Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die folgende Zusatzpunktliste zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Absichten der Koalition, die Beweisaufnahme des
2. Untersuchungsausschusses - Visa - vorzeitig zu beenden
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({0})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes
({1})
- Drucksache 15/5576 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({3})
- Drucksache 15/5575 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reorganisation der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche
Bundespost und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 15/5573 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten und
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/5574 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abfall-
verbringungsgesetzes sowie zur Auflösung und Ab-
wicklung der Anstalt Solidarfonds Abfallrückführung
- Drucksache 15/5523 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Straffung der Umweltstatistik
- Drucksache 15/5538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Zweckvermögen
des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank
und zur Änderung des Gesetzes über die Landwirtschaftliche Rentenbank
- Drucksache 15/5566 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({8})
Finanzausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören Bartol,
Ludwig Stiegler, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({9}), Volker Beck ({10}), Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Car-Sharing als innovative Verkehrsdienstleistung im Umweltverbund
fördern
- Drucksache 15/5586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L.
Kolb, Hans-Joachim Otto ({12}), Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Finanzierung der Künstlersozialversicherung sichern
- Drucksache 15/5476 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch,
Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Selbstbestimmungsrecht und
Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Patienten
stärken
- Drucksache 15/3505 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({14})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Schwerer Störfall in der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({16}), Cornelia
Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen
- Drucksachen 15/3356, 15/4587 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Gesine Multhaupt
Werner Lensing
Grietje Bettin
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke,
Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({17}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Stärkung der Eigentümerrechte einer Aktiengesellschaft ({18})
- Drucksache 15/5582 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße,
Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine
Kurth ({20}), Werner Schulz ({21}), Volker Beck
({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Öffnungszeiten der Außengastronomie während der Fußball-WM 2006 flexibel handhaben
- Drucksache 15/5585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({23})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes ({24})
- Drucksache 15/4493 ({25})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({26})
- Drucksache 15/5606 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({27})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5610 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Alexander Bonde
Otto Fricke
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 16 und 17 sollen getauscht,
der Tagesordnungspunkt 26 - Änderung telekommuni-
kationsrechtlicher Vorschriften - abgesetzt werden. Sind
Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Standortbedingungen
- Drucksachen 15/5554, 15/5601 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({28})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unternehmensnachfolge
- Drucksachen 15/5555, 15/5603 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({29})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Hans Eichel das Wort.
({30})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Michelbach, Ihre Besetzung ist
auch relativ dürftig!
({0})
Wie stark ist denn Ihr Interesse an diesem Thema? Wenn
ich mir überlege, wie das im Bundesrat gewesen ist,
({1})
wäre ich da an Ihrer Stelle außerordentlich vorsichtig.
({2})
Wir haben heute zwei Gesetzentwürfe zu behandeln:
erstens das Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen
Standortbedingungen, zweitens das Gesetz zur Sicherung der Unternehmensnachfolge - beides Gesetze, in
denen Ergebnisse des Jobgipfels und der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 17. März dieses Jahres umgesetzt werden.
({3})
Im ersten Gesetzentwurf geht es um eine Senkung
des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 19 Prozent
und die Erhöhung des Anrechnungsfaktors bei der Gewerbesteuer von 1,8 auf 2,0 - bei kompletter Gegenfinanzierung im Unternehmensbereich.
({4})
Ich sage das mit allem Nachdruck, damit auch hier die
Verhältnisse klar sind. Dies ist ein Element in einer Perspektive der weiteren Umgestaltung der Unternehmensbesteuerung, die ja - das ist jedenfalls die Position der
Bundesregierung - zur rechtsformneutralen Unternehmensbesteuerung hinführen muss. Dies muss finanzierungsneutral erfolgen.
({5})
Ich darf Sie übrigens darauf hinweisen, dass die Bundesregierung bereits mit der Unternehmensteuerreform,
die wir im Jahr 2000 beschlossen haben, genau diesen
Weg vorgeschlagen hatte. Wir wollten schon damals
Rechtsformneutralität. Das heißt nichts anderes, als die
Personengesellschaften dem System der Körperschaftsteuer zu unterwerfen. Wir hatten damals das Optionsmodell vorgeschlagen, damit die Personengesellschaften
genau dies tun können. Damit würden wir uns in den europäischen Geleitzug einordnen. Sie haben das damals
abgelehnt. Jetzt lese ich in der Zeitung als Vorschlag zum
Beispiel von Herrn Kollegen Stratthaus, genau das müsse
man jetzt tun: Man müsse das Optionsmodell - das Sie
damals abgelehnt haben - einführen. Ein bisschen spät
gemerkt, kann ich dazu nur sagen!
({6})
Die Entwicklung ist ein Stück weiter gegangen: Es gibt
in der Zwischenzeit einfachere und bessere Modelle.
Deswegen sage ich: Das ist die Perspektive. Auf dem
Weg dahin gehen wir einen ersten Schritt.
Dieser erste Schritt - das muss klar sein - hat natürlich auch etwas damit zu tun, wie wir uns im europäischen Umfeld bewegen. Da sind die Entwicklungen,
nachdem wir eine Reihe von Schritten gegangen sind,
inzwischen wieder weitergegangen: Wir haben in vielen
Ländern der Europäischen Union niedrigere Körperschaftsteuersätze, allerdings in sehr vielen Fällen mit
breiterer Bemessungsgrundlage als bei uns. Deswegen
ist es richtig, den Weg in diese Richtung zu gehen, nämlich auf der einen Seite die Steuersätze bei uns zu senken
und auf der anderen Seite die Gegenfinanzierung im Unternehmensteuerbereich zu suchen. Weil es nicht sein
kann, dass es einen Steuersenkungswettlauf in Europa
gibt - das macht für niemanden einen Sinn -, müssen
wir allerdings auch zu einer Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union kommen.
({7})
Die Bundesregierung hat als ersten Schritt dahin diese
Initiative gestartet, um zu einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage bei der Körperschaftsteuer zu gelangen.
Das wird inzwischen von ungefähr 20 der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union als richtiges Ziel anerkannt. Auch die Kommission hat das an die Spitze ihrer
Arbeit in diesem Bereich der Lissabon-Agenda gesetzt.
Ich denke, das ist auch richtig.
In diesem Zusammenhang will ich aber ausdrücklich
deutlich machen, dass wir weiter gehen müssen. Damit
bin ich bereits bei der Gegenfinanzierung. Wer die Verlagerung des Steuersubstrats in Europa von einem Standort
zum anderen verhindern will - es geht also darum, dass
der Gewinn nicht mehr an einem anderen Ort als dem
versteuert wird, an dem er entstanden ist -, der kann das
schlussendlich nicht mit einem irrsinnigen Kontrollaufwand erreichen - das würden wir nie schaffen -, sondern
nur dadurch, dass es die steuerlichen Anreize für die Verlagerung von Steuersubstraten nicht mehr gibt. Das ist
die eiserne Logik dieser Entwicklung.
Wie gesagt, hiermit bin ich bei dem streitigen Punkt
der Gegenfinanzierung. Das Prinzip ist übrigens nicht
streitig; das ist auch von allen anerkannt worden. In dem
Augenblick, in dem man mit der Körperschaftsteuer heruntergeht, wird der Anreiz, das Steuersubstrat zu verlagern, kleiner. Die einzige Frage ist, wie hoch man das
ansetzt. Wir haben das aus meiner Sicht sehr vorsichtig
angesetzt. Deswegen stehe ich dazu, dass dies aufkommensneutral geschieht. Wir gehen davon aus, dass ein
Gewinn von 50 Milliarden Euro, der in Deutschland entsteht, hier nicht versteuert wird. Wir rechnen damit, dass
künftig etwa 6,5 Milliarden Euro aufgrund dieser Steuersatzsenkung in Deutschland verbleiben. Die steuerliche
Gesamtbelastung nach dem neuen System, nach den
neuen Steuersätzen, wird ein Drittel betragen. Somit
werden etwa 2,2 Milliarden Euro an Steuern anfallen.
Bei dieser Gelegenheit will ich noch auf etwas anderes hinweisen, weil von angeblichen Luftbuchungen die
Rede war.
({8})
Ich hatte die Höhe der Steuersenkungen - hören Sie genau zu - aufgrund der Steuersatzsenkung von 25 auf
19 Prozent mit 6,2 Milliarden Euro angesetzt. Die bayerische Rechnung ergab 5,2 Milliarden Euro. Nur so viel
möchte ich zu der Frage sagen, ob hier Luftbuchungen
enthalten sind oder nicht.
({9})
Eine nächste Bemerkung, die ich in diesem Zusammenhang machen will: Als ob das in Ihren Reihen nicht
abgestimmt war, gab es in der Union eine Diskussion
darüber, dass hier die Konzerne wieder begünstigt würden und der Mittelstand wieder benachteiligt sei.
Erstens war das noch nie der Fall. Um das zu erkennen, müssen Sie sich nur die Gutachten des Sachverständigenrates, der Deutschen Bundesbank und von Arthur
Andersen für das „Handelsblatt“ anschauen. Dann erkennen Sie, dass die Steuerreform genau das Gegenteil
beinhaltete, dass der Mittelstand und die Personengesellschaften dabei nämlich deutlich besser weggekommen sind als die Kapitalgesellschaften.
({10})
Zweitens ist es auch falsch, zu behaupten, Kapitalgesellschaften seien die Großen und Personengesellschaften seien die Kleinen. Von den 15 Prozent
Kapitalgesellschaften sind nämlich über 90 Prozent Mittelständler und von den 85 Prozent Personengesellschaften sind 20 Prozent GmbH & Co. KGs. Sie wechseln
von einem Steuerregime ins andere, je nachdem, wie es
für sie günstiger ist. Auch insofern ist die Debatte, die an
dieser Stelle geführt wird, unsinnig.
({11})
Ich hatte Herrn Kollegen Faltlhauser gesagt, worüber
man reden kann. Wenn man mit einzelnen Elementen der
Gegenfinanzierung nicht einverstanden ist, sollte man
sich daran erinnern, dass der Bundeskanzler am
17. März 2005 an dieser Stelle gesagt hat, dass angesichts der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auch
eine Erhöhung der Dividendenbesteuerung als ein Finanzierungsinstrument erwogen werden könne.
Wir stehen nun vor folgender Situation: Sie sagen
zwar zum wiederholten Male - so haben Sie sich ja die
ganze Wahlperiode verhalten -, was Ihnen nicht passt,
Sie ziehen aber nie die Konsequenz aus Ihrem Teil der
Verantwortung, die Sie deshalb tragen, weil Sie den
Bundesrat mit einer Mehrheit dominieren. Sie sagen
nicht, was Sie an dieser Stelle wollen.
({12})
Damit werden Sie übrigens nicht mehr lange durchkommen, wenn es nach Ihrer Strategie geht. Sie fallen
jetzt nämlich aufgrund Ihrer eigenen Fesseln. Nach Ihrer
Strategie gewinnen Sie im Herbst Neuwahlen. Ich sage
ausdrücklich „nach Ihrer“. Da werden Sie sich aber noch
wundern.
({13})
Wenn das so sein sollte, dann könnten Sie nicht nur die
Hälfte der Verantwortung übernehmen. Vielmehr müssten Sie dann endlich sagen, was Sie selber wollen.
({14})
Wenn Sie aber im Herbst in der Lage sein wollen, deutlich zu machen, was Sie selber wollen, dann können Sie
doch schon in diesem Sommer wenigstens die Hälfte der
Verantwortung, die Sie zurzeit haben, wahrnehmen. Um
diesen Sachverhalt geht es.
({15})
So ist es auch bei dem zweiten Gesetzesvorhaben.
Dabei war hinsichtlich der Regelung zur Sicherung der
Unternehmensnachfolge verabredet, dass der bayerische
Entwurf eingebracht wird. Die Bundesregierung hatte
sich, wenn das gewünscht würde, bereit erklärt, ihrerseits diesen Entwurf einzubringen. Was habe ich bekommen? Einen Entwurf von Herrn Faltlhauser, der, so hat er
mir erklärt, im Kabinett noch gar nicht beraten wurde.
({16})
Meine Nachfrage, ob dies der Entwurf ist, hinter dem die
Union steht, wurde nie beantwortet. Auch meine zweite
Frage nach der Gegenfinanzierung wurde nicht beantwortet. Wir haben dann einen Entwurf eingebracht, woraufhin Bayern sehr schnell reagiert hat. Was ist in diesem Entwurf als Gegenfinanzierung vorgesehen? Sie
wollen eine Landessteuer senken und dies mit Einnahmen aus einer Gemeinschaftsteuer finanzieren. Das ist
- oh Wunder - genau das, was der Bundeskanzler, wenn
es bei der Gegenfinanzierung für die Absenkung des
Körperschaftsteuersatzes noch Probleme geben sollte,
für uns erklärt hatte, nämlich zur Finanzierung dieser
Senkung die Dividendenbesteuerung zu erhöhen. Meine
Damen und Herren, merken Sie denn gar nicht, wie lächerlich Sie sich mit einem solchen Vorschlag machen?
({17})
Damit sind wir bei dem Grundproblem. Angeblich
haben Sie den Jobgipfel gewollt. Man hat jedoch schon
Tage vorher lesen können, dass Sie über die Einladung
des Bundeskanzlers zu diesem Gipfel eher unglücklich
waren. Sie wussten nämlich nicht, was Sie auf diesem
Jobgipfel umsetzen wollten.
({18})
Genau so haben Sie sich hinterher verhalten. Die Einsetzung einer Arbeitsgruppe mit einem Finanzminister eines sozialdemokratisch geführten Landes, einem Finanzminister eines unionsregierten Landes und mir war
verabredet. Ich habe Wochen gebraucht, um herauszufinden, wer denn mein Gesprächspartner war.
({19})
Das war dann Herr Faltlhauser. Als wir uns das erste und
einzige Mal getroffen haben, hat er uns erklärt, dass er
erstens kein Verhandlungsmandat habe und es zweitens
keine Arbeitsgruppe gebe. So gehen Sie mit den Ergebnissen des Jobgipfels um! Deswegen sind wir jetzt in der
Situation, dass wir diese Fragen im offenen parlamentarischen Verfahren angehen müssen.
({20})
Ich hoffe, dass jetzt eines aufhört - damit werden Sie
nicht durchkommen; denn das werden wir in dem anstehenden Wahlkampf in aller Deutlichkeit sagen -: Diese
Art destruktiver Politik, alles abzulehnen und nicht zu
erklären, was Sie selber wollen, hat unser Land in eine
schwere Krise geführt. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen; darüber reden wir noch in der nächsten Debatte.
({21})
Wenn Sie - das finde ich als Finanzminister wunderbar, weil ich das genauso sehe - auf einer vollen Gegenfinanzierung bestehen, dann sagen Sie einmal Herrn
Kauder - er ist jetzt nicht da -, dass die Sache mit dem
Selbstfinanzierungseffekt nicht funktioniert. Hier geht es
nur darum, ob ein vorhandenes Steuersubstrat im Lande
bleibt. Ich habe nämlich gelesen, die von der CDU/CSU
geplante Absenkung der Steuersätze in ihrem Konzept
könne unter anderem durch ein Anziehen des Wirtschaftswachstums und durch mehr Beschäftigung finanziert werden. - Meine Damen und Herren, damit fallen
Sie auf Positionen zurück, die Sie zuletzt im Jahre 2000
vertreten und seither die ganze Zeit dementiert haben,
die Sie aber jetzt, um dem Volk Sand in die Augen zu
streuen, wieder ausgraben.
({22})
Das ist das genaue Gegenteil von dem, mit dem Sie gegenwärtig gegen diese beiden Gesetzentwürfe argumentieren. Bei Ihnen passt nichts zusammen. So kann man
zu keinem gedeihlichen Ergebnis kommen.
({23})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Seiffert, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Herr Minister Eichel, diese Vorstellung war eines Finanzministers, der in Deutschland seit sieben Jahren
Verantwortung trägt, nicht würdig; das will ich Ihnen in
aller Deutlichkeit sagen.
({0})
Nur die Opposition zu beschimpfen und für alles Unheil,
das man selbst angerichtet hat, verantwortlich zu machen ist schäbig und billig.
({1})
Dabei haben Sie mit Ihrer Politik die Lage in
Deutschland, die äußerst schwierig ist, ganz maßgeblich
mit verursacht.
({2})
Das gilt für das schwache Wachstum, den Arbeitsmarkt,
die öffentlichen Haushalte, die sich in einer desaströsen
Situation befinden, und die sozialen Sicherungssysteme.
Wir haben die Bundesregierung zum Handeln drängen müssen.
({3})
Auf dem großen Jobgipfel am 17. März, der prächtig inszeniert worden ist,
({4})
wurde die Senkung der Körperschaftsteuer auf
19 Prozent sowie die Vereinfachung der Unternehmensnachfolge bei voller Gegenfinanzierung beschlossen. Wir stehen nach wie vor zu diesen Plänen.
({5})
Herr Minister Eichel, heute, am 2. Juni, 77 Tage nach
diesem Jobgipfel, legen Sie endlich Gesetzentwürfe vor,
die offenbar in den rot-grünen Reihen heftig umstritten
sind. Warum haben Sie denn die Vorlage aus eigenen
Stücken um drei Wochen verzögert? Doch nicht wegen
uns!
({6})
Nun bleiben dem Parlament zur geplanten Verabschiedung am 1. Juli ganze 29 Tage. Ein angemessenes, geregeltes Verfahren ist in dieser knappen Zeit kaum möglich. Wie man hört, wollen Sie angesichts der
Streitereien in Ihren Reihen gar keinen Abschluss im
Bundestag. Laut einer dpa-Meldung vom 31. Mai sind
die Vorsitzenden von Rot-Grün, also Frau Roth und Herr
Müntefering, sehr skeptisch, dass es vor den Neuwahlen
noch zu einem Abschluss des Verfahrens kommt. Auch
der bedeutende Finanzpolitiker Kollege Poß hat dies
heute Morgen im Frühstücksfernsehen bestätigt.
({7})
Offenbar hat die rot-grüne Koalition beschlossen, die
Gesetze im Bundestag nur einzubringen und in den Ausschüssen zu beraten. Sie sind nicht wirklich an einem
Abschluss interessiert. Sie wollen sich über die Zeit retten und der Opposition den Blockadevorwurf anhängen.
({8})
So wollen Sie von Ihren Problemen ablenken, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({9})
Das verwundert ja auch nicht. Im „Handelsblatt“ vom
31. Mai lehnt die SPD-Linke die Gesetzentwürfe ab.
Entweder wollen Sie diesen Streit verdecken oder der
Bundeskanzler will gar die Vertrauensfrage an diese Gesetze knüpfen. Sollen diese für den Wirtschaftsstandort
und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer
Betriebe so wichtigen Gesetze zum Spielball Ihrer politischen Interessen werden? Wieso beraten wir heute den
Gesetzentwurf, wenn die Spitzen der Koalition offenbar
gar nicht die Absicht haben, dieses Gesetz in das Gesetzblatt zu bringen? Wie stellen Sie sich unter solchen Umständen eine Anhörung vor? Die Sachverständigen werden sich doch missbraucht und verschaukelt fühlen, und
zwar völlig zu Recht.
({10})
Wie ernst ist es Ihnen mit der Senkung der Körperschaftsteuersätze und mit der Reform der Unternehmensübergaben wirklich? Haben Sie noch die politische Kraft,
das, was der Bundeskanzler beim Jobgipfel angekündigt
und versprochen hat, umzusetzen?
({11})
Sie kommen mir vor wie ein Boxer in der zwölften
Runde, der sich stehend k. o. nach dem Schlussgong
sehnt und noch einige Luftlöcher schlägt.
({12})
So können Sie dieses wichtige Thema doch nicht verbraten, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
Ich stelle für die Unionsfraktion noch einmal fest: Wir
wollen die Unternehmensteuerreform nicht nur anberaten, sondern wir wollen sie in das Gesetzblatt bringen.
Wir werden wie immer konstruktiv mitarbeiten.
({13})
Wir werden selbst das enge und chaotische Verfahren in
29 Tagen mitmachen, wenn wir so für den Wirtschaftsstandort Deutschland ein wichtiges Signal setzen können; denn mit dem Jobgipfel sind sowohl bei den Kapitalgesellschaften als auch beim Mittelstand große
Erwartungen geweckt worden.
({14})
Wir haben - Herr Eichel, das sage ich noch einmal - unsere Hausaufgaben gemacht.
({15})
Wir haben einen Gesetzentwurf - den hat das Land Bayern erarbeitet - über die Erbschaftsteuerreform vorgelegt, und zwar mit voller Gegenfinanzierung. Bei Ihrem
Gesetzentwurf zur Senkung der Körperschaftsteuer ist
die vorgeschlagene Gegenfinanzierung jedoch unzureichend, und zwar sowohl was die Maßnahmen als auch
was die Höhe betrifft. Hier müssen Sie, Herr Eichel,
schleunigst nachbessern, damit wir diese für den Wirtschaftsstandort so wichtigen Gesetze möglichst schnell
in Kraft treten lassen können.
In der Tat sind unsere Steuersätze im europäischen
Vergleich nicht konkurrenzfähig. Sie haben Recht: Die
Bemessungsgrundlagen müssen innerhalb Europas
dringend harmonisiert werden.
