Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, zusammen mit
Tagesordnungspunkt 22 folgenden Zusatztagesordnungspunkt zu beraten:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
- Drucksache 15/3424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland
sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Arnold
Vaatz, Werner Kuhn ({1}), Ulrich Adam,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ostdeutschland eine Zukunft geben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim
Günther ({2}), Eberhard Otto ({3}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels - Leitlinien eines Gesamtkonzepts für
die neuen Länder
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Arnold Vaatz, Werner Kuhn ({4}), Dirk
Fischer ({5}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({6}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2004
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit 2004
- Drucksachen 15/3201, 15/3047, 15/3202,
15/4163, 15/3796, 15/4706 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Scheffler
Werner Kuhn ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion.
({8})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Beginn dieser Debatte haben wir Anlass zu erinnern.
Heute vor 15 Jahren, am 18. März 1990, machten die
Bürgerinnen und Bürger der DDR eine ganz neue Erfahrung: Zum ersten Mal war ihre Stimme, war ihr Kreuz
auf einem Wahlschein etwas wert. Gewählt wurde die
10. und zugleich letzte Volkskammer und das war endlich eine, die diesen verpflichtenden Namen verdiente.
Die Mehrzahl der wahlberechtigten Bürgerinnen und
Bürger erlebte den Wahlsonntag nicht nur als ein historisch, sondern auch als ein biografisch bedeutsames Ereignis. Nach knapp sechs Jahrzehnten und zwei Diktaturen konnten sie endlich in einem demokratischen
Verfahren auf die politische Gestaltung ihres Landes und
Redetext
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auf seine Zukunft Einfluss nehmen. Wofür sich die endlich mündig gewordenen Bürgerinnen und Bürger an
diesem Tag entschieden, ist bekannt: für die parlamentarische Demokratie und für die deutsche Einheit.
({0})
Dieser 18. März war kein Geschenk, keine himmlische Fügung, sondern ein hart errungenes Ereignis der
friedlichen Revolution vom Herbst 1989. Was Wählengehen im Alltag der Diktatur bedeutete, war noch
nicht vergessen. Nur wenige Monate zuvor, am
7. Mai 1989, hatte die letzte von der SED inszenierte
Scheinwahl stattgefunden - eine Scheinwahl im doppelten Sinne des Wortes: Die Wähler falteten ihren Wahlschein und steckten ihn in die Urne. Das war schon alles.
Wirklich zu entscheiden hatten sie nichts. Was zählte,
war allein der äußere Anschein eines Wahlverfahrens.
Wer es wagte, eine Wahlkabine aufzusuchen, wurde
misstrauisch beäugt; er machte sich verdächtig, unlautere Absichten zu hegen, aus der Reihe zu tanzen, provozieren zu wollen. Ein absurdes Verfahren.
Doch die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 verdienen es, dass wir an sie erinnern, denn etwas Wesentliches war dabei anders als sonst. Am Abend dieses Tages
gingen überall im Lande viele von jenen, die das Zettelfalten satt hatten, in die Wahllokale, beobachteten die
Auszählung und notierten die Ergebnisse. Danach trafen
sie sich zum gemeinsamen Nachrechnen, die Berliner
beispielsweise in der Elisabethkirche in Mitte. Sie addierten die Einzelergebnisse und verglichen ihre Zahlen
mit dem offiziellen Ergebnis. Was kam heraus? Schon in
einem einzigen Berliner Stimmbezirk war die Zahl der
Nichtwähler und der Menschen, die mit Nein gestimmt
hatten, weitaus größer, als das offizielle Endergebnis für
die ganze Stadt behauptete. Im offiziellen Wahlergebnis
waren aus Nichtwählern Wähler geworden und aus
Neinstimmen Jastimmen. Was ohnehin viele geahnt hatten, wurde nun zwar nicht amtlich, aber es sprach sich
schnell herum: Das von Egon Krenz verkündete Wahlergebnis - 98,89 Prozent Zustimmung - war gefälscht und
für diese Fälschung gab es Augenzeugen, gab es Beweise.
Zivilcourage verjährt nicht. Wir haben allen Grund,
jenen mutigen Frauen und Männern aus Bürgerrechtsund Kirchenkreisen unseren Respekt zu bekunden.
({1})
Sie haben dazu beigetragen, die von der DDR in Anspruch genommene Legitimität zu untergraben. Sie haben die Verdorbenheit der Diktatur anschaulich gemacht
und nicht wenige Menschen zum Nachdenken und Umdenken angeregt. Diese und weitere Aktionen der Bürgerbewegung trugen im Vorfeld der friedlichen Revolution dazu bei, dass der 18. März 1990 möglich wurde,
jener Tag, an dem die Forderungen der Demonstranten
vom Herbst 1989 ihre demokratische Legitimation erhielten.
Die Wahl vom 18. März markiert einen wichtigen
Wendepunkt. Sie beendete die revolutionäre Phase und
eröffnete die parlamentarische. Aus Basisgruppen und
Bewegungen waren Parteien geworden. Aus einfachen
Bürgerinnen und Bürgern, die eben noch Erstwähler waren - sie durften erstmals ein demokratisches Parlament
wählen -, wurden Abgeordnete, Staatssekretäre, Minister. Nicht wenige sind noch heute in der Politik, auch
hier im Deutschen Bundestag. Ich begrüße auf der Tribüne Sie und euch, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Volkskammer, besonders herzlich.
({2})
Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wortes eine Schule der Demokratie und zugleich ein Arbeitsparlament. Es ging bis an die Grenzen der individuellen Belastbarkeit. Wir Abgeordneten praktizierten
gewissermaßen aus dem Stand heraus, doch außerordentlich motiviert die Spielregeln und Verfahrensweisen
der Demokratie und sahen uns zugleich einer Fülle von
Problemen gegenüber. Ein funktionsfähiges parlamentarisches Regierungssystem musste in Gang gesetzt werden, um den neuen Staat handlungsfähig zu machen. Die
Politik musste Legitimität und Kalkulierbarkeit in einem
Land gewinnen, dessen Wirtschaft zusammenbrach, dessen Versorgung kaum noch gewährleistet werden konnte,
dessen Bevölkerung mit Abwanderung drohte.
Der Souverän hatte dem Parlament einen klaren Auftrag erteilt: die Herstellung der deutschen Einheit.
Auch wenn manche Legendenerzähler heute anderes behaupten: An politischen Experimenten war der Souverän
nicht sonderlich interessiert. Die Frage war nur, auf welchem Weg dieser Wählerauftrag zu erfüllen war, nach
Art. 23 oder nach Art. 146 des Grundgesetzes. Die ausgehandelte Formel lautete dann: zügiger Beitritt, aber
zuvor Verhandlungen. Dies war dann auch in der Tat der
einzig realistische Weg einer schnellen Überwindung der
deutschen Teilung im Angesicht des immer weiter voranschreitenden Zusammenbruchs der DDR und des damit einhergehenden Verlustes an politischer Gestaltungsmöglichkeit. Unsere Verhandlungsposition war nicht
immer die beste. Doch es bleibt ein Verdienst der
10. Volkskammer und der Regierung unter Ministerpräsident de Maizière, darauf beharrt zu haben, dass vor der
Vereinigung außenpolitische und vertragliche Regelungen erreicht werden müssen, dass die Bodenreform und
der redliche Erwerb von Eigentum Bestand haben müssen.
Nur sechs Monate hatte die Volkskammer Zeit, die
staatliche Einheit in Selbstbestimmung und in Anerkennung unserer historischen Verantwortung zu vollenden.
Der Regelungsbedarf war gewaltig. Ich erinnere nur an
einige der wichtigsten Arbeitsfelder: Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, Rechtsangleichung, Stasi-Unterlagen-Gesetz. Der Beitrittsbeschluss erging erst nach
Abschluss des Einigungsvertrages und der Zwei-plusVier-Verhandlungen. Wir wollten einvernehmlich mit
den Siegermächten und Nachbarn in die Einheit gehen.
Ich bin bis heute außerordentlich dankbar dafür, dass uns
dies gemeinsam gelungen ist.
({3})
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Natürlich, es hat Fehler, Versäumnisse, Überforderung gegeben. Wie sollte es auch anders sein? Es gab
kein Lehrbuch, in dem beschrieben wird, wie ein demokratisches Parlament sich selbst überflüssig macht, sich
selbst und zugleich seinen Staat abschafft, und das auch
noch zu akzeptablen Bedingungen.
Was in der 10. Volkskammer erreicht wurde, war
ohne Vorbild. Es konnte nur gelingen, weil wir Unterstützung erhielten: aus den alten Bundesländern, von der
Bundesregierung, von den Schwesterparteien und -fraktionen des 11. Deutschen Bundestages. Auch daran sei
heute erinnert. Auch dafür sage ich als einer, der damals
mit dabei war, herzlichen Dank.
({4})
Trotz der Kürze ihres Mandats hat die frei gewählte
Volkskammer des Jahres 1990 ein bedeutendes Kapitel
in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus geschrieben. Sie war eben mehr als nur ein Übergangsparlament, mehr als ein Lückenfüller zwischen Diktatur
und Demokratie. Ihr ist es gelungen, in das vereinte
Deutschland eine auf die friedliche Revolution der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger begründete Demokratie mit eingebracht zu haben. Das ist eine große, eine
historische Leistung und ich wünschte mir, dass sie in
der Öffentlichkeit mehr als bisher wahrgenommen und
gewürdigt wird.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Erinnerung,
so viel Würdigung musste heute sein.
Nun zum Heute: Vor einigen Tagen las ich eine kurze
Agenturmeldung, die es in sich hatte. Nach einer Untersuchung der TU Dresden - es wurden 1 835 Menschen
in Deutschland befragt - vertrauen nur rund 4 Prozent
der Deutschen den Parteien und 11 Prozent dem Bundestag. Dagegen glauben 44 Prozent der Befragten dem
Bundesverfassungsgericht, 40 Prozent der Polizei und
31 Prozent der Justiz. Auch Medien wie Zeitungen mit
14 Prozent und Fernsehen mit 15 Prozent lagen noch vor
Parlament, Regierung und Parteien. Professor Patzelt resümiert: „Wer Parteien wenig vertraut, hat auch wenig
Zutrauen zum Parlament.“
Das ist ein dramatischer Vertrauensverlust gegenüber der Demokratie und ihren Institutionen und Akteuren, und das 15 Jahre nach dem wunderbaren demokratischen Aufbruch im Osten Deutschlands, 15 Jahre
nach dem Glück der Wiedervereinigung. Dafür gibt es
gewiss sehr verschiedene Gründe: ohne Zweifel Fehler
und Fehlverhalten von Politikern, die Härte des wirtschaftlichen, des sozialen, des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland seit 1989 - eines Wandels, bei dem
es nicht nur Sieger gibt -, die Größe der Probleme und
die Langsamkeit, mit der wir sie zu lösen imstande sind,
die Wahrnehmung einer zunehmenden Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer
Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Begrenztheit demokratischer politischer
Prozesse und Entscheidungen andererseits.
Zahlreiche Studien belegen zudem, dass das Vertrauen in die Demokratie und die Zufriedenheit mit ihr in
Ostdeutschland noch geringer und labiler sind als im
Westen Deutschlands. Für eine nicht geringe Zahl von
Menschen bedeuteten die Vereinigung, der Gewinn der
Demokratie und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, den Arbeitsplatz zu verlieren, lange Jahre arbeitslos zu bleiben und schließlich die Zukunft zu fürchten.
Die Demokratie, das Ende der DDR, bedeutet für diese
Menschen rückblickend nicht Chance, sondern Risiko
und letztendlich Verlust einer sicher geglaubten Existenz.
Diese existenzielle Erfahrung prägt auch junge Leute
- vor allem in ländlichen Regionen Ostdeutschlands -,
die unsicher sind und nicht wissen, wie ihre Zukunft aussehen wird. Es ist eben besorgniserregend, dass offenbar
immer mehr Menschen Politikern und demokratischen
Institutionen nicht mehr zutrauen, die Probleme zu lösen, egal ob im Bund, im Land oder in der Kommune.
Mitarbeiter von Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, berichten, dass sich mancherorts regelrecht eine parlaments- und politikfeindliche
Stimmung ausbreitet. Dort werde es für Kommunalpolitiker zunehmend schwerer, die Werte der Demokratie zu
verteidigen und offen für sie zu streiten. Das ist ein brisantes Stimmungsbild, das selbstverständlich nicht auf
den gesamten Osten Deutschlands zutrifft. Aber es sind
Entwicklungen in einzelnen Regionen, die wir ernst nehmen und auf die wir gesellschaftliche Antworten finden
müssen. Ich plädiere sehr dafür, neben allen notwendigen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen, die getan werden müssen, auch die politische Bildung, das Werben und Überzeugen für die
freiheitliche und pluralistische Demokratie deutlich zu
verstärken.
({6})
Neben allen Anstrengungen, die wir unternehmen,
um Perspektiven für den Osten zu entwickeln, und allem
notwendigen Streit unter den Demokraten darüber gehört der elementare Streit für unsere Demokratie dazu.
Lassen Sie mich zum Schluss Klaus von Dohnanyi zitieren. Er sagte gestern in einem Interview, die Verdrossenheit in Deutschland sei wohl auch deshalb so groß,
weil vergessen werde, welche Leistungen Deutschland
seit der Wiedervereinigung vollbracht habe. Er formuliert das mit drastischen Zahlen: So sei die Zahl der Erwerbstätigen seit 1989 in Großbritannien um knapp
2 Millionen gestiegen, in Frankreich um rund 3 Millionen, in Deutschland dagegen habe der Zuwachs an Erwerbstätigen rund 10 Millionen betragen. Klaus von
Dohnanyi wörtlich:
Da ist natürlich die frühere DDR dazugekommen.
Dort gab es ja für eine Marktwirtschaft kaum konkurrenzfähige Arbeitsplätze.
Er sagt weiter, auch die öffentliche Verschuldung könne
sich im Vergleich mit anderen Ländern sehen lassen.
Deutschland halte sich auf dem Niveau der USA,
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Frankreichs und Österreichs, weit unterhalb des Verschuldungsniveaus Italiens.
Und dabei haben wir zugleich mit mehr als
1 Billion Euro Ostdeutschland aufgebaut.
Er hat Recht. Neben vielen Problemen im Osten
Deutschlands gibt es auch genügend Erfolgsgeschichten
Ost: von der erneuerten Infrastruktur über die Autoindustrie bis zu den Universitäten und Hochschulen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir treten nicht dem Paradies bei, aber auch nicht
der Hölle.
Das habe ich vor 15 Jahren in einer Volkskammerdebatte
gesagt. Ich glaube, ich habe Recht behalten.
({8})
Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates
Sachsen, Professor Dr. Georg Milbradt.
({0})
Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst Ihnen, Herr Thierse, danken für diesen Rückblick auf den 18. März 1990 und
das, was seitdem geschehen ist. Ich freue mich auch,
dass die Volkskammerpräsidentin aus diesen Tagen, Frau
Bergmann-Pohl, auf der Tribüne bei uns ist.
({2})
Bei den Volkskammerwahlen hat sich die Mehrheit
der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung entschieden. Sie haben sich entschieden, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen, und sie haben diese Chance
genutzt. Nach 15 Jahren kann man über Ostdeutschland
sagen: Wir sind gut, aber wir müssen noch besser werden.
Ostdeutschland ist in den vergangenen 15 Jahren weiter vorangekommen, als es die Pessimisten wahrhaben
wollen. Leider beherrschen die Pessimisten die Schlagzeilen. Die Rede ist von einem ostdeutschen Mezzogiorno, von verblühenden Landschaften oder von dem
Milliardengrab Ost. Die Pessimisten, so meine ich, haben Unrecht. Die Lage in den ostdeutschen Bundesländern ist zwar schwierig, aber wir haben in Ostdeutschland in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten trotz
aller Hemmnisse viel erreicht. Insbesondere dort, wo der
Staat direkt Verantwortung trägt, wo er direkt verantwortlich ist - zum Beispiel bei Umwelt, Gesundheit, Infrastruktur oder Bildung -, ist der Anpassungsprozess
erfolgreich abgeschlossen oder zumindest auf einem guten Weg.
({3})
Die großen Unterschiede bestehen in der Privatwirtschaft, in der Wirtschaftskraft, in der Wirtschaftsleistung
pro Kopf der Bevölkerung oder pro Erwerbstätigem.
Aber auch hier muss angemerkt werden: Die Wirtschaftskraft hat sich in Ostdeutschland in diesen 15 Jahren verdoppelt und - das möchte ich hinzufügen - ein
ostdeutsches Bundesland, Sachsen, wächst seit zwei Jahren stärker als alle anderen Bundesländer, die westdeutschen Bundesländer also inbegriffen. Zum Beispiel bietet Dresden heute - was nicht bekannt ist - mehr
Arbeitsplätze pro tausend Einwohner als Bonn. Es sind,
anders als die erwähnten Schlagzeilen behaupten, Arbeitsplätze entstanden. Ein Beispiel: Dresden und Freiberg haben sich zum Zentrum der europäischen Halbleiterindustrie entwickelt. Jeder fünfte weltweit produzierte
Mikrochip kommt aus Dresden. Es gibt um unsere Landeshauptstadt herum 11 000 Menschen, die in diesem
Bereich Arbeit haben, in ganz Sachsen 20 000. Es gibt in
Ostdeutschland an vielen Stellen solche Erfolgsgeschichten. Wir sollten sie nicht in bester deutscher Manier schlechtreden.
({4})
Stattdessen sollten wir herausstellen, dass wir in Ostdeutschland das Beste aus den Fähigkeiten der Menschen gemacht haben - natürlich mit großzügiger Unterstützung aus Westdeutschland, für die wir dankbar sind.
({5})
Wir könnten und wir müssen aber noch besser sein.
Deutschland muss wieder wachsen und wir brauchen
mehr Arbeitsplätze.
Nun sagen manche, wir würden jedes Jahr 4 Prozent
des Bruttosozialprodukts für den Aufbau Ost aufwenden, was uns beim Wirtschaftswachstum herunterziehe
und die internationalen Vergleiche beeinträchtige. Das
stimmt. Der Aufbau Ost ist aber nicht die Ursache der
deutschen Wachstumsschwäche. Vielmehr leidet auch
der Aufbau Ost unter den strukturellen Defiziten, die für
das schwache Wachstum in ganz Deutschland verantwortlich sind und die auch schon 1989, 1990 bestanden
haben.
Wenn wir heute über eine Perspektive für Ostdeutschland reden, dann müssen wir vor allem über eine Perspektive für Deutschland insgesamt reden. Ich meine,
Ostdeutschland kann eine solche gesamtdeutsche Perspektive bieten; denn wir haben 15 Jahre lang sehr intensiv erfahren müssen, was am westdeutschen Modell
funktioniert und was nicht funktioniert. Wir haben erfahren, wie schwach die Kräfte unserer Wirtschaft sind,
weil wir den Marktkräften misstrauen und an bestimmte
Regelungen sowie insbesondere an den Vater Staat glauMinisterpräsident Dr. Georg Milbradt ({6})
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ben. Dieses Misstrauen in das System ist Teil des Systems, das wir 1990 übernommen haben.
In den nächsten Jahren kommt erschwerend hinzu,
dass die Aufbauhilfe der Europäischen Union und aus
dem Solidarpakt deutlich abnehmen wird. Mit einer
Politik des „Weiter so!“ werden wir dann in große
Schwierigkeiten geraten. Wir müssen sowohl in Ostdeutschland als auch in Gesamtdeutschland dynamischer
und attraktiver werden, um einen Ausgleich für das fehlende Geld zu erzielen. Anders ausgedrückt: Wir müssen
unsere Strategie zum Aufbau Ost verbessern. Mit derselben Strategie wie in den letzten 15 Jahren werden wir
den Rest des Weges nicht schaffen.
({7})
Vorschläge dazu liegen schon lange auf dem Tisch.
Ich selbst habe vor fast genau einem Jahr das Strategiepapier „Zukunft Ost - Chance für Deutschland“ vorgelegt. Die Regierungskommission unter Klaus von
Dohnanyi hat sich ganz ähnlich geäußert. Passiert ist
aber wenig. Im Gegenteil: Die gesamtdeutsche Politik ist
zur Tagesordnung zurückgekehrt, auf der die Probleme
Ostdeutschlands schon seit Jahren nur noch ganz am
Schluss unter „Sonstiges“ vorkommen.
({8})
Eine derartige Haltung können wir uns nicht länger leisten.
Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Sachsen hat
frühzeitig darauf hingewiesen, welche Gefahren die
Dienstleistungsfreiheit im Zuge der Osterweiterung der
EU mit sich bringt. Wir haben klar gesehen, dass bei uns
viele Arbeitsplätze gefährdet sind, weil die Lohnkosten
in Polen und Tschechien 80 Prozent niedriger sind als in
Sachsen. Es war von Anfang an klar, was passieren
würde. Ich habe deshalb Lohnkostenzuschüsse vorgeschlagen, um die Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor
konkurrenzfähig zu halten; denn die Alternative war und
ist, dass die Beschäftigten in diesem Bereich arbeitslos
werden oder bleiben.
Man mag ja über diesen Vorschlag streiten, man kann
aber nicht bestreiten, dass man etwas tun muss. Ich
meine, die ökonomischen Wirkungen der Osterweiterung der EU auf Ostdeutschland und insbesondere die
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte sind systematisch unterschätzt worden. Die vereinbarten Übergangsregelungen waren von Anfang an
unzureichend.
({9})
Nun verlieren Fleischer nicht nur in Sachsen, sondern
auch anderswo in Deutschland ihre Arbeit. Erst jetzt sind
die Auswirkungen der Dienstleistungsfreiheit politisch
ein Thema, und das eigentlich auch nur, weil auch Westdeutschland betroffen ist.
({10})
Die Menschen in Ostdeutschland erwarten von der
Politik mehr. Sie wollen arbeiten und muten sich eine
Menge zu, um Arbeit zu finden. Ich höre das immer
wieder zum Beispiel von den Bürgern in meinem Wahlkreis Kamenz. Bei vielen klingelt der Wecker Montag
um 4 Uhr, weil sie vier, fünf oder sechs Stunden mit dem
Auto nach Bayern oder Baden-Württemberg zur Arbeit
fahren müssen. Nach Hause kommen sie in der Regel
erst am späten Freitagabend. Die Menschen muten sich
und ihren Familien etwas zu, weil sie arbeiten wollen
und weil sie den Sinn ihres Lebens nicht darin sehen, in
der berühmten sozialen Hängematte zu liegen. Doch
mehr als 5 Millionen Menschen nützt selbst diese Flexibilität nichts. Für sie müssen wir etwas tun.
Deswegen sage ich: Arbeit muss absolute Vorfahrt haben, wie es der Bundespräsident am Dienstag gesagt hat.
Wir müssen den Menschen wieder bessere Chancen geben, Arbeit zu finden.
({11})
Die Maßnahmen sind bekannt. Ich will sie nicht wiederholen und auch den Streit nicht wieder neu entfachen.
Aber eines ist ganz klar: Deutsche Luxusgesetze, die auf
jede EU-Richtlinie noch draufsatteln, darf es nicht mehr
geben.
({12})
Ich meine jetzt kein bestimmtes Gesetz,
({13})
sondern ich meine die Summe der Gesetze.
({14})
Klar ist, dass nicht alles auf einmal verwirklicht werden kann. Deswegen schlage ich vor, dass die Reformen,
die in Westdeutschland nicht durchsetzbar sind, zumindest in Ostdeutschland ausprobiert werden. Das wird es
den unternehmerischen, erfinderischen und tüchtigen
Menschen in Ostdeutschland zunächst erlauben, ihre
Kräfte und Ideen auszuprobieren. Dann können wir
schauen, was passiert, wenn man neue Wege beschreitet.
Dann kann der Westen auch vom Osten lernen.
({15})
Solche Öffnungs- und Experimentierklauseln sind
eigentlich nichts Neues. Es gab bisher schon eine ganze
Reihe solcher Sonderregelungen. Die bekannteste hört
auf den etwas sperrigen Namen Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kröning? - Nein.
Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident ({0}):
Dieses Gesetz hat es beispielsweise ermöglicht, den
Flughafen Leipzig innerhalb von nur vier Jahren zu einem internationalen Flughafen auszubauen. In Stuttgart
und München hat ein solches Projekt über 25 Jahre
Ministerpräsident Dr. Georg Milbradt ({1})
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gedauert. Das war auch die Voraussetzung dafür, dass
DHL sein neues europäisches Frachtkreuz am Flughafen
Leipzig ansiedelt und 10 000 Arbeitsplätze schafft.
Ein Gesetz, das so etwas möglich macht, meine Damen und Herren von den Grünen, darf nicht einfach auslaufen, wie es dieses Jahr geschehen soll.
({2})
Vielmehr müssen wir es bis mindestens 2019 verlängern
und am besten - ich habe nichts dagegen - auch auf
Westdeutschland ausdehnen.
({3})
Deswegen freue ich mich über die Ankündigung des
Bundeskanzlers, bis zum Sommer ein Planungsvereinfachungsgesetz vorzulegen. Das geht in die richtige Richtung. Aber im letzten Herbst sind Sie genau diesen Weg
nicht mitgegangen. Sie haben unsere Anträge abgelehnt.
({4})
- Wir in Ostdeutschland haben immer verlangt, dieses
Gesetz bis 2019 zu verlängern, aber es ist im Bundestag
aufgrund der Grünen nur um ein Jahr verlängert worden.
Das ist die Wahrheit.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, ich freue mich darüber, dass wir in diesem Punkt
mittlerweile einer Meinung sind. Wir brauchen in ganz
Deutschland viel mehr solcher Katalysatoren, die die
bisher schwerfälligen Prozesse deutlich beschleunigen.
Ich möchte sie in Ostdeutschland gerne ausprobieren, so
wie wir es im Verkehrsbereich getan haben. Westdeutschland kann dann von unseren Erfahrungen profitieren, die bei diesem Gesetz offensichtlich so gut sind,
dass der Bundeskanzler dieses Gesetz sogar auf die
Stromleitungen anwenden will. Das könnte nach der
friedlichen Revolution im Herbst 1989 Ostdeutschlands
zweiter Beitrag zur deutschen Einheit sein: der erfolgreiche Umbau eines an seine Grenzen geratenen Wirtschafts- und Sozialsystems.
In der politischen Auseinandersetzung wird gern der
Eindruck erweckt, Deutschland sei ein zum Zwerg geschrumpfter Riese. Das ist falsch. Deutschland ist ein gefesselter Gulliver, dem man nur die Fesseln abnehmen
muss. Wir Ostdeutschen wollen zeigen, dass Deutschland ein hervorragender Standort mit einem gewaltigen
Potenzial ist. Wir alle wollen jene widerlegen, die
Deutschland schlechtreden. Denn das, was für Ostdeutschland gilt, gilt auch für Deutschland. Wir sind gut,
gar keine Frage. Wir können besser sein und wir müssen
besser sein.
Herzlichen Dank.
({6})
c
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor
15 Jahren fanden die ersten und zugleich einzigen freien
und geheimen Wahlen zur Volkskammer statt. Dieser
Jahrestag ist Anlass, an die außerordentliche Leistung
der 400 Abgeordneten zu erinnern, die in den darauf folgenden Monaten eine schier unmögliche Aufgabe zu bewältigen hatten. Ich weiß nicht genau, wie viele Gesetze,
Verordnungen und Drucksachen in dieser kurzen Zeit erarbeitet wurden, aber ich weiß, dass dieses Parlament
und seine Abgeordneten ihre Aufgaben sehr ernst genommen haben und sie oftmals an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung gegangen sind.
Diese kurze, aber umso intensivere parlamentarische
Phase endete mit dem Beitritt zur Bundesrepublik
Deutschland am 3. Oktober 1990. Für einige endete damit auch ihre politische Karriere. Einige hatten sich den
Parlamentarismus sicher anders vorgestellt. Einige von
ihnen sind noch heute Mitglieder der Landesparlamente
oder des Bundestages. Ich möchte mich bei diesen Kollegen und bei den Gästen stellvertretend für ihre
400 Kollegen des Jahres 1990 ausdrücklich für ihre hervorragende Arbeit bedanken. Sie haben in diesen wenigen Monaten ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte
geschrieben.
({0})
Die seither vergangenen 15 Jahre wecken je nach persönlicher Biografie unterschiedliche Empfindungen und
Gefühle. Es waren 15 Jahre voller erfüllter und gescheiterter Hoffnungen, es waren 15 Jahre voller Irrungen und
Wirrungen. Wir sollten ehrlich sein: Keiner hatte damals
eine Vorstellung davon, was auf uns zukommen würde,
keiner hatte die Patentlösungen für die Probleme in der
Schublade.
Daran hat sich bis heute nichts geändert und daran
wird sich auch nichts ändern. Der Aufbau Ost ist ein
mühseliger und noch lange andauernder Prozess, in dem
viele komplizierte Vorgänge parallel und zum Teil über
Kreuz ablaufen. Für derartige Probleme gab und gibt es
keine schnellen Lösungen, sondern nur eine Vielzahl
von möglichen Lösungswegen, die einer permanenten
kritischen Überprüfung unterliegen und je nach Erfolg
fortgeführt oder auch verworfen werden müssen. Deshalb widerspreche ich Ihnen, Herr Ministerpräsident
Milbradt, energisch: Es ist einfach zu billig,
({1})
wenn Sie glauben, dass Sie mit Ihrer Ablehnung zum
Beispiel des ADG oder des Verkehrswegeplanungsbescheunigungsgesetzes die Probleme von Ostdeutschland
auf einfache Art und Weise lösen könnten. Das nehme
ich Ihnen nicht ab.
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09.30-09.40.do
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({2})
So gesehen bleibt das Bild heute zwiespältig. Einerseits ist in den vergangenen 15 Jahren unglaublich viel
erreicht worden, andererseits ist es uns nicht gelungen,
die Hoffnungen von vielen Bürgern zu erfüllen. Es ist
uns immer noch nicht gelungen, die Mauer in den Köpfen restlos zu beseitigen. Nach wie vor besteht für mich
das drängendste Problem weiter fort: die hohe Arbeitslosigkeit. Für mich bleibt daher das Ziel, die Schaffung
gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland anzustreben, absolut vorrangig. Dies können wir nur durch die Schaffung einer sich selbst tragenden und nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung
und durch die energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erreichen. Das muss weiterhin unser gemeinsames vordringliches Ziel bleiben. Dafür müssen wir uns
gemeinsam einsetzen.
({3})
An dieser Stelle möchte ich deutlich machen - insofern muss ich meine früheren Aussagen teilweise korrigieren -: Ich kann Ihnen heute nicht versprechen, ob wir
dieses Ziel bereits in den kommenden 15 Jahren erreichen werden. Wir stehen vor sehr harten und anstrengenden Jahren, die unsere ganze Kraft auf allen Ebenen fordern werden. Ich kann daher nur versprechen, dass ich
meine Kraft dafür einsetzen werde, damit dieses Ziel
möglichst schnell erreicht wird.
Wir werden in den kommenden Jahren weiterhin auf
die gesamtdeutsche Solidarität angewiesen sein. Der
Solidarpakt II ist der Beweis dafür, dass es sich hierbei
nicht um eine bloße Worthülse handelt.
({4})
Wir werden sicherstellen, dass die zugesagten Mittel in
Höhe von 156 Milliarden Euro in den kommenden 15 Jahren fließen werden. Dies betrifft sowohl die Korb-I- als
auch die Korb-II-Mittel. Aber - das sei hier deutlich gesagt - ich erwarte auch, dass die Länder die Mittel entsprechend den gesetzlichen Vereinbarungen verwenden
({5})
und die Debatten über Fehlverwendungen der Vergangenheit angehören werden.
({6})
Das ist unser Teil des Solidarvertrages. Das ist unsere
Verpflichtung. Wir müssen in den nächsten Jahren den
Beweis erbringen, dass wir Solidarität nicht als Einbahnstraße verstehen. Es geht mir nicht darum, die ostdeutschen Ministerpräsidenten anzuprangern. Einige zusätzliche Belastungen für die Länder wie zum Beispiel die
Sonderrenten waren nicht vorhersehbar. Andere Probleme sind hausgemacht. Wir müssen kritisch erkennen, dass die strukturellen Haushaltsdefizite eine
große, vielleicht sogar die größte Gefahr für den Aufbau Ost darstellen.
Angesichts der degressiven Ausgestaltung des
Korbes I des Solidarpakts, die ab den Jahren 2008/2009
beginnt, muss es uns in den kommenden vier bis fünf
Jahren gelingen, die Länderhaushalte nachhaltig zu konsolidieren. Wie schwer das ist, können wir an den offensichtlich gescheiterten Bemühungen des Saarlandes und
Bremens sehen. Daher meine ich, dass die Haushaltssanierung keine Frage des Wollens, sondern des Müssens ist.
Mir ist bewusst, dass dies schwerwiegende Entscheidungen nach sich zieht und auch in Zukunft noch nach
sich ziehen wird. Wir haben aber keine Alternative. Daher sage ich Ihnen auch an dieser Stelle unsere Unterstützung auf diesem schwierigen Weg zu.
Der demographische Wandel läuft in Ostdeutschland schneller und dramatischer ab, als wir es uns vor
15 Jahren haben vorstellen können. Neben den niedrigen
Geburtenraten ist es der negative Wanderungssaldo,
der mich beunruhigt. Es geht dabei nicht so sehr um die
quantitative als um die qualitative Dimension. Vor allem
gut ausgebildete junge Menschen haben in den vergangenen 15 Jahren die ostdeutschen Bundesländer verlassen. Die Abwanderung hat für uns nicht nur zur Folge,
dass wir Steuerzahler und Konsumenten verlieren, sondern wir verlieren auch gerade die Generation, auf der
wir eigentlich die Zukunft Ostdeutschlands aufbauen
wollten. Es sind unter anderem die Unternehmer und
Unternehmerinnen von morgen, die uns heute verlassen.
Man möchte beinahe sagen, dieser Braindrain in OstWest-Richtung ist quasi unsere Gegenleistung für die
West-Ost-Transferleistungen. Die westdeutschen Bundesländer werden jedenfalls noch auf Jahre hin davon
profitieren.
Wir müssen alles daran setzen, diesen Trend umzukehren. Angesichts einer Unternehmenslücke von rund
100 000 in Ostdeutschland liegt es auf der Hand, zum
Beispiel hier konkret anzusetzen. Es gibt gut ausgebildete Menschen und eine hervorragende Forschungslandschaft in Ostdeutschland; wir produzieren viele innovative Geschäftsideen und Erfindungen. Dennoch gelingt
es uns nicht, diese guten Voraussetzungen in ausreichendem Maße in erfolgreiche Unternehmungen umzusetzen
und innovative Produkte zur Marktreife zu bringen.
Der „Global Entrepreneurship Monitor 2004“ spricht
von einem schlechten Gründerklima in Deutschland
trotz eines hervorragenden Angebots an Förderprogrammen für Unternehmensgründungen. Zum einen liegt das
an einem ungewöhnlich stark ausgeprägten Pessimismus, zum anderen an fehlenden unternehmerischen
Kenntnissen und Grundfähigkeiten. Es ist zwar richtig,
dass nicht jeder zum Unternehmer geboren ist, aber wir
können es uns auch nicht erlauben, diejenigen gehen zu
lassen, die über Unternehmereigenschaften verfügen. Ich
begrüße ausdrücklich, dass es positive Bestrebungen seitens der Länder gibt, hier mit entsprechenden Ergänzungsstudiengängen und Coachingprogrammen anzusetzen. Aber auch wir sollten unsere Anstrengungen
verstärken; denn in der Schaffung neuer Unternehmen
liegt mit ein Schlüssel zur Zukunft Ostdeutschlands.
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In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals für
ein Herzensanliegen meinerseits werben. Wir müssen
dringend die Finanzierungsmöglichkeiten für die kleinen und mittelständischen Unternehmen verbessern,
und zwar nicht nur in Ostdeutschland, sondern bundesweit.
({7})
Dies betrifft gleichermaßen die Neugründungen als auch
die bestehenden Betriebe. Ich erfahre oft - viel zu oft von Unternehmern über ihre Kämpfe und Mühen auf
verschiedenen Ebenen, wenn Kreditanträge entweder an
den Hausbanken, fehlenden Sicherheiten oder an allen
möglichen und unmöglichen Hürden scheitern. Bundeskanzler Schröder hat gestern nochmals deutlich gemacht, dass uns die Sorgen und Nöte der kleinen und
mittelständischen Unternehmen besonders am Herzen
liegen. Aber wie können diese Unternehmen an die zinsgünstigen Darlehen der Mittelstandsbank kommen,
wenn die Hausbanken oftmals ihrer Verantwortung nicht
gerecht werden?
({8})
Ich will die Hausbanken nicht pauschal kritisieren;
denn einerseits gibt es auch Defizite bezüglich der Qualität der eingereichten Kreditunterlagen und andererseits
gibt es in Ostdeutschland kaum noch Möglichkeiten einer klassischen Besicherung der Kredite zum Beispiel
über die Betriebsimmobilie. Die Verkehrswerte der Immobilien sind in vielen Fällen - selbst bei Neubauten nur noch virtueller Art. 60 bis 80 Prozent aller Finanzierungsanträge scheitern daher an fehlenden Sicherheiten.
Es kann andererseits auch nicht sein, dass dann die Landesbürgschaftsbanken die ganze Verantwortung übernehmen müssen. Es stimmt etwas nicht mehr im System,
wenn in einer Marktwirtschaft das Risiko zu 80 Prozent
auf den Staat abgewälzt wird.
Ich habe in vielen Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass es hier einen gordischen Knoten zu durchschlagen gilt. Je eher wir das tun, desto eher können
auch hier Bremsen gelöst und kann zu einer Belebung
und Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung
beigetragen werden. Das wäre gut und wichtig - auch
für Ostdeutschland.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 15 Jahren fanden die ersten freien Volkskammerwahlen statt. Herr Thierse, Sie haben sehr gut an dieses Ereignis erinnert. Es war ein historischer Moment.
Erstmals konnten die Menschen frei wählen. Viele der
Kandidaten standen am Abend dieses Tages vor der völlig neuen Situation, dass sie der ersten frei gewählten
Volksvertretung angehörten.
({0})
Einige dieser Kollegen sind heute hier. Ihnen gilt mein
besonderer Gruß; denn sie waren ein sehr besonderes
Parlament. Sie waren das einzige Parlament, das - zumindest mehrheitlich - von Anfang an darauf hingearbeitet hat, sich selbst aufzulösen. Sie haben damals den
Wählerauftrag ernst genommen, den Weg zur deutschen
Einheit zu gehen. Sie haben das am 3. Oktober 1990
auch besiegelt. Welch große Leistung, wenn ich an gestern Abend denke!
({1})
Heute, 15 Jahre später, diskutieren wir darüber, wie
der Aufbau Ost weiter vorangebracht und ein weiteres
Ausbluten der Bevölkerung in Ostdeutschland verhindert werden kann. Man muss ganz ehrlich sagen: Ganz
so kompliziert haben wir uns das vor 15 Jahren nicht
vorgestellt. Wie man so schön sagt: Leider ist der
Mensch hinterher immer klüger.
({2})
Ich sage aus heutiger Sicht: Hätten wir damals ein
Niedrigsteuergebiet Ost durchgesetzt, wäre uns manche Milliarde für Programme und Transmissionen erspart geblieben und wären manche Arbeitsplätze erst gar
nicht abgebaut worden.
({3})
Heute müssen wir uns mit der Realität herumschlagen: Arbeitslosenquote bei 20 Prozent, Bevölkerungsabwanderung und Wohnungsleerstand in einer Dimension, die sich vorher niemand so richtig vorstellen
konnte. In Berlin gibt es das politische Szenario, dass
zwar jeder weiß, dass Kurskorrekturen sofort vorgenommen werden sollten, dass aber der Bundeskanzler
scheinbar erst ein Treffen mit der Union braucht, um der
eigenen Fraktion zu sagen: Genossen, ich werde von der
Opposition erpresst; nun geht doch endlich einmal einen
Schritt weiter.
({4})
Es gibt viele Probleme, die zur Diskussion stehen. Wenn
wir ehrlich sind, haben wir doch für viele Probleme eine
Lösung. Bloß: Der Mut, Lösungen durchzusetzen, fehlt
an der einen oder anderen Stelle.
({5})
Wir müssen aus den Parteischützengräben heraus, egal
auf welcher Seite. Wir müssen schnell zu Kompromissen
kommen. Die Bevölkerung wartet darauf.
Joachim Günther ({6})
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Allein die Diskussion im vergangenen Jahr - wenn
ich daran erinnern darf -, den Jahresbericht zum Stand
der deutschen Einheit abzusetzen, hat gezeigt, dass
sich einige über den Ernst der Situation gar nicht im Klaren waren. Die Chefsache Ost von der Tagesordnung zu
nehmen ist Gott sei Dank selbst bei Ihnen nicht durchsetzbar gewesen. Der Bericht wird bis 2008 fortgeschrieben. Trotzdem habe ich den Chef bis heute nicht richtig
auf den Tisch hauen hören, wenn es um den Aufbau Ost
geht. Das ist das Problem.
({7})
Wo ist denn sein Machtwort, wenn es zum Beispiel um
die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen geht, was
selbst von Ihren Experten gefordert wird? Wo ist denn
sein Machtwort, wenn aufgrund der Entsenderichtlinie
oder der Dienstleistungsrichtlinie Tausende deutsche Arbeitsplätze verloren gehen und deutsche durch billige
osteuropäische Arbeitnehmer ersetzt werden? Gestern
hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt, dass sich hier etwas ändern muss. Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen nur sagen: Schicken Sie Ihren
Außenminister und Ihre Sozialministerin nach Brüssel,
um andere Lösungen herbeizuführen. Dann kann sich
Herr Fischer endlich einmal um deutsche Arbeitsplätze
kümmern und braucht sich nicht mit Visaangelegenheiten zu beschäftigen.
({8})
Die FDP-Fraktion und auch die Unionsfraktion haben
in ihren Anträgen klare Vorschläge für den Aufbau Ost
gemacht: Senkung der Steuer- und Abgabenlast sowie
Modellregionen für Bürokratieabbau. Herr Milbradt,
Sie haben zwar viele ostdeutsche Beispiele genannt.
Aber wir müssen in Ostdeutschland - auch in Sachsen den Mut haben, dort, wo wir etwas regeln können,
schnell zu Änderungen zu kommen. Ich nenne als Beispiele nur Sonntagswaschanlagen und Öffnungszeiten.
In Landesangelegenheiten sollten die Länder entscheiden. Alles andere sollte der Bund sofort regeln.
({9})
Wir brauchen befristete Steuerregelungen im grenznahen Gebiet. Wir brauchen weiterhin die Ziel-1-Gebiet-Förderung der EU für Ostdeutschland. Darüber
gibt es keine Diskussionen. Aber wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, dass der Tankstellentourismus für
Steuerausfälle in Milliardenhöhe bei uns sorgt. Auch
hierfür gibt es Lösungsvorschläge, zum Beispiel die Einführung einer Chipkarte. Das Beste wäre natürlich, wenn
die Ökosteuer abgeschafft würde; wir wissen das. Aber
niemand würde das umsetzen.
({10})
Meines Erachtens können wir bei all diesen Punkten
durch schnelle Impulse ein Ergebnis erreichen. Wir
brauchen in unserem Land Zuversicht. Es geht darum,
dass unser Land gestaltet und nicht verwaltet wird. Das
haben die Volkskammerabgeordneten vor 15 Jahren mit
ihrer Arbeit eigentlich in Angriff genommen. Sie sind
c
damals für Freiheit, soziale Marktwirtschaft und ein
Ende des Spitzelstaates eingetreten.
