmigen. Wettbewerb auf dem Pressemarkt trägt dazu bei,
Meinungsvielfalt zu ermöglichen. Sie ist daher einer lebendigen Demokratie verpflichtet. Die Bürgerinnen und
Bürger müssen die Möglichkeit haben, sich umfassend
und aus verschiedenen Quellen zu informieren und ihre
Meinung zu bilden. Wir haben in Deutschland, wie
schon gesagt, eine Presselandschaft, die in ihrer Vielfalt
einzigartig ist und auch in wirtschaftlich schwierigen
Zeiten unbedingt erhalten werden muss, um ebendies zu
garantieren.
({4})
Das Kartellamt hat nun einen großen Ermessensspielraum. Es muss prüfen, ob die Kartelle zum Erhalt der
Zeitungen und deren langfristiger Sicherung erforderlich
sind oder ob es weniger wettbewerbsbeeinträchtigende
Möglichkeiten zum Erhalt der Zeitungen gibt. Die Prüfung der Erforderlichkeit beinhaltet eine Beurteilung der
gegenwärtigen und zukünftigen wirtschaftlichen Situation der betroffenen Zeitungen. An einer Kooperation
dürfen maximal fünf Zeitungen beteiligt sein. Herr
Schauerte, das ist ein Hinweis darauf, dass wir diese Kooperation nicht unendlich ausdehnen wollen. Natürlich
kann man die Frage „Warum fünf, warum vier, warum
drei, warum nicht sechs?“ - eine Art Zahlenspiel - stellen. Das ist müßig. Ich glaube, es gibt darauf keine
schlüssige Antwort, die Sie zufrieden stellen könnte.
Die so genannte Aufgreifschwelle wird von
25 Millionen Euro auf 50 Millionen Euro erhöht. Verlage, die einen gemeinsamen Umsatz von mehr als
50 Millionen Euro haben, müssen ihr Fusionsvorhaben
vom Kartellamt prüfen lassen. Dies entscheidet dann, ob
eine marktbeherrschende Stellung entsteht. Verlage mit
einem Jahresumsatz von unter 2 Millionen Euro können
sich, wenn sie das wollen, mit anderen Verlagen zusammenschließen, ohne dass das Kartellamt dies prüft. Der
Umsatz der hinzukommenden Verlage fällt dann nicht
ins Gewicht.
Außerdem haben wir eine Missbrauchsklausel vereinbart. Das Kartellamt bekommt dadurch die notwendige Handhabe, um gegen Kooperationen, die durch die
Hintertür doch zu Fusionen führen und bei denen die redaktionelle Vielfalt gefährdet wird, vorzugehen. Dadurch haben wir das Kartellamt im sensiblen Bereich der
Presse- und Meinungsvielfalt gestärkt.
Die Regelung über die Kooperationszusammenschlüsse ist auf fünf Jahre befristet. Danach werden wir
sie auf der Grundlage von wissenschaftlicher Analyse
und einem Erfahrungsbericht der Bundesregierung evaluieren. Bestehende Kooperationen werden allerdings
Bestand haben. Entscheidend wird sein, ob die neuen
Regeln den Praxistest bestehen, ob Kooperationen im
Bereich „Anzeigen, Vertrieb und Druck“ bei redaktioneller Selbstständigkeit die wirtschaftliche Situation etlicher Zeitungen verbessern können. Wir werden die Lage
genau verfolgen und überprüfen. Die eingefügte Evaluationsklausel hilft uns, Veränderungen wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren.
Herr Kollege Schauerte, Sie haben gesagt: Das ist
eine Operation am offenen Herzen. Sie werden gespannt
sein, wie die Überprüfung im Bundesrat ausfällt. Ich
finde, Sie sollten nicht nur gespannt sein, sondern auch
etwas beitragen.
({5})
Ich habe von Ihnen nicht gehört, was Sie besser machen
wollen.
({6})
Einer Operation zuzuschauen ist wirklich keine Leistung. Manchmal ist es besser, früh einen Bypass zu legen, als dem Rat zu folgen, den Herzinfarkt zu ignorieren. Das entspräche dem, was Sie vorgeschlagen haben:
die Krise auf dem Zeitungsmarkt überhaupt nicht zur
Kenntnis zu nehmen und darauf nicht zu reagieren. Wir
haben versucht, hier eine Brücke zu bauen, um die Pressevielfalt zu erhalten und gleichzeitig den Wettbewerb
zu stärken.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
({0})
Herr Tauss, Sie waren schon besser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist in der Tat
nicht irgendein Gesetz; es ist das Grundgesetz einer sozialen Marktwirtschaft. Die Fehlentwicklung der Wettbewerbsstrukturen ist eine der Ursachen dafür, weshalb
wir in Deutschland zunehmend weniger erfolgreich
wurden, weshalb das Wachstum des Produktionspotenzials viel zu niedrig ist und wir bei der Bewältigung der
Arbeitslosigkeit nicht recht vorankommen.
Es war bisher Tradition bei allen Novellen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die entsprechenden Regelungen parteiübergreifend zu treffen. Sie
wollten das diesmal nicht. Wir waren immer gesprächsbereit. Ich hatte damals ausdrücklich auch dem Kollegen
Heil angeboten - bei der Anpassung an das europäische
Recht sind wir nicht weit auseinander -, ein Gespräch zu
führen. Es wurde nie geführt. Das hat man nicht gewollt.
Vielleicht war auch das Gerangel innerhalb der Koalition
so groß, dass man es nicht konnte.
Das, was heute als Koalitionskompromiss vorgelegt
wird, lehnt die FDP ab.
({0})
Ich muss das präzisieren: Wir müssen dies als Partei der
sozialen Marktwirtschaft, des Wettbewerbs, ablehnen.
Wir werden uns im Vermittlungsausschuss wiedersehen; denn Sie brauchen die Zustimmung des Bundesrates. Das Gesetz wird so, wie es heute von Ihnen auf
den Weg gebracht wird, mit Sicherheit nicht rechtskräftig.
({1})
Interessant ist, dass heute der Bundesverband der Zeitungsverleger, dem immerhin so renommierte Verlagshäuser wie der Spiegel-Verlag - ({2})
- Herr Tauss, müssen Sie immer stören? Können Sie
nicht einmal zuhören? Sie sind doch hier nicht am
Stammtisch, sondern im Parlament.
({3})
- Hören Sie doch mal zu! Immer muss Herr Tauss dazwischenquaken, um davon abzulenken, dass ihm nichts
einfällt.
({4})
Also: Der Bundesverband der Zeitungsverleger hat
heute ein Rechtsgutachten der Universität Rostock
vorgelegt, das Ihren Gesetzentwurf für verfassungswidrig hält. Immerhin gehören diesem Bundesverband
der Spiegel-Verlag,
({5})
der Burda-Verlag, der Süddeutsche Verlag und andere
an.
Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist eine Klatsche für den Bundeswirtschaftsminister. Das von ihm jedoch vehement verteidigte Altverlegermodell hätte das
Ende einer Fusionskontrolle im Zeitungsmarkt bedeutet.
Damit wäre ein wesentliches Element des Wettbewerbsrechts zugunsten einer Branche platt gemacht worden.
({6})
Mit diesem Vorhaben ist Herr Clement zu Recht vor die
Wand gelaufen.
Wir sind das gewohnt. Das passiert ihm oft: bei der
Unternehmensteuerreform, beim Antidiskriminierungsgesetz, der EU-Dienstleistungsrichtlinie, beim Energiewirtschaftsgesetz und jetzt beim Pressefusionsrecht. Der
Wirtschaftsminister kann sich in dieser Koalition, in dieser Regierung eben nicht durchsetzen, und das vor dem
Hintergrund von 5,5 Millionen Arbeitslosen.
({7})
Zweiter Verlierer sind die Grünen. Sie tragen Bürgerrechte wie eine Monstranz vor sich her.
({8})
Aber wenn es im Bundestag zum Schwur kommt - siehe
Sicherheitsgesetze, siehe Bankgeheimnis
({9})
- Frau Hustedt, Sie werden doch bald irgendwohin berufen; Sie bekommen doch bald einen Job -, siehe Pressekartellrecht -, machen die Grünen mit. Insgesamt beweist Grün-Rot einmal mehr, dass sie mit Wettbewerb
nicht viel am Hut haben.
({10})
Zwar sieht das Pressekartellrecht Genehmigungen
seitens des Bundeskartellamtes für Anzeige-, Vertriebsund Druckkooperationen vor; aber die engen Prüfkriterien schränken diesen Genehmigungsvorbehalt gleich
wieder entscheidend ein. Nach Ihren Vorstellungen muss
das Bundeskartellamt auch dann eine Zusammenarbeit
zulassen, wenn diese zu einer Marktbeherrschung führt.
Sie missbrauchen die Magna Charta der sozialen Marktwirtschaft für sektorale Strukturpolitik.
Auch die kleinen Verlage sind den Grünen und Roten
offenbar schnuppe; sonst würden sie der Einführung einer Bagatellklausel nicht zustimmen.
({11})
Es können circa 30 selbstständige Zeitungsverlage kontrollfrei aufgekauft werden.
Herr Kollege Schulz, ich schätze Sie sonst sehr, muss
Ihnen jedoch einige Zitate Ihrer Rede bei der ersten Behandlung der Novelle vortragen.
({12})
Sie sagten wörtlich - ich zitiere aus dem Protokoll des
Bundestages -:
Es ist aber nicht nachvollziehbar, warum auf die
konjunkturellen und strukturellen Herausforderungen einer Branche
- die Pressebranche ist gemeint mit einer so umfassenden Gesetzesänderung reagiert werden sollte.
({13})
Ein weiteres Zitat:
Allerdings gehen die Vorschläge zur Anzeigenkooperation zu weit.
Anderes Zitat:
Auf unsere Ablehnung stößt auch die Einführung
einer Bagatellklausel ... Das wären möglicherweise
Schnäppchen für die Großen.
Ein weiteres Zitat:
Wir sind der Auffassung, all diese Regelungen würden zu weniger und nicht zu mehr Vielfalt auf dem
Pressemarkt führen.
- Soweit die damalige Äußerung des Kollegen Schulz.
({14})
Aber das wird dann wie immer schnell wieder geändert.
({15})
Bisher galten wenigstens im Pressebereich die gleichen Kontrollmaßstäbe für Entstehung oder Verstärkung
einer marktbeherrschenden Stellung wie in anderen
Märkten. Sie wollen nun ausdrücklich ein weniger strenges Wettbewerbsrecht für eine bestimmte Branche. Das
bedeutet nicht weniger und nicht mehr als den Anfang
vom Ende eines allgemeinen Wettbewerbsrechts.
({16})
Sie setzen Ihren Weg fort nach den Sonderregelungen im
Energiesektor und dem Weisungsrecht im Telekommunikationsbereich. Es hat keine Bundesregierung, egal welcher Couleur, je gewagt, ein Weisungsrecht in einen
bestimmten Markt hinein gesetzlich zu konstituieren. Da
zeigt sich, dass Sie eben nicht in gesamtwirtschaftlichen
Zusammenhängen denken und nach ordnungspolitischen Prinzipien handeln, sondern Ihr Denken und
Handeln an einzelnen Betrieben bzw. Konzernen ausgerichtet ist. Bei Ihrer Politik ist Wettbewerb also nicht
mehr die Essenz der Marktordnung.
Ich hätte mir sehr gewünscht - das ist eine Randbemerkung -, wenn der Vorgänger von Herrn Clement in
Brüssel genauso engagiert für Wettbewerbsprinzipien
wie für einen Sockel an Steinkohlensubventionen gekämpft hätte. Wir sehen jetzt, was sich daraus als nächster Schritt ergibt: Die Pläne zum Börsengang einer neuen
Ruhrkohle AG, die jetzt Herr Müller leitet, sind das Ergebnis.
({17})
- Das hat sehr viel mit Ordnungspolitik zu tun, Frau
Hustedt, auch wenn Sie das nicht übersehen. - Subventionen werden fortgeführt, die Risiken des Steinkohlenabbaus auf den Staat abgewälzt, während die anderen
Geschäftsfelder privatisiert werden.
({18})
Risiken sozialisieren, Gewinne privatisieren - das ergibt
sich in Konsequenz aus einer vorhandenen Schieflage in
der praktischen Umsetzung.
Wir haben Ihnen zehn konkrete Verbesserungsvorschläge vorgelegt, um das Wettbewerbsrecht effektiver
zu machen. Sie haben das eine oder andere - das gebe
ich zu - in den Entwurf aufgenommen, wären aber gut
beraten, diese Vorschläge viel ernsthafter in Ihre Überlegungen einzubeziehen. Denn jenseits aller parteipolitischen Auseinandersetzungen wäre es gut, wenn es ein
paar Dinge in der Wirtschaftspolitik gäbe, auf die man
sich parteiübergreifend einigt. Das war bisher auch die
Tradition. Der Mechanismus des Wettbewerbs ist nämlich die Essenz der marktwirtschaftlichen Ordnung. Der
jetzt eingeschlagene ordnungspolitische Weg führt allerdings weg von einem dezentral gesteuerten Wettbewerb
hin zu einer sektoralen Industriepolitik. Sie verfolgen
damit Ansätze, die nicht zu mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit führen und letztlich den Steuerzahler viel
Geld kosten werden und viele Beschäftigte um ihre Arbeitsplätze bringen werden.
({19})
Überlegen Sie einmal, was Sie mit Ihren Fehlsteuerungen, sei es im Bereich der Steinkohle oder im Stahlsektor, angerichtet haben: Das Geld ist weg, die Arbeitsplätze sind auch weg und die Situation ist nicht besser
geworden.
({20})
- Dass Sie da, Herr Tauss, als ein Mann, der sich jahrelang bei der IG Metall aktiv engagiert hat, befangen
sind, verstehe ich ja. Sie sollten aber trotzdem die Kraft
aufbringen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und
ab und zu auch einmal zuzuhören.
Es wäre gut, wenn man nicht nur beschwört, dass Demokraten zusammenstehen sollen, sondern sich bei
wirklichen Grundsatzfragen - und hier geht es um eine
Grundsatzfrage - auch so verhalten würde. Es wäre
demnach gut gewesen, wenn der Wirtschaftsminister
statt auf der CeBIT bei einem so wichtigen Gesetz auch
dem Parlament seine Präsenz gegönnt hätte.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nachdem ich Herrn Schauerte gehört
habe, komme ich zu dem Schluss, dass er nicht wahrgenommen hat, was seit einigen Jahren passiert. Sie haben praktisch ignoriert, dass es tatsächlich strukturelle
Änderungen im Zeitungsmarkt gibt.
({0})
Sie haben gesagt, diese gebe es de facto nicht.
({1})
Man muss einfach einmal sehen: Durch das Internet
wurde beispielsweise der Anzeigenmarkt bei Druckerzeugnissen erheblich kleiner. Heute verkauft doch keiner mehr sein Auto über die örtliche Zeitung, sondern
nur noch über das Internet.