({16})
Das Steuerrecht ist zu bürokratisch und zu kompliziert.
Kein Wunder also, dass immer mehr Unternehmen ins
Ausland abwandern oder aufgeben müssen. In den letzten Jahren mussten jeweils 40 000 Unternehmen Insolvenz anmelden. Im letzten Jahr wurden täglich 1 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ins Ausland
verlagert. So kann es und darf es doch nicht weitergehen.
Unsere Kinder und Kindeskinder müssen doch in
Deutschland auch im produzierenden Gewerbe noch
Ausbildungs- und Arbeitsplätze finden.
({17})
Dazu gehört auch, dass wir Unternehmensübergaben erleichtern müssen. Allein in diesem Jahr werden
über 60 000 Unternehmen an die nächste Generation
übergeben. Es darf nicht sein, dass der Erbfall zum Substanzverlust führt. Wenn das Unternehmen fortgeführt
wird, darf nicht der Neid gegenüber den Erben im Vordergrund stehen; vorrangig ist vielmehr der Erhalt der
Arbeitsplätze. Hierbei darf die Erbschaftsteuer keine erdrosselnde Wirkung entfalten. Deshalb muss die Reform
- wie vorgeschlagen - gelingen. Besonders der Mittelstand mit seiner oft dünnen Kapitaldecke wartet dringend auf eine Lösung.
Die beiden Gesetzentwürfe sind insofern vom Grundsatz her zu begrüßen. Sie entsprechen den Zielsetzungen
und Ergebnissen des Jobgipfels. Die Stundung der
Erbschaftsteuer bei Unternehmensübergaben und die
Senkung der Körperschaftsteuer auf 19 Prozent sind
grundsätzlich richtig. Die Maßnahmen müssen jedoch
- so lautet auch die Vereinbarung - voll gegenfinanziert
und aufkommensneutral gestaltet werden.
In diesem Zusammenhang frage ich Sie noch einmal:
Wo bleiben Ihre Finanzierungsvorschläge, Herr Eichel?
Diese vorzulegen war Ihre Aufgabe.
({18})
Bei der Senkung der Körperschaftsteuer verzichten
Sie zu einem guten Teil auf die Gegenfinanzierung und
bauen auf das Prinzip Hoffnung. Eine sorgfältige aufkommensneutrale Gegenfinanzierung wird nicht nur
von uns als Opposition, sondern auch von den Grünen
und mittlerweile sogar von Teilen der SPD-Fraktion gefordert.
Sie, Herr Minister Eichel, rechnen mit erheblichen
Mehreinnahmen durch das zusätzlich in Deutschland zu
versteuernde Gewinnsubstrat. Wenn es denn so einfach
wäre, die Gewinne dorthin zu verschieben, wohin man
gerade will!
({19})
So einfach ist das aber nicht. Wenn es so einfach wäre,
dann hätten Sie längst die Finanzbehörden anweisen
müssen, dies erneut zu regeln.
Tatsache ist aber, Herr Eichel: Auch die Regierungskoalition glaubt mittlerweile Ihren Prognosen nicht
mehr. Sie haben mit Ihren verfehlten Prognosen alle
Glaubwürdigkeit verspielt.
({20})
Sie bauen Ihre gesamte Haushalts- und Finanzplanung
allein auf das Prinzip Hoffnung. Wohin uns das geführt
hat, sehen wir jetzt.
Im Übrigen schadet es dem Wirtschaftswachstum
und dem Standort, wenn Sie die Senkung des Körperschaftsteuersatzes an Maßnahmen koppeln, die die um
das Überleben kämpfenden Mittelständler weiter belasten. Ich denke dabei zum Beispiel an die Erhöhung der
Mindestbesteuerung, die systematisch und wirtschaftlich falsch ist. Deshalb können wir eine solche Maßnahme nicht mittragen.
({21})
Die Ergebnisse des Jobgipfels sind vernünftige Einzelbausteine, die es rasch umzusetzen gilt. Dabei ist auf
eine seriöse und aufkommensneutrale Gegenfinanzierung zu achten. Alles andere ist angesichts der desolaten
Haushaltslage des Bundes und der Länder nicht zu verantworten. Darin sind wir uns hoffentlich einig.
Die Senkung der Körperschaftsteuer und die unternehmensfreundliche Reform der Erbschaftsteuer sind
wichtige Schritte zu einem besseren und gerechteren
Steuerrecht. Aber sie reichen längst nicht aus. Auch darin sind wir uns sicherlich einig.
Angesichts eines dümpelnden Wirtschaftswachstums
sowie von 5 Millionen arbeitslosen Menschen brauchen
wir mehr, nämlich mutige Strukturreformen in allen
Bereichen. Ich bin mir sicher, dass Sie von Rot-Grün
diese nicht mehr schaffen. Dazu fehlen Ihnen der Wille
und die Kraft.
({22})
Bei den vorliegenden Gesetzentwürfen sollten Sie
sich aber noch einmal zusammenreißen. Dazu fordere
ich Sie auf. Zumindest bis September dieses Jahres sind
Sie gewählt und stehen in der Verantwortung.
({23})
Deshalb ist es Ihre Pflicht, diese beiden Gesetzentwürfe
nicht nur anzuberaten und Legenden zu bilden, sondern
sie ins Gesetzblatt zu bringen. Sie sollten sich Ihrer Verantwortung bewusst werden.
Vielen Dank.
({24})
Ich erteile Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Seiffert, Ihre Äußerung, dass die Union bereit ist, die
Unternehmensteuerreform und auch die vorgesehenen
Änderungen in der Erbschaftsteuer ins Gesetzblatt zu
bringen, ist durchaus ehrenwert. Aber wenn Sie zu den
Vorschlägen des Jobgipfels stehen
({0})
und der Meinung sind, dass dabei eine vernünftige Gegenfinanzierung notwendig ist,
({1})
dann frage ich mich, warum Sie fast alle Vorschläge zur
Gegenfinanzierung, die von Rot-Grün und vom Minister bislang vorgelegt wurden, ablehnen, aber bis heute
keinen einzigen eigenen Vorschlag eingebracht haben.
({2})
Der Bundesrat hat mit der Mehrheit der unionsregierten Länder das Gesetz in einer ersten Stellungnahme als
unzureichend finanziert beurteilt.
({3})
Die Länder haben im Bundesrat keinen einzigen Vorschlag für die Umsetzung der Vereinbarungen des Jobgipfels unterbreitet.
({4})
Das gilt auch für Ihre Länder.
({5})
Vonseiten Ihrer Ministerpräsidenten gibt es in der Debatte über dieses Thema die unterschiedlichsten Vorschläge. Der eine sagt: Die Eigenheimzulage muss jetzt
doch abgeschafft werden. Der Zweite sagt: Die Pendlerpauschale wird reduziert. Der Dritte sagt: Die Sonntagsund Nachtarbeitszuschläge werden in Zukunft nicht
mehr steuerfrei gestellt.
({6})
Der Vierte sagt: Wir müssen den Sparerfreibetrag abschaffen. Der Fünfte sagt: Die Mehrwertsteuer muss um
4 Prozent angehoben werden. So wird die Debatte in
den unionsregierten Ländern geführt,
({7})
aber es wird keine ernsthafte Debatte darüber geführt,
wie die Unternehmensteuerreform ins Gesetzblatt kommen kann. Das ist die Wahrheit! Also muss man jetzt
auch einmal klipp und klar sagen: Stehen Sie als Union
zu diesen Vorschlägen und sorgen Sie im parlamentarischen Verfahren dafür - alle Menschen in diesem Land
wissen doch, dass die Vorschläge nur mit Zustimmung
des Bundesrates umgesetzt werden können -, dass die
Mehrheit im Bundesrat die Ergebnisse der Beratungen
hier im Deutschen Bundestag auch mittragen wird.
({8})
Sie wissen alle - auch Sie, Herr Thiele, obwohl ich
manchmal denke, Ihr Gedächtnis ist verdammt kurz -,
dass wir uns keine weiteren Steuerausfälle erlauben
können, und zwar weder der Bund noch die Länder. Wir
müssen doch sehen, dass sich hier wirklich niemand aus
der Verantwortung stehlen kann.
({9})
Sie haben im Bundesrat - der Minister hat es zu
Recht angesprochen - den Subventionsabbau in Höhe
von 17 Milliarden Euro pro Jahr blockiert und Sie wissen ganz genau, dass wir die derzeitigen Probleme in den
Haushalten des Bundes und der Länder nicht hätten,
wenn Sie sich in den letzten Jahren steuer- und finanzpolitisch konstruktiv und verantwortlich verhalten hätten.
({10})
Das weiß mittlerweile jeder in diesem Land.
Ich möchte noch etwas sagen zur Steuerbelastungssituation in der Bundesrepublik Deutschland, die von der
FDP immer so aufgeblasen wird. Die Steuerquote, also
die Summe der insgesamt gezahlten Steuern im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, ist in Deutschland im
Vergleich mit allen Ländern, mit denen wir uns in
Europa zu vergleichen haben, und auch im Vergleich mit
den USA, Kanada und Japan mit die niedrigste.
({11})
Wir haben eine historisch niedrige Steuerquote und stehen im internationalen Vergleich sehr gut da.
({12})
Da zeigt sich, dass die Steuerpolitik von Rot-Grün in den
letzten sieben Jahren, die vor allen Dingen die Entlastung der kleinen und mittelständischen Unternehmen
({13})
und die Entlastung der Familien und der kleinen Einkommen zum Ziel hatte, aufgegangen ist und dass eine
erhebliche steuerliche Entlastung auch wirklich stattgefunden hat.
({14})
Jetzt geht es um Strukturverbesserungen in unserem
Steuersystem und um mehr Transparenz und Vereinfachung.
({15})
Wir müssen unsere Steuersätze bei den Unternehmen,
die sich international messen lassen müssen, auf ein Niveau setzen, das die internationale Wettbewerbsfähigkeit gewährleistet. Hier müssen wir feststellen, dass die
Steuersätze - es geht nicht um die Steuerbelastung, sondern um die Steuersätze, um die Optik - für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland leider sehr
hoch sind. Deshalb sagen wir zu Recht: Wir müssen mit
diesem Gesetz den Körperschaftsteuersatz auf 19 Prozent senken - die Gewerbesteuer und der Solidaritätszuschlag kommen noch hinzu -, damit wir ins westeuropäische Mittelfeld rücken. Diese Entscheidung
zugunsten des Standortes und der Arbeitsplätze in
Deutschland ist richtig und notwendig, und zwar nicht
nur vor dem Hintergrund des Standortwettbewerbs, sondern auch im Hinblick auf die Erhöhung des Anreizes
für Unternehmen, ihre Gewinne hier zu versteuern.
({16})
Darauf hat der Minister bereits hingewiesen.
Das Ziel der Senkung der Unternehmensteuern ist
also, Unternehmen, die bereits Gewinne am deutschen
Fiskus vorbei ins Ausland transferieren oder darüber
nachdenken, weil andere Länder ihre Steuersätze senken, in Deutschland zu veranlagen. Wir wollen dafür
sorgen, dass die Finanzierung dieser Reform auf eine solide Grundlage gestellt wird.
({17})
Sie haben sich ebenfalls dazu bekannt und gesagt,
dass Sie sich daran beteiligen werden. Frau Merkel hat
aber gesagt, die Unternehmensteuerreform gefalle ihr
nicht.
({18})
Wir bräuchten stattdessen eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf 39 Prozent und diese Senkung solle mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer finanziert werden.
Das akzeptieren wir nicht. Das wird mit uns nicht zu machen sein. Das muss man an dieser Stelle ganz klipp und
klar sagen.
({19})
Wir wollen mehr Anreize für Arbeitsplätze und
Investitionen am Standort Deutschland.
({20})
Wir Grüne haben Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie man in steuerlicher Hinsicht auf die Problematik der Arbeitsplatzverlagerung reagieren sollte. Wir
befinden uns im Finanzausschuss in der Diskussion darüber.
({21})
Ich gehe davon aus, dass sich Union und FDP daran konstruktiv beteiligen werden.
({22})
- Herr Thiele, wenn Sie behaupten, dass Sie keine Vorschläge von uns kennen, dann kann ich nur sagen: Wir
sind gerade am Anfang der Beratungen. Wir lesen heute
den Gesetzentwurf zum ersten Mal.
Morgen wird der Finanzausschuss erstmalig darüber
beraten. Danach werden wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens - ich hoffe: gemeinsam - für eine
vernünftige Finanzierung sorgen. Wenn Sie sich hier
aufblasen und sagen, Sie seien bereit, das Gesetz in Kraft
treten zu lassen, dann bitte ich auch um Vorschläge Ihrerseits. Sie können nicht nur ständig das, was Rot-Grün
vorschlägt, ablehnen.
({23})
Ein weiteres Gesetz, das wir sehr positiv betrachten,
betrifft die Regelung der Unternehmensnachfolge. Es
ist richtig, die Unternehmensnachfolge vor allen Dingen
in mittelständischen Familienbetrieben zu erleichtern.
Der Vorschlag, nach zehn Jahren Betriebsfortführung die
Erbschaftsteuer auf das betriebliche Vermögen - gestaffelt - entfallen zu lassen, ist richtig. Das ist für den
Standort und die Planungssicherheit der Unternehmen
sehr wichtig.
({24})
Für uns ist entscheidend, dass der Betriebsübergang für
kleine und mittlere Unternehmen erleichtert wird, dass
Arbeitsplätze dadurch langfristig gesichert werden, dass
es in diesem Zusammenhang keine neuen Steuersparmodelle gibt und dass die Finanzierung dieser Reform
auf eine solide Basis gestellt wird. Dazu wird es im Gesetzgebungsverfahren noch Vorschläge geben.
({25})
Ich sage an die Adresse der Union: Wenn Sie sich gegen die Umsetzung unserer Vorschläge nicht sperren und
wenn es Ihnen wirklich Ernst ist,
({26})
dass wir die Ergebnisse des Jobgipfels noch vor der
Sommerpause in Gesetze umsetzen - Sie wissen, dass
wir die Zustimmung des Bundesrates brauchen -,
({27})
dann kommt es nun darauf an, dass Sie im Bundestag
nicht nur die Backen aufblasen, sondern die unionsgeführten Länder dazu motivieren, sich an einer soliden
Finanzierung zu beteiligen.
Wir brauchen klare Signale aus den Ländern; sonst
kommt dieser Gesetzentwurf nicht ins Bundesgesetzblatt. Das wissen Sie ganz genau. Wir warten auf Ihre
Vorschläge.
Ich bin sehr heiser. Meine Stimme war heute leider
nicht so, wie sie sonst ist. Ich bitte um Entschuldigung.
Danke schön.
({28})
Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister Eichel, wenn
Ihre Politik wirklich so fantastisch ist, wie Sie sie hier
dargestellt haben, warum wollen Sie dann eigentlich
Neuwahlen
({0})
und warum droht der Bundeskanzler damit, die Vertrauensfrage zu stellen? Das passt doch überhaupt nicht zusammen.
({1})
Frau Kollegin Scheel, nachdem Sie sämtliche von
Rot-Grün vorgenommenen Entlastungen hier vorgetragen haben, frage ich Sie: Wer zahlt eigentlich die Ökosteuer? Das sind doch die Leute, die Strom und Heizenergie verbrauchen und die tanken müssen. Das müssen
Sie doch zumindest bei der Steuerbelastung berücksichtigen.
({2})
Die Gesetzentwürfe, die wir heute beraten - die Senkung der Körperschaftsteuer und die Verbesserung bei
der Übergabe von Familienunternehmen -, sollten eigentlich dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für
Wachstum und Beschäftigung in unserem Lande zu verbessern. Als Ausfluss der Regierungserklärung vom
17. März und als Ausfluss des so genannten Jobgipfels
sollte mit diesen Gesetzen eine Aufbruchstimmung erzeugt werden. Wir haben aber festgestellt: Durch die Ankündigung dieser Gesetze haben wir das bisher nicht erreicht. Allerdings hat sich eines grundlegend geändert:
Es wird eine Aufbruchstimmung geben, weil sich abzeichnet, dass die rot-grüne Lähmung unseres Landes zu
Ende geht. Wir nähern uns Neuwahlen und wir haben die
Chance auf einen Politikwechsel in Deutschland.
({3})
Wir diskutieren diese Gesetze in einer Stimmung, die
vom Ende der rot-grünen Regierung geprägt ist. Die
Wähler in Nordrhein-Westfalen haben die letzte rotgrüne Regierung abgewählt.
({4})
Rot-Grün ist kein Modell für Deutschland mehr. Das
rot-grüne Reformprojekt ist gescheitert und die Partner
zerlegen sich: Der Bundeskanzler will Neuwahlen; die
Grünen sind dagegen. Die Grünen sind nicht gefragt
worden; sie sind auch nicht einbezogen worden. Das hat
allerdings seine Gründe: Die Grünen sind in keiner einzigen Landesregierung mehr vertreten. Damit haben sie
über den Bundesrat in unserem Lande keinerlei Gestaltungsspielraum mehr.
({5})
Die Bürger in unserem Lande wollen, dass die zentralen Probleme Deutschlands gelöst werden und dass man
sich nicht nur mit Orchideenthemen beschäftigt. Die
Bürger wollen, dass ihre Sorgen ernst genommen werden. Wir als Politiker haben angesichts 5 Millionen registrierter Arbeitsloser die Aufgabe, die Weichen für
mehr Arbeitsplätze in unserem Land zu stellen.
({6})
Die Rekordarbeitslosigkeit ist die Folge rot-grüner
Politik. Wenn die Politik die Probleme nicht löst, dann
suchen sich die Probleme selbst ihre Lösungen. Der Weg
zu Neuwahlen und zu neuen Mehrheiten im Deutschen
Bundestag ist deshalb richtig.
({7})
Herr Finanzminister Eichel, die FDP war nicht Gegenstand der von Ihnen geäußerten Kritik. Sie konnten
die FDP auch nicht kritisieren, weil wir unsere Konzepte
immer vorgelegt haben. Ich erinnere an unseren ausformulierten Steuerentwurf. In anderen Bereichen haben
wir für unsere Ideen sehr konkret geworben. Wir als Opposition haben auch dann konstruktiv gearbeitet, wenn
unsere Ideen nicht aufgegriffen wurden. Rot-Grün hat
Ignoranz demonstriert; daher haben Sie das Scheitern
dieser Politik zu verantworten und nicht die FDP.
({8})
- Auch die Union nicht, Herr Kollege Seiffert.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass alles getan wird,
damit in unserem Lande mehr Arbeitsplätze entstehen,
und dass alles unterlassen wird, was Arbeitsplätze gefährdet.
({9})
Diese Gesetzentwürfe sollten zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen und eine Aufbruchstimmung erzeugen. Heute haben wir aber eine ganz andere politische
Situation. Diese Gesetzentwürfe erweisen sich als letztes
müdes Aufbäumen einer abgewirtschafteten Koalition,
die den Schein einer Reformpolitik wahren will. Deshalb
werden wir im Finanzausschuss, insbesondere was RotGrün angeht, keine ernsthaften politischen Beratungen,
sondern nur Gesichtswahrungsübungen erleben.
Bis zum 1. Juli will kein Abgeordneter von Rot-Grün
Gefahr laufen, als Meuchelmörder des Bundeskanzlers
und der rot-grünen Koalition zu erscheinen. Keiner will
den Dolch im Gewande führen. Sie, Frau Scheel, haben
dazu beigetragen, dass es zu den Gesetzen keine Fraktionsentwürfe gibt. Diese hätten wir eigentlich benötigt.
Wir hätten schon vor drei Wochen die erste Lesung haben können. Dann wären wir heute weiter.
({10})
Ich sage Ihnen jetzt schon: Sie werden einknicken.
Sie werden alles schlucken, was im Gesetzentwurf steht;
denn das Gesetzgebungsverfahren wird einfach von der
Suche nach einem verfassungsgemäßen Weg zu Neuwahlen überlagert.
({11})
Der Bundeskanzler hat erklärt, dass er die Wundertüte,
aus der er einen verfassungsgemäßen Weg zu Neuwahlen zaubern will, erst am 1. Juli öffnen wird.
({12})
- Aus Respekt vor dem Parlament. - Bis dahin dürfen
Herr Müntefering und Herr Fischer einmal in die Wundertüte schauen. Der Rest der Abgeordneten wird vom
Bundeskanzler offiziell für dumm verkauft; denn er sagt,
dass die Abgeordneten die Ersten sein sollen, die erfahren, auf welchem Weg er Neuwahlen herbeiführen will.
Das Ziel des Bundeskanzlers - vorgezogene Neuwahlen - ist richtig; der Weg dahin ist schon jetzt skandalös
und an Frechheit und Dreistigkeit nicht zu überbieten.
({13})
Die sauberste Möglichkeit, Neuwahlen zu erlangen,
wäre ein Rücktritt des Bundeskanzlers. Diesen Weg
wünschen wir uns. Das wäre der richtige Weg, um zu
Neuwahlen zu kommen.
({14})
Zu den Gesetzentwürfen. Mit dem Entwurf des Gesetzes zur Absenkung der Körperschaftsteuer zeigt die
Koalition, dass wir Reformen brauchen und dass wir international wettbewerbsfähiger werden müssen. Aber
der vorliegende Gesetzentwurf ist zu kurz gesprungen.