Ich sehe hier einige Kollegen von damals und erinnere mich, wie sie für diese Position gekämpft haben.
Mein Blick fällt gerade auf Werner Schulz; er war wirklich einer der Eifrigsten. Ich frage mich, wie diese Kollegen mittragen können, dass in einem Ministerium darüber diskutiert wird, dass in Deutschland ein Jahr lang
Telefonüberwachung stattfindet. Wie kann es sein, dass
sich der Fiskus oder Sozialorgane Einsicht in die Kontenstände aller Bürger verschaffen können? Das war
nicht die Freiheit, die sie 1989 gemeint haben.
({11})
Wir leben heute in einem freiheitlichen Rechtsstaat.
Wir können heute unsere Stimme erheben und wir werden sie erheben. Herr Schulz, Sie müssen sich wirklich
fragen, ob Sie Bündnis 90 nicht neu gründen sollten. Das
wäre eine angemessene Reaktion auf die jetzige Situation. Wir werden weiter für die Freiheitsideale in unserem Staat kämpfen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute abschließend über den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit und den Aufbau Ost. Dazu liegen mehrere Anträge
der Koalition, der FDP und der Opposition zur Rechten
vor.
Die PDS im Bundestag sieht die Debatte heute im
Kontext mit der Generalaussprache gestern und mit dem
Jobgipfel im Anschluss im Kanzleramt. Deshalb haben
wir bereits gestern aufmerksam gelauscht, was die Spitzen von Rot-Grün und die Spitzen der CDU/CSU zur besonderen Lage in den neuen Bundesländern beisteuern.
({0})
- Sie müssen sich gar nicht aufregen. - Mit Verlaub, das
war gestern einfach nichts zum Thema Ostdeutschland.
({1})
Sie kennen meine These: Vieles, was bundesweit im
Argen liegt, wirkt im Osten besonders zugespitzt. Vieles,
was im Osten heute kriselt, erreicht morgen die gesamte
Republik. Gerade deshalb muss es ein besonderes und
gesamtdeutsches Interesse sein, die Probleme Ost positiv
zu wenden. Davon sind wir - bei allen sichtbaren Fortschritten - in der Substanz meilenweit entfernt. Sie gießen mit Strategien, die im Westen schaden und im Osten
Gift sind, zusätzlich Öl ins Feuer.
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({2})
Die Agenda 2010 und Hartz IV gehören dazu.
Ich möchte Ihnen das an drei Generalproblemen illustrieren:
Wir haben bundesweit eine Massenarbeitslosigkeit
von deutlich über 5 Millionen. Relativ ist die Arbeitslosigkeit Ost mehr als doppelt so hoch wie die Arbeitslosigkeit West. Trotzdem haben Sie Hartz IV verordnet.
Dabei wissen alle: Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze.
Im Gegenteil; weitere Unternehmen und Arbeitsplätze
werden dadurch gefährdet.
({3})
Wir haben ein demographisches Problem. Sie versuchen aber nicht, das Problem zu lösen. Sie versuchen lediglich, die Kosten des Problems umzuverteilen. Auch
hier gilt - ich zitiere aus einem Artikel der „Neuen
Zürcher Zeitung“ -: Der demographische Wandel findet
überall in Deutschland statt, als Katastrophe aber nur im
Osten.
Deutschland ist Exportweltmeister. Zugleich krankt
der Binnenmarkt. Das wissen alle und das spüren alle
strukturschwachen Regionen. Der Osten aber spürt das
flächendeckend. Trotzdem forcieren Sie eine Politik, die
den Binnenmarkt schwächt, anstatt die noch ansässigen
Unternehmen zu stärken.
Ich fasse für die PDS zusammen: Wir brauchen endlich eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Wir brauchen gezielte Anreize gegen das Ausdörren
ganzer Regionen. Wir brauchen eine Steuerpolitik, die
den Kommunen etwas gibt und sie stärkt. Was wir allerdings nicht brauchen, Herr Ministerpräsident, sind Strategien, die den Osten und seine Menschen zum Testballon für Sozialabbau und zum Billiglohnland machen.
({4})
Kurzum: Wir brauchen hier kein „Weiter so“, sondern
mit Blick auf den Osten und die gesamte Republik eine
politische Wende.
({5})
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bauund Wohnungswesen und Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Manfred Stolpe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich grüße mit Respekt und Dankbarkeit die Mitglieder der ersten freien Volkskammer auf der Tribüne,
aber auch hier im Saal. Wir haben ihnen allen viel zu
verdanken.
({0})
Eindrucksvoll hat Wolfgang Thierse den Weg der
Ostdeutschen in die Demokratie beschrieben. Das war
nicht selbstverständlich. Wir sollten bei allem Zorn über
einige Unbelehrbare doch dankbar feststellen: Die große
Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland steht zum
freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat. Das ist eine
sichere gemeinsame Basis in Deutschland.
({1})
Auch in der Infrastruktur Ostdeutschlands gibt es
seither eindrucksvolle Veränderungen. Man erkennt das
Land nicht wieder - seien wir doch ehrlich! Wir werden
zum 3. Oktober dieses Jahres eine Ausstellung über
Städte in Ostdeutschland im Vergleich zwischen 1990
und 2005 vorbereiten. Da wird zu sehen und zu begreifen sein, wie sich dieses Land verändert hat,
({2})
wie westdeutsche Solidarität und ostdeutscher Aufbauwille ein schönes Stück Deutschland wiedergeboren haben. Görlitz, Dresden, Erfurt, Quedlinburg, Wismar und
Stralsund, Potsdam und Weimar - das ist deutsches
Weltkulturerbe, auf das wir alle gemeinsam stolz sein
können.
({3})
Auch in Industrie und Landwirtschaft wurde
Erstaunliches geleistet. Mikroelektronik, Optronik,
Automobilfabrikation, Flugzeugtriebwerkhersteller aus
Ostdeutschland behaupten sich weltweit. Eine leistungsstarke Chemieindustrie, eine moderne Energiewirtschaft
und große Raffinerien - das sind einige Beispiele für den
wirtschaftlichen Fortschritt.
Auch die Wissenschaft ist vorbildlich. Ich freue
mich, dass Dresden gegen eine Konkurrenz aus ganz
Deutschland „Stadt der Wissenschaft“ geworden ist.
({4})
Spätestens jetzt wird der Einwand kommen, das sei
Schönfärberei.
({5})
Nein, es ist keine Schönfärberei, aber es ist auch nur die
halbe Wahrheit. Denn der Transformationsprozess vom
Plan zum Markt und der Globalisierungsdruck mit Rationalisierung, Modernisierung und Stellenabbau haben
Ostdeutschland eine verheerende Massenarbeitslosigkeit gebracht. Das ist unsere Hauptsorge. Unser Handeln
muss sich daran messen lassen, was wir dagegen tun. Es
ist gut, dass wir in diesen Tagen über Arbeit in DeutschBundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
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land sprechen - heute die größte Herausforderung für
unser ganzes Land. Es ist eine gute Entscheidung des
Bundeskanzlers gewesen, dass nun ältere Langzeitarbeitslose in großem Umfang in Beschäftigung gebracht
werden können. 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze bieten
Perspektiven und sinnvolle Tätigkeiten für eine Generation, die von vielen schon abgeschrieben wurde. Auch
die größere Flexibilität bei der Befristung solcher Tätigkeiten ist so etwas wie Lebenshilfe. Es ist ferner gut,
dass auch für alle unter 25-Jährigen Tätigkeiten angeboten werden können.
Für die Jugend und die wirtschaftliche Zukunft Ostdeutschlands brauchen wir konkrete Maßnahmen, die
Arbeit schaffen und Entwicklung ermöglichen. Deshalb
bauen wir die nötigen Verkehrswege weiter. Die Flughäfen Leipzig und Schönefeld sind Wachstumsmotoren;
({6})
wichtige Autobahnen und Schienenwege können zügig
gebaut oder weitergebaut werden. Auch das hat der gestrige Tag gebracht. Das betrifft die A 4, die A 14, die
A 72 und zum Beispiel auch die Schienenverbindung
von Berlin nach Rostock.
({7})
Das schafft die nötigen Verbindungen und das schafft
immer auch Arbeitsplätze; denn die Faustregel gilt:
1 Milliarde für Infrastrukturinvestitionen machen rund
28 000 Arbeitsplätze aus.
Die Stadtumbaumaßnahmen werden fortgesetzt,
({8})
inzwischen auch in westdeutschen Problemstädten.
({9})
Das Gebäudesanierungsprogramm 2006/2007 wird
120 000 Arbeitsplätze sichern bzw. neu schaffen. Den
mittelständischen Unternehmen kann durch die neuen
Regierungsentscheidungen spürbar geholfen werden. Da
wird es wichtig sein, dass wir bei der Umsetzung dieser
Grundsatzentscheidung dabei sind.
({10})
Zuschüsse bei Neuinvestitionen werden weiterhin gewährt. Das alles schafft Arbeit. Genau das brauchen wir
vor allem.
In den nächsten Jahren wird es sehr darauf ankommen, Unternehmen in Ostdeutschland zu stärken und die
Investitionsbereitschaft anzukurbeln. Die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und die Investitionszulage spielen hier
eine wichtige Rolle.
({11})
Die Bundesregierung wird dies bei der Aufstellung des
Bundeshaushalts berücksichtigen.
Wichtig ist es auch, Forschung und Entwicklung
weiter gezielt zu fördern. Hier haben die ostdeutschen
Länder noch einen großen Nachholbedarf. Die Entwicklung neuer innovativer Produkte und Produktionsverfahren ist eben der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg.
({12})
Die ostdeutschen Unternehmen haben große Chancen,
sich dauerhaft im nationalen und internationalen Wettbewerb zu behaupten, wenn sie dynamisch auf neue Marktentwicklungen reagieren können.
Meine Damen und Herren, all das kostet Geld. Der
Bund wird seine Zusage zum Korb II im Rahmen des
Solidarpaktes einhalten und überproportional Mittel bereitstellen: bis 2019 insgesamt 51 Milliarden Euro. In
den ersten Jahren der Laufzeit des Solidarpaktes II werden es jährlich mehr als 5 Milliarden Euro sein. Wir
müssen diese Mittel effizient nutzen und gezielt dort einsetzen, wo sie das meiste Wachstum und den größten
Beschäftigungszuwachs bringen. Was kann eigentlich
ernsthafter den bundespolitischen Willen bekunden als
solche unverrückbaren Finanzgarantien, die der Bund in
diesem Zusammenhang abgegeben hat?
({13})
Auch der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
unterstreicht nach meinem Eindruck die Ernsthaftigkeit,
mit der man sich dem Aufbau Ost widmet.
({14})
Meine Damen und Herren, vor einem Jahr ist die Debatte über eine Neujustierung der Förderpolitik in Gang
gebracht worden; Ministerpräsident Milbradt hat darauf
hingewiesen. Auch von unserer Seite wurden damals
Vorschläge für eine Neujustierung unterbreitet. Unter
dem Motto „Stärken stärken, Potenziale nutzen“ haben
wir darüber mit Fachleuten, Wissenschaftsinstituten und
einer breiten Öffentlichkeit gesprochen. Das Thema ist
wieder lebendig geworden; der Widerspruch hat dazu
beigetragen.
({15})
Es ist auch deutlich geworden: Wir sind gefordert, die
unterschiedliche Entwicklung, die sich in Ostdeutschland zeigt, zu berücksichtigen. Tatsache ist nämlich: In
den vergangenen Jahren entstanden an zahlreichen
Standorten leistungsfähige Zentren mit zukunftsfähigen
Industrien. Diese Zentren stellen Ausgangspunkte für
das wirtschaftliche Erstarken ganzer Regionen dar. Motor dieser positiven Entwicklung ist das verarbeitende
Gewerbe, das robuste Zuwachsraten aufweist. Die Strategie, diese Zentren zu fördern, macht Sinn. Ich will Ihnen aber auch offen sagen, dass ich gewisse Skepsis
hegte, ob diese Strategie nicht am Ende zulasten von
Randregionen gehen würde. Es kommt deshalb nach
meiner Überzeugung auf den richtigen Mix an: Schwerpunktsetzungen ja, aber Verlierer darf es nicht geben.
Auch das muss ein Ziel unserer Politik sein.
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({16})
So wollen wir beharrlich und in konkreten Einzelschritten vorgehen, ohne auf angebliche Wundermedizin zurückzugreifen oder diesen Weg als Königsweg zu verkaufen.
Ich bin froh, dass wir uns mit den ostdeutschen Ländern grundsätzlich verständigt haben. Wir wollen mithilfe des Solidarpaktes zukunftsfähige Strukturen aufbauen, damit die ostdeutschen Länder ab 2020 auf
eigenen Füßen stehen können. Diesem Ziel fühlen wir
uns verpflichtet. Da stehen wir auch in der Verantwortung aufgrund der vom Westen geleisteten Solidarzahlungen.
Meine Damen und Herren, wir haben erst Halbzeit
beim Aufbau Ost, aber wir werden unsere Ziele erreichen; denn die politischen Grundlagen sind gelegt,
starke Wirtschaftskerne wachsen heran, die Solidarität
West steht und die Menschen im Osten arbeiten mit großer Ausdauer und der Bereitschaft zu hoher Flexibilität
für diesen Erfolg.
({17})
Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es
ist angemessen, heute, nach 15 Jahren, des 18. März
1990 zu gedenken. Damals konnten wir die ersten
freien Wahlen nach 58 Jahren Diktatur in Ostdeutschland durchführen. Ich bedanke mich herzlich bei all denen, die sich damals zur Verfügung gestellt haben, die
den Aufbau Ost sozusagen in der Volkskammer eingeleitet und in Angriff genommen haben.
({0})
Ich hatte damals die große Ehre, zu den Kommunalwahlen am 6. Mai anzutreten. Auch dort war Engagement gefragt. Wir kamen sozusagen aus grauer Städte
Mauern,
({1})
aus dem real existierenden Sozialismus in eine neue Zukunft. Wir wussten genau, dass die freiheitliche Demokratie nicht nur Zuckerschlecken ist, dass uns die Marktwirtschaft nicht in den Schoß fällt und dass wir einen
steinigen Weg zu gehen haben. Aber wir haben die Aufgaben in der christlich-liberalen Regierung unter Führung von Helmut Kohl mit unserer christlichen Überzeuc
gung in Angriff genommen und ich denke, wir haben die
Weichen richtig gestellt.
({2})
Wenn ich konstatieren muss, dass in der gestrigen Regierungserklärung des Bundeskanzlers nicht ein einziges
Wort über den Aufbau Ost zu hören war,
({3})
kein einziges Wort zu dem historischen Datum, das wir
heute haben, kein Wort zur wirtschaftlichen Entwicklung
in Ostdeutschland, dann kann ich verstehen, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern
von dieser Bundesregierung verlassen fühlen; denn von
der „Chefsache Aufbau Ost“ ist nichts mehr zu spüren.
({4})
Sicher sind die Ankündigungen des Bundeskanzlers sehr interessant gewesen:
({5})
die Körperschaftsteuer von 25 auf 19 Prozent zu senken;
die Personengesellschaften - das sind ja gerade die kleinen Unternehmen, die es in Ostdeutschland häufig gibt durch die bessere Anrechnung der Gewerbesteuer auf
die Einkommensteuer wettbewerbsfähiger zu machen,
damit sie mehr Eigenkapital in ihren Unternehmen halten können; die Veränderungen bei der Erbschaftsteuer.
Das sind sicher wichtige Maßnahmen für den Wirtschaftsstandort Gesamtdeutschland.
Aber wichtiger ist, dass wir - das gilt besonders für
Ostdeutschland - die Auftragsdecke für die Unternehmen insgesamt wieder verbessern. Wir müssen diejenigen, die Aufträge schaffen können, in die entsprechende
finanzielle Lage versetzen. Dazu gehören die öffentliche
Hand, die Kommunen, die Landkreise, die einen Nachholebedarf haben. Herr Minister Stolpe, in Ihrer Rede
hat gefehlt, wie wir mit den Verabredungen des Vermittlungsausschusses umgehen wollen, zum Beispiel dass
bei Einführung des Arbeitslosengeldes II ein Kaufkraftausgleich erfolgt, weil in Ostdeutschland traditionell
sehr viele Arbeitslosenhilfeempfänger von der Hilfe des
Bundes abhängig waren. Dieser Kaufkraftausgleich
sollte in einer Größenordnung von 1 Milliarde Euro erfolgen. Nichts davon haben wir bis jetzt gespürt. Legen
Sie endlich ein kommunales Investitionsprogramm auf
aus den Mitteln, die die Gemeinden an Sozialhilfezahlungen gespart haben und mit 50-prozentiger Ergänzung
durch den Bund. Dann könnten wir auch den Jobmotor
in Ostdeutschland wieder in Gang setzen.
({6})
Wir befinden uns - auch dazu ist gestern in der Debatte
kein einziges Wort vom Bundeskanzler gekommen - in
einer sehr schwierigen Situation, was die Binnennachfrage betrifft. Wir haben sehr hohe Spareinlagen;
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Werner Kuhn ({7})
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das können Sie nachlesen, Herr Kollege Scheffler. Das
sagen Ihnen auch alle Wirtschaftsforschungsinstitute:
Die Binnennachfrage ist zurückhaltend, weil nicht klar
ist, was die Bürgerinnen und Bürger in der Zukunft an
privater Altersvorsorge
({8})
oder für ihre Krankenversicherung tatsächlich zu zahlen
haben werden. Wo ist denn Ihre Bürgerversicherung?
Legen Sie doch endlich einmal die Karten auf den Tisch,
damit wir Bescheid wissen, was in Zukunft an privater
Vorsorge zu erwarten ist! Dann wird sich auch, gerade in
Ostdeutschland, die Binnennachfrage wieder verbessern.
({9})
Es besteht in den Kommunen ein Bedarf an Aufträgen
für die Renovierung von Schulen und Kitas sowie dem
Bau von Straßen. Die Handwerksmeister fragen die Bürgermeister, wann sie endlich mit solchen Aufträgen
rechnen können. Damit könnten sich die Firmen über
Wasser halten und die Beschäftigten aus der Region ihre
Arbeitsplätze behalten. Damit könnte auch verhindert
werden - das hat schon der Kollege Günther erwähnt -,
dass der Abwanderungsdruck größer wird und Ostdeutschland einen Braindrain erlebt, den wir überhaupt
nicht verkraften können.
Wir wollen die Stellen in den Industrieclustern und in
den hoch entwickelten Industriezentren mit qualifizierten Mitarbeitern aus den eigenen Reihen besetzen. Aber
die Menschen haben das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Regierung verloren und wandern in Scharen ab.
Die „Ostsee-Zeitung“ aus Mecklenburg-Vorpommern
schrieb, dass die jungen Menschen dem Küstenland den
Rücken kehren. So kann es nicht weitergehen. Hier müssen durchgreifende Maßnahmen in Angriff genommen
werden.
({10})
Es geht auch um die Bestandspflege der Betriebe,
die nach einem sehr schwierigen Wettbewerb in den letzten 15 Jahren jetzt noch am Markt sind. Man muss natürlich einmal fragen: Wo sind die Instrumente der Förderung, um die Eigenkapitalausstattung zu verbessern? Die
Kreditanstalt für Wiederaufbau soll sich besonders im
Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen
engagieren.
({11})
Wo sind denn die Hilfen und die Instrumente, die angekündigt worden sind? Ich habe hier schon immer Mezzanine Kredite mit einer Haftungsfreistellung für die Hausbanken gefordert. Wo sind letztendlich die Aktivitäten,
die Sie angekündigt haben, damit gerade kleine und mittelständische Unternehmen in Ostdeutschland besser
Fuß fassen können?
Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt Maßnahmen, die
kein Geld kosten. Schaffen Sie endlich die Ich-AGs und
die Jobfloater ab! Mit den Ich-AGs machen Sie dem
Handwerk Konkurrenz; das ist ein Verdrängungswettbewerb. Am Ende müssen die Beschäftigten beider Gruppen zum Arbeitsamt. Das ist die Konsequenz, die Sie
nicht verstehen.
({12})
Ich möchte herausstellen, welch hervorragende Arbeit
wir in den neuen Bundesländern geleistet haben.
({13})
Der Ministerpräsident von Sachsen, Herr Milbradt, hat
in seiner Rede ganz klare Vorgaben formuliert. Wir sollten nicht im Verdrängungswettbewerb, sondern in der
Entwicklung von neuen Produkten und in der Förderung von Forschung und Entwicklung unser Heil suchen.
({14})
Wir sollten aber nicht nur die Universitäten fit machen,
dass sie mit der Industrie zusammenarbeiten können.
Wir sollten auch die außeruniversitäre Forschung - beispielsweise in den Leibniz-Instituten und in den MaxPlanck-Instituten - unterstützen. Aber diesbezüglich ist
nur eine große Entflechtungsdebatte im Gange. Das hat
aber nichts mit Bürokratieabbau zu tun. Die Finanzierung dieser außeruniversitären Forschung in Ostdeutschland soll auf die Länder übertragen werden, die eh schon
keine Luft mehr zum Atmen haben und die das finanziell
gar nicht leisten können.
({15})
Ich fordere Sie auf: Geben Sie der außeruniversitären
Forschung eine Chance, damit sie bei der Schaffung von
Industrieclustern ihren Beitrag leisten kann.
({16})
Ich meine nicht, dass man den Aufbau Ost - das war
Ihr Kritikpunkt, Herr Scheffler - nur mit Schmerzensgeld ertragen kann. Unser Bundestagspräsident, Herr
Thierse, hat heute in seiner Rede darauf aufmerksam gemacht, woher wir eigentlich gekommen sind.
({17})
Wir stimmen darin überein, dass wir aus einer planwirtschaftlichen Kommandowirtschaft und aus der
Unfreiheit - bei den manipulierten Wahlen konnten wir
die Wahlzettel nur zusammenfalten und in eine Urne
stecken - gekommen sind.
Wir müssen die freiheitliche Demokratie schützen.
Ich sage dem Herrn Bundeskanzler - er ist heute bei dieser Debatte nicht anwesend -: Schaffen Sie endlich wieder politisches Vertrauen gerade in den neuen Bundesländern! Unterbinden Sie den unglaublichen Machtpoker
Ihrer Partei in Kiel!
({18})
Werner Kuhn ({19})
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Seien Sie ein standhafter Verlierer! Wir sind 1989/90 auf
die Straße gegangen mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“.
({20})
Wir werden es nicht zulassen, dass das Vertrauen in die
freiheitliche Demokratie durch Ihre falsche Politik
- ganz besonders in Ostdeutschland - weiter beschädigt
wird.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/4706. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3201 mit
dem Titel „Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland
sichern“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenpro-
be! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/3047 mit dem Titel
„Ostdeutschland eine Zukunft geben“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und Enthaltung der FDP angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/3202 mit dem Titel „Ost-
deutschland als Speerspitze des Wandels - Leitlinien ei-
nes Gesamtkonzepts für die neuen Länder“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und Ent-
haltung der CDU/CSU angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei-
ner Beschlussempfehlung in Kenntnis des „Jahresbe-
richts der Bundesregierung zum Stand der deutschen
Einheit 2004“ auf Drucksache 15/3796 die Ablehnung
des gemeinsamen Entschließungsantrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/4163.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
17 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der
DNA-Analyse zu Zwecken des Strafverfahrens
- Drucksache 15/4926 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Richtervorbehalts für die DNA-Analyse anonymer
Spuren
- Drucksache 15/4136 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 15/5130 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Verbrechen wirksam bekämpfen - Genetischen Fingerabdruck konsequent nutzen
- Drucksachen 15/2159, 15/5130 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
DNA-Reihentests auf sichere Rechtsgrundlage stellen
- Drucksache 15/4695 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
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Ich würde gerne die Aussprache eröffnen und bitte die
Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche außerhalb
des Saales weiterzuführen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
dem rhetorischen Feuerwerk, das soeben Bundesminister Stolpe abgebrannt hat, traut sich jemand wie ich
kaum ans Rednerpult. Wenn der Aufbau Ost mit einer
solchen Leidenschaft und einem solchen Tempo betrieben wird, dann muss einem nicht bange sein.
({0})
Desoxyribonukleinsäure - oder auf Englisch: desoxyribonucleid acid - ist die zungenbrecherische Langversion der Abkürzung DNS oder DNA. Dahinter verbirgt sich eine Trägersubstanz, bei deren Analyse man
Erbinformationen, Anlagen, Charaktereigenschaften und
versteckte Krankheiten erkennen kann.
({1})
- Herr Tauss, der intelligenteste Abgeordnete in diesem
Haus!
({2})
Das ist der Trägerstoff, bei dem man, wie ich eben gesagt habe, diese Merkmale durch eine so genannte genmolekularische Untersuchung feststellen kann. Aber es
geht nicht nur um diese; denn man kann es auch bei den
so genannten codierten Merkmalen belassen, man kann
nämlich auch nur feststellen, ob eine bestimmte Referenzmenge an Speichel, Blut, Sperma, Haaren oder
Hautpartikeln mit der DNA desjenigen, von dem sie
stammen soll, identisch ist.
Nun ist das nicht nur ein Quantensprung in der Wissenschaft, sondern auch geradezu ein Glücksfall für die
Verbrechensbekämpfung. Das wissen nicht nur wir; das
weiß die Ministerin, das weiß die SPD, ja das weiß sogar
die Fraktion der Grünen.
({3})
Umso unverständlicher ist es mir, dass Sie all das, was
dazu von uns vorgelegt wird, schlichtweg ablehnen.
Wir haben also heute in zweiter und dritter Lesung die
Frage zu beantworten, ob wir bei einer anonymen Untersuchung solcher Körperzellen den Richtervorbehalt
aufheben sollen oder nicht. Sagen Sie einmal, meine Damen und Herren: Was soll eigentlich einem Richter vorbehalten bleiben, wenn man in einer weiblichen Leiche
Spermaspuren findet? Man kennt den Täter nicht; das ist
eine rein anonyme Untersuchung. Was bleibt dem Richter, dem man die Entscheidung vorbehält, eigentlich zu
c
entscheiden? Das würde mich wirklich einmal interessieren.
({4})
Aber Sie werden es natürlich ablehnen.
Mein Kollege Röttgen hat in seiner Rede zu diesem
Thema vor wenigen Wochen gesagt: Redet nicht so viel!
Handelt lieber! Aber das Nichthandeln ist ja geradezu
Koalitionsräson geworden. Sie erschöpfen sich in Interviews, Interviews, Interviews. Auch Sie, verehrte Frau
Ministerin, haben in der letzten Woche vieles - wie den
verbreiteten Einsatz der DNS-Analyse - angekündigt.
Aber kaum haben Sie es gesagt, bekommen Sie einen
Nasenstümper.
({5})
- Nasenstüber.
({6})
- Nicht einen Nasenstünker,
({7})
einen Nasenstüber.
Das erinnert mich an das, was der Bundeskanzler
gerne macht, nämlich vollmundige Ankündigungen in
Boulevardzeitungen wie „Wer sich an kleinen Mädchen
vergreift, muss weggesperrt werden, und zwar für immer!“ oder „Wer sich als Ausländer hier nicht benehmen
kann, muss raus, und zwar für immer!“ Damit holt man
sich in bestimmten Kreisen zunächst Applaus,
({8})
wenn es aber darum geht, das in den Gremien in eine legislatorische Form zu bringen, dann kneifen Sie jämmerlich.
({9})
Heute haben wir in erster Lesung den Entwurf eines
Gesetzes zur Neuregelung der DNA-Analyse. Es geht
um den so genannten genetischen Fingerabdruck. Was
unterscheidet diesen genetischen Fingerabdruck von unserem klassischen Fingerabdruck? Sie haben sich - im
„Tagesspiegel“ konnte man es lesen - einer „vertraulichen Expertise“ des Wissenschaftlichen Dienstes dieses
Hauses bedient. Wenn man sich einmal das Deckblatt
dieser Expertise anschaut, dann erkennt man, dass sie
nicht etwa von einer wissenschaftlichen Gruppe, sondern von einer geprüften Rechtskandidatin erstellt worden ist. Ich will einmal zu Ihren Gunsten unterstellen,
dass es eine mit Erfolg geprüfte Rechtskandidatin ist.
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({10})
Wenn wir Gutachten von bekannten Professoren haben,
begegnen wir denen durchaus kritisch. Nichts anderes
will ich in diesem Fall tun; ich will auch diesen Ausführungen kritisch begegnen. Man findet dort die fundamentale Ausführung, mit der Entnahme und Untersuchung solcher Körperzellen sei ein Eingriff in das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung verbunden und
deswegen seien der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und
die verfassungsmäßigen Grenzen zu beachten.
({11})
Ja, selbstverständlich ist das zu beachten.
({12})
Beim klassischen Fingerabdruck ist das natürlich auch
der Fall. Oder glauben Sie eigentlich, dass bei jedem, der
mit offener Hose auf der Straße herumläuft, ein Fingerabdruck genommen wird, meine Damen und Herren?
({13})
Auch dafür muss natürlich - wie das in § 81 b der Strafprozessordnung geregelt ist - ein Anlass bestehen. Von
Ihnen wird aber das Horrorszenario beschrieben, alles
und jedes würde mit erkennungsdienstlichen Maßnahmen verfolgt. Wissen Sie eigentlich, wie viel Prozent der
Beschuldigten erkennungsdienstlichen Maßnahmen unterzogen werden? Frau Lambrecht, Sie sind doch immer
so vorlaut.
({14})
Wissen Sie es?
({15})
Na, Sie wissen es nicht, dann will ich es Ihnen sagen.
({16})
Es sind ganze 13 Prozent der Beschuldigten.
({17})
Selbst das Bundesverfassungsgericht, das Sie ja - jedenfalls, wenn es Ihnen passt, sonst nicht - gerne als Kronzeugen heranziehen -
Herr Kollege Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Stünker?
Nichts lieber als das.
({0})
Herr Kollege Gehb, wenn Sie schon meinen, heute
Morgen den Oberlehrer spielen zu müssen, sind Sie dann
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es genau
12,7 Prozent sind?
({0})
Ich wiederhole für diejenigen, die sie nicht verstanden
haben, die Frage des Kollegen Stünker: Er fragte, ob ich
bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht
13 Prozent sind, sondern 12,7 Prozent. Ich bin bereit, es
zur Kenntnis zu nehmen, und entschuldige mich für
diese gravierende Abweichung zu dem von mir in freier
Rede Vorgetragenen.
({0})
Nach dieser spaßigen Unterbrechung will ich weitermachen. Wir werden ja immer wieder mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konfrontiert. Sie
machen das besonders gerne, Herr Montag. Nachdem
Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung zunächst
als etwas Schimpfliches dargestellt haben, wurde Ihnen
dieses Instrument vom Bundesverfassungsgericht erklärt
und dann haben Sie klein beigegeben. Heute gerieren Sie
alle sich als Erfinder der nachträglichen Sicherungsverwahrung. So wird es eines Tages auch beim genetischen
Fingerabdruck kommen.
Lassen Sie mich auf das Bundesverfassungsgericht
zu sprechen kommen. Worin besteht der Unterschied?
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Bei der Untersuchung von Körperzellen darf es natürlich nur um
solche Merkmale gehen, die keine Rückschlüsse auf die
so genannten codierten Merkmale zulassen,
({1})
also auf Erbanlagen, Charaktereigenschaften, mögliche
Krankheiten. Es geht nur um das Vergleichsmuster, darum, ob zum Beispiel die Spermaspur von der Person
stammt.
({2})
Weiter hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: So
wie das im Moment ausgestaltet ist, kommt der genetische Fingerabdruck - jetzt gut zuhören! - forensisch in
die Nähe des Daktyloskopen. „Daktyloskop“, Herr
Stünker, ist die Übersetzung für „Fingerabdruck“.
({3})
Damit hat das Bundesverfassungsgericht selbst gesagt,
dass es eine Unterscheidung zwischen dem klassischen
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Fingerabdruck und dem genetischen Fingerabdruck
nicht gibt.
({4})
Deswegen frage ich mich, warum Sie diesen Schritt
nicht mitgehen.
Noch etwas anderes: Es geht nicht nur darum, mit diesem Instrument den Täter zu überführen. Es gibt auch
Beschuldigte, die sich in einer schwierigen Beweissituation befinden. Wenn ein genetischer Fingerabdruck die
Schuld eines anderen beweist, dann ist damit gleichzeitig die Unschuld anderer Beschuldigter bewiesen. Auch
das müssen Sie, meine Damen und Herren, mit ins Kalkül ziehen.
({5})
Es geht nicht immer nur darum, die armen Täter mit
neuen Untersuchungsmethoden zu überziehen.
({6})
Es gibt keinen bürgerrechtlichen Anspruch auf Schutz
von Tätern. Nach wie vor steht bei uns der Schutz der
Opfer vor dem Schutz der Täter. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und unserer
Auffassung.
({7})
Gestern war nun wirklich nicht Ihr Tag, meine Damen
und Herren. Sie haben nicht nur Frau Simonis blamiert,
Sie haben nicht nur das Land blamiert,
({8})
sondern Sie haben uns alle, die wir Politiker sind, in ein
katastrophales Licht gestellt.
({9})
Wenn Sie noch einen Funken Anstand haben und ein
bisschen Sachpolitik machen wollen,
({10})
dann stimmen Sie unseren Vorlagen zur Neuregelung der
DNA-Analyse und zur Aufhebung des Richtervorbehalts
zu!
({11})
Dann hätten Sie wenigstens einen Funken Sachpolitik
als Beitrag geleistet.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte
Zypries.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Abgeordnete Goldmann hat
eben einen sehr richtigen Zwischenruf gemacht, als Sie,
Herr Gehb, geredet haben. Er hat gerufen: Sie werden
der Ernsthaftigkeit der Debatte nicht gerecht. - Ich kann
das nur bestätigen.
({0})
- Machen Sie sich keine Sorgen! Ich habe neun Minuten
Redezeit. Es sind noch 8 Minuten und 44 Sekunden übrig.
({1})
Was ich jetzt sage, meine ich ganz im Ernst, Herr
Gehb. Ich finde das ein bisschen schade. Als wir hier das
letzte Mal über die Änderung des Versammlungsrechts
und die Änderung des Strafrechts geredet haben, haben
Sie eine sehr rechtsstaatliche Rede gehalten und eine
Menge Bedenken vorgetragen. Ich habe gedacht, Sie
hätten sich in Ihrer neuen Rolle als rechtspolitischer
Sprecher ein kleines bisschen geändert
({2})
und würden die Dinge jetzt wirklich ernsthaft angehen.
({3})
Ich finde es vor allem nicht richtig - das sage ich, obwohl mir als Nichtmitglied dieses Hohen Hauses das
kaum zusteht -, dass Sie den Wissenschaftlichen Dienst
des Bundestages auf diese Art und Weise diskreditieren.
({4})
Sie wissen so gut wie ich, dass jemand, der ein Gutachten in Auftrag gibt - das ist, soweit ich weiß, das gute
Recht jedes Abgeordneten -, nicht bestimmen kann, wer
das Gutachten macht, und vor allem nicht bestimmen
kann, wie es aussieht. Das ist nämlich gerade der Kick
an der Geschichte. Deswegen bittet man nämlich um ein
wissenschaftliches Gutachten.
({5})
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Jetzt lassen Sie mich zur Sache kommen.
({6})
Was den Gesetzentwurf betreffend die anonymen Spuren
anbelangt, habe ich schon das letzte Mal, als wir darüber
geredet haben, gesagt, dass wir Ihre Auffassung teilen.
Wir sehen das also genauso, wir wollen dem aber nicht
isoliert stattgeben, weil wir der Auffassung sind, dass es
sinnvoller ist, ein Gesamtkonzept zu entwickeln.
({7})
Ein solches Gesamtkonzept, sehr geehrter Herr Abgeordneter, wird die Bundesregierung in Kürze vorlegen.
Wir meinen, dass es sinnvoller ist, ein Gesamtkonzept
vorzulegen, das ausgegoren ist und nicht so viele Mängel aufweist wie die Vorlage, die Sie jetzt vom Bundesrat übernommen haben.
({8})
- Genau, nur abgeschrieben.
Dass auch der Bundesrat mit dem Gesetzentwurf Probleme hat, zeigt sich daran, dass es dort zwischen CDU,
CSU und FDP knallharte Auseinandersetzungen darüber
gibt, wer überhaupt zustimmt.
({9})
Viele Länder haben inzwischen erkannt, dass das, was
die Länder Hessen, Bayern, Hamburg, Saarland und
Thüringen vorgelegt haben, wohl nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
({10})
Dass das so ist, habe ich auch schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfes im Bundesrat deutlich gemacht. Es handelt sich um einen sehr sensiblen Grundrechtsbereich. Diese Tatsache haben Sie beim
Versammlungsrecht berücksichtigt und sollten das vielleicht auch in diesem Fall einmal tun. Der hier zur Debatte stehende Entwurf berücksichtigt das nicht. Dass es
einen Unterschied zwischen dem daktyloskopischen und
dem genetischen Fingerabdruck gibt, konzedieren Sie in
Ihrem Antrag selbst.
({11})
Sie schreiben im Vorwort, dass es nur eine weitgehende
Ähnlichkeit, aber keine vollständige Übereinstimmung
gibt.
({12})
Insofern sollten wir uns mit der Frage befassen.
Lassen Sie mich nun zu den einzelnen Punkten kommen.
({13})
- Das Wort hat überwiegend die Rednerin. - Der erste
Punkt betrifft den Richtervorbehalt. Wir sind der Auffassung, dass man bei der DNA-Analyse anonymer Täterspuren darauf verzichten kann.
({14})
- Nein, seien Sie ganz ohne Sorge. Die Koalition ist sich
da einig. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist das
auch bereits in der letzten Debatte hier gesagt worden.
({15})
- Sehr häufig. Keine Angst. Diskussionen gibt es hier
und auch im Bundesrat. Wem sagen Sie das?
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie aber das ganze
System der Strafprozessordnung ins Wanken bringen.
({16})
Das können wir wirklich nicht tolerieren.
({17})
Sie wollen nämlich völlig auf die Einschaltung des
Staatsanwaltes verzichten. Das ist schlicht und ergreifend ein strafverfahrensrechtlicher Systembruch.
({18})
- Jetzt wissen Sie noch nicht einmal, was in Ihrem Gesetzentwurf steht, oder was?
({19})
Die Strafprozessordnung kennt in keiner einzigen Vorschrift eine originäre Zuständigkeit der Polizei, auch
nicht bei der erkennungsdienstlichen Behandlung.
({20})
Die Polizisten und Polizistinnen kommen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren immer nur als Hilfsbeamte
der Staatsanwaltschaft zum Zuge. Sie stehen also in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis.
({21})
- Genau, das hat seinen guten Grund. Das soll in der
Strafprozessordnung auch so bleiben.
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({22})
Es muss einen ganz klaren Unterschied zwischen dem
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und den präventiven, vorbeugenden Aufgaben der Polizei geben.
Wir meinen, dass es nicht geht, in der Strafprozessordnung eine originäre Zuständigkeit der Polizei für die
Durchführung der DNA-Analyse einzuführen, indem der
Richtervorbehalt vollständig gestrichen wird.
Zudem verzichtet der Entwurf, den Sie vorgelegt haben, vollständig auf die so genannte Negativprognose
als Voraussetzung für die DNA-Analyse. Ausreichen soll
Ihrer Meinung nach künftig jede Straftat. Ebenso sagen
Sie, dass jede Anlasstat genügen soll. Wir meinen, das
wird diesem besonders sensiblen Thema nicht gerecht.
Wir meinen, dass immer auch ein bestimmtes Maß an
Abwägung erforderlich ist. Das hat nichts mit Täterschutz zu tun, um das einmal ganz klar zu sagen. Diesen
Vorwurf dieser Regierung zu machen, die in der letzten
Zeit gerade den Opferschutz in den Vordergrund gestellt
und mehrere Opferschutzgesetze verabschiedet hat
({23})
- der Herr Kauder teilt unsere Auffassung und hat das
auch nicht kritisiert -, ist wirklich etwas neben der Sache.
Wir sagen also: Keinen Richtervorbehalt bei der
DNA-Analyse anonymer Täterspuren. Keinen Richtervorbehalt, wenn der Betroffene einverstanden ist. Ansonsten bleibt es dabei.
Beim Anlasstatenkatalog, also dem Katalog von
Straftaten, die Anlass geben, darüber nachzudenken, ob
man die Daten speichern sollte, meinen wir, dass auch
die wiederholte Begehung nicht erheblicher Straftaten
auf ein bestimmtes Gefahrenpotenzial schließen lässt.
Das hat uns das Bundeskriminalamt in neueren Studien
dargelegt. Dem werden wir uns selbstverständlich nicht
verschließen.
Wir meinen, dass wir die Gefahrenprognose als Voraussetzung unbedingt beibehalten müssen. Wir wollen
jedoch nicht, dass schon die Erwartung von Bagatelldelikten für die DNA-Analyse genügt.
({24})
- Herr Abgeordneter, das ist genau das, worauf ich jetzt
kommen wollte: Sie machen einen logischen Denkfehler, wenn Sie meinen, dass die Definition einer Norm
und ihre faktische Anwendung gleichgesetzt werden
könnten
({25})
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und man alles in eine Norm schreiben könne - die Exekutive werde es schon richten. So ist unser rechtsstaatliches System aber nicht angelegt.
({26})
Die Formulierung von Gesetzen muss ordentlich erfolgen;
({27})
wir haben bei der Formulierung einer Norm verfassungsrechtlichen Anforderungen zu entsprechen. Die Eingriffsbefugnis muss in der Norm festgelegt sein; die Entscheidung darüber kann nicht zwanglos an die Exekutive
weitergereicht werden.
({28})
Das ist der Denkfehler, den Sie machen, wenn Sie davon
sprechen, dass nur 12,7 Prozent der Beschuldigten erkennungsdienstlichen Maßnahmen unterzogen werden;
deswegen kann das nicht funktionieren.
Wir können uns bei der Gefahrenprognose zwar darüber unterhalten, ob es besondere Fälle gibt, die einer
anderen Prognose bedürfen. Wir können uns auch auf
die Delikte mittlerer Kriminalität oder Ähnliches beziehen. Aber es muss auf alle Fälle bei einer qualifizierten
Prognose bleiben; eine vollständige Gleichstellung mit
dem Fingerabdruck kann es nicht geben. Ein weiterer
Punkt, über den Einvernehmen besteht - auch über die
Parteigrenzen hinweg, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, Herr van Essen -, ist die Regelung der so
genannten freiwilligen Reihengentests. Hier sind wir gemeinsam mit anderen aus der Opposition der Auffassung, dass es einer gesetzlichen Regelung bedarf. Insbesondere sind die Betroffenen darüber aufzuklären, was
sie erwartet und was die Rahmenbedingungen für die
Teilnahme an einem solchen freiwilligen Test sind.
Sie sehen also, wir sind durchaus der Auffassung,
dass wir etwas verändern sollten. Ich verspreche Ihnen,
dass die Bundesregierung dazu zeitnah einen Entwurf
vorlegen wird.
({29})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich zur Sache komme, ein kurzes Wort an den
Kollegen Gehb, der sich hier in der Debatte über die geprüfte Rechtskandidatin, die für den Wissenschaftlichen
Dienst gearbeitet hat, lustig gemacht hat: Als ich Student
war, habe ich ein Seminar besucht und wie meine
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Mitstudenten auch eine Seminararbeit verfasst. Sie ist
unter dem Namen eines Professors als Stellungnahme
beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden. Das
macht deutlich, dass offensichtlich sogar Studenten in
der Lage sind, vernünftige Gedanken aufzuschreiben.