({2})
Das ist de facto so; diese Entwicklung kann man nicht
mehr zurückdrehen. Auch bei einer Verbesserung der
konjunkturellen Lage würde sich diese Situation nicht
ändern, sondern sie würde so bleiben. Darauf müssen
wir doch reagieren. Das ist der Punkt.
Sie haben die ganze Zeit nur größere Zeitungen angesprochen. Wir reden im Zusammenhang mit Pressefusionen nur über Zusammenschlüsse von Zeitungen. Wir reden nicht über Verlagszusammenschlüsse oder über
Zusammenschlüsse von Zeitschriften, sondern über Zeitungszusammenschlüsse bzw.
({3})
- das wollte ich jetzt anführen - Kooperationen.
({4})
Ich komme aus einer Region, Herr Schauerte, in der
es hauptsächlich kleine Zeitungen gibt. Ich sehe, dass
deren Abonnentenzahl stark zurückgegangen ist, unter
anderem deswegen, weil es mittlerweile viele kostenlose
Angebote von Wochenblättern etc. gibt.
({5})
Diese haben sozusagen geradezu gefleht, dass sie wenigstens den Abonnementbetrieb zusammen machen
dürfen und dass Anzeigenkooperationen erlaubt sind.
Das sind Punkte, die wir hier aufgegriffen haben.
({6})
Das ist eine notwendige Änderung, die genau diesen
kleinen Zeitungen vor Ort hilft, statt sie zu zerstören.
Wir waren als Kulturpolitiker sehr intensiv daran beteiligt. Gegenüber den ersten Vorschlägen waren wir kritisch; das haben Sie vollkommen richtig gesagt. Deswegen hat das Parlament nun anderthalb Jahre diskutiert
und ganz konkrete Änderungen vorgeschlagen. Das Kartellamt ist explizit mit einbezogen worden, auch bei der
Frage der Kooperationen und der Zusammenschlüsse.
Außerdem haben wir das Instrument der Evaluation eingeführt, was dazu führt, dass ab morgen, wenn das Gesetz in Kraft tritt, überprüft wird, wie die Umsetzung
verläuft. Ich glaube, das sind entscheidende Punkte: erstens, dass das Kartellamt auch weiterhin einbezogen
wird - das ist eine wesentliche Verbesserung gegenüber
der vorherigen Regelung -, und zweitens, dass der Prozess in Form der Evaluation begleitet wird und überprüft
wird, ob die Umsetzung des Gesetzes tatsächlich funktioniert.
({7})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Gerne, natürlich.
({0})
Sie haben ja, Frau Kollegin Griefahn, als Laufzeit
dieser Regelung fünf Jahre vorgesehen.
Richtig.
In dieser Zeit wollen Sie überprüfen. Was machen Sie
denn, wenn in den fünf Jahren etwas falsch läuft? Haben
Sie die Möglichkeit, das, was falsch läuft, zurückzuholen, oder muss das Falsche dann bestehen bleiben?
Das ist genau der Punkt: Dadurch, dass das Kartellamt die Umsetzung begleitet, kann auch eingegriffen
werden.
({0})
- Das werden wir dann sehen. Dafür läuft der Evaluationsprozess ab morgen.
({1})
Zu einem weiteren Punkt, der ganz wichtig ist, der
vor allem uns als Kulturpolitikern ganz wichtig war.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brüderle?
Lassen Sie mich doch kurz noch zu den anderen
Punkten kommen, vielleicht komme ich dann ohnehin zu
dem, was Sie fragen wollen.
Sie gestatten sie also nicht.
Im Moment nicht.
Wenn wir - darauf haben Sie richtig hingewiesen;
auch da spreche ich wieder vom ländlichen Raum - eine
Pressevielfalt auch in der Fläche erhalten wollen, dann
ist es ganz entscheidend, dass wir das Presse-Grosso erhalten und dass gewisse Zeitungen an jedem Ort gekauft
werden können, nicht nur in der Großstadt am Bahnhofskiosk.
({0})
Ich bin sehr froh, dass es eine Vereinbarung zwischen
den Verlagen und dem Presse-Grosso gibt. Wir haben in
unseren Gesetzentwurf ebenfalls aufgenommen, dass genau geprüft wird, ob die Umsetzung so erfolgt, wie wir
uns das vorstellen, und werden gegebenenfalls aktiv
werden können. Deswegen glaube ich auch, Herr
Brüderle, dass Ihr Entschließungsantrag in diesem Falle
unnötig ist; denn wir haben das in den Gesetzentwurf
aufgenommen. Es ist Teil der Beratungen, die wir in den
letzten anderthalb Jahren durchgeführt haben. Das Parlament und die Fraktionen haben das aufgegriffen. Die
Formulierung ist so gewählt, dass wir die Kooperation in
diesem Fall ausschließlich auf den Abonnementvertrieb
konzentrieren. Darüber hinaus prüfen wir, ob die Vereinbarung so umgesetzt wird, wie wir uns das vorstellen.
Das ist uns als Parlament wichtig und da schauen wir genau hin.
({1})
Natürlich besteht im Feld der Kooperationen eine
Gefahr. Natürlich muss gewährleistet sein, dass die Redaktionen tatsächlich selbstständig bleiben. Die Redaktionsselbstständigkeit ist das A und O für die Pressevielfalt. Mit den konkreten Maßnahmen, die wir hier
vorschlagen, unternehmen wir den Versuch - es ist ein
Versuch; bei jedem Gesetz kann sich herausstellen, dass
an einigen Stellen Änderungen vorgenommen werden
müssen, wenn die Praxis zeigt, dass das eine oder andere
nicht richtig funktioniert -, Redaktionstätigkeit zu erhalten, die sonst ganz wegfallen würde. Die kleinen Zeitungen, die ich eben erwähnt habe, würden sonst sang- und
klanglos untergehen, sie würden dann einfach zugemacht. Sie werden nicht aufgekauft, sondern verschwinden einfach. Wenn hier mit der Bagatellgrenze die Möglichkeit besteht, durch Kooperationen den Titel als
solchen und die Redaktion als solche zu erhalten, dann
ist das einen Versuch wert; das gilt auch für die Fusion
bei kleineren Titeln mit weniger als 2 Millionen Euro
Jahresumsatz.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, bei dem wir, wie
bei anderen Punkten, die uns wirklich im Magen lagen,
zum Beispiel beim Altverlegermodell, in den vielen Debatten, die wir hatten, eine Lösung gefunden haben, die
praktikabel und redaktionsfreundlich ist, auch im Sinne
der Pressevielfalt. Herr Heil wird sicherlich nachher
noch auf die anderen Punkte in diesem Zusammenhang
eingehen. Die Unterstellungen, die bezüglich der Beteiligungen der SPD geäußert wurden, sind unglaublich und
können nicht unwidersprochen bleiben.
({2})
Meine Redezeit reicht allerdings nicht aus, um dies klarzustellen. Herr Heil wird, wie gesagt, noch darauf eingehen.
Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSUFraktion.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Hinweis der Vizepräsidentin Frau
Dr. Vollmer, dass sich die Regierungsbank füllen möge,
hat gewirkt. Der Anteil der anwesenden Regierungsmitglieder hat sich immerhin um 200 Prozent erhöht.
({0})
Jetzt sitzen immerhin zwei Staatssekretäre auf der Regierungsbank, um dieser wichtigen Debatte zu lauschen.
Aber eigentlich müsste bei dieser wichtigen Debatte, in
der es um wesentliche Punkte geht, der Bundeswirtschaftsminister selbst zugegen sein.
({1})
Ich möchte nicht darauf eingehen, was es mit dem
GWB, dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,
speziell auf sich hat. Aber wir wissen, dass unsere Wirtschaft und gerade unser Mittelstand ein klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zu einem freien und fairen
Leistungswettbewerb brauchen.
Ich möchte eingangs feststellen: Dieses GWB hat sich
in der Bundesrepublik Deutschland bewährt. Es hat international anerkannte Maßstäbe gesetzt und den Mittelstand unserer Republik einmal groß gemacht. Erfreulicherweise darf ich darauf verweisen, dass wir in diesem
Bereich bislang immer Konsens hatten. Änderungen
wurden mit größter Sorgfalt, ohne Zeitdruck und unter
Berücksichtigung des Rates Sachverständiger vorgenommen. Leider hat das Rot-Grün in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht immer so gehandhabt. Insbesondere bei einem Teil des Gesetzes, nämlich der
Pressefusionskontrolle, hat man uns, die Opposition, bei
der Entscheidungsfindung völlig außen vor gelassen,
Herr Heil. Darauf komme ich später noch zu sprechen.
({2})
- Herr Tauss, passen Sie gut auf, dass Sie beim Nachplappern nicht auch noch Fehler machen.
({3})
Lassen Sie mich zunächst etwas Grundsätzliches zum
GWB sagen. Hier ist, was das neue europäische Kartellrechtsverfahren anbelangt, festzustellen, dass es sich um
einen Systemwechsel von einem Anmelde- und Genehmigungssystem zu einem System der so genannten
Legalausnahme handelt. Das ist zu begrüßen,
({4})
führt doch dies erstens zur Rechtsvereinfachung, zweitens zu mehr Rechtssicherheit und drittens zu einem geringeren Aufwand für die betroffenen Unternehmen.
Dies ist bei immer mehr Bürokratie besonders wichtig.
({5})
Trotz dieser Anpassung an europäisches Recht dürfen
die Besonderheiten des deutschen Kartellrechts aber
nicht über Bord geworfen werden.
({6})
Für meine Fraktion ist deshalb weiterhin unverzichtbar:
erstens die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende und marktstarke Unternehmen
({7})
sowie zweitens die Beibehaltung des Freistellungstatbestands der Mittelstandskooperation.
({8})
Es wird sich zeigen, wie sich das neue System der
Legalausnahme für die betroffenen Unternehmen auswirkt. Dies hängt entscheidend von der künftigen Handhabung in der Verwaltungspraxis ab. Denn schließlich
wird den Unternehmen das Risiko der Fehleinschätzung
aufgebürdet. Das bedeutet für diese eine erhebliche
Rechtsunsicherheit und finanzielles Risiko.
({9})
Gerade deshalb braucht der Mittelstand in bestimmtem
Umfang Unterstützungsmaßnahmen durch die Wettbewerbsbehörden.
({10})
Für den Mittelstand ist der Erlass einer Verfügung des
Bundeskartellamts, dass kein Anlass zum Tätigwerden
besteht, von herausragender Bedeutung. Unbefriedigend
ist jedoch, dass es im Ermessen der Kartellbehörde liegt,
ob sie eine solche Entscheidung trifft. Aber das will die
Bundesregierung so.
Gerade kleine und mittlere Unternehmen verlieren
Rechts- und Planungssicherheit bei strittigen Fällen und
großen Investitionen, haben sie doch in aller Regel keine
adäquate eigene Rechtsberatung. Kollege Schauerte und
Kollege Brüderle haben das bereits in treffender Art und
Weise angesprochen.
Ihnen drohen stattdessen ein Untersagungs- und Bußgeldrisiko sowie die Nichtigkeit der getätigten Geschäfte.
({11})
Vor allem Investitionen in Zukunftssektoren, wo nicht
auf Erfahrungen aus der Praxis zurückgegriffen werden
kann, können so zu einem unkalkulierbaren unternehmerischen Risiko werden. Das alles sehen Sie nicht.
({12})
Dies kann umso mehr geschehen, als im Rahmen der
siebten GWB-Novelle die Sanktionsmechanismen der
Kartellbehörden verschärft werden sollen.
({13})
Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel an
der Bereitschaft und an dem guten Willen sowohl der
Europäischen Kommission als auch der deutschen Wettbewerbsbehörden, betroffenen Unternehmen auch künftig Gelegenheit zu informellen Gesprächen zu geben.
({14})
Aber in manchen Fällen wird auch in Zukunft Gewissheit über die kartellrechtliche Zulässigkeit einer geplanten Vereinbarung nur durch eine förmliche Entscheidung
der Wettbewerbsbehörden möglich sein. Die Praxis
zeigt, dass etwaige Absprachen vielfach entweder auf
den Einzelfall bezogen sind oder Sachverhalte betreffen,
deren kartellrechtliche Relevanz nicht im Rahmen einer
Gruppenfreistellungsverordnung allgemein gültig beurteilt werden kann.
Im Interesse der Rechtssicherheit und des Nachteilsausgleichs gerade für kleine und mittlere Unternehmen
ist es daher geboten, Unternehmen für einen eng definierten Kreis von Fällen einen Anspruch auf eine Entscheidung nach § 32 c GWB innerhalb einer angemessenen Frist einzuräumen und dies ausnahmsweise nicht
in das Ermessen der Kartellbehörden zu stellen, sofern
ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse
geltend gemacht werden kann. Anknüpfungskriterien
können Umsatzschwellen oder Investitionssummen sein.
Tatsächliche oder rechtliche Umstände, die eine kartellrechtliche Beurteilung erheblich erschweren, müssen dabei vorliegen und vom betroffenen Unternehmen nachgewiesen werden.
Ich erspare mir, auf das Preisbindungsverbot und die
Missbrauchsaufsicht näher einzugehen. Bei der Missbrauchsaufsicht sind die nationalen Regelungen beizubehalten. Es ist gut, dass sie ausdifferenzierter und schlagkräftiger als europäische Bestimmungen sind; das möchte
ich hier ausdrücklich feststellen. So können gerade kleine
und mittlere Unternehmen vor der Gefahr der missbräuchlichen Ausnutzung besonderer Marktmachtpositionen besser geschützt werden. Ebenso ist eine Vorteilsabschöpfung durch Verbände abzulehnen.
({15})
Beim Pressefusionsrecht haben Sie von Rot-Grün
eine völlig unbefriedigende Lösung vorgelegt; sie ist
einfach nicht zu akzeptieren. Grundsätzlich stellt sich
die Frage, warum es überhaupt einer Neufassung bedarf;
({16})
sind wir doch bisher mit der Pressevielfalt, mit den vielen mittleren Verlagen neben den großen, in unserem
Lande gut gefahren.
({17})
Die Behauptung, wir hätten ein Strukturproblem und
deshalb sei die Korrektur notwendig - dies hat soeben
der jetzt nicht mehr anwesende Staatssekretär
Dr. Staffelt vorgetragen; jetzt ist Herr Schlauch da; dies
haben auch die Redner der SPD und Herr Schulz so dargestellt -, ist doch nicht wahr. In der Anhörung haben
verschiedene Sachverständige darauf hingewiesen, dass
diese Behauptung überzeichnet ist.
({18})
Dies sagte zum Beispiel bei der Anhörung zum GWB
der Präsident des Verbandes Bayerischer Zeitungsverleger, Herr Dr. Balle. Herr Kollege Stiegler, wie ich in Erfahrung gebracht habe, hat er Ihnen selbst das gesagt und
Sie sollen ihm sogar Recht gegeben haben.