Dazu drei Punkte: Erstens. Da ausschließlich die Körperschaftsteuer gesenkt werden soll, vergrößert sich die
Kluft zu den Personenunternehmen; das ist die logische
Folge. Deshalb ist dieses Konzept ordnungspolitisch
verfehlt.
Zweitens. Der Gesetzentwurf ist auch handwerklich
- bewusst oder unbewusst - schlecht gemacht. Denn
wenn in der Steuerschätzung ein Körperschaftsteueraufkommen von 17 bis 18 Milliarden Euro unterstellt wird
und die Körperschaftsteuersätze um 24 Prozent sinken,
sinkt das Steueraufkommen um 24 Prozent und damit
um 4,3 und eben nicht um 5,3 Milliarden Euro. Sie gaukeln den Bürgern also 1 Milliarde Euro mehr an Entlastungswirkung vor.
({15})
Drittens. Die Erhöhung der Mindeststeuer durch eine
weitere Einschränkung des Verlustvortrages lehnt die
FDP ab. Man kann doch insbesondere investierende Unternehmen mit hohen Anlauf- oder hohen Projektkosten
nicht dadurch belasten, dass man Scheingewinne besteuert. Genau das aber geschieht; dies soll verschärft werden.
({16})
Diese Mindeststeuer ist der falsche Weg, Wachstum zu
beschleunigen.
Die Befreiung des betrieblich gebundenen Vermögens
von der Erbschaftsteuer ist richtig. Das entspricht einer
jahrzehntelangen Forderung der FDP, die wir - als einzige Partei - schon im letzten Bundestagswahlkampf in
unser Programm aufgenommen hatten. Hier allerdings
eine Grenze von 100 Millionen Euro einzuziehen ist eine
willkürliche Ungleichbehandlung und deshalb aus unserer Sicht verfassungswidrig.
({17})
Wir brauchen im Rahmen der Politik für einen Aufbruch in Deutschland nicht mehr ein Klein-Klein und
nicht mehr den Versuch, den Urwald mit einer Nagelschere zu roden. Wir brauchen einen Neuanfang, auch in
der Steuerpolitik.
({18})
Deshalb sagen wir als Erstes: Die Sondersteuer auf Arbeit, die Gewerbesteuer, muss abgeschafft werden.
Außerdem brauchen wir eine Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge. Dann kann das Bankgeheimnis wieder hergestellt werden.
({19})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, Herr
Präsident, ich komme zum Schluss. Hermann Hesse
sagte einmal: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wir
als FDP wollen den Anfang, wir wollen einen grundlegenden Neuanfang für unser Land und eine neue
Aufbruchstimmung.
({20})
Wir wollen mehr Freiheit für unsere Bürger und unser
Land und wir wollen grundlegende Reformen als Voraussetzung für eine neue Aufbruchstimmung. Wir wollen mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem
Land, damit Deutschland nicht mehr im Bremserhäuschen sitzt, sondern wieder zur Lokomotive für mehr Arbeitsplätze wird.
({21})
Ich erteile das Wort Kollegen Jochen Poß, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Thiele hat sich heute wieder einmal als exzellenter Vertreter von faulem Zauber bewährt;
({0})
denn alles, was er hier geboten hat, hat mit einem jedenfalls nichts zu tun: mit den Zahlen und mit der Wirklichkeit.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion steht hinter den von der Bundesregierung beschlossenen steuerlichen Eckpunkten
({1})
aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom
17. März 2005.
({2})
Diese Koalition hat seit der Regierungsübernahme 1998
die Bedingungen für die Unternehmen in Deutschland
nachhaltig verbessert. Das wird uns zum Teil vorgeworfen.
({3})
Wir haben die Bedingungen nachhaltig verbessert. Das
gilt für die Personengesellschaften noch mehr als für die
Kapitalgesellschaften. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({4})
Die Wahrheit ist, dass neben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Geringverdienern und Familien mit Kindern die mittelständische Wirtschaft zu den Gewinnern
unserer Steuerpolitik zählt. Dazu waren Sie, meine Damen und Herren, bis 1998 nicht in der Lage.
({5})
Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
die Entwicklung in Europa voranschreitet.
Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Aber gerne.
({0})
Herr Kollege Poß, wenn das Land so voller Gewinner
steckt, wie Sie das gerade beschrieben haben, dann beantworten Sie mir und den Zuschauern doch bitte eine
Frage: Warum will der Bundeskanzler nicht mehr weitermachen?
({0})
Der Bundeskanzler und der SPD-Parteivorsitzende
haben das sehr deutlich gemacht. Sie haben gesagt: Angesichts der Wahlergebnisse der letzten Jahre suchen wir
eine neue politische Legitimation für unseren Kurs, der
richtig ist, nämlich Erneuerung in sozialer Verantwortung.
({0})
Der Kurs ist richtig.
({1})
Dafür, dass er bestätigt wird, werden wir kämpfen, Herr
Schauerte.
Bei dem, was Sie jetzt zu bieten beginnen - Herr
Stoiber hat sich gestern im Interview mit der „Zeit“ geäußert -, wird sich noch mancher umgucken, Herr
Schauerte. Den Menschen, insbesondere den Arbeitnehmern, die in Nordrhein-Westfalen CDU gewählt haben,
werden die Augen aufgehen
({2})
angesichts dessen, was auf sie zukommt, wenn Sie von
den vielen Versprechungen nur eines realisieren, nämlich Ihr Konzept des Bierdeckels. Das lautet in erster Linie: Entlastung für wenige durch Senkung des Spitzensteuersatzes
({3})
und Mehrwertsteuererhöhung für alle. Das wird die Philosophie sein, mit der Sie steuerpolitisch vorgehen, Herr
Schauerte. Das werden wir noch klar machen.
({4})
Wir machen im europäischen Zusammenhang weiter.
({5})
- Ja, wir machen weiter. Sie werden sich noch wundern,
meine Damen und Herren.
({6})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in Europa
einen Standortwettbewerb über Steuersätze gibt. Wir
wollen aber keinen ungezügelten Steuersenkungswettlauf. Alle Staaten, die sich daran beteiligen, werden verlieren. Also müssen wir einen ruinösen Wettbewerb bekämpfen. Deshalb ist richtig, was der Bundeskanzler und
Chirac vorgeschlagen haben: eine EU-weit einheitliche
Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung.
({7})
In diesem Kontext diskutieren wir die Gesetzentwürfe,
um die es hier und heute geht.
Das ist für alle Mitgliedstaaten von herausragender
Bedeutung. Nur auf dieser Grundlage, die im Übrigen
auch durch die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs erzwungen wird, kann ein fairer Steuerwettbewerb stattfinden. Genau dafür steht meine Partei.
Die SPD steht für fairen Steuerwettbewerb in Europa.
({8})
Die vom Bundeskanzler vorgeschlagene Steuersatzsenkung ist keine pauschale Steuersenkung, wie überall
berichtet wird; es ist eine Senkung des Steuersatzes von
25 auf 19 Prozent, die Deutschland bei der nominalen
Belastung ins europäische Mittelfeld, in eine gute Mittelposition führt. Das hat uns übrigens kürzlich im
Finanzausschuss auch die OECD empfohlen. Das setzen
wir um. Damit sichern wir, technisch gesprochen, Steuersubstrat, weil die international verflochtenen Konzerne
dann mehr Gewinne in Deutschland versteuern werden.
Die OECD hält die Anreize dafür, dass Unternehmen
steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, um ihre
Gewinne - nicht die Produktion - ins Ausland zu verlagern, angesichts des derzeit geltenden Regelsteuersatzes
für Kapitalgesellschaften in Deutschland für zu groß. Es
geht hierbei also um Gewinn-, nicht um Produktionsverlagerung.
Das sage ich auch zu einem Streitpunkt, der uns in
den eigenen Reihen beschäftigt. Die OECD widerspricht
damit der Behauptung, dass es im deutschen Steuerrecht
Anreize für eine Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland
gibt. Richtig ist aber, dass die in Deutschland erzielten
Gewinne nicht ausnahmslos hier versteuert werden. Aus
diesem Grund ist der Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Standortbedingungen ein richtiger Ansatz und liegt im Interesse einer europäischen
Harmonisierung.
Das Gleiche gilt für den Entwurf des Gesetzes zur
Sicherung der Unternehmensnachfolge. Er greift
- das will ich einmal deutlich sagen - einen wichtigen
Punkt der Beschlüsse des SPD-Parteitages von Bochum
aus dem Jahre 2003 auf.
({9})
Dort wurde gefordert, dass durch Freibeträge oder vergleichbare Instrumente bei der Erbschaftsbesteuerung
die Fortführung von kleinen und mittleren Unternehmen
gesichert werden soll. Ich sage ausdrücklich: Das ist Beschlusslage der SPD.
In unserem Parteitagsbeschluss zur Erbschaftsbesteuerung werden aber noch weitere Forderungen aufgestellt, auf die meine Fraktion im weiteren Gesetzgebungsverfahren zurückkommen wird. Sie betreffen die
momentan gültige, aber verfassungsrechtlich bedenkliche niedrige Bewertung von Grundvermögen und die
Frage der Angemessenheit der Belastung von hohen
und höchsten Erbschaften. Diese Maßnahmen bieten
über ihre politische Rechtfertigung hinaus auch die
Möglichkeit einer Finanzierung der vorgeschlagenen Erleichterung bei Betriebsnachfolgen im System der Erbschaftsteuer selbst.
Der bayerische Gesetzentwurf enthält dagegen einen
Finanzierungsvorschlag, der diese Voraussetzung nicht
erfüllt. Das muss man hier klar sagen.
({10})
Bayern will eine reine Ländersteuer mit einer Maßnahme finanzieren, die sowohl Bund und Länder als
auch Gemeinden betrifft. Das werden wir nicht akzeptieren. Es gibt nämlich vernünftige und sogar verfassungsrechtlich gebotene Alternativen; diese habe ich gerade
genannt.
Die CDU/CSU hat entgegen der Zusage von Herrn
Stoiber und Frau Merkel beide Gesetzentwürfe der Bundesregierung im Bundesrat abgelehnt - so viel zur Legendenbildung -, obwohl der Bundeskanzler in seiner
Regierungserklärung am 17. März nicht nur die Steuererleichterung, sondern auch die von der Union jetzt kritisierten Finanzierungsmaßnahmen beim Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Standortbedingungen schon
konkret benannt hat. Die Union bleibt damit ihrer bisherigen Linie treu. Sie fordert ständig eine breitere steuerliche Bemessungsgrundlage. Aber wenn es ernst wird,
blockiert sie, weil sie darauf hofft, dass die Leute das
komplizierte Zusammenspiel zwischen Bundestag und
Bundesrat nicht durchschauen.
({11})
Das Gleiche gilt für Ihre Kritik bezüglich der Rückführung von Steuersubstrat nach Deutschland. Die
gängige Formel von CDU/CSU in der Steuerpolitik besagt, dass die Steuersätze nur weit genug gesenkt werden
müssen, damit danach die Steuereinnahmen umso stärker fließen. Wird dieser Ansatz dann in einer für die öffentlichen Haushalte vertretbaren und verantwortbaren
Weise aufgegriffen, will sie davon nichts mehr wissen.
Dabei geht sie bei ihren eigenen Beschlüssen, Herr
Seiffert, von einer milliardenschweren Selbstfinanzierung durch angebliche Wachstumseffekte in zweistelliger Höhe aus.
({12})
10 Milliarden Selbstfinanzierung! Was Sie da machen,
ist, vornehm ausgedrückt, Voodoo.
({13})
Sie gaukeln den Menschen ständig etwas vor. Ihre Politik reduziert sich auf die systematische Täuschung von
Wählerinnen und Wählern.
Herr Kauder hat zuletzt noch öffentlich behauptet,
dass die - unfinanzierbaren - Steuerversprechen der
Union trotz der leeren öffentlichen Kassen aufrechterhalten werden können.
Frau Merkel kündigt weitere Steuersenkungen an.
Meine Damen und Herren, was Sie da veranstalten, ist
Wahlschwindel. Das muss man so deutlich sagen.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista
Sager ({14})
Im Moment überholen sich die Vertreter der Union ja
quasi mit Vorschlägen, die Entfernungspauschale oder
andere steuerliche Vergünstigungen von Arbeitnehmern
wie die Steuerfreiheit von Sonntags- und Schichtzuschlägen einzuschränken oder ganz abzuschaffen.
({15})
Frau Kollegin, die Katze ist jetzt für alle sichtbar aus
dem Sack. Die Arbeitnehmer, auch die, die zuletzt in
Nordrhein-Westfalen CDU gewählt haben, werden sich
- ich habe es schon gesagt - verwundert die Augen reiben, wie schnell auf ihrem Rücken ein höheres Steueraufkommen realisiert werden soll.
({16})
Ich wiederhole, Herr Schauerte: Das Steuerkonzept
der Union ist wieder ganz einfach geworden. Es hat drei
Komponenten und passt sogar wieder auf einen Bierdeckel: erstens Mehrwertsteuer für alle herauf, zweitens
steuerliche Vergünstigungen für alle Arbeitnehmer weg
und drittens Spitzensteuersatz für einige wenige herunter. Das sind mittlerweile die drei simplen steuerpolitischen Leitplanken der Union. Auf diese Bierdeckelsteuerreform wird es hinauslaufen, wenn CDU/CSU und
FDP bei einer vorgezogenen Bundestagswahl eine
Mehrheit erreichen sollten. Das hat Herr Stoiber gestern
in seinem Interview mit der „Zeit“ bestätigt. Klarer als
Herr Stoiber kann man das gar nicht auf den Punkt bringen. Für die Klarheit, die er da geschaffen hat, bin ich
ihm sehr dankbar.
({17})
Entlarvend ist auch, was Herr Glos in diesem Zusammenhang gesagt hat. Herr Glos hat gesagt
({18})
- hören Sie einmal zu, was Herr Glos gesagt hat -, es
werde sicher im Wahlprogramm eine Formulierung gefunden, die die Union einerseits ehrlich erscheinen lasse,
die andererseits aber den notwendigen Spielraum zur
Finanzierung der Staatsfinanzen biete.
({19})
Das heißt im Klartext:
({20})
Sie wollen sich mit Täuschung an die Macht mogeln.
Herr Glos hat das hier offen gesagt.
({21})
Vergessen hat Herr Glos nur zu sagen, dass auch ein
gewisser Spielraum für eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes bestehen bleiben müsse. Wenn Herr
Glos hinzufügt, dass auf dem Wege der Gesundung die
Behandlung auch ein bisschen weh tun könne, dann trifft
das sicher für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Deutschland zu. Ich kann nur sagen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zieht euch bei diesen Steuerplänen der Union warm an! Aber ich kann auch sagen:
Liebe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihr könnt
euch darauf verlassen, dass es mit der SPD weiterhin
eine sozial gerechte Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geben wird.
({22})
Das ist der Verfassungsgrundsatz. Das ist der Grundsatz
für die soziale Marktwirtschaft, der Grundsatz für einen
Sozialstaat. Diesen garantieren wir. Er wird nicht durch
das garantiert, was Sie im Schilde führen.
({23})
Auf die Union ist steuerpolitisch jedenfalls kein Verlass, weder bei der Unternehmensbesteuerung, wie sich
jetzt angesichts der Absprachen mit dem Bundeskanzler
am 17. März zeigt,
({24})
noch bei der Einkommensbesteuerung, wie Ihre leeren
Versprechungen, die Sie seit vielen Monaten in der Steuerpolitik gemacht haben, belegen. Den Wählerinnen und
Wählern werden jetzt die Augen geöffnet und sie werden
erkennen,
({25})
dass eine verlässliche und sozial gerechte Steuerpolitik,
ob bei der Besteuerung von Arbeitnehmern oder bei der
Besteuerung von Unternehmern, nur mit der SPD und
mit dieser Koalition zu haben ist.
Vielen Dank.
({26})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Poß, Sie kommen mir vor wie ein Ertrinkender, der ins tiefe Wasser gesprungen ist und feststellt,
dass er gar nicht schwimmen kann. Ich kann nur deutlich
sagen: Die Tatsachen müssen noch einmal sachlich festgehalten werden.
({0})
Die Vorsitzenden der CDU und der CSU sind ins Kanzleramt gegangen und haben dem Regierungschef die
Hand gereicht, um gemeinsam darüber nachzudenken,
wie wir in Deutschland mehr Wachstum und Beschäftigung bekommen. Leider ist die dabei beschlossene steuerrechtliche Initiative zu einem rot-grünen Trauerspiel
auf dem Rücken von Arbeitnehmern und Unternehmen
geworden.
({1})
Was ist in den letzten Wochen passiert, meine Damen
und Herren? Vor der NRW-Wahl war sich Rot-Grün
plötzlich nicht mehr einig.
({2})
Man hat sich außerstande gesehen, eine geschlossene
Haltung herzustellen. Die im Kabinett beschlossenen
Steueranträge wurden im Bundestag von der Tagesordnung genommen. Tatsache ist einfach: Die SPD ist innerlich zerrissen zwischen Agenda 2010 und Kapitalismuskritik; hier passt nichts mehr zusammen.
({3})
Die Grünen lehnen die Finanzierung von Herrn Eichel
als unseriös ab.
({4})
- Da haben sie teilweise Recht. - Die SPD-geführten
Länder haben im Bundesrat die Verbesserung der Regelungen zur Unternehmensnachfolge abgelehnt. Wie
kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, die SPD stehe
hinter diesen Steuergesetzen? Im Bundesrat haben Sie
diese Steuergesetze abgelehnt.
({5})
Wir erleben blankes Regierungschaos. Die Linken der
SPD und der Grünen fordern heute sogar neue Steuererhöhungen - nicht Steuererleichterungen, sondern Steuererhöhungen! Das ist Tatsache und zeigt, dass bei Ihnen
nichts zusammenpasst.
Außerdem sollen diese Steuergesetze vielleicht - das
ist sehr bedenklich - als Vehikel für eine inszenierte
Vertrauensfrage herhalten. Der Bundeskanzler will
aber, so scheint es, vor dem 1. Juli mit seinen Abgeordneten nicht darüber sprechen.
Mit seriöser und verantwortungsvoller Politik hat das
alles nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren. Das
ist ein politischer Offenbarungseid. Um mit einer bekannten Parole zu sprechen: Die Flasche ist leer, Sie haben fertig! Abtreten!
({6})
Sie sind ökonomisch gescheitert, aber haben noch nicht
einmal genug Charakter für einen sauberen Abgang.
Keine Regierungsfähigkeit, keine Abwicklungsfähigkeit - das sind Tatsachen in diesem Lande, meine Damen und Herren.
({7})
Jetzt wollen die Oberstrategen von Rot-Grün die beim
Jobgipfel fest vereinbarten und für die Arbeitsplätze
dringend notwendigen Steuergesetze noch manipulieren.
Die Bundesregierung legt Gesetzentwürfe vor, weiß aber
noch gar nicht, ob sie auch wirklich umgesetzt werden
sollen.
({8})
Die Parlamentarier von SPD und Grünen sollen dabei
gewissermaßen zur strategischen Verfügungsmasse degradiert werden. Das, was wir hier erleben, ist eine Missachtung des Parlaments und bedeutet einen Schaden in
Bezug auf mehr Wachstum und Beschäftigung, für den
Standort Deutschland und für die Arbeitsplätze in
Deutschland. Das haben Sie zu verantworten.
Die hier vorliegenden Entwürfe der Steuergesetze
werden für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze dringend benötigt. Die CDU/CSU will Steuererleichterungen noch vor den Neuwahlen durchsetzen.
Die Beschäftigungsfrage steht im Mittelpunkt unserer
Politik und muss im Mittelpunkt aller Politik stehen. Wir
wollen erneut eine Vertrauensbasis für den Standort
Deutschland herstellen.
Unsere Leitlinie heißt: Arbeit braucht Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit braucht eben Steuererleichterungen, nicht aber Steuererhöhungen. Für die
Menschen muss es jetzt ein Signal für mehr Wachstum
und Beschäftigung geben.
Ich lade Sie ein, Herr Eichel: Wenn Teile der SPD und
der Grünen nicht mehr wollen, dann setzen Sie die steuerrechtlichen Jobgipfelvereinbarungen im Bundestag mit
uns um! Wir sind bereit dazu. So können Sie beweisen,
dass Sie gar nicht die Vertrauensfrage damit verbinden
wollen, sondern dass es Ihnen um die Sache, um die Arbeitsplätze sowie um Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland, geht.
({9})
Meine Damen und Herren, Selbstblockade einer
Bundesregierung kann sich Deutschland einfach nicht
mehr leisten. Es ist doch eine Tatsache: Wer im Juni
nicht mehr weiter weiß, ist doch im September nicht klüger.
({10})
Beim Scheitern im Frühling kann man im Herbst keinen
zweiten Frühling erwarten. Das ist doch paradox.
Das Argument, wir könnten uns Steuererleichterungen nicht mehr leisten, kann ich nicht gelten lassen. Wir
haben in unseren gesamten Steuerkonzeptionen eine voll
durchgerechnete Gegenfinanzierung vorgelegt. Alle
Teile unseres Konzeptes 21 wurden vorgelegt. Sie behaupten, das sei nicht finanzierbar.