Deshalb denke ich, wir sollten hier im Plenum mit geprüften Rechtskandidaten nicht so umgehen, wie Sie das
gerade getan haben.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehb?
Nein. Ich denke, wir haben ein ernsthaftes Thema und
sollten diese Sache hier nicht weiter vertiefen.
({0})
Frau Ministerin, für vieles von dem, was Sie gesagt
haben, finden Sie meine volle Unterstützung. Wir haben
hier ein grundrechtsensibles Thema. Wenn das so ist,
dann muss die Debatte dem auch entsprechen. Wenn wir
uns den Bereich der DNA-Analyse anschauen - wir haben darüber in den letzten Wochen ja mehrfach debattiert -, dann müssen wir feststellen, dass wir tatsächlich
Diskussionsbedarf haben. Aber ich finde, wir sollten das
mit der notwendigen Ruhe und mit dem notwendigen
Verstand und nicht mit Eifer tun.
({1})
Wenn man das mit Ruhe macht, dann muss man sagen:
Der Kollege Gehb hat in einem Punkt tatsächlich Recht
- und darin unterstütze ich ihn nachdrücklich -: Die
DNA-Analyse ist nicht nur ein Aspekt bei der Belastung
von Menschen, sondern sie ist auch ein ganz wichtiger
Faktor bei der Entlastung von Menschen.
({2})
Das muss bei unserer Debatte immer wieder berücksichtigt werden: Wer weniger zulässt, der lässt auch weniger
Entlastungsmöglichkeiten zu. Dieser Aspekt ist mir
ganz wichtig.
Auf der anderen Seite haben wir die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichtes zu beachten. Wir als FDP
werden keiner Lösung zustimmen, die gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet ist.
({3})
Allerdings - und das habe ich schon in der letzten Debatte gesagt - gibt es auch Möglichkeiten, auszuloten,
was möglich ist und was nicht möglich ist. Ich unterstütze nachdrücklich, was die Ministerin vorhin gesagt
hat und was auch das Bundesverfassungsgericht erklärt
hat: Auch in Zukunft brauchen wir vor der Speicherung
von Daten eine Prognose, dass schwere Straftaten zu erwarten sind. Bei der Prognose kann auch wichtig sein,
ob jemand eine Fülle von kleineren Straftaten begangen
hat. Diese Erkenntnis verdanken wir dem Bundeskriminalamt. Ich finde, wir sollten auf diese Erkenntnis reagieren.
Ich bin nachdrücklich der Meinung, dass diese Maßnahme in der Hand der Staatsanwaltschaft bleiben muss.
Deshalb ist die Kritik der Bundesjustizministerin nach
meiner Auffassung auch in diesem Punkt berechtigt. Es
ist doch ganz selbstverständlich, dass hier keine eigene
Befugnis für die Polizei geschaffen werden kann, wie
das im Gesetzentwurf der CDU/CSU steht. Auch das
macht deutlich, dass wir hier wirklich einen Nachdenkbedarf haben.
Ich bin sehr dankbar, dass die Anregung zum Verfahren beim so genannten DNA-Massenscreening, die von
meiner Fraktion in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, aufgegriffen wurde. Bei diesem Verfahren werden sehr viele Menschen aufgefordert, für
eine DNA-Analyse zur Verfügung zu stehen, beispielsweise dann, wenn es zu einem Mord und insbesondere
zu einem Sexualmord gekommen ist. Das geschieht bislang ohne jede rechtliche Regelung. Dafür muss es eine
klare Grundlage geben. Insbesondere muss festgelegt
werden, dass die Spuren derer, die nicht tatverdächtig
sind, hinterher zu vernichten sind.
Ich habe das Gefühl, dass wir einen wichtigen Schritt
nach vorne machen, wenn wir das so angehen. Wir haben neue kriminologische Erkenntnisse und es gibt eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Meine
Vorhersage und auch mein Wunsch ist es, dass wir die
Fragen quer durch das ganze Haus gemeinsam mit
rechtsstaatlicher Sensibilität regeln. Wir als Liberale
sind dazu jedenfalls bereit.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Gehb das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Damit sich der freilich unzutreffende Vorwurf - Sie können das auch im Protokoll nachlesen -, ich hätte hier jemanden lächerlich gemacht, durch Wiederholungen im
weiteren Verlauf nicht noch mehr verfestigt, möchte ich
das richtig stellen.
In dem Sinne, dass Allgemeingutachter bei uns gelegentlich kritisch gewürdigt werden - Herr Montag, Sie
reden zum Beispiel sogar von deutschen Richtern als
von Leuten, die bestellte Entscheidungen fällen -, habe
ich lediglich sagen wollen, dass die Authentizität der
Verfasserin dieses Gutachtens nicht höher einzuschätzen
ist als die von hochkarätigen Professoren. Dabei habe
ich den Begriff „geprüfte Rechtskandidatin“ in der mir
eigenen Art, manchmal etwas spaßig zu sein, verwendet.
({0})
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Dass ich deshalb hinterher, wie immer, Gegenstand von
Diffamierungen werde, zeigt mir die Hilflosigkeit der
langweiligen Vorleser gegenüber jemandem, der sich
traut, hier einmal etwas in freier Rede zu sagen.
({1})
Herr Kollege van Essen, wollen Sie antworten?
({0})
- Dann gebe ich das Wort dem Kollegen Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Dr. Gehb, Sie schaffen es jedes Mal wieder, das notwendige Niveau einer Debatte im Deutschen
Bundestag in freier Rede im Sturzflug nach unten zu
durchstoßen.
({0})
Heute haben Sie dafür wiederum ein ganz tolles Beispiel
geliefert.
({1})
Meine Damen und Herren, die Union hat mit ihrem
neuen Gesetzesvorschlag die Katze aus dem Sack gelassen. Wenn wir diesen Gesetzesvorschlag analysieren,
dann stellen wir fest, dass zukünftig jede Straftat Anlass
für eine Speicherung der DNA-Identitätsmuster sein
soll. Auf eine qualifizierte Negativprognose will die
Union verzichten und jegliche richterliche Prüfung und
Anordnung durch den Richter will sie aus der Strafprozessordnung herausstreichen.
({2})
Wenn wir uns anschauen, womit Sie diesen Anschlag
auf die StPO - so bezeichne ich das - begründen, dann
stellen wir fest, dass Sie zwei Gründe nennen:
Erstens. Sie sagen, die DNA-Analyse und die Speicherung sowie der Vergleich der Identitätsmuster seien
sehr erfolgreiche Elemente der Polizeiarbeit. Das ist
richtig. Ich sage für die Grünen ausdrücklich: Das
stimmt. Natürlich ist man mit dieser neuen Methode herausragend in der Lage, die Unschuld von Menschen zu
beweisen. Deswegen werden wir uns auch dafür stark
machen, dass dann, wenn man einer solchen Analyse zustimmt, der Richtervorbehalt entfällt. Aber nicht jedes
Mittel, das polizeilich erfolgreich ist, ist deswegen in
vollem Umfang verfassungsrechtlich zulässig.
({3})
Die Frage, ob das Mittel erfolgreich ist, entbindet uns als
Rechtspolitiker nicht von der Überprüfung, was mit der
Verfassung zu machen ist und was die Verfassung verbietet.
Zweitens. Es wird behauptet - Herr Gehb ist in seiner
Rede darauf eingegangen -, es gebe angeblich eine verfassungsrechtliche Neubewertung der DNA-Analyse
und der Speicherung.
({4})
- Jetzt schreien Sie doch nicht immer dazwischen. So
steht es in der Begründung Ihres Gesetzesantrags. Ich
habe mir die beiden Fundstellen angeschaut und festgestellt: Die eine Fundstelle bezieht sich auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1996, als die DNA-Speicherung in
der StPO noch nicht enthalten war; denn sie ist erst 1998
ins Gesetz aufgenommen worden. Die Fundstelle ist damit uralt.
Die zweite Entscheidung aus dem 103. Band ist die
Entscheidung vom Dezember 2000.
({5})
In diese muss man hineinschauen, um zu wissen, was
dort steht. Sie schreiben, dass darin eine Neubewertung
der Eingriffsintensität des genetischen Fingerabdrucks
abgehandelt sei. Das Zitat - das kann man in der freien
Rede nicht einfach vortragen, dafür muss man ein Blatt
Papier zur Hand nehmen - lautet:
({6})
Die mit Hilfe des … DNA-Indentifizierungsmusters erreichbare Code-Individualität wird in forensischer Sicht am besten durch ihre Nähe zum Daktylogramm verdeutlicht.
Das bedeutet nichts anderes, als dass die Trefferhäufigkeit genauso gut und vielleicht sogar besser ist als die
beim Fingerabdruck. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Aber über die Frage der Intensität des Grundrechtseingriffs sagt diese Fundstelle nicht das Geringste
aus. Das wissen Sie ganz genau.
({7})
Für uns Grüne bleibt es dabei: Es muss bei den so genannten Anlasstaten eine Schwelle geben, also bei den
Taten, die Anlass bieten sollen und müssen, über eine
solche Analyse und Speicherung für die Zukunft nachzudenken. Dabei ist richtig, dass die wiederholte Begehung
auch geringerer Straftaten dann Anlass zu einer solchen
Maßnahme sein kann, wenn die Gesamtbewertung dieser wiederholten Taten und der Person dazu führt, dass
es sich hierbei um einen schwerwiegenden Fall handelt.
Wir als Grüne sind auch der Auffassung, dass die
qualifizierte Negativprognose im Gesetz bleiben muss.
Alle meine Vorredner und auch die Ministerin haben davon gesprochen, dass dies eine verfassungsmäßige
Schranke ist, die wir nicht unterschreiten werden. Ich
empfehle Ihnen, Herr Kollege Dr. Gehb: Nehmen Sie ein
Papier zur Hand oder setzen Sie sich vor den Bildschirm
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und lesen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch einmal nach.
({8})
Was wir machen wollen und werden, ist die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs, der alle Aspekte dieses Problems beinhaltet. Wir werden die Frage der Umwidmung
lösen. Es gibt ein Problem der richterlichen Überprüfung
derjenigen Analysen, die im konkreten Ermittlungsverfahren gemacht worden sind und später in die Datenbank
eingestellt werden sollen. Wir werden die Frage der
DNA-Reihentests im Gesetz verankern, und zwar so,
dass klar ist, dass die Beteiligung an diesen Gentests
freiwillig ist. Wir sind der Meinung, dass derjenige, der
über die Konsequenzen belehrt worden ist, sehr wohl das
Recht haben muss, zu sagen: Ich stimme einer solchen
Analyse und Speicherung zu. In dem Fall kann der Richtervorbehalt entfallen.
Schließlich - hören Sie gut zu, falls Sie es immer
noch nicht verstanden haben ({9})
sage ich Ihnen als grüner Rechtspolitiker: Die richterliche Überprüfung anonymer Spuren, die der Bundestag
im Jahre 2000 ins Gesetz hineingeschrieben hat, kann
wegfallen.
({10})
Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Richtervorbehalt entfällt. Das ist nicht das erste Mal, dass ich das hier
sage. Aber wir werden das nicht in einem isolierten Verfahren machen, sondern in einem Gesetz, das all diese
Elemente umfasst.
Danke schön.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
CDU und CSU wollen DNA-Analysen ausweiten, nicht
zum ersten Mal, aber immer öfter. Die PDS im Bundestag wird diesem Anliegen erneut nicht zustimmen.
({0})
Übrigens ist heute der 18. März. In Berlin, am Brandenburger Tor, und auch anderswo wird es zahlreiche
Veranstaltungen geben, auf denen parteiübergreifend der
Revolution von 1848 gedacht wird.
({1})
c
Damals ging es um demokratische Rechte, um Bürgerrechte. Die alte Bundesrepublik berief sich gern auf
diese Tradition. Das war allerdings gestern. Seit der Vereinigung 1990 erleben wir das Gegenteil. Grund- und
Bürgerrechte wurden massiv abgebaut.
({2})
Auch darum geht es heute in der Debatte.
({3})
- Herr Kollege, regen Sie sich doch nicht so auf!
Laut Grundgesetz gilt, dass jede und jeder über persönliche Daten selbst bestimmen kann. Ausnahmen, so
sagt das Bundesverfassungsgericht, müssen wohlbegründet sein und äußerst restriktiv behandelt werden.
DNA-Daten sind sehr sensible Daten. CDU und CSU
wollen sie dennoch mehr denn je erfassen, speichern und
nutzen. Das dahinter stehende Menschenbild erschreckt
mich, Herr Kollege, weil dann alle potenziell verdächtig
sind. Das lehnt die PDS ab.
({4})
Dahinter steckt übrigens auch ein gefährliches Gesellschaftsmodell, wonach der Staat aus Sicherheitsgründen
möglichst alles wissen muss. Da Sie gerade über die Geschichte, auch die Geschichte der DDR, reden: Ich hätte
nicht geglaubt, dass man so wenig aus der Geschichte
lernen kann und mit solchen Initiativen in den Bundestag
geht.
({5})
Leider stehen CDU und CSU keinesfalls allein da,
wenn es um den Abbau von Bürgerrechten geht. Sie
haben mit dem Innenminister Schily einen sehr verlässlichen Patron und Patriarchen in der rot-grünen Koalition. Er forderte am Wochenende, Telekommunikationsdaten sollten mindestens zwölf Monate gespeichert
werden, also alle Telefonverbindungen, E-Mails, SMS
und mehr. Der Deutsche Anwaltverein spricht von staatlicher Schnüffelei in unerträglicher Dimension. Ich
finde, er hat Recht. Selbst die Telekommunikationsanbieter monieren, das alles sei zu teuer und viel zu bürokratisch. Auch das ist nachvollziehbar, allerdings nicht
das dringendste Argument. Die eigentliche Gefahr für
die Bürgerrechte und die Verfasstheit unserer Gesellschaft ist größer. Denn wer mit der Zeit geht, das Internet nutzt, mobil telefoniert oder sich navigieren lässt all jene müssen in Kauf nehmen, dass sie zunehmend
ausgespäht werden und diesen Einbruch in ihre Privatsphäre auch noch selbst bezahlen müssen.
Das ist übrigens keine pure Folgenfrage der technischen Entwicklung, sondern das ist eine Folgenfrage an
die Politik.
({6})
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Die Politik muss eingreifen, wenn technischer Fortschritt demokratische Errungenschaften bedroht. Sie tut
es aber nicht oder nur unzureichend. Die Anträge der
CDU/CSU und die Vorstöße des Innenministers sind in
ihrem Anspruch das Gegenteil einer modernen und demokratischen Zivilgesellschaft. Genau diese Absage an
die Bürgerrechte lehnt die PDS im Bundestag ab.
({7})
Das Wort hat der Kollege Thomas Strobl, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
… aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, die
DNA-Analyse im Prinzip der erkennungsdienstlichen Behandlung gleichzustellen. Alle Täter, bei
denen z. B. eine Wiederholungsgefahr besteht, müssen dann eine Haar- oder Speichelprobe abgeben.
Dieser Eingriff ist nicht schwerwiegender als heute
die Abnahme eines Fingerabdrucks und das Fotografieren.
({0})
Mit diesem Zitat möchte ich beginnen. Das hat zwei
Tage vor dieser Debatte - welch ein Zufall - der Präsident des Bundeskriminalamtes öffentlich gefordert.
Recht hat der Mann. Der BKA-
Eine immer wichtigere Rolle spielt die „intelligente
Fahndung“, z. B. der genetische Fingerabdruck.
Recht hat der Mann. Das ist nicht irgendjemand, sondern ein Fachmann, ein allseits erfahrener Kriminalbeamter. Das ist unabhängig von politischen Bewertungen.
Er ist zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung zum Präsidenten des BKA ernannt worden.
Wenn wir dank des Fortschreitens der Technik nun,
um mit dem BKA-Präsidenten zu sprechen, mit dem genetischen Fingerabdruck eine unstreitig bedeutsame Methode intelligenter Fahndung haben, dann darf schon die
Frage gestellt werden, warum Rot-Grün diese intelligenten Fahndungsmethoden unseren Ermittlungs- und
Strafverfolgungsbehörden vorenthalten will
({0})
und warum eigentlich Polizei und Staatsanwaltschaft bei
der Verbrechensverfolgung und der Aufklärung von
Straftaten künstlich dumm gehalten werden sollen.
({1})
Die DNA-Analyse ist in den vergangenen Jahren zu
einem äußerst erfolgreichen Mittel gerade bei der Aufklärung von schweren und schwersten Straftaten geworden. Wenn das unstreitig ist, Kollege Montag, dann ist
zu fragen, warum Sie seitens der Bundesregierung seit
Jahren tönen, was Sie alles ändern wollen, aber tatsächlich nichts anderes zustande bringen, als die Anträge der
Union abzulehnen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Bitte sehr.
Herr Kollege Strobl, ich frage Sie, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen und es auch selber im Deutschen Bundestag festzustellen, dass wir es waren, die in
einer Gesetzesänderung zum 1. April 2004 die Vorschriften über die DNA-Analyse und -Speicherung auf
alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erweitert,
({0})
die Möglichkeit der Geschlechtsbestimmung ins Gesetz
aufgenommen und andere Ergänzungen vorgenommen
haben. Ich frage Sie, ob all dies an Ihnen vorbeigegangen ist.
({1})
Verehrter Herr Kollege Montag, ich nehme seit längerer Zeit zur Kenntnis, dass Sie immer dann, wenn wir
eine Debatte anstoßen, zwar zwangsläufig bereit sind,
sich dieser Debatte zu stellen, sich dann aber in sicherheitspolitischen Fragen mit dem Tempo einer schleswigholsteinischen Wanderdüne bewegen. Ein Stück weit
verwerflich finde ich es sogar, dass Sie lediglich dann,
({0})
wenn eine spektakuläre Straftat - ein spektakulärer
Mord oder eine spektakuläre Kinderschändung - passiert, bereit sind, sich minimal in kleinsten Schritten gesetzgeberisch zu bewegen.
Das, was Sie gemacht haben - darin sind sich alle
Polizeifachleute einschließlich des BKA-Präsidenten
einig -, ist bei weitem nicht ausreichend. Ansonsten beschränken Sie sich darauf, die von der CDU/CSU
gestellten Anträge unter irgendwelchen verfassungsrechtlichen oder anderen Vorwänden abzulehnen.
({1})
Herr Kollege Montag, ich bin mit der Beantwortung
der Frage noch nicht ganz fertig. Sie von Rot-Grün müssen sich schon entscheiden. Ich habe die Debatte, die wir
vor einem Jahr - Anfang Januar des Jahres 2004 geführt haben, im Protokoll nachgelesen. Darin
wurden zwei Argumente gegen die Anträge der Union
Thomas Strobl ({2})
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vorgebracht. Die eine Argumentation entspricht dem,
was Sie ausgeführt haben, nämlich dass in den Anträgen
der Union nichts Neues enthalten sei und dass Sie die
darin angesprochenen Maßnahmen längst durchgeführt
hätten. Die andere Argumentationsschiene ist die, welche der Herr, der neben Ihnen sitzt,
({3})
und seine geistigen Verbündeten verwenden, nämlich
dass alle Vorschläge der Union verfassungswidrig und
schlimm sind. - Beides kann nicht richtig sein. Deswegen sollten Sie über Ihre eigene Argumentation nachdenken. Ansonsten wird nämlich offenkundig, dass es vorgeschobene Argumente sind und dass Sie in der Sache
keine Gründe vorzubringen haben, warum unsere Vorschläge abzulehnen sind.
Unsere Vorschläge sind auch deswegen nicht abzulehnen, weil sich der genetische Fingerabdruck zum Fingerabdruck des 21. Jahrhunderts entwickeln wird. Er ist
also ein äußerst effizientes und erfolgreiches Mittel und
stellt, wie uns alle Experten aus der Praxis bestätigen, einen Quantensprung in der Kriminalistik dar.
Dieselben Experten, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, fordern von uns als Gesetzgeber, dass eine
Ausweitung des Ermittlungsinstruments genetischer
Fingerabdruck und eine Abschaffung des Richtervorbehaltes wichtige Schritte wären, um die Aufklärungsquote bei Straftaten weiter zu erhöhen. An einer Erhöhung dieser Aufklärungsquote sollten wir doch alle ein
vitales Interesse haben.
({4})
Diese Forderung wird im Übrigen nicht nur von
Unionspolitikern und uns nahe stehenden Experten erhoben. Ich wundere mich, dass Bundesinnenminister
Schily an einer so wichtigen Debatte nicht teilnimmt.
({5})
- Vielleicht ist er aber auch durch seine ständigen sicherheitspolitischen Warnungen an das Auswärtige Amt inzwischen zu frustriert, verehrter Herr Kollege Schmidt.
Der Bundesinnenminister hat bereits im Jahr 2001 deutlich gesagt:
Das ist keine dogmatische Frage. Ich finde es zum
Beispiel richtig, dass die DNS-Datei auch zur Aufklärung von Einbruchsdiebstählen herangezogen
wird.
Das sagt der Verfassungsminister, Herr Kollege Montag,
der einst Mitglied Ihrer Partei gewesen ist.
({6})
Erst vor kurzem, Anfang 2005, hat sich der Bundesinnenminister für eine Ausweitung der DNA-Analyse
ausgesprochen:
Die DNA-Spur ist der moderne Fingerabdruck.
Deshalb sollte ihre Erhebung zum Normalfall werden.
Das sagt der Verfassungsminister. Herr Kollege Montag,
Sie sollten sich insbesondere eines, was Herr Schily gesagt hat, zu Eigen machen: Dies ist ein Thema, bei dem
Sie ein Stück weit Ihre Ideologie und Ihre Dogmatik zurückstellen und das zur Kenntnis nehmen sollten, was
Fachleute der Verbrechensaufklärung und der Verfolgung von Straftaten Ihnen und uns sagen.
({7})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, in dem
es Ihnen gelungen ist, in der Öffentlichkeit durch gezielte Falschinformationen ein teilweise völlig falsches
Bild entstehen zu lassen.
({8})
Der genetische Fingerabdruck ist nichts anderes als eine
moderne Form des klassischen Fingerabdrucks. In der
DNA-Analysedatei des BKA wird lediglich ein Zahlencode des DNA-Profils gespeichert, mit dem keinerlei
Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale
oder Erbanlagen möglich sind. Das ist der Stand der
Wissenschaft. Nur der Kollege Montag und der Kollege
Ströbele wissen es natürlich besser.
({9})
Die Behauptung, man könne mit den Informationen des
genetischen Fingerabdrucks Rückschlüsse auf Erbanlagen ziehen oder sogar ein Persönlichkeitsprofil erstellen, ist schlicht falsch. Sie wird auch durch ständiges
Wiederholen nicht richtiger.
({10})
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen ausgewiesenen Fachmann sprechen lassen, den Berliner Molekularbiologen und führenden DNA-Spezialisten Professor Dr. Hubert Pöche. Er leitet die Abteilung für
forensische Molekularbiologie am Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité. Er erklärte vor einigen
Wochen auf die Frage, ob durch den genetischen Fingerabdruck Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Erbanlagen möglich sind:
Überhaupt nicht. Denn die Erbanlagen sind nur in
den Genen feststellbar. Gene oder die so genannten
codierenden Regionen der DNA werden aber zum
Zweck der Identitätsfeststellung nicht untersucht.
Wir untersuchen nur die „stummen Abschnitte“, die
nicht codierenden Regionen zwischen den Genen.
Und die sind nicht informativ, was zum Beispiel
Erbkrankheiten oder Erbanlagen betrifft.
Punkt, Ende des Zitats.
({11})
Bitte nehmen Sie dies ein für allemal zur Kenntnis
und verunsichern Sie nicht weiterhin die Bevölkerung,
indem Sie Falsches behaupten! Zum Beispiel Erbkrankheiten sind mit dem Genmaterial einer herkömmlichen
Speichelprobe nach Professor Pöche nur schwer bestimmbar, weil man dafür viel mehr Genmaterial
bräuchte. Weitergehende Erkenntnisse sind also nicht
möglich. Solches Genmaterial wird im Übrigen bei jeder
Thomas Strobl ({12})
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Blutprobe gewonnen, die einem Autofahrer, der einer
Trunkenheitsfahrt verdächtig ist, abgenommen wird.
Hier habe ich allerdings von Rot-Grün noch nie gehört,
dass für jede Blutprobe, die einem Autofahrer entnommen werden soll, eine richterliche Anordnung erforderlich sein soll.
({13})
Es geht nicht darum, was von Rot-Grün ständig unterstellt wird, nämlich dass wir eine uferlose Ausweitung
eines Ermittlungsinstrumentes wollen. Wir wollen nur,
dass dann, wenn jemand ohnehin erkennungsdienstlich
behandelt wird, zusätzlich zum herkömmlichen Fingerabdruck und zu dem dreigeteilten Foto das DNA-Identifizierungsmuster gespeichert werden kann.
Verehrter Herr Kollege Dr. Gehb, Sie lagen leider
nicht ganz richtig - genauso wenig wie der Kollege
Stünker von der SPD-Fraktion -, als Sie behauptet haben, eine erkennungsdienstliche Behandlung erfolge in
15 Prozent der Strafverfahren. Vor wenigen Tagen hat
der nordrhein-westfälische Innenminister Behrens, der
der SPD angehört, gesagt: Jährlich werden in NordrheinWestfalen nur bei rund 5 Prozent aller der Polizei bekannten Delikte Fingerabdrücke genommen und Fotos
von den Tätern gemacht.
({14})
Das heißt, nur ein Bruchteil der Bevölkerung kommt mit
erkennungsdienstlichen Maßnahmen in Berührung. Insofern ist der Eindruck, hier sollten massenhaft DNATests vorgenommen werden, völlig falsch. Trotzdem
versuchen Sie ständig, ihn zu erwecken. Von einem inflationären Gebrauch kann aber keine Rede sein.
({15})
Es ist zurzeit in der Politik und insbesondere in diesem Haus angesagt, Molière zu zitieren.
Ich glaube, es war Montesquieu.
Ich will deswegen mit einem Zitat enden, welches in
Bezug auf Sie ganz gut passt. Molière sagte einmal:
Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir
tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.
Dieses Nichtstun, welches Sie in diesem Bereich seit einigen Jahren praktizieren, ist es, was wir Ihnen vorwerfen. Deswegen fordern wir Sie klar auf: Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen und unserem Antrag im Interesse
der schnellen Aufklärung von Straftaten und der Vorbeugung von Verbrechen zu!
({0})
Dann werden wir dieses Zitat bei Molière suchen oder
vielleicht doch bei Montesquieu.
c
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, ich habe
volles Verständnis dafür, dass Sie angesichts der Ereignisse am gestrigen Tag kräftig gefeiert haben. Aber
wenn man am nächsten Morgen reden will, muss man
rechtzeitig aufhören.
({0})
- Herr Kollege Gehb, nehmen Sie doch einfach einmal
zur Kenntnis, dass die Mitglieder aller Fraktionen bis auf
die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion der Meinung sind, dass Ihre Rede heute diesem Thema nicht angemessen war. Es war wohl doch nicht Ihr Tag, Herr
Kollege!
({1})
- Herr Kollege Gehb, ich möchte dazu inhaltlich noch
sagen - die Ministerin hat es auch getan -: Es ist wirklich nicht in Ordnung, dass Sie uns gerade in dieser Legislaturperiode inzidenter, also mittelbar den Vorwurf
machen, Täterschutz vor Opferschutz zu stellen, wo
wir in dieser Legislaturperiode im Interesse des Opferschutzes gerade in der Strafprozessordnung und an anderen Stellen wirklich Erhebliches geleistet haben,
({2})
teilweise in Zusammenarbeit mit Ihrer Fraktion.
({3})
- Nein, da wurde keiner zum Jagen getragen, Herr Kollege Gehb. - Was Sie behaupten, ist einfach nicht in
Ordnung. Unter Kollegen, die im Ausschuss regelmäßig
gut zusammenarbeiten, sollte man Derartiges hier im
Plenum vor laufenden Kameras nicht von sich geben;
denn es ist aus meiner Sicht unanständig, Herr Kollege
Gehb, uns das vorzuhalten.
({4})
Frau Kollegin Merkel hat gestern Morgen in diesem
Hohen Hause ein wenig philosophiert. Sie hat versucht,
den neuen gesellschaftspolitischen Ansatz der Unionsfraktionen - die „Ordnung der Freiheit“ - zu entwickeln,
um ihn der rot-grünen Regierungspolitik gegenüberzustellen. Die Frage, ob ihr die Definition gelungen ist,
will ich nicht beantworten. Heute reden wir hier über
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Rechtspolitik. Ich meine, dass einer Definition von
„Ordnung der Freiheit“ ein allgemein gültiger Ansatz
zugrunde liegen muss. Was heißt Freiheit im Sinne der
Unionsparteien? Was erleben wir in der Rechtspolitik,
der Innenpolitik und der Politik der inneren Sicherheit?
Wie wird von Ihnen hier „Ordnung der Freiheit“ definiert?
Zu dem, was Sie uns dazu in der Vergangenheit in immer kürzeren Abständen vorgelegt haben und was Sie
uns dazu heute wieder vorlegen, kann ich nur eines sagen - es knüpft an eine Presseerklärung des DAV, des
Deutschen Anwaltvereins, zu dieser Thematik in diesen
Tagen an -, meine Damen und Herren von der Union:
Besinnen Sie sich wieder darauf, dass die Menschen in
der Bundesrepublik Grundrechte als Abwehrrechte
gegen Eingriffe des Staates haben!
({5})
Genau darum geht es, wenn wir hier über die - ich betone - zukünftige Ausgestaltung der DNA-Analyse zum
Zwecke einer wirksamen Bekämpfung von Straftaten
streiten. Es geht - darauf hat mein Kollege Strässer
schon in der letzten Debatte über dieses Thema hingewiesen - um einen verfassungsrechtlichen Zielkonflikt: Natürlich haben die Menschen, hat die Gesellschaft einen Anspruch darauf, dass der Staat sie vor
Straftätern und Straftaten schützt und die notwendigen
Aufklärungsinstrumente schafft. Der Staat hat hier nicht
nur das Gewaltmonopol, sondern auch die Justizgewährungspflicht. Darüber sind wir uns doch alle einig.
Ich hoffe, dass wir alle uns auf der anderen Seite noch
immer darüber einig sind, dass dem die Grundrechte jedes einzelnen Menschen in diesem Lande gegenüberstehen. Dazu gehört nun einmal das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, abzuleiten aus Art. 2
Abs. 1 des Grundgesetzes. Darauf hat uns das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen hingewiesen. Auch das gehört zur Ordnung der Freiheit, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Hören Sie daher auf, Freiheit immer nur ökonomisch zu
definieren! Definieren Sie Freiheit auch im Sinne von
Bürgerrechten!
({7})
Deshalb sollten wir, Herr Kollege Strobl, zu einer
Grundüberzeugung zurückkehren, die uns in den Jahren
1998/1999 in diesem Hohen Hause geeint hat, als wir
nämlich das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz - ein
furchtbares Wort - beschlossen haben, dass nämlich die
völlige Gleichstellung der DNA-Analyse mit der Entnahme eines Fingerabdrucks weder sachlich geboten
ist noch verfassungsrechtlich vertretbar erscheint.
({8})
Denn der genetische Fingerabdruck geht eindeutig über
den normalen Fingerabdruck hinaus; er gibt mehr Erkenntnismöglichkeiten als dieser. Von daher hat seine
Speicherung eine andere Bedeutung.
({9})
- Wenn Sie das wissen wollen, gebe ich Ihnen folgende
Empfehlung: Es gibt einen sehr guten Bericht der
Arbeitsgruppe des Rechtsausschusses der Justizministerkonferenz, in dem genau darauf hingewiesen wird, welche Möglichkeiten es nach den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt.
({10})
Schauen Sie sich das an! Dann können wir uns, glaube
ich, auf der Basis vielleicht einigen.
({11})
Da dem so ist, geht es hier eigentlich nur um einen
einzigen Punkt. Wir können uns, denke ich, über alles einigen, wenn es um die zukünftige Speicherung von entsprechenden Daten geht, die wir durch solche Untersuchungen gewinnen, wenn wir darüber reden, welche
Schwelle die Anlasstat haben muss oder welche Prognose wir im Hinblick darauf stellen müssen, dass der
betreffende Täter zukünftig wieder straffällig werden
könnte, oder wenn wir darüber reden, ob wir im Lichte
neuerer wissenschaftlicher, kriminologischer Erkenntnisse die Voraussetzungen senken könnten. Darauf hat
die Frau Ministerin vorhin hingewiesen. Dazu werden
wir Ihnen einen Entwurf vorlegen; darüber können wir
miteinander reden.
Aber über eines sollten wir uns einig sein - ich freue
mich, Herr Kollege van Essen, dass die FDP in dieser
Frage zumindest bis heute standhaft an unserer Seite
steht -:
({12})
Wenn es um grundlegende Eingriffe in Grundrechte des
Einzelnen geht, dürfen wir den Richtervorbehalt nicht
aufgeben.
({13})
- Wenn wir zu den anonymen Spuren kommen, Herr
Kollege Gehb - ({14})
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- Herr Kollege Gehb, machen Sie sich doch einmal
sachkundig! Um die anonymen Spuren geht es doch gar
nicht mehr.
({15})
Dass wir bei anonymen Spuren auf den Richtervorbehalt
verzichten wollen, darüber sind wir uns doch alle einig.
Darum geht es doch gar nicht.
({16})
Sie wollen mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben, genau den Paradigmenwechsel vornehmen,
den Ihnen die Frau Ministerin vorhin vorgehalten hat
und der darin besteht, dass Sie in der Strafprozessordnung diese Methode zum originären Ermittlungsinstrument der Polizei machen wollen und darüber die dritte
Gewalt, die Judikative, nicht befinden lassen wollen.
({17})
Darin besteht genau der Paradigmenwechsel in der Strafprozessordnung, und zwar bezieht er sich auf zukünftige
Speicherungen, Herr Kollege Gehb. Genau darum geht
es.
({18})
Dazu sagen wir Ihnen: In dieser Frage muss es im
Grundsatz beim Richtervorbehalt bleiben. Wir können
bei Gefahr im Verzug davon eine Ausnahme machen;
wir können eine Ausnahme machen, wenn die betreffende Person in eine DNA-Analyse einwilligt. Das alles
können wir machen. Aber wenn Sie vom Grundsatz her
jede Kontrollmöglichkeit durch den Richter aufgeben
wollen, machen wir das nicht mit.
({19})
Das steht in Ihrem Antrag.
({20})
- Natürlich machen Sie das. Lesen Sie, was Ihnen die
Bayern aufgeschrieben haben, Herrgott noch mal.
({21})
Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Niedersachsen und die Baden-Württemberger heute im Bundesrat
nicht zustimmen werden,
({22})
weil nämlich die FDP Gott sei Dank mittlerweile begriffen hat, dass hier ein Paradigmenwechsel vorgenommen
werden soll, den sie nicht mitmachen kann.
({23})
Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin.
({24})
Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Ich
plädiere noch einmal dafür - ich habe das wiederholt getan, heute Morgen offensichtlich ohne Erfolg, aber in
Anbetracht des gestrigen Tages sehe ich Ihnen das
nach -: Lassen Sie uns über dieses Thema sachlich und
in Ruhe reden! Die Justizministerkonferenz hat sich bewusst ein Ziel gesetzt: Sie wird am 6. Juni auf der
Grundlage des Berichtes, den ich eben angesprochen
habe, darüber diskutieren. Lassen Sie uns das gründlich
diskutieren, denn wir berauben uns damit keinerlei Ermittlungsmöglichkeiten, Herr Kollege Strobl. Wir können in jedem aktuell anhängigen Strafverfahren DNAUntersuchungen bei den Ermittlungen anwenden. Das ist
überhaupt nicht das Thema.
({25})
- Natürlich ist das so. Schütteln Sie nicht den Kopf!
Oder wissen Sie nicht, worüber wir reden?
({26})
Es geht doch in unserer Auseinandersetzung nur um
eines, nämlich ob die Sammlung und Speicherung der
Daten durch den Staat in Zukunft unbegrenzt zulässig
ist. So etwas werden wir heute und auch in Zukunft nicht
mittragen. Da wird auch dieses Haus nicht mitmachen,
denn Sie werden drei Fraktionen gegen sich haben.
Schönen Dank.
({27})
Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/4926 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur
Aufhebung des Richtervorbehalts für die DNA-Analyse
anonymer Spuren. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5130, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt wor-
den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 15/5130 zu dem An-
trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Verbre-
chen wirksam bekämpfen - Genetischen Fingerabdruck
konsequent nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
auf Drucksache 15/2159 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4695 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren, Günter Gloser, Kurt
Bodewig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Ulrike Höfken, Marianne Tritz, weiterer Abgeordneter und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für eine zukunftsgerichtete Weiterführung
der Lissabon-Strategie - Neue Impulse zur
wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Erneuerung
- Drucksache 15/5116 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Wachstum in Deutschland und Europa stärken - Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln
- Drucksache 15/5025 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zur Tagung des Europäischen Rates am
22./23. März 2005 - Stabilität und Wachstum
stärken
- Drucksache 15/5131 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Kurt Bodewig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren kamen in Lissabon die Staats- und Regierungschefs der EU 15 zusammen, um über die Zukunft Europas zu entscheiden. In
der „FAZ“ vom darauf folgenden Tag wurde über das
historische Treffen unter dem sehr prosaischen Titel „In
Lissabon redet der alte Kontinent über eine schöne neue
Welt“ berichtet. Das war vor Rumsfelds „altem Europa“,
aber es war zu Beginn einer atemberaubenden Entwicklung auf dem indischen Subkontinent und in China. Im
Artikel von Michael Stabenow hieß es damals:
Vor einem halben Jahrtausend waren von Lissabon
aus europäische Seefahrer wie Kolumbus, Vasco da
Gama und Magellan zu neuen Ufern aufgebrochen … Es war, obwohl damals niemand den Begriff kannte, das erste Zeitalter der Globalisierung.
Schon damals galt:
Globalisierung ist für unsere Volkswirtschaften das,
was für die Physik die Schwerkraft ist. Man kann
nicht für oder gegen das Gesetz der Schwerkraft
sein - man muss damit leben.
So der Ökonom Alain Minc.
Die Staats- und Regierungschefs gaben damals in
Lissabon eine gemeinsame Antwort: Sie wollten die
EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten
wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen.
Die Lissabon-Strategie wurde in Euphorie geboren, geschuldet dem damaligen Zeitgeist der New Economy
und getragen von dem Vertrauen in eine außerordentliche Wachstumsdynamik, übrigens nicht unähnlich den
hohen Erwartungen der Bevölkerung in Bezug auf die
Aktienmärkte.
In der Folge durchliefen beide Bereiche europaweit
eine nicht so erfreuliche ökonomische Entwicklung. Wir
müssen leider im Rahmen der Halbzeitbilanz nüchtern
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feststellen: Das strategische Ziel ist für Europa nicht erreicht. Gegenüber den USA und Asien hat die EU an Boden verloren. Aber das heißt nicht, dass der strategische
Ansatz von Lissabon falsch wäre. Der Bericht der High
Level Group unter Leitung des früheren niederländischen Regierungschefs Wim Kok bekräftigt die Angemessenheit der Lissabon-Ziele, sagt aber deutlich, dass
die damalige Plattform zu breit geworden ist. Ich zitiere:
„Bei der Lissabon-Strategie geht es um alles und damit
im Grunde um nichts.“
Die Kok-Gruppe empfiehlt, Wachstum und Beschäftigung ins Zentrum der Strategie zu rücken, und mahnt
politische Entschlossenheit an. Dazu gehört im globalen
Kontext auch das Thema Wettbewerbsfähigkeit, die
Wettbewerbsfähigkeit Europas in der sich verändernden
Welt und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im gemeinsamen europäischen Markt. Wettbewerbsfähigkeit
ist keine kalte Bürde; sie ist Voraussetzung für soziale
Sicherheit und die Wirksamkeit des europäischen Sozialmodells. Sie ist übrigens geprägt durch Innovationspotenzial und die Qualifikation der Menschen. Die Investition in Menschen ist Teil dieser Strategie; denn nur
so können diese neue Chancen für sich, aber auch für unser Land ergreifen.
({0})
Meine Heimatstadt Grevenbroich liegt in einem Wissensdreieck. Ein entscheidender Winkelpunkt ist hier die
RWTH Aachen, eine Universität, in der Ingenieurwissenschaften und Naturwissenschaften seit jeher Tradition haben. Wer die technologischen und ökologischen
Potenziale der dort forschenden und lehrenden Wissenschaftler kennt, weiß, dass Deutschland gut positioniert
ist - viel besser, als manche Debatten in diesem Hause
vermuten lassen. Wir wollen hier weiter investieren. Der
Bundeskanzler hat das gestern noch einmal ausdrücklich
unterstrichen. Wir glauben, dass es genau die richtige
Strategie ist, die eigenen Stärken zu vermehren. Wir tun
das und Sie sollten dabei mitwirken.
({1})
In Deutschland wird trotz der schwierigen Haushaltslage verstärkt in Forschung und Entwicklung investiert. Aktuell werden Bundesmittel in Höhe von
8,9 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Schwerpunkte bilden dabei Bereiche mit besonders hohem
Innovationspotenzial wie Bio-, Nano- und I-und-KTechnologien. Gleichzeitig hat auch die Wirtschaft mehr
Mittel für F und E mobilisiert, sodass der Anteil der gesamten F-und-E-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt von
2,3 Prozent im Jahr 1998 auf 2,5 Prozent im Jahr 2003
gestiegen ist. Auch das ist eine gute Zahl.
({2})
Für uns gehört weiterhin dazu, das europäische Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Es ist sinnvoll, sich hier am
Kok-Bericht zu orientieren. Natürlich ist Umweltschutz
ein Wettbewerbsvorteil; hier hat Europa, hier hat
Deutschland eine Führungsrolle. Wir exportieren Umweltschutztechnologien weltweit. Daran sollten wir festhalten und auch diese Anstrengung verstärken.
Ökologische Innovationen, Ressourceneffizienz, verantwortlicher Umgang mit den Lebensgrundlagen, in all
diesen Punkten unterscheiden wir uns wohltuend von
dem verantwortungslosen Umgang etwa auf dem nordamerikanischen Kontinent; ich denke zum Beispiel an
die gestrige Entscheidung zu den Ölvorkommen in
Alaska. Wir gehen einen anderen und, wie ich glaube,
den richtigen Weg.
({3})
Wir setzen auf Ressourceneffizienz wie auf Produktinnovationen, auf neue Energien genauso wie auf die
langfristige Energieversorgung unter Nutzung der bei
uns verfügbaren Ressourcen. Hier werden Milliarden investiert. Das ist gut. Weitere Anstrengungen müssen wir
folgen lassen. Mit technologischen und ökologischen
Innovationen werden neue Beschäftigungspotenziale
geschaffen und Produktionskosten reduziert. Damit wird
auch für diesen Bereich die europäische Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Die klare Empfehlung des Kok-Berichtes ist auch hier, Umweltschutz und Umwelttechnologien als einen Wettbewerbsvorteil zu beachten.
({4})
Angesichts der internationalen wirtschaftlichen Situation
eint uns auch die Auffassung, dass die Reduktion der
Abhängigkeit vom Öl ein zunehmend wichtiges Ziel
ist.