({19})
Hier so zu schreien und in persönlichen Gesprächen anders zu reden ist ein nicht akzeptabler Stil.
({20})
- Herr Kollege Tauss, wenn Sie nachlesen wollen, was
er genau gesagt hat, dann lesen Sie das Protokoll nach.
Dass Sie es nicht genau wissen, ist ein Zeichen dafür,
dass Sie erstens nicht an der Anhörung teilgenommen
({21})
und zweitens nicht die Zeit gefunden haben, zumindest
das Protokoll nachzulesen, um hier mitreden zu können.
({22})
Sie von Rot-Grün vergessen völlig: Zeitungs- und
Zeitschriftenverlage bringen kein übliches Wirtschaftsgut hervor. Die grundgesetzlich verbürgte Pressefreiheit
ist mittelbar berührt. Gerade die Vielfalt publizistischer
Meinungen, der Verlage und der Titel ist von überragender Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Meinungsbildung. Wir werden es deshalb nicht zulassen,
dass dies von Ihnen mutwillig aufs Spiel gesetzt wird.
({23})
Wir wollen die publizistische Vielfalt weiter schützen.
Ich muss auch auf Folgendes hinweisen: Ursprünglich
sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung mit der so
genannten Altverlegerklausel - Sie haben das eben angesprochen, verehrte Frau Kollegin Griefahn, auch wenn
Sie es anders bewertet haben -, der Freistellung von Anzeigenkooperationen vom allgemeinen Kartellverbot, der
Nichtanwendbarkeit der Vorschriften zur Zusammenschlusskontrolle auf Anzeigenkooperationen und der
Einführung einer De-minimis-Regelung gravierende Änderungen im pressespezifischen Kartellrecht vor.
Diese Regelungen konnten Sie nicht durchsetzen.
Alle einschlägigen Verbände und Institutionen wie die
Monopolkommission, die Kartellrechtsprofessoren, das
Bundeskartellamt und die Landeskartellämter haben sich
dagegen ausgesprochen. Jetzt versuchen Sie es erneut,
und zwar mit Trick 17 durch die Hintertür.
Herr Bundesminister Clement hat vergessen oder will
missachten, dass die Sachverständigen ihm seinen Entwurf regelrecht um die Ohren gehauen haben.
({24})
- Sie haben ihm des Weiteren ins Stammbuch geschrieben, Herr Kollege Stiegler: Ihre Änderungsvorschläge
zum pressespezifischen Kartellrecht genügen den grundsätzlichen Anforderungen an eine Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht. - Das
entspricht der Note sechs; Thema verfehlt.
Jetzt meinen Sie, mit durchschaubaren Vorschlägen
doch noch ihr angestrebtes Ziel erreichen zu können.
Dabei machen wir aber nicht mit.
Ich setze auf den Bundesrat und bin fest davon überzeugt, dass im Vermittlungsausschuss die notwendigen
Maßnahmen ergriffen werden.
Lassen Sie mich noch darauf verweisen -
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, mein Kollege Hartmut Schauerte
hat mir eine Minute Redezeit geschenkt.
Nein, er hat Ihnen keine Minute geschenkt. Der Kollege Schröder, der Schriftführer der CDU ist, hat das
Protokoll exakt geführt.
Dann muss ich mich erkundigen. Es ist bedauerlich,
dass ich nicht die zur Verfügung stehende Redezeit ausschöpfen kann, weil sogar um eine Minute gefeilscht
und diese gestrichen wird.
Alles in allem frage ich Sie: Sind Sie bereit, in sich zu
gehen, das Ganze noch einmal zu überdenken und eine
vernünftige Lösung vorzulegen, die gerade für das Pressefusionsgesetz notwendig ist? Das gilt insbesondere
dann, wenn wir dem Leitgedanken folgen,
Herr Kollege Hinsken, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
- dass eine Änderung überhaupt nicht erforderlich ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu meiner Freude wurde ein Satz in den bisherigen Reden fraktionsübergreifend fast wortgleich wiederholt.
Das GWB ist tatsächlich das Grundgesetz - oder wie einige es nennen: die Magna Charta - der Marktwirtschaft.
Ohne das, was sich mit dem GWB seit 1958 im deutschen Kartellrecht entwickelt hat, hätte sich die Absicherung des Wettbewerbs als entscheidendes Ordnungsprinzip unserer sozialen Marktwirtschaft nicht in der Form
entwickeln können.
({0})
Mit der siebten GWB-Novelle, die wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten, tragen wir auf der einen
Seite dieser guten Tradition und auf der anderen Seite
den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung. Wir
sind uns - auch das freut mich - in vielen Bereichen einig, beispielsweise in Bezug auf die europäische Entwicklung.
Wir werden zukünftig mit dem GWB einen europäischen Rechtsrahmen umsetzen, der sicherstellt, dass bei
der Beurteilung von Kartellvereinbarungen Legalausnahmen das bisherige Anzeige- und Genehmigungsverfahren ersetzen. Dieser Systemwechsel bedeutet auf der
einen Seite - das geben wir offen zu - eine wesentliche
Entlastung der Kartellbehörden von entbehrlichen Routineaufgaben; auf der anderen Seite bietet er Unternehmen
die Möglichkeit, Verfahrenskosten zu sparen. Aber wir
verschweigen auch nicht, Herr Hinsken, dass es gerade
auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Herausforderung darstellt, selber einschätzen zu können, ob ihr
Vorgehen rechtskonform ist.
Nichtsdestoweniger stehen die Kartellbehörden auch
zukünftig für Auskünfte in diesem Bereich zur Verfügung. Es gibt schließlich Telefon, Herr Hinsken. Insofern ist aus unserer Sicht Ihrem Anliegen Genüge getan.
Wir können sicherstellen, dass Unternehmen tatsächlich
Rat einholen können.
Wir können aber nicht auf einen Systemwechsel verzichten. Er ist einerseits vernünftig und andererseits im
Hinblick auf die Europäische Union geboten. Der Umsetzungsprozess ist mit Chancen und Risiken verbunden.
Es wird zwar zweifellos eine Zeit dauern, bis sich alles
eingespielt hat, aber wir bekennen uns zu diesem Prozess.
Wenn wir diesen Systemwechsel vornehmen, müssen
wir eine wirksame Balance schaffen: zwischen den
neuen Freiheiten, die die Unternehmen dadurch gewinnen, und den Möglichkeiten des Kartellamtes, gegen den
Missbrauch dieser Freiheiten vorzugehen. Deshalb ist in
der neuen Fassung des GWB unter anderem vorgesehen,
dass das Kartellamt zur wirksamen Bewahrung des
Wettbewerbs effektive und scharfe Schwerter einsetzen
darf. Es kommt zum Beispiel zur Übernahme des strengeren europäischen Bußgeldsystems. Hinzu tritt die Regelung der Vorteilsabschöpfung, welche von einigen
Verbänden immer wieder kritisiert wird. Sie wissen das;
denn manchmal machen sich diese Kritik auch einige
Kollegen aus Ihren Reihen zu Eigen.
Ich finde es gut, wenn wir in unseren Wettbewerbsgesetzen - das „Grundgesetz“, das GWB, novellieren wir
jetzt; aber es gibt auch noch das UWG, das Gesetz gegen
unlauteren Wettbewerb, und das Telekommunikationsgesetz - möglichst ähnliche oder sogar gleiche Regelungen abbilden. Das ist zum Beispiel bei der Vorteilsabschöpfung, die im UWG, im TKG und nun auch im
GWB einheitlich geregelt ist, der Fall. Das dient der
Klarheit und sollte auch für die Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche gelten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich
möchte meine Redezeit nutzen, um vor allen Dingen
über das heiß umstrittene Thema Pressefusionskontrolle zu sprechen. Herr Schauerte, ich möchte Sie an
dieser Stelle direkt ansprechen. In einem Punkt sind wir
uns einig: Weil der Pressebereich mit Meinungsvielfalt
zu tun hat, muss man für ihn im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen spezielle Regelungen schaffen. Es
war richtig, dass diese Regelungen im Jahre 1976 tatsächlich eingeführt wurden.
({1})
Sie wissen - allerdings haben Sie das in der Debatte
verschwiegen -, dass es damals auch andere Vorstellungen über die Ausgestaltung des Presserechts gab. Inzwischen ist seine Verankerung im Kartellrecht eine bewährte Tradition. Aber im Jahre 1976 herrschte auf dem
Zeitungsmarkt eine andere Situation. Nun fragen Sie
- diese Frage ist auch berechtigt -: Worin besteht der
Unterschied zu anderen Branchen?
({2})
Schließlich fand auch in anderen Branchen ein Strukturwandel, technischer Fortschritt und Ähnliches statt.
Ich will Ihnen sagen: Diese Frage haben Sie zu Beginn Ihrer Rede selbst beantwortet: Der Pressemarkt ist
ein ganz spezieller Markt; denn es geht um MeinungsHubertus Heil
vielfalt. Unsere Überzeugung ist, dass man Meinungsvielfalt nicht nur proklamieren darf, sondern dass man
auch dafür sorgen muss, dass Meinungs- und Zeitungspluralismus in Deutschland eine wirtschaftliche Grundlage haben. Darum geht es.
({3})
Wie ist denn die Lage, die Sie angeblich - denn auch
Sie wissen es besser - nicht zur Kenntnis nehmen wollen? Es gibt im Zeitungsbereich strukturelle Verwerfungen und fortlaufend massive Veränderungen; dies wurde
übrigens auch im Rahmen der Anhörung belegt. Wenn
Sie uns nicht glauben wollen, sage ich Ihnen: Es gibt
auch Gutachten, die dies belegen.
({4})
Lassen Sie mich nur eine Zahl als Beispiel nennen:
Im Jahre 1976 finanzierten sich Tageszeitungen grob
nach dem Schema: ein Drittel Vertriebserlöse, zwei Drittel Anzeigenerlöse. Inzwischen ist das Verhältnis fiftyfifty. Das hat nicht nur konjunkturelle Gründe. Ich gebe
zu: In den letzten drei Jahren waren die Probleme, mit
denen die Zeitungen zu tun hatten, vor allem konjunktureller Natur; diese Situation verbessert sich allerdings
wieder.
({5})
Aber die strukturellen Veränderungen, die Frau
Griefahn vorhin angedeutet hat, möchte ich noch etwas
ausmalen. Wenn man über die Konkurrenz im Anzeigenbereich spricht, muss man berücksichtigen, dass es die
heutigen elektronischen Medien im Jahre 1976 noch
nicht gab. Weder gab es ein Privatfernsehen noch SMS
noch Internet.
Schauen Sie sich nur einmal an, in welchem Umfang
die Anzeigen in den Rubriken Automobile und Immobilien von den Tageszeitungen ins Internet migriert sind;
denn die dortigen Anwendungen und technischen Möglichkeiten sind für die Nutzer viel interessanter als das,
was die Tageszeitungen zu leisten vermögen. Daneben
ist bei denen, die Werbung schalten, ein tief greifender
Konzentrationsprozess zu beobachten. Schauen Sie sich
nur den Lebensmittelbereich an: Lidl, Aldi und viele andere führen umfangreiche Reihen- und Kettenschaltungen durch. Es besteht bei Anzeigen also auf der Nachfrageseite eine unheimliche Marktmacht.
Es gibt also, was die wirtschaftlichen Grundlagen von
Zeitungen betrifft, Veränderungen; das kann man nicht
leugnen. Wenn Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie
sich in den Redaktionen um. Reden Sie mit Redakteuren,
deren Redaktionen massiv zusammengekürzt wurden.
({6})
Reden Sie auch einmal mit Menschen, die als freie Mitarbeiter und Journalisten arbeiten und in einer wirklich
schwierigen Situation sind, und nicht nur mit irgendwelchen Verbandsvertretern.
({7})
Sie sollten wirklich einmal eine solche Redaktion besuchen. Dann würden Sie feststellen, dass Rationalisierung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zwar etwas
Vernünftiges ist. Wenn Rationalisierungsdruck aber dazu
führt, dass die Zeitungen vor allen Dingen im redaktionellen Bereich zusammenschrumpfen, dann ist das ein
Problem für die Meinungsvielfalt; das will ich Ihnen sagen. Wenn die Zeitungsvielfalt darin besteht, dass in den
Redaktionen nur noch Agenturmeldungen zusammengestückelt werden, dann ist das nicht der Meinungspluralismus, den wir wollen.
({8})
Deshalb haben wir eine andere Regelung vorgeschlagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Gerne, Herr Schauerte.
Ich komme aus einem Kreis, in dem sich die Eigentümer der „WAZ“, der damaligen „Westfalenpost“ und der
„Westfälischen Rundschau“ zusammengeschlossen haben, aber die Redaktionen selbstständig blieben. In diesem Kreis gibt es nur diese Zeitungen. Die Lokalredaktionen sind personell so mager besetzt, dass man sie
kaum noch findet. Denn dem Eigentümer ist es egal,
welche Zeitung ein Abonnent bestellt; alle gehören ja
ihm. In dem Nachbarkreis, der auch zu meinem Wahlkreis gehört, Lüdenscheid, gibt es eigentümergeführte,
mittelständische Zeitungen, etwa die „Lüdenscheider
Nachrichten“ der Ippen-Gruppe. Die Lokalredaktionen
sind personell um ein Vielfaches stärker besetzt; das ist
auf den Wettbewerb zurückzuführen. Der Umfang dieser
Zeitungen beträgt das Dreifache der Zeitungen im anderen Kreis; das dient auch der Meinungsvielfalt. Das ist
ein praktisches Beispiel dafür, wie Zusammenarbeit aussehen kann.
Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie mit Ihrer Konzentrationsbeschleunigung, die Sie mit diesem
Gesetz möglich machen, tatsächlich Arbeitsplätze für
Journalisten retten? Sie werden sich wundern.
Ich antworte Ihnen am besten mit einem Beispiel aus
meinem Wahlkreis, Gifhorn-Peine. Er liegt in Niedersachsen. Ich habe das Glück, dass es in meinem Wahlkreis fünf verschiedene Tageszeitungen gibt, die zwei
oder drei Verlegern gehören.
({0})
- Das gibt es in meinem Wahlkreis. Ich lade Sie ganz
herzlich ein. Es gibt zwar nicht so wunderbaren Wein
wie bei Ihnen, aber es gibt fünf Tageszeitungen.
({1})
In meinem Wahlkreis, ganz im Norden, gibt es ein sehr
kleines Blatt, das „Isenhagener Kreisblatt“. Der Verleger
möchte diese Zeitung gern weiterführen. Bei einer Auflage von sage und schreibe 5 000 Exemplaren - die Zeitung ist ganz klein; ich freue mich darüber, dass es das
Blatt gibt - hat der Verleger allerdings kaum noch die
Möglichkeit, gerade bei größeren Unternehmen Anzeigen in nennenswertem Umfang für diese Zeitung einzuwerben. Warum sollten wir es diesem Unternehmen
verweigern, mit einem benachbarten größeren Unternehmen eine Anzeigenkooperation einzugehen?