({11})
Das kann ich nicht gelten lassen. Wenn Sie so weitermachen, können wir uns bald gar nichts mehr leisten. Wegen dieser Tatsache müssen wir auf eine neue Gesamtsteuerkonzeption hinarbeiten, die das komplizierte
deutsche Steuerrecht als Standortnachteil ersten Ranges
letzten Endes abschafft und eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für unsere Arbeitsplätze in Deutschland herstellt.
Eine radikale Vereinfachung des Steuersystems mit
einem Gesamtkonzept und Rechtsformneutralität ist nun
einmal die Grundvoraussetzung für mehr Wachstum und
Beschäftigung. Die jetzige Senkung des Körperschaftsteuersatzes und die Anhebung des Gewerbesteueranrechnungsfaktors sowie die erbschaftsteuerlichen Reformvorschläge sind geeignete Zwischenschritte, die
dem längerfristigen Ziel einer umfassenden Gesamtsteuerreform mit Unternehmensteuerreform nicht im Wege
stehen. Es ist ein wesentlicher Vorteil dieser Konzeption,
dass es in eine Gesamtsteuerkonzeption eingepasst werden kann. Die geplante Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 19 Prozent entfaltet schon im
Voraus eine Signalwirkung und begünstigt insbesondere
die Investitionen. Dies nicht zu machen, entspräche einem Arbeitsplatz- und Investitionsvernichtungsprogramm.
({12})
Wir müssen jetzt handeln. Deswegen wollen wir, dass
diese Steuergesetze im Vorgriff auf eine Gesamtsteuerkonzeption hier beschlossen werden, und zwar möglichst schnell, möglichst in diesen Wochen.
({13})
Deutschland würde damit zeigen, dass es den in der globalisierten Welt verschärften Wettbewerb nicht scheut,
sondern fähig ist, seine Zukunft als Wirtschaftsstandort
aktiv zu gestalten. Vor allem mit Blick auf internationale
Investoren ist ein solches Aufbruchssignal dringend erforderlich.
Der Bundesfinanzminister spricht ständig davon, dass
er sich letzten Endes vorstellen kann, dass innerhalb der
EU in irgendeiner Form eine gemeinsame Bemessungsgrundlage entsteht. Das ist richtig; dafür sind auch wir.
Aber man muss doch erst einmal selbst handeln und darf
nicht immer wieder warten, bis vielleicht am SanktNimmerleins-Tag eine solche Entwicklung eintritt. Wir
brauchen in Deutschland jetzt eigenverantwortliche Lösungen in der Steuerpolitik.
Als aktiver Mittelständler, der viele Arbeitsplätze geschaffen hat und erhält, möchte ich an dieser Stelle die
Wichtigkeit einer Generationenbrücke für die
Arbeitsplatzsicherung unterstreichen. Familiengeführte Unternehmen sind nun einmal das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft. Sie stellen mehr als 70 Prozent der
Arbeitsplätze und erwirtschaften etwa 65 Prozent des
BIP. Die Übergabe der Familienunternehmen an die
nächste Generation stellt angesichts von Hunderttausenden Betriebsübergaben in den nächsten Jahren eine der
größten Herausforderungen für das zukünftige Wachstum in Deutschland und der europäischen Wirtschaft dar.
4,8 Millionen Arbeitsplätze in deutschen Familienunternehmen können nach meiner Ansicht nur gesichert werden, wenn der in den kommenden fünf Jahren anstehende Generationswechsel erfolgreich bewältigt wird.
Hierzu braucht es dringlich unser Erbschaftsteuermodell.
({14})
Da dürfen wir keine Zeit verlieren. Kann die Erbschaftsteuer nicht aus anderen Vermögenswerten bestritten
werden, wirkt sie wie eine Substanzsteuer auf das Betriebsvermögen und gefährdet das Unternehmen in seiner Existenz.
Der große Fehler Ihrer Steuerpolitik ist, dass Sie zur
Substanzbesteuerung übergegangen sind.
({15})
Mit den 50 Steuergesetzen, Herr Eichel, die Sie in den
letzten sieben Jahren beschlossen haben, haben Sie das
deutsche Steuerrecht wesentlich verwüstet. Es ist zwar
herrschendes Recht, aber trotzdem Unrecht, was Sie geschaffen haben, und zwar deshalb, weil Sie im Rahmen
der Gegenfinanzierung immer wieder eine Substanzund Scheingewinnbesteuerung vorgenommen haben.
Damit haben Sie kontraproduktiv gearbeitet. Sie haben
auf der einen Seite den Tarif gesenkt und sind auf der anderen Seite bei der Gegenfinanzierung kontraproduktiv
vorgegangen. Sie sollten sehr viel mehr auf die ökonomische Vernunft und die Effizienz der Steuergesetze
achten. Dass Sie das nicht getan haben, ist Ihr Problempunkt.
Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU
wollen jetzt die Senkung der Körperschaftsteuer und die
Einführung eines Erbschaftsteuerbetriebserhaltungsmodells. Darauf kommt es jetzt an. Der Standort
Deutschland muss wieder attraktiv werden, damit Arbeitsplätze geschaffen und bestehende Arbeitsplätze erhalten werden. Arbeit braucht Wachstum und Wachstum
braucht Freiheit. Das ist der richtige Weg, den die CDU/
CSU gehen muss.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
Abgeordnete der PDS. Keine Bundesregierung hat die
Unternehmensteuern so dramatisch gesenkt wie diese
rot-grüne Regierung. Hat der Bundesfinanzminister
noch im Jahr 2001 rund 25 Milliarden Euro durch die
Körperschaftsteuer eingenommen, musste er ein Jahr
später 426 Millionen Euro an die Unternehmen zurückzahlen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will der
Finanzminister die Körperschaftsteuer noch einmal drastisch senken, nämlich von 25 auf 19 Prozent. Man muss
sich einmal vorstellen: Das entspricht einem Steuerausfall von rund 25 Milliarden Euro in fünf Jahren.
Bei der Körperschaftsteuer liegen wir hier in
Deutschland unter dem EU- und dem OECD-DurchDr. Gesine Lötzsch
schnitt. Das Gleiche trifft auch für die Unternehmensteuer, die Umsatzsteuer und die Vermögensteuer zu.
SPD und Grüne haben vor der Wahl - die Grünen sogar
noch nach der Wahl - etwas anderes versprochen. Sie
wollten die Vermögensteuer wieder einführen. Doch sie
haben genau das Gegenteil getan. Sie haben nämlich die
Vermögenden dramatisch entlastet und die kleinen Leute
belastet. Ihre Steuerpolitik ist schlichter Wahlbetrug.
({0})
Ziel der ständigen Steuersenkungen war es angeblich,
die Investitionsbereitschaft der Unternehmen anzukurbeln. Wir alle wissen: Es wurde viel gekurbelt; doch der
Motor ist nicht angesprungen. Die Steuersenkungen haben eben keine neuen Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Dafür mussten der Bund, die Länder und die
Kommunen auf Milliarden von Steuereinnahmen verzichten. Sie sind immer weniger in der Lage, ihre
Pflichtaufgaben zu erfüllen und die Infrastruktur zu erhalten.
Nun könnte man eigentlich annehmen, dass die Bundesregierung bereit wäre, aus ihren Fehlern zu lernen.
Spätestens nach der dramatisch verlorenen Wahl in
Nordrhein-Westfalen müsste der SPD und den Grünen
doch ein Licht aufgegangen sein, dass ihre Politik gescheitert ist,
({1})
dass die Menschen diese unsoziale Politik nicht mehr akzeptieren wollen.
Aber in guter alter deutscher Tradition führt die Bundesregierung ihre gescheiterte Politik bis zum bitteren
Ende fort. Die Grünen haben zwar zaghaft einige Bedenken geäußert, doch als die Machtfrage gestellt wurde,
scharten sich wieder alle brav um den Kanzler; natürlich
nur, um das Schlimmste zu verhindern. Doch, meine Damen und Herren, damit lügen Sie sich selbst in die Tasche. Sie verhindern nicht das Schlimmste, sondern Sie
bereiten mit Ihrer Politik das Schlimmste vor.
({2})
Ich nenne Ihnen einmal einige Zahlen aus dem CDUSteuerkonzept. Die CDU möchte Ledige mit einem zu
versteuernden Einkommen in Höhe von 15 000 Euro um
787 Euro im Jahr entlasten. Das hört sich zunächst einmal ganz gut an. Einem Gutverdiener jedoch mit einem
Einkommen in Höhe von 500 000 Euro sollen schon
31 000 Euro zurückgezahlt werden. Soziale Gerechtigkeit sieht anders aus! Die FDP legt sogar noch etwas
drauf. Sie will einem besser verdienenden Single rund
36 000 Euro zurückzahlen. Das ist Ausdruck der Selbstbedienungsmentalität der Besserverdienenden!
({3})
Die rot-grüne Regierung hat mit einer schlimmen
Politik einer noch weit schlimmeren Politik den Weg bereitet. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, wissen doch selbst, dass die Schwarzen häufig - nicht in
offiziellen Sitzungen, aber bei zwischendurch stattfindenden Besprechungen - zu Ihnen gesagt haben: Was ihr
von Rot-Grün gemacht habt, das hätten wir uns nie getraut; das hätten wir nie durchgekriegt; es war gut, dass
ihr es getan habt.
Diese Politik spaltet die Gesellschaft in Arm und
Reich. Sie wird dazu beitragen, dass die Lebensqualität
aller Menschen sinkt, nicht nur die der ärmeren. Ob nun
in São Paulo oder in Moskau: Dort, wo sich die Reichen
immer dreister Eigentum aneignen, müssen sie sich und
ihre Familien hinter hohen Mauern verstecken. Ein solches Gesellschaftsmodell wollen wir als PDS nicht!
Die PDS-Steuerpolitik ist klar: Wir wollen eine gerechte Unternehmensbesteuerung, die Wiedererhebung
der Vermögensteuer und eine Reform der Erbschaftsteuer. Die Umverteilung des Reichtums von unten nach
oben auf Kosten der Bezieher von kleinen und mittleren
Einkommen, von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern muss endlich gestoppt werden.
({4})
Am 18. September haben alle Wählerinnen und Wähler in diesem Land dazu eine Chance.
({5})
Sie haben die Chance, eine echte Wahlalternative zu
SPD, CDU/CSU und den beiden kleinen Parteien der
Besserverdienenden zu wählen. Sie können am 18. September die PDS, eine starke linke Fraktion, in den Bundestag wählen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Merkel, für Sie war es wahrscheinlich gut, dass Sie den Anfang dieser Debatte nicht
mitbekommen haben;
({0})
denn die Botschaft Ihrer Fraktion lautete: Sie sind für
eine Regierungsübernahme nicht reif.
({1})
Das, was die Redner Ihrer Fraktion heute geboten haben, war reine Polemik.
({2})
Sie haben nicht einen konkreten Vorschlag gemacht.
Herr Seiffert, ich kenne Sie aus dem Ausschuss eigentlich als richtig sachlichen Kollegen,
({3})
aber Sie durften offensichtlich nichts Konkretes sagen.
({4})
Sie durften offenbar nichts Konstruktives beitragen.
Frau Merkel, Ihr in Aussicht genommener Koalitionspartner - Herr Thiele hat ihn repräsentiert - hat die reine
Polemik noch übertroffen.
({5})
Wie Sie mit dem zusammen irgendetwas machen wollen, ist sehr fragwürdig.
({6})
Ich weiß, dass Sie eine lebhafte Debatte zwischen den
beiden Parteien und innerhalb der Parteien führen. Für
die deutsche Öffentlichkeit ist interessant, was Sie mit
der Mehrwertsteuer machen wollen.
({7})
Um wie viele Punkte wollen Sie die erhöhen? Was machen Sie mit der Entfernungspauschale für die Arbeitnehmer und was haben Sie sich sonst noch einfallen lassen?
({8})
Herr Stoiber sagt, dass man die Steuerfreiheit von
Schichtzuschlägen abschaffen sollte. Sonst fällt Ihnen
nichts dazu ein, wie Sie die Finanzlöcher, die bei Durchführung Ihres Konzepts auftreten würden, schließen
können.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
vom 17. März dieses Jahres zwei sehr konkrete Vorschläge gemacht, wie wir unseren Standort angesichts
des steuerlichen Wettbewerbs, in dem Deutschland nun
einmal steht, im Vergleich zu anderen Standorten innerhalb und außerhalb Europas wettbewerbsfähiger für Unternehmen machen können. Die SPD-Fraktion bekennt
sich aus ganzem Herzen zu diesen Vorschlägen zur Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit.
Erstens. Mit der Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 19 Prozent setzen wir die Verbesserung der
Rahmenbedingungen in Deutschland fort, an der wir seit
1998 arbeiten. Wir werden allerdings auch darauf achten,
dass diese Senkung des Steuersatzes mit einer Stabilisierung des Steueraufkommens einhergeht; denn der Staat
muss handlungsfähig bleiben und die öffentlichen Aufgaben müssen angemessen - und zwar nach dem Prinzip
der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit - durch
Steuern finanziert werden.
({9})
Deswegen haben wir von vornherein gesagt: Wir
brauchen eine saubere Gegenfinanzierung. Das haben
Sie, Frau Merkel, in Ihrem Debattenbeitrag vom
17. Dezember letzten Jahres - rein theoretisch - bestätigt.
({10})
Wir haben gewartet, wie sich der Bundesrat, in dem Sie
die Mehrheit haben, dazu verhält.
({11})
Wie hat sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf zur Senkung der Körperschaftsteuer geäußert? Er hat nur Nein gesagt, aber nicht einen einzigen
konkreten Vorschlag gemacht, wie die auch von Ihnen
- theoretisch - gewünschte Aufkommensneutralität gesichert werden kann.
Zweitens. Beim Thema Erbschaftsteuer waren wir
uns einig - der Bundeskanzler hat diese Auffassung vorgetragen und Frau Merkel hat bestätigt, dass auch Sie
dies befürworten -, dass der Übergang eines Betriebes
auf die nächste Generation nicht durch die Erbschaftsteuer erschwert werden soll. Deswegen haben wir uns
einvernehmlich - so schien es zumindest - an einem
Vorschlag des Freistaats Bayern orientiert und uns dafür
ausgesprochen, für jedes Jahr, das der Betrieb fortgeführt wird, 10 Prozent der Erbschaftsteuer zu erlassen.
({12})
Warum wehren Sie sich nun dagegen?
({13})
Warum machen Sie keinen konkreten Vorschlag, wie
dies in die Tat umgesetzt werden kann?
({14})
- Entschuldigung, aber die Mehrheit des Bundesrates hat
dazu lediglich gesagt, dass eine Gegenfinanzierung notwendig sei.
({15})
Aber welche Gegenfinanzierung haben Sie - von der
Erbschaftsteuer einmal abgesehen - vorgeschlagen? Sie
wollen eine Anhebung der Einkommensteuer, die eine
Gemeinschaftsteuer ist und nicht nur die Länder betrifft.
({16})
- Herr Kollege Seiffert, ich muss mir nicht viel Mühe
geben,
({17})
um das Niveau dieser Debatte, wie sie von Ihrer Seite
bisher geführt wurde, anzuheben.
({18})
Leider haben wir erlebt, dass sich das Kuddelmuddel,
das sich bei Ihnen in der Vergangenheit gezeigt hat, in
den steuerpolitischen Vorschlägen, die heute vonseiten
der FDP und der Union vorgetragen worden sind, erneut
voll bestätigt. Reif zur Übernahme der Regierung sind
Sie nicht.
({19})
Die FDP ist voll in der Opposition.
({20})
Die CDU/CSU allerdings ist durch ihre Position im Bundesrat für fast alle Steuergesetze, die wir in Deutschland
machen, mitverantwortlich. Denn es ist fast immer die
Zustimmung des Bundesrates erforderlich, wenn eine
Gemeinschaftsteuer oder eine Ländersteuer betroffen ist.
Aber ein konstruktiver Beitrag von Ihrer Seite ist nicht
gekommen. Deswegen sage ich - ohne noch die Hoffnung zu hegen,
({21})
dass sich Ihre Grundhaltung ändern wird -: Wir werden
am 18. September die Entscheidung haben,
({22})
ob die Mehrheit der Bevölkerung die Fortsetzung der
Reformpolitik der Regierung von Bundeskanzler
Gerhard Schröder unterstützt. Wir haben die doppelte
Herausforderung von globalisierter Wirtschaft und von
massiver Veränderung der altersmäßigen Zusammensetzung unserer Bevölkerung angenommen. Wir haben mit
der Agenda 2010, mit dem Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme und mit unserer auf Wettbewerbsfähigkeit zielenden Unternehmensbesteuerung einen konstruktiven Weg gewiesen.
({23})
Die Bevölkerung muss sich entscheiden, ob sie einen
Weg der unsicheren Polemik, wie Union und FDP sie ihnen bieten, gehen will
({24})
oder ob sie eine kontinuierliche, auf sozialen Ausgleich
und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abzielende Politik,
({25})
die Sicherung der Zukunft unseres sozialen Bundesstaates, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verbunden mit sozialem Zusammenhalt, unterstützen will oder nicht.
({26})
Aber eines, Frau Merkel, muss aufhören: Sie dürfen
den Bundesrat nicht als reines Blockadeorgan nutzen,
ohne irgendeine konstruktive Leistung für die notwendige Modernisierung unseres Landes zu erbringen.
({27})
Deswegen sage ich Ihnen: Wir gehen mit Zuversicht in
diese Bundestagsneuwahlen hinein.
({28})
Ich erteile Kollegen Peter Rzepka, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine zentrale Botschaft der Rede des Kollegen
Poß war die Aussage: Wir machen weiter.
({0})
Herr Kollege Poß, ich glaube, Sie begreifen gar nicht,
dass das von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, der Bürgerinnen und Bürger, inzwischen als Drohung empfunden wird.
({1})
Und Ihr „Weiter so“ beweist doch, dass Sie angesichts
einer katastrophalen Staatsverschuldung und angesichts
von über 5 Millionen Arbeitslosen weder den Mut noch
die Kraft haben, die notwendigen Reformen im Arbeitsrecht, in den Sozialsystemen und auch im Steuerrecht
wirklich anzupacken.
({2})
Steuergesetze müssen einfach und klar sein und sie
müssen Planungssicherheit gewährleisten, sowohl für
Konsumenten als auch für Investoren. Beide Grundsätze
einer erfolgreichen Steuerpolitik hat diese Bundesregierung sträflich missachtet.
({3})
Auch die vorliegenden Gesetzentwürfe tragen in vielen
Punkten nicht zur Vereinfachung und Planungssicherheit bei. Die Union hält zwar das Ziel, die Körperschaftsteuer zu senken, als ersten Schritt zu einer durchgreifenden Vereinfachung und Entlastung aller Unternehmen
unverändert für richtig. Auch die Sicherung der Unternehmensnachfolge ist eine seit langem von der Union erhobene Forderung, über die offenbar inzwischen bei allen Fraktionen im Hause Einigkeit besteht.
({4})
Dass wir Schritte in die richtige Richtung unterstützen,
heißt aber nicht, dass wir bei der Prüfung von unseren
Zielen der Steuervereinfachung und der Verlässlichkeit
steuerpolitischen Handelns Abstand nehmen.
({5})
Es fehlt eine solide Gegenfinanzierung für die Steuersenkungen und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen,
katastrophalen Lage der öffentlichen Haushalte stellt
sich die Frage, inwieweit das verantwortet werden kann.
Der Streit innerhalb der Regierungskoalition zeigt, dass
unsere Bedenken berechtigt sind und dass die Gesetzentwürfe einer Überarbeitung und Korrektur bedürfen. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen, wie diese Bundesregierung zum Chaos im deutschen Steuersystem
beigetragen hat: Im Rahmen der Unternehmensteuerreform wurde es Kapitalgesellschaften beim Übergang
vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren ermöglicht, gezahlte Körperschaftsteuern auf in der
Vergangenheit einbehaltene Gewinne durch Ausschüttungen vorzeitig zur Anrechnung zu bringen. Dadurch
wurde den Unternehmen unerwartet erhebliche Liquidität zugeführt, mit der Folge, dass das Körperschaftsteueraufkommen, wie Sie alle wissen, dramatisch eingebrochen ist.
({6})
Wenige Jahre später wurde mit der Einschränkung des
Verlustausgleichs, der so genannten Mindestbesteuerung, den Unternehmen unerwartet Liquidität entzogen
und die Krisenanfälligkeit der deutschen Wirtschaft erhöht.
Nun soll die Mindestbesteuerung weiter verschärft
werden. Nach eigenen Aussagen des Bundesfinanzministers bringt sie wenig, sie belastet jedoch risikoträchtige Unternehmungen zusätzlich und schreckt weiter von
Investitionen in Deutschland ab. Der Sachverständigenrat kommentiert Ihren Plan, den Verlustabzug auf
50 Prozent des Gesamtbetrags der Einkünfte bei einem
Sockelbetrag von 1 Million Euro zu begrenzen, wie
folgt:
Verlustverrechnungsbeschränkungen diskriminieren
die gerade für eine dynamische Volkswirtschaft und
einen schöpferischen Wettbewerb bedeutsamen riskanten Investitionen. Eine dadurch bewirkte Mindestbesteuerung hat nicht nur schädliche allokative
Folgen, von ihr können überdies negative konjunkturelle Effekte ausgehen.