Auf der CeBIT wurde wieder einmal deutlich, dass
Deutschland auch in der Informationstechnologie außerordentlich stark ist. Beim E-Commerce ist Deutschland in absoluten Zahlen Marktführer in Europa. In diesem Bereich wurde im Jahre 2003 ein Umsatz von gut
138 Milliarden Euro erzielt. Zwei Jahre zuvor betrug der
Umsatz nur 20 Milliarden Euro. Er hat sich also in zwei
Jahren versiebenfacht. Das zeigt unsere Stärke. Wir können und wir werden sie weiterentwickeln.
({5})
Ich will aber auch Folgendes deutlich machen: Wir
brauchen ein Europa, das die Wirtschaft von ordnungspolitisch nicht gerechtfertigten bürokratischen Hemmnissen befreit. Bürokratische Überregulierungen sind
wachstumshemmnend. Deshalb setzen wir auf eine bessere und umfassendere Gesetzesfolgenabschätzung in
der EU, die ein besonderes Augenmerk auf Beschäftigung, auf soziale Auswirkungen, auf Umweltbelange sowie auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit richtet.
Ein wichtiges Ziel ist auch, die Marktabschottung zu
verhindern; denn sie ist europäisch desintegrierend.
Gleiche Chancen für alle - das schafft eine neue Dynamik. Gleichzeitig sage ich in Richtung FDP, dass es genauso wenig eine Inländerdiskriminierung geben darf.
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({6})
In dem Antrag der FDP wird sie aber akzeptiert.
Wir sind uns alle einig, dass wir eine Dienstleistungsrichtlinie brauchen, allerdings nicht in der gnadenlosen Form der Bolkestein-Richtlinie.
({7})
Wir setzen auf Entbürokratisierung und Entfaltung einer neuen Dynamik im Dienstleistungsbereich, aber
auch auf den Grundsatz der Harmonisierung. Ein race
to the bottom darf es nicht geben. Wir wollen kein Sozialdumping, sondern eine europäische Harmonisierung.
({8})
Das kostet vielleicht etwas mehr Zeit als die rigorose
Durchsetzung des alles übergreifenden Herkunftslandprinzips. Aber es führt zu einem gemeinsamen Europa
und nicht zur Spaltung.
Ein großer Europäer, nämlich Willy Brandt, sagte einmal: Mit den Europaverhandlungen ist es wie mit dem
Liebesspiel der Elefanten. Es spielt sich auf hoher Ebene
ab, wirbelt viel Staub auf und es dauert lange, bis etwas
herauskommt.
({9})
Ich glaube, es gibt andere Instrumente der Harmonisierung als die sektoralen Richtlinien. Wir müssen andere
Formen einer niederschwelligen Harmonisierung entwickeln. Da bietet die Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie eine besondere Chance.
Wir wollen Wachstum und Beschäftigung sowie mehr
und bessere Arbeitsplätze. Innovation ist die Keimzelle
des Wachstums. Wir haben bereits wesentliche Schritte
unternommen. Die Agenda 2010 ist ein klarer Beitrag
zur Lissabon-Strategie. Dieser Schritt war notwendig; er
war nicht einfach, aber lohnend. Wir werden auf diesem
Weg weitermachen.
({10})
Bei all unseren Maßnahmen ist immer das Ziel, ein
größeres Beschäftigungspotenzial zu entwickeln. Wir
wollen dabei ein angemessenes soziales Sicherungsnetz
erhalten; denn wir wissen: Nur mit Wachstum und Beschäftigung und mit Wettbewerbsfähigkeit wird es gelingen, unser europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell
zukunftsfähig zu machen.
Ich habe eine Bitte an die Opposition. Uns Europapolitikern kommt zugute, dass wir öfter in anderen Ländern
mit den Menschen sprechen können. Schauen Sie sich
bitte deren Sicht auf Deutschland an. In anderen Ländern
wird Deutschland als Exportweltmeister gesehen, es
wird als attraktiver Standort, der den Wettbewerb um die
besten Köpfe aufgenommen hat, sowie als Technologieund Innovationsschmiede wahrgenommen. Der Bundeskanzler hat gestern die Hand gereicht, mitzuarbeiten,
dass das so bleibt. Man kann diese Hand ergreifen oder
man kann sich in den Schmollwinkel zurückziehen.
({11})
Eines muss uns klar sein: Dieses Land hat Potenziale,
die wir gemeinsam entwickeln können. Schwarzmalerei
ist die falsche Strategie. Wir dürfen uns nicht in den Keller reden, sondern müssen nach vorne schauen und Farbe
ins Bild bringen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Bodewig, ich bin mir nicht
ganz sicher, mit wem Sie im Ausland über die wirtschaftliche Situation in Deutschland sprechen. Aber
vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, was das Londoner
Centre for Economic Reform am gestrigen Tage zum
Lissabon-Bericht veröffentlicht hat. Es hat festgestellt,
dass Deutschland im Rahmen des Lissabon-Prozesses
von 27 Staaten - von den 25 der EU und zwei Staaten
direkt vor der Mitgliedschaft - den 20. Platz und Frankreich im Vergleich dazu den vierten Platz einnimmt.
({0})
Dazu muss man sagen: Es ist schon beachtlich, welche
Realitätsverweigerung die Sozialdemokraten in diesem
Haus angesichts der ökonomischen Lage in Deutschland
betreiben.
({1})
Wir befinden uns am Ende einer bemerkenswerten
Woche. Diese Woche hat schonungslos aufgedeckt, wo
die Probleme in unserem Land liegen und wer für diese
Probleme verantwortlich ist.
({2})
Der Bundespräsident hat in seiner klugen Rede die Ursachen für die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland
klar analysiert und Wege zu einem stabilen Wirtschaftswachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aufgezeigt. Von der linken Seite des Hauses wurde ihm in
einigen Zwischentönen bestritten, dass er dazu etwas sagen darf.
({3})
Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar dafür, dass er in
dieser Frage so klar und eindeutig gesprochen hat.
({4})
Gestern hat nun der Herr Bundeskanzler eine Regierungserklärung abgegeben.
({5}) [SPD]: Sehr eindeutig! -
Jörg Tauss [SPD]: Das war eindeutig!)
Bemerkenswert an dieser Erklärung war, dass sie überhaupt stattfand. Über Monate haben wir bei Rot-Grün
das krampfhafte Festhalten am Stillstand erlebt. Wochenlang stand die 5-Millionen-Zahl im Raum. Alle
Menschen in Deutschland waren davon umgetrieben und
der Bundeskanzler verweigerte uns jegliche Debatte.
({6})
Dazu passt - wir haben dies in verschiedenen Aktuellen Stunden beklagt -: Wir mussten auch erleben, dass
der Bundeskanzler über einen Namensartikel in einer
deutschen Tageszeitung Änderungen des Stabilitätspaktes ankündigte, die zu einer Aushöhlung des Paktes
führen, und dass er dem Parlament, den Abgeordneten,
bis auf den heutigen Tag eine Debatte über seine Vorschläge verweigert hat. Das halten wir angesichts der
Lage für skandalös.
({7})
Symptomatisch für die Lähmung, in der sich RotGrün befindet, ist das, was wir gestern in Kiel erlebt haben.
({8})
Was soll die deutsche Bevölkerung denken, wenn angesichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland, angesichts der großen Probleme und angesichts eines drohenden Konjunktureinbruchs ein Wahlgang nach dem
anderen durchgeführt wird,
({9})
Frau Simonis viermal durchfällt und das Elend kein
Ende hat! Ich sage dazu: Sie fügen Schleswig-Holstein
einen schweren Schaden zu, wenn Sie die Dinge sich
weiter so hinschleppen lassen. Wir müssen in diesem
Lande handeln und die richtigen Maßnahmen ergreifen.
({10})
Was die wirtschaftliche Strategie von Lissabon und
die Debatte gestern angeht: Ohne unsere Initiative, ohne
die Initiative der Union
({11})
und auch - ich will das gerne hinzufügen - ohne die häufigen Aufforderungen unserer Kollegen von der FDP
({12})
hätte der Bundeskanzler weiter geschwiegen, wenn er
das Parlament zwischen Abu Dhabi und Dubai überhaupt besucht hätte. Hätten wir den Kanzler nicht zu dieser Regierungserklärung getrieben,
({13})
dann hätte die Regierung weiterhin die Hände in den
Schoß gelegt.
({14})
- Die Zurufe des Kollegen Schmidt lohnen selten aufgegriffen zu werden. Ich will mir heute eine Ausnahme erlauben.
({15})
Lieber Herr Schmidt, Sie können als Parlamentarischer
Geschäftsführer nicht alles überblicken. Sie haben viel
zu tun: Wahl des Wehrbeauftragten, die Entscheidung in
Schleswig-Holstein usw.; ich nehme Ihnen das nicht
übel. Aber in den Fachausschüssen hat uns die Bundesregierung zur Lissabon-Strategie mitgeteilt, die Erarbeitung eines nationalen Aktionsplans, die Erarbeitung
dessen also, was die einzelnen Mitgliedstaaten unternehmen, sehe man in Deutschland für die Zeit nach der Bundestagswahl 2006 vor. Vorher gebe es keinen. Wir mussten die Regierung dahin tragen, dass etwas angesichts
der dramatischen Arbeitslosenzahlen in Deutschland geschieht.
({16})
Nun ist einiges aufgegriffen worden. Das ist auch gut.
Aber vieles ist leider verweigert worden. Ich fürchte,
dass wir bis zum Jahre 2006 wertvolle Zeit verlieren
werden, und das in einer hochkritischen Situation: Sämtliche Annahmen der Bundesregierung für den Bundeshaushalt 2005 und für die Sozialversicherungssysteme
sind bereits heute Makulatur. Ich verweise dazu auf zwei
Faktoren. Von Februar 2004 bis Februar 2005 hatten wir
bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen den höchsten Einbruch in einem
Zwölfmonatszeitraum in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Das heißt, die Einnahmen, mit denen wir für
unsere Sozialversicherungssysteme rechnen, werden
drastisch unterschritten. Das hat Rückwirkungen, die die
Bundesregierung jetzt noch leugnet und ignoriert, die sie
aber einholen werden.
({17})
Diese negative Tendenz droht sich fortzusetzen. Das hat
gravierende Auswirkungen auf die öffentlichen Kassen.
Dazu kommen rasch steigende Rohstoffpreise auf breiter
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Front, die die wirtschaftliche Entwicklung zu lähmen
drohen. Die größte Volkswirtschaft in Europa, nämlich
unsere in Deutschland, steht vor einem gefährlichen
Konjunktureinbruch. Deswegen können wir uns weiteres
Zuwarten schlicht und ergreifend nicht erlauben. Wir
müssen handeln, und zwar in einem Gesamtkonzept.
({18})
- Der Kollege Tauss ist ja auch der berüchtigste Zwischenrufer des Deutschen Bundestages.
({19})
Sie sollten aufhören, Forschung und Entwicklung in
Deutschland zu blockieren,
({20})
wie Sie es bei der Grünen Gentechnik zulasten unseres
Wirtschaftsstandorts gemacht haben. Ich vertrete hier im
Deutschen Bundestag den Wahlkreis Wuppertal. Dort
gibt es mit dem Unternehmen Bayer eines der in diesem
Bereich führenden Unternehmen der Welt. Mit Ihrer Politik sorgen Sie dafür, dass diesen Unternehmen immer
mehr der Boden entzogen wird. Ich hoffe, dass es bei Ihnen zu einer Umkehr kommt.
({21})
Vor fast genau fünf Jahren, am 23. und 24. März 2000,
hat der Europäische Rat in Lissabon nicht zuletzt auf
Initiative dieser Bundesregierung das Ziel formuliert, die
Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt“ zu machen.
({22})
Das Ziel war gut, das Ziel war richtig, aber die Bilanz
zur Halbzeit ist ernüchternd und bedrückend. Herr Kollege Bodewig hat eben schon einmal ganz zaghaft auf
den Bericht des früheren niederländischen Ministerpräsidenten Kok verwiesen. Wenn man sich diesen Bericht
einmal vor Augen führt, kann man nur feststellen: Die
Zwischenbilanz des Lissabon-Prozesses, die diese Bundesregierung wesentlich mitzuverantworten hat, ist absolut vernichtend. Vor allem die Feststellung des KokBerichtes, es mangele am politischen Willen in den Mitgliedstaaten, zeigt uns: Ankündigungen und schöne
Worte reichen nicht aus, nur Taten zählen. Hier steht
Deutschland leider sehr schlecht da. Wir sind Schlusslicht beim Wachstum in Europa. Die Arbeitslosenzahlen
erreichen immer neue Höchststände, und das alles bei
immer neuen und höheren Schulden.
({23})
Im Jahr 2000 erklärte Bundeskanzler Schröder in Lissabon nach dem damaligen Europäischen Rat, er habe
kein Problem, ein jährliches Wirtschaftswachstum von
3 Prozent anzupeilen. Angepeilt hat er es kräftig, aber
beim Anpeilen hat es die Regierung belassen. Leider
gibt es einen weiten Abstand zum Ziel. Das ist die Bilanz dieses Prozesses der letzten fünf Jahre.
({24})
Ich empfinde es als erfreulich, dass der neue Kommissionspräsident Barroso klare Worte gefunden und
auch das Eingeständnis formuliert hat, dass es so wie in
den letzten fünf Jahren in Europa nicht weitergehen
kann. Wir sind die größte Volkswirtschaft innerhalb Europas. An uns hängt es ganz entscheidend, ob es weiter
so elend bleibt oder ob wir aus dem Elend herauskommen.
({25})
Barroso hat konkrete Vorschläge für einen Neustart vorgelegt. Wachstum und Beschäftigung sollen im Zentrum
stehen. Dies ist richtig und entspricht genau dem, was
wir auch in Deutschland brauchen.
Der Herr Schmidt hat gerade dazwischengerufen:
Was ist Elend?
({26})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze schrumpft in einem erschreckenden Maß. Bereits heute, da wir darüber
reden, gibt es mehr Menschen, die ihren Lebensunterhalt
aus sozialen Kassen bestreiten müssen, als Menschen,
die über unser Sozialsystem in diese sozialen Kassen
einzahlen.
({27})
Das hat massive Rückwirkungen auf die politische
Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und des Bundestages.
({28})
- Wir machen das einmal. Es sind 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, 20 Millionen in
Rente, 5,2 Millionen Arbeitslose, 2,7 Millionen ohne
Sozialversicherung.
({29})
- Auch das will ich Ihnen erklären, Herr Schmidt. Sie
bewerben sich möglicherweise auch einmal für andere
Ämter. Für diesen Fall ist es nicht schlecht, wenn Sie das
wissen.
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({30})
Rentner sind Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet
und einen moralischen und rechtlichen Anspruch darauf
haben, aus der Rentenversicherung nun ihre Rente zu bekommen.
({31})
- Lieber Herr Schmidt, dieser kleine Zwischenruf fällt
mit Macht auf Sie zurück und bleibt an Ihnen kleben.
({32})
Das Solidarsystem unserer Sozialversicherung funktioniert aber nur, wenn wir unsere wirtschaftlichen
Kräfte so aktivieren,
({33})
dass in die Systeme eingezahlt wird, sodass wir aus ihnen auch auszahlen können. Diese Regierung riskiert sehenden Auges die Fahrt in Richtung Abgrund und ruft
noch, es gebe kein Problem. Das ist das Problem, das wir
haben.
({34})
- Das Elend droht, wenn dieser Prozess so weitergeht.
({35})
- Dann will ich auf diesen Zwischenruf hin, um eine intellektuelle Übereinstimmung herzustellen, sagen: Es
droht Elend, wenn es so weitergeht, wenn Sie sich diesen
Fakten und den notwendigen Konsequenzen weiterhin
verweigern.
({36})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch für die
europäische Ebene gilt: Ehrgeizige Ziele und auf Effizienz gerichtete europäische Abstimmungsprozesse sind
richtig und wichtig. Aber die Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik ist in allererster Linie eine nationale Aufgabe. Wir müssen hier die Arbeit erledigen. Wir
müssen uns über die Realität und darüber verständigen,
wie wir die wirtschaftliche Lage in Deutschland verbessern, einen massiven konjunkturellen Einbruch abwenden und massive strukturelle Probleme überwinden können. Das ist auch die europapolitische Pflicht, die
Deutschland im Rahmen des Lissabon-Prozesses hat. Es
geht natürlich um uns, um unser Land, um unsere Menschen; es geht aber auch um unsere Verantwortung für
das Ganze, für Europa, für die Europäische Union. Wenn
wir in Deutschland weiterhin falsche Politik machen, beschädigen wir damit auch die Europäische Union und die
gemeinsamen Bemühungen.
({37})
Ein weiterer wichtiger Punkt steht am Sonntag an. Es
geht um die Zukunft des Stabiltiätspakts.
({38})
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die linke Seite
dieses Hauses die Ohren verstopft, wenn es um dieses
Thema geht. Vielleicht sind Ihre Augen noch offen. Ich
empfehle Ihnen den Beitrag des Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Professor Weber, in der „Süddeutschen Zeitung“ von heute. Er schreibt geradezu beschwörend, dass die Philosophie von SPD und Grünen,
dass man mit höherer Verschuldung etwas Positives für
die Wirtschaft tun könnte, absolut falsch ist. Höhere Verschuldung legt im Gegenteil die Axt an die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Deswegen ist die Aufweichung des Stabilitätspaktes ein schwerer Fehler.
({39})
Gesunde Staatsfinanzen und wirtschaftliches Wachstum
({40})
sind die zwei Seiten einer Medaille. Deshalb sind alle
Bemühungen um Wachstum und Beschäftigung im Lissabon-Prozess zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns
ein kurzfristiges konjunkturelles Aufflackern mit einer
langfristigen Verschuldung erkaufen wollen.
An diesem Wochenende haben die Finanzminister der
Europäischen Union die letzte Möglichkeit, sich noch
vor dem Europäischen Rat über eine Rettung des europäischen Stabilitätspakts zu einigen. Sollte dies nicht gelingen, wird, so fürchte ich, auf dem Europäischen Rat in
der kommenden Woche unter dem Verhandlungsdruck
die Vernunft vollends auf der Strecke bleiben. Das wäre
ein Problem für Europa, für den Euro und für die Verlässlichkeit der Politik. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass wir hier in diesem Hause,
dass aber natürlich auch die Staats- und Regierungschefs
in Brüssel das Wohl dieser und zukünftiger Generationen im Blick halten und nicht heute das verfeuern, was
wir morgen brauchen.
({41})
Die Bundesregierung betreibt im Moment eine Politik
gegen den Pakt.
({42})
Sie war noch nicht einmal bereit, die ihnen schon weit
entgegenkommenden Vorschläge von Ratspräsident
Juncker aufzunehmen, der auch verbindliche Regeln für
den Fall vorgeschlagen hat, dass wir aus der wirtschaftlichen und finanziellen Misere wieder herauskommen, damit in guten Zeiten nicht ignoriert wird, was uns in
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schweren Zeiten sehr zu schaffen macht. Es ist schon
sehr kritisch, dass die Bundesregierung nicht einmal diesen Gedanken aufgreift. 5,2 Millionen Arbeitslose und
eine Rekordverschuldung
({43})
sind der klare Beweis dafür, dass der Bundeskanzler und
sein Finanzminister mit ihrem wirtschafts- und finanzpolitischen Latein am Ende sind.
Die Lissabon-Strategie bedeutet für Deutschland, sich
von Fesseln zu befreien. Es ist von vielen kritisch betrachtet worden, dass die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion hier über das Thema Freiheit gesprochen hat.
Das kann nur kritisch betrachten, wer die soziale Marktwirtschaft und ihre Ideen noch nie verstanden hat.
({44})
Freiheit ist das entscheidende Element, um wirtschaftliche Kräfte freizusetzen, um die Fähigkeiten der Menschen freizusetzen. Wir müssen unserem Land wieder
die Freiheit zurückgeben, die auch seine Kräfte entfesselt, die das Steuerdickicht lichtet, den Marsch in den
Schuldenstaat stoppt und die Knebelungsregulierung
aufbricht.
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede
kommen.
({0})
Sie hatten recht viel Zeit und haben auch schon eine Minute überzogen.
({1})
Ich komme zum Schluss.
In diesem Sinne sollte uns der Lissabon-Prozess aufrütteln, das zu tun, was in unserem Lande notwendig ist,
damit Wachstum und Beschäftigung wieder einkehren
und wir von dem unseligen Kurs der rot-grünen Regierung abkehren.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Hintze, was war das für eine Rede?
({0})
Meine Güte! Und das bei dem Thema, das wir hier heute
zu behandeln haben.
Sie haben eine wirklich schlechte Replik auf gestern
zu zelebrieren versucht nach dem Motto „Was ich der
Regierung immer schon einmal sagen wollte“. Sie haben
Versatzstücke aus vielen Reden noch einmal zusammengestückelt und das dann hier zum Vortrag gebracht. In
einer Situation, in der wir als Regierung - Sie anscheinend nicht - darum ringen, wie wir dieses Europa an den
Lissabon-Zielen ausrichten können,
({1})
halten Sie diese Rede, lieber Kollege Hintze. Diese
Rede, lieber Kollege Hintze - so sehr ich Sie im Europaausschuss schätze -, war wirklich daneben.
({2})
Ich will nur zu drei Punkten kurz etwas sagen.
Der erste: Die Menschen in diesem Land erwarten
von uns, wenn wir uns um diese großen Fragen streiten
- was richtig ist -, unterschiedliche Konzepte, aber sie
erwarten von uns auch Glaubwürdigkeit und dass wir
ehrlich zu dem stehen, was wir sagen. Sie sprechen über
Reformen in diesem Land. Sie wissen genau, dass diese
Bundesregierung in den letzten Jahren ein Reformpaket
geschnürt hat - Sie können mit dem Inhalt übereinstimmen oder nicht -, das an die Grenzen der Belastbarkeit
vieler Leute in diesem Land gegangen ist. Aber wir haben uns dieser Aufgabe gestellt, wir haben diese Reformen in Deutschland realisiert und umgesetzt. Wir sind
auf diesem Weg mit der Geschwindigkeit, die möglich
ist, nach vorne gegangen. Auf diesem Weg müssen wir
weitergehen.
({3})
Sie haben in dieser Debatte nicht nur eine miese Opposition gemacht, sondern Sie haben im Bundesrat auch an
allen möglichen Stellen im Bremserhäuschen gesessen,
wenn es darum ging, Reformen konsequent umzusetzen.
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie wenigstens zu Ihrer
Rolle im Bundesrat als Verhinderer von Reformen stehen und dass Sie sich aus dieser Debatte nicht herausstehlen.
({4})
Das Zweite: Was mich wirklich erschreckt hat, ist die
Beziehung, die Sie zwischen Transfereinkommenbeziehern, Beschäftigten und dem Elend hergestellt haben.
({5})
Lieber Kollege Hintze, der Zusammenhang, den Sie dort
herzustellen versucht haben, grenzt an Demagogie.
({6})
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Sie haben die Rentner in den Topf „ohne Beschäftigung“
geworfen; das haben Sie auch noch einmal ausgeführt.
Was ist das für eine Diskriminierung von Leuten? Was
haben Sie damit angedacht oder zumindest zu denken
nahe gelegt?
({7})
Sie können das Bild, dass Sie zu zeichnen versucht haben, doch nicht ernst meinen: hier die ganzen Transfereinkommenbezieher, die vom Staat alimentiert werden
müssen, da die paar Beschäftigten; schon gar nicht, wie
Sie diese Gruppen eingeteilt haben. Lieber Kollege
Hintze, so geht das nicht! Mit solchen demagogischen
Äußerungen können wir die Debatte nicht bestehen.
({8})
Deshalb appelliere ich an Sie, Ihre Äußerungen zurückzunehmen.
Das Dritte, die Sache mit der Verschuldung; das ist
eine beliebte Argumentation. Wir führen diese Stabilitätsdebatte mit großer Ernsthaftigkeit. Man kann darüber
streiten, ob Verschuldung notwendig ist, um bestimmte
wirtschaftliche Prozesse wieder anzustoßen. Bei den
Vorschlägen, die gestern gemacht worden sind, stehen
Sie bei der Gegenfinanzierung, auch im Unternehmensteuerbereich, wieder auf der Bremse. Sie sagen: „Gut,
Steuererleichterung für die Unternehmen, Steuererleichterungen hier und dort“, aber wenn es um die Gegenfinanzierung geht, wenn es darum geht, die Verschuldung tatsächlich unter die Maastricht-Grenze zu senken,
wenn wir dafür Maßnahmen ergreifen müssen, die anderen wehtun - vielleicht auch Ihrer Klientel -, dann stehlen Sie sich sofort aus der Verantwortung, kloppen hier
aber große Sprüche. So geht das nicht.
({9})
Der Kollege Bodewig hat die Lissabon-Strategie
schon sehr umfassend beschrieben und den Rahmen sehr
deutlich gemacht. Deshalb möchte ich mich im Wesentlichen auf zwei Aspekte beschränken, die mir in dieser
Diskussion wichtig sind: Die Erhöhung von Wachstum
und Beschäftigung und die Verwirklichung der
Wissensgesellschaft sind nur mit einer konsequenten
Förderung von Forschung und Entwicklung zu erreichen
und mit einer deutlichen Verbesserung unserer - die will
ich einmal so bezeichnen - Bildungsarbeit. Unser Bildungssystem muss zukunftsfest gemacht werden. Diese
beiden Bereiche - Forschung und Entwicklung sowie
Bildung - sind die Kernbereiche, um die es geht, wenn
wir in Europa die Ziele von Lissabon erreichen wollen.
Wir müssen dabei eins sehr deutlich sagen: Auf dem
Weg in diese Wissensgesellschaft müssen die sozialen
Gegensätze und die Behinderungen beim Zugang zu Bildung, die ganz besonders in Deutschland noch vorhanden sind, reduziert werden. Sonst werden wir in
Deutschland dieses Ziel nicht erreichen.
Die Staats- und Regierungschefs haben in Lissabon
den Weg dorthin klar beschrieben: Sie haben sich darauf
geeinigt, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Das ist die Richtgröße, die wir unterstützen. Wir
wollen auf diesem Wege alle Anstrengungen unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen.
({10})
- Ja, das kommt gleich.
Man muss ehrlicherweise feststellen - so viel zur
Glaubwürdigkeit -, dass wir dieses Ziel im Jahre 2002
nicht erreicht haben. Wir liegen bei 1,93 Prozent. Wenn
wir das Tempo der letzten vier Jahre - eine durchschnittliche Steigerung um jeweils 0,11 Prozent - beibehalten,
dann werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Wir müssen
schneller werden, sonst sind wir erst 2040 oder 2050 bei
diesen 3 Prozent. Das können wir nicht wollen und das
können wir uns auch gar nicht leisten. Deshalb müssen
wir, die wir für die Politik verantwortlich sind, zusätzliche Anstrengungen unternehmen.
Ich sage aber auch sehr deutlich: Auch die Unternehmen müssen ihren Teil dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Führen Sie sich einmal vor Augen, dass die
500 größten europäischen Unternehmen ihre Ausgaben
für Forschung und Entwicklung im Jahre 2003 um
2 Prozent reduziert haben, während die 500 größten
amerikanischen Unternehmen ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung im gleichen Zeitraum um
3,9 Prozent erhöht haben! Daran erkennen Sie, was hier
in Europa zurzeit falsch läuft. Das hat auch etwas mit
den hier wirtschaftlich verantwortlich tätigen Unternehmen zu tun. Wir müssen zu einer Veränderung der Einstellung im Bereich der wirtschaftsnahen Forschung
kommen. Die Politik muss hier eine Hilfestellung geben.
Ich glaube aber, dass auch die Unternehmen hier in der
Verantwortung sind, aus der wir sie nicht entlassen können.
({11})
Die Europäische Union hat vorgeschlagen, die Mittel
für das 7. Forschungsrahmenprogramm von 20 Milliarden Euro auf 40 Milliarden Euro zu erhöhen. Das ist ein
mutiger und, wie ich glaube, richtiger Schritt, um den
wir nicht herumkommen. Hier müssen wir den Schwerpunkt im EU-Haushalt setzen. Wir müssen Gelder aus
anderen Bereichen umschichten, um diesen Schwerpunkt im Forschungs- und Entwicklungshaushalt zu setzen. Wir müssen aber auch die nationalen Aufgaben realisieren.
Lieber Kollege Hintze, Sie fordern hier die Verantwortung der Regierung für die nationalen Anstrengungen bezüglich der Lissabon-Ziele ein. Dieser Verantwortung kann man sich nicht in der Art und Weise
entziehen, wie Sie das tun. Die Bundesregierung und die
sie tragenden Fraktionen haben Ihnen mehrmals angeboten, ein großes Milliardenprogramm für Investitionen im
Bildungsbereich dadurch zu finanzieren, dass die Eigenheimzulage gestrichen wird. Dies scheitert regelmäßig
an der Opposition.
({12})
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Sie nehmen eine Schuld auf sich, die historische Dimensionen hat, weil Sie unser Bildungssystem und unsere
Forschungseinrichtungen durch die Art und Weise, wie
Sie hier Verhinderungspolitik betreiben, systematisch
schwächen.
({13})
- Das ist unter Ihrem Niveau. Das finde ich auch. - Persönlich haben wir ja ein gutes Verhältnis, aber das, was
Sie dort politisch zu verantworten haben, geht nicht. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen und wir werden an jeder Stelle sagen, dass Sie die Verantwortung dafür tragen, dass wir die 6 Milliarden Euro nicht im Bildungsbereich investieren können.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, innerhalb der Lissabon-Strategie haben wir eine Reihe von Aufgaben zusätzlich zu erledigen. Wir sind uns in dieser Regierung
einig, dass wir das ernst nehmen und dass wir unsere
Verantwortung, die wir im Bereich der nationalen Aktionspläne haben und auch weiterhin haben werden,
übernehmen. Mit einer Verweigerungshaltung und groß
tönenden Reden, die keine inhaltliche Substanz haben
und in denen keine konkreten Vorschläge gemacht werden, wie es weitergehen soll, werden wir das nicht erreichen.
Herr Kollege, bitte.
Deshalb werden wir unsere Verantwortung wahrnehmen und diesen Weg konsequent weitergehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Steenblock, ich werde mich nicht an
diesem Schwarzer-Peter-Spiel beteiligen. Es bringt uns
nicht weiter.
({0})
Sie sind in der Verantwortung; denn Sie stellen die Bundesregierung. Es läuft nicht. Schauen Sie auf die
5,2 Millionen Arbeitslosen! Dafür müssen Sie die Verantwortung übernehmen.
({1})
Die europäischen Regierungschefs werden sich in
Brüssel vor allen Dingen mit dem Stabilitätspakt und mit
der Neuausrichtung der so genannten Lissabon-Strategie
beschäftigen. Nach der Lissabon-Strategie der EU - sie
ist in Lissabon beschlossen, deswegen heißt sie so sollte die EU von 2000 bis 2010 zur dynamischsten
Wirtschaftsregion der Welt werden. Man muss schon
jetzt, zur Halbzeit, feststellen: Diese Strategie ist grandios gescheitert; das hat der von Wim Kok vorgelegte
Halbzeitbericht unmissverständlich klar gemacht. Der
Abstand - um das einmal zu verdeutlichen - zur führenden Industrienation USA hat sich weiter vergrößert statt
verkleinert. Die EU hinkt derzeit den USA bei der Arbeitsproduktivität pro Beschäftigtem um 44 Prozent, bei
der Beschäftigungsquote um 11 Prozent und beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 60 Prozent hinterher.
Wenn die EU im weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze - darum geht es hier - nicht weiter ins Hintertreffen geraten will, muss sie umsteuern. Setzen Sie diesen
Prozess - das sage ich zum nicht anwesenden Bundeskanzler - auf dem bevorstehenden Europäischen Rat in
Gang! Notwendig ist vor allem eine Umschichtung des
EU-Haushaltes zugunsten der Mittel, die in Bildung,
Wissenschaft und Forschung fließen, wie wir das in unserem Antrag gefordert haben. 3 Prozent sind eindeutig
zu wenig, um diesen Abstand wenigstens etwas zu verringern.
({2})
Die wissenschaftlich-technische Entwicklung entscheidet darüber, wer im wirtschaftlichen Wettbewerb
die Nase vorne hat. Die Forschung von heute sichert Arbeitsplätze von morgen. Wir sind davon überzeugt, dass
die große technologische Lücke, die sich zwischen
Europa und den USA aufgetan hat, vor allem dadurch
verursacht worden ist, dass die USA seit Jahren deutlich
mehr Geld für die Forschung eingesetzt haben. Damit
Europa seinen technologischen Rückstand aufholen
kann, muss es mehr Mittel für angewandte Forschung
aufwenden und effizienter und zielgenauer einsetzen. Es
ist eine Chance für Europa, das so zu machen und besser
zusammenzuarbeiten.
Die Schuld für die insgesamt negative Entwicklung
liegt nicht in erster Linie in Brüssel. Die EU kann nun
einmal nicht besser sein als die Summe ihrer Mitgliedstaaten. Da liegt manches im Argen, insbesondere in
Deutschland. Das ist kein Schlechtreden, sondern das
muss man einmal deutlich sagen. Ansonsten kann man
nichts verändern. Deutschland leidet seit Jahren an nicht
oder zu zaghaft in Angriff genommenen Reformen und
fällt deshalb bei fast allen wirtschaftlichen Kennzahlen
im europäischen Vergleich zurück. Wenn aber die bedeutendste Volkswirtschaft der Europäischen Union krankt,
kann Europa nicht so vorankommen, wie das nötig und
wünschenswert ist.
({3})
Nun ein Wort zur umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie. Herr Bodewig, das Ziel dieser Richtlinie ist es, die
Wettbewerbsfähigkeit Europas durch den Abbau unnötiJürgen Türk
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ger Bürokratie und die Vereinfachung der Verfahren in
den Mitgliedstaaten zu erhöhen; darin stimmen wir
wahrscheinlich noch überein. Der Kern des Richtlinienentwurfs, das Herkunftslandprinzip, muss natürlich
noch genauer definiert werden. Vielleicht können wir
das auch zusammen machen. Wir verstehen darunter,
dass man die Bürokratie für den freien Wettbewerb
schon im Herkunftsland erledigt und dann die Regeln
des Gastlandes erfüllt. So sehen wir das Prinzip.
Natürlich bedarf die Richtlinie noch einiger Klarstellungen. So ist es notwendig, die Voraussetzungen für
eine enge grenzüberschreitende Kooperation von Behörden zu schaffen. In sensiblen Bereichen müssen großzügige Übergangsregelungen gelten, und zwar in Stufen.
Natürlich sind wir nicht daran interessiert, dass Verwerfungen entstehen. Daher muss man die Regelungen entsprechend anpassen. Aber das Ziel muss in Sicht bleiben.
({4})
Zudem muss eine Rechtsaufsicht durch das Inland
gewährleistet werden, damit es zu keiner Inländerdiskriminierung kommt.
Wir bekennen uns zur Liberalisierung des Binnenmarktes. Dazu zählt auch und gerade die Liberalisierung
des besonders wachstumsträchtigen Dienstleistungssektors. Wir fordern dazu auf, mit Augenmaß an der Erarbeitung der Richtlinie mitzuwirken und sie nicht zu behindern oder gar zu bremsen.
Wir fordern auch, nicht länger die Axt an das Vertragswerk zu legen, das Europas Wachstum sichern soll:
den Stabilitätspakt. Die Bundesregierung hat eine unrühmliche Vorreiterrolle dabei gespielt, den Stabilitätspakt bereits ein Jahr nach Lissabon zu beerdigen, indem
sie dreimal hintereinander - Sie wissen das -, nämlich
2002, 2003 und 2004, die Höchstgrenze für die jährliche
Neuverschuldung und für die Gesamtverschuldung überschritten hat. Das wird sie wahrscheinlich auch 2005 tun.
Jetzt versucht sie, den Stabilitätspakt aufzuweichen.
Ich kann das nicht verstehen. Wenn Sie versuchen, aus
5 Prozent 3 Prozent zu machen, dann verstoßen Sie gegen alle Grundrechenarten. Das diszipliniert auch nicht.
Sie stellen damit nicht nur die luxemburgische Präsidentschaft infrage, sondern Sie gefährden den ganzen
Terminplan für die finanzielle Vorausschau ab 2007.
({5})
Sie wissen, dass das insgesamt nicht mehr aufgehen
wird, wenn Luxemburg scheitert. Das nehmen Sie in
Kauf.
Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die Zeit. Es ist
eine Debatte, in der alle ein bisschen Mühe haben, die
Zeit einzuhalten.
Das ist nicht in Ordnung. Wir wollten klar und deutlich sagen, dass man das nicht machen kann.
c
({0})
Wir appellieren an Sie, beim Rat nicht alles aufs Spiel zu
setzen und zu verhindern, dass Deutschland am Ende
noch mehr zahlen muss, als es jetzt schon zahlt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner
Bertl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wollen ein Europa, das für seine Bürgerinnen und
Bürger ein Raum der Freiheit, der sozialen Sicherheit,
des Wachstums und der Beschäftigung ist. Ich glaube, es
ist unsere Aufgabe, den weiteren Ablauf und die Konzentration der Lissabon-Strategie so in Europa zu gestalten, dass die Vollendung des Binnenmarktes unter dieser
Zielsetzung erfolgt. Wir müssen begreifen, dass das nur
dann von den Menschen in 25 Staaten akzeptiert und
mitgetragen wird, wenn dieser Weg nicht von Ängsten
um Arbeitsplätze, um soziale Standards und um soziale
Sicherungssysteme begleitet wird, die manchmal durch
Richtlinien bei den Menschen in Europa entstehen. Europa ist etabliert und gewollt. Die Bürger zeigen uns
aber oft, dass sie sich noch nicht sicher fühlen und Unsicherheit und Sorgen den Weg der 25 Staaten zum vollendeten Binnenmarkt begleiten.
Die Lissabon-Strategie - ein Begriff seit März 2000 zeigte für mich einen sehr ambitionierten Weg der Europäischen Union auf. Es gibt acht Hauptziele und 120 untergeordnete Ziele und alle haben das Bestreben, den
Dreiklang von Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialem Zusammenhalt so zu gestalten, dass am Ende ein
Lebensraum für fast eine halbe Milliarde Menschen so
gefestigt steht, dass er Freiheit, soziale Sicherheit und
Wohlstand bietet. Das ist ein Ziel, das zu verwirklichen
sich lohnt.
({0})
Der Halbzeitbericht von Wim Kok zeigt uns, dass wir
in vielen Bereichen den richtigen Weg eingeschlagen haben, er zeigt aber auch, und zwar sehr deutlich, wie notwendig es ist, Ziele gestrafft anzugehen und sich vor allen Dingen auf ein Weniger zu konzentrieren. Der
Hinweis auf notwendige Konzentration, nämlich auf
nachhaltiges Wachstum und Steigerung der Produktivität, auf Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und - ganz
entscheidend - auf Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovationen sowie die Erhöhung der Beschäftigungsrate, zeigt in der Halbzeitbilanz, dass auch wir in
Deutschland Chancen haben, die komplexen Herausforderungen anzunehmen und ein europäisches Sozialstaats- und Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das den
Menschen soziale Sicherheit und Wohlstand in diesem
Raum der 25 ermöglicht.
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Wir haben in unserem Land damit begonnen.
({1})
Die Agenda 2010 ist die größte Arbeitsmarktreform, die
je gemacht worden ist.
({2})
Es sind tief greifende Umstrukturierungen unseres Sozialsystems vorgenommen worden. Wir haben über
300 000 Menschen aus der Sozialhilfe herausgeholt und
ihnen einen Zugang zu aktiver Arbeitsmarktpolitik ermöglicht. Wir haben über 180 000 Jugendliche, die in
diesem Land kein Mensch mehr zur Kenntnis genommen hat, aus der Sackgasse geholt und bieten ihnen die
Möglichkeit, durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik gefördert zu werden.
({3})
Wir haben damit begonnen, steuerliche Entlastungen
mit einem Volumen von über 50 Milliarden Euro auf den
Weg zu bringen. Ökologische Nachhaltigkeit ist keine
platte Formel, sondern eine entscheidende Zielsetzung.
Ich glaube, es ist bereits deutlich geworden, dass Bildung, Forschung und Entwicklung in den Mittelpunkt
gestellt werden müssen. Das wird von uns auch getan
und es zeigt bereits Wirkung.
Wenn der Bericht von Wim Kok eine Botschaft enthält, dann ist es der Auftrag, mit aller Konzentration dafür zu sorgen, dass finanzielle Ressourcen in den Mitgliedstaaten insgesamt in Bereiche mit hohen
Wachstumspotenzialen gelenkt werden. Wir müssen in
Europa ein Umfeld für kleine und mittlere Unternehmen
schaffen, welches ihnen Zugang zu öffentlich geförderter Forschung und Entwicklung ermöglicht. Wir müssen
den Zugang zu den Märkten ermöglichen und insbesondere den Zugang zu finanziellen Mitteln fördern, die Innovationen und Investitionen sicher gestalten und gerade
kleine Unternehmen hinsichtlich ihrer Liquidität besser
stellen. Denn in diesem Bereich bestehen die großen
Probleme, sowohl bei uns als auch in der Europäischen
Union.
Das Ziel, Bildung und Innovationen zu fördern, verlangt auch von uns in unserem Land die Konzentration
unserer finanziellen Ressourcen. Wie wir bereits gehört
haben, gehen Sie diesen Weg entweder kaum oder gar
nicht mit.
Wir wollen bis 2010 die Ausgaben für Forschung
und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen. Dabei ist auch die Wirtschaft gefordert.
Der Blick in andere Länder - insbesondere in die USA -,
wo Investitionen im Bereich der Wirtschaft in Forschung
und Entwicklung fließen und zu entsprechenden Ergebnissen führen, die uns schon heute Sorgen machen müssen, zeigt, dass wir auf diesem Weg auch gemeinsam mit
der Wirtschaft noch einiges in unserem Land erreichen
müssen.
({4})
Die Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans im
Hinblick auf Arbeit für Junge und Ältere - ich erspare
mir den Hinweis auf die demographische Situation; sie
ist, glaube ich, bekannt - besteht in der Tat. Unser Weg
hat bereits zu ersten Ergebnissen geführt. Vieles gerät
schnell in Vergessenheit. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes bietet in weiten Bereichen jungen
Menschen Möglichkeiten, an Bildung und Berufsbildung teilzuhaben, die es früher nicht gegeben hat. Was
das Sozialgesetzbuch II angeht, stehen 6,8 Milliarden
Euro für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik
zur Verfügung. Das zeigt, dass wir den richtigen Weg
verfolgen.
({5})
Ein Ausbildungsangebot für alle jungen Menschen
bis 25 Jahre hat es in diesem Land noch nie gegeben.
Wie bereits gestern deutlich geworden ist, ist die Möglichkeit, Maßnahmen für Ältere aufzuzeigen, geschaffen
worden. Vieles davon läuft erst seit dem 1. Januar und
zeigt langsam Wirkung. Manches wird erst in den nächsten Wochen und Monaten seine Wirkung entfalten.
Aber ich glaube, der von uns verfolgte Weg, mit dem
wir auch die Konsequenz aus dem Kok-Bericht ziehen,
ist richtig und er zeigt, dass wir die richtige Richtung
einschlagen wollen. Mehr Wachstum und die Verwirklichung der Wissensgesellschaft müssen für uns in Europa mit der konsequenten Förderung von Forschung
und Entwicklung einhergehen, und zwar - das sage ich
deutlich - mit höherem Einsatz in allen Bereichen der
Bildung.