({2})
- Anzeigenkooperation gibt es schon. Aber wir wollen
sie gerade auch mit Blick auf die strukturelle Veränderung erleichtern.
Von daher glaube ich, dass wir ein gutes Modell gefunden haben, für den Bereich der Anzeigen, des Vertriebs und des Drucks gesellschaftsrechtlich oder auch
vertraglich Kooperationen zu ermöglichen, unter der
Voraussetzung, dass bestimmte Kriterien erfüllt sind. Ich
will Ihnen das gern erklären.
Im Gesetzentwurf ist keine Zusammenlegung von
Redaktionen vorgesehen. Ebenfalls sind keine Fusionen
vorgesehen. Vielmehr wollen wir auf den von mir genannten Feldern Kooperationen in der Reichweite, die
ich eben beschrieben habe, ermöglichen. Das ist allerdings keine Garantie dafür, dass es Freiräume für redaktionelle Arbeit gibt; das will ich Ihnen gern einräumen.
({3})
Aber es bietet die Chance, Meinungsvielfalt zu erhalten.
({4})
Was wäre denn Ihre Alternative etwa für das „Isenhagener Kreisblatt“? Wir wollen jedenfalls nicht zuschauen, wie es zusammenbricht.
({5})
Ich will noch einige Punkte nennen. Wir haben Kriterien aufgestellt, weil wir, Herr Schauerte, nicht wollen,
dass diese Regelungen missbraucht werden. Diese Kriterien sind vorhin genannt worden. Zum einen muss es
der Wettbewerbsfähigkeit dienen; zum zweiten muss
durch die Kooperation eine der beteiligten Zeitungen
langfristig gesichert werden und zum dritten ist eine Begrenzung auf fünf Zeitungen vorgesehen. Herr Kollege
Schauerte, zum fünften Male: Es geht um Zeitungen und
nicht um Verlage.
({6})
- Nein, es geht um Zeitungen und nicht um Verlage.
({7})
Im Gesetzentwurf ist von an der Kooperation beteiligten
Zeitungen die Rede. Lesen Sie bitte den Gesetzestext!
Das hilft.
({8})
Ich will Ihnen klar sagen, dass ich mir in diesem Bereich mehr vorstellen könnte. Da bin ich übrigens in guter Gesellschaft mit Ihrem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, Herrn Pofalla, den ich heute sehr vermisse.
Herr Hinsken, warum schweigen Sie eigentlich dazu,
dass Herr Pofalla Vorschläge gemacht hat, die weit über
das hinausgegangen sind, was Herr Clement und wir
vorgeschlagen haben?
({9})
Warum verschweigen Sie das heute und tun so, als würden wir uns in diesem Bereich zu schaffen machen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
({0})
Ja, gern.
Danke schön. - Lieber Kollege Heil, nachdem Sie gerade das Wort „Missbrauch“ in den Mund genommen
haben und Herr Kollege Schauerte die heutige Debatte
dazu missbraucht hat, die Sachfragen mit vermeintlichen
Einflussnahmen der SPD auf Redaktionen, die redaktionelle Unabhängigkeit und auf Verlage zu verbinden,
möchte ich Sie fragen: Könnten Sie mir in diesem Zusammenhang freundlicherweise nochmals die historischen Zusammenhänge aufzeigen,
({0})
die dazu geführt haben, dass eine Gesellschaft, an der die
SPD beteiligt ist, nach Überwindung der Diktaturen, des
Nazi-Reichs und der SED-Diktatur die Rückgabe von
Verlagen erreichen konnte, weil es sich dabei um zu Unrecht enteignetes Eigentum gehandelt hat? Und wie bewerten Sie die Versuche der CDU, das heute wieder
rückgängig zu machen?
Herr Kollege Tauss, ich will Ihnen antworten, verweise aber auf die Auseinandersetzung, die wir hier vor
einem Jahr schon zu diesem Thema hatten.
({0})
Ich finde es bedauerlich, dass Sie, Herr Schauerte, in
Ihrer Rede ständig mit Unterstellungen gearbeitet haben
- das tun wir nicht. Wir sind in der Sache an der einen
oder anderen Stelle über die Wirkung unterschiedlicher
Auffassung - das gehört zum Meinungsstreit in der
Demokratie -, aber dass Sie uns sozusagen verschwörungstheoretisch Eigeninteresse unterstellen, ist nicht
nur falsch, es ist schäbig, erst recht in dem Ton, in dem
Sie es getan haben; das will ich Ihnen klar sagen.
({1})
Herr Kollege Tauss hat vorhin deutlich gemacht: Die
Zeitungsbeteiligungen, die Parteien haben, sind nichts
Ehrenrühriges, weil sie keinen redaktionellen Einfluss
nehmen.
({2})
- Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({3})
Lesen Sie einmal ein paar Zeitungen, an denen die
DDVG beteiligt ist. Ich sage Ihnen: Ich ärgere mich
manchmal schwarz über das, was ich lese.
({4})
Reden Sie beispielsweise mit Herrn Wulff darüber, ob er
sich über die Berichterstattung der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ beschweren kann - er wird es
schwerlich können.
({5})
Gerade Sie von der CDU sollten in der Frage, wie Sie
Ihre Partei finanzieren, einmal ganz ruhig sein!
({6})
Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hinsken?
Gerne, ich habe heute noch jede Menge Zeit; ich muss
bloß noch zum Unterbezirksparteitag meiner Partei in
Peine.
Herr Kollege Heil, ich befürchte, dass Sie das, was
Sie vorhin angekündigt haben, nicht wahr machen, nämlich uns darüber aufzuklären, was es mit der Zahl fünf
auf sich hat, dass nach fünf Jahren überprüft werden soll.
({0})
Doch, das will ich.
Wenn sich vier Starke mit einem Fünften, Schwachen,
zusammensetzen, zusammenschließen, kommt auch die
Zahl fünf zustande. Haben Sie sich darüber hinaus vielleicht von dem Gedanken leiten lassen, dass Sie fünf
Zeitungsverlage in Ihrem eigenen Bereich haben? Ich
kann das nicht nachvollziehen.
Gut, dass Sie nachfragen; dann kann ich Ihnen antworten.
Sie sind diesen Fragen schon im Wirtschaftsausschuss
ausgewichen. Dann sagen Sie wenigstens heute etwas
dazu!
({0})
Das mache ich sehr gerne, Herr Kollege, wenn es zur
Weiterbildung dient. Sie bringen ein paar Dinge durcheinander. Ich will das aber gerne mit Ihnen aufrollen,
wenn wir die Zeit dazu haben.
Erstens. Wir haben im Entwurf eine Begrenzung auf
fünf Zeitungstitel vorgenommen. Ich gebe wie der Kollege Schulz zu: Es hätten auch sechs oder sieben oder
acht sein können. Aber fünf war die Begrenzung, die wir
mit den Grünen ausgehandelt haben. Ihr Kollege Pofalla
wollte gar keine Begrenzung. So weit dürften wir uns einig sein.
({0})
Zweitens. Sie haben nach den fünf Jahren gefragt,
nach der zeitlichen Begrenzung, und danach, ob man einen solchen Zusammenschluss auch wieder rückabwickeln kann.
({1})
Ich will Ihnen dazu sagen: Wir wollen, dass Kooperationen möglich sind. Natürlich geht keiner eine Kooperation und damit ein wirtschaftliches Risiko ein, wenn
das Rad nach fünf Jahren zurückgedreht wird. Sie können eben - mit Ludwig Stiegler gesprochen - aus einem
Omelett kein Ei mehr machen.
({2})
Deshalb haben wir dem Kartellamt mit der Ex-ante-Prüfung klare rechtsstaatliche Kriterien und genug Möglichkeiten an die Hand gegeben, um Missbrauch möglichst
einzugrenzen. Nach fünf Jahren wollen wir sehen, was
diese Regelung für die Branche bedeutet. Wir können sie
verlängern, wenn sie sich bewährt hat. Aber zuvor müssen wir das überprüfen.
({3})
Herr Hinsken, wir beide können doch nicht in die Zukunft schauen, auch wenn ich das uns beiden wünschen
würde; wir sind beide nette Kerle. Aber wir haben unterschiedliche Auffassungen über die Vergangenheit und
die Gegenwart. Das ist der Unterschied zwischen uns:
Sie sagen: „Es gibt keine strukturelle Krise auf dem Zeitungsmarkt.“
({4})
Sehen Sie das so, Herr Hinsken? Dann bleiben Sie stehen;
({5})
ich bin mit meiner Antwort noch nicht zu Ende. Fragen
stellen und dann keine Antwort erwarten - so geht es
nicht; das sind rhetorische Fragen, aber keine Zwischenfragen im Deutschen Bundestag!
({6})
- Wenn Sie es nicht verstehen wollen, muss ich länger
reden; das tut mir leid.
({7})
Dann will ich Ihnen zum Schluss gerne eins sagen: Auch
ich hätte mir gewünscht, dass wir das miteinander im
ruhigen Gespräch hätten klären können;
({8})
ich sage Ihnen das ganz offen. Nur, diese Debatte hier
und auch im Wirtschaftsausschuss und die Presseäußerungen, die Sie gleich, nachdem wir uns in der Koalition
verständigt hatten, abgegeben haben, haben uns zu der
Auffassung gebracht, dass es sinnvoller ist, mit vernünftigen Landeswirtschaftsministern Ihrer Partei zu reden
({9})
als mit ideologischen Menschen, die nur ein Ziel haben:
uns die übelsten Motive zu unterstellen. Das tue ich bei
Ihnen auch nicht: Ich unterstelle, dass Sie politisch
falsch liegen. Sie wiederum sagen, ich liege falsch. Aber
Sie unterstellen uns dabei, dass wir das aus niederen Beweggründen tun. Das finde ich nicht gut.
({10})
Wissen Sie, Herr Hinsken - ich sage Ihnen das in aller
Ruhe; Sie sind doch freundlicher als Herr Schauerte, der
ständig etwas andeutet -: Es nützt letztlich keinem,
wenn wir uns gegenseitig in jeder politischen Auseinandersetzung skandalisieren.
({11})
Wer ständig „Skandal“ ruft,
({12})
muss sich nicht wundern, dass die wirklichen Skandale
in Deutschland nicht mehr auffallen. Das ist kein Skandal, sondern eine unterschiedliche politische Bewertung.
({13})
- Ach, ja, Sie sind für Ihre sachlichen Einschätzungen
von politischen Situationen ja allgemein bekannt, Herr
Kollege.
Ich will Ihnen nur sagen: Mit der heutigen GWBNovelle schaffen wir das Grundgesetz der Marktwirtschaft der Zukunft. Es gibt veränderte Rahmenbedingungen. Der Pressebereich ist sehr sensibel. Dort bleibt
es bei Spezialregelungen. Bezogen auf die Aufgreifschwelle und die Bagatellklausel haben wir behutsame
Änderungen vorgenommen, womit wir die entsprechenden Regelungen übrigens an die anderer Branchen angepasst haben. Ich finde, auch bei den Kooperationen sind
wir einen guten und vernünftigen Schritt weitergekommen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir die Beratungen hier
im Bundestag sachlich hätten abschließen können und
dass wir kein Vermittlungsverfahren brauchen würden.
({14})
Ich sage: Das ist an Ihnen gescheitert. Es wird zum Vermittlungsverfahren kommen. Herr Hinsken, ich bin sehr
gespannt, wie sich die Landeswirtschaftsminister in dieser Frage verhalten werden.
({15})
Herr Brüderle, der sonst immer kritisiert, dass zum
Beispiel Minister nicht anwesend sind - ({16})
- Okay, dann habe ich das nicht mitbekommen und ich
entschuldige mich. Wir sollten die Aufgeregtheiten aber
auch dann lassen, wenn Staatssekretäre weg müssen.
Das war bei diesem Punkt nämlich auch abgesprochen.
({17})
Herr Hinsken, das haben Sie vorhin nur nicht mitbekommen; so, wie ich eben.
({18})
Ich will nur sagen, dass wir eine vernünftige Regelung getroffen haben, mit der viele leben können.
Es gibt Verleger, die sich mehr gewünscht hätten.
Herr Schauerte hat Recht, wenn er sagt, dass es in der
Natur von Unternehmen liegt, dass sie das Kartellrecht
nicht sonderlich originell finden.
({19})
- Ich habe noch zehn Sekunden. - Wir als Politiker müssen das Kreuz durchdrücken, damit wir dort vernünftige
Spielregeln haben. Manchen Verlegern geht das nicht
weit genug, anderen geht das zu weit. Das heißt, wir sind
mit diesem Gesetzentwurf in der guten Mitte. Sie werden sehen, dass wir uns durchsetzen werden.
Herzlichen Dank und schönes Wochenende.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen,
Drucksache 15/3640. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5049, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Stimmergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/5053? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5054? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
FDP und der CDU/CSU abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5055? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und der CDU/CSU abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 19 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Arbeit auf Drucksache 15/3136 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für einen wirksamen Wettbewerbsschutz in Deutschland und Europa“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/760
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Bürokratieabbau
- Drucksache 15/4646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wirtschaftsminister des Landes Baden-Württemberg, Ernst
Pfister.
({1})
Ernst Pfister, Minister ({2}):
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages! Sie wissen, dass
der Bundesrat auf Initiative des Landes Baden-Württemberg eine Gesetzesinitiative zum Abbau von Bürokratie
in Deutschland vorgelegt hat. Dies war notwendig, nachdem es zwar in der Vergangenheit immer wieder Ankündigungen von allen Seiten gegeben hat, diesen Jobkiller
Nummer eins, Bürokratie, in Deutschland zurückzudrehen, aber im Grunde das Gegenteil passiert ist.
({3})
Die Zahl der Gesetze und Verordnungen hat in den letzten Jahren permanent zugenommen. Noch schlimmer ist
aber: Bürokratie ist nicht nur eine Angelegenheit, die
uns alle ärgert, auch als Privatpersonen, sondern Bürokratie hat mit Kosten zu tun, und zwar auch mit Kosten
für die mittelständische Wirtschaft. Es gibt eine Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung in
Bonn. In dieser wird uns vorgerechnet, dass die Bürokratiekosten für die deutsche Wirtschaft im Jahr 1994 noch
bei 30 Milliarden Euro pro Jahr lagen und diese Zahl in
der Zwischenzeit auf 50 Milliarden Euro angestiegen ist.