Weiter wird darauf hingewiesen, dass die Mindestbesteuerung den Unternehmen liquide Mittel entzieht, wodurch der Aufschwung nicht ermöglicht wird.
({7})
Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Diese
Steuererhöhung ist deshalb nicht mit uns zu machen.
Bei der Änderung des Einkommensteuergesetzes
wollen Sie eine neue Vorschrift - § 15 b Einkommensteuergesetz - zur Einschränkung der Verrechenbarkeit
von Verlusten im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen einfügen. Die generelle Zielsetzung, Verlustverrechnungsmöglichkeiten zum Beispiel bei Medienfonds zu begrenzen, findet unsere Zustimmung, der
Wortlaut ist aber noch zu unbestimmt. So ist nicht sichergestellt, dass volkswirtschaftlich notwendige Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, die in der
Anfangsphase eines Unternehmens zu erheblichen Verlusten führen können, ausgenommen sind.
({8})
Es gibt noch weitere Fragen: Wann genau liegt ein Steuerstundungsmodell vor? Was ist eine modellhafte Gestaltung?
Der § 15 b Einkommensteuergesetz - wie er jetzt ausgestaltet ist - führt zu einer weiteren Komplizierung der
Steuergesetzgebung und zu Planungsunsicherheit. Im
weiteren Gesetzgebungsverfahren muss er deshalb nachgebessert werden. Es wird auch zu prüfen sein, ob die
vorgesehene Rückwirkung im vorgesehenen Umfang
verfassungsrechtlich zulässig ist. Vor dem Hintergrund
der angespannten Haushaltslage müssen wir auf eine seriöse Gegenfinanzierung von Steuersenkungen bestehen.
Wenn diese nicht vorgelegt wird, kann es eben nicht zu
der Körperschaftsteuersenkung im vorgesehenen Umfang kommen.
Die Seriosität der Gegenfinanzierung wird übrigens
auch in der Regierungskoalition bestritten.
({9})
Deshalb hat die Vorsitzende des Finanzausschusses, die
Abgeordnete Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen, auch
einen Beitrag zum Gelingen des Gesetzes einbringen
wollen, indem sie über die Medien einen Vorschlag zum
Abbau von angeblichen Steuersubventionen in Höhe von
5 Milliarden Euro für den Export von Arbeitsplätzen
lancierte.
({10})
Auf einen Antrag oder Gesetzesvorschlag im Parlament
warten wir bis heute vergebens, Frau Kollegin.
({11})
Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie in der Öffentlichkeit populistisch reden, im Parlament aber anders
handeln. Im Übrigen ist der Vorschlag eines Finanzpolitikers selten auf größere Kritik in der Fachwelt gestoßen.
Lassen Sie mich nur aus einer Stellungnahme des
Bundesfinanzministeriums zitieren:
Die in der jüngeren Vergangenheit häufig vernehmbare Behauptung,
- Ihre Behauptung, Frau Scheel die Kosten einer Verlagerung von Arbeitsplätzen
ins Ausland würden steuerlich begünstigt, verfälscht und verkürzt die tatsächliche Rechtslage.
({12})
Diese Aussage ist ausnahmsweise einmal richtig, Herr
Bundesfinanzminister.
({13})
Aber sie zeigt doch in ihrer vornehmen und zurückhaltenden Art, dass dies der diplomatische Versuch des
BMF ist, die Vorsitzende des Finanzausschusses nicht
völlig bloßzustellen.
({14})
Ich darf zum Schluss die Wertung des Bundesfinanzministeriums zu den Vorschlägen der Kollegin Scheel
zusammenfassen: Eine Verschärfung des Betriebsausgabenabzugsverbotes, wie immer sich die Kritiker das
auch vorstellen, hätte zudem nachteilige standortpolitische Wirkungen. Konzernzentralen würden sich dann
überlegen, ob sie künftig ihren Sitz in Länder verlegen,
die günstigere Regelungen für die Geltendmachung von
Beteiligungsaufwendungen haben. - So, meine Damen
und Herren von den Grünen, schädigen Sie den Standort
Deutschland weiter, insbesondere den Holdingstandort
Deutschland. Der Vorschlag von Frau Scheel wäre demnach eine wirkungsvolle Maßnahme, Kapital aus
Deutschland zu vertreiben, Arbeitsplätze zu vernichten
und Steuermindereinnahmen zu bewirken. Er legt die
Axt an die Wurzeln des Erfolgs des deutschen Exports,
auf den Sie in den Regierungsfraktionen immer so stolz
hinweisen.
({15})
Dennoch dürfen die Gesetze zur Senkung der Unternehmensteuerbelastung und zur Unternehmensnachfolge
nicht scheitern. Die Bundesbank warnt in ihrem Monatsbericht für Mai eindringlich:
Neue Vertrauensprobleme würden freilich aufgeworfen, wenn das Vorhaben jetzt noch scheitern
würde.
Weiter schreibt die Bundesbank zu positiven Effekten einer Steuerreform:
Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn sie nicht
als Einzelmaßnahme, sondern als Schritt zu einer
umfassenden Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer verstanden werden kann.
Wir teilen ausdrücklich diese Auffassung. Deutschland braucht eine tief greifende strukturelle Modernisierung des Steuerrechts.
({16})
Ein solch großer Wurf würde psychologische Wirkung
haben und eine Aufbruchstimmung erzeugen, die die
Wachstumskräfte stärkt.
({17})
Erst dann könnte auch auf einen Selbstfinanzierungseffekt vertraut werden. Solange aber keine Verzahnung der
Steuerpolitik mit Reformen am Arbeitsmarkt, bei der
Bildung und den Sozialsystemen zu erkennen ist, solange Sie sich in Einzelmaßnahmen verlieren, so lange
ist keine wirtschaftliche Dynamik in Deutschland zu erwarten.
({18})
Solange dürfen Sie sich auch nicht wundern, dass Sie
Jahr für Jahr neue Milliardenlöcher im Haushalt stopfen
müssen. Die „FAZ“ vom 12. Mai 2005 schreibt hierzu:
Die Einnahmeausfälle, die Rot-Grün jetzt wieder
beklagt, führt sie mit ihrer Politik vorsätzlich herbei.
Gemeint ist Ihre Politik, die auf mehr Staatstätigkeit und
weniger Freiheit für Unternehmen und Bürger setzt. Wir
dagegen wollen weniger Staat, weniger Bürokratie, weniger Abgaben, mehr Freiheit für Unternehmen und Bürger und mehr Arbeit in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5554 und 15/5601 sowie 15/5555
und 15/5603 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Dr. Michael Meister, Steffen
Kampeter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verschuldungsspirale stoppen - Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz umgehend vorlegen
- Drucksache 15/5331 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Andreas Pinkwart, Jürgen Koppelin, Otto
Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Prekärer Haushaltslage entgegentreten Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz vorlegen
- Drucksache 15/5477 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Bundesregierung ist am Ende.
({0})
Nachdem ein nicht mehr handlungsfähiger Bundeskanzler als Folge der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
seinen politischen Offenbarungseid geleistet hat, wollte
ihm Finanzminister Hans Eichel in dieser Woche nicht
nachstehen.
In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters
vom 31. Mai wird erklärt - ich darf zitieren -:
Deutschland wird nach Worten von Bundesfinanzminister Hans Eichel ({1}) auch im kommenden
Jahr gegen den europäischen Stabilitätspakt verstoßen …
Mit diesem Eingeständnis des Finanzministers ist er endlich in der finanz- und haushaltspolitischen Realität angelangt. Dies bedeutet im Klartext, dass wir nach 2002,
2003, 2004, 2005 im Jahr 2006 ein fünftes Mal gegen
europäisches Recht verstoßen werden. Wir werden zum
fünften Mal die Defizitgrenze des Maastricht-Vertrages
nicht einhalten - eine Folge rot-grüner Politik, eine
Folge der Politik des Finanzministers Hans Eichel.
({2})
Damit nicht genug: Wir werden nach 2002, 2003, 2004
und 2005 auch im kommenden Jahr keinen verfassungsgemäßen Haushalt von dieser Bundesregierung bekommen. Die Nettoneuverschuldung wird wieder oberhalb
der Summe für Investitionen liegen. Diese Bundesregierung steht mit ihrer Finanzpolitik nicht mehr auf dem
Boden des Rechts.
({3})
Wie keine andere Bundesregierung vor Ihnen setzen
Sie sich über geltendes Recht hinweg, nur weil Sie nicht
den Mut und nicht die Kraft haben, die notwendigen Reformen in Deutschland durchzuführen.
({4})
Herr Poß, die Rahmendaten der Haushaltspolitik von
Hans Eichel sind verheerend. Er hat in den vergangenen
sechseinhalb Jahren 160 Milliarden Euro neue Schulden
in Deutschland gemacht. Dabei sind die 50 Milliarden Euro, die er aus der Veräußerung der UMTS-Lizenzen gewonnen hat, nicht berücksichtigt. Zusammengenommen wären das über 200 Milliarden Euro neue
Schulden,
({5})
die Sie von der SPD, Ihr Koalitionspartner und der Bundesfinanzminister zu verantworten haben.
({6})
Herr Poß, jedes neugeborene Kind in Deutschland bekommt von Ihnen 10 500 Euro Bundesschulden aufgebürdet. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({7})
Wenn Ihre Regierung bleibt und Ihre Finanzpolitik so
weitergeht, dann kommen jedes Jahr mindestens
40 Milliarden Euro Schulden dazu. Hinzu kommt, dass
bei Ihren Planungen für die Zukunft, in der mittelfristigen Finanzplanung, die Wachstumsannahmen regelmäßig zu hoch angesetzt werden. Das heißt, Sie planen für
die Zukunft regelmäßig mit zu hohem Wachstum, mit zu
hohen Steuereinnahmen und mit zu geringen Ausgaben
für die Arbeitsmarktpolitik. Das bedeutet, dass Sie in der
mittelfristigen Finanzplanung die künftigen Defizite
massiv unterschätzen und damit das Volk, die Menschen
und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht
über die tatsächlichen Sachverhalte aufklären.
({8})
Herr Poß, Sie haben im Jahr 2005 ein strukturelles Defizit
({9})
im Bundeshaushalt von rund 60 Milliarden Euro. Das ist
Ihr Defizit, 60 Milliarden Euro in einem einzigen Jahr.
Sie haben 22 Milliarden Euro Neuverschuldung ausgewiesen. Sie haben eine Finanzierungslücke, die jetzt offen gelegt worden ist, in Höhe von 17 Milliarden Euro.
Ich nenne die Stichworte Rente, Bundesbank, Steuerschätzung, Hartz IV und Arbeitsmarktausgaben.
({10})
Sie haben Privatisierungserlöse von rund 22 Milliarden
Euro. Wenn Sie das addieren, dann ergibt das ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro. Darauf muss
von Ihnen eine Antwort kommen und sie muss lauten:
Nicht einfach jedes Jahr neue Schulden machen.
({11})
Ich darf Sie daran erinnern, wie Sie 1998 gestartet
sind. Es wird einem Oppositionskollegen ja gestattet
sein, in Ihre Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 zu blicken. Ich darf zitieren:
Solide Staatsfinanzen sind eine unverzichtbare
Grundlage für neue Arbeitsplätze,
({12})
für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung
und für soziale Stabilität …
({13})
Wir wollen die Schuldenanhäufung zu Lasten künftiger Generationen verringern.
({14})
Was ist aus dieser Ankündigung vom 20. Oktober 1998
bei Ihnen geworden?
({15})
Das krasse Gegenteil.
({16})
Aber Sie, Herr Poß, und Sie, Herr Eichel, haben nicht
nur eine Wahlperiode regiert, es gibt ja noch eine zweite
Koalitionsvereinbarung, aus dem Jahr 2002. Auch daraus darf ich zitieren:
Bis 2006 werden wir einen Bundeshaushalt ohne
neue Schulden vorlegen.
({17})
Solide Finanzen sind ein elementares Gebot der Generationengerechtigkeit und unerlässlich für ein
nachhaltiges Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung gerade auch für die private Wirtschaft.
Nun versuchen Sie nicht, einen Haushalt 2006 ohne
Schulden vorzulegen, sondern Sie versuchen, keinen
Haushalt 2006 vorzulegen. Sie versuchen, sich aus der
Verantwortung zu stehlen.
Wir fordern Sie auf: Legen Sie endlich den
Haushalt 2006 vor, beschließen Sie den Entwurf im Kabinett
({18})
und beraten Sie ihn so, wie sich das gehört! Es ist das
vornehmste Recht des Parlaments, den Haushaltsentwurf
in einem geordneten Verfahren zu diskutieren.
An all diese Ziele und an Ihre damaligen Versprechungen werden Sie heute sicherlich nicht gerne erinnert. Das ist verständlich; denn Sie sind von der Realität
Ihrer eigenen Finanzpolitik überholt worden. Schulden,
Schulden, Schulden - das ist das Ergebnis von Hans
Eichel.
({19})
Sie sind von einem ausgeglichenen Bundeshaushalt so
weit entfernt wie von Ihrem Ziel, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren.
Jetzt stellt der Bundesfinanzminister fest, die Union
sei an dem Desaster schuld. Ich will diesen Vorwurf aufgreifen, weil er falsch und irreführend ist. Die Union hat
in staatspolitischer Verantwortung den Subventionsabbau im Deutschen Bundestag und im Bundesrat mitgetragen.
({20})
Wir haben die steuerlichen Subventionen um 12 Prozent
gekürzt. Wir haben die Eigenheimzulage um 30 Prozent
zurückgeführt. Außerdem haben wir bei den haushaltswirksamen Subventionstatbeständen Kürzungen in Höhe
von jeweils 4 Prozent über drei Jahre vorgenommen.
Das ist mit unserer Mitwirkung und Zustimmung geschehen. Ich glaube, es gab in der deutschen Geschichte
noch nie einen Subventionsabbau mit einem ähnlichen
Volumen, einen Subventionsabbau, der von der Opposition in Verantwortung gegenüber dem Land mitgetragen
worden ist.
({21})
Was wir allerdings verhindert haben, waren Ihre Steuererhöhungspläne im so genannten Steuervergünstigungsabbaugesetz. Damit wollten Sie isoliert die steuerliche Bemessungsgrundlage verbreitern.
({22})
Alles, was Sie zurzeit in der Diskussion aufgreifen, war
in Ihrem Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen,
ohne dass beim Einkommensteuertarif eine Entlastung
erfolgt wäre. Was Sie hier betreiben, ist doch Heuchelei!
({23})
Wir waren der Auffassung, zu reinen Steuererhöhungen und Mehrbelastungen der Menschen an dieser Stelle
Nein zu sagen, weil sich sonst - das haben uns damals
alle Fachleute bestätigt - das wirtschaftliche Wachstum
und die Beschäftigungssituation noch schlechter entwickelt hätten, als es jetzt der Fall ist. Deshalb sollten Herr
Eichel und die Bundesregierung uns nicht kritisieren; sie
sollten sich vielmehr dafür bedanken, dass die Opposition dafür gesorgt hat, dass dieses Land nicht noch
schlechter dasteht, als es unter dieser Regierung ohnehin
der Fall ist.
({24})
Wir verfolgen eine relativ einfache Linie, um zu entscheiden, was wir mittragen: Das, was für Wachstum
und Beschäftigung gut ist, trägt die Union mit und zu
dem, was dafür schädlich ist, sagen wir Nein. An dieser
Messlatte werden wir unsere Politik hinsichtlich des
Haushalts, der Steuern und in anderen Bereichen orientieren.
({25})
Sie suchen allerdings die Schuld für das Desaster, in
das Sie Deutschland hineingeführt haben, nie bei sich
selbst. Sie suchen stattdessen die Verantwortung immer
bei anderen.
({26})
Jetzt wird von Ihrer Seite sogar versucht, die europäische Währungsunion als Sündenbock für die anhaltende Wachstumsschwäche in Deutschland verantwortlich zu machen.
({27})
Sie versuchen auf billige Art und Weise, von den wahren
Problemen in unserem Land abzulenken,
({28})
ohne den Menschen zu sagen, welche Kosten mit dem
diskutierten Austritt aus dem Euro verbunden wären.
Weitere Wachstumseinbrüche und Arbeitsplatzverluste
sowie die Gefährdung von Arbeitsplätzen in Deutschland sind die möglichen Folgen der von Ihnen entfachten
Diskussion. Sie schaden unserer Volkswirtschaft. Hören
Sie endlich auf, weiteren Schaden zu verursachen! Spielen Sie nicht mit den Menschen, sondern kehren Sie zur
Wahrheit und zu einer verlässlichen Politik zurück!
({29})
Die Wahrheit ist: Ihre Politik ist gescheitert. Sie sind gescheitert, Herr Bundesfinanzminister. Sie sind vom
„Spar-Hans“ zum „Schulden-Hans“ geworden. Der Bundesfinanzminister ist zu einer Karikatur seiner selbst geworden: ein Finanzminister, der vollmundig angetreten
ist, dem aber Gestaltungskraft und ordnungspolitische
Fundierung fehlt und der schrittweise sein Versagen eingestehen muss.
({30})
- Sehr geehrter Herr Poß, Sie können das alles mit Sicherheit besser.
({31})
Aber der Finanzminister ist zu einem Getriebenen im
Endzeitkabinett Schröder geworden.
({32})
Wir fragen uns: Warum handeln Sie eigentlich nicht?
Wir fordern Sie auf, zu handeln. Wir verlangen von Ihnen erstens eine sofortige Haushaltssperre zur Senkung
des allgemeinen Staatsverbrauchs. Es gibt keinen Grund,
das Land weiter in die Schulden treiben zu lassen.
Zweitens fordern wir Sie auf, unverzüglich einen
Nachtragshaushalt 2005 in den Deutschen Bundestag
einzubringen,
({33})
der die voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben für
das laufende Jahr und auch die Neuverschuldung wahrheitsgemäß und realistisch abbildet.
({34})
Denn nur auf dieser Grundlage können wir Maßnahmen
ergreifen, um dagegen anzugehen.
({35})
Handeln Sie endlich, Herr Bundesfinanzminister!
Schauen Sie nicht zu, wie das Land weiter in die Schulden treibt! Werden Sie Ihrer Verantwortung an dieser
Stelle gerecht! Sie sind in der Regierung. Wenn Sie der
Verantwortung nicht gerecht werden können, dann treten
Sie heute zurück! Warten Sie nicht noch einige Wochen
oder Monate, sondern beenden Sie Ihre Arbeit heute an
dieser Stelle!
({36})
Drittens verlangen wir die Vorlage des Bundeshaushalts 2006 und eine ordentliche Beratung im September
dieses Jahres hier im Deutschen Bundestag.
Viertens ist ein Haushaltssicherungsgesetz notwendig,
({37})
um tatsächlich Einsparungen auf der Ausgabenseite des
Bundeshaushaltes vornehmen zu können.
({38})
Deutschland kann es besser. Die Arbeitnehmer und
Unternehmer in diesem Land können es besser. Es ist
diese Bundesregierung, die für die katastrophale Entwicklung verantwortlich ist, die eine eigene Leistung,
eine Eigenanstrengung der Menschen hemmt. Sie, meine
Damen und Herren auf der Regierungsbank, sind verantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit und die dramatisch steigende Staatsverschuldung. Sie sind auch dafür
verantwortlich, dass nicht längst die notwendigen Strukturreformen in diesem Land angepackt worden sind, die
dazu führen würden, das strukturelle Defizit im Haushalt
endlich zurückzuführen und zu begrenzen.
Es fehlt Ihnen an Reformen im Arbeitsmarkt. Dazu
hatten wir Ihnen im „Pakt für Deutschland“ einen Vorschlag gemacht.
({39})
Wir haben Ihnen Vorschläge zur Reform des Gesundheitswesens, zur Reform des Rentensystems,
({40})
zum Thema Bürokratieabbau, zur Vereinfachung des
Planungsrechts und zur Vereinfachung des Steuerrechts
gemacht. Zu all diesen Themen gibt es in Anträgen und
Gesetzentwürfen von unserer Seite Vorschläge.
({41})
Aber Sie sind nicht handlungsfähig. Sie sind innerlich
zerstritten. Sie wissen nicht, wohin Sie das Land hinführen wollen, und sind deshalb nicht in der Lage, dieses
Land ordentlich zu regieren, meine Damen und Herren.
({42})
Deshalb müssen Sie sich die Arbeitslosen und die Staatsverschuldung anrechnen lassen und können nicht auf die
Opposition verweisen. Die Menschen in unserem Land
haben eine bessere Regierung verdient, eine Regierung,
die die Lösung der Probleme aufzeigt und nicht hilflos,
kopflos und ratlos agiert.
Meine Damen und Herren, mit der Ankündigung,
Neuwahlen herbeiführen zu wollen, gesteht Bundeskanzler Schröder das endgültige Scheitern seiner Regierung ein. Er gesteht die innere Zerrissenheit der Koalitionsfraktionen ein. Er gesteht ein, dass Rot-Grün auf die
drängenden Fragen der Zeit und auf die Herausforderungen keine Antworten hat. Sie haben kein Zukunftsprogramm und verteidigen lediglich das bisher Erreichte.