Wer die sozialen Gegensätze in Europa verringern
will, hat meines Erachtens nur eine Möglichkeit: Investition in Bildung, und zwar für die junge Generation,
und lebensbegleitendes Lernen für alle, weil es das beste
Mittel gegen soziale Ausgrenzung im Verbund der
25 Staaten in der Europäischen Union ist. Ich glaube, darin liegt unsere Zukunft.
Ich bin sicher, dass wir den Wim-Kok-Bericht verstanden haben. Wir haben unsere Politik entsprechend
darauf ausgerichtet. Die Agenda 2010 zeigt, dass wir
diesen Weg sehr konsequent verfolgen werden. Ich fordere Sie auf: Begleiten Sie uns auf diesem Weg, insbesondere was die Investitionen in Bildung, Forschung und
Entwicklung angeht, die im Grunde das Einzige sind,
was uns übrig bleibt. Diesen Weg müssen wir in
Deutschland gehen, um unsere Zukunft in Europa und
der Welt zu gestalten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthäus Strebl.
({0})
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der im Jahr 2000 verabschiedeten LissabonStrategie sollte die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der
Welt gemacht werden. Bereits fünf Jahre später ist klar,
dass Europa die Lissabon-Ziele verfehlt hat und sich
Deutschland wegen der rot-grünen Politik als Bremser
erweist. Die Gründe hierfür sind offensichtlich: Ursprünglich war eine EU-weite Anhebung der Beschäftigungsrate auf 70 Prozent geplant. Der Anstieg der Beschäftigung erfolgte jedoch zu Beginn sehr zögerlich
und kam 2003 völlig zum Erliegen. Mit einer Beschäftigungsquote von europaweit 64,3 Prozent im Jahr 2003
ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Die Wirtschaft
legte nur bescheidene Wachstumsraten vor. In Deutschland gab es so gut wie gar kein Wachstum, weil die makroökonomischen Bedingungen bei uns nicht stimmen.
({0})
Das Produktivwachstum verlangsamte sich. So lag das
Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Europa bei 91 Prozent, während es in den Vereinigten Staaten von Amerika bei über 140 Prozent lag. Hinzu kommen weitere
Herausforderungen wie die zunehmende Überalterung in
Europa, die sich weiter beschleunigende Globalisierung
sowie die Sorgen und Möglichkeiten, die sich aus der
EU-Osterweiterung ergeben.
Die Defizite Europas sind struktureller Natur. Europa
ist hinter die USA und Asien zurückgefallen. Dabei
sollte Deutschland als größte Exportnation in der Gemeinschaft als der Wachstumsmotor und Impulsgeber
agieren. Stattdessen begnügt sich Deutschland damit,
Schlusslicht innerhalb der EU zu sein.
({1})
Die Bundesregierung hat im Wettbewerb mit den Mitgliedstaaten zwar Rekorde aufzuweisen. Doch leider
handelt es sich dabei um Negativrekorde. Die Arbeitslosigkeit ist auf einen historischen Höchststand von offiziell 5,2 Millionen bzw. tatsächlich weit über 7 Millionen Arbeitslose angewachsen. In Deutschland betrug das
Wachstum des Bruttoinlandsproduktes nur 1,6 Prozent
im vergangenen Jahr, während die Wirtschaft in den
OECD-Staaten im Jahr 2004 um 2,9 Prozent gewachsen
ist. Außerdem kämpfen die Sozialversicherungen bei
uns nach wie vor gegen den Bankrott.
Die Bundesregierung schafft es nicht, durchgreifende
strukturelle Veränderungen in die Wege zu leiten. Sie
lebt in dem Irrglauben, mit der Agenda 2010 alles
Nötige getan zu haben, um eine Verbesserung herbeizuführen.
({2})
Der Kanzler konnte in seiner gestrigen Regierungserklärung keine zukunftsweisenden Perspektiven aufzeigen,
und das, obwohl er fast eineinhalb Stunden Redezeit
hatte.
Es geht nicht darum, mit kurzfristigen Maßnahmen
eine Staatsinsolvenz in Deutschland abzuwenden. Viel
wichtiger ist es, auf die Herausforderungen der Bevölkerungsentwicklung, der Globalisierung und vor allen Dingen der EU-Osterweiterung zu reagieren. Daher stellt
sich die Frage: Meine sehr verehrten Damen und Herren
von Rot-Grün, was machen Sie? Sie verstricken sich mit
überflüssigen Gesetzen, wie zum Beispiel mit dem Antidiskriminierungsgesetz. Bereits am Entwurf erkennt
man, dass dieses Gesetz zu mehr Bürokratie, explodierenden Kosten und einer wahren Klageflut führen wird.
Es ist ein Jobkiller. Auch rechtliche Vereinfachungen
oder Klarstellungen machen diesen Entwurf nicht besser.
Daher fordere ich Sie auf: Nehmen Sie Ihr Bürokratiemonstrum komplett vom Tisch!
({3})
Die Bevölkerung erlebte bereits in den letzten Jahren
eine Flut von politischen Maßnahmen, die weitgehend
wirkungslos geblieben sind. Nur dort, wo die Union mitgemacht hat, ist es etwas geworden.
Europa kann nur einen großen Schub erhalten, wenn
Deutschland wieder auf die Füße kommt. Dazu gehören
in erster Linie ein Aufschwung in der Wirtschaft und infolgedessen mehr Arbeitsplätze. Das ist nur unter den
richtigen politischen Rahmenbedingungen möglich.
Auch die deutschen Manager teilen nicht den Optimismus, den der Kanzler gestern hier mit seiner eineinhalbstündigen Rede verbreiten wollte. Einer Umfrage zufolge wiegt für die Manager besonders schwer, dass
angesichts der rückläufigen Wachstumsprognosen Erfolg versprechende Konzepte fehlen. Nur noch
21 Prozent erwarten, dass sich die Standortbedingungen
künftig verbessern werden. Das ist das Ergebnis einer
Umfrage unter 869 Topmanagern in Deutschland, die
vom „Handelsblatt“ in Auftrag gegeben wurde. Eine
Verbesserung der Standortbedingungen wäre aber eine
Grundvoraussetzung für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Deutschland.
Daher fordern wir diese Bundesregierung auf, auf nationaler und auf europäischer Ebene Wachstum und Arbeitsplätze in das Zentrum der Lissabon-Strategie zu
stellen,
({4})
in dem Kernbereich Wirtschaft und Soziales endlich ihrer
nationalen Verantwortung nachzukommen, sich nicht auf
die bloße Umsetzung europäischer Richtlinien zu beschränken oder eine wachstumshemmende Übererfüllung
anzustreben und vor allen Dingen endlich eine nationale
Gesamtstrategie vorzulegen, die der beschäftigungswirksamen Wachstumsförderung eindeutig Priorität einräumt
und über bisherige Reformvorhaben hinausgeht.
Gesamteuropäische Beschäftigungsprogramme sind
zwar schön und gut; aber nur, wenn diese Bundesregierung die nationalen Brennpunkte in den Griff bekommt,
kann das Ziel einer dynamischen europäischen Wirtschaftsregion Wirklichkeit werden.
({5})
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Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit vorbei ist.
Ja, Frau Präsidentin.
Ich komme zum Schluss. Der Kanzler und sein Visakanzler können sich selbst beweihräuchern, wie sie wollen: Für sie springt nur ein müder Applaus der rot-grünen Koalition heraus; aber Deutschland bringt es nicht
voran.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Axel Schäfer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die europäische Agenda 2010 ist der Lissabon-Prozess.
Die deutsche Agenda 2010 ist die Regierungserklärung
von Gerhard Schröder. Diese Agenda ist gestern konkretisiert und weiterentwickelt worden; sie ist auf einem guten Wege.
({0})
Entscheidend in Bezug auf den Lissabon-Prozess ist,
dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Das tut
diese Regierung; aber auch die Opposition - es ist hier
angesprochen worden - trägt Verantwortung. Sie, die
Opposition, haben zwei Möglichkeiten: Entweder beharren Sie im Bundesrat auf Ihrer Mitentscheidung und stellen sich Ihrer Mitverantwortung oder Sie beharren im
Bundesrat auf Ihrer Mitentscheidung und stehlen sich
dann - mit allen Konsequenzen - immer wieder aufs
Neue aus der Verantwortung. Vor dieser Alternative stehen Sie. Darüber müssen wir hier reden.
({1})
An der Zahl der Arbeitslosen kann man das sehr
leicht deutlich machen. Wir haben uns gemeinsam darauf verständigt, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen
werden. Das ist nicht wegen der Statistik geschehen,
sondern um klar zu machen, dass diese Menschen eine
Chance bekommen sollen. Die Statistik ergibt, dass jetzt
5,2 Millionen Menschen arbeitslos sind. Damit sind
genauso viele Menschen arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger wie 1998 am Ende der Ära Kohl. Das ist die
Situation. Darüber reden Sie nicht. Sie betreiben Angstmache und bauen einen Popanz auf. Sie verunsichern
Menschen und Sie beeinträchtigen damit die Chancen,
die wir gemeinsam nutzen müssen, damit wir in
Deutschland vorankommen.
({2})
Lieber Kollege Hintze, Sie versuchen, den Bundespräsidenten hier im Parlament parteipolitisch zu instrumentalisieren. In der Praxis heißt das nicht nur, dass Sie
dem Amt des Staatsoberhauptes auf längere Sicht schaden, sondern auch, dass Ihre Partei hier, was eigene
Ideen angeht, abdankt. Das haben wir bei Ihnen festgestellt.
({3})
Ich komme auf die europäischen Statistiken zu sprechen. Man muss mit Begriffen sehr aufpassen, zum Beispiel wenn man über Elend redet. Die Gefahr, in
Deutschland arm zu werden, ist insgesamt relativ gering.
Konkret gesprochen: In 22 anderen europäischen Ländern ist diese Gefahr größer. Auch darauf sollte man aufmerksam machen, damit man bei den Leuten keine Armutsangst schürt. Besser als Angst zu schüren ist es,
ihnen zu sagen: Jawohl, wir haben die Chancen, deutsche Probleme auch in und mit Europa zu lösen; wir sind
nicht immer nur die Letzten. - Angst zu schüren ist
wirklich das Letzte, was man sich als Argument einfallen lassen sollte.
({4})
Lieber Kollege Türk, wir ziehen heute Zwischenbilanz. Das ist wie beim Fußball: Zur Halbzeit stellt man
fest, wo man steht. Wir stehen nicht so gut da, wie wir
wollten, und wir müssen uns anstrengen. Aber wer ein
Spiel bereits zur Halbzeit verloren gibt, der kann und
wird 2010 natürlich nicht gewinnen. Wir wollen gewinnen und wir werden gewinnen.
({5})
Diese Bundesregierung hat im Gegensatz zu ihrer
Vorgängerregierung die Beiträge in den Sozialsystemen
nicht weiter ansteigen lassen. Wir haben die Rentenversicherung stabilisiert und wir haben eine Senkung der
Beiträge zur Krankenversicherung ermöglicht. Dies ist
eine der zentralen Voraussetzungen für den LissabonProzess. Das ist auch von der Kommission ausdrücklich
anerkannt worden.
Es ist wichtig, an diesem 18. März darauf aufmerksam zu machen: Wir befinden uns zeitlich in der Mitte
des Solidarpaktes, der bekanntlich - so lautet die Vereinbarung - eine Laufzeit bis 2019 hat. Dieser Solidarpakt macht die spezifische Lage Deutschlands deutlich,
für die es in Europa bekanntlich keinen Vergleich gibt,
was uns die Kommission auch immer konzediert hat. Ich
will hier noch einmal betonen: Wir befinden uns in der
Mitte eines welthistorischen Experimentes, das darin besteht, ein geteiltes Land mit unterschiedlichen Sozialund Wirtschaftssystemen auf der Basis von Frieden und
Demokratie zu vereinigen. Dafür gab es vorher keine
Konzepte. Das heißt, wir müssen uns immer wieder aufs
Neue anstrengen, wir müssen Dinge verändern, wir müssen dazulernen. Das machen wir auch. Nur dann, wenn
Axel Schäfer ({6})
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wir diesen Weg gehen, haben wir in Deutschland und
mit Europa Erfolg.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns dabei
durchaus auch einmal zur europäischen Außensicht
kommen. Ich möchte aus der französischen, konservativ
orientierten Zeitung „Le Figaro“ zitieren:
Wenn in Deutschland reformiert wird, dann wird
das gründlich getan. Als es darum ging, die Großzügigkeit des Sozialstaates einzudämmen, hat die
deutsche Regierung den starren Arbeitsmarkt
ebenso wie die Renten reformiert. In Frankreich begnügt man sich hingegen zu oft mit Einzelreformen
ohne Gesamtkonzept. So werden oft neue Ungleichheiten geschaffen. Berlin besitzt einen weiteren … Vorzug, die Beständigkeit.
Mit „Berlin“ ist die Bundesregierung gemeint.
In Paris hat man allzu oft den Eindruck, von einem
zum anderen Plan zu hüpfen, je nach den Vorstellungen einzelner Minister.
So weit „Le Figaro“.
({8})
Ich komme jetzt bewusst, weil das angesprochen worden ist, in diesem Zusammenhang auf den Stabilitätspakt
zu sprechen. Ich gebe Ihnen den Rat: Lies nach bei
Helmut Schmidt! Er verfügt bekanntlich auch heute
noch bei Ihnen, bei CDU/CSU und FDP, zu Recht über
hohes Ansehen. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass
es erstens gelungen ist, tatsächlich eine stabile europäische Währung zu schaffen - Währungsstabilität ist in
Deutschland bekanntlich besonders wichtig -, und dass
wir zweitens eine Flexibilisierung des Paktes brauchen.
Das ist auch richtig, denke ich.
Der Lissabon-Prozess darf nicht allein im Hinblick
auf Wirtschaft, Arbeit und Wissen beurteilt werden.
Vielmehr muss er im Zusammenhang mit dem europäischen Prozess der Entwicklung und der Neu- und Umgestaltung, in dem wir uns befinden, gesehen werden.
Dazu gehören drei Dinge: Das Erste ist die Verfassung,
in der wir gemeinsame Werte definieren und Handlungsfähigkeit gewährleisten. Das Zweite ist der Finanzrahmen, der auf solide Weise die Notwendigkeiten mit den
Möglichkeiten verbindet. Das Dritte ist ein außen- und
sicherheitspolitisches Konzept, das die Europäische
Union als Friedensmacht stärkt. Auf all diesen Feldern
hat sich seit Beginn des Lissabon-Prozesses im Jahr
2000 Entscheidendes getan. Das Wichtigste ist: Wir sind
sowohl mit der Verfassung, mit der Agenda 2007 als
auch mit dem Konzept von Brüssel aus dem Jahre 2003
auf einem guten Weg.
Ich sage ganz selbstbewusst: Diese Initiativen sind
entscheidend von der deutschen Bundesregierung gekommen; von ihr kamen die wesentlichen Impulse in all
diesen drei Feldern.
({9})
Die Opposition hat in der Frage der Verfassung zögerlich
Anschluss gefunden. Sie hat in Bezug auf die finanzielle
Vorausschau sofort der Regierung zugestimmt. Sie hat
den Brüssel-Gipfel erst geschmäht und hat dann geschwiegen, als sie gesehen hat: Wir sind in diesem Bereich auch außen- und sicherheitspolitisch vorangekommen. Lissabon zeigt unser Verständnis von Politik:
kritisch, aber auch selbstkritisch. Ferner zeigt dieser Prozess, dass die rot-grüne Bundesregierung der Garant dafür ist, die deutschen Interessen in Europa zu vertreten
und zugleich die europäische Einigung als das wichtigste
deutsche Interesse anzusehen.
Vielen Dank.
({10})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5116 und 15/5025 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/5131 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sowie an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Roedel, Willi Zylajew, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Weniger Bürokratie in Heimen
- Drucksache 15/4932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint so. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation der Einrichtungen der stationären Altenhilfe hat
sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend, ja
man könnte sagen, drastisch verändert. Altenwohnheime
wurden zu Pflegeheimen. Bei neuen Einrichtungen dominiert die Zahl der Pflegeplätze ganz erheblich. Das
durchschnittliche Eintrittsalter liegt weit über 80 Jahre.
Das Nebeneinanderbestehen mehrerer Erkrankungen
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sowie die Zunahme der Altersdemenz erfordern von der
Altenpflege eine deutlich höhere Leistungsqualität. Begleitet wird dies von einem dramatischen Personalmangel in der Pflege. Heimleitungen und Pflegekräfte stöhnen zu Recht über das Anwachsen von Vorschriften, den
zusätzlichen Aufwand für Doppel- und Mehrfachprüfungen sowie steigende Verwaltungs- und Dokumentationspflichten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die
Regelungen im Heimgesetz, im Pflege-Versicherungsgesetz und auch andere der fast 800 geltenden Vorschriften
teilweise widersprechen.
Wer sich mit dem Thema Pflege auseinander setzt,
stellt fest: Es besteht dringender Handlungsbedarf zur
Entlastung der Leitungs- und Pflegekräfte in den Heimen. Die Bürokratie muss beschränkt werden, damit die
Qualität von Betreuung und Pflege in Zukunft gesichert
bleibt. Angesichts der zunehmenden Klagen hat die
Unionsfraktion im Juli letzten Jahres diesbezüglich eine
Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Diese
meint jedoch, dass der Zeitbedarf für Verwaltungstätigkeiten oft überschätzt werde und alle indirekt zu erbringenden Leistungen beim Zeitaufwand lediglich 17 Prozent ausmachten.
({0})
Der Aufwand für die Pflegedokumentation liege lediglich bei sieben Minuten pro Tag und Bewohner.
Meine Damen und Herren, die Realität sieht völlig
anders aus.
({1})
Dies haben nicht nur unsere Besuche in den Heimen,
sondern auch zahlreiche Fachgespräche erbracht, die wir
mit Experten in Ländern und Verbänden geführt haben,
um weiter gehende Informationen zu erhalten. Zahlreiche Verbände haben uns darauf hingewiesen, dass vor
allem durch das im Jahre 2002 in Kraft getretene novellierte Heimgesetz sowie das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand für
die Träger und Einrichtungen der Altenhilfe enorm gestiegen ist.
Die Union hatte bereits im Jahre 2001, als über die
Novellierung des Heimgesetzes diskutiert wurde, auf die
Gefahr einer zunehmenden Bürokratisierung hingewiesen. Die von uns damals befürchtete Bürokratisierung ist
nun zur Realität geworden. Arbeitszeitmessungen zeigen, dass lediglich 40 bis 55 Prozent der Arbeitszeit von
Pflegekräften direkt für und mit den Bewohnern von Altenhilfeeinrichtungen verbracht werden. Die übrige Zeit,
also mindestens die Hälfte der Zeit, wird auf die Bearbeitung der vielen bürokratischen Anforderungen und
auf Nebentätigkeiten verwendet.
({2})
Wer wie viele von uns regelmäßig Heime besucht, weiß,
dass die Heimleiter und Pflegekräfte für so viel Bürokratieaufwand kein Verständnis haben,
({3})
denn - darin sind wir uns ja einig, meine Damen und
Herren - es fehlt das Wesentliche, nämlich die Zeit für
die Versorgung und Betreuung der Pflegebedürftigen in
den Heimen.
({4})
Zahlreiche Institutionen neben Heimaufsicht und Medizinischem Dienst der Krankenkassen nehmen Prüfungen in Heimen vor. Fachleute sprechen in diesem
Zusammenhang von einer selten koordinierbaren Kontrollwut, die im Betriebsalltag zu erheblichen Behinderungen führt. Die Vorbereitung verschiedener Prüftermine sowie die Begleitung der Prüfungen verhindern die
eigentliche Pflegearbeit. Viele Prüfungsinhalte überschneiden sich. Prüfungen des gleichen Sachverhalts finden nicht nur durch verschiedene Behörden statt, sondern auch aufgrund verschiedener Prüfungsrichtlinien.
Es ist ganz klar, dass es zu widersprüchlichen Beurteilungen kommt. Zum Beispiel sind auf der einen Seite
Bewohnerbereiche wohnlich zu gestalten; auf der anderen Seite jedoch müssen Hygieneanforderungen oder
Brandschutzauflagen beachtet werden. Dabei kommt es
natürlich immer wieder zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen.
In manchen Bereichen treten Doppel- und Mehrfachprüfungen auf. Koordination und Informationsaustausch
zwischen den Prüfungsbehörden sind verbesserungsfähig. Daher ist eine bessere terminliche und inhaltliche
Zusammenarbeit der Prüfinstanzen erforderlich, um deren Kompetenzen klarer voneinander abzugrenzen bzw.
miteinander in Einklang zu bringen.
Wichtig wäre ein gemeinsamer Prüf- und Fragenkatalog.
({5})
Ziel muss sein, dass die verschiedenen Prüfungen zu einer besseren Pflege führen und die Ergebnisqualität in
den Mittelpunkt der Prüfungen rückt.
({6})
Nach dem Heimgesetz können Prüfungen jederzeit unangemeldet erfolgen. Die Union hält dies für unverzichtbar. Dabei muss allerdings die Ergebnisqualität eindeutig
im Vordergrund der Prüfung stehen. Unangemeldete
Kontrollen zeigen die Wirklichkeit des Betriebsalltags in
Pflegeheimen. Heime, die eine gute Leistung erbringen,
werden unangemeldete Kontrollen jederzeit begrüßen.
Es zeigt sich auch, dass sich einige Regelungen im
Heimgesetz und im Pflege-Versicherungsgesetz widersprechen. Zum Beispiel endet die Zahlungspflicht nach
dem SGB XI mit dem Tod des Heimbewohners. Im
Heimgesetz dagegen ist eine zweiwöchige Fortgeltung
der Vertragsdauer vorgesehen. Wir halten die jetzige
Regelung im Heimgesetz für praxisnah und gerecht und
befürworten eine Klarstellung in diesem Sinne. Wir haben uns bereits bei der Novellierung des Heimgesetzes
für diese Regelung ausgesprochen und meinen, dass das
Pflege-Versicherungsgesetz entsprechend angepasst werden sollte.
({7})
.30-12.40.doc
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Die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte von
Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen ist sinnvoll
und notwendig.
({8})
Aber auch hier ist zu prüfen, inwieweit schriftliche Stellungnahmen erforderlich sind. Wichtig ist uns auch, die
Mitwirkung der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken, die selbst nicht in der Lage sind, ihre Anliegen vorzubringen. Hier gibt es Möglichkeiten im Heimgesetz,
die aber bisher viel zu wenig genutzt werden. Wir müssen darauf drängen, dass diese Möglichkeiten tatsächlich
ausgeschöpft werden.
Pflegedokumentation ist sinnvoll und eine wichtige
Voraussetzung für die Qualitätsentwicklung und die
Qualitätssicherung. Im Vordergrund der Dokumentation
muss aber auch das Ergebnis der Pflege stehen, was in
unserem Antrag eine durchgehende Leitlinie darstellt.
Daher muss der zeitliche und inhaltliche Umfang auf das
Sinnvolle und Notwendige begrenzt werden. Dies kann
zum Beispiel durch eine stärkere Standardisierung der
Pflegedokumentation erfolgen. In Bayern wurde dafür
ein Konzept erarbeitet, das bereits über ein Jahr lang erprobt wurde. Die zeitliche Ersparnis der Pflegekräfte
durch die Verbesserung der organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen bei der Pflegedokumentation liegt bei etwa 50 Prozent. Würde dieses Konzept
bundesweit umgesetzt, könnte Arbeitszeit im Gegenwert
von circa 37 Millionen Euro freigesetzt werden, die wir
für die Pflege am Menschen natürlich dringend gebrauchen könnten.
({9})
Alternative Wohn- und Betreuungskonzepte gewinnen zunehmend an Bedeutung. Diesen innovativen
Ansätzen stehen jedoch gesetzliche Regelungen in der
Heimmindestbauverordnung und im Heimgesetz entgegen. Integriertes Wohnen und betreute Wohngemeinschaften werden an Bedeutung gewinnen. Deswegen
müssen wir das Heimgesetz und die einschlägigen
Rechtsverordnungen entsprechend anpassen.
({10})
Auch im Bereich der Behindertenhilfe schränken
starre Regelungen die rehabilitationsfördernden Wohnund Lebensformen ein. Das Letzte, was eine gute Pflege
gebrauchen kann, ist eine überbordende Bürokratie;
denn der zunehmende Bürokratismus geht zulasten der
Qualität in den Einrichtungen. Die Zeit, die für die Bürokratie aufgewendet werden muss, fehlt für die Pflege
und für die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner.
Die Menschen in den Heimen haben mehr Zuwendung verdient.
({11})
Deswegen fordere ich Sie, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition, auf, unsere Forderungen
aufzunehmen und gemeinsam mit uns zum Wohle der
Heimbewohner umzusetzen.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Graf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit dem Jahr 2003 haben die Ministerinnen Schmidt
und Schmidt, also Renate und Ulla, den runden Tisch
„Pflege“ eingerichtet. Durch die Einbindung von Bund,
Ländern, Kostenträgern, Verbänden, Interessenvertretungen und Fachwissenschaft sind dort alle Kräfte gebündelt worden, die in der Pflege Verantwortung tragen.
Auch die Vertreterinnen und Vertreter der betroffenen älteren und pflegebedürftigen Menschen werden beteiligt.
Eine wichtige Arbeitsgruppe dieses runden Tisches
befasst sich speziell mit der Aufgabe, Entbürokratisierungspotenziale in der Altenpflege aufzudecken und auf
breiter Basis, also zusammen mit den Betroffenen und
nicht über ihren Kopf hinweg, Lösungsvorschläge zu
finden.
({0})
Eine der Grundlagen der Diskussion des runden Tisches war die Tatsache, dass sich, wie erwähnt, die Situation in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe
in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert hat und
die ambulante Pflege eine immer größere Rolle spielt.
Während früher oft Menschen in - aus heutiger Sicht relativ jungen Jahren, also mit Anfang 70, ins Altenheim
gezogen und dort alt geworden sind, liegt nun das durchschnittliche Einzugsalter bei über 80 Jahren. Erst wenn
die Betroffenen allein gar nicht mehr zurechtkommen,
Demenzerkrankungen oder Multimorbidität festgestellt
werden und die Familie die Pflege nicht leisten kann,
wird der Entschluss gefasst, ins Altenheim umzuziehen.
Hinzu kommt die demographische Entwicklung, die seit
25 Jahren absehbar war, aber erst in unserer Regierungszeit wirklich zum Thema gemacht wird.
({1})
Die Bundesregierung hat also weit früher als die
Opposition erkannt, wie dringend Verbesserungen der
Pflegestrukturen in Deutschland, auch durch Entbürokratisierung der einschlägigen Vorschriften und Verfahrensabläufe, erforderlich sind, zumal es aus Ihrer Regierungszeit hier noch einiges zu entrümpeln gibt.
In meinem Wahlkreis Rosenheim gibt es pro Kopf der
Bevölkerung die meisten Altenheime und Pflegeeinrichtungen in der Bundesrepublik. Ich habe viele dieser
Heime besucht, auch Praktika dort abgeleistet und kenne
die Klagen der Betreiber und des Personals sehr wohl.
Wenn man aber einzelne Einrichtungen vergleicht, wird
sehr schnell klar, dass sie sehr unterschiedlich durch bürokratische Prozesse - zum Beispiel bei der Pflegedokumentation - belastet sind, dass also viel in der Organisation der Häuser begründet liegt. Wie überhaupt die
Angelika Graf ({2})
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Fachleute beim runden Tisch deutlich gemacht haben,
dass viele Probleme mit bürokratischen Fehlentwicklungen weniger der rechtlichen Situation als vielmehr der
Umsetzung in der Praxis entspringen. Auch einrichtungs- und verbandsinterne Vorgaben, deren Notwendigkeit zumindest zweifelhaft ist, spielen hier oft eine Rolle.
Die Frage ist außerdem, was man in den Bereich der Bürokratie einordnet. Die in Ihrem Antrag angeführten
Dienstübergaben gehören zumindest nach meiner Auffassung bestimmt nicht dazu.
({3})
Insgesamt muss man feststellen, dass im Teil I des
Antrages, den Sie heute vorlegen, in weiten Teilen die
Behauptungen wiederholt werden, die bereits in der
Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom Sommer
2004 enthalten waren. Sie werden auch durch Wiederholung nicht substanzieller. Ich kann Ihre Klage über die
Beantwortung der Anfrage eigentlich nicht verstehen.
Wir werden uns über die Quelle, aus der Sie die Daten
haben, die in Ihrer Anfrage zitiert werden, bei der Beratung im Ausschuss sicherlich noch austauschen können.
Wenn Sie behaupten, dass das - übrigens mit Ihrer
Zustimmung - novellierte Heimgesetz und das PflegeQualitätssicherungsgesetz den Verwaltungs- und Bürokratieaufwand enorm gesteigert hätten, so muss ich Ihnen entgegenhalten, dass die Forschungsgesellschaft für
Gerontologie in ihrem Schreiben an die Ministerin vom
29. September 2004 nochmals klargestellt hat, dass empirische Grundlagen für solche Behauptungen fehlen.
Die Regelungen des Heimgesetzes und des PflegeQualitätssicherungsgesetzes sind insbesondere vor dem
Hintergrund der öffentlichen Debatte um Pflegemissstände ein wichtiges Schutzinstrument für Verbraucher,
also Heimbewohner, und das Pflegepersonal. Im Rahmen des Heimgesetzes - das wurde schon erwähnt werden übrigens die unangemeldeten Kontrollen möglich gemacht, die Sie so vehement in Ihren Presseerklärungen und in dem vorliegenden Antrag fordern.
Ich streite nicht ab, dass der Balanceakt zwischen Dokumentationspflicht zur Wahrung der Pflegequalität und
dem effektiven Einsatz des Pflegepersonals schwierig
ist. Aber ich bitte Sie, hier keine unnötigen populistischen Bürokratiedebatten vom Zaun zu brechen,
({4})
aus denen Sie eindeutig parteipolitisch Nutzen ziehen
wollen. Damit helfen Sie den Pflegebedürftigen definitiv
nicht.
({5})
Dass die Evaluation der Auswirkungen der erst seit
2002 - übrigens gemeinsam mit dem Bundesrat - geänderten Heimmitwirkungsverordnung im Juli dieses Jahres startet und schon aus diesem Grund noch kein belastbares Zahlenmaterial in diesem Bereich vorliegen kann,
dürfte Ihnen zudem bekannt sein.
({6})
In dieser Verordnung wurde übrigens die in weiten Teilen der Öffentlichkeit gestellte Forderung umgesetzt,
mehr und bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für Bewohnerinnen und Bewohner zu schaffen. Dagegen können Sie doch nicht im Ernst sein.
({7})
Ihre Unterstützung bezüglich des Heimgesetzes fordere ich aber auch mit Blick auf die Vorschläge der Föderalismuskommission ein. Dieses Rechtsgebiet muss
meiner Vorstellung nach in Bundeszuständigkeit bleiben,
({8})
um für die Heimbewohner halbwegs gleiche Lebensumstände in Deutschland zu gewährleisten und den Aufwuchs unterschiedlicher bürokratischer Regelungen
- die Tatsache, dass jedes Bundesland eine eigene Vorgabe hat - zu vermeiden.
Zurück zu Ihrem Antrag. Es liegen keine Zahlen bezüglich Doppelprüfungen von prüfenden Institutionen
wie dem MDK und der Heimaufsicht vor. Aus dem Bericht des MDK vom November 2004 ergibt sich, dass
seit 1996 bis Ende 2003 insgesamt nur etwa 63 Prozent
aller stationären Einrichtungen geprüft wurden, das heißt
jährlich 9 Prozent. Ich denke, damit relativiert sich,
selbst wenn alle Heime jährlich von der Heimaufsicht
Besuch bekommen, das in Ihrem Antrag hochgespielte
Problem der Doppel- und Mehrfachprüfungen.
({9})
Wir sind uns, denke ich, einig, dass aufgrund der großen Aufgaben, die in Zukunft im Pflegebereich auf die
Gesellschaft zukommen, bürokratische Hemmnisse in
den Abläufen keinen Platz haben und dass man gesetzliche Vorschriften daran orientieren muss. Ich bin also
sehr dafür, unnötige Bürokratie abzubauen. Ich will nur,
dass unsere Entscheidungen nicht auf falschen Grundlagen getroffen werden.
({10})
Der runde Tisch erarbeitet zurzeit dazu Vorschläge. In
einem Zwischenplenum wird nächste Woche über die erarbeiteten Empfehlungsentwürfe diskutiert. Diese werden dann im Sommer der Bundesregierung, dem Kabinett und damit uns allen vorgelegt.
({11})
Angelika Graf ({12})
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Bemerkenswert ist, dass ein großer Teil der Forderungen
in Ihrem Antrag eine auffällige Ähnlichkeit mit den
schon am runden Tisch zur Pflege im Umlauf befindlichen Empfehlungsvorschlägen zur Entbürokratisierung
hat.
({13})
Bemerkenswert ist auch, dass Sie die Forderungen der
Länder, die beim Abbau der Bürokratie im Pflegebereich
und insbesondere bei der Förderung und Weiterentwicklung neuer Wohnformen eine wichtige Rolle spielen, offenbar gezielt außen vor lassen. Ein Schelm, der so kurz
vor der Wahl in NRW Böses dabei denkt! Dabei wäre es
gerade vor dieser Wahl wichtig, den Bürgerinnen und
Bürgern in NRW klar zu sagen, wie die Konzepte unionsregierter Länder so aussehen. Widersprüchlicher
kann es nicht sein: Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem höheren Fachkräftebedarf und die badenwürttembergische Landesregierung schlug vor kurzem
vor, die Fachkraftquote von 50 Prozent auf ein Drittel zu
senken.
({14})
Sie arbeiten also an einer Entprofessionalisierung im
Pflegebereich.
Zurück zu Ihren Forderungen. Wir dürfen nicht hinter
den bislang erreichten Zielen zum Schutz der älteren
Menschen durch blinden Aktionismus zurückfallen.
Auch bei der Entbürokratisierung in der Pflege muss
gründlich abgewogen werden, welche Vorschriften hinderlich und welche Vorschriften förderlich sind. Denn
sonst tritt schnell das Gegenteil des ursprünglich gut Gemeinten ein.
Die Vorschläge des runden Tisches, die Sie kopiert
haben, sind derzeit eben nur Vorschläge und noch nicht
abgestimmt. Der demokratische Prozess des runden
Tisches wäre, unterstützten wir Ihren Antrag, unterbrochen und die konstruktive Arbeit aller Beteiligten würde
desavouiert. Außerdem würde der Einbezug möglichst
vieler Interessenvertreter, die mitmachen müssen und
nicht vor Ihren parteipolitischen Karren gezogen werden
dürfen, verhindert.
({15})
Deshalb möchte ich Ihnen raten, den Antrag zurückzuziehen, zumal er fast nur Forderungen enthält, über die
der runde Tisch sowieso schon diskutiert. Ich denke, Sie
sollten sich das wirklich überlegen.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Graf, ich verstehe nicht, warum Sie eine solche parteipolitische
Schärfe in diese Debatte bringen.
({0})
Wir alle hören doch bei unseren Besuchen in den Pflegeheimen immer wieder von den Problemen der Bürokratisierung und der zunehmenden Verwaltungstätigkeit der
Pflegenden. Deshalb war ich angesichts der vorher gemachten Ankündigungen enttäuscht, dass es in der gestrigen Rede des Bundeskanzlers zur Frage, wie wir mit
der Agenda 2010 in diesem Jahr weiterarbeiten, nur zwei
Sätze zum Thema Pflege gab, obwohl sogar im Manuskript schon etwas mehr stand.
({1})
Liebe Kollegin Graf, bei der Bundestagswahl 2006
werden die Pflegebedürftigen, die Pflegenden und die
Angehörigen als Wählerinnen und Wähler darüber entscheiden, ob es uns bis dahin gelungen ist, in der Pflegepolitik etwas Entscheidendes vorangebracht zu haben.
Ich glaube, dass hinsichtlich der Entbürokratisierung
doch über alle Parteigrenzen hinweg Übereinstimmung
besteht.
({2})
Frau Graf, das, was Sie in Ihrer Rede an positiven Dingen über das gesagt haben, was die CDU/CSU auf den
Weg gebracht hat, wäre doch etwas, bei dem wir in Sachen Entbürokratisierung gemeinsam entscheidend vorankommen könnten.
Zum Antrag in der Sache. Die Pflege ist doch in
Deutschland mit Gesetzen und Verordnungen überfrachtet. Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die
Struktur- und Prozessqualität in den Einrichtungen
detailliert festgelegt wird, die Ergebnisqualität kaum beschrieben und überprüft wird. In der Folge müssen die
Einrichtungen mit erheblichem Aufwand ihre Strukturen
und Prozesse beschreiben. Die Zeit zur Optimierung der
Ergebnisqualität - der eigentlich entscheidenden Qualitätsdimension - und zur Pflege am Menschen nimmt somit ab.
Für die Pflegeeinrichtungen sind Hunderte Vorschriften relevant. Hinzu kommt ein erheblicher Aufwand
durch Doppel- und Mehrfachprüfungen. Egal ob man
das so dramatisch beschreibt, wie die CDU/CSU es in
ihrem Antrag getan hat, oder ob man das etwas abmildert: Es gibt Doppel- und Mehrfachprüfungen und vor
allem gibt es eine steigende Dokumentationspflicht sowie widersprüchliche Regelungen im Heimgesetz einerseits und im SGB XI andererseits. Der VdAB hat gesagt,
dass 40 Prozent der Arbeitszeit von Pflegekräften für
verwaltende Tätigkeiten aufgebraucht werden. Die Bundesregierung zitiert immer gerne die Studie von
Wingenfeld und Schnabel und spricht von nur sieben
Minuten pro Tag für die Dokumentation. Ich glaube,
dass man durchaus darüber streiten kann, wie Dokumentation und Verwaltungstätigkeit zu definieren sind, aber
bei jedem Besuch in einem Pflegeheim und bei jedem
-S
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12.45-12.55.do
Daniel Bahr ({3})
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Gespräch mit einem Pflegenden wird doch deutlich, dass
die Politik in den letzten Jahren viel zu häufig mit Gesetzen und Verordnungen und viel zu häufig mit Bürokratie
die eigentliche Aufgabe der Betreuung in Pflegeeinrichtungen überfrachtet hat. Wir sollten deshalb gemeinsam
daran arbeiten, Entbürokratisierung voranzubringen.
({4})
Es geht nämlich auch darum, dass bei der Arbeit mit
den Pflegebedürftigen immer die Angst der Pflegenden
mitspielt, gegen irgendeine Regelung zu verstoßen und
bei einer der vielen externen Prüfungen einen Mangel
nachgewiesen zu bekommen. Im Bereich der Pflege sind
40 Instanzen prüfberechtigt. Ich denke, das sind zu viele.
Ich kann deshalb die Sorge der Pflegenden sehr gut
nachvollziehen.
Die Folgen sind im Bereich der Pflegedokumentation
ganz besonders offensichtlich. Die Auflagen werden aus
der Angst heraus, etwas falsch zu machen, übererfüllt.
Der scheinbare Bedarf, Prozesse und Strukturen in der
Pflege bis ins letzte Detail zu regeln, setzt die Pflegenden letztlich auch dem deutlichen Misstrauen aus, dass
sie aus eigener Verantwortung nicht in der Lage seien,
Leistungen mit einer hohen pflegerischen Qualität zu erbringen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen
Misstrauensvorbehalt abbauen! Glauben wir daran, dass
die Pflegenden in den Pflegeeinrichtungen auch dann zu
einer anständigen Ergebnisqualität kommen, wenn wir
ihnen Autonomie und Entscheidungskompetenz zurückgeben! Kommen wir von diesen kontraproduktiven Regelungen weg, damit wir gerade für junge Leute wieder
einen Anreiz schaffen, im Bereich der Pflege eine Berufsperspektive zu sehen!
({5})
Der im November des letzten Jahres vorgelegte Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
zeigt eindeutig: Der Versuch, über einen permanenten
Eingriff sogar in den Gestaltungsspielraum der Einrichtungen ein bestimmtes Qualitätsniveau zu erreichen, ist
fehlgeschlagen. Es bestehen trotz aller Regelungen weiterhin gravierende Mängel in zahlreichen Kategorien der
Ergebnisqualität. Anders ausgedrückt: Eine Verbesserung der Qualität, richtig verstanden als Ergebnisqualität, erreichen wir nicht durch immer neue Regelungen.
Auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur Qualität der Pflege - Anlass war der Bericht des MDK - hat
die Bundesregierung immer auf die für den Sommer zu
erwartenden Ergebnisse des runden Tisches hingewiesen. Schon die Zwischenergebnisse des runden Tisches
zeigen, dass die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen
zurückbleiben werden. Viele Teilnehmer, die mir darüber berichten, sind enttäuscht, weil sie glauben, es hätte
viel mehr dabei herumkommen müssen. Aber ich will
die Debatte nicht schon im Vorhinein kaputtmachen. Ich
hoffe, dass wir Maßnahmen zur Entbürokratisierung
noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen
- dazu fordere ich auch Sie auf - und das nicht auf die
2006 beginnende Legislaturperiode verschieben.
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion geht in die richtige Richtung. Es werden Prüfkompetenzen angesprochen. Ich halte auch die Forderung nach mehr Transparenz für richtig, aber ich glaube, dass in dem CDU/CSUAntrag der Aspekt der Transparenz viel zu wenig berücksichtigt wird. Ich wünsche mir, dass die Einrichtungen ihre Leistungen selbst kommunizieren können. Ich
finde es nämlich bedauerlich, dass im Fernsehen immer
nur von schwarzen Schafen die Rede ist und Pflegeskandale zum Thema gemacht werden. Ich vertraue mehr auf
Pflegende und Pflegeeinrichtungen. Wenn wir sie nicht
mit immer mehr Regelungen überfrachten, können sie zu
mehr Qualität im Ergebnis kommen. Deswegen wünsche
ich mir, dass wir eine gemeinsame Initiative zur Entbürokratisierung auf den Weg bringen, und fordere dazu
auf, das noch in dieser Legislaturperiode zu tun.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern wurde von der Europäischen Kommission eine
Debatte über die Folgen der Alterung angestoßen. Der
zuständige EU-Kommissar Vladimir Spidla sagte: Europa hat ein Problem. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen
und von der SPD finden nicht, dass es zielführend ist,
den unumkehrbaren Alterungsprozess nur als Problem
zu betrachten. Natürlich müssen wir alles tun, um das
abzuschwächen, aber wir müssen auch endlich beginnen,
den demographischen Wandel zu gestalten, die Chancen
zu erkennen und die Herausforderungen anzunehmen.
({0})
Eine dieser Herausforderungen ist sicherlich die steigende Zahl der pflegebedürftigen Menschen in unserer
Gesellschaft. Die Situation in den Heimen verändert
sich. Die Menschen gehen heute sehr viel später ins
Heim als noch vor Jahren, meist erst dann, wenn es aufgrund hoher Pflegebedürftigkeit keine Alternativen mehr
gibt. Das durchschnittliche Alter beim Einzug ins Heim
liegt - das wurde hier schon gesagt - bei 84 Jahren. Das
heißt für die Pflegekräfte, dass an sie besonders hohe
Anforderungen gestellt werden.
Meiner Meinung nach liegen in dem Bereich die qualifizierten Arbeitsplätze der Zukunft. Wir sollten diese
Chance nicht verpassen, indem wir hier einen Niedriglohnsektor errichten. Auch darum ist es wichtig, dass das
Heimgesetz in der Bundeskompetenz bleibt.