Noch schlimmer ist: Wenn Sie die Bürokratiekosten
eines Großbetriebes betrachten, dann werden Sie feststellen, dass diese Kosten pro Nase und pro Jahr im Augenblick bei etwa 350 Euro liegen. Wenn Sie einen kleinen oder mittleren Betrieb betrachten, dann sehen Sie,
dass diese Kosten mehr als zehnfach so hoch sind. Sie
liegen bei 4 300 Euro. Das heißt, Bürokratie ist insbesondere ein Problem des Mittelstandes, jenes Bereiches,
der zu 70 Prozent für Ausbildungsplätze und zu 80 Prozent für Arbeitsplätze sorgt. Gerade dieser Bereich ist
durch die Bürokratie besonders belastet.
({4})
Ernst Pfister, Minister ({5})
Deshalb sollten wir alle keine Ruhe geben und diesen
Jobkiller dahin befördern, wo er hingehört: in den Papierkorb. Der Bundesrat hat am 26. November 2004 mit
großer Mehrheit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zum Bürokratieabbau zugestimmt. Erstmals - das ist
bemerkenswert - wurden die Anstrengungen der Länder
zum Bürokratieabbau gebündelt. Die Landesregierung
von Baden-Württemberg war hieran maßgeblich beteiligt. Wir haben das Thema Bürokratieabbau längst zur
Chefsache gemacht.
({6})
- Das liegt an Ihnen, Herr Kollege.
({7})
Denn richtig ist: Wir allein als Bundesrat, als Bundesländer können dies nicht schultern. Das hängt damit zusammen, meine Damen und Herren Bundestagsabgeordnete, dass das Wirtschaftsrecht zu 90 Prozent in Berlin
oder auch in Brüssel gemacht wird. Das wollen wir und
das will der Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf gemeinsam angehen.
({8})
Bürokratie darf nicht in Brüssel entstehen. Da sind wir
uns einig. Sie darf auch nicht in Berlin perfektioniert
werden.
({9})
Sie müssen sich ein aktuelles Beispiel dafür gefallen
lassen, dass ständig, auch von der Bundesregierung, zulasten von Bürgerinnen und Bürger und zulasten der
Wirtschaft draufgesattelt wird. Das prominenteste Beispiel dafür ist das Antidiskriminierungsgesetz.
({10})
Dieses Gesetz diskriminiert in Wahrheit rechtschaffene
Unternehmen und Bürger. Es ist ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für Rechtsanwälte und Gerichte und mit Sicherheit ein neues bürokratisches Monstrum, das wir zurückdrängen sollten.
({11})
Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die
deutsche Krankheit so umschrieben werden kann, dass
die Deutschen eine Mentalität haben, die da lautet: Wenn
sie nur entfernt am Firmament ein Problemchen entdecken, dann kommen sie sofort auf die Idee, diesem
Problemchen ein Gesetz hinterherzuschmeißen.
({12})
Damit muss Schluss sein. Deshalb will ich Ihnen sagen,
dass der Bundesrat das vom Kollegen Clement vorgelegte und von Ihnen bereits beschlossene Gesetz zum
Bürokratieabbau durchaus positiv sieht. Über einige
Punkte muss man im Bundesrat noch sprechen. Das wird
am nächsten Freitag der Fall sein. Bei einigen Punkten
hätte ich mir mehr Mut gewünscht. Aber das ist jetzt
nicht entscheidend. Wenn wir von uns aus dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung signalisieren,
dass wir an einem Strick ziehen wollen, dann erwarte ich
von Ihnen, meine Damen und Herren Bundestagsabgeordnete, im Gegenzug Ihre Unterstützung für diese Initiative des Bundesrates. Das ist nicht mehr als in Ordnung.
({13})
Der Bundesrat hat mit dieser Gesetzesinitiative gezeigt, dass es ihm mit dem Bürokratieabbau Ernst ist. Ich
bedauere sehr, dass die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme offensichtlich der Mut verlassen hat. Diese
Mutlosigkeit können wir uns nicht mehr erlauben. Bürokratie als einer der fünf oder sechs stärksten Jobkiller hat
zumindest den Vorteil, dass wir an dieser Stellschraube
drehen können, ohne dass es uns auch nur einen einzigen
Cent kostet. Im Gegenteil: Wir werden dabei sogar noch
Geld sparen.
Deshalb sollten wir uns gemeinsam, Bundesrat und
Bundestag, darauf konzentrieren, in der Zukunft nicht
die Menschen, sondern die Bürokratie zu diskriminieren.
Unterstützen Sie bitte diese gemeinsame Initiative der
Länder mit dem gemeinsamen Ziel! Diese Bürokratie
können wir uns in unserem Lande für die Menschen,
aber auch für die Wirtschaft nicht mehr erlauben.
Haben Sie herzlichen Dank.
({14})
Die Rede des Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion,
wird zu Protokoll gegeben.1) Deswegen gebe ich nun
dem Kollegen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freut
mich, dass wir überhaupt wieder eine Debatte über das
Thema Bürokratieabbau haben. Die letzten Debatten haben Sie zeitlich immer so geschoben, dass sie nicht mehr
stattfanden. Über Ihren eigenen Antrag haben wir überhaupt nicht debattiert. Er stand zwar dreimal auf der Tagesordnung, aber beim dritten Mal wurde er gegen Mitternacht zu Protokoll gegeben. Das zeigt, wie groß Ihr
Interesse am Bürokratieabbau ist.
({0})
Der Versuch, alles zu kaschieren, ist für Ihre Politik be-
zeichnend. Sie haben das Jahr 2005 zum Leerlaufjahr er-
klärt. Reformen wird es nicht mehr geben, stattdessen ein
bisschen Tagesgeschäft und sehr viele Auslandsbesuche.
Ansonsten wartet die Bundesregierung darauf, dass die
Konjunktur aus irgendwelchen von ihr nicht verschulde-
ten Gründen anspringt. In Berlin spielt das Staatsen-
semble das Stück: Warten auf ein Wunder. Irgendwie, ir-
gendwann wird alles besser.
1) Anlage 2
Doch dass Sie mit dieser Methode vor allem beim
Thema Bürokratieabbau überhaupt keinen Erfolg haben,
zeigt die jüngste Allensbach-Umfrage. Ich weiß nicht,
ob Sie davon gehört haben, Herr Tauss. Es wäre gut,
wenn Sie einmal zuhören würden.
({1})
Das Allensbach-Institut hat eine Umfrage in ganz Deutschland durchgeführt und festgestellt, dass 86 Prozent der
Wirtschaft Bürokratie für die höchste Belastung halten.
Bürokratie kommt noch vor Steuern, die von 77 Prozent
als Belastung genannt werden. Wo sind denn Ihre wirklichen Reformvorschläge zum Bürokratieabbau?
({2})
Wieso legen Sie uns keine vernünftigen Gesetzentwürfe
vor? Die Bundesratsinitiative des Landes Baden-Württemberg zusammen mit Bayern und Niedersachsen enthält immerhin 40 Einzelmaßnahmen. Sie haben ganze
neun aufgelistet. Viel weniger geht nun wirklich nicht.
({3})
Bedauerlicherweise haben Sie an diesem Thema kein
Interesse und schon gar nicht sind Sie an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Ländern interessiert. Der
Bundesumweltminister hat die Initiative der Bundesländer gar eine „Mogelpackung“ genannt.
({4})
Mit ihm seien Senkungen von Umweltstandards nicht
zu machen. Doch wieder einmal vergaloppiert sich Herr
Trittin mit seiner grünen Umweltideologie zulasten der
mittelständischen Wirtschaft. Es geht nicht um das Absenken von Umweltstandards, sondern es geht um den
Abbau umweltunverträglicher Bürokratie.
Herr Trittin ist und bleibt für mich der Minister für
Deindustrialisierung des Standortes Deutschland.
({5})
Wissen Sie, was das beste Wirtschaftsprogramm für
Deutschland wäre? Wir schicken ihn für zwei Jahre nach
China. Dann verlassen alle deutschen Unternehmer
fluchtartig China und kommen wieder zu uns zurück.
({6})
Das Bundesumweltministerium hat den Ökologismus
in Deutschland längst zu einer Quasistaatsreligion erhoben. Leidtragende dabei sind die Unternehmen und vor
allen Dingen die Industrie. Man braucht gar nicht mit der
Gentechnologie anzufangen, das können Sie querbeet
sehen. Mit den Strompreiserhöhungen, die Sie in
Deutschland verursacht haben, machen Sie die Industriezweige, die Strom als wesentliche Kostenquelle haben,
in Deutschland nahezu unmöglich. Demnächst werden
wir keine Aluminiumindustrie mehr in Deutschland haben. Sie bauen obendrein mit Ihrer heiligen Ökoreligion
überall noch zusätzliche bürokratische Hemmnisse ein.
Wo bleiben Ihre Bürokratiereformen?
Ich habe mich einmal mit dem Bundesinnenministerium beschäftigt. Leider ist kein Vertreter heute hier. Das
Innenministerium schafft tatsächlich 250 Vorschriften
ab. Darüber habe ich mich gefreut und ich habe gesagt:
Donnerwetter, da passiert endlich etwas. - Dann habe
ich geschaut, was in dem Gesetz steht. Es ist 350 Seiten
dick. Darin wird beispielsweise die Verordnung über die
Auszahlung des Ehrensoldes für Träger höchster Kriegsauszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg abgeschafft.
Das ist wahrlich wichtig. Auch wird die Verordnung für
die deutschen Spruchgerichte zur Aburteilung von Mitgliedern von Verbrecherorganisationen von 1947 abgeschafft. Dadurch wird die deutsche Wirtschaft sicher
sehr entlastet. Es ist ziemlich erschütternd, womit Sie
sich beim Bürokratieabbau beschäftigen.
({7})
Es gibt bei Ihnen noch ein zusätzliches Problem. Sie
wollen uns jetzt die Megabürokratie des Antidiskriminierungsgesetzes überstülpen. Da geht es so richtig los.
Dieses Nicht-mehr-unterscheiden-dürfen-Gesetz wird
erhebliche Folgen für die gesamte deutsche Wirtschaft
haben. Dann geht es ans Eingemachte. Wir werden mit
Sicherheit einige Stories aus den Unternehmen über die
Megabürokratie hören. Sie werden es schaffen, dass die
Unternehmen keine Lust mehr haben. Das ist das
Schlimmste. Sie verderben das Klima und die Lust, in
Deutschland noch etwas zu unternehmen. Das ist für
mich eines der größten Probleme.
({8})
Sie satteln grundsätzlich bei jedem Gesetz drauf. Ich
möchte in diesem Zusammenhang zitieren, was ein nicht
meiner Fraktion angehörender EU-Kommissar über das
ADG und das, was Sie daraus gemacht haben, gesagt
hat. Herr Verheugen hat zu Ihrer Gewohnheit, immer
noch draufzusatteln, gesagt, die deutsche Umsetzung der
EU-Gesetzgebung gleiche einem Pferd, dem nach
Durchlaufen des deutschen Gesetzgebungsverfahrens so
viel draufgesattelt werde, dass es danach als Kamel mit
zwei Höckern im Bundesgesetzblatt stehe. Schöner kann
man nicht ausdrücken, was Sie machen.
({9})
Schöner kann man nicht beweisen, dass Sie es immer
noch nicht kapiert haben, dass wir weniger Belastungen
brauchen und nicht mehr.
({10})
Das tun Sie trotz 5,2 Millionen Arbeitslosen. Es wäre allerhöchste Zeit, dass Sie begreifen, dass Sie so nicht weitermachen können.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Ex-Landtagskollege Pfister! Wir haben heute zum wiederholten Male in dieser Woche unter wechselnden
Überschriften eine Mantradebatte. Alle sprechen von Bürokratieabbau und alle beklagen die Bürokratie. Ich habe
ehrlich gesagt keine Lust, hier im Bundestag weiterhin
Mantras zu verbreiten. Ich finde, wir müssen konkret
über den Gesetzentwurf sprechen, der heute vorliegt, der
„Entwurf eines Gesetzes zum Bürokratieabbau“ heißt
und vom Bundesrat eingebracht wurde. Darüber haben
Sie merkwürdigerweise nicht gesprochen.
({0})
Der Gesetzentwurf hat einen außerordentlich hohen
Anspruch. Bürokratie und Überregulierung, die die Bürger fesseln - reden wir von Baden-Württemberg oder reden wir von Bayern? -, sollen durch zahlreiche Maßnahmen in verschiedenen Lebensfeldern abgeschafft werden.
Das ist ein hoher Anspruch und man hätte eigentlich erwarten können, dass, wenn die Mehrheit des Bundesrats
etwas vorschlägt, substanziell gearbeitet und geklärt
wird, was Bürokratie ist, wer die Bürokratie macht, wer
dafür verantwortlich ist und wie sie angelegt ist. All das
wird nicht geklärt, sondern es wird allgemein gesprochen.
Anschließend kommt eine Reihe von konkreten Vorschlägen, die aber bei weitem nicht so grundsätzlich sind.
Man kann nicht erkennen, an welcher Stelle die Länder,
der Bund oder die Kommunen verantwortlich sind.
Eines müssen wir festhalten: Die Ebene der Verwaltung sind die Länder und nicht der Bund, daher ist der
Ort, an dem die Bürokratiebekämpfung ansetzen muss,
die Landesebene.
({1})
Die Länder haben nicht nur eigene Gesetzgebungskompetenz, sondern erlassen darüber hinaus auch Verordnungen. Ich will ein Beispiel nennen: Der von der CDU
regierte Freistaat Thüringen ist Rekordhalter bei den
Verordnungen, die in den letzten Jahren erlassen wurden.
Man sieht, es gibt überall etwas zu tun.
Kommen wir zu Ihren Vorschlägen. Was schlagen
Sie konkret vor? Wo ist laut des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs das Zentrum der Bürokratie? Art. 1
des Gesetzentwurfs befasst sich mit der Änderung der
Weinverordnung, ein zentrales Thema. Art. 2 des Gesetzentwurfs zum Bürokratieabbau befasst sich mit der
Änderung der Wein-Überwachungsverordnung. Ich
könnte so weitermachen, der Gesetzentwurf befasst sich
mit der Änderung der Altholzverordnung, der Änderung
der Druckluftverordnung,
({2})
der Änderung der Medizinprodukte-Betreiberverordnung, der Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
usw.
({3})
Ich möchte Ihnen das nicht noch weiter vorlesen, aber
ich bin sicher, dass Sie das Zentrum der Bürokratie damit nicht erreicht haben.
({4})
Zweifellos machen Sie konkrete Vorschläge. Es ist
wirklich herzig, was da als Entbürokratisierung betrachtet wird. Ich lese beispielsweise den Vorschlag des Bundesrates zur Änderung der Druckluftverordnung vor, dabei soll es um Entbürokratisierung gehen. Darin heißt es:
1. Dem § 6 werden folgende Sätze angefügt:
„Die Ausnahmezulassung ist schriftlich zu beantragen. Dem Antrag ist bei einer Abweichung
von den Regelungen des § 4 Abs. 1 ein Gutachten eines behördlich anerkannten Sachverständigen und bei einer Abweichung von den Regelungen des § 9 Abs. 1 oder 2 oder § 21 Abs. 4
ein Gutachten eines ermächtigten Arztes beizufügen, das jeweils dokumentiert, ob der
Schutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist. Über
den Antrag ist innerhalb einer Frist von vier
Wochen …“
({5})
Das gesamte Gesetz ist voll von solchen bürokratischen Phrasen. Das nennen Sie Bürokratieabbau!