Das reicht nicht bei 6,5 Millionen Arbeitslosen. Es sind
nämlich nicht nur die in der öffentlichen Statistik erfassten Menschen ohne Beschäftigung, sondern auch diejenigen, die an Arbeitsmarktmaßnahmen teilnehmen.
Deshalb wäre es gut für Deutschland, wenn das Land
eine neue Regierung bekäme. Diese rot-grüne Regierung
hat versagt. Sie sind nicht regierungsfähig.
({43})
Wir bieten eine Alternative und deshalb werben wir um
das Vertrauen der Menschen in Deutschland.
Danke schön.
({44})
Ich erteile das Wort Bundesminister Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Herr
Meister: Normalerweise schätze ich Sie, wie Sie wissen,
als einen sachlichen Mann.
({0})
- Was haben Sie für ein Durcheinander?
({1})
Nach dieser Rede muss ich Ihnen allerdings sagen: Es
war weit unter Ihrem Niveau,
({2})
das Thema Währungsunion und Euro in der Weise zu behandeln, wie Sie es hier gemacht haben.
({3})
Panikmache aufgrund eines Zeitungsberichts, an dem
nichts dran ist - Sie konnten genau nachlesen, was die
Bundesbank dazu erklärt hat und was ich dazu gesagt
habe -, ist unverantwortlich. Das ist tatsächlich die Art,
wie die Opposition in diesem Hause vielfach argumentiert.
({4})
An dem Bericht ist nichts dran und deswegen weise ich
Ihre Vorwürfe mit Nachdruck zurück. Das ist kein
Niveau, auf dem man eine Debatte führen kann, Herr
Meister.
({5})
Nun komme ich zum Haushalt. Ja, ich habe gesagt:
Die Haushaltslage ist dramatisch oder äußerst prekär.
Die Wortwahl von Herrn Kampeter lautete: Sie ist katastrophal.
({6})
Ich will darüber nicht streiten, sondern ich will zunächst
nur auf eines hinweisen: Die Haushaltslage ist dramatisch, nicht nur beim Bund, sondern beim Gesamtstaat.
Aber Sie sind der absolut falsche Ankläger in dieser
Frage, meine Damen und Herren.
({7})
Sie haben es in 16 Jahren im Jahresdurchschnitt auf
36,4 Milliarden neue Bundesschulden gebracht.
({8})
Wir haben hingegen in sechs oder meinetwegen in sieben Jahren - wenn Sie das siebte, das noch nicht abgeschlossen ist, hinzuzählen wollen - insgesamt
160 Milliarden neue Schulden gemacht. Das sind im
Durchschnitt rund 23 Milliarden pro Jahr, während Sie
in 16 Jahren jedes Jahr 36,4 Milliarden neue Schulden
gemacht haben. Das wollen wir einmal festhalten. Sie
sind nicht diejenigen, die wissen, wie man die Staatsfinanzen in Ordnung bringt.
({9})
Sie sind aber sehr wohl diejenigen, die wissen, wie man
die Staatsfinanzen durch Verweigerungshaltung durcheinander bringt.
Nun will ich ganz genau sagen, wie die Lage in diesem Jahr ist. Das Ergebnis der Steuerschätzung bedeutet im Vergleich zum Haushaltsvoranschlag ein neues
Risiko in Höhe von 3,8 Milliarden Euro. Wir haben im
Hinblick auf den Arbeitsmarkt - der Wirtschaftsminister
ist hier möglicherweise ein bisschen optimistischer als
ich - mit einem zusätzlichen Risiko in Höhe von
7 Milliarden bis 8 Milliarden Euro zu rechnen. Wir haben außerdem einen niedrigeren Bundesbankgewinn zu
verzeichnen. Wenn ich die positiven Entwicklungen
berücksichtige und beispielsweise die höheren Dividendeneinnahmen und die Schuldenrückzahlungen etwa von
Polen gegenrechne, dann stelle ich fest, dass wir in diesem Jahr ein zusätzliches Risiko in Höhe von
10 Milliarden bis 12 Milliarden Euro zu verkraften haben.
Noch ein Wort zu Hartz IV. Sie haben hier alles mit
beschlossen und sich anschließend in die Büsche geschlagen. Die unionsgeführten Länder lehnen nun eine
Revisionsklausel ab, obwohl die Kosten für die Unterkunft - alles spricht dafür, dass das stimmt - wesentlich
geringer ausfallen. Dabei geht es um eine Entlastung für
den Bundeshaushalt in Höhe von 2,4 Milliarden Euro.
Angesichts dessen müssen Sie sich fragen lassen, ob das
der richtige Umgang zwischen Bund und Ländern in einem föderalen Staat ist. Ich jedenfalls halte das für nicht
akzeptabel.
({10})
Damit die Bedingungen ganz klar sind: Einen Nachtragshaushalt werde ich nicht vorlegen. Das werde ich
Ihnen gleich begründen. Ich werde die hier entstehenden
Probleme durch Einmalmaßnahmen und notfalls durch
die Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen beherrschen können.
({11})
- Jawohl, Herr Koppelin, ich werde gleich präzise darüber reden, was Sie alles nicht tun. Was wollen Sie jetzt
eigentlich?
Ich weise darauf hin, dass wir auf der Ausgabenseite
in einem bisher nicht gekannten Maße konsolidiert haben. Wir haben seit 1999 ein durchschnittliches Ausgabenwachstum in Höhe von 0,4 Prozent pro Jahr. Wenn
man die Inflationsrate berücksichtigt, dann bedeutet das
sogar, dass es beim Bund einen realen Rückgang der öffentlichen Ausgaben gegeben hat. Dabei sind noch - das
ist wahr - die viel höheren Kosten für den Arbeitsmarkt
wegen der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung
und die höheren Kosten für die Rentenversicherung
- das hat etwas mit der demographischen Entwicklung
zu tun - zu berücksichtigen. Überall sind die Ausgaben
- einzige Ausnahme ist der Bereich Bildung und Forschung; das haben wir ganz bewusst so gemacht - nicht
nur real, sondern auch nominal drastisch zurückgefahren
worden, sodass der Sachverständigenrat in seiner Bewertung zu dem Ergebnis kommt, auf keinen Fall könne
bestritten werden, dass wir ausgabenseitig konsolidiert
hätten. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Finanzhilfen.
({12})
Eine Hilfe waren Sie mir dabei nie. Ich erinnere mich
noch gut: Als wir 1999 das 30-Milliarden-DM-Paket auf
den Weg gebracht haben und ich vorgeschlagen habe,
unter anderem die Beamtengehälter für eine bestimmte
Zeit einzufrieren, sind es die von Ihnen regierten Länder,
die die Hauptnutznießer dieser Maßnahme gewesen wären, gewesen, die mir das im Bundesrat kaputtgemacht
haben. So sieht einer Ihrer Beiträge zur Konsolidierung
der öffentlichen Haushalte aus. Nur Lobbypolitik!
({13})
Zu den Leistungsgesetzen. Dazu möchte ich von
Ihnen Genaueres erfahren; das wollen wir einmal
durchbuchstabieren. Was haben wir denn in der Rentenversicherung gemacht? Wir haben einen Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt.
({14})
Wir haben außerdem für eine Nullrunde bei der Rente
gesorgt.
({15})
- Rechnen Sie das doch nach! Sie wissen ganz genau
- das ist leider wahr -, dass unser Nachhaltigkeitsfaktor
viel härter ist als Ihr demographischer Faktor. Das ist der
schlichte Sachverhalt.
Wir haben des Weiteren die Betriebsrenten dem vollen Krankenversicherungsbeitrag unterworfen und den
vollen Pflegeversicherungsbeitrag von den Rentnern
verlangt. Das alles sind Dinge, die zwar keinen Spaß gemacht haben, die aber unvermeidbar waren.
Wenn man hinnimmt, dass die demographischen Veränderungen nicht in den ökonomischen Rahmenbedingungen abgebildet werden - sie haben das 16 Jahre lang
getan -, dann ist eine solche Situation der sozialen
Sicherungssysteme die Folge. Wir mussten so handeln,
nicht weil wir unsozial sind, sondern gerade weil wir sozial sind.
({16})
Mit jedem weiteren Jahr, das man wartet - das sage ich
auch in Richtung ganz anderer -, würden die Probleme
nur größer.
Was hat unsere Gesundheitsreform gebracht? Die
Wahrheit ist: Für viele Versicherte werden Leistungen
des Gesundheitssystems ab dem 1. Juli noch einmal teurer werden. Herr Fricke, es tut mir sehr Leid, dass Kostendämpfung durch mehr Wettbewerb aufseiten der
Leistungserbringer - das ist eine zentrale Frage - auf der
Strecke geblieben ist. Dafür sind Sie verantwortlich. Das
wissen Sie so gut wie ich.
({17})
Was Hartz IV angeht, sind einige von Ihnen schon
wieder dabei, umfangreiche Nachbesserungen zu fordern. Der Wirtschaftsminister hat darauf hingewiesen:
Wir werden über die neu entstandenen Missbrauchstatbestände in der Praxis reden müssen. Es gilt, zu klären,
warum wir plötzlich so viele Bedarfsgemeinschaften haben. Das kann so nicht sein. Ich möchte einmal wissen,
was die von der CDU regierten Kommunen bei der Umsetzung dieses Gesetzes eigentlich machen. Darüber
wird zu reden sein und da schlagen Sie sich in die Büsche.
Wenn Sie Eingriffe in Leistungsgesetze - sie würden
in diesem Jahr übrigens gar keine Auswirkungen haben;
insofern ist das ein völlig untauglicher Beitrag zur Haushaltssituation dieses Jahres - wollen, dann nennen Sie
doch bitte Ross und Reiter. Im Moment sind Sie diesbezüglich absolut sprachlos.
Ich kann Ihnen sagen, wo Geld zu holen ist - wenn
man das überhaupt will. Vieles ist verfügt: im Etat des
Verkehrsministeriums bei den Verkehrsinvestitionen, im
Etat des Verteidigungsministeriums bei den Beschaffungen, im Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung und im Etat des Entwicklungshilfeministeriums.
Ich weiß ganz genau, was Sie sagten, wenn ich dort Kürzungen vornähme. Ich würde so aber nicht vorgehen,
weil es in dieser Phase konjunkturschädlich wäre. Ein
solcher Schritt würde die Probleme vergrößern und nicht
verringern.
({18})
… Das zu erwartende gesamtwirtschaftliche Wachstum wird in erheblichem Umfang vom Export getragen sein, während das Wachstum der Inlandsnachfrage zunächst noch dahinter zurückbleiben dürfte.
Steuererhöhungen oder weitere drastische Ausgabenkürzungen würden in dieser Situation die Inlandsnachfrage zu sehr dämpfen und damit die
Wachstumsdynamik beeinträchtigen und eine positive Beschäftigungsentwicklung in Frage stellen.
Mit dieser Begründung haben Sie im Jahre 1997 einen
Nachtragshaushalt abgelehnt. Damals erwarteten Sie ein
Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent. Wir erwarten im
Augenblick ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent.
Dennoch verlangen Sie solche Eingriffe. Wie unglaubwürdig ist Ihre Position?!
({19})
Es stellt sich die Frage: Was bleibt eigentlich übrig?
Eine Menge! Ganz unwahr ist, dass wir nichts gemacht
hätten. Herr Dr. Meister, ich komme jetzt zum Subventionsabbau. Sie schieben immer die Kleckerbeträge, bei
denen Sie mitgemacht haben, vor, verschweigen aber,
wie viele große Vorhaben Sie verhindert haben, und
zwar systematisch und seit Beginn dieser Wahlperiode.
({20})
- Darauf komme ich zu sprechen; da können Sie ganz sicher sein.
Ich habe in der Zeitung gelesen, Herr Röttgen habe
gesagt, es werde zum Inhalt des Programms, das Sie am
11. Juli vorlegen wollen, gehören, die gegenwärtige finanzielle und ökonomische Lage des Landes und die
Verantwortung dafür uneingeschränkt darzustellen, weil
sich die Legitimation für den Neuanfang und die Notwendigkeit der ersten Schritte der neuen Regierung erst
daraus ergäben. Hervorragend!
({21})
Ich erwarte also, dass in Ihrem Programm, das Sie am
11. Juli vorlegen wollen, steht: Ja, wir übernehmen die
Verantwortung
({22})
dafür, dass wir seit Ende 2002 systematisch blockiert haben, dass Jahr für Jahr steuerliche Subventionen in Höhe
von 17,5 Milliarden Euro - insgesamt war der Abbau
von Subventionen in Höhe von 26 Milliarden Euro vorgesehen - abgebaut werden.
({23})
Das muss man dann ganz klar machen. Wenn Sie sich
dem nicht stellen, dann sind Ihre sämtlichen Behauptungen, dass Sie die Verantwortlichkeiten in Ihrem Programm offen legen wollen, hohles Gerede. In Wirklichkeit stehlen Sie sich davon.
Jetzt wollen wir einmal über Steuern reden. Wenn Sie
nicht in der Wirklichkeit ankommen - wir werden dagegen kämpfen, dass der Wähler Ihnen sein Vertrauen
schenkt -, dann werden Sie in der Tat keine wirklichkeitstauglichen Antworten geben können; das haben Sie
selber gesagt.
Wo sind wir mit der Steuerquote, meine sehr verehrten Damen und Herren? Wir sind mit der Steuerquote gegenwärtig bei 20,1 Prozent. Damit liegen wir um
3 Prozent unter dem jahrzehntelangen Durchschnitt der
alten Bundesrepublik.
({24})
Wir wollen festhalten: Das gilt auch für die Abgabenquote. Ich zitiere wörtlich den Sachverständigenrat. Er
nennt die internationale Vergleichsquote für 2003:
Mit 21,5 Prozent wies Deutschland im Jahr 2003 im
internationalen Vergleich eine der niedrigsten und
in der Europäischen Union sogar die niedrigste gesamtwirtschaftliche Steuerquote auf … Nie zuvor
in der Geschichte der Bundesrepublik waren Eingangssteuersatz … und Spitzensteuersatz … der
Einkommensteuer so niedrig; auch im europäischen
Vergleich sind die Einkommensteuersätze eher moderat. Aus diesen Zahlen kann für sich genommen
weder die Notwendigkeit einer generellen Steuersenkung abgeleitet noch auf eine unzureichende
steuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland
geschlossen werden. Dies gilt auch, wenn die gesamtwirtschaftliche Abgabenquote als Summe von
Steuerquote und Sozialabgabenquote betrachtet
wird. Hier liegt Deutschland mit 36,2 Prozent im
europäischen Mittelfeld.
Mit anderen Worten: Wenn Sie sich nicht dem Sachverhalt öffnen, dass es eine weitere Steuerentlastung
nicht mehr geben kann und dass wir eine Verbesserung
der Einnahmesituation des Staates durch Subventionsabbau brauchen, sind Sie nicht wirklichkeitstauglich.
({25})
Das wissen übrigens viele.
Was war denn die Strategie? Das wollen wir einmal
richtig auskämpfen. Von dem Augenblick an, als ich das
Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen eingebracht habe - beim Haushaltsbegleitgesetz für den Haushalt 2004 war es später ganz genauso -, war Ihre Strategie: Wir lassen den Bund mit unserer Mehrheit im
Bundesrat in die Grube fallen. Dann werden wir sehen,
dass die anderen kaputtgehen, und wir kommen wieder
dran. - Das war Ihre Strategie vom ersten Tag der neuen
Wahlperiode an.
({26})
Sie haben aber eines übersehen: Die CDU-geführten
Länder liegen längst in der Grube. Herrn Koch und
Herrn Wulff steht das Wasser doch längst Oberkante Unterlippe. Sie sollten den Mund nicht so weit aufreißen,
weil sonst das Wasser hineinschwappt. Das ist die Wirklichkeit.
({27})
Hessen hat einen verfassungswidrigen Haushalt aufgestellt. Herr Wulff tritt mit seiner Regierung an und erklärt, er werde in der ganzen Wahlperiode keinen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen. Das Saarland,
Bremen und Berlin haben keinen verfassungsgemäßen
Haushalt. Nach der Steuerschätzung sind jetzt insgesamt
zehn Länder nach ihren Finanzplänen in der Verfassungswidrigkeit. Es kann allerdings sein, dass es das
eine oder andere Land noch irgendwie schafft, die Verfassungswidrigkeit für dieses Jahr durch Bewirtschaftung zu vermeiden.
Also: Sie wollten den Bund in die Grube fallen lassen.
Das wird, wenn Sie so weitermachen, auch gelingen.
Aber die Länder liegen schon in der Grube - und Ihre
eigenen Länder zuallererst, meine Damen und Herren.
({28})
Was ist das für eine Politik: die eigenen Ministerpräsidenten dazu zu zwingen, ihre Finanzen zu ruinieren, damit man die Sozialdemokraten und die rot-grüne Koalition im Bund los wird? Das ist unverantwortlich.
({29})
Das ist Ihr Beitrag zur Föderalismusdebatte.
({30})
Was machen denn die Länder? Sie machen dasselbe
wie ich. Ich habe - das ist ja richtig, Herr Meister - in
hohem Maße Privatisierungserlöse zur Finanzierung
des Haushalts eingesetzt. Das habe ich nie gewollt; das
ist nicht die Finanzpolitik, die ich mir vorgestellt habe.
Wir wollten - darüber gab es keinen Streit - privatisieren; aber wir wollten die Erlöse einsetzen, um damit alte
Schulden abzubauen, nicht zur laufenden Finanzierung
des Haushalts.
Was passiert nun in diesem Lande?
({31})
In Niedersachsen zum Beispiel gibt es Privatisierungen
in großem Umfang.
({32})
- Hören Sie doch auf! Wenn die Länder keine Verantwortung für ihre Politik übernehmen müssen, geben Sie
den Föderalismus an der Garderobe ab. So ist es doch.
({33})
Entweder haben Sie eine Verantwortung - dann nehmen
Sie sie wahr! -, oder Sie haben keine Verantwortung;
dann muss man das System ändern.
Hessen - der Ministerpräsident dort wurde auch einmal als Kanzlerkandidat genannt ({34})
plant allein in diesem Jahr mit Einnahmen in Höhe von
850 Millionen Euro aus der Veräußerung von Behördenbauten, die dann zurückgemietet werden. Zum Beispiel
wird das Finanzministerium verkauft. Vielleicht fällt Ihnen so etwas auch noch ein. Verkaufen und zurückmieten - das bedeutet eine Verdoppelung der Kosten in der
Zukunft und nur noch von der Substanz leben! Das ist
ungefähr so, als wenn jemand - das versteht jeder - sein
Häuschen verkauft und den Verkaufserlös für Konsum
einsetzt. Im Gegensatz zu vorher, als er das Häuschen
noch hatte, muss er jetzt Miete zahlen, aber das Geld ist
weg. Da weiß man genau, wann das zu Ende geht. Das
kann überhaupt nicht gut gehen.
({35})
- Das ist nicht meine Politik! Darauf komme ich noch
einmal zu sprechen.
Baden-Württemberg: Die Zinseinnahmen bis 2017
werden auf 2005 und 2006 vorgezogen, damit BadenWürttemberg noch eben einen verfassungsgemäßen
Haushalt darstellen kann. Bayern wird uns erzählen, im
Jahr 2006 werde es einen Haushalt ohne neue Schulden
haben; nach der Verfassung ist das so. Wissen Sie, wie
man das da macht? Durch Privatisierungserlöse und
durch Entnahmen aus Rücklagen, die aus alten Kreditermächtigungen gebildet worden sind. Das ist in anderen
Ländern schon verboten. Das ist Ihre Finanzpolitik,
meine Damen und Herren! Das macht Ihr künftiger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, wie ich in den
Zeitungen lese!
({36})
Keine Angst! Alle Zahlen für dieses Jahr sind auf
dem Tisch. Es kommen auch alle neuen Zahlen auf den
Tisch. Der Herr Söder meint, man müsse noch einen
Kassensturz machen. So etwas Ähnliches habe ich auch
von Frau Merkel gelesen. Die sind wohl nicht à jour.
Herr Stratthaus sieht das ganz anders und sagt: Wir brauchen keinen. Wir kennen alle Zahlen.
({37})
Das ist auch richtig. Ich habe nämlich eingeführt, dass
jeden Monat in den Monatsberichten des Bundesfinanzministeriums genau der Status, jeweils im Vergleich zum
Vormonat, veröffentlicht wird. Dreimal im Jahr gibt es
unsere Prognose, die auch veröffentlicht wird. Das ist
der schlichte Sachverhalt.
({38})
Meine Damen und Herren, was Sie durch Ihre Blockademehrheit im Bundesrat angerichtet haben, wird Ihnen selber auf die Füße fallen.
Da bleibt nur noch die Frage: Was ist denn nun eigentlich mit der neuen Ehrlichkeit? Herr Glos wurde
schon zitiert. Das war nun wirklich eine der schönsten
Veranstaltungen, die wir erlebt haben. Aber ich habe
noch etwas anderes gelesen, wieder von Herrn Röttgen,
wieder zum Programm: Entscheidend sei überdies, dass
sich das Programm nicht erschöpfen dürfe in der Aufzählung einzelner Maßnahmen, sondern die programmatischen Leitplanken der künftigen Regierungspolitik beschreiben müsse.