Ich will nur zwei Beispiele bringen. Baden-Württemberg hatte unter dem Stichwort Entbürokratisierung einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, der zum Ziel
hat, die Fachkraftquote auf 30 Prozent zu reduzieren.
({1})
Was ist daran Entbürokratisierung?
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Bayern hat einen Antrag gestellt, der zum Ziel hat,
dass Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen nur
noch in Zweibettzimmern untergebracht werden sollen.
Das finde ich wirklich menschenverachtend. Das Heimgesetz muss in der Bundeskompetenz bleiben.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Ihrem Antrag kann ich in vielen Punkten zustimmen.
Auch an mich wurde herangetragen, dass der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand durch das Heim- und
das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz für die Heime eine
große Zusatzbelastung bedeutet. Es wurde davon gesprochen, dass mehr als 40 Prozent der Bruttoarbeitszeit
für verwaltende Tätigkeiten aufgewendet werden müssen. Aber nach Prüfung stellen wir fest, dass das nicht
durch das Heimgesetz verursacht wird. Studien weisen
darauf hin, dass viel von der Bürokratie bei der Dokumentation hausgemacht ist. Eine Untersuchung von
Wingenfeld/Schnabel aus dem Jahr 2002 besagt, dass für
die Pflegedokumentation sieben Minuten pro Tag je Bewohner bzw. Bewohnerin angenommen werden.
({3})
Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse des runden
Tisches, der uns auch Vorschläge zur Entbürokratisierung vorlegen soll. Eine Standardisierung der Dokumentation könnte hier sicherlich ein wichtiger Lösungsansatz
sein.
Die angesprochenen Widersprüche zwischen Heimgesetz und Pflege-Versicherungsgesetz sind ärgerlich.
({4})
Vor allem die Regelung, dass das Vertragsverhältnis
zwischen Heim und Bewohner oder Bewohnerin mit
dem Tod endet, widerspricht nicht nur dem Heimgesetz,
sondern hier fehlt es auch an Sensibilität. Was ist das für
eine Zumutung für die Verwandten eines Verstorbenen,
wenn sie am Tage nach dem Tod das Zimmer unverzüglich leer zu räumen haben, weil es direkt neu vermietet
werden muss? Hier brauchen wir eine gesetzliche Klarstellung zugunsten der Regelung des Heimgesetzes, die
eine zweiwöchige Fortsetzung des Vertrages zulässt.
Ich freue mich aber auch über den Konsens zwischen
den Fraktionen, der eine der meiner Meinung nach notwendigsten Innovationen - hier geht es nicht um Bürokratieabbau, sondern um Innovationen - der Altenhilfe
betrifft, nämlich die Notwendigkeit, das Heimgesetz an
alternative Wohn- und Betreuungsformen anzupassen. Zu diesem Thema hat die grüne Fraktion vor drei
Wochen eine Veranstaltung durchgeführt. Der Reichstag
platzte aus allen Nähten. Das macht deutlich, welcher
Handlungsbedarf bezüglich neuer Wohnformen im Alter
besteht. Das bestätigt auch eine im Mai 2004 durchgeführte Umfrage des Emnid-Instituts, wonach fast die
Hälfte der 40- bis 49-Jährigen im Alter in einer Seniorenwohngruppe wohnen und leben möchte. Das, was bei
den 68ern noch als revolutionärer Lebensstil galt,
scheint also für die Älteren eine bevorzugte Wohnform
zu werden.
Im Übrigen gehen Experten auch von einer geringeren Pflegebedürftigkeit aus, wenn durch ein entsprechendes Wohnumfeld die Selbstständigkeit der Menschen gestärkt wird. Neue Wohnformen erfüllen also
nicht nur die Bedürfnisse der älteren Menschen, sondern
sie helfen auch Kosten sparen, und zwar sowohl für die
Betroffenen als auch für die Pflegekassen. Wenn weit
über 90 Prozent der älteren Menschen sagen, dass sie ihren Lebensabend nicht in einem Heim verbringen möchten, sind wir gefordert, hier etwas zu tun.
Wir müssen aber auch handeln, indem wir bürokratische Hürden für solche Wohnformen, zum Beispiel in
Gestalt der Heimmindestbauverordnung, abschaffen.
({5})
Es kann nicht sein, dass für Wohnprojekte die gleichen
Vorschriften bezüglich Sanitätsausstattung, Zimmergrößen, Feuerschutzeinrichtungen wie für Heime gelten. Es
ist notwendig, diese Vorschriften zu ändern. Ich glaube,
wir brauchen für solche selbst gewählten Wohnformen
auch andere Anforderungen bezüglich der Höhe der
Fachkraftquoten. Es geht darum, dass die Menschen in
einer solchen Wohngemeinschaft so eigenständig wie
möglich leben möchten.
Selten habe ich so viel Übereinstimmung mit einem
Antrag der CDU/CSU festgestellt. Auch scheint es mir
eine große Übereinstimmung zwischen den Vorschlägen
des runden Tisches „Pflege“ und dem, was Sie beantragt
haben, zu geben. Ich schlage vor, dass wir zu diesem
Thema eine ausführliche Diskussion führen.
({6})
Wenn der Bericht vorliegt, können wir schauen, ob
alle Forderungen von der Politik übernommen werden
oder ob man bestimmte Dinge anders macht. Ich glaube,
die Politik ist gut beraten, die Empfehlungen der Wissenschaft und der Praxis aufzunehmen, aber dann auch
selbst Entscheidungen zu treffen. Deshalb bitte ich die
CDU/CSU, ihren Antrag noch so lange zurückzuhalten.
Das wäre auch ein guter Ansatz zum Thema Bürokratieabbau, damit wir nicht doppelt arbeiten müssen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Zylajew.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Keine Frage, alte und behinderte Menschen in stationären Einrichtungen bedürfen der öffentlichen Aufmerksamkeit. Diese öffentliche Aufmerksamkeit bringen wir
in unserer Gesellschaft durch verbindliche Regeln über
Bau und Betrieb solcher Heime zum Ausdruck.
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Pflegebedürftige Mitbürgerinnen und Mitbürger brauchen Beistand, Betreuung, Versorgung, brauchen im guten Sinne des Wortes öffentliche Fürsorge. Die rechtlichen Regeln, die wir dafür entwickelt haben, sind
Bestandteil dieser Fürsorge.
({0})
Sie brauchen diese Fürsorge aber auch in Form von
Menschen, die Zeit für sie haben, die zuwendungsfähig
und zuwendungsstark sind. Die Menschen, die diese Arbeit tun, sollten wir auch in Ruhe arbeiten lassen.
({1})
Wir sind uns, vielleicht mit Ausnahme von Ihnen,
Frau Kollegin Graf, offensichtlich darüber einig - da
freue ich mich sehr über den Beitrag von Frau ScheweGerigk -, dass wir große Entbürokratisierungspotenziale haben; der Kollege Bahr hat das ausgeführt.
({2})
Wir haben aus unserer Sicht keine Zeit mehr, Sitzung um
Sitzung des runden Tisches abzuwarten, sondern wir
müssen relativ schnell zu Ergebnissen kommen. Ich sage
Ihnen sehr deutlich: Wenn hier jemand abgeschrieben
hat, dann waren das wohl die Pseudowissenschaftler, die
Ihnen genehm waren; sie haben aus unserer Anfrage abgeschrieben.
({3})
Sie haben einen runden Tisch mit Verbandsfunktionären und Vertretern aus irgendwelchen Gremien einberufen. Wir haben unseren runden Tisch quasi durch die
Wahlkreise wandern lassen. Wir haben schon im Sommer letzten Jahres in den Wahlkreisen die Pflegeeinrichtungen zur Vorbereitung der Anfrage besucht. Sie haben
sich mit Experten, Funktionären und Wissenschaftlern,
die vermutlich alle regierungsgenehm waren, unterhalten. Wir haben uns außerhalb der Arbeitszeit mit Pflegekräften unterhalten,
({4})
die auf der Station die Arbeit erledigen. Sie haben uns
diese mehr als 40 Prozent Bürokratie ausdrücklich bestätigt. Sie haben gesagt: Wir wollten eigentlich in die
Pflege, um an Menschen zu arbeiten und nicht um die
Arbeitszeit mit Bürokratie zu verbringen.
({5})
Wir haben fast alles geregelt: von der Heimmindestbauverordnung über die Heimpersonalbauverordnung
bis hin zur Pflege-Buchführungsverordnung. Alles ist in
Hunderten und Tausenden Vorschriften perfekt geregelt:
vom Hygienebereich bis zum Impfschutz oder zum Umgang mit medizinischen Geräten.
({6})
c
- Natürlich: überreguliert. Diese Überregulierung wird
auch noch übermäßig intensiv überprüft. Dabei geht unendlich viel Arbeitszeit verloren.
({7})
Unsere Erfahrung ist: Die Frauen und Männer in der
Pflege haben sich für den Pflegeberuf entschieden, weil
sie Menschen helfen wollen.
({8})
Sie haben als Pflege- und Betreuungskräfte unseren
Dank und unsere Anerkennung verdient.
({9})
Wir sollten ihnen Respekt zollen. Wenn Sie an dieser
Stelle blocken, dann wegen Ihres Misstrauens; der Kollege Bahr hat das angesprochen. Woher, Frau Graf, nehmen Sie sich das Recht, den Pflegekräften mit permanentem Misstrauen zu begegnen,
({10})
sie mit bürokratischen Vorschriften und Kontrollen zu
überfrachten? Die Pflegekräfte sind Tarifangestellte. Ich
weiß nicht, welches Bild Sie von Arbeiternehmerinnen
und Arbeitnehmern haben.
({11})
Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass diese Frauen
und Männer ihr Bestes tun wollen und nichts anderes.
({12})
Sie verstehen, dass man dokumentieren, optimieren und
auch kontrollieren muss; dagegen wehren sie sich nicht.
Aber sie wollen in erster Linie wieder Zeit für Menschen
haben. Wenn Sie unseren 14 Positionen folgen, können
wir das erreichen.
Wie schaut die Situation auf einer solchen Station
aus? Es gibt einen Stellenschlüssel. Der lautet: eins zu
vier für Pflegestufe I, eins zu zwei für Pflegestufe II und
eins zu 1,8 für Pflegestufe III. Bezogen auf den Wochenund Jahresschichtdienstplan entspricht das einer Relation von einer Pflegekraft auf der Wohnbereichsebene
für zwölf Personen. Das bedeutet: Fünf Minuten pro
Zeitstunde kann sich eine Pflegekraft um eine pflegebedürftige Person kümmern. Fünf Minuten, mehr nicht!
Davon ziehen wir jetzt noch 40 Prozent für Bürokratie
ab.
({13})
Da kann Ihr Professor Dingenskirchen schreiben, was er
will: Wenn Sie in der Nachtschicht dreimal „klingeln“
aufschreiben, haben Sie die sieben Minuten am Tag für
Pflegedokumentation schon fast aufgebraucht. Das ist
schlichtweg unsinnig.
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({14})
40 Minuten pro Arbeitsschicht von acht Stunden stehen
zur Verfügung. Von diesen 40 Minuten werden mehr als
24 Minuten für Schulung, Übergabe, Dokumentation
und Wahrnehmung von Terminen mit Ärzten, Betreuern
und Angehörigen genutzt.
({15})
Dazu kommen dann noch die Bereiche Brandschau, Veterinäramt, Gesundheitsamt, Heimaufsicht, MDK usw.
Dadurch sind schnell mehr als 40 Prozent für Bürokratie
weg. Ich denke, das wissen Sie auch.
({16})
Darüber streiten wir im Endeffekt nicht. Sie sind ja mit
uns der Meinung, dass Bürokratie vorhanden ist, die wir
so nicht mehr hinnehmen wollen.
Sie haben einen runden Tisch eingerichtet.
({17})
Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, dann ärgern
Sie sich eigentlich nur darüber, dass wir hier schon ein
paar Schritte weiter sind als die Regierung.
({18})
Das ist aber nicht traurig. Wir wollen mit diesem Antrag
im Endeffekt erreichen, dass die Arbeitsweise des runden Tisches effizienter und schneller wird. Wenn wir das
erreichen, sind wir zufrieden.
({19})
Wir wollen die Arbeit keinesfalls unterbrechen, wir wollen sie beschleunigen.
({20})
Wenn Sie an einer Beschleunigung interessiert sind,
dann stimmen Sie unserem Antrag zu. Ich bin mir sicher,
dass wir dann im Interesse der Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten und unser Vertrauen verdienen, viel
Gutes tun können, von dem auch pflegebedürftige alte
Menschen und Behinderte profitieren.
Mit einem Zeitminus von 19 Sekunden bedanke ich
mich sehr für die Aufmerksamkeit.
({21})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte eingangs eine Bemerkung zu meinem Vorredner
machen. Sie standen hier am Rednerpult und haben gesagt, dieses Thema bedürfe keiner populistischen Bemerkung. Gleichzeitig haben Sie sehr viele populistische
Bemerkungen gemacht.
({0})
Sie sprachen davon, dass es um die Arbeit an Menschen
geht. Nach unserem Menschenbild ist es eine Arbeit für
und mit Menschen.
({1})
Ich möchte mit zwei den Antrag kommentierenden
Bemerkungen fortfahren, die auch eine Zusammenfassung dessen sind, was meine Kollegin Angelika Graf
schon ausgeführt hat:
Erstens. Behauptungen, die ständig wiederholt werden, werden dadurch nicht richtiger.
Zweitens. Erkenntnisse, die von einer breiten Fachwelt und von Politikern und Politikerinnen aller Couleur
getragen werden, können nicht von einer Seite vereinnahmt und vor allen Dingen - das finde ich besonders
schlimm - diskreditiert werden.
Zur ersten Bemerkung. Im Antrag wird wiederholt
behauptet - ich muss das an dieser Stelle noch einmal
sagen -, dass mehr als 40 Prozent der Arbeitszeit für
Verwaltungstätigkeiten aufgewendet werden müssen
({2})
und dass dieser Anteil durch das Pflege-Qualitätsgesetz
und die Novellierung des Heimgesetzes enorm gestiegen
ist. Diese Behauptung wurde von Ihnen bereits in Ihrer
ersten Anfrage im Juni 2004 aufgestellt und in der Antwort der Bundesregierung vom Juli 2004 richtig gestellt.
Grundlage der Antwort der Regierung ist die Expertise
der Forschungsgesellschaft für Gerontologie vom Mai
2003. Ich finde, das muss man dann auch zur Kenntnis
nehmen und akzeptieren.
Zusammenfassend hat das FfG gesagt, dass es keine
gesicherten Grundlagen für die Diskussion über Entbürokratisierungspotenziale gibt. Im September 2004 hat
das FfG das in einem Schreiben nochmals ganz deutlich
klargestellt. In der Kurzexpertise vom Mai 2003 wird
auf Seite 26 hierzu ausgeführt:
Allen genannten Entbürokratisierungspotenzialen
ist gemeinsam, daß sie auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Je nach Standpunkt und Interessenlage kann der gleiche Sachverhalt unterschiedlich bewertet und mit unterschiedlichen
Konsequenzen bedacht werden.
({3})
Zur Behauptung, dass 40 Prozent der Arbeitszeit für
Verwaltungstätigkeit verwendet werden müssen, hat die
Regierung auf Ihre 13. Frage wie folgt geantwortet: Der
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Zeitaufwand für Verwaltungstätigkeit wird oft überschätzt. Nach einer Studie von Wingenfeld und Schnabel
- vielleicht kann man sich das einfach einmal merken beträgt der Aufwand für diese indirekten Leistungen insgesamt weniger als 20 Prozent. - Die komplette Antwort
kann in der Drucksache 15/3565 - Sie werden sie sicherlich in der Schublade haben - auf Seite 7 nachgelesen
werden.
Was könnte also hinter dieser Behauptung stecken?
Könnte es sein, dass diese Behauptung der Einstieg in
eine Diskussion über Personalreduzierung und Personalbemessung bedeutet, wie es in verschiedenen Bundesländern schon angedacht ist? Ich nenne hier Bayern
und Baden-Württemberg. Dieser Verdacht kommt im
Zusammenhang mit der in Ihrem Antrag angeführten
Konzeption aus Bayern auf. Der Freistaat hat bereits
mehrfach gezeigt, dass die Landesregierung Sozialpolitik nach Kassenlage machen und Standards senken will.
Es lohnt sich also, sich die auf Seite 4 Ihres Antrags
angeführte bayerische Konzeption etwas genauer anzuschauen. Interessanterweise wird diese in Ihrem Antrag
nicht noch einmal erwähnt. Der Grund hierfür ist sicherlich, dass im bayerischen Abschlussbericht Ihre Behauptung widerlegt wird, dass ausschließlich der Gesetzgeber
den bürokratischen Aufwand verlange.
Frau Kollegin Mattheis, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Daniel Bahr?
Nein.
Also keine Zwischenfrage.
Der Projektleiter Michael Wipp führt aus:
Es gibt in der stationären Altenhilfe keine rechtlichen oder vertraglichen Anforderungen, die zu Einzelleistungsnachweisen verpflichten. Diesem Sachverhalt sollte man schon seine Aufmerksamkeit
widmen. Tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeichnen bundesweit in etwa 9 000 stationären Einrichtungen Tag für Tag alle Leistungen
einzeln ab, ohne dass dafür eine verpflichtende Basis besteht!
({0})
Gefordert wird, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Unser Ziel
darf nicht sein - das ist nicht unser Fokus -, über Formblätter zu diskutieren, wie Sie das in Ihrem Antrag tun,
und sie hochzuloben. Vielmehr müssen wir Pflegerinnen
und Pfleger durch ein großes Angebot an Aus- und
Weiterbildung unterstützen, das Haftungsrisiko für das
Pflegepersonal entschärfen und auch Supervision anbieten; denn über die Stärkung der Eigenverantwortung und
gestärktes Selbstbewusstsein des Pflegepersonals schaffen wir es, dass man sich nicht hinter Papierbergen
versteckt, sondern das eigentliche Ziel, Zeit für die zu
Pflegenden zu gewinnen, erreicht. Wer also Entbürokratisierung fordert, muss dies von einer gesicherten Datenlage aus tun. Ansonsten setzt er sich dem Vorwurf aus,
mit diesem Wort einfach billige Effekthascherei zu betreiben.
({1})
Ich komme zu meiner zweiten Eingangsbemerkung:
Erkenntnisse, die von einer breiten Fachwelt und von
Politikerinnen und Politikern aller Couleur - darin stimmen wir überein - getragen werden, können nicht von
einer Seite vereinnahmt werden. Das Thema verlangt es,
dass wir uns ihm sehr ernsthaft widmen. Ich weiß wirklich nicht, was Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt davon
versprechen, Forderungen zu erheben, die nachweislich
- das wurde hier mehrfach angeführt und von Ihnen
nicht dementiert - Empfehlungsentwürfe des runden
Tisches sind. Diese sollen im Sommer 2005, also noch
dieses Jahr vor der Sommerpause, als Ganzes, nicht als
einzelne Mosaiksteine oder Forderungen, vorgestellt und
diskutiert werden.
({2})
- Ich bitte Sie, Herr Bahr. Wir alle gemeinsam haben das
Interesse, für zu Pflegende Verbesserungen zu erreichen.
Dafür stehen wir alle ein.
({3})
Aber man sollte doch nicht so tun, als ob man diese Verbesserungen alleine erkannt hätte, um dann in Einzelschritten zu versuchen, sich selber zu profilieren, ohne
das Gesamtkonzept anzuschauen. Um das geht es.
({4})
Es geht um die Gesamtkonzeption und darum, dass der
runde Tisch von Leuten aus der Fachwelt, die pflegen
und wissen, was es bedeutet, in der Pflege wissenschaftlich und praktisch tätig zu sein, organisiert wird. Diesen
Prozess jetzt dadurch zu torpedieren, dass man Forderungen aufstellt, die im Prinzip nichts anderes als reine
Effekthascherei sind, halte ich diesem Thema nicht für
angemessen.
({5})
Lassen Sie uns gemeinsam vorgehen; Frau Kollegin
Graf hat es doch abschließend vorgeschlagen.
({6})
Ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Lassen Sie uns gemeinsam, wenn vernünftige Empfehlungen des runden
Tisches vorliegen, überlegen, wie wir die Situation verbessern können. Übrigens hat bisher noch keiner von Ihnen gesagt - das haben Sie offensichtlich vergessen -,
.15-13.25.doc
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dass die Länder zu einem Großteil mit daran beteiligt
sind.
({7})
Frau Kollegin Mattheis, offenkundig haben Sie die
Zeit vergessen.
Ich komme zum Schluss. - Ich möchte gerne, dass
sich die Länder Baden-Württemberg und Bayern gemeinsam mit den anderen Bundesländern wie Rheinland-Pfalz und NRW, die ganz vernünftige Vorschläge
auf den Tisch legen werden, auf den Weg machen und
nicht versuchen, sich im Zusammenhang mit einer öffentlichen Diskussion, die sehr wichtig ist, selber zu profilieren und Standards durch die Hintertür abzubauen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4932 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts
- Drucksache 15/4834 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1})
- Drucksache 15/5133 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Peter H. Carstensen ({3}),
Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollständigen
- Drucksachen 15/4828, 15/5134 Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Ulrike Höfken
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen
heute die Beratungen über den Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts der
Fraktionen der SPD und der Grünen ab. Damit machen
wir den Weg für die notwendige Umsetzung des EUGentechnikrechts frei.
Mit unserem Gesetz werden gentechnische Arbeiten
erleichtert und die Verfahren beschleunigt; zudem wird
die Sicherheit solcher Arbeiten gewährleistet. Ich nenne
einige Punkte:
Für erste gentechnische Arbeiten in der Sicherheitsstufe 1 und weitere gentechnische Arbeiten in der
Sicherheitsstufe 2 ist statt einer Anmeldung nur noch
eine Anzeige der gentechnischen Arbeit vorgesehen.
Damit kann der Betreiber sofort nach Eingang der Anzeige bei der Behörde mit den gentechnischen Arbeiten
beginnen und nicht wie bisher erst 30 Tage nach Eingang
der Anmeldung bei der Behörde.
Bestimmte Mikroorganismen können aus dem Anwendungsbereich des Gentechnikgesetzes herausgenommen werden, ohne dass für den Umgang mit solchen Organismen eine Melde- und Registerführungspflicht
besteht. Das ist auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung.
({0})
Die Abgabe solcher Mikroorganismen, die aus dem
Geltungsbereich des Gentechnikgesetzes herausgenommen worden sind, an Labors unterliegt zukünftig den
Überwachungsmechanismen, die allgemein für Laborarbeiten gelten. Das entspricht einer Forderung des Bundesrates.
Wir haben im Laufe der Beratungen mehrere Forderungen des Bundesrates und der Wirtschaft aufgenommen.
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Die Verfahrenserleichterungen, Beschleunigungs- und
Entbürokratisierungseffekte sind in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf von den Industrievertretern ausdrücklich begrüßt worden.
Damit es keinerlei Grund mehr gibt, das Gesetz im
Bundesrat zu blockieren, sind wir den Forderungen des
Bundesrates auch mit einer Änderung zum Standortregister entgegengekommen, die nicht allen von uns leicht
gefallen ist. Aber um mit einem zügigen In-Kraft-Treten
des Gesetzes endlich unsere EU-rechtliche Verpflichtung
zur Umsetzung der Richtlinie zu erfüllen, haben wir eine
Registerregelung gefunden, mit der den Bedenken der
Länder entsprochen wird, ohne dass den berechtigt Interessierten der Zugang zu Informationen unzumutbar erschwert wird.
({1})
Danach sind im öffentlichen Teil des Registers die Gemeinde und die Gemarkung der Freisetzung oder des
Anbaus sowie die Flächengröße einsehbar. Zum nicht
öffentlichen Teil, der genaue Angaben zum Grundstück
und die personenbezogenen Daten enthält, haben nur die
zuständigen Landesbehörden Zugang. Sie überprüfen
unverzüglich, ob beim Anfragenden ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen besteht.
Mit unserem Gesamtpaket Gentechnikgesetz schaffen
wir zum einen Rechtssicherheit mit Erleichterungen für
die Forschung und die Wirtschaft. Zum anderen gewährleisten wir die Wahlfreiheit für die Verbraucher und den
landwirtschaftlichen Bereich.
({2})
Die Regelungen ermöglichen den Anbau von GVO,
schützen aber gleichzeitig den Fortbestand einer gentechnikfreien Landwirtschaft.
Wir haben gerechte Haftungsregelungen nach dem
Verursacherprinzip, um die uns die Bauern in anderen
EU-Ländern beneiden.
({3})
Ich sage das, weil aus den Reihen der Opposition dazu
derzeit wieder viel Unsinn zu hören ist. Die Haftungsregelung basiert auf dem allgemeinen Prinzip des BGBNachbarrechts und ist keineswegs eine Neuerung, sondern lediglich eine Präzisierung. Wenn sich in Ergänzung
dazu Lösungen ergeben, zum Beispiel Versicherungen
oder eine Einigung zwischen beteiligten Firmen und
GVO-Anbauern auf die Finanzierung eines Fonds, dann
ist das schön. Ein Fonds mit staatlicher Beteiligung aber
kommt nicht infrage: Gewinne privatisieren, Verluste
verallgemeinern - dabei machen wir nicht mit: Wir haben gute und gerechte Regelungen; daran gibt es nichts
zu rütteln.
({4})
Wir haben ein erstes Gentechnikgesetz, welches die
Koexistenz verschiedener Anbauformen ermöglicht, und
wollen jetzt ein zweites Gentechnikgesetz verabschieden, das aufgrund der Entbürokratisierungsmaßnahmen,
Vereinfachungen und Verfahrenserleichterungen für gentechnische Arbeiten von Industrievertretern begrüßt wird
({5})
und einen vernünftigen Rechtsrahmen darstellt.
({6})
Der Ball liegt nun beim Bundesrat. Sehr geehrte Damen
und Herren von der CDU, ich hoffe, Sie machen Ihren
Länderkollegen klar, dass es keine sachlichen und fachlichen Gründe gibt, dieses Gesetz zu blockieren.
({7})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Das tue ich. - Deshalb erwarten wir nun, dass das Gesetz im Bundesrat zügig behandelt wird und bald in
Kraft treten kann. Daran wird sich zeigen, wie Ernst es
der Opposition mit den Innovationen und der Wettbewerbsfähigkeit ist. Ein erstes Zeichen könnten Sie setzen, indem Sie für unser Gesetz stimmen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das
Künast-Gentechnikgesetz bleibt auch nach der zweiten
Änderung ein Gentechnikverhinderungsgesetz. Einem
solchen werden wir ganz sicher nicht zustimmen.
({0})
An diesem Tatbestand ändern auch einige kleine Trippelschritte nichts, die Sie nun auf uns zugegangen sind. Es
handelt sich im Übrigen um einige bürokratische Erleichterungen, die wir schon vor drei Jahren vorgeschlagen hatten und die Sie damals als Risiko für die Öffentlichkeit bezeichnet und abgelehnt haben. Da Sie drei
Jahre gebraucht haben, um auf diesen Stand zu kommen,
haben Sie nun nicht das geringste Recht, zeitlich Druck
auf den Bundesrat auszuüben. Das sollten Sie sich lieber
sparen.
({1})
Nach wie vor haben Wissenschaft und Forschung, haben Unternehmen und Arbeitsplätze keine ausreichende
Chance, solange die Künast-Ideologie die Regeln der
Gentechnik in Deutschland bestimmt. Allerdings hat
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sich inzwischen die politische Stimmungslage insbesondere im Regierungslager - das ist ein Zeichen der Hoffnung; ich erinnere nur an Herrn Clement und Frau
Bulmahn - verändert. Die Verhinderung von Forschungsprojekten, und das ausgerechnet im Bereich der
Sicherheitsforschung, durch ein von der Ministerin persönlich ausgesprochenes Forschungsverbot hat wohl vielen gezeigt, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
({2})
Verehrte Kollegen von der SPD, ebenso eindeutig hat das
BMBF zur Künast-Forschungsblockade Position bezogen. Ein solcher Vorgang sei bisher so nicht aufgetreten,
erläuterte Staatssekretär Catenhusen im Forschungsausschuss am Mittwoch. Es wurde ganz eindeutig gesagt,
das BMBF teile die Auffassung des BMVEL nicht. Ich
kann dazu nur sagen: Gott sei Dank.
({3})
Dabei wurde inzwischen ebenfalls öffentlich bekannt,
dass Frau Künast nicht nur zwei, sondern insgesamt vier
Forschungsprojekte verboten hat, obwohl diese bereits
vom Forschungsministerium als wissenschaftlich exzellent beurteilt worden waren und finanziert wurden.
({4})
- Ich verstehe, dass Sie dabei etwas unruhig werden;
denn Sie merken, dass hier die Wissenschaft und ihre
Freiheit von Frau Künast attackiert und eingeschränkt
werden. Sie sind zu Recht unruhig. An Ihrer Stelle wäre
ich das ebenfalls.
({5})
Die Ausrede aus dem Künast-Ministerium, hier
handle es sich um Produktentwicklung, ist ebenso durchsichtig wie sachlich falsch.
({6})
Es geht eindeutig um Grundlagenforschung, um Methodenentwicklung und nicht um Produkte. Dies sehen
übrigens SPD-Kollegen im Forschungsausschuss genauso. Ich erinnere daran, dass dies nicht der erste Fall
ist. Schon im letzten Jahr hat Frau Künast in Pillnitz und
Quedlinburg eingegriffen. Damals hat die Presse geschrieben, das sei staatlich veräppelte Forschung. Außerdem ist inzwischen aus der Presse bekannt geworden,
dass Frau Künast fünf ihrer Forschungsinstitute von
vornherein jede Antragstellung im Bereich der Gentechnik untersagt hat, damit erst gar nichts auf den Tisch des
Hauses kommt, was sie nachher wieder verbieten muss.
Ich kann verstehen, wenn es Frau Künast etwas warm
wird. Denn der Vorsitzende der IG BCE, Herr Schmoldt,
hat vorgestern gegenüber dem „Handelsblatt“ gesagt:
Es drängt sich der Eindruck auf, als habe Frau
Künast Angst davor, die Forschung könne ihr ein
Argument gegen die Gentechnik aus der Hand
schlagen.
Hört! Hört!
({7})
Herr Schmoldt führt weiter ganz klar aus:
Eine solche ideologische Blockade können sich nur
Leute leisten, die keine Angst haben müssen, jemals Hunger zu haben. Diese Blockade muss aufgebrochen werden.
Damit hat Herr Schmoldt Recht.
({8})
Wenn sich wie gestern der Bundeskanzler persönlich
- abweichend von seinem Redemanuskript - der Grünen Gentechnik ausführlich zuwendet, hat dies einen
Grund. Er spürt inzwischen ebenfalls, dass seine Forderung, die Biotechnik zur Schlüsseltechnik des 21. Jahrhunderts zu machen, von Künast und Co. knallhart ausgebremst und abgeblockt wird.
({9})
- Ich sage Ihnen jetzt, was er gesagt hat. - Das Resümee
des Bundeskanzlers lautete:
Also lassen Sie uns nicht Debatten von gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Ausbringung geschieht und wir in diesem Bereich weiterkommen.
Das heißt für mich: Der Kanzler will, dass Pflanzen aus
gentechnisch verändertem Saatgut auf deutschen Äckern
wachsen können und dass wir etwas dafür tun, dass die
entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind.
({10})
Ich kann den Kanzler darin durchaus unterstützen. Das
gilt ebenfalls für seine Aufforderung:
Jedenfalls sollte begonnen werden. Ich denke, das
ist die Aufgabe, die vor uns liegt.
Da hat er Recht.
Nicht nachvollziehen kann ich die Feststellungen,
Kollege Röspel:
Wir werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen,
das zusammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen Rechtsrahmen für Investitionen in diesem
Bereich darstellt.
({11})
Hier war vielleicht eher der Wunsch Vater des Gedankens. Bemerkte der Kanzler doch gleich anschließend,
dass die Haftungsfragen nicht so geregelt seien, wie es
sich diejenigen, die investieren sollen, vorstellen. Auch
an dieser Stelle hat der Kanzler Recht. Wenn Sie es
nachlesen wollen: Die Rede liegt auf meinem Platz. Sie
können da gerne hineinschauen.
({12})
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Folgen wir also der Aufforderung des Kanzlers! Was
ist zu tun?
Erstens. Ministerin Künast muss ihre Sechs-PunkteVerpflichtung abarbeiten, die sie im November 2004
gegenüber dem Bundesrat abgegeben hat. Diesbezüglich
ist bis dato nichts geschehen. Zuallererst gilt es, die
Feldforschung von Universitäten und Instituten, von
Saatzuchtunternehmen und Biotechnikunternehmen zu
sichern: entweder durch die Festlegung, dass Freisetzungen kein In-Verkehr-Bringen sind, wie es in anderen
Ländern Europas geschehen ist, oder durch die Einrichtung eines Haftungsfonds im Hause Künast, der die Forschung, und zwar insgesamt, gegen eventuelle Schadensfälle absichert. In den letzten Tagen ist
durchgesickert, dass sie so etwas wollen.
Zweitens. Wir brauchen einen breiten Erprobungsanbau in Zusammenarbeit mit den Bundesländern und mit
privaten Unternehmen, um die - im Übrigen positiven Erfahrungen aus dem letzten Jahr - die Länder haben
den Anbau vergangenes Jahr allein durchgesetzt - zu
vertiefen.
Drittens. Vor allen Dingen müssen wir das Haftungsrecht für Anwender, Saatzüchter und private Forschungsunternehmen endlich kalkulierbar machen. Da
das immer wieder durcheinander geworfen wird, sage
ich ganz deutlich: Natürlich soll jeder die Verantwortung
für sein eigenes Verschulden übernehmen. Alle anderen
Behauptungen sind schlicht unredlich. Aber dass der
Einzelne für höhere Gewalt, für kriminelle Energie Dritter oder für ähnliche unbeeinflussbare Tatbestände herangezogen werden soll, kann doch niemand ernsthaft
fordern,
({13})
zumindest dann nicht, wenn man sich an die Vorschriften peinlich genau gehalten hat. Sie verlangen auch dann
vom Landwirt oder vom Anwender die Haftung, wenn er
für die Schäden überhaupt nichts kann. Genau das ist die
Krux der von Ihnen geplanten Haftungsregeln.
Ich schlage vor - ich denke, diese Zielrichtung macht
wirklich Sinn -, für solche Situationen eine Lösung wie
im Nachbarland Holland zu schaffen. Dort haben sich
alle Betroffenen, einschließlich der Ökolandwirte, auf
einen übergeordneten Haftungsfonds für Schäden durch
unkalkulierbare Eventualitäten - nicht für Schäden
durch persönliches Verschulden - geeinigt. In diesen
Fonds zahlen Biotechnikunternehmen, Züchter, Landwirte, und zwar einschließlich der Bio- und Ökobetriebe,
der Agrarhandel und in der Startphase auch der Staat ein.
Dies wäre zumindest für die kommenden zwei Jahre eine
Übergangslösung, die kurzfristig geschaffen werden
könnte, die bei den Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat eine Zielmarke wäre und die allen unnötigen
Streit aus der Welt schaffte.
Wenn Kanzler Schröder in diesem Bereich wirklich
weiterkommen will, dann muss er im anstehenden Vermittlungsverfahren so weit Einfluss nehmen, dass wir
dieses Ziel am Ende im Interesse von Innovationen, Arbeitsplätzen und Zukunftschancen in Deutschland erreichen. Sonst behält Herr Schmoldt am Ende doch Recht,
wenn er sagt - ich zitiere ihn noch einmal -:
Es besteht die reale Gefahr, dass Forschung ins
Ausland wandert. Ein schlechtes Signal für den
Standort Deutschland …
Wir wollen die Abwanderung der Forschung verhindern. Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
({14})
Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Lassen Sie mich zu Anfang auf Frau
Merkel Bezug nehmen - sie ist ja heute leider nicht da -,
die gestern - sie hat damit, glaube ich, auf den Punkt gebracht, was in Wahrheit die Position der CDU/CSU ist eine Gentechnik ohne Regeln und ohne Rücksicht gefordert hat.
({0})
- Ja, natürlich.
({1})
Sie hat nämlich von der Ordnung der Freiheit geredet. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Diese so genannte
Ordnung der Freiheit, die da vorgeschlagen wird, die in
vielen Redebeiträgen, auch heute in dem von Herrn
Heiderich, durchschimmerte, hat nichts mit Ordnung zu
tun; sie ist vielmehr so etwas wie die reinste Anarchie, in
der überlebt, wer der Stärkste ist.
({2})
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie wollen nämlich keine Regeln für das Nebeneinander verschiedener
Anbauformen; vielmehr wollen Sie, dass einer auf Kosten aller anderen lebt. Sie wollen keinen Schutz für
Landwirte.
({3})
Sie haben doch längst die Interessenvertretung der Bauern in Deutschland aufgegeben.
({4})
- Ich werde Ihnen das gleich darlegen.
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Alle die Landwirte - das ist die Mehrheit in Deutschland -, die nicht gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen wollen, bekommen von Ihnen noch nicht einmal
einen Hauch von Schutz. Sie haben das gerade selbst begründet; denn Sie wollen die Haftung so verteilen, dass
diejenigen, die solche Pflanzen nicht anbauen, auch noch
für die Haftung geradestehen müssen.
({5})
Das ist eine gehobene Form von Unsinn und das ist eine
Nichtinteressenvertretung.
Ferner räumen Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern noch nicht einmal die Freiheit ein, entscheiden zu können, weil Sie nicht dafür sorgen wollen, dass
es auch nicht gentechnisch veränderte Produkte auf dem
deutschen Markt gibt. Sie wollen verheimlichen und verschleiern.
({6})
- Sie quaken hier immer groß und laut. Aber schauen
wir uns einmal die Details an! Wir sind ja nicht blind
und können lesen.
Sie scheren sich nicht um 70 Prozent der Bevölkerung. Ich wundere mich schon: Nach der letzten Bundestagswahl hat Frau Merkel mit Tränen in den Augen in einem „Spiegel“-Interview gesagt: Wir haben die Wahl in
den Städten verloren; jetzt wollen wir Umwelt- und Verbraucherschutz machen. - Was ist denn plötzlich los?
Jetzt wollen Sie nicht einmal, dass die Verbraucher wissen, was in Lebensmitteln enthalten ist. Das ist doch Ihre
Strategie.
({7})
Das ist Ihre Art von Freiheit.
Ich will Ihnen das erklären, denn Sie haben es gerade
noch einmal angesprochen. Ihre Freiheit sieht wie folgt
aus: Sie wollen, dass wenn in Freisetzungsversuchen
ungenehmigte Konstrukte, die ja gerade im Experiment sind, auskreuzen, diese als Lebensmittel auf dem
deutschen Markt verkauft werden dürfen. Genau das
wollen Sie. Sie wollen, dass die Verbraucher quasi zum
Teil eines großen Experiments werden.
({8})
Ich kann Ihnen aber sagen, dass Sie mit Ihrer Ideologie,
Herr Heiderich, und alle anderen an der Stelle etwas tun,
was noch nicht einmal in den von Ihnen so gelobten
USA erlaubt ist.
Sie haben auch den Sechs-Punkte-Plan angesprochen. Davon werden Sie wahrscheinlich auch in vier
Jahren hier vorn erzählen; das ist Ihr gutes Recht.
({9})
Aber wir haben längst Teile davon abgearbeitet. Darüber
reden Sie nur nicht gern, weil Sie in dieser Beziehung
schon wieder verloren haben. Wir haben von der Kommission zu dem gerade angesprochenen Problem, ob
man den Menschen ungenehmigte und hinsichtlich ihrer
Sicherheit nicht bewertete Konstrukte als Lebensmittel
verkaufen darf, die klare Stellungnahme erhalten: Nein,
das darf man nicht. Also, Herr Heiderich, dann können
es allenfalls noch fünf Punkte sein, über die Sie eigentlich reden könnten.
({10})
Sie wollen keine Eins-zu-eins-Umsetzung von EGRecht; Sie wollen, was EG-Recht betrifft, rechtswidrig,
verantwortungslos und gefährlich handeln. Sie wollen
allenfalls die Interessen von schlecht informierten Lobbyisten umsetzen. Aber selbst mit denen reden wir und
erklären ihnen, dass sie manches gar nicht richtig gelesen haben.
Sie wissen eines ganz genau, wenn Sie unsere gesetzlichen Regelungen kritisieren: Die Kommission hat klar
gesagt, dass Koexistenz- und Haftungsfragen zur Aufgabe der Mitgliedstaaten zählen. Deshalb regeln wir das
auch,
({11})
weil wir ja unsere Rechte nicht an der Haustür in Brüssel
abgeben. Das kritisieren Sie doch sonst auch immer,
Herr Heiderich.
({12})
Nun zu der Frage, was in diesem Gesetz geregelt
wird. Da ist zum einen das Standortregister zu nennen.
Worum geht es dabei? Wir legen hier fest, dass Gemeinde, Postleitzahl und Gemarkung in einem öffentlich
zugänglichen Register für alle Bürgerinnen und Bürger,
quasi im Internet, zugänglich sein müssen. Ferner sagen
wir, dass alle anderen Nachbarn, Landwirte, Imker, diejenigen, die das Recht haben, genau zu wissen, was auf
dem betreffenden Feld vor sich geht, unverzüglich eine
flurstückgenaue Auskunft bekommen. Ich hoffe, dass
Sie, Herr Heiderich, dann auch dafür sorgen, dass dieses
unverzüglich von den Bundesländern eingestellt wird.
Wenn Bauern nämlich ein halbes Jahr auf entsprechende
Veröffentlichungen warten müssen, wissen sie gar nicht,
was sie aussäen sollen. Sie stellen Ihre Partei ja immer
als Interessenvertretung der Bauern dar, aber das galt
früher vielleicht einmal.
({13})
Ich sage Ihnen: Die Menschen haben ein Recht auf
Information.
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Ich wäre beglückt, wenn Sie hier nicht nur einseitig
Lobbyinteressen vertreten würden und darum großes
Buhei machen würden, sondern auch einmal anfangen
würden, eine wenigstens in Ansätzen differenzierte Position einzunehmen.
({14})
Warum gelingt Ihnen eigentlich nicht, was den Landeskirchen gelingt? Immer mehr Landeskirchen sagen bei
Abschluss von Pachtverträgen, dass auf ihrem Gelände
nur gentechnikfreier Anbau erlaubt ist. Sie wollen doch
nicht behaupten, dass alle evangelischen und katholischen Landeskirchen irren.
({15})
Sonst berufen Sie sich ja auch immer auf sie.
({16})
Zum anderen gibt es immer mehr Regionen in
Deutschland, die sich zu gentechnikfreien Zonen erklären. Eine sehr große gibt es im Bereich der Rhön, sogar
über drei Landesgrenzen hinweg, direkt vor der Haustür
von Herrn Heiderich. Sie hätten also die Möglichkeit,
sich ausnahmsweise einmal über die Sorgen der Menschen vor Ort zu informieren, indem Sie in der sitzungsfreien Zeit eine kleine Reise unternehmen.
({17})
- Davon träumen Sie. Wenn wir dafür Geld ausgäben,
hätten Sie das doch schon längst herausbekommen. Ihr
Job ist doch nichts anderes, als in den Ministerien zu stochern und zu versuchen, illegal an Papiere heranzukommen.
({18})
Wo gibt es die größte gentechnikfreie Zone in dieser
Republik? Ich komme nicht umhin, an dieser Stelle einmal an den heiligen Sankt Florian zu erinnern. Dessen
Lied singt nämlich Edmund Stoiber, der Ministerpräsident Bayerns. Das geht so: Heiliger Sankt Florian, verschütt’ - pardon - verschon’ mein Haus, zünd’ andere
an!