({6})
Sie beziehen sich aber auch auf durchaus wichtige
Punkte, die Hälfte des Gesetzentwurfs bezieht sich auf
Umweltgesetze. Offenkundig haben Sie im Umweltbereich einen zentralen Bürokratiefaktor erkannt. Um sich
einen genauen Überblick über Ihre Vorschläge zu verschaffen, muss man im Gesetzentwurf die Seiten 5, 6, 7 ff.
anschauen. Diese Seiten - das kann ich Ihnen sagen dienten auch dem Bundestagskabarett „Die Wasserwerker“ als Grundlage. Auf diesen Seiten wird detailliert
und bürokratisch festgelegt, wie viel Hühner und Ferkel
mit welchem Gewicht wann und wo zu halten sind und
ob es eine standortbezogene Umweltverträglichkeitsprüfung oder eine allgemeine Vorprüfung geben muss.
Genau das findet sich in Ihrem Gesetzentwurf wieder, er
ist kabarettreif.
({7})
Der einzige Punkt, der zum Bürokratieabbau beiträgt,
bezieht sich darauf, dass man inzwischen - ich habe
dazu ein paar Beispiele herausgesucht - keine Umweltverträglichkeitsprüfung mehr braucht, wenn man bis zu
20 000 Hühner oder bis zu 560 Ferkel hält - letztere dürfen allerdings nur bis zu 30 Kilogramm schwer sein -, es
ist darüber hinaus keine Umweltverträglichkeitsprüfung
nötig, wenn man 4 500 Ferkel hält, die jedoch nur 10 bis
30 Kilogramm schwer sein dürfen usw. Das nennen Sie
Entbürokratisierung!
({8})
Es ist nicht mehr und nicht weniger als Standardabbau im Umweltbereich unter dem Etikett „Bürokratieabbau“. Der Gesetzentwurf ist durch und durch bürokratisch und setzt den Bürokratismus fort, statt ihn
abzuschaffen.
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Der
Gesetzentwurf ist das Produkt einer Bürokratie, die außerordentlich detailliert und unverständlich schreibt und
denkt.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zusammenfassen.
Ich komme zum Schluss. - Sie schaffen Bürgerbeteiligung ab und nennen das Bürokratieabbau. Alle Ihre
Vorschläge sind 2001 im Vermittlungsverfahren - Sie
mussten dabei nachgeben - gemeinsam verabredet worden. Jetzt behaupten Sie, das sei Bürokratieausbau. Ich
muss Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf ist ein bürokratischer Witz.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nein,
Herr Dzembritzki, aber es ist sehr komisch und ein bisschen lächerlich, wenn man den selber eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes, das die Schwellenwerte in den
Verordnungen reduzieren und so letztendlich Bürokratie
abbauen soll, als bürokratisch bezeichnet.
({0})
Internationale Vergleichsstudien belegen: Je höher die
Regelungsdichte in einem Land ist, desto weniger gelingt es, mögliche Beschäftigungspotenziale auszuschöpfen. Genau das ist unser Problem in Deutschland.
Fachleute schätzen, dass zwischen 2 und 7 Prozent der
Unternehmensumsätze für Bürokratiekosten aufgewendet werden müssen, obwohl dieses Geld in Wachstum
und Beschäftigung weitaus besser investiert wäre. Von
den Verbesserungen, die Bundeswirtschaftsminister
Wolfgang Clement in seinem Masterplan Ende 2002 so
vollmundig angekündigt hat, werden weder der einzelne
Bürger noch die Unternehmen etwas bemerkt haben. Anmeldungs-, Anzeige-, Aufzeichnungs-, Berechnungs-,
Erklärungs-, Ermittlungs-, Nachweis- und Abführpflichten prägen unseren bürokratischen Alltag. Allein auf
Bundesebene gibt es rund 2 200 Gesetze mit knapp
47 000 Einzelvorschriften und mehr als 3 000 Rechtsverordnungen mit fast 40 000 Einzelvorschriften, Tendenz steigend. In der letzten Wahlperiode hat die Regierung pro Tag mehr als 1,5 Gesetze erlassen, aber
insgesamt nur 91 gestrichen, Herr Hermann.
Jeder Arbeitsplatz im Mittelstand wird jährlich mit
bis zu 3 500 Euro Kosten für staatlich verordneten Bürokratiedienst belastet. Ein Mitarbeiter hat jährlich durchschnittlich 62 Stunden staatlich verordneter Bürokratiearbeit zu leisten. In der Folge bedeutet dies, dass - laut
Umfrage - knapp 41 Prozent der Betriebe mehr investierten, wenn sie weniger Bürokratie befolgen müssten.
Mit anderen Worten: Erstens. Bürokratie bindet Arbeitskraft. Zweitens. Bürokratie verhindert Investitionen.
Drittens. Bürokratie verhindert die Schaffung von Arbeitsplätzen. Viertens. Bürokratie bindet Ressourcen insofern, als Unternehmen häufig gezwungen sind, kostenlos Hilfsarbeiten für den Staat durchzuführen, die nicht
ihre originären Aufgaben sind.
({1})
Aus meinem Fachbereich Umwelt lassen sich ebenfalls Beispiele für unnötigen Bürokratieaufwand finden.
So ist am Zulassungsverfahren für Biozidprodukte in
Deutschland neben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin als Zulassungsstelle eine ganze
Reihe weiterer Behörden beteiligt. Einvernehmensbehörden sind hierbei das Umweltbundesamt, das
Bundesinstitut für Risikobewertung sowie eine weitere
Abteilung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Ohne das Einvernehmen dieser Behörden
kann keine Zulassung ausgesprochen werden. Daneben
sind - je nach Produktart - die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie das
Robert-Koch-Institut als Benehmensbehörden vorgesehen. Darüber hinaus entscheiden das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie das
Robert-Koch-Institut als Zulassungsstellen in besonderen Fällen, wie zum Beispiel beim Infektionsschutz oder
bei der Seuchenbekämpfung. So sieht es in Deutschland
aus.
Die Vielzahl der beteiligten Behörden hat einen großen bürokratischen Aufwand zur Folge. Durch aufwendige Abstimmungsprozeduren zwischen den einzelnen
Behörden wird nicht nur das Zulassungsverfahren erheblich verlängert. Vielmehr ist es auch sehr schwierig, eine
einheitliche deutsche Position auf europäischer Ebene
rechtzeitig zu formulieren.
({2})
Hier könnte die Zahl der beteiligten Behörden stark reduziert sowie das Verfahren entsprechend vereinfacht
und verkürzt werden.
Ein anderes Beispiel ist die Änderung der Umweltverträglichkeitsrichtlinie - das hatten Sie gerade angesprochen, Herr Hermann -, die von der Bundesregierung
durch das Artikelgesetz nicht im Maßstab eins zu eins
umgesetzt worden ist. Darüber haben wir häufig im
Parlament debattiert; denn umweltpolitische Verschärfungen auf nationaler Ebene verschlechtern die
Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen im Vergleich zu den europäischen Mitbewerbern. Insbesondere
die Herabsetzung der Schwellenwerte hat dazu geführt,
dass die UVP-Pflichtigkeit auch ganz kleine Betriebe
und Handwerker erfasst sowie im Einzelfall existenzbedrohende Auswirkungen hat.
Die Hauptkritikpunkte sind daher:
Erstens: die geplante Ausdehnung des Anlagenbegriffs im UVP-Gesetz. Begründung: Das leistet keinen
Beitrag zur vehement geforderten Deregulierung. Das
leistet keinen Beitrag zur Beschleunigung der Zulassungsverfahren. Das geht über das europäische Maß hinaus. Das berücksichtigt nicht die entstehenden Kostenbelastungen für die Industrie. Das belastet damit vor
allem die mittelständische Industrie.
({3})
Zweitens: der Begriff „Stand der Technik“. Die Aufnahme der „Gewährleistung der umweltverträglichen
Abfallentsorgung“ als Kriterium für den Stand der Technik ist nämlich ein deutscher Sonderweg mit Verschärfungen und bringt damit Benachteiligungen im europäischen Vergleich mit sich. Angesichts dessen bin ich über
den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf sehr
froh.
Eine grundsätzliche Herangehensweise an die Entbürokratisierung erfordert eine aktive Bürgergesellschaft,
die sich von einem aktivierenden Staat nicht bevormunden lassen will. Mehr Freiheit und Selbstverantwortung
für den Einzelnen bedeuten für ihn auf der anderen Seite
aber auch mehr Risikozumutbarkeit; wer seine Freiheit
will, der muss auch bereit sein, das damit einhergehende
Risiko zu tragen. In unserem Antrag zum Bürokratieabbau benennen wir grundsätzliche Maßnahmen und
Instrumente, gegossen in eine systematische Selbstverpflichtung. Wir sagen nicht nur wo, sondern auch wie
Bürokratie abgebaut wird. Ich finde, Sie sollten uns darin zustimmen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4646 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Rainer Funke, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfahren der Vaterschaftstests vereinfachen
und Grundrechte wahren
- Drucksache 15/4727 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Frage „Ist es auch wirklich mein Kind?“ hat einen großen Unterhaltungswert, wie die Realityshows zum
Thema Vaterschaftstest zeigen. In Titelgeschichten hat
sich die bundesweite Presse mit der männlichen Urangst,
ein fremdes Kind aufziehen zu müssen, befasst.
({0})
Mit dieser Frage muss verantwortungsvoll umgegangen
werden.
Rechtliche Vaterschaft und biologische Vaterschaft
können auseinander fallen, wie § 1592 BGB zeigt. Dies
kann sehr private Gründe haben. Eigentlich sollte der
Umgang mit diesen sehr privaten Gründen den Eltern
überlassen bleiben.
Die rechtliche Zuordnung von Vater, Mutter und Kind
zieht aber auch schlicht materielle Konsequenzen im
Unterhalts- und im Erbrecht nach sich. Gerade das erbittert die betroffenen Väter ganz besonders. Im Extremfall
ist der rechtliche Vater bloßer Zahlvater, ohne jede emotionale und sozial-familiäre Bindung und Verantwortung. Dies liegt bisweilen noch nicht einmal an der
Verantwortungslosigkeit der Väter, sondern an der gescheiterten Beziehung zur Mutter des Kindes.
Das Recht der Väter, die biologische Vaterschaft feststellen zu lassen, muss unterstützt werden.
({1})
Bislang muss ein Vater bei Zweifeln an seiner Vaterschaft das förmliche Vaterschaftsanfechtungsverfahren
nach §§ 1600 ff. BGB nutzen. Dieses Verfahren sieht bei
negativem Ergebnis auch das Ende jeder rechtlichen vaterschaftlichen Beziehung zu dem Kind vor und es stellt
hohe Hürden für die Einleitung des Verfahrens auf.
Viele Väter sehen sich deswegen zu einem heimlich
durchgeführten Test gezwungen. Wir hören aus dem Justizministerium, dass im Zuge der Regelung im Gendiagnostikgesetz jegliche heimliche Vaterschaftsfeststellung unter Strafe gestellt werden soll. Um es ganz
deutlich zu sagen: Die FDP-Fraktion lehnt dies entschieden ab.
({2})
Wir bejahen aber grundsätzlich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Verfahrensbeteiligten. Hier finden wir uns mit dem Bundesgerichtshof
einig, der in seinem Urteil zum Beweisverwertungsverbot in Bezug auf heimliche Vaterschaftstests das
informationelle Selbstbestimmungsrecht des Kindes gegenüber dem Recht des Vaters auf Kenntnis seiner bioloSibylle Laurischk
gischen Vaterschaft abgewogen hat. Der Bundesgerichtshof hat die Interessen des Kindes sogar als
vorrangig erachtet.
Um den widerstreitenden Interessen zwischen Vater,
Mutter und Kind gerecht werden zu können, schlagen
wir, die FDP, vor, ein niedrigschwelliges, förmliches, dafür aber auch offenes Verfahren, ein Abstammungstestverfahren, anzubieten, das nicht notwendigerweise mit
der Auflösung der Vaterschaft enden muss. Vaterschaft
ist mehr als biologische Abstammung und Zahlvaterschaft.
({3})
Berechtigt, den Test zu beantragen, sollten der rechtliche Vater, die Mutter, aber auch das Kind sein, also diejenigen, die auch gemäß der §§ 1600 ff. BGB die Vaterschaft anfechten können, aber eben außerhalb dieses
Verfahrens und ohne damit automatisch verbundene Anfechtung der Vaterschaft.
Wir fordern zur Sicherung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung den Richtervorbehalt für
die Anordnung eines DNA-Analysetests. Dann könnte
auch schon die Äußerung eines Zweifels überhaupt genügen, um einen Antrag auf Durchführung eines Abstammungstestverfahrens zu begründen.
Außerdem schlagen wir die Bestellung eines Verfahrenspflegers für das Kind in diesem offenen Abstammungstestverfahren vor, da die Eltern als Personensorgeberechtigte in einem solchen Verfahren nicht immer die
Rechte des Kindes wahrnehmen können.
Es wird auch eine Beratungspflicht für die betroffenen Väter im Vorfeld eines solchen Testverfahrens angeregt. Das ist eine durchaus überlegenswerte Vorstellung,
die manch einen vor vorschnellen, unüberlegten Entscheidungen bewahren mag. Ich halte das für einen
wichtigen Punkt im Hinblick darauf, wie wir ein solches
Verfahren flankierend gestalten sollten.
Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in den Beziehungen von Männern und Frauen zueinander, insbesondere,
wenn Kinder betroffen sind, und hoffe, dass ein erleichtertes Abstammungstestverfahren heimliche Tests überflüssig macht.
({4})
Schließlich zitiere ich die „Süddeutsche Zeitung“
vom 14. Januar 2005:
Die Entscheidung, ob er
- der zweifelnde Vater mit dem Zweifel lebt oder womöglich an der Herstellung der Gewissheit verzweifelt oder gesundet,
kann kein Gesetz dem Vater abnehmen. Der Gesetzgeber kann allerdings versuchen, ein Verfahren
zur Klärung von Zweifeln zur Verfügung zu stellen,
das juristisch und menschlich einigermaßen erträglich ist.
Wir, die FDP-Fraktion, stellen uns dieser Aufgabe.
({5})
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte
Zypries.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Laurischk, vielen Dank für Ihren Debattenbeitrag. Mit einem haben Sie Recht: Wir haben in der Tat allen Anlass, die Frage zu diskutieren,
welche Regelung wir zur Durchführung der Vaterschaftstests treffen sollten. Selten hat ein Gesetzesvorschlag so viele öffentliche Debatten ausgelöst wie dieser,
der in Zusammenhang mit dem Gendiagnostikgesetz
steht. Es geht ja nicht darum, quasi aus der hohlen Hand
etwas anders zu regeln, sondern es geht generell um die
Frage: Wie ist es eigentlich mit Regelungen zur Gendiagnostik?