({39})
Es gehe nicht um die Aufreihung einzelner Aktionen,
um die jeweils davon betroffenen Lobbygruppen zu mobilisieren, sagte Röttgen. Es werde darauf ankommen,
Verständnis für Strukturveränderungen zu wecken,
({40})
etwa für die Abkopplung der Sozialkosten vom Lohn,
statt Hysterie über einzelne Maßnahmen zu erzeugen.
({41})
Da bleibt nur noch eine Frage, verehrter Herr
Röttgen: Gibt es nun die Mehrwertsteuererhöhung in Ihrem Programm, ja oder nein?
({42})
Wird die Eigenheimzulage gestrichen, ja oder nein?
Wird die Pendlerpauschale drastisch eingeschränkt, ja
oder nein? Wird die Steuerfreiheit der Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge aufgehoben, ja oder
nein? Das ist die Frage nach der neuen Ehrlichkeit.
Ich habe eine Fülle von Vorschlägen unterbreitet. Die
Koalition hat sie mitgetragen.
({43})
Wir haben eine Menge Prügel dafür eingesteckt, dass wir
gesagt haben: In der Verantwortung für dieses Land
müssen wir solche unpopulären Maßnahmen treffen. Sie waren immer dagegen. Jetzt, da Sie glauben, Sie
könnten im Herbst die Regierung stellen - ich wäre an
Ihrer Stelle vorsichtig -, treten die einen auf, die vertuschen wollen, weil sie sich sagen: „Dann kommen wir
besser bis zur Wahl“, und die anderen, die der Meinung
sind, es geht gar nicht weiter. Aber diejenigen, die wirklich Verantwortung für ihr Land haben, die Ministerpräsidenten, wollen es genauso geklärt wissen wie die anderen, die Angst um ihre Wahlaussichten haben. Sie
werden das klären müssen.
({44})
Unsere Antworten, etwa zum Subventionsabbau, so
unpopulär sie auch sind, liegen auf dem Tisch. Es gibt
nichts, verehrter Herr Röttgen, was nicht von Lobbygruppen bekämpft werden wird. Das ist die Wahrheit.
({45})
Sie haben sich immer dahinter gestellt. Mit der 17-Milliarden-Blockade sind Sie für die Probleme, die wir haben, mit verantwortlich. Das ist nicht das Problem allein,
aber es ist Ihr Beitrag dazu. Darüber wird zu reden sein.
({46})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesminister, ich finde, Sie sind Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
({0})
Sie sind als Bundesfinanzminister vereidigt worden und
haben eine Aufgabe übernommen. Sie hätten heute Stellung zu den Anträgen nehmen und eindeutig sagen müssen, warum Sie keinen Nachtragshaushalt vorlegen.
({1})
Stattdessen beschimpfen Sie die Opposition.
Ja, es ist wahr, dass man vielleicht über die eine oder
andere Frage sachlich diskutieren kann. Wir als FDP haben zum Beispiel eine klare Meinung zur Mehrwertsteuer, in der Union wird darüber diskutiert. Aber, lieber
Herr Eichel, diese Probleme sind doch sehr gering zu
den Problemen, die Sie in Ihrer eigenen Partei haben.
({2})
- Ich weiß nicht, wer da gerade gelacht hat, aber es ist
doch Tatsache, dass vor kurzem einer Ihrer ehemaligen
Bundesvorsitzenden aus der Partei ausgetreten ist und
ein anderer ehemaliger Bundesvorsitzender, Herr
Scharping, gestern groß mit Ihrer Partei abgerechnet hat.
Diese Probleme haben Sie. Also beschimpfen Sie nicht
die Opposition, sondern kümmern Sie sich um Ihren eigenen Laden.
({3})
Das, was Sie hier gesagt haben, enthielt keinerlei
Stellungnahme zu der rot-grünen Haushaltspolitik, die
wir hier Jahr für Jahr erlebt haben. Es war immer das
Gleiche: erst zu optimistische Prognosen und dann zu
geringes Wachstum und zu geringe Steuereinnahmen.
Keine der Zahlen auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite hat gestimmt. Die Haushalte sind deshalb aus
dem Ruder gelaufen, weil sie immer von rot-grünen
Träumereien geprägt waren.
({4})
Sie jedoch haben diese Träumereien für Wirklichkeit gehalten. Das ist doch die Wahrheit.
({5})
Herr Eichel, Sie sind am Ende. Das ist auch eine Erfahrung, die Sie gemacht haben.
({6})
Sie mögen guten Willens gewesen sein, Sie sind aber am
Ende vom Bundeskanzler zum Buchhalter dieses Bundeskabinetts degradiert worden. Sie konnten selber
nichts mehr gestalten. Das ist doch Ihr Problem. Ich billige Ihnen zu, dass Sie wirklich guten Willens gewesen
sind. Das wird gerade an Ihren ersten Reden als Bundesfinanzminister deutlich. Sie hatten natürlich auch einen
Vorgänger, der Ihnen den Start leicht gemacht hat; das
war Oskar Lafontaine.
Jedes Jahr sind aufgrund Ihrer Träumereien, Herr
Eichel, die Probleme größer geworden, auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite. Wenn Sie jetzt schon
keinen Nachtragshaushalt vorlegen wollen, sagen Sie
wenigstens etwas zu den gescheiterten Arbeitsmarktreformen und den geringen Bundesbankgewinnen und
dazu, dass die Reformen nicht greifen. Das liegt doch
daran, dass sie handwerklich teilweise schlecht gemacht
sind. Diese Probleme haben Sie doch geschaffen und
nicht die Opposition. Dafür tragen auch Sie die Verantwortung.
({7})
- Frau Präsidentin, so eine Bemerkung, dazu noch neben
dem Rednerpult, ist unmöglich. Ich wäre dankbar, wenn
das gleich korrigiert würde.
Herr Kollege Tauss, es ist nicht gut, wenn Sie am
Redner vorbeigehen und solch eine Bemerkung machen.
Es wäre gut, wenn Sie sich anschließend noch beim Redner entschuldigen würden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt Ausgaben zu
senken, werden Steuern erhöht. Bei dieser Erhöhung
werden dann auch noch handwerkliche Fehler gemacht.
Ich erinnere nur an die Erhöhung der Tabaksteuer.
Jedes Jahr hat Rot-Grün die gleiche Haushaltspolitik
betrieben: Einnahmen geschönt, Ausgaben unterschätzt
und keinen Mut zu Einsparungen gezeigt. Herr Eichel,
ich sage es Ihnen sehr direkt: Sie haben erst den Haushalt gegen die Wand gefahren, nun wollen Sie in diesen
Tagen auch noch Fahrerflucht begehen. Genau das haben Sie vor.
({0})
Das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass der Haushalt in
eine Schieflage geraten ist. So beanspruchen die Sozialausgaben und Zinsausgaben etwa 86 Prozent der
Steuereinnahmen. Allein an Zinsausgaben ist für das
Haushaltsjahr 2005 mit einer Größenordnung von circa
40 Milliarden Euro zu rechnen. Das heißt konkret, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Rund jeden fünften Euro,
den die Bürgerinnen und Bürger an Steuern zahlen, muss
der Bund für Zinsen bereitstellen. Das ist die Wirklichkeit.
({1})
Machen Sie sich einmal klar, lieber Kollege, was das für
kommende Generationen bedeutet - das Problem ist
greifbar -: Würde der Bund jedes Jahr 10 Milliarden
Euro für die Tilgung alter Schulden einsetzen, wäre er
erst in circa 85 Jahren schuldenfrei. Das ist unsere augenblickliche Situation.
({2})
Da muss man doch nun wirklich die Bremse ziehen,
egal, wo man sitzt und wofür man Verantwortung trägt.
Die Probleme liegen doch auf der Hand: Bei Hartz IV
- das wurde schon angesprochen - haben wir ein großes
Minus; wir müssen mit 7 bis 8 Milliarden Euro rechnen.
Die Steuereinnahmen vermindern sich. Die Bundesagentur für Arbeit braucht mehr Geld. Der Bundesbankgewinn fällt nicht entsprechend aus. Die Einnahmen aus
der Tabaksteuer fallen nicht so hoch aus wie geplant. Als
wir Ihnen vorhersagten, dass das so kommen wird,
wurde das abgestritten. Für die Rentenversicherung werden Sie zusätzliches Geld brauchen. Das Sonderopfer
Südostasien, das wir alle gewollt haben, ist noch nicht
eindeutig finanziert. Die Beschlüsse aus dem Jobgipfel
sind noch nicht eindeutig finanziert usw. Die Liste ließe
sich fortsetzen. Sie aber sagen, einen Nachtragshaushalt
bräuchten Sie nicht. Was ist denn das für eine Haushaltspolitik, die Sie da machen? Es wäre doch ehrlich, zu sagen, in welcher Situation wir uns befinden, und einen
Nachtragshaushalt vorzulegen.
Wir sind zwar auch für eine Haushaltssperre - das
sage ich an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen
von der Union -, aber diese wird in dieser schwierigen
Situation längst nicht so viel bringen, wie wir brauchen.
({3})
Gemacht werden muss das, aber allein auf diese Maßnahme sollte man nicht setzen.
Wir als FDP wollen eine Doppelstrategie, um den
Haushalt zu konsolidieren. Natürlich muss bei den Ausgaben gespart werden; daran geht kein Weg vorbei. Aber
wir brauchen auch Reformen bei Steuern, Sozialversicherung und Arbeitsmarkt. Nur so ist der Bundeshaushalt zu konsolidieren. Das wird nicht von einem Jahr
aufs andere funktionieren.
({4})
Wir haben Ihnen, Herr Eichel, immer die Zusammenarbeit angeboten. Das war nicht nur so gesagt. Sie haben
das Angebot leider ausgeschlagen. Gerade aufgrund der
Verantwortung, die wir in den Ländern tragen - jetzt ja
auch noch in Nordrhein-Westfalen, was wir natürlich begrüßen -, wollten wir auch beim Bund solide Staatsfinanzen und einen ausgeglichenen Haushalt erreichen.
Wir waren daran interessiert, weil das natürlich auf die
Länder durchschlägt. Aber Sie haben unser Angebot einer haushaltspolitischen Zusammenarbeit ausgeschlagen.
Die FDP hat sich nicht vom Weg abbringen lassen.
Wir haben gehandelt; deshalb werfe ich das hier noch
einmal auf: Wir haben zum Bundeshaushalt 2005 Sparvorschläge gemacht, 437 Anträge mit Einsparungen in
einem Umfang von circa 13 Milliarden Euro. Das sind
keine Großprojekte, sondern viele einzelne kleine Maßnahmen. Wir haben Streichungen vorgenommen: bei den
Subventionen 20 Prozent, bei den Zuwendungen des
Bundes 20 Prozent. All das muss gemacht werden. Das
betrifft sogar - das sage ich sehr deutlich - unsere Klientel. Aber wenn alle gleichermaßen von 20 Prozent Kürzungen betroffen werden, dann kann keiner jammern;
dann sind alle gleich behandelt. Da kann man sich nicht
einfach die Eigenheimzulage heraussuchen, sondern es
muss überall das Gleiche gemacht werden.
({5})
Das ist unser Ziel, um zu sparen.
Rot-Grün hat alle unsere Anträge abgelehnt. Kommen
Sie jetzt nicht damit, dass wir nicht bereit gewesen wären, zu handeln und mit Ihnen im Sinne der Sache zusammenzuarbeiten.
Ich sage das auch mit Blick auf die Grünen, weil die
Kollegin Hajduk gleich spricht. Von den Grünen werden
gerade zum Thema Haushalt immer Reden gehalten, denen ich in manchem zustimmen könnte, weil das solide
und vernünftig klingt. Wenn es aber um Entscheidungen
ging, dann haben Sie immer dieser unsoliden Politik zugestimmt. Liebe Kollegin Hajduk, da Sie gleich sprechen, sage ich es Ihnen sehr deutlich: Die Grünen haben
mit ihrem Marsch durch die Institutionen, wenn ich mich
richtig erinnere, beim Oberbürgermeister Hans Eichel in
Kassel, der ersten rot-grünen Koalition in einer großen
Stadt, begonnen. Wissen Sie, wo Sie mit Ihrem Marsch
durch die Institutionen gelandet sind? Beim Bundesfinanzminister Hans Eichel in seinem Schuldenstaat.
({6})
Insofern haben Sie die Pleite des Bundeshaushaltes mit
zu verantworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen,
ist eine neue Politik; darum kommen wir nicht herum.
({7})
Wir brauchen eine Politik, die sich der Verantwortung
für kommende Generationen wieder bewusst ist, eine
Politik, die sich wieder darum kümmert, dass Arbeitsplätze geschaffen werden können, und vor allem, dass
Arbeitsplätze erhalten bleiben. Deshalb sage ich für die
FDP: Ein weiteres Drehen an der Steuer- und Abgabenschraube wird es mit der FDP nicht geben; denn das bedeutet eine weitere Vernichtung von Arbeitsplätzen. Mit
der FDP in einer kommenden Regierung wird es das geben, was Deutschland dringend braucht: eine Kehrtwende, eine Kehrtwende zu einem Staat, der seine Verantwortung für die Menschen in unserem Land kennt,
vor allem eine Kehrtwende zu einem Staat der Bescheidenheit.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Herr
Koppelin, Sie haben mich gerade direkt angesprochen;
Sie haben gesagt, wo wir Grünen gestartet und wo wir
gelandet sind. Ich will zum Anfang meines Redebeitrags
zur Haushaltssituation - in einer Situation, in der wir uns
einem Wahlkampf und Neuwahlen nähern - allen deutlich sagen: Keine Seite hier im Parlament hat angesichts
der Situation, angesichts der Zahlen und Schwierigkeiten, die Sie hier benennen, Grund, selbstgefällig zu sein,
ausdrücklich auch Sie nicht. Denn wenn man in Ruhe
und mit inhaltlichem Interesse liest, wie begründet wird,
warum Deutschland in einer so schwierigen Lage ist,
dann stellt man fest, dass die wenigsten meinen, dass
dies Rot-Grün zuzuschreiben sei. Vielmehr liest man: In
den 90er-Jahren, als es vor dem damaligen wirtschaftlichen Hintergrund wichtig gewesen wäre, Reformthemen
in Deutschland mutig anzupacken, haben Sie über einen
längeren Zeitraum versagt, als wir bislang überhaupt regiert haben.
({0})
Sie haben keinen Grund zur Selbstgefälligkeit.
({1})
Zu den Themen Mut und Offenheit werde ich gleich
noch ein paar sehr deutliche Worte sagen. Zuvor will ich
einmal kurz beschreiben, was Rot-Grün in der Haushalts- und Finanzpolitik seit 1998 gemacht hat.
({2})
Wir haben die Steuern erheblich gesenkt. Dazu haben
wir auch die Zustimmung im Bundesrat erwirkt.
({3})
Ich weiß, dass Sie teilweise mit geballter Faust in der Tasche zur Kenntnis genommen haben, dass wir Einkommensteuertarife erreicht haben, die Sie nicht hinbekommen haben.
({4})
Wir haben die Finanzhilfen in Höhe von 12 Milliarden Euro bis heute, nach sieben Jahren, um die Hälfte
vermindert. Damit macht man sich nicht nur Freunde.
Wir haben die Ausgaben des Bundes in den letzten Jahren trotz wirtschaftlich schwieriger Zeit absolut zurückgeführt; von den Preissteigerungen in den letzten Jahren
habe ich dabei noch gar nicht geredet. Das wissen Sie
auch und das stimmt.
Es gibt zwar - das will ich nicht leugnen - weiterhin
eine große strukturelle Lücke im Haushalt, aber man
muss sehen, dass wir trotz schwieriger wirtschaftlicher
Situation die Ausgaben strikt konsolidiert haben. Verursacht wird die Lücke durch - das sagt jede Analyse wegbleibende Steuereinnahmen und zusätzliche Ausgaben für den Arbeitsmarkt aufgrund der Arbeitslosigkeit.
({5})
Ich werde auf den Bereich Arbeitsmarkt gleich noch zurückkommen.
Jetzt aber zunächst zu den Stichworten Mut und Ehrlichkeit - schließlich stehen wir jetzt vor einem kurzen,
aber vermutlich knackigen Wahlkampf -: Auch wir sind
der Meinung, dass diejenigen, die Regierungsverantwortung tragen, Vorschläge machen müssen. Wir haben dies
getan und dafür Mut und Konsequenz aufgebracht; das
hat Herr Eichel gerade noch einmal in Zahlen ausgedrückt. Wir haben uns bewusst der Kritik ausgesetzt, indem wir das Risiko eingegangen sind, Subventionsstreichungen vorzuschlagen. Sie dagegen haben in diesem
Punkt - Herr Meister hat vorhin davon gesprochen, man
brauche Mut in der Finanzpolitik - versagt. Sie mussten
nicht die Verantwortung übernehmen, die Vorschläge
erfunden zu haben, aber Sie hätten in der Verantwortung
vor der Situation der öffentlichen Haushalte, die Ihnen
bekannt war, wenigstens sagen müssen: Wir blockieren
das nicht.
({6})
Fakt ist, dass Sie die öffentlichen Haushalte mit Ihrem
Verhalten in die Enge getrieben haben; das Ganze macht
einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag aus. Die
Folge ist nicht allein, dass der Bundeshaushalt ein Problem hat, sondern dass fast allen Ländern die Puste ausgeht. Wenn wir von Verantwortung reden und moralische Kategorien bedienen, dann frage ich Sie: Wiegen
eigentlich Schulden in den Länderhaushalten für die
nachfolgenden Generationen minder schwer als Schulden im Bundeshaushalt? Was maßen Sie sich eigentlich
an, nicht den Zusammenhang zu sehen, was Ihre Blockadepolitik den zukünftigen Generationen zumutet und
was der Reformstau in diesem Land an dieser Stelle leider bewirkt?
({7})
Deswegen ist es schon absurd, dass sich die CDUMinisterpräsidenten in den Ländern, die gegenüber der
Bundespolitik klagen und unter den Schulden stöhnen,
dazu hergegeben haben, diesen Subventionsabbau wegen einer Unionstaktik zu verhindern. Solche Politiker,
solche Ministerpräsidenten brauchen wir gewiss nicht
hier auf der Regierungsbank. Sie sind verantwortungslos.
({8})
Nun komme ich zu den Vorschlägen der CDU und der
FDP. Zwischen den Vorschlägen beider Parteien besteAnja Hajduk
hen Unterschiede, aber sie eint eines: Sie bringen die
Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland auf die totale Abschussbahn. Das ist eine Geisterfahrt. Herr
Solms, der eine tragende Rolle in der Finanzpolitik der
FDP spielt, hat ausweislich eines Zeitungsberichtes gesagt, weitere Steuernettoentlastungen seien unverzichtbar.
({9})
Wer angesichts der Steuerquote, die wir in Deutschland
haben, ein solches Credo anstimmt, der ist, was die öffentlichen Finanzen in Deutschland angeht, nicht realitätstauglich. Offenbar ist das ganze Gerede von Generationengerechtigkeit, die Sie bei der FDP sich gern
anstecken wollen, reine Lüge und entbehrt jeder sachlichen Grundlage.
({10})
Herr Meister hat vorhin gesagt, die CDU/CSU habe
zu Reformen in den Sozialsystemen und auf dem Arbeitsmarkt Vorschläge gemacht. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Sie haben Vorschläge gemacht, die vor
noch nicht ganz einem Jahr - ich glaube, es ist ein halbes
Jahr her - in den Zeitungen mit „Das 100-MilliardenRisiko Frau Merkel“ betitelt wurden. Sie haben Ihre
Steuervorstellungen und Ihren Willen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme noch gar nicht in Übereinstimmung gebracht. Ich sehe bei der CDU/CSU keinen Mut,
zu sagen, wie sie ihre Steuerreform gestalten will.
({11})
Wir befinden uns heute in der Situation, dass wir uns
Neuwahlen nähern. Sie werden sich nicht darauf ausruhen können - das werden wir Ihnen nicht durchgehen
lassen -, dass Sie uns nur kritisieren. Ich kann Ihre Kritik gut ertragen; aber Sie müssen eigene Vorschläge dazu
machen, ob Sie im Gesundheitssystem noch eine Solidarfinanzierung vorsehen wollen.
({12})
Wenn Sie eine Kopfpauschale einführen wollen, dann
müssen Sie die Beiträge für Kinder gegenfinanzieren,
Herr Röttgen. Dazu fehlt Ihnen ein Steuervorschlag.
({13})
Sie meinen, Sie könnten Volksverdummung betreiben: Sie senken die Einkommensteuer weiter und vernachlässigen, zu welcher Steuernettoentlastung das
führt. Wenn Sie die Einkommensteuer dann gedanklich
nur zur Hälfte senken, soll das dafür reichen, ein anderes
virtuelles Loch in der Gesundheitspolitik zu stopfen. Das
ist absurd.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Natürlich.