({19})
- Damit setzen Sie den Zwischenrufen die Krone auf.
Mit diesem Zwischenruf werden Sie einmal berühmt
werden. Versprecher passieren zwar vornehmlich Männern, aber Frauen können es auch.
({20})
- Mensch, Sie wissen doch, Frauen halten immer engagierte Redebeiträge. Das wird Frau Happach-Kasan
doch auch gleich machen, oder? Soll ich dann vielleicht
auch solch eine Zickeneinrede machen?
({21})
Wissen Sie, warum Edmund Stoiber diesem SanktFlorians-Prinzip folgt? Bei ihm im Wahlkreis gibt es mit
200 000 Hektar die größte gentechnikfreie Zone der
Bundesrepublik Deutschland. Angesichts dessen sollte
man sich wirklich einmal in seinem Wahlkreis erkundigen, welche Interessen die Landwirte vor Ort und die
Menschen, die deren Produkte kaufen, haben. Bayern
weiß sehr genau, dass Österreich und die Schweiz auf
den Standortfaktor der GVO-Freiheit setzen. Wir wissen
ja - Herr Heiderich wird das auch wissen -, dass in Bayern schon einige Genehmigungen für Anbauten und Versuchsflächen zurückgezogen wurden,
({22})
weil Österreich sich das Geschäft nicht hat verderben
lassen wollen.
Es gibt weltweit einen Markt für gentechnikfreie
Produkte. Warum gibt es keinen GVO-Weizen in den
USA? Weil Japan gesagt hat, dann würden sie gar keinen
Weizen mehr von dort importieren. Daraufhin haben die
USA gesagt, dann bauen wir eben keinen an.
({23})
Warum gibt es keine GVO-Pommes? Weil der größte
Fast-Food-Konzern, der weltweit mit den gleichen Geschmacksangeboten agiert, sagt, dass er kein Debakel
mit GVO-Pommes in seinem Unternehmen erleben
möchte. Warum gibt es keine GVO-Rapsfelder? Weil der
Lebensmittelsektor klar sagt, dass, sobald irgendwo angefangen wird, GVO-Raps anzubauen, kein Raps mehr
aus diesem Land für die Herstellung von Margarine verwendet wird, sondern woandersher importiert wird.
({24})
Sie verfolgen doch das Interesse, den mittelständischen
Unternehmen die Möglichkeiten zu verderben, zusätzliche Einnahmen zu erzielen.
({25})
Mein letzter Satz lautet - das ist eine ganz klare Aufforderung an Sie -: Schauen Sie in den Gesetzentwurf.
Er ermöglicht Verfahrenserleichterungen in Bereichen,
wo Europa stark ist, nämlich bei der Weißen Biotechnologie. Hier haben wir weltweit derzeit einen Marktanteil
von 70 Prozent. Dieser Sektor birgt ungeahnte Entwicklungspotenziale. Wir müssen nicht in Bereichen, in denen die USA schon weiter sind, hinterherrennen, sondern wir haben hier die Möglichkeit,
({26})
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uns im Rahmen der Lissabon-Strategie von Waschpulver
bis hin zu allen möglichen Produkten zu entwickeln.
Ganz klar sage ich auch: Wenn Sie sich weiterhin so
ideologisch verhalten - Ihr Verhalten beruht ja auf nichts
anderem als einer großen Ideologieblase -, dann verderben Sie der chemischen Industrie in Deutschland und
Europa das Geschäft mit der Weißen Biotechnologie.
({27})
Sie sind dann diejenigen, die Arbeitsplätze in dieser Republik vernichten bzw. die Entstehung neuer verhindern.
({28})
Deshalb bitte ich Sie: Hören Sie mit Ihrem ideologischen
Spiel auf,
({29})
stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu und eröffnen Sie damit Deutschland neue Zukunftschancen, statt diesen
Standort immer nur schlechtzureden.
({30})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Künast, nur so viel: Ich glaube, Sie sind urlaubsreif.
Ich wünsche Ihnen wirklich schöne Osterfeiertage. Mehr
kann man zu Ihrer Rede nicht sagen.
({0})
An eines darf ich erinnern: In Schleswig-Holstein hat
1 Prozent der Landwirte Grün gewählt, nicht einmal alle
Ökobauern.
({1})
Das ist nicht gerade üppig.
Wir leben im Zeitalter der Biologie. Die Ingenieurkunst unserer Zeit ist das Genetical Engeneering, ein
sympathischer Ausdruck für die Grüne und Weiße Gentechnik. Wir können dieses Zeitalter weiter verschlafen
oder es mit Ideen und Kreativität gestalten und prägen,
so wie wir das Zeitalter der Chemie und das Zeitalter der
Physik gestaltet und geprägt haben.
({2})
Wir haben 5,2 Millionen Arbeitslose. Diese sind eine
Herausforderung für uns. Die Gentechnik bietet Chancen für qualifizierte Arbeitsplätze. Wir als FDP wollen
diese Chance nutzen.
Im Einstein-Jahr hat das Bundesforschungsministerium das Einstein-Zitat aufgegriffen: Wichtig ist, dass
wir nicht aufhören zu fragen. - Völlig richtig; aber wir
brauchen auch Antworten. Die Diskussion um die Grüne
c
Gentechnik zeigt, dass diese Antworten nicht aus der
grünen Verbandsszene kommen, sondern aus der seriösen Wissenschaft: aus Universitäten, Ressortforschungseinrichtungen, forschenden Unternehmen. Die Forschungsverbote von Ministerin Künast sind ein
einmaliger Vorgang. Wir lehnen sie absolut ab.
({3})
Die FDP will, dass wir in Deutschland alle Optionen
nutzen, das Zeitalter der Biologie mitzugestalten. Die
wissenschaftlichen Potenziale dafür sind vorhanden. Der
Leibniz-Preis an Professor Dr. Christian Jung, Leiter des
Instituts für Pflanzenzüchtung in Kiel, hat dies eindrucksvoll demonstriert. Die Weiße Gentechnik hat
sich weitgehend durchgesetzt, auch wenn Ministerin
Künast, die für sie eintritt, die Kennzeichnungsregelung
nicht ordentlich gestaltet. Da gibt es Defizite, die in Ihrer
Verantwortung liegen.
({4})
Mit der Beschlussfassung über das zweite Gentechnikgesetz entscheiden wir, ob wir Wissenschaftlern und
Unternehmen Gestaltungsmöglichkeiten geben oder ob
in Deutschland der von den Grünen angeführte Kampf
gegen Windmühlenflügel fortgesetzt wird. Rot-Grün hat
keinen vernünftigen Rechtsrahmen für die Forschung
und Anwendung der Gentechnik erarbeitet. Kanzler
Schröder hat die Muskeln spielen lassen, aber es hat sich
nichts getan. Frau Drobinski-Weiß, Ihre Rede kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass das, was Sie hier vorgestellt haben, ein Armutszeugnis ist.
({5})
Die entscheidenden Weichenstellungen zur Verhinderung der wissenschaftlichen Weiterentwicklung und der
landwirtschaftlichen Nutzung der Grünen Gentechnik
wurden durch das erste Gentechnikgesetz vorgenommen. Das kann nur geheilt werden, wenn das zweite
Gentechnikgesetz dem ersten die Giftzähne zieht. Dafür
hat die FDP vier Änderungsanträge vorgelegt.
Die Anträge der Koalition reichen nicht. Der halbherzige Verzicht auf das allgemein zugängliche Standortregister ist eine angemessene Reaktion darauf, dass die
Bundesregierung den Schutz von Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen nicht sicherstellen kann und
Ministerin Künast dies auch gar nicht will. Sie hat sich
von den Feldzerstörungen nie distanziert.
({6})
- Wir haben das gefordert, aber sie hat es nicht getan.
Die FDP lehnt die verschuldensunabhängige Haftung
ab. Wir wollen eine bessere Definition des In-VerkehrBringens. Es ist absurd, Ministerin Künast, wenn das
Gesetz jedes herumfliegende Pollenkorn, das aus einem
Freisetzungsversuch stammt, als illegales In-VerkehrBringen bewertet. Das ist ideologische Borniertheit.
({7})
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- Herr Herzog, es steht Ihnen nicht an, so dummes Zeug
zu sagen.
({8})
Wir als FDP schlagen in diesem Fall die von SachsenAnhalt erarbeitete Definition des In-Verkehr-Bringens
vor. Genetical Engeneering ist eine Züchtungsmethode.
Statt auf günstige Mutationen zu hoffen, ausgelöst durch
radioaktive Bestrahlung oder den Einsatz von mutagenen Zellgiften, werden bekannte Gene genutzt und in die
Genome von Pflanzen oder Bakterien eingesetzt.
({9})
- Quatsch! Das ist doch nicht konventionelle Kreuzung.
Sie wissen ganz genau, was in der Züchtung stattfindet;
das ist doch unsinnig. - Schon Anfang der 90er-Jahre
wurde in der Technikfolgenabschätzung festgestellt, dass
die Eigenschaften der neuen Sorten und nicht die Züchtungsmethode für ihre Bewertung entscheidend sind.
Nehmen Sie von der SPD das doch zumindest einmal zur
Kenntnis! Die Sorten sind sicher; die finanziellen Risiken, über die wir sprechen, sind insbesondere von der
grünen Verbandsszene künstlich erzeugt worden, nichts
anderes.
({10})
Diese Erkenntnis setzt sich allmählich durch. Die Katholische Landvolkbewegung will die Grüne Gentechnik
nicht mehr ablehnen und hat erklärt, dass wir auf die
Forschung in diesem Bereich nicht verzichten können.
In der Schweiz ist im Ständerat der Antrag auf ein fünfjähriges Moratorium gescheitert. In Schleswig-Holstein
hat das Aktionsbündnis die erforderlichen 20 000 Stimmen für eine Volksinitiative gegen die Gentechnik nicht
zusammenbekommen.
({11})
- Doch! Sie hat es nicht geschafft. - In Dänemark hat
man die Produktion von gentechnikfreiem Schweinefleisch eingestellt, weil es keine Nachfrage gab. Über
60 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher in
Deutschland befürworten gentechnisch veränderten
Joghurt mit besonderer Gesundheitswirkung. Frau
Ministerin Künast, Sie wissen selbst: Wenn diese Lebensmittel preiswerter sind als andere Lebensmittel,
dann greifen alle Leute zu. Das ist der Fakt.
({12})
Das überragende Problem in Deutschland ist die
Arbeitslosigkeit. Jobgipfel haben nur dann Erfolg, wenn
neben den notwendigen strukturellen Veränderungen in
der Steuerpolitik auch neue Wirtschaftsbereiche erschlossen werden. Wir brauchen neue Arbeitsplätze;
denn alte Industrien brechen weg. Im Zeitalter der Biologie ist das Genetical Engineering die aktuelle Ingenieurkunst, die gestützt und gefördert werden muss und nicht
verhindert werden darf.
Die FDP fordert die SPD auf, sich am Wohl der Menschen und nicht am Wohl der grünen Partei zu orientieren.
({13})
Nutzen Sie die verbleibende Chance für das Aufbrechen
der Blockade gegen die Grüne Gentechnik! Erinnern Sie
sich daran, was gestern in Schleswig-Holstein passiert
ist! Wollen Sie diesen Weg weiter gehen?
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine Redezeit reicht leider nicht aus, um auf
die ständigen Ideologievorwürfe von Herrn Heiderich
einzugehen. Er hätte seine Rede besser letzte Woche gehalten. Wenn ihm die Sachargumente ausgehen, dann
zeigt er diese Art von Beißreflex.
Ich kann auch nicht auf die falsche These von Frau
Happach-Kasan eingehen. Wir leben eben nicht im Zeitalter der Biologie, Frau Happach-Kasan.
({0})
Das ist längst vorbei. Wir leben vielmehr im Zeitalter der
intelligenten Vernetzung von Chemie, Physik, Biologie
und Informationstechnologie. Ihr Kenntnisstand scheint
also weit zurückgeblieben zu sein.
({1})
Ich will ein wenig mehr Sachlichkeit in die Debatte
einbringen und auf die Diskussion, die es im Bereich der
Forschung über dieses Gesetz gibt, eingehen. Ich befasse
mich mit diesem Gesetz aus der Perspektive desjenigen,
der viele Jahre als Biologe in einem Forschungslabor gearbeitet hat und sich, zumindest was die Vergangenheit
betrifft, als Forscher bezeichnen kann. Ich verstehe nach
wie vor die Leidenschaft von Forschern, wenn es darum
geht, Dinge zu ergründen und die Neugier zu befriedigen. Ich sehe - das ist überhaupt keine Frage - die
Grundlagenforschung als einen Wert an sich an.
Meine persönliche Erfahrung ist aber auch, dass es
keine Forschungsfreiheit gibt. Bei meiner alltäglichen
Arbeit im Labor bin ich immer auf Begrenzungen gestoßen. Das Chemikaliengesetz, das Wasserhaushaltsgesetz,
das Abfallgesetz, die Strahlenschutzverordnung und das
Tierschutzgesetz
({2})
wurden nicht erlassen, um die Forschung zu behindern,
sondern - das entspringt einer Abwägung mit anderen
Interessen - um die Tiere und die Umwelt zu schützen.
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({3})
Man kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass auch
der vorliegende Gesetzentwurf eine solche Abwägung
ist. Wenn Forscher zum Beispiel gentechnisch veränderte Pflanzen freisetzen - das heißt, sie zu Versuchszwecken auf einem Feld ausbringen -, dann kann in der
Tat Schaden entstehen, nämlich dann, wenn solche
Pflanzen in das Feld des Nachbarbauern auskreuzen und
er seine Ernte nicht mehr, wie von ihm vorgesehen, als
gentechnikfrei verkaufen kann. Dann ist in der Tat ein
Schaden eingetreten. Wir sind im deutlichen Gegensatz
zu Ihnen der Meinung, dass wir den Geschädigten nicht
im Regen stehen lassen dürfen, sondern ihm helfen müssen. Wahrscheinlich geht es dabei nur um wenige Tausend Euro.
({4})
Es darf auch aufgrund der Tatsache, dass Forscher
dieses Feld betreiben, keine Ausnahmeregelung geben.
Das ist das Ergebnis einer Abwägung und entspricht der
EU-Rechtssetzung, dass es sich um ein In-Verkehr-Bringen handelt, wenn diese Ernte weitergegeben wird.
({5})
Um die Dimension dieser Abwägung deutlich zu machen - Sie sprachen vorhin die Arbeitsplätze an -, will
ich darauf hinweisen, dass in dem Biotechnologiereport
von Ernst & Young aus dem Jahre 2003 die Information
enthalten ist, dass in Deutschland in der Biotechnologiebranche etwa 12 000 Menschen beschäftigt sind. Im
Bereich der Grünen Gentechnik ist die Zahl wahrscheinlich viel kleiner. Im Internet war die höchste Zahl
24 000; dies kann ich aber nicht bestätigen. In der ökologischen Lebensmittelwirtschaft sind in den letzten zehn
Jahren 75 000 Arbeitsplätze neu entstanden. In der
Landwirtschaft sind insgesamt 1,3 Millionen Menschen
beschäftigt.
({6})
Wir müssen also abwägen, welche Kriterien wir setzen
und wie wir uns entscheiden.
Interessant an der Diskussion, die immer wieder über
das Auskreuzungsrisiko geführt wird, finde ich, dass
einerseits wissenschaftlich fundiert behauptet wird, dass
das Risiko einer solchen Auskreuzung sehr gering sei.
Manchmal wird sogar gesagt, es gehe gegen null; das
teile ich nicht. Wenn aber darüber diskutiert wird, den
möglichen Schaden einer solchen Auskreuzung zu übernehmen, dann wird andererseits gesagt - das hat die Versicherungswirtschaft deutlich gemacht -: Einen solchen
Schaden können wir nicht übernehmen; das Risiko ist
viel zu hoch. Auch die Beteiligten wehren sich dagegen,
weil das Risiko angeblich zu hoch ist. Irgendwo besteht
da ein Widerspruch. Entweder ist das Risiko sehr gering
oder untragbar.
({7})
Mein Vorschlag: Saatguthersteller - jedenfalls die
großen - sollten einen Ausgleichsfonds für Haftung
schaffen und den beteiligten Forschern anbieten, in diesen Ausgleichsfonds mit einzutreten. Das wäre, glaube
ich, eine Möglichkeit, die machbar wäre. Wir werden
Gespräche darüber führen. Wir bleiben weiterhin mit der
Forschung im Gespräch. Wir werden, wie es auch der
Kanzler gestern gesagt hat, das Gesetz in zwei Jahren
noch einmal daraufhin prüfen, ob Verbesserungen notwendig sind.
({8})
Zum Schluss ein paar deutliche Zahlen, an denen Sie
nicht vorbeikommen, um einmal klar zu machen, wie es
um die Forschungsfreundlichkeit dieser Regierung steht:
Im Rahmen des Bildungs- und Forschungsetats wurden 1996 150 Millionen für die Biotechnologie ausgegeben; 1997 waren es 147 Millionen. In den letzten
kümmerlichen Jahren der Regierung Kohl mit ihrem
Forschungsminister Rüttgers ging es also richtig bergab.
({9})
Seit 1998, seitdem Rot-Grün an der Regierung ist, geht
es nicht nur in diesem Bereich bergauf.
({10})
Wir haben die Mittel in 2005 auf 240 Millionen Euro im
Bereich Biotechnologie erhöht. Das ist ein Plus von
60 Prozent; das darf man durchaus sagen. Der Etat für
Bildung und Forschung ist, wenn man die Mittel für die
Förderung der Ganztagsschulen und die Mittel für das
BAföG hinzuzählt, um 37 Prozent gestiegen, seitdem
wir die Regierung übernommen haben. Die alte Regierung hat versagt. Der ehemalige Forschungsminister
Rüttgers hat die Biotechnologie sowie Bildung und Forschung heruntergewirtschaftet.
({11})
Erst Rot-Grün hat das ans Licht geholt und gießt dieses
Pflänzchen, damit es wirklich gedeihen kann.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Gentechnik steckt ein gewaltiges wirtschaftliches und wissenschaftliches Potenzial. Der Biotechstandort Deutschland hat mit seinen Forscherinnen und
Forschern die Fähigkeit, in der Entwicklung innovativer
und zukunftsfähiger Anwendungen im Rahmen der Nahrungsmittelproduktion, der Produktion nachwachsender
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Rohstoffe mit neuen spezifischen Eigenschaften und der
Produktion von Energiepflanzen weltweit führend zu
sein.
Trotz des von der Bundesregierung ausgerufenen
Jahrs der Innovationen wurde im letzten Jahr ein Gesetz
vom Deutschen Bundestag verabschiedet, das der Gentechnik solch strenge Auflagen macht, dass es von angesehenen Wissenschaftlern als Gentechnikverhinderungsgesetz bezeichnet wurde.
({0})
Nun ist das Jahr der Innovationen vorbei. Dieses Jahr ist
das Albert-Einstein-Jahr ausgerufen worden. Es beginnt so, wie das letzte Jahr aufgehört hat: mit Stagnation. Denn der Grund, warum wir uns gut anderthalb
Monate nach dem In-Kraft-Treten des neuen Gentechnikgesetzes erneut mit einem diesbezüglichen Gesetzentwurf befassen müssen, liegt darin, dass die Koalitionsfraktionen den ursprünglich einheitlichen Entwurf
aus rein politischen Gründen geteilt haben, um die Mitwirkungsrechte des Bundesrates zu kappen.
Der Name dieses Jahres, Albert-Einstein-Jahr, steht
wieder für Innovationen. Auch der Bundeskanzler findet
nur warme Worte für die Gentechnik, zum Beispiel am
27. Oktober letzten Jahres auf der Festveranstaltung des
Vereins Acatech-Konvent für Technikwissenschaften,
auf dem er eine neue Balance in der Debatte um die
Gentechnik gefordert hat. In der gestrigen Regierungserklärung hat er gesagt: „Wir wollen einen vernünftigen
Rahmen setzen.“
Wie sieht dieser Rahmen aber nun tatsächlich aus?
Der vorliegende Entwurf baut auf dem völlig unzureichenden ersten Gentechnikgesetz auf und enthält vorwiegend verfahrensrechtliche Vorschriften. Die CDU/
CSU hat bereits in der letzten Wahlperiode umfangreiche Vorschläge zur Entbürokratisierung und Straffung
des Gentechnikrechts vorgelegt. Einige wenige unserer
Forderungen wurden nunmehr aufgenommen. Das hätte
man allerdings viel früher haben können.
({1})
So besteht inzwischen Konsens, dass in der
Sicherheitsstufe I - das bedeutet: kein Risiko - für gentechnische Anlagen und erstmalige Arbeiten nur noch
eine bloße Anzeige erforderlich ist. Allerdings sind die
Formulierungen widersprüchlich. Es wird im Text nicht
deutlich, worin der Unterschied zwischen „Anmeldung“
und „Anzeige“ liegt. Auch das wurde bereits in der Anhörung im März dieses Jahres von den Experten kritisiert.
({2})
Weiterhin wird die Schaffung einer amtlichen Methodensammlung zur Entnahme und Untersuchung von
Geoproben vorgesehen, um eine einheitliche Vorgehensweise zu gewährleisten. Schließlich werden bei den Fragen der Standortregister kleine Fortschritte erzielt.
Doch, meine Damen und Herren von Rot-Grün, meinen Sie wirklich, dass diese kleinen Änderungen der
c
Gentechnik in Deutschland zum Durchbruch verhelfen
können?
({3})
Ich will Ihnen das Hauptproblem nennen, das den Einsatz der Grünen Gentechnik in Deutschland tatsächlich
verhindert: Das ist das Haftungsproblem. Inzwischen redet auch die Bundesregierung davon, einen Haftungsfonds einzuführen.
({4})
In der Sechs-Punkte-Erklärung sagte Renate Künast,
dass es so etwas geben könnte. Der Auslöser für diese
halbherzige Erklärung ist uns allen bekannt. Es waren
die blauen Briefe aus Brüssel und die ablehnende Haltung des Bundesrates - sogar der SPD-geführten Bundesländer.
({5})
Auch der Bundeskanzler hat in seiner gestrigen Regierungserklärung von der Einrichtung eines Haftungsfonds gesprochen. Zugegeben: Ein Haftungsfonds ist
eine vernünftige Sache. Wir fordern das schon seit langem. Wir haben mit dem Klärschlammfonds ein bewährtes, praktikables und rechtsfestes Modell. Wir sollten gelegentlich einmal über die Grenze nach Holland schauen
und diese Vorschläge übernehmen. Allerdings täuscht
die Einrichtung eines Haftungsfonds über die eigentlichen Probleme hinweg, nämlich darüber, dass in § 36 a
des Gentechnikgesetzes eine überaus strenge und überzogene Haftung geregelt ist. Das Gesetz sieht vor, dass,
wenn der direkte Verursacher eines Schadens nicht ermittelt werden kann, jeder Nachbar, der kreuzungsfähige
GVOs anbaut, für den Ausgleichsanspruch haftet. Er soll
auch dann haften, wenn er alle Regeln der guten fachlichen Praxis eingehalten hat.
({6})
Das ist so, als würde man - um ein Beispiel des niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff aufzugreifen -,
wenn bei einem Autounfall der tatsächliche Unfallverursacher nicht ermittelt werden kann, einfach denjenigen
haften zu lassen, der am nächsten am Unfallort vorbeifährt.
({7}))
- Doch, genau das stimmt.
({8})
Es ist kein Wunder, dass bei einem solchen Rechtskonstrukt die Versicherungen Probleme haben, Versicherungspolicen für einen solchen Anbau zu kalkulieren.
Würde man im Straßenverkehrsrecht vergleichbare Regelungen schaffen, bestünde dort das gleiche Problem.
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({9})
Wir brauchen stattdessen ein Gentechnikhaftungsrecht, das den Anbau ermöglicht, für einen gerechten
Interessenausgleich sorgt
({10})
und, wie im europäischen Recht vorgesehen, Koexistenz
tatsächlich ermöglicht. Regelungen des Bürgerlichen
Gesetzbuches bieten dafür eine gute Grundlage. Sie
schaffen in § 906 BGB einen gerechten Ausgleich der
jeweiligen Eigentümerinteressen. Davon weicht das
Gentechnikrecht ab.
Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf für diese
Probleme keine Lösungen. Die Aussagen des Bundeskanzlers stehen daher im eklatanten Widerspruch zur
Wirklichkeit. Auch das in der Regierungserklärung abgegebene Versprechen, das Gentechnikrecht nach zwei
Jahren zu evaluieren bzw. anzupassen, hilft doch überhaupt nicht weiter.
({11})
Wir leben in einer Zeit, in der sich das gesamte Wissen
der Menschheit alle vier Jahre verdoppelt. Wenn wir
jetzt nicht dabei sind, werden andere Staaten die Spitze
der Entwicklung einnehmen, die Profite einfahren und
übrigens auch die entsprechenden Sicherheitsstandards
setzen. Deutschland bleibt dann außen vor.
Ich möchte nur an die Erfahrungen erinnern, die wir
Anfang der 90er-Jahre mit der Roten Gentechnik gesammelt haben. Joschka Fischer, damals hessischer Umweltminister, verhinderte den Bau eines Bioreaktors zur Produktion von humanem Insulin, weil auch die Rote
Gentechnik als höchst risikoreich galt.
({12})
Hoechst Frankfurt baute die Fertigung dann übrigens im
benachbarten Ausland, im Elsass, auf. Die Wertschöpfung erfolgt bis heute im Ausland, in Frankreich.
Die zutiefst gentechnikfeindliche Haltung beweisen
auch die zahlreichen flankierenden Maßnahmen der
Bundesregierung und vor allem des grünen Koalitionspartners. Vom Landwirtschaftsministerium wurden in
der Vergangenheit beispielsweise Freilandversuche immer wieder verhindert. Ich erinnere an den Großflächenanbau von Bt-Mais in Sachsen-Anhalt und die Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten
in Pillnitz und Quedlinburg. Das neueste Glied dieser
Kette haben wir in der letzten Woche in der Aktuellen
Stunde thematisiert. Das BMBF will die Projekte jetzt
doch weiterverfolgen, weil es die Einwände des
BMVEL nicht teilt. Das ist ein Paradebeispiel für transparentes und konsequentes Regierungshandeln.
({13})
Die Folgen einer solchen Politik haben nicht lange
auf sich warten lassen. So gibt es nach aktueller Aussage
des Bundesforschungsministeriums dort keinerlei neue
Anträge mehr zur Gentechnikforschung in Deutschland
und damit auch keine Hoffnung auf Innovation und Arbeitsplätze.
({14})
Anders ist es bei der EU. Dort werden im 7. Forschungsrahmenprogramm der Bio- und Gentechnik erheblich gesteigerte Mittel zugewiesen. Europa investiert
und Deutschland blockiert.
Auch das Zweite Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts wird die Situation für die Gentechnik in
Deutschland nicht verbessern. Insgesamt richtet das Vorgehen der Bundesregierung somit in Wissenschaft und
Wirtschaft schweren Schaden für den Standort Deutschland an. Leider hat wieder einmal Ideologie über Politik
gesiegt. Wir werden diesem Gesetz daher selbstverständlich nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich mich bei all denen ganz herzlich bedanken, die am Ende dieser aufregenden Woche ins Plenum
gekommen sind,
({0})
insbesondere bei Volker Beck, aber auch bei allen anderen Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen;
von den Oppositionsfraktionen sind bei diesem Zukunftsthema leider nur ganz wenige im Saal.
({1})
Sie können sehen: Die Koalition steht in der Tat für eine
klare Auseinandersetzung über dieses Zukunftsthema.
({2})
- Die Kollegen rufen dazwischen; der Kollege
Schirmbeck macht das im Ausschuss auch immer. Ich
darf Ihnen einfach einmal Folgendes sagen: Nachdem
wir im Plenum jetzt schon x-mal über diese Fragen geredet haben, haben wir uns eigentlich darauf gefreut, von
Ihnen einmal ein paar Sachargumente und nicht immer
die gleichen ideologischen Standpunkte zu hören.
({3})
Ein Gutes hatte Ihre Rede, lieber Herr Heiderich. Sie
eignet sich vorzüglich dazu, unseren Landwirten zugesandt zu werden. Die sind bisher nämlich immer der
Meinung gewesen, zumindest bei uns, die CDU habe einen differenzierten Standpunkt.
({4})
Sie können sicher sein: Ihre Rede wird diese Landwirte
ganz schnell kurieren.
({5})
Es ist wirklich schade, dass der Landwirtschaftsminister von Baden-Württemberg nicht da ist. Der weiß
nämlich: Nicht nur in Bayern, sondern auch in BadenWürttemberg bauen die Landwirte darauf, dass wir das,
was in der europäischen Richtlinie zu Koexistenz,
Kennzeichnung, Wahlrechten für Landwirte und Verbraucher steht, ernst nehmen. Sie tun das nicht. Die Koalitionsfraktionen tun das. Unsere Gesetze, sowohl das
erste Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts als
auch das jetzt vorliegende Gesetz, entsprechen genau
diesem Grundsatz.
({6})
Es geht im Übrigen nicht - ob Ihnen das jetzt passt
oder nicht - um das erste Gesetz. Der Herr Heiderich hat
das zwar wieder sehr schön hineingepackt, aber Sie müssen sich einfach einmal damit abfinden, dass Sie als Opposition unterliegen und dass die Mehrheit des Hauses
etwas beschließt,
({7})
das dann auch für Sie gilt.
({8})
Sie sind doch - so sagen Sie es immer - gute Demokraten.
({9})
Oder rufen Sie immer nur dazwischen, Herr
Schirmbeck?
({10})
- Herr Schirmbeck, ich finde das toll. Sie sind einer der
besten und lautesten Schreier. Nur, Argumente haben Sie
nicht. Das ist schade.
({11})
Koexistenz und Kennzeichnung, das heißt, dass Leute
wählen dürfen.
({12})
Nehmen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis: Je mehr
die Verbraucher über Gentechnik im grünen Bereich
wissen, desto weniger wollen sie sie; das ist anders als
bei neuen Techniken.
({13})
Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass unsere Landwirte nicht am Markt vorbei produzieren können. Wenn
drei Viertel der Verbraucherinnen und Verbraucher Gentechnik nicht wollen, dann können Sie nicht einfach hinterrücks auf eine schleichende Einführung der Gentechnik setzen,
({14})
sondern sollten sich mit uns zusammentun und durchsetzen, dass das gemacht wird, was die neue EU-Kommissarin gesagt hat, nämlich eine Trennung zwischen Landwirtschaft mit GVOs und Landwirtschaft ohne
gentechnisch veränderte Organismen. Sie sollten mit uns
dafür eintreten, dass die Saatgutschwellenwerte bei der
technischen Nachweisbarkeit liegen. Sie sollten mit uns
dafür eintreten, dass die Lücke bei der Kennzeichnung
tierischer Produkte endlich geschlossen wird.
({15})
Sie sollten dann gemeinsam mit uns dafür eintreten, dass
die Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden können.
({16})
Jetzt komme ich zu einem anderen Mythos, nämlich
zu der Haftungsfrage. Eigentlich könnte man sagen: Es
ist ausgesprochen witzig, wie selektiv Herr Heiderich
den Kanzler zitiert.
({17})
Lieber Herr Heiderich, nehmen Sie sich doch noch einmal die vielen vernünftigen Dinge vor, die der Kanzler
gestern gesagt. Er hat nämlich gesagt, es sei überhaupt
nicht einzusehen, warum der Steuerzahler anstelle von
Produzenten die Haftung übernehmen solle.
({18})
Ich sage Ihnen: Selbstverständlich ist die Haftung den
Produzenten aufzuerlegen.
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Einer der Punkte, die Sie offensichtlich nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, ist auch folgender: Der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages hat, auf Anregung
der Kollegen aus den Koalitionsfraktionen beschlossen,
den Landwirten anzuraten, sich von den Produzenten
- wie gesagt, 90 Prozent der Produkte kommen von
Monsanto; damit wir hier auch einmal sagen, für wen
bestimmte Leute eintreten ({19})
von der Haftung freistellen zu lassen. Geschehen kann
dies auf zwei unterschiedliche Weisen, zum Beispiel in
Form von Einzelfreistellungen. Selbstverständlich
- Frau Flachsbarth, das als Antwort auf das, was Sie gesagt haben - kann Monsanto aber, vielleicht zusammen
mit den vier oder fünf anderen Produzenten, einen Haftungsfonds gründen. Aber das soll nicht der Steuerzahler
bezahlen müssen. Das geht nicht.
({20})
Der von Herrn Heiderich aufgegriffene Vorschlag,
auch noch jene Landwirte an der Haftung beteiligen zu
wollen, die gar nicht die Absicht haben, mit gentechnisch veränderten Pflanzen zu arbeiten, lässt sich ebenfalls nicht umsetzen.
({21})
Wo sind wir denn eigentlich?
({22})
Das zuzulassen, nur damit Sie entsprechende Interessen
vertreten können, geht nicht.
Lassen Sie mich dazu noch eines sagen:
({23})
Sie können nicht erstens behaupten: „Es gibt kein
Risiko“,
({24})
und dann zweitens sagen: „Wir möchten das Risiko in
Form eines Fonds auf den Steuerzahler abwälzen“.
({25})
Sie müssen sich schon irgendwann entscheiden. Wenn
Sie das nämlich nicht tun, geht es bei Ihnen bald zu wie
beim Amtsrichter Dodl, der zwei streitende Parteien vor
sich hatte. Als die eine Seite zu ihm sagte, das und das
sei der Fall, sagte der Amtsrichter: Sie haben Recht.
Dann kam die andere Seite und hat das Gegenteil behauptet. Der Amtsrichter hat wieder gesagt: Sie haben
Recht. Daraufhin kam ein empörter Dritter und erklärte:
Sie können doch nicht dem einen und dem anderen,
wenn beide etwas Gegensätzliches sagen, Recht geben.
Dem hat er dann geantwortet: Da haben Sie wieder
Recht.
({26})
Bei Ihnen weiß man nie so Recht, was Sie eigentlich
meinen. Ich glaube, es wäre vernünftig, wir würden uns
jetzt auf die vor uns liegenden Aufgaben einigen. Das
würde uns dann wirklich weiterbringen.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich möchte an die
Zeit erinnern.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe schon darauf
gewartet, dass Sie mich ermahnen. Danke schön.
Wir sollten erstens sehen, dass die Versicherung für
die Forschungslandschaft tatsächlich läuft. Zweitens
sollten wir die Kennzeichnungslücke schließen, und
zwar gemeinsam.
({0})
Drittens sollten Sie aufhören, den Landwirten und Verbrauchern vorschreiben zu wollen, dass sie gentechnisch
veränderte Produkte essen sollen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gentechnikrechts, Drucksache 15/4834. Der Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5133, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge
der Fraktion der FDP vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5136? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5137? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5138? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist, mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5139? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist wieder mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/5134 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollständigen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4828 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({1}), Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Mauermahnmal im Marie-Elisabeth-LüdersHaus aufwerten
- Drucksache 15/4719 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU.
c
Sehr geehrter Herr Präsident! Heute ist ein historischer Tag in der deutschen Geschichte; vielleicht sollten
wir daran noch einmal erinnern. Die demokratische Revolution im März 1848 war nicht erfolgreich, aber die
vom Herbst 1989, die wir die friedliche Revolution nennen, fand heute vor 15 Jahren ihren erfolgreichen Abschluss. Die Wahl am 18. März 1990 zur Volkskammer
der DDR war die erste freie und einzige freie Wahl in der
DDR. Nach der erfolgreichen Freiheitsrevolution ging es
in den folgenden sechs Monaten bis zum 3. Oktober
1990 um die Organisation der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands. Es war wichtig, dass wir heute Morgen schon in der Plenardebatte an dieses historische Ereignis erinnert haben.
Auch in dem Antrag, über den jetzt debattiert wird,
geht es um deutsche Geschichte: die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in dieser
Stadt durch Mauer und Stacheldraht in besonders perfider Weise manifestierte. In der vergangenen Woche haben wir hier einen Gruppenantrag behandelt, der ein
ganz ähnliches Anliegen hatte wie unser Antrag heute:
Es geht um das Erinnern an die Zeit der deutschen Teilung, aber auch um die Erinnerung an die Überwindung
der deutschen Teilung.
Dass wir beide Anträge getrennt beraten, obwohl wir
in beiden Ähnliches behandeln, bedauere ich; denn dadurch wird der falsche Eindruck vermittelt, der Deutsche
Bundestag habe sich nicht nur mit dem nationalen Erinnern und Gedenken zu beschäftigen, sondern er müsse
auch Fall für Fall - also quasi für jeden Ort - separat beraten. Das Gegenteil ist richtig. Aus diesem Grund fordern wir, die CDU/CSU-Fraktion, mit unserem Antrag,
den wir vor einem Jahr eingebracht haben und in dem es
um die Gedenkstättenförderung geht, ein Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden
deutschen Diktaturen. Auch in dem heute zu behandelnden Antrag fordern wir die Einbindung „in das Gedenkstättenkonzept Berlins und des Bundes“.
Der Grund dafür, dass wir uns heute dennoch mit einem einzelnen Ort zu beschäftigen haben, ist ein Versäumnis. Es besteht darin, dass wir als Abgeordnete es
bisher vernachlässigt haben, den bestehenden authentischen Mauergedenkort in unserem eigenen Hause als
Gedenkort zu gestalten und öffentlich zu machen. Es
handelt sich um den Raum unter dem Leseraum der Bundestagsbibliothek im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus gegenüber den sieben Kreuzen am Spreeplatz, die an die
Mauertoten an dieser Stelle erinnern.
Ich war einigermaßen überrascht, als ich beim Verfassen des Antrages feststellen musste, dass viele Kolleginnen und Kollegen - auch solche, die in der vorigen Woche ein Gedenken an einem zentralen Ort gefordert
haben - den Raum bisher gar nicht bewusst wahrgenommen haben. Bei dem mit großer öffentlicher Begleitung
vorgetragenen Wunsch nach Schaffung eines zentralen
Ortes des Gedenkens an die Teilung und auch bei den so
genannten Expertentreffen zum Mauergedenken am
2. und 3. Februar dieses Jahres wurde immer wieder
übersehen, dass es auch diesen Ort schon gibt und dass
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sich die Baukommission mit Architekt und Künstler darauf verständigt hatte. Wir als Parlamentarier sollten das
nicht vergessen und wir sollten dafür sorgen, dass der
Gedenkraum im Zuge der für Mai 2005 vorgesehenen
Übergabe der nördlichen Spreeuferpromenade an die Öffentlichkeit für diese auch zugänglich gemacht wird.
({0})
Die originalen Mauerteile, für deren Erhaltung der
Künstler Ben Wargin gekämpft hat und die mit dem
„Parlament der Bäume“ zwischen Bundespressekonferenz und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zu sehen
sind, wurden in die Architektur des Parlamentsgebäudes
am authentischen Ort und im ursprünglichen Verlauf mit
einbezogen. Die Anbringung der erschütternden Informationen über die Zahl der Toten an der Mauer verstärkt
die Wirkung dieses Gedenkortes.
Zur öffentlichen Zugänglichmachung gehört selbstverständlich ein mit entsprechender Sorgfalt erstelltes
Konzept, durch das gewährleistet wird, dass der Ort
wahrgenommen und verstanden werden kann. Mit dem
Status quo ist das meines Erachtens nicht erfüllt. Der
Raum ist jetzt ein düsterer Abstellkeller und der Eindruck wird auch nicht besser, wenn dort aus Versehen
einmal das Licht angeht.
({1})
Es geht in der heutigen Debatte nicht darum, die Arbeit einer Berliner Kommission für die Mauergedenkstätten zu leisten. Ganz sicher muss das Konzept zur Erinnerungskultur hier in Berlin aber auch diesen Raum
berücksichtigen. Es ist zum Beispiel auch nicht einzusehen, dass der Antrag von voriger Woche quasi schon als
Beschlusslage des Deutschen Bundestages verstanden
wird und dass der Antrag, der heute vorliegt - er wurde
übrigens am 20. Januar 2005 eingebracht -, keine Berücksichtigung dabei fand.
Vermutlich werden wir im Bundestag spätestens dann
wieder gefragt werden, wenn es um die Finanzierung
Berliner Ideen geht. Doch auch unsere Diskussion im
Bundestag muss dafür sorgen, dass wir unsere Hausaufgaben machen. Das ist bisher nicht geschehen. Wer das
anders sieht oder besser wissen will, dem sei ein Gespräch mit den zuständigen Planern empfohlen. Einen
von Anbeginn der Planung an beabsichtigten Gedenkraum sollten wir jetzt nicht unterbewerten. Dazu liegt
der Ort schon bald viel zu exponiert. Auch das Interesse
der Öffentlichkeit an dieser Stelle wird wachsen. Wir
müssen uns dementsprechend verhalten.
Ich möchte noch zwei Gedanken anschließen, die mir
in dieser Diskussion zur jüngeren Geschichte etwas zu
sehr in den Hintergrund geraten zu sein scheinen:
Der erste Aspekt betrifft das Erinnern allgemein. Wir
sollten uns als deutsches Parlament nicht nur um ein angemessenes Totengedenken bemühen. Erinnern meint
nicht nur die Passiva deutscher Geschichte. Gerade an
einem Tag wie heute muss festgehalten werden: Es gibt
auch Aktiva in der Geschichte der deutschen Nation. Die
Ereignisse von 1989/90 sind allemal dazu angetan, den
Gedanken eines Einheits- und Freiheitsdenkmals - einen entsprechenden Antrag haben wir in der letzten Legislaturperiode beraten - wieder aufzunehmen.
Ein zweiter Aspekt, den ich ebenfalls ansprechen
möchte - damit komme ich schon zum Ende -, betrifft
die Frage nach der staatlichen Verantwortung. Bei den
zahlreichen Diskussionen über den Umgang mit den Orten des Gedenkens, zuletzt bei der Anhörung über das
von der Bundesregierung geplante Stiftungsdach für die
authentischen Orte aus der NS-Zeit in Berlin, spielt es
eine große Rolle, auf welche Weise der Staat die Arbeit
der Gedenkstätten organisieren solle.
Patrick Bahners hat das in seinem Beitrag in der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“
thematisiert und eine neue Tendenz bemerkt. Mit Blick
auf Vorschläge für Berlin schreibt er - ich zitiere -:
Eine Behörde soll entstehen, ein Amt für nationales
Gedächtnis.
Und weiter:
Der Oberaufseher über das gesamte Gedenkstättenpersonal spräche … auch mit politischer Autorität.
Er warnt davor, dass Geschichte „zum Material der Politik“ wird.
({2})
Ich sage das, anders als es uns der Autor der „FAZ“
vermuten lassen will, nicht mit Blick auf die Bundesregierung, sondern mit Blick auf unseren Konsens im
Deutschen Bundestag, den wir betonen sollten. Um es in
einem einfachen Satz festzuhalten: Der Staat ist in der
Verantwortung, er ist aber nicht Eigentümer des Gedenkens. Geschichte wird unter Historikern und in der Gesellschaft immer umstritten bleiben. Mir ist diese Feststellung wichtig. Ich denke, wir sollten uns darauf auch
weiterhin verständigen können.