Der Gesetzgeber hat Veranlassung, hier Regelungen
zu treffen; denn es gibt technische Entwicklungen, die es
heute ganz leicht machen, aus genetischem Material Daten herauszulesen und diese zu verwerten. Dies diskutieren wir auch im Rahmen der Strafverfolgung intensiv.
Wir wissen inzwischen auch, dass viele Menschen versucht sind, einen Vaterschaftstest machen zu lassen, eben
weil es so einfach ist, es inzwischen auch sehr viel
schneller geht und in Privatlabors auch nur noch zwischen 100 und 150 Euro kostet. Darüber hinaus sind
auch Menschen versucht, einen solchen Test zu veranlassen, die mit der engeren sozialen Familie eigentlich
gar nichts zu tun haben. Dazu, dass vielleicht Schwiegereltern oder irgendwelche Nachbarn meinen, sich in familiäre Strukturen einmischen zu müssen, müssen wir ganz
klar sagen: Das geht nicht. Es muss - das halte ich auch
bei der Debatte um das Gendiagnostikgesetz für richtig der Grundsatz gelten, dass niemand die genetischen Daten eines anderen ohne dessen Einwilligung untersuchen
lassen darf.
({0})
Das sind höchstpersönliche Daten, die vom Recht auf
informationelle Selbstbestimmung grundrechtlich geschützt sind. Ich glaube, das versteht jeder.
Hinsichtlich der von Ihnen angesprochenen Strafandrohung ist es so, dass im deutschen Recht die Strafandrohung für einen schweren Verstoß gegen das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung immer lautet:
Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Diese
Regelung haben wir im Atomgesetz, diese Regelung haben wir im Ausländergesetz und auch in anderen Gesetzen. Da muss man sich allenfalls einmal überlegen, ob
diese Strafandrohung überzogen ist und ob man sie generell ändern muss.
Man muss sich aber auch sehr sorgfältig überlegen,
ob es wirklich gerechtfertigt ist, andere Regelungen zu
treffen. Es muss sich ja nicht notwendigerweise um eine
innerfamiliäre Beziehung handeln. Der Mann, der vielleicht nach einer kurzlebigen bzw. flüchtigen Beziehung
meint, er sei der Vater des Kindes, kann zu einer entsprechenden Feststellung nicht legitimiert sein. Das alles
sind also ganz schwierige Abgrenzungen, über die wir
im Einzelnen reden müssen. Deshalb ist Ihr Diskussionsbeitrag wichtig, es ist in der Tat nicht einfach. Wir diskutieren im Bundesministerium der Justiz, seitdem diese
Debatte hochgekocht ist, mit den verschiedensten Familienrechtlern, Richtern am Bundesgerichtshof, Wissenschaftlern, Praktikern, Rechtsanwälten und Vertretern
von Jugendhilfe und anderen Erziehungsberechtigten,
wie wir das sinnvoll regeln können.
Der Vorschlag, den Sie machen, ist zumindest teilweise nicht praktikabel - das kann man schon jetzt
sagen -, weil er für die Länder zu kostenaufwendig
wäre. Wenn man jedes Mal einen gerichtlichen Entscheid zur Grundlage machen will, bringt das Kosten mit
sich, die einfach für die Länderhaushalte ganz schwer zu
verkraften sind. Man muss sich auch fragen, ob es wirklich sinnvoll ist. Wir wissen ja inzwischen, dass mindestens 80 Prozent aller Tests, die Väter durchführen lassen,
zum Ergebnis haben, dass die Zweifel der Väter unberechtigt waren. Das heißt, da schlagen sich Männer mit
Sorgen herum, die völlig unbegründet sind. Man müsste
da einmal versuchen, zu einer Abschichtung zu kommen.
Unsere Überlegungen gehen im Moment in die Richtung, ein Verfahren zu finden, das den geringsten Eingriff in die Familie verursacht, dem zweifelnden Vater
aber erlaubt, sich ohne größere Hürden Gewissheit zu
verschaffen, ob er der Vater ist oder nicht. Wir wollen,
um diesen Eingriff möglichst wenig belastend zu gestalten, zunächst die Bereitschaft innerhalb der Familie fördern, einem Verfahren zuzustimmen. Wenn die Frau als
Sorgeberechtigte für das Kind zustimmt - nur insofern
hat ihre Zustimmung ja Relevanz -, kann man das Ganze
gerichtsfrei stellen, was sowohl unter Verfahrens- als
auch Kostengesichtspunkten für meine Begriffe das Vernünftigste wäre.
({1})
Wir müssen uns auch überlegen, wie wir das Kind
schützen. Sie haben den Vorschlag gemacht, dem Kind
einen Verfahrenspfleger beizuordnen. Das ist ein
Punkt, über den man in bestimmten Fällen sicherlich reden kann. Wir überlegen auch, eine Härteklausel einzuführen. Es mag ja bestimmte Situationen geben, in denen
einem Kind ein solches Testverfahren gar nicht zumutbar wäre, beispielsweise weil es in der Pubertät suizidgefährdet ist. Statt es dann mit einer weiteren Umbruchssituation im Leben zu konfrontieren, sollte man lieber in
bestimmten Fällen ganz darauf verzichten können.
All das sind ganz schwierige Entscheidungen. Ich
freue mich, wenn demnächst über Ihren Antrag und auch
über unsere Vorschläge in aller Breite diskutiert wird.
Ich glaube, wir alle sind uns in der Sache einig: Wir wollen eine vernünftige Regelung finden. Wir alle wissen,
dass zum Vatersein sehr viel mehr gehört, als nur die
gleichen Gene zu haben, dass zugleich Blut auch ein besonderer Saft ist. Anders kann man es sich ja gar nicht
erklären, dass in diesem Bereich so viele Aufregungen
entstehen.
Ich freue mich auf eine angeregte Debatte auch außerhalb dieses Saales und bin sicher, dass dem Haus in
Kürze dann auch sachgerechte Vorschläge vorliegen
werden.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin hat zu Recht gesagt, dass kaum ein rechtspolitisches Thema in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit so heftig und leidenschaftlich diskutiert worden
ist wie das Thema heimliche Vaterschaftstests - einmal
abgesehen von der nach der Ermordung Moshammers
völlig zu Recht erhobenen Forderung, Möglichkeiten der
DNS-Analyse bei der Verbrechensbekämpfung zu verbessern.
Die Untersuchung genetischen Materials ist ein
Thema, das die Öffentlichkeit antreibt - keine Frage.
Dabei geht es nicht in erster Linie und auch nicht nur um
die Angst der Bevölkerung vor dem leichtfertigen Umgang mit genetischem Material, um die Angst vor der
Schaffung des bis in die Haarspitze gläsernen Menschen,
um die Angst vor Überwachung. Nein, was die Menschen bewegt, sind ganz persönliche Ängste und Probleme. Das gilt insbesondere für heimliche Vaterschaftstests, über die wir heute reden.
Väter, die Zweifel haben, ob sie überhaupt die Väter
sind, möchten diese Zweifel aus der Welt räumen. Das
müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Ich will nur
ein paar Zahlen nennen: 5 bis 10 Prozent aller Kinder
sollen Schätzungen zufolge nicht von den Männern abstammen.
({0})
Fünf bis zehn von 100 Kindern sind also so genannte
Kuckuckskinder. Mehr als 50 000 Vaterschaftstests werden jedes Jahr für rund 40 Millionen Euro in Auftrag gegeben.
({1})
Wir haben es mit einem gesellschaftlich wichtigen
und juristisch sehr schwierigen Thema zu tun. Das verbietet legislative Schnellschüsse, Frau Laurischk. Natürlich ist dieser Vorschlag des Verfahrens zur Vaterschaftsfeststellung nicht ganz neu. Wir haben schon vor
Monaten erklärt - erst unlängst bin ich damit im „Spiegel“ zitiert worden -, dass das einer von mehreren notwendigen Schritten ist.
Auch die Bundesjustizministerin hat - das kann man
an dieser Stelle ruhig einräumen - entsprechende Regelungen bereits in Aussicht gestellt, wenngleich ich sagen
muss, dass die Menschen diese Anknüpfung an die
Strafbarkeit nicht verstehen. Andererseits muss ich sagen: Ein Verbot, an das bei Verstoß keine Sanktionen geknüpft worden sind, ist - jetzt tue ich dir den Gefallen,
lieber Alfred - eine Lex imperfecta, für Hofgeismarer
ein in sich nicht ganz stimmiges Gesetz.
({2})
Meine Damen und Herren, natürlich ist das Verfahren
zur Anfechtung der Vaterschaft reformbedürftig. Aber
wir können das nicht nur über die Verfahrensfragen regeln. Sie haben eben gesagt, Sie hoffen, dass die heimlichen Tests damit obsolet werden. Das wird wahrscheinlich nicht der Fall sein. Also bleibt am Ende die
juristische Frage: Was wird mit den heimlichen Tests? In
der Gesellschaft wird gesagt - das unterstütze ich sogar -:
Lieber heimlich testen und seine Frau gar nicht damit
konfrontieren, um den Ehefrieden nicht zu stören,
({3})
und wenn sich dann herausstellt, dass - wie es in den
meisten Fällen ist, wie die Ministerin gesagt hat - der
Verdacht unbegründet war, kommt es zu keinem notorischen Verfahren - außer Spesen nichts gewesen.
Dennoch gibt es ein Gerichtsurteil. Der BGH als
höchstes Gericht hat nun einmal diese heimlichen Tests
als Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht angesehen. Ich will das ganz kurz erläutern,
damit die Menschen draußen verstehen, was das an sich
für ein lebensfremdes Urteil ist: Da kommt ein von
Zweifeln geplagter Vater, will seine Vaterschaft anfechten und legt zur Untermauerung der Plausibilität seines
Anfechtungsgrundes dar, dass er zeugungsunfähig, jedenfalls vermindert zeugungsfähig ist. In seinem Interesse hoffe ich, dass es sich dabei nur um eine Impotentia
generandi und nicht um eine Impotentia coeundi gehandelt hat, denn Letzteres wäre der sehr viel tragischere
Fall.
({4})
Er ist dann trotz dieses Arguments und eines Attests in
allen Instanzen abgelehnt worden. Jahre später gibt es
die DNS-Analyse und er beschließt, die Vaterschaft jetzt
endgültig zu klären. Es stellt sich heraus, er ist nicht der
Vater, muss sich aber vom BGH wieder sagen lassen, er
könne das nicht plausibel darlegen.
Meine Damen und Herren, Verwertungsverbote im
Beweisrecht verstehe ich ja noch. Aber hier soll dieses
Testergebnis nicht an die Stelle eines später lege artis
forensisch durchzuführenden Verfahrens gesetzt werden.
Die DNA-Analyse ist bloß die Eintrittskarte, um sagen
zu können: Testet, ob ich der Vater bin oder nicht.
So viel zum gesellschaftlichen Szenario. Aber - ich
habe es eben schon angedeutet - im Raum steht das
Diktum, dass es ein Verstoß gegen das informationelle
Selbstbestimmungsrecht ist. Damit ist die Heimlichkeit
mit dem Stigma der Rechtswidrigkeit behaftet.
({5})
Deswegen ist zu überlegen, ob man diese Tests nicht
vielleicht positivrechtlich zulassen kann.
Meine Damen und Herren, ich habe mich mit dem
Recht auf informationelle Selbstbestimmung damals bei
den Volkszählungsklagen herumschlagen müssen. Man
muss sich das einmal überlegen: Wenn Sie heute eine
Eintrittskarte für die Fußball-WM oder auch nur eine
Kundenkarte haben wollen, dann müssen Sie ein Vielfaches an Daten preisgeben, verglichen mit dem, was Sie
seinerzeit bei der Volkszählung preisgeben mussten. Warum soll man dem Bundesverfassungsgericht nicht die
Chance geben, sich zu läutern? Wieso soll nicht die
Chance bestehen, dass das Bundesverfassungsgericht in
Ansehung der Daten sagt, dass es kein Verstoß gegen das
informationelle Selbstbestimmungsrecht ist?
({6})
- Wie: „heimlich“?
({7})
- Was heißt hier, „heimlich“? Ich verstehe Ihren Zuruf
nicht. Ich sage nur, dass das einer der gangbaren Wege
ist. Ansonsten werden Sie vor einem Problem wie seinerzeit bei der Abtreibung stehen, nämlich dass Menschen ins Ausland gehen - im Falle der Abtreibung zu
den Engelmachern -, wenn etwas in Deutschland verboten wird. Sie können die Menschen doch nicht ändern.
Wir müssen ihnen vielmehr helfen, aus dieser Konfliktsituation herauszukommen.
({8})
Darüber müssen wir sicherlich noch diskutieren.
Ich muss sagen, dass die Begründung des Bundesgerichtshofs auch in anderen Punkten nicht verfängt. Apodiktisch heißt es: Das Recht des Vaters auf Kenntnis seiner Vaterschaft steht dem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung nach. - Gründe dafür werden nicht
genannt.
Der Gesetzgeber muss sich um eine Lösung bemühen.
Die höchstrichterliche Rechtsprechung steht im Raum.
Von allen, die die Vaterschaft anfechten können - also
Vater, Mutter und Kind -, haben die Väter die höchste
Hürde zu überwinden. Denn es ist der Normalfall, dass
die Männer als Ehemänner Väter sind oder die Vaterschaft anerkennen. Um die Vaterschaft später anzufechten, muss man hohe Hürden überwinden.
Ich habe neulich schnippisch gesagt - ich habe es
aber nicht so gemeint -: Wenn jemand zehn Monate lang
auf hoher See war und bei seiner Rückkehr von seiner
Ehefrau mit einem Kind anderer ethnischer Herkunft
überrascht wird, dann kann er wahrscheinlich die Vermutung, dass er während der Empfängniszeit beigewohnt hat, widerlegen. Aber das ist doch völlig lebensfremd.
({9})
- Vielleicht bei Elefantenkühen, Herr Kollege! Die
Dauer der Schwangerschaft von neun Monaten können
auch Sie nicht in Zweifel ziehen.
Jetzt aber Spaß beiseite.
({10})
- Nein, es ist nicht spaßig. Man muss die Situation aber
manchmal wie eine Karikatur darstellen, weil die Leute
es sonst nicht verstehen. Wir dürfen nicht zu abstrakt
diskutieren. Bei allem Verständnis, Frau Laurischk,
muss ich sagen: Ich glaube nicht, dass alle das verstanden haben, was Sie vorgelesen haben. Wir machen doch
Politik für die Bevölkerung. Wir sind hier nicht im Elfenbeinturm, um Klimmzüge am juristischen Hochreck
zu machen. Wir müssen beispielsweise den Menschen
auf der Tribüne, den anwesenden Schülerinnen und
Schülern, erklären können, um was es hier geht.
({11})
Wir werden uns jetzt nach allen Richtungen orientieren müssen. Es war immerhin kein Geringerer als der
Justizminister von Baden-Württemberg - ich habe es
vorhin schon erwähnt -, der einen entsprechenden Vorschlag gemacht hat. Dieser Vorschlag wird ja nicht per
se verfassungswidrig sein, lieber Herr Staatssekretär.
({12})
Den Vorschlag wird man doch noch prüfen dürfen.
Die FDP hat sich mit diesem Thema beschäftigt. Aber
sie ist eine Antwort auf die Tatsache schuldig geblieben
- diese hat sie einfach ausgeblendet -, dass es ungeachtet der förmlichen Verfahren immer die heimlichen Tests
geben wird, weil der Mann, der von Zweifeln geplagt
wird, einfach wissen möchte, ob sein Verdacht begründet
ist, bevor er damit seine eigene Familie konfrontiert und
vor Gericht zieht. Er will nicht, dass man im Falle eines
unbegründeten Verdachts mit dem Finger auf ihn zeigt
und ihn auch noch auslacht.
Die Frage ist also, wie Zweifel an der Vaterschaft verifiziert bzw. falsifiziert werden können. In allen Fällen
müssen wie bisher wissenschaftlich fundierte Untersuchungen in angesehenen Labors durchgeführt werden.
Das hat auch niemand bestritten. Wir müssen uns aber
fragen, wie hoch die Hürden gestellt werden müssen, um
plausibel machen zu können, dass es Zweifel an der Vaterschaft gibt. Das ist der neuralgische Punkt. Darüber
unterhalten wir uns noch zu einem späteren Zeitpunkt.
Wir sehen uns nächste Woche in alter Frische wieder.
Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und ein schönes
Wochenende.
Herzlichen Dank.
({13})
Wir müssen noch zwei Redner abwarten, bevor wir
ins Wochenende gehen können.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Geschlechterkämpfe sind im 21. Jahrhundert eigentlich
nicht mehr so häufig anzutreffen. Aber als Justizministerin Zypries Anfang des Jahres bekannt gab, dass sie im
Rahmen des Gendiagnostikgesetzes die heimlichen Vaterschaftstests verbieten wolle, brachen diese Kämpfe
doch ganz heftig aus. Eine Zeitung titelte sogar
„Schlampenschutzgesetz“. Diese Überschrift war besonders „gelungen“.
Ich fand es schon etwas frappierend, dass der Anschein erweckt wurde, als hätten Frauen nichts anderes
vor, als bei der erstbesten Gelegenheit dem Mann ein
Kind unterzuschieben. Ziehen wir einmal die Empirie
heran, stellen sich die Verhältnisse etwas anders dar. Die
meisten Vaterschaften werden angefochten, wenn sich
Paare scheiden lassen. Hier wird die Vaterschaft oftmals
von den Männern zur materiellen Frage degradiert. Es
geht also um die Zahlung von Unterhalt. Dieser Zahlung
kommen mehr als ein Drittel aller Väter gar nicht und
ein weiteres Drittel nur teilweise nach. Das belastet unsere Unterhaltsvorschusskassen bundesweit pro Jahr mit
einem Betrag von 780 Millionen Euro.
Mit dem Verbot heimlicher Vaterschaftstests geht es
nicht, wie suggeriert wird, um die Beschneidung der
Rechte von Vätern, sondern um den Schutz der Rechte
des Kindes.
({0})
Denn diesen können wir keine Schutzrechte in Bezug
auf die Untersuchung ihres genetischen Materials vorenthalten, während wir uns bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen oder bei Patienten und Patientinnen dafür einsetzen. Der Bundesgerichtshof hat das - das
bewerte ich anders als Sie, Herr Kollege Gehb - glücklicherweise klargestellt: Die Entnahme und Analyse des
Erbguts eines Kindes ohne sein Wissen oder ohne das
Wissen seiner Mutter als seiner Stellvertreterin würde
eine klare Verletzung dieses Grundrechts bedeuten.
({1})
Deshalb sind heimliche Vaterschaftstests vor Gericht unverwertbar.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht da anderer Meinung sein wird. Denn niemand weiß genau, ob diese Daten geschützt sind.
Dass der Familienfrieden mit heimlichen Vaterschaftstests zu retten sein soll, ist eine Doppelmoral aus
dem biederen Bürgertum des vorletzten Jahrhunderts.
({2})
Wenn ein Mann Zweifel hegt, ob er der biologische Vater eines Kindes ist, gehen damit natürlich auch tief greifende Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit seiner Partnerin einher.
({3})
Selbstverständlich sehe ich aber auch das Recht des Vaters darauf, zu erfahren, ob er der biologische Vater ist.
Ohne das Einverständnis der Mutter bleibt ihm bisher
nur das gerichtliche Anfechtungsverfahren. Das bedeutet, dass sich Väter, die vor Gericht ihre Vaterschaft bestreiten, quasi von ihren Kindern lossagen müssen.
Wenn heimliche Vaterschaftstests verboten sind - ich
plädiere dafür - und dieses Verbot auch Wirkung zeigen
soll, bietet es sich an, den Vätern, die Zweifel haben, ein
unkomplizierteres Feststellungsverfahren ohne die
rechtlichen Hürden eines Anfechtungsverfahrens zu ermöglichen. Die FDP hat entsprechend votiert.
Was die Strafbarkeit betrifft, so ist sicherlich eine vernünftige Abwägung nötig; denn ohne Sanktionen - da
haben Sie, Herr Gehb, Recht - ist ein Verbot ein stumpfes Schwert. Aber wenn die Verletzung des Briefgeheimnisses unter Ehepartnern mit einer Haftstrafe von bis zu
einem Jahr belegt werden kann, dann halte ich es für
wirklich schwer argumentierbar, dass es bei der heimlichen Entnahme genetischen Materials des Kindes nicht
so sein sollte. Wenn man das einmal miteinander vergleicht, fragt man sich, warum hier die Empörung so
groß ist.
({4})
Darum geht der Antrag der FDP in die richtige Richtung. Wir werden ihn beraten. Ich würde mich dafür aussprechen, ein zweistufiges Verfahren vorzusehen: Willigt die Mutter nicht in einen Test ein, könnte ihre
Zustimmung durch das Gericht ersetzt werden. Das Anfechtungsverfahren ist dann erst der zweite Schritt und
wird nur noch in den seltensten Fällen nötig werden;
denn zwischen 80 und 90 Prozent der Tests beweisen,
dass der Getestete auch tatsächlich der biologische Vater
ist. Man sollte es noch einmal klarstellen: Vater ist laut
BGB derjenige, der mit der Mutter verheiratet ist oder
der die Vaterschaft anerkannt hat. Dieses Prinzip - wir
haben es auch im Kindschaftsrecht verankert - dient
dem Wohl des Kindes. Das soll hier die Maxime sein.
({5})
Auch im Feststellungsverfahren muss gelten, dass es
einem Test entgegenstehen kann, wenn er für das Kind
eine unverhältnismäßig große Härte bedeutet. Außerdem
halten wir eine Beratung des Vaters vor einem Feststellungsverfahren für notwendig - zum einen, um darüber
zu sprechen, ob die Vaterschaftsklage das wirkliche Problem ist, zum anderen, um die Väter auf alle Konsequenzen ihres Handelns vorzubereiten.
Ich danke Ihnen.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gehb, ich hoffe, ich komme Ihren
Ansprüchen an die Aussprache des Lateinischen einigermaßen entgegen, wenn ich jetzt mit einem Zitat beginne.
({0})
„Mater certa, pater semper incertus.“
({1})
Für diejenigen in diesem Raum, die das große Latinum
wider Erwarten nicht haben sollten, übersetze ich: Die
Mutter eines Kindes ist bekannt, aber der Vater ist stets
ungewiss.
Die neue Technik der DNA-Analyse macht es möglich und ein Blick in das Internet - und nicht nur darauf,
sondern auch auf die Werbetafeln der S-Bahn - genügt,
um festzustellen, wie breit und ausufernd das Angebot
solcher Tests mittlerweile ist.
Die ungewisse Vaterschaft scheint mittlerweile endgültig der Vergangenheit anzugehören. Der Putativvater
kann seine Vaterschaft bzw. Nichtvaterschaft wissenschaftlich nachweisen lassen, zur Not auch heimlich.
Wie Sie wissen, bereiten wir gerade ein Gendiagnostikgesetz vor. Die rasante Entwicklung der Biotechnologie und der Anstieg der Zahl genetischer Untersuchungen machen es auch notwendig, die Durchführung
solcher Untersuchungen gesetzlich zu regeln. Trotz der
unbestrittenen Vorteile und Chancen dieser Technologien müssen Vorkehrungen getroffen werden, um die
Rechte des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren.
Das Gendiagnostikgesetz wird deshalb auch Regelungen über den Umgang mit und den Schutz von genetischen Proben und Daten zur Abklärung der Abstammung umfassen. Dabei geht es um Fragen des
informationellen Selbstbestimmungsrechts sowohl des
Kindes als auch der Mutter, sowohl um die berechtigten
Interessen des Vaters als auch um die Praktikabilität bei
der Durchsetzung solcher Vorschriften.
Für uns steht schon jetzt fest: Für einen heimlichen
Vaterschaftstest, so verständlich er im Einzelfall auch
erscheinen mag, werden genetische Daten des Kindes
genutzt. Damit liegt immer eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung desjenigen
vor, dessen genetische Daten ohne Einwilligung untersucht werden. Dass dies in der Form nicht zulässig sein
kann, kann sicherlich jedem verständlich gemacht werden.
({2})
Der Bundesgerichtshof hat diese Auffassung Anfang
des Jahres bestätigt. Heimliche Tests sind daher zu untersagen. Dabei soll es nach unserer Überzeugung auch
bleiben. Wir wollen selbstverständlich auch, dass die
Väter Gewissheit über ihre Vaterschaft bekommen können, und zwar in einem geregelten, von uns zu regelnden
Verfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir
stimmen mit Ihnen überein, dass insbesondere nach dieser Entscheidung des BGH über vereinfachte Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft nachzudenken ist.
Ihr Antrag bietet dafür einen diskussionswürdigen Ansatz. Aber wie vonseiten des Bundesjustizministeriums
vorgetragen wurde, können wir uns auch andere Lösungen vorstellen, beispielsweise ein zweistufiges Verfahren, das nicht zwingend mit einem gerichtlichen Verfahren beginnt. Ich werde später noch kurz darauf
zurückkommen.
Wir widersprechen aber in jedem Fall den Vorschlägen, die zum Teil aus den Bundesländern an uns herangetragen werden. Das gilt insbesondere für den
Vorschlag aus Baden-Württemberg. Der dortige Justizminister, Ulrich Goll, hat erklärt, dass Väter und Mütter
mit gesetzlichem Segen auch heimliche Vaterschaftstests
durchführen lassen dürften. Dem halte ich in aller Deutlichkeit entgegen - ich denke, in dieser Frage gibt es
keine Kompromisse -: Dies ist der falsche Weg, den wir
auf keinen Fall mitgehen werden.
Väter sollen die ihnen zustehenden Rechte bekommen.
({3})
Das ist unbestritten. Wir haben hier schon sehr oft über
Männer und Väter und ihre Rechte gesprochen. Im Vordergrund steht aber eindeutig das Wohl des Kindes. Das
Familienrecht hat sich in den vergangenen Jahren durch
das Bestreben ausgezeichnet, Kinder als Persönlichkeiten wahrzunehmen. Jeder heimliche Vaterschaftstest
stellt eine Missachtung der Würde des Kindes dar.
In allen Bereichen propagieren wir das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Gestern haben wir in diesem
Hohen Hause lang und breit und überwiegend sachlich
über die Patientenverfügung diskutiert. Sollten wir heute
das Selbstbestimmungsrecht der Kinder aushebeln? Das
geht nach meiner Auffassung nicht an.
({4})
Dabei halte ich es mit Spiros Simitis, dem Vorsitzenden des Nationalen Ethikrates - ich zitiere -:
Was ist das … für eine Gesellschaft, die behauptet,
den Einzelnen zu respektieren, die auf der einen
Seite aber heimliche Tests toleriert und deren Ergebnisse sogar öffentlich in Talkshows verkündet?
Wir befürworten deshalb die Überlegungen, die von
Frau Zypries heute vorgetragen worden sind, auch wenn
sie noch weiterentwickelt werden müssen. Der an seiner
Vaterschaft zweifelnde Mann muss die Möglichkeit haben, die Klärung in einem formalisierten Verfahren herbeizuführen, das die Rechte aller Beteiligten absichert.
Dabei könnte es in der ersten von zwei Stufen darum
gehen, einen Anspruch auf Zustimmung zur Durchführung eines privaten genetischen Vaterschaftstests mit der
Möglichkeit einer gerichtlichen Ersetzung durchzuführen. Die Vorteile einer solchen Lösung liegen für uns auf
der Hand:
Erstens. Der Vater muss sich nicht vom Kind lossagen
und seine Vaterschaft sofort und unmittelbar anfechten.
Zweitens. Wir glauben auch, dass die vorgesehene
Zustimmung die Anzahl der Klagen auf Ersetzung der
Zustimmung vermutlich senken würde.
Drittens. Wir glauben, dass es sich hierbei um ein
niedrigschwelliges und praktikables Verfahren handeln
könnte.
Erst in einem zweiten Schritt käme - sofern dies doch
notwendig werden sollte - die gerichtliche Anfechtungsklage zum Tragen.
In den in Ihrem Antrag vorgesehenen Regelungen erkenne ich noch einige Ungereimtheiten. Erstens würde
durch das Instrument der Feststellungsklage die Zahl der
Gerichtsverfahren anders als nach unseren Vorschlägen
stark ansteigen.
Zweitens. Sie fordern, dass die Anforderungen an die
Glaubhaftmachung eines Zweifels beim Vater niedriger
anzusetzen sind. Über Details schweigen Sie sich jedoch
aus.
({5})
Dabei müssten Sie an dieser Stelle viel konkreter werden.
Ich glaube, dass wir, wenn es um die Fragen der Verjährung und Verwirkung des Anspruchs auf Feststellung
der Vaterschaft geht, auch darüber nachdenken müssen,
die Zweijahresfrist durch eine Einrede zu ersetzen, um
auch nach Ablauf der Frist eine einvernehmliche Regelung zu ermöglichen.
Es gibt also eine Reihe offener Fragen, die wir diskutieren werden. Ich hoffe, dass wir in diesem Zusammenhang und im Rahmen unserer Beratungen über das
Gendiagnostikgesetz vernünftige, vielleicht sogar gemeinsame Regelungen schaffen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4727 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. März 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Zuhörerinnen und Zuhörern auf der Tribüne ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.