Im Falle des Gedenkraumes im Marie-ElisabethLüders-Haus, um den es uns im vorliegenden Antrag
geht, ist der Staat sogar Eigentümer. Hier sind wir in der
Verantwortung, auch mit den verantwortlichen Planern
in Berlin die öffentliche Debatte zu führen, um diesen
Raum in ein Konzept des Gedenkens hier in Berlin angemessen einzupassen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Eckhardt Barthel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war eigentlich schon am Anfang klar: Bei der Sache, um die es
hier geht, gibt es keinen Dissens. Gerade bei diesem
Thema ist das auch gut so. Auch ich musste beim Lesen
des Antrages an den von Ihnen erwähnten Gruppenantrag denken, den wir vor einer Woche beschlossen haben. Der Teil, in dem es darum geht, die Mauer sichtbar
zu machen und der auch in dem Gruppenantrag
Eckhardt Barthel ({0})
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vorkommt, gehört eigentlich mit dazu. Es gibt also
durchaus Parallelen. Dahinter steckt die Überlegung: Wo
sieht man in Berlin noch die Mauer? Dabei geht es nicht
nur um den Ort, sondern auch um die Form.
Zu dem, was man im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
sieht, kann ich nur sagen: Es gibt keine eindrucksvollere
Form als die, die dort gewählt wurde. Vielleicht gibt es
noch andere Formen der Darstellung. Aber ich jedenfalls
bin von dieser Form tief beeindruckt. Mich berührt nicht
nur, dass die Mauer authentisch ist, sondern durch die
Bearbeitung von Ben Wagin wird auch späteren Generationen klar gemacht, was sie einmal bedeutet hat. Es war
schließlich nicht nur eine einfache Mauer.
Für mich kommt noch eine unheimliche Symbolkraft
hinzu. Diese Mauer befindet sich als Symbol der Unfreiheit im Keller. Eine Etage höher, direkt darüber, ist die
Bibliothek. Eine Bibliothek ist Ausdruck von Freiheit,
auch Freiheit der Gedanken. In dieser Kombination
finde ich die Position der Mauer besonders wichtig und
bedeutsam.
({1})
Ganz im Gegensatz zu dem, was am Checkpoint Charlie
mit dieser „Disneyland-Mauer“ entstand - einige werden
sich vielleicht darüber ärgern -, wird hier gezeigt, wie
unterschiedlich man mit der Erinnerung an die Mauer
umgehen kann.
({2})
Wir sind uns darin einig: Dieses Stück Mauer an diesem
Ort hat im Zusammenhang mit dem Parlamentsgebäude
eine sehr große Bedeutung.
Es ist auch gut, dass man wieder daran erinnert wird,
wo die Mauer verlief. Wie ich sehe, sitzen hier einige
Berliner. Ich bin fünf Jahre vor dem Mauerbau nach Berlin gezogen und lebe seitdem mit einigen Unterbrechungen hier. Manchmal werde ich ein bisschen blass, wenn
mich jemand fragt: Wo genau war eigentlich die Mauer?
Ich gestehe, dass ich nicht mehr sagen kann, wo genau
die Mauer überall stand. Das ist schon schwierig. Dies
müsste meines Erachtens sichtbar gemacht werden. Ich
bin übrigens nicht der einzige Berliner, dem es so geht.
Vielleicht finden Sie jemanden, der den Mauerverlauf
ohne Karte zeigen kann, aber das glaube ich nicht. Insofern geht es auch um das Sichtbarmachen.
Zum Antrag:
Herr Nooke, das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist
- Gott sei Dank - zumindest auf dem besten Weg, erledigt zu werden, wenn es nicht gar schon ganz erledigt
ist. Der erste Punkt war, den Zugang sicherzustellen. Im
Mai wird der Zugang eröffnet. Ich habe mich beim
Kunstbeirat erkundigt. Nach dessen Auskunft soll der
Zugang im Mai eröffnet werden. Ich bin froh darüber.
({3})
Jetzt wollen wir nicht kleinkariert sein.
({4})
c
Ob das eine Woche früher oder später erfolgt, ist doch
nicht das Thema. Es ist auf jeden Fall gesichert, dass das
zugänglich gemacht wird.
({5})
Das ist das Entscheidende.
Der zweite Punkt betrifft die Auflistung der Todesopfer. Ben Wargin, die Birthler-Behörde und unser Wissenschaftlicher Dienst haben dazu schon eine Liste erarbeitet. Ich finde es richtig, dass man sie in irgendeiner
Form - zu denken wäre zum Beispiel an eine kleine
Vita - sichtbar macht. Darüber gibt es auch Einverständnis.
Beim dritten Punkt, Herr Nooke, habe ich Probleme.
Es muss in der Tat eine Abstimmung mit dem Gesamtkonzept in Berlin geben. Ich würde aber - Sie haben
von unserer Verantwortung, der des Bundestages, gesprochen - die Gestaltung und diesen Raum gern in der
Verantwortung des Bundestages und des Kunstbeirats belassen. Das ist Teil eines Parlamentsgebäudes.
Dafür sollten wir verantwortlich sein. Das ändert an der
Sache nichts. Wenn etwas dargestellt wird, dann muss
das mit einbezogen werden. Das sehe ich auch. Wir sollten die Verantwortung aber nicht auf die Bundesregierung oder den Berliner Senat delegieren. Das ist unsere
Sache!
({6})
Wir haben hier einen Antrag, dem nicht nur alle zustimmen, sondern von dem wir auch wissen, dass er
durch das bisherige Handeln Gott sei Dank so gut wie
erledigt ist. Darüber sollten wir uns freuen. Wenn wir ihn
das nächste Mal behandeln, werden wir die positiven
Entwicklungen schon sehen. Vielleicht braucht man
dann gar nicht mehr darüber zu reden.
Ich bedanke mich.
({7})
Die Reden der Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP,
und Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir
mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll.1)
Jetzt hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Barthel, ich finde es gut, wie Sie eben ge-
sprochen haben. Man kann im Einzelnen immer andere
Akzente setzen, aber ich finde, Sie haben Herrn Nooke
weitestgehend Recht gegeben und sind ihm weitestge-
hend entgegengekommen. Wenn es eine Übereinstim-
mung gibt, dass wir das Denkmal erstens zugänglich ma-
chen und zweitens mit weiteren Informationen versehen
wollen, dann ist das ungemein wichtig.
1) Anlage 4
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14.30-14.40.do
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Nun kann man darüber streiten, ob der Bundestag, der
für ein Gesamtdenkmalkonzept letztlich verantwortlich ist - auch beim Mauergedenken -, auch in seinem
Antrag ein Gesamtdenkmalkonzept einfordert oder
nicht. Natürlich kann man sagen, dass dieses Denkmal
unter einer besonderen Obhut des Bundestages steht.
Darauf können wir uns gerne einigen. Ich finde aber
schon, dass es wichtig ist - das haben Sie, Herr Barthel,
in Ihrer Rede auch zum Ausdruck gebracht -, dass wir
endlich zu einem anderen Mauergedenken in Berlin
kommen.
In meinem Landkreis - ich komme aus Helmstedt in
Niedersachsen - ist in Hötensleben ein Stück der
Grenze erhalten worden. Ich finde, dass dieser Ort ungemein authentisch das Grenzregime der DDR wiedergibt
und dass man das Gespenstische und Totalitäre der
Grenze dort im Besonderen erfährt. Man erfährt auch,
dass die Bevölkerung der DDR einen ungeheuren Beitrag geleistet hat, um diese Grenze zu überwinden. Das
muss man auch einmal sagen.
({0})
Denn an dem Mauergedenken und dem Gedenken an
die Grenze kann man deutlich machen, dass Geschichte
in Mitteleuropa zumindest im zweiten Teil des letzten
Jahrhunderts geglückt ist. Darauf können wir Mitteleuropäer stolz sein. Deshalb finde ich es gut, dass wir uns
gemeinsam aufraffen, der Mauer und der Grenze zu gedenken.
Dafür ist es wichtig, dass die Mauer mit authentischen
Mauerstücken wieder hergestellt wird. Man ist mit dem
Abriss leider zu weit gegangen. Ich will das nicht kritisieren - es war in der Euphorie 1990 nicht anders
möglich -, aber ich glaube, dass man es übertrieben hat
und dass die Erinnerung an die Mauer jetzt wieder notwendig ist. Es geht um die Erinnerung an das Grenzregime der DDR, damit nicht geleugnet werden kann, was
dort für ein gespenstisches Regime existiert hat. Wer im
Schatten dieser Grenze gelebt hat, der weiß, wovon ich
spreche. Wer - wie Sie, Herr Kollege Barthel - fünf
Jahre vor dem Fall der Mauer nach Berlin gezogen ist,
weiß ebenfalls, wovon die Rede ist.
Insofern halte ich es für richtig, dass mit unserem Antrag darauf hingewiesen wird, dass im Bundestag noch
ein Stück Mauer vorhanden ist und dass sich der Bundestag diesem Stück Mauer auf besondere Weise zu widmen hat. Seit die Uferpromenade an der Spree zugänglich ist, ist die Möglichkeit dafür gegeben.
Wenn tatsächlich ein Zugang geschaffen werden
sollte - das soll durch die Kunstkommission abgesichert
worden sein; Herr Nooke bestreitet das zwar zum Teil;
ich weiß nicht, ob das stimmt - und wir heute den Antrag beschließen würden, dann haben wir, glaube ich, genug Kraft, um dieses Vorhaben zu verwirklichen und
letztlich den Zugang zu dem Grenzdenkmal zu schaffen.
Ich halte es jedenfalls für positiv, wie wir uns heute in
dieser Diskussion eingelassen haben. Es zeigt doch, dass
hier sachgerecht diskutiert werden kann, ohne dass die
Diskussion in eine parteipolitische Auseinandersetzung
mündet, die ich für falsch halten würde. Denn letztlich
haben wir alle als Demokraten dazu beigetragen, Diktaturen in Deutschland zu überwinden. Dessen sollten wir
uns erinnern und dieses Erinnerungsvermögen sollten
wir auch gemeinsam hochhalten.
Ich halte einen Tag wie den 18. März, an dem die ersten demokratischen Wahlen in der DDR stattgefunden
haben - die auch die letzten waren, denn danach kam es
zur Wiedervereinigung -, für einen positiven Anlass, um
der Mauer zu gedenken. Ich hoffe, dass wir uns hier auch
in Zukunft bei Gedenkkonzepten in derselben Gemeinsamkeit einlassen, wie es bisher der Fall gewesen ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mich über den Antrag gewundert.
Als Mitglied des Kunstbeirats kann ich Ihnen mitteilen,
dass die CDU/CSU mit ihrem Antrag grundsätzlich offene Türen einrennt. Ich denke, das ist Ihnen auch bewusst. Denn zwei Mitunterzeichner des Antrags sind
Mitglieder des Kunstbeirats und kennen den Sachverhalt
genau. Sie wissen auch, was wir dort beraten und beschlossen haben.
Ich stimme Ihnen zu, dass es im Kunstbeirat unstrittig war, diesen wichtigen authentischen Ort - das Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus - öffentlich zugänglich zu machen. Das haben wir dort beschlossen.
Der Kunstbeirat trägt auch die Verantwortung für diese
Installationen und er hat von Anfang an dafür plädiert,
dass der Raum öffentlich zugänglich gemacht wird.
Mein Kollege Eckhardt Barthel hat völlig Recht: Das
ist bereits beschlossen. An der Umsetzung dieses Beschlusses wird bereits intensiv gearbeitet und ab Mai
wird dieser Raum öffentlich zugänglich sein. Daran gibt
es keinen Zweifel; dafür ist auch kein Antrag notwendig.
Ihre zweite Forderung - die wissenschaftliche Erarbeitung eines Totenbuches - ist aus meiner Sicht eine
gute Idee. Wenn sich der Kunstbeirat damit beschäftigt,
wird er dieser Forderung sicherlich zustimmen. Die Zahlen der Toten sind bereits vom Wissenschaftlichen
Dienst in Zusammenarbeit mit der Birthler-Behörde erfasst und von Ben Wargin auf den Mauerstücken aufgetragen worden.
Ein zusätzliches Gedenkbuch - auch das haben Sie
angedacht - in Anlehnung an die Gedenkbücher in der
Lobby des Deutschen Bundestages kann ebenfalls erarbeitet werden. Ich halte auch diese Idee für gut und bin
mir sicher, dass der Kunstbeirat diese Anregung aufgreifen wird.
Auch die anderen Vorschläge wie Fototafeln und Informationsbroschüren sind vernünftig und sollten vom
Kunstbeirat bedacht und in seine Konzeption mit aufgenommen werden.
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Die von Ihnen angesprochene Integration in das
Gedenkstättenkonzept Berlins und des Bundes sollte
aus meiner Sicht in Form einer konsultativen Abstimmung erfolgen. So weit bin ich mit Ihnen völlig einer
Meinung. Ihr Antrag geht also durchaus in die richtige
Richtung und nimmt Aspekte auf, die der Kunstbeirat
angesprochen hat. Aber, Herr Nooke, im Endeffekt brauchen wir Ihren Antrag gar nicht; denn er gibt nur das
wieder, was wir längst besprochen haben.
({0})
Es gibt in Ihrem Antrag aber zwei Punkte, die ich sehr
missverständlich finde und zu denen ich ein ganz klares
Wort sagen möchte. Erstens. Sie fordern ein Konzept für
die weitere Gestaltung des Raumes. Wir waren uns
aber bislang im Kunstbeirat einig, dass wir die grundsätzliche Kargheit des Raumes erhalten wollen. Ich
finde, das ist noch immer Konsens. Die anderen konkreten Vorschläge werden wir aufgreifen und beraten.
Zweitens. Sie fordern die Einbindung in das Gedenkstättenkonzept Berlins und des Bundes. In diesem Punkt
stimme ich Ihnen nur zu, wenn das im Rahmen einer
konsultativen Abstimmung erfolgt. Aber es ist ganz klar,
dass es sich hier um ein Mahnmal des Deutschen
Bundestages handelt. Es sollte als solches auch im Verantwortungsbereich des Bundestages bleiben und nicht
dem Einfluss der Bundesregierung oder der Landesregierung Berlins unterliegen; eine solche Form der Einbindung lehne ich strikt ab.
({1})
Der Kunstbeirat hat verantwortlich gearbeitet und
bindet alle Fraktionen ein. Ich sehe daher gar keinen
Grund, ihn aus der Verantwortung zu entlassen. Das
sollte so bleiben. Ihre zum Teil richtigen Vorschläge
werden wir aufgreifen. Ich bitte Sie, Ihre zwei Vertreter
im Kunstbeirat zu beauftragen, diese Vorschläge in die
Beratungen des Kunstbeirates einzubringen.
Unter dem Strich: Eigentlich war Ihr Antrag nicht
notwendig. Aber er passt natürlich zur Diskussion des
heutigen Tages.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4719 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des
Anfechtungsrechts ({0})
- Drucksache 15/5092 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren
- Drucksache 15/5091 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer-
den.1) Es handelt sich um die Reden der Kollegen Olaf
Scholz, SPD, Friedrich Merz, CDU/CSU, Rainer Funke,
FDP, der Kollegin Jutta Krüger-Jacob, Bündnis 90/Die
Grünen, sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs
Alfred Hartenbach.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 15/5092 und 15/5091 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkt 9 auf:
22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({3}), Ernst Burgbacher, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsnachteile und bürokratische Restriktionen für Omnibusverkehre beseitigen
- Drucksache 15/4945 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
- Drucksache 15/3424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen.
Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen. Es werden aber nur zwei Redner
sprechen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Horst Friedrich von der FDP das Wort.
({5})
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieses Haus hat sich am gestrigen Donnerstag zu Recht
mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland
beschäftigt. Bei 5,2 Millionen Arbeitslosen ist das völlig
in Ordnung. Welches Ergebnis der große Berg hervorbringt, werden wir sehen.
Es ist aus meiner Sicht auch völlig in Ordnung, dass
heute über eine Branche diskutiert wird, die direkt und
indirekt immerhin 750 000 Menschen in Deutschland
ihre Arbeitsplätze sichert, davon alleine rund 70 000 in
fast 6 000 privaten Unternehmen. Für die deutsche Automobilindustrie ist der Omnibusmarkt mit rund
10 000 jährlich produzierten Omnibussen ein bedeutendes Produktionssegment, das die internationale Führungsposition der deutschen Omnibushersteller mit rund
15 000 Beschäftigten sichert.
Wir halten es nicht für so glänzend, dass diese Debatte heute Nachmittag zu dieser Zeit stattfindet. Aber
dafür kann die Opposition nichts. Das legt die Mehrheit
des Hauses fest.
Ungeachtet dessen macht es Sinn, sich über unseren
Antrag Gedanken zu machen. Er fokussiert sich auf vier
Schwerpunkte:
Erstens: der Abbau von unnötigen bürokratischen
Vorschriften im Personenbeförderungsgesetz. Diese
Vorschriften machten damals, als dieses Gesetz erlassen
wurde, zwar durchaus Sinn, sind aber in der heutigen
Zeit völlig überholt. Wenn ich mich recht erinnere, ist
Bürokratieabbau ein Ziel jeder Fraktion.
({0})
Zweitens. Es wird höchste Zeit, Wettbewerbsverzerrungen auf europäischer Ebene - das Ganze nennt man
„Harmonisierungsdefizite“ - und Verzerrungen des
Wettbewerbs der Verkehrsträger zu beseitigen. Das gilt
insbesondere für den Omnibuslinienfernverkehr. Ich
komme darauf noch im Detail zu sprechen.
({1})
Drittens. Es gilt, sich Gedanken zu machen über die
Qualität der Berufsausbildung derjenigen, die in Zukunft am Lenkrad sitzen. Personenbeförderung ist eine
wichtige Aufgabe. Das Berufsausbildungsprofil ist aus
unserer Sicht nicht hinlänglich geklärt. Es besteht insbesondere eine große Differenz zwischen dem Erwerb des
Führerscheins, dem Lebensalter, ab dem man einen Busführerschein erwerben kann, und den jetzigen Vorschriften für Berufskraftfahrer.
({2})
Viertens. Die Grundlage der Finanzierung des Linienbusverkehrs vor allen Dingen in der Fläche - derzeit
wird dieser Verkehr durch § 45 a Personenbeförderungsgesetz, also durch den so genannten Schülerausgleich,
weitgehend abgesichert - muss langfristig sichergestellt
werden; denn es ist zu erwarten - das kann man problemlos prognostizieren -, dass die Zahl der Schüler
c
bis 2015 im Vergleich zu 2000 um rund 20 Prozent sinken wird. Damit bricht eine wesentliche Säule der
Finanzierung des Busverkehrs im ländlichen Raum
weg. Die Altersstruktur im ländlichen Raum wandelt
sich. Die damit einhergehenden Risiken müssen durch
die Neuverteilung von Regionalisierungsmitteln rechtzeitig abgesichert werden.
({3})
Ich will Ihnen einmal deutlich machen, was derzeit in
§ 48 des Personenbeförderungsgesetzes - Ausflugsfahrten und Ferienzielreisen - steht:
({4}) Ferienziel-Reisen sind Reisen zu Erholungsaufenthalten, die der Unternehmer mit Kraftomnibussen oder Personenkraftwagen nach einem bestimmten, von ihm aufgestellten Plan für ein
Gesamtentgelt für Beförderung und Unterkunft mit
oder ohne Verpflegung anbietet und ausführt. Es
dürfen nur Rückfahrscheine angeboten werden und
diese nur auf den Namen des Reisenden ausgegeben werden. Die Fahrgäste sind zu einem für alle
Teilnehmer gleichen Reiseziel zu bringen und an
den Ausgangspunkt der Reise zurückzubefördern.
Auf der Rückfahrt dürfen nur Reisende befördert
werden, die der Unternehmer zum Reiseziel gebracht hat. …
Das muss man sich nun wirklich auf der Zunge zergehen
lassen. Wir leben in einer Zeit, in der fast jeder für
19,99 Euro, 29,99 Euro oder 39,99 Euro mit dem Flieger
in fast alle Teile der Welt fliegen kann, ohne die Sicherheit zu besitzen, mit dem gleichen Flugunternehmen zurückfliegen zu können, am Reiseziel eine Unterkunft zu
finden und Ähnliches. Nur der Busunternehmer muss
den Rücktransport nach wie vor gewährleisten. Was sind
solche Vorschriften des Gesetzgebers im 21. Jahrhundert
für Fesseln für einen Unternehmer?!
({5})
Das Europarecht sorgt momentan dafür - das ist eine
besondere Perversion -, dass es im Gelegenheitsverkehr
kein Kabotageverbot mehr gibt. Das bedeutet, dass ein
ausländischer Busunternehmer das Recht hat, in
Deutschland Gelegenheitsverkehr zu betreiben. Ein
Deutscher darf das nicht. Vor diesem Hintergrund sollte
allen klar sein, dass es Zeit ist, sich mit diesem Thema
auseinander zu setzen. Unser Antrag ist dafür eine gute
Grundlage. Es ist wie immer: Die Opposition und der
Bundesrat legen Vorschläge vor; doch die Mehrheit
bleibt eine Antwort bisher schuldig.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika
Mertens und die Abgeordneten Albert Schmidt ({0}) und Heinz Paula haben gebeten, ihre Reden zu
14.45-14.55.do
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete
Klaus Hofbauer.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Omnibusgewerbe ist eine sehr starke Säule des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
({0})
- Diesen Vorwurf können Sie mir machen. Aber Ihnen
würde es genauso gehen.
({1})
- Aufgrund der Tatsache, dass die Zeit schon fortgeschritten ist, werde ich mich auf einige wenige Ausführungen beschränken.
({2})
Herr verkehrspolitischer Sprecher der SPD, ich wollte
eigentlich Folgendes sagen: Wir müssen die politischen
Rahmenbedingungen für das Omnibusgewerbe deutlich
verbessern bzw. Bürokratie abbauen, weil wir ansonsten
diesen sehr wichtigen Zweig des Wirtschaftsstandorts
Deutschland kaputtmachen würden. Ich glaube, in diesem Zusammenhang sind erhebliche Anstrengungen notwendig.
({3})
Ich möchte klar und deutlich sagen: Der Antrag der
FDP ist eine hervorragende Grundlage dafür, in diese
Diskussion einzusteigen und bestimmte Dinge aufzugreifen.
({4})
Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir die in dem Antrag enthaltenen Punkte umsetzen würden, dann würden
wir dem Omnibusgewerbe in der Bundesrepublik
Deutschland einen großen Dienst erweisen, wir würden
es wettbewerbsfähiger machen und ihm eine Chance für
die Zukunft geben. Denn eines muss uns bewusst sein:
dass das Omnibusgewerbe ein entscheidender Träger
des öffentlichen Nahverkehrs ist und insbesondere im
ländlichen Raum eine bedeutende Rolle spielt.
({5})
Das Omnibusgewerbe ist vorwiegend mittelständisch or-
ganisiert. Wenn wir den Mittelstand unterstützen wol-
len, dann müssen wir auch in diesem Bereich die ent-
sprechenden Voraussetzungen schaffen. Wenn man
1) Anlage 6
darüber hinaus weiß, dass ungefähr 750 000 Arbeitsplätze mittelbar oder unmittelbar von diesem Gewerbe
abhängen, dann sieht man ein, dass dieses Gewerbe für
uns von großer Bedeutung ist.
({6})
Die CDU/CSU-Fraktion hat ja bereits vor vier oder
fünf Jahren dieses Thema aufgegriffen und hat damals
eine entsprechende Initiative im Deutschen Bundestag
gestartet. Wenn man das Protokoll nachliest, wird man
finden, dass die Regierungskoalition schon damals gesagt hat: Es ist alles in Ordnung; es ist alles paletti. Wir
müssen nichts tun; es läuft sowieso. - Die vier oder fünf
Jahre, die seitdem vergangen sind, haben gezeigt, dass
dem nicht so ist. Wenn man damals diese Initiativen der
Union aufgegriffen hätte, dann hätte das Gewerbe heute
nicht jene Probleme, die wir leider Gottes beklagen müssen.
({7})
Es ist ferner Tatsache - deswegen ist der Antrag der
FDP notwendig und wichtig -, dass viele kleine Schritte
getan werden müssen, um insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit des Gewerbes auszubauen und zu stärken. Es gibt natürlich auch andere Probleme, die angesprochen werden müssen. Es geht zum Beispiel ja auch
um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Wir brauchen eine bessere Verkehrsinfrastruktur, auch deshalb,
weil wir mit ihr dem Gewerbe helfen können. Ebenfalls
muss eine gewisse Benachteiligung dieses Gewerbes gegenüber anderen Verkehrsträgern angesprochen werden.
Es bedarf einer Gleichbehandlung der Verkehrsträger,
damit das Omnibusgewerbe eine Chance hat.
Erlauben Sie mir noch, die EU-Osterweiterung anzusprechen. Wir, sprich: die Bundesregierung, haben das
Thema des Omnibusgewerbes bei den Beitrittsverhandlungen nicht mit dem notwendigen Nachdruck angesprochen. Es sind erhebliche Probleme offen geblieben bzw.
nicht gelöst worden, die die Wettbewerbsfähigkeit des
Gewerbes beeinträchtigen.
Im Hinblick auf die von mir genannten Gesichtspunkte unterstützen wir den Antrag der FDP-Fraktion.
Wir werden uns in den weiteren Beratungen sehr intensiv mit ihm auseinander setzen. Ich persönlich bin der
Meinung: Wir sollten viele der in ihm enthaltenen
Punkte in der Tat umsetzen, weil wir dadurch diesem
wichtigen Wirtschaftszweig eine Zukunft geben können.
Er hat eine Zukunft. Unsere Unternehmer ergreifen auch
die Chancen, aber sie müssen gleichwertige Bedingungen vorfinden. Deswegen ist dies eine hervorragende
Initiative.
Herzlichen Dank.
({8})
Danke schön, auch für die Kürze der Rede. Ich
schließe damit die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4945 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf
auf Drucksache 15/3424 soll an den Ausschuss für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({0}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Flughafenanbindung nach Schönefeld fristgerecht fertig stellen - Planfeststellung der
Dresdner Bahn voranbringen
- Drucksache 15/4839 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Peter Rzepka, Roland Gewalt,
Verena Butalikakis, Siegfried Helias, Günter
Nooke und weiterer Abgeordneter
Flugverkehrskonzept für den Großraum Ber-
lin überprüfen - Flughafen Berlin-Tempelhof
offen halten
- Drucksachen 15/3727, 15/4508 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Scheffler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, die wir aber
wohl nicht brauchen werden. - Ich sehe dazu von Ihrer
Seite keinen Widerspruch.
Sind Sie damit einverstanden, dass die Kollegen
Siegfried Scheffler und Franziska Eichstädt-Bohlig ihre
Reden zu Protokoll geben?1) - Damit sind Sie sehr einverstanden. Es gibt dafür aber auch noch andere zwingende Gründe.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Peter Rzepka.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute hier im Deutschen Bundestag
abschließend den Gruppenantrag zur Offenhaltung des
Flughafens Tempelhof und erstmals den Unionsantrag
zur Dresdner Bahn. Beide Themen gehören meines Er-
achtens auf die Tagesordnung, das erste deshalb, weil die
Anbindung der Hauptstadt an die nationalen und
1) Anlage 7
internationalen Flugverkehre von gesamtdeutschem
Interesse ist.
Das Plenum des Deutschen Bundestages muss ein Forum der Diskussion darüber bleiben, welche Aufgaben
die alte und neue Hauptstadt für unser Land wahrnehmen kann und welche Unterstützung sie dafür braucht.
Das Luftverkehrskonzept für die Hauptstadt und den
Großraum Berlin ist nicht nur ein Thema für die Länder
Berlin und Brandenburg, sondern auch für den Bund und
die anderen Bundesländer. Darüber hinaus ist der Bund
als Mitgesellschafter der Berliner Flughafengesellschaft
und als wesentlicher Miteigentümer der Immobilie Flughafen Tempelhof - immerhin zwei Drittel des Flughafengeländes befinden sich in Bundesbesitz - auch Beteiligter.
Die kurzfristige Schließung Tempelhofs, die vom
Berliner Senat betrieben wurde, wäre - jedenfalls vor
rechtskräftiger Planfeststellung und gesicherter Finanzierung für BBI in Schönefeld - verantwortungslos und
würde die Ausschöpfung der Wachstumspotenziale im
Luftverkehr in der gesamten Hauptstadtregion ernsthaft
gefährden. Insbesondere nach den neuesten Entwicklungen rund um den Bau des internationalen Flughafens in
Schönefeld erscheint die Schließung Tempelhofs vor der
Fertigstellung von BBI in Schönefeld nicht vertretbar.
Der Luftverkehr muss auch während der Übergangszeit
bis zur Fertigstellung des Flughafens in Schönefeld gefördert werden. Dazu müssen ausreichende Flughafenkapazitäten bereitgestellt werden. Diese Einsicht teilen
wir im Übrigen mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, die sich angesichts von Pleiten, Pech und Pannen bei der Flughafenplanung in der Region ernsthaft
Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung und die damit verbundenen Arbeitsplätze in der Region machen.
Den Flugkapazitäten der Mutter aller modernen Flughäfen, wie Lord Norman Foster Tempelhof nennt,
kommt in der Übergangszeit eine wichtige Rolle zu.
Würde Tempelhof geschlossen, fielen zwei Start- und
Landebahnen weg. Im Zuge der Baumaßnahmen in
Schönefeld wird auch dort eine Bahn geschlossen. Damit würde Berlin auf drei von derzeit sechs Start- und
Landebahnen verzichten. Experten gehen davon aus,
dass dadurch die Entwicklungspotenziale des Flugverkehrs im Großraum Berlin nicht ausgeschöpft werden
können und schon im Jahre 2007 weitere Engpässe drohen. Denn der Passagierboom an den Berliner Flughäfen
hält an. Im Januar dieses Jahres gab es rund 1 Million
Passagiere an allen drei Flughäfen; das sind 20 Prozent
mehr als im Januar 2004.
Hinzu kommt, dass das Datum der Inbetriebnahme
von BBI auch infolge der rechtswidrigen Entscheidungen des Berliner Senats und der Landesplanung in Brandenburg zunehmend ungewiss wird.
({0})
Nachdem das Oberverwaltungsgericht Berlin im vorigen
Jahr die zum 31. Oktober 2004 geplante Stilllegung
des Flughafens Tempelhof für offensichtlich rechtswidrig erklärt hat, ist nun durch die Entscheidung des
.00-15.10.doc
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Oberverwaltungsgerichts Frankfurt/Oder auch noch die
landesplanerische Grundlage für den Flughafenausbau von BBI in Schönefeld infrage gestellt. Der Planfeststellungsbeschluss und damit das Baurecht für BBI
sind nun sehr stark gefährdet, jedenfalls nach Auffassung von Verfassungsrechtlern. Ein erneutes Landesentwicklungsplanverfahren und ein Ergänzungsverfahren
zur Planfeststellung für BBI erscheinen notwendig. Der
ohnehin stark gefährdete Zeitplan für den BBI-Bau
kommt damit weiter unter Druck. Schließlich klagen
3 700 Flughafengegner gegen den Planfeststellungsbeschluss vor dem Bundesverwaltungsgericht - Ausgang
ungewiss.
Ungeklärt ist schließlich die Finanzierung des Großflughafens in Schönefeld, insbesondere was die Anteile
der Berliner Flughafen-Gesellschaft sowie die Anteile
der Gesellschafter Bund, Berlin und Brandenburg an
dem nach jetzigen Schätzungen 2,5 Milliarden Euro teuren Projekt zuzüglich der circa 5 Millionen Euro für die
BBI-Schienenanbindung angeht.
Vor dem Bau von BBI in Schönefeld stehen alles zusammengenommen immer mehr Hürden. Es ist daher
höchste Zeit, sich den Problemen zu stellen und Tempelhof als wichtigen Bestandteil eines tragfähigen Flugverkehrskonzepts im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins anzuerkennen.
({1})
Die zur Begründung der vorzeitigen Stilllegung Tempelhofs geltend gemachten Verluste in Höhe von etwa
16 Millionen Euro im Jahr sind nie belegt worden.
({2})
Bis heute werden die Zahlen unter Verschluss gehalten.
Nach meinen Recherchen resultieren die Verluste nicht
aus dem Flugbetrieb, sondern vor allem aus dem Gebäudeleerstand. Seit Jahren wird eine stärkere Vermietung
der Immobilie durch nicht marktgerechte Miet- und
Pachtforderungen verhindert, um mit dem Argument
von betriebswirtschaftlichen Verlusten eine Schließung
des Areals zu betreiben.
({3})
Dabei ist ganz offensichtlich nicht geklärt, was mit
der denkmalgeschützten Flughafenanlage nach der
Schließung geschehen sollte. Der Steuerzahler würde
noch über Jahre hinweg mit den Verlusten der Immobilie
Tempelhof belastet, es sei denn, der Bund, der Berliner
Senat und die Berliner Flughafen-Gesellschaft kommen
endlich zur Vernunft und machen den Weg für eine zukunftsfähige Nutzung frei. Tragfähige Konzepte liegen
dazu vor,
({4})
werden vom Senat aber nicht vorurteilsfrei geprüft. Beispielhaft zu nennen ist das Konzept, Tempelhof als
Check-in-Terminal für BBI und als innerstädtischen
Flughafen für kleine Verkehrsmaschinen zu nutzen.
Zudem fordern wir mit unserem Gruppenantrag die
Bundesregierung auf, die Angebote von Fluggesellschaften, den Flughafen Tempelhof in Eigenregie zu betreiben, ebenso gründlich zu prüfen wie die Möglichkeit,
Teile einer privatisierten Flugbereitschaft des Bundes
zum regierungsnahen Standort Tempelhof zu verlagern.
({5})
Orientieren kann sich die Bundesregierung dabei am Beamtenshuttle. Den wird die DBA ab Mai vom Flughafen
Tegel nach Tempelhof verlagern.
({6})
- Die Bundesregierung hat selbst angekündigt, auch bei
der zukünftigen Ausschreibung Tempelhof einzubeziehen, Herr Kollege. - Die „Berliner Morgenpost“ vom
11. März titelt dazu: „Der Bundestag fliegt wieder auf
Tempelhof“. Die Botschaft ist klar: Der Markt entscheidet nicht gegen Tempelhof, sondern für den Standort in
unmittelbarer Nähe zum Regierungsviertel, nur wenige
U-Bahn-Stationen entfernt.
Schließlich fordern wir die Bundesregierung auf, zu
prüfen, ob die Immobilie ein geeigneter Standort für die
zentralisierte Unterbringung von Bundesbehörden wäre.
Auf der Grundlage der Ergebnisse unserer Prüfaufträge könnten tragfähige Entscheidungen vorbereitet
werden. Ich bin sicher, dass die Prüfungen ergeben werden, dass Tempelhof eine sinnvolle Ergänzung auch zu
einem zukünftigen Flughafen BBI in Schönefeld sein
könnte.
({7})
Tempelhof bliebe erhalten, auch als Symbol der deutschen Luftfahrtgeschichte, der Überwindung der Blockade Berlins und der Entwicklung der Freundschaft zu
den westlichen Alliierten.
Ungeachtet unseres Einsatzes für den Erhalt des Flughafens Tempelhof steht die Unionsfraktion zum Projekt
BBI in Schönefeld. Damit BBI als Wachstumsmotor für
die Region zum Erfolg wird, müssen aber endlich die
richtigen Weichen gestellt werden. Dazu gehört, BBI
eine attraktive Verkehrsanbindung zu sichern. Damit
die Flughafenanbindung nach Schönefeld fristgerecht
fertig gestellt werden kann, ist es unbedingt notwendig,
das Planfeststellungsverfahren für den Ausbau der
Dresdner Bahn zügig wieder aufzunehmen und abzuschließen.
Es ist nicht nachzuvollziehen, warum die Deutsche
Bahn AG in ihrer Mittelfristplanung die Pläne für die
neue Gleisanbindung des Flughafens zurückgestellt hat.
Die Bundesregierung muss darauf achten, dass sich die
Anbindung des so bedeutenden Verkehrsprojekts BBI an
das Schnellbahnnetz nicht weiter verzögert, und sie
muss sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen, Fördergelder aus Brüssel zu beantragen und abzurufen.
({8})
Die Dresdner Bahn ist einerseits für eine optimale
Flughafenanbindung unverzichtbar. Sie soll andererseits
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die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands mit
den Metropolen Wien, Prag und Budapest verbinden.
Die zögerliche und wechselhafte Haltung des Bundesverkehrsministeriums ist deshalb nicht akzeptabel.
({9})
Nachdem sich in den vergangenen sieben Jahren die
Position des Bundesverkehrsministeriums zum Thema
Dresdner Bahn öfter änderte, als die Bundesverkehrsminister wechselten, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich bei diesem Verkehrsprojekt endlich wieder zu engagieren und Farbe zu bekennen.
({10})
Geschieht dies nicht, bekämen wir in Schönefeld einen
neuen Bahnhof ohne die dazugehörige Schnellbahnanbindung. Ein Schildbürgerstreich!
({11})
Die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG wären außerdem gut beraten, wenn sie Vorschläge für eine
Tunnelvariante im Bereich Lichtenrade - auch hinsichtlich ihrer Finanzierbarkeit - prüfen würden. Denn
es ist bisher nicht ausreichend belegt, dass diese Variante
zu erheblich höheren Kosten als die ebenerdige Version
führen würde. Einerseits haben Kostenvergleiche mit anderen Tunnelprojekten in Deutschland Anlass zu erheblichen Zweifeln an der Seriosität der von der Bahn vorgegebenen Zahlen für das Bauverfahren im
Schildvortrieb gegeben.
({12})
Andererseits wurde die ebenerdige Bauform von der
Bahn extrem billiggerechnet, obwohl diese Bauform
teure Straßenunterführungen, Schallschutzwände, passiven Schallschutz für die Häuser und weitere kostenträchtige Maßnahmen bedingt.
({13})
- Wir haben in Berlin die Erfahrung gemacht, dass die
Planfeststellungsverfahren zwar vorangetrieben werden,
dass sie aber letzten Endes vor den Gerichten keinen Bestand haben. Ich halte es für sinnvoll, schon im Planungsverfahren richtig vorzugehen, damit die Planfeststellung rechtskräftig werden kann.
({14})
Eine Berücksichtigung der Anwohnerinteressen in
Bezug auf Lärm- und Erschütterungsschutz sowie zur
Durchwegung im dicht besiedelten Ortsteil Lichtenrade,
wo immerhin über 50 000 Menschen wohnen, und damit
eine Berücksichtigung der Argumente der Lichtenrader
Bürgerinitiative, die sich konstruktiv in die Planung einbringt, ist jedenfalls unabdingbar.
({15})
Ich bitte Sie um Zustimmung für beide hier vorgelegten Anträge. Ein klares Bekenntnis des Bundestages sowohl zu Tempelhof als auch zu BBI und dessen Schienenanbindung wäre ein wichtiges Bekenntnis zu unserer
Hauptstadt Berlin und deren Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hellmut
Königshaus.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
sehr froh, dass ich heute zu so später Stunde
({0})
nicht nur zu Kollegen der vereinigten Landesgruppen
sprechen kann, sondern Gott sei Dank auch zu einigen
anderen Kollegen. Damit ich mich nicht allzu sehr entwöhnen muss, ist auch der Kollege Tauss anwesend, den
ich sehr herzlich begrüße.
({1})
- Doch, auch Sie begrüße ich ganz besonders herzlich.
Die Bundesregierung müsste bei den Stichworten
„Tempelhof“ und „Dresdner Bahn“ vor Scham in den
Boden versinken und Sie, meine liebe Kolleginnen und
Kollegen von Rot-Grün, gleich mit. Der Flughafen Tempelhof sollte eigentlich schon längst in privater Hand
sein. Es gibt Airlines, die für seinen Bestand kämpfen.
Es gibt Airlines, die den Flughafen übernehmen wollen,
zum Beispiel die dba; Kollege Rzepka, der mehr Zeit
hatte, das auszuführen, hat schon darauf hingewiesen.
Dazu, dass Sie solche Angebote ausschlagen, muss ich
sagen: Wir sind zwar einiges gewohnt; aber so stümperhaft ist Gott sei Dank nicht alles, was Sie machen.
Der Flughafen Tempelhof, ein innerstädtischer Flughafen, ist ein Pfund, mit dem man wuchern könnte und
auch wuchern müsste. Metropolen, die eine bessere Verwaltung haben als Berlin, bauen solche Cityflugplätze.
Berlin wird schlecht verwaltet; Berlin will einen Flugplatz, den es schon hat, schließen. Das kann nicht richtig
sein. Armes Berlin, das so schlecht regiert wird!
({2})
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Aber man muss auch sagen: Armes Deutschland, das
von einer so schlechten Bundesregierung verwaltet wird,
({3})
und zwar losgelöst von Bedarf und Bedürfnissen, allein
gesteuert von ideologischer Verblendung! Das zeigt sich
gerade bei dieser Frage.
Denn es stimmt ja nicht, dass uns das im Bund nichts
angeht, wie immer behauptet wird. Es ist unsere Flughafengesellschaft; das hat Kollege Rzepka gerade gesagt.
Wir sind Miteigentümer. Es ist das Geld der Steuerzahler von Flensburg bis Füssen - alle sind daran beteiligt -,
das von Ihnen leichtfertig verbrannt wird. Frau
Eichstädt-Bohlig und Herr Scheffler, dass Sie sich zu
diesem Thema jetzt nicht äußern wollen, sondern Ihre
Reden zu Protokoll geben, ist typisch.
({4})
Sie tragen mit Ihrer Entscheidung dazu bei, eine tragende Säule für die wirtschaftliche Prosperität im Raum
Berlin und Brandenburg einzureißen.
({5})
Sie halten an einem Konsensbeschluss fest, der längst
überholt ist. Denn Sie lassen einen Großflughafen, der
nach dem Konsensbeschluss schon längst fertig sein
müsste, fiktiv existieren.
({6})
Inzwischen sind die Zahlen für Flugbewegungen und
Passagiere massiv in die Höhe gegangen, geradezu explodiert. Aber Sie tun so, als sei das nicht der Fall. Sie
erkennen die Probleme überhaupt nicht mehr. Mit
Trappatoni kann man sagen: „Sie haben fertig“ und „Flasche leer“.
({7})
Das gilt im Übrigen auch für den Umgang mit der
Bahn gerade im Großraum Berlin. Das Thema „Dresdner Bahn“ ist wirklich ein Trauerspiel.
({8})
Da plant eine sozialdemokratisch regierte Bundesregierung eine Bahnstrecke und der sozialdemokratisch dominierte Senat blockiert das Verfahren über mehrere Jahre.
Da reden die Grünen andauernd von Lärmschutz
Herr Kollege!
- ich komme zum Schluss - und das der Bundesregierung unterstehende Eisenbahn-Bundesamt verweigert
ihn, und zwar nicht nur an der Dresdner Bahn, sondern
auch an der Anhalter Bahn. Auf der nach oben offenen
Glaubwürdigkeitsskala sind Sie inzwischen bei null angekommen. Sie sollten darauf achten, dass Sie wieder
glaubwürdig werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und der
Präsidentin für ihre Geduld.
({0})
Ich danke für den Dank und möchte sagen: Kollegen,
die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, äußern sich
durchaus zum Thema. Sie geben ihre Reden meist aus
Solidarität mit anderen Kollegen zu Protokoll, für die
der Arbeitstag hier noch nicht beendet ist und die noch
Termine haben.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4839
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/4508 zu dem Antrag mit dem Titel „Flugverkehrskonzept für den Großraum Berlin überprüfen - Flughafen Berlin-Tempelhof
offen halten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3727 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
beiden Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. April 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und natürlich auch den Besucherinnen und Besuchern auf den
Tribünen eine schöne Osterpause.
Die Sitzung ist geschlossen.