Sehr geehrte Kollegin Hajduk, da ich befürchte, dass
Sie auf dieses Thema nicht mehr zu sprechen kommen,
will ich Ihnen dazu gern durch eine Zwischenfrage die
Gelegenheit geben: Ich habe vor einiger Zeit im „Handelsblatt“ gelesen, dass Sie für die Erhöhung der Mehrwertsteuer sind. Sind Sie das nach wie vor und wird das
von Ihrer Fraktion mitgetragen?
({0})
Sehr geehrter Herr Koppelin, ich komme auf die direkten und indirekten Abgaben noch zu sprechen. Ich
lege Wert darauf, dass dies in einem bestimmten Zusammenhang geschieht.
({0})
Deswegen seien Sie gewiss, dass Sie in meinem Redebeitrag dazu noch etwas hören werden.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Vorschläge, die aus der Union mit Blick auf den Staatshaushalt kommen, sowohl was den Subventionsabbau als
auch was die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme angeht, immer noch davon gekennzeichnet sind,
dass sie nicht zu einer Deckung führen. Auch das zeigt
sich, wie gesagt, in den Debatten der letzten Woche.
Abschließend möchte ich zum Thema Subventionsabbau sagen: Es ist schon ziemlich verlogen - das muss Ihnen irgendwie peinlich sein -, dass Sie angesichts der
schwierigen Haushaltslage in Bund und Ländern nicht
den Mut hatten, sich zum Beispiel hinter unseren Vorschlägen zu verstecken, sondern einen Beitrag dazu geleistet haben, die Kompliziertheit des Steuersystems
eher aufrechtzuerhalten. Das ist noch einmal deutlich geworden, als Sie hier gesagt haben, es sei richtig gewesen,
das Steuervergünstigungsabbaugesetz abzulehnen. Das
war billige Polemik. Mit diesem Gesetz hätte man eine
Vereinfachung unseres Steuersystems erreichen können.
({1})
- Sie rufen jetzt schon wieder „Steuererhöhungen“. Man
merkt: Ihnen fehlt der Mut zu Einfachheit und Transparenz.
({2})
Denn Sie haben noch nicht einmal den Mut, gegenüber
kleinsten Klientelgruppen für die Durchsetzung Ihrer
Vorschläge einzustehen. Das zeichnet Sie nicht für eine
Regierungsübernahme aus.
Wir brauchen in Deutschland eine sehr ehrliche Debatte. Vielleicht gelingt es ja trotz des Wahlkampfs, ein
bisschen längerfristig und ehrlich zu diskutieren. Wir
Roten und Grünen tun das auch vor dem Hintergrund,
dass uns manches nicht gelungen ist.
({3})
Ich komme auf das Thema Zukunft zurück; hier suchen wir eine Entscheidung. Wie soll es in Deutschland
auf dem Arbeitsmarkt und im Hinblick auf die öffentlichen Finanzen weitergehen? Ich glaube, dass es nicht
richtig ist, zu meinen: Wenn die Staatsquote geringer ist,
wird alles besser. Wir haben zwar die Staatsquote gesenkt; aber man kann in Deutschland so oder so Reformoptionen öffnen. Ich verstehe es so: Die FDP ist ziemlich
klar entschlossen, Risiken sehr weitgehend zu privatisieren. Auch die CDU/CSU möchte vielleicht mehr dem
angelsächsischen Modell folgen.
({4})
Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Ende.
({5})
Ich plädiere dafür, dass wir uns an Nachbarländern
orientieren. Ich blicke im Moment gern nach Norden,
und zwar nicht nach Hamburg - obwohl ich von dort
komme -, sondern in die skandinavischen Länder. Ich
glaube, dass es richtig ist, den Faktor Arbeit in Deutschland deutlich zu entlasten, damit wir konkurrenzfähiger
werden und dadurch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöhen.
({6})
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende
kommen.
Ich scheue nicht die Debatte - ich komme zum
Ende -, dass wir eine massive Verschiebung zwischen
direkten und indirekten Abgaben brauchen. Wir werden
Abgaben für ein solidarisch finanziertes Sozialsystem
brauchen und werden dieses System nicht so einreißen,
wie Sie es wollen. Wir werden ehrlich sein und auch den
Mut haben,
Frau Kollegin, Sie wollten zum Ende kommen.
- schwierige Entscheidungen zu treffen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesfinanzminister hat es für nötig befunden, der Opposition vorzuwerfen, sie stehle sich davon.
({0})
Das empfinde ich als ziemlich dreist. Da strebt das ganze
Bundeskabinett an, kollektiv den Lafontaine zu markieren, aus der Regierungsverantwortung zu flüchten, und
dann stellt sich der Bundesfinanzminister hier hin und
sagt, die Opposition stehle sich aus der Verantwortung.
Völlig wirklichkeitsfremd! Blöder geht es doch schon
gar nicht mehr, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({1})
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben hier dem Parlament erklärt, Sie wollen für das Jahr 2005 keinen Nachtragshaushalt mehr vorlegen, weil Sie andere, kreative
Finanzierungsmöglichkeiten sehen. Dazu kann ich nur
sagen: Im laufenden Haushaltsjahr 2005 beläuft sich die
strukturelle Unterdeckung dieses Etats auf ungefähr
60 Milliarden Euro. Diesen Betrag geben wir mehr aus,
als wir auf regulärem Wege einnehmen. Jetzt tut Umsteuern Not und nicht Aussitzen. Wenn Sie wirklich
noch handlungsfähig und gestaltungsstark sind, müssten
Sie jetzt eigentlich der Bevölkerung klar und deutlich
über das Ausmaß der Haushaltskrise im Jahr 2005 Auskunft geben. Sie jedoch verweigern diese Auskunft.
({2})
Sie machen den Lafontaine auch beim Nachtragshaushalt 2005.
({3})
Sehr geehrter Herr Kollege Beck, wenn Sie sich anständigerweise vielleicht einmal hinsetzen würden, wie
es die Regeln im Parlament vorsehen, würde Ihnen das
gut anstehen.
({4})
- Außer der Störung des Redners dokumentiert es nur
das schlechte Verhalten des Geschäftsführers von
Bündnis 90/Die Grünen.
({5})
- Ja, das ist so.
Gleichzeitig haben Sie hier, sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, einen Satz gesagt, den ich infrage
stelle.
({6})
Ich kenne die Zahlen. Jeden Tag entdecken wir ein neues
Haushaltsloch. Gestern haben Sie beispielsweise erklärt,
dass Sie die 2 Milliarden Euro aus dem ERP-Sondervermögen aufgrund der zeitlichen Abläufe nun doch nicht
bekommen. Wenn es stimmt, dass Sie die Zahlen kennen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie auch Manns
genug sind, einen Etat für 2006 vorzulegen.
({7})
Sie müssen dann auch in der Lage sein, der Bevölkerung
die Wahrheit mitzuteilen. Deswegen lautet unsere Forderung heute, hier nicht nur den Nachtragsetat für 2005,
sondern auch den Etat für 2006 vorzulegen. Wir wollen
ihn gern im September hier debattieren.
({8})
Die Redner der Regierungskoalition haben an dieser
Stelle mehrfach darauf hingewiesen, die Opposition
habe sich nicht am Subventionsabbau beteiligt.
({9})
Diese Mitteilung ist falsch.
({10})
Ich glaube, in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland hat es noch nie eine Opposition gegeben,
die sich so konstruktiv auch an unangenehmen steuerpolitischen Maßnahmen beteiligt hat wie die gegenwärtige.
({11})
Herr Eichel, Sie sollten wissen, dass wir nur in zwei
Punkten, nämlich der vollständigen Abschaffung der
Entfernungspauschale
({12})
und der vollständigen Abschaffung der Eigenheimzulage, nicht mitgemacht haben. Darüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein.
({13})
Es mag manche in Deutschland geben, die der Auffassung sind: Ein Eigenheim zu haben ist etwas Gutes. Ich
persönlich teile diese Auffassung. Ich gönne den Leuten
ihr Eigenheim.
({14})
Wenn die Sozialdemokraten das anders sehen, können
wir gern darüber streiten. Ich will aber eines sagen: Was
wir nicht mitmachen werden, ist, steuerliche Ausnahmetatbestände oder - einfacher ausgedrückt - Steuererhöhungen zum Stopfen von Haushaltslöchern zu beschließen, weil Sie nicht in der Lage sind, die notwendigen
Reformen in Deutschland voranzutreiben. Das ist der
zentrale Unterschied zwischen Ihnen und der zukünftigen Regierung.
({15})
Mit Interesse habe ich vernommen, dass die NochSprecherin von Bündnis 90/Die Grünen gesagt hat, sie
hätten den Haushalt konsolidiert, also weniger ausgegeben. Ich war etwas überrascht und habe mir die Zahlen
noch einmal angeschaut, weil ich dachte, ich hätte mich
geirrt. Frau Hajduk, ich will Ihnen die Zahlen noch einmal nennen: Im Jahre 1998 haben wir 233 Milliarden
Euro ausgegeben. Wahrscheinlich werden wir im
Jahr 2005 265 Milliarden Euro ausgeben. Ich will mit
Ihnen nicht über Details streiten, aber ich glaube schon,
dass die deutsche Öffentlichkeit wissen wird, dass
265 Milliarden Euro mehr als 233 Milliarden Euro sind.
Einen Rückgang der Ausgaben kann ich nicht erkennen.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine solche Täuschung der Öffentlichkeit sollten Sie unterlassen.
({16})
Nun ist es also an uns; denn die Regierung hat sich
entschlossen, am 18. September dieses Jahres Neuwahlen durchzuführen. Sie können zwar nicht regieren, aber
mit Ihrem Rückzug klappt es auch noch nicht so richtig.
Das ist von keiner höheren Qualität als Ihre Regierungsarbeit.
Jetzt müssen wir die Politik, die Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung gemacht haben, im
Hinblick auf den Haushalt bewerten. Lassen Sie mich
die nackten Fakten darstellen: Viermal in Folge gab es
keinen verfassungsgemäßen Haushalt, sondern eine verfassungswidrige Kreditaufnahme; dass dies zum fünften
Mal geschehen wird, ist bereits angekündigt. Viermal
hintereinander haben Sie die Maastricht-Kriterien gerissen. Das strukturelle Defizit beträgt heute 60 Milliarden
Euro; auch hier ist keine Besserung in Sicht. Mehr als
ein Fünftel unserer Ausgaben - jeder fünfte Euro, den
wir ausgeben - ist nicht durch reguläre Einnahmen
finanziert.
Schaut man sich den Bundeshaushalt an, stellt man
fest, dass wir zu einem wesentlichen Teil auf Pump leben. Allein in den letzten drei Jahren hat der Bund
Schulden in Höhe von 110 Milliarden Euro gemacht.
Das ist die größte Schuldenexplosion, die wir bisher in
der Geschichte der Finanzpolitik der Bundesrepublik
Deutschland erlebt haben. Herr Eichel, wenn Sie sich
hier hinstellen, uns Ihre käsigen Bilder bzw. Ihre Kuchenbilder - dabei könnte es sich auch um einen Käsekuchen handeln - zeigen und behaupten, das alles sei
nicht so schlimm, sage ich Ihnen: Die Menschen wissen,
dass in diesem Bundeshaushalt leider kein Stein mehr
auf dem anderen steht. Deutschland driftet unter Ihrer
Verantwortung in den Staatsbankrott.
({17})
Allein die Ausgaben für den Arbeitsmarkt sind seit
der Übernahme der Verantwortung durch die Regierung
Schröder/Eichel von 21,5 Milliarden Euro auf in diesem
Jahr wahrscheinlich über 45 Milliarden Euro gestiegen.
Die Ausgaben für den Arbeitsmarkt haben sich somit um
über 100 Prozent erhöht.
({18})
Wäre Hartz IV von der Bundesregierung ordentlich
und nicht so schlampig, wie wir es in diesen Tagen erfahren, vorbereitet worden, könnte man davon ausgehen,
dass diese Zahl nicht weiter steigt. Aber es ist zu befürchten, dass sich Hartz IV langsam und schrittweise
durch den Bundeshaushalt frisst und dadurch ein weiteres milliardenschweres Haushaltsrisiko entsteht.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hätten Sie
sich in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung
wenigstens auch um die Zukunftsinvestitionen gekümmert und hätten wir den Eindruck, es handele sich nur
um eine vorübergehende Haushaltskrise, könnte die Bewertung etwas sanfter ausfallen. Tatsache ist aber, dass
die Investitionsquote in Deutschland seit der Übernahme der Verantwortung durch die Regierung
Schröder/Eichel von Haushalt zu Haushalt gesunken ist
und mit derzeit 8,9 Prozent einen historischen Tiefstand
erreicht hat.
({20})
Das bedeutet, dass wir notwendige Zukunftsinvestitionen zugunsten des Gegenwartskonsums unterlassen.
Auch das ist Ausdruck Ihres Scheiterns in der Finanzund Haushaltspolitik.
({21})
Die Ursachen dieser Haushaltskrise liegen nicht nur
im Bereich der Finanzen im engeren Sinne, sondern vor
allem auch im zu schwachen Wachstum. Dort sitzt die
Fraktion, die die Grenzen des Wachstums entdeckt hat
und den Menschen erklärt, Wachstum sei für Deutschland gar nicht so wichtig. Ich kann Ihnen sagen, dass mit
dem Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen vor allem eines gewachsen ist: die Freude auf eine bessere Zukunft.
Das wollen wir auch für Berlin erreichen.
({22})
Aber diese Freude auf eine bessere Zukunft muss erst
wachsen und von mehr Wirtschaftswachstum begleitet
werden. Grob gerechnet lässt sich die Lage wie folgt beschreiben: Die Wirtschaft unserer Nachbarstaaten
wächst in etwa doppelt oder sogar dreimal so schnell wie
unsere.
({23})
Im Rest der Welt wächst die Wirtschaft doppelt so
schnell wie in Europa insgesamt. In einem Land wie
China beispielsweise wächst die Wirtschaft zehnmal so
schnell wie in unserem Land.
({24})
Viele von uns - die Unruhe bei den Sozialdemokraten
zeigt, dass sie dazugehören - haben noch gar nicht begriffen, dass uns diese Entwicklung der Wachstumsdifferenz zukünftig sehr stark berühren wird; denn gesamtwirtschaftlich bedeutet das, dass wir im Vergleich zu
vielen anderen Ländern immer ärmer werden.
Nun könnten die Deutschen ja sagen, das sei nicht so
schlimm, weil es uns insgesamt immer noch gut geht.
Aber seit der Übernahme durch die Regierung Kohl - ({25})
Seit dem Übergang von der Regierung Kohl zur Regierung Schröder/Eichel sind die Realeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor allen Dingen
aufgrund dieser Wachstumsdifferenzen nicht gestiegen.
Rot-Grün macht arm und arbeitslos, wie es Karl-Josef
Laumann von hier aus gesagt hat.
({26})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was haben
die Menschen zu erwarten, wenn die Politik wechselt?
Ich glaube, im Hinblick auf die Finanz- und Haushaltspolitik können sie vor allen Dingen eines erwarten: die
Rückkehr zu Ehrlichkeit in der Finanzpolitik.
({27})
Herr Eichel, Sie haben Täuschung zum zentralen Element Ihrer Politik gemacht. Ich will daran erinnern, dass
wir zu Beginn dieser Legislaturperiode sogar einen „Lügenausschuss“ eingerichtet haben, der die falschen Angaben, die Sie gegenüber dem deutschen Parlament gemacht haben,
({28})
überprüft hat. Er hat deutlich gemacht, dass Sie im Hinblick auf einen Wahltermin vor nichts zurückschrecken
und alles verschleiern, um die Öffentlichkeit vorsätzlich
zu täuschen.
({29})
Ich will dazu einige Zitate aus Ihrer Rede zur Einbringung des Etats für 2003 bringen; das ist ja noch gar nicht
so lange her. Sie haben im Deutschen Bundestag erklärt,
alles, was Ihre Finanzpolitik auszeichne, sei für die
Union ein Fremdwort: Solidität, Nachhaltigkeit, Ausgabenkontrolle und Rückführung der Neuverschuldung.
({30})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist entweder dreist oder komplette Wirklichkeitsverweigerung.
Auf jeden Fall ist ein solcher Bundesfinanzminister nicht
mehr tragbar für Deutschland; er stellt ein großes Haushaltsrisiko dar.
({31})
Ehrlichkeit dagegen schafft Vertrauen. Wir haben
deswegen - das hat der Kollege Meister hier vorgetragen - unseren Dreiklang vorgeschlagen: Kassensturz
und damit Offenlegung der Wahrheit über die finanzielle
Situation Deutschlands. Die Regierung verweigert diesen Kassensturz, sonst würde sie einen Nachtragshaushalt für 2005 und einen Etat für 2006 mit anstrengenden
Konsolidierungsschritten vorlegen. Die Alternativen
sind klar:
({32})
Entweder marschieren wir in den Staatsbankrott
({33})
mit Rot-Grün oder wir fangen endlich an, die Zukunft
Deutschlands durch eine ehrliche Konsolidierung unter
Schwarz-Gelb zu gestalten. Das sind die Alternativen,
um die wir in diesen Wochen werden ringen müssen.
({34})
Wir werden - ich will das klar sagen - für ein Mandat
für eine ehrliche und anständige Konsolidierung kämpfen. Wir müssen den Menschen deutlich machen: Es ist
nicht der Zeitpunkt für die Verteilung von Geschenken.
({35})
Es ist vielmehr der Zeitpunkt, ehrlich Bilanz zu ziehen
und den Leuten klar zu sagen: Es wird zukünftig im
Haushalt nicht mehr so weitergehen wie bisher.
({36})
Wir sagen dies - anders als Sie, Herr Eichel - vor dem
Wahltermin und wir nehmen die Menschen in die
Pflicht, wir nehmen sie mit. Wir sagen: Wir müssen uns
gemeinsam anstrengen, wir müssen gemeinsam sparen oben wie unten. Aber wir dürfen die Leute nicht länger
belügen und ihnen die Wahrheit über die finanzielle Situation des Landes verschweigen.
({37})
Herr Bundesminister, in diesem Zusammenhang haben Sie in diesen Tagen dafür gesorgt, dass der Außenwert des Euros in einer fundamentalen Art und Weise
heruntergekracht ist.
({38})
Sie haben es für nötig befunden, in einem internen Zirkel
über das Ende der europäischen Währungsunion zu philosophieren.
({39})
Ich finde, Sie können über vieles diskutieren, aber eines
ist ausgesprochen bedrohlich: dass die Finanzmärkte
trotz Ihres Dementis offenbar so erschüttert waren, dass
es zu diesem Kurssturz des Außenwertes des Euros gekommen ist.
({40})
Das zeigt doch, dass Ihnen selbst die Auflösung der
Währungsunion von den internationalen Finanzmärkten
und von vielen Entscheidern zugetraut wird. Sie schrecken vor nichts, aber auch wirklich gar nichts zurück,
meine sehr verehrten Damen und Herren in dieser Bundesregierung!
({41})
Ich schließe: Staatsbankrott mit Rot-Grün oder ehrliche, anständige Konsolidierung
({42})
unter einer anderen Regierung, das ist die Entscheidungsalternative, die wir heute noch einmal deutlich machen können. Wir fordern Ehrlichkeit in der Finanzpolitik
({43})
statt Lug und Trug, wie wir es von dieser Bundesregierung bisher erlebt haben. Wir machen deutlich, dass
dieser Weg nicht ohne Anstrengung ist. Ich glaube allerdings, diese Anstrengung lohnt sich. Wir wollen Weichen stellen: für mehr Beschäftigung, für einen konsolidierten Haushalt und für eine gute Zukunft für unser
Vaterland.
Ich danke Ihnen.
({44})
Herr Kollege Kampeter, es ist Ihr gutes Recht, den
Kollegen Beck zu kritisieren. Ich muss Ihnen aber sagen,
dass die Äußerung, es gehe nicht blöder, die Sie zur Aussage des Bundesfinanzministers gemacht haben, sehr unparlamentarisch ist.
({0})
Das Wort zu Kurzinterventionen erhalten die Kollegin
Anja Hajduk und anschließend der Kollege Hans Eichel.
({1})
Herr Kollege Kampeter, wegen der Ausgabenentwicklung des Bundes haben Sie mich direkt angesprochen. Ich möchte eine Bemerkung vorweg machen: Das
Ende Ihrer Rede war weder von Anstand noch von Verantwortungsbewusstsein gekennzeichnet.
({0})
Von dieser Art Politiker hat dieses Land die Nase voll.
Sie können der Lust, anzugreifen, nicht widerstehen. Dabei verdrängen Sie den Kern der Politik nach hinten. Das
ist ziemlich schade. Ich muss Ihnen sagen: Das hätten
Sie eigentlich gar nicht nötig.
({1})
Jetzt komme ich zum Thema Ausgabenentwicklung,
weil Sie zu Recht darauf hingewiesen haben. Wenn man
sich die Ausgabenentwicklung des Bundes von 1998 bis
2004 ansieht, dann kann man feststellen, dass es zu einer
Steigerung von ungefähr 230 Milliarden Euro auf über
250 Milliarden Euro gekommen ist. Ich wollte Sie oder
die Öffentlichkeit in keiner Weise irritieren, als ich hier
gesagt habe, dass wir die Ausgaben absolut gesenkt haben. Wenn man die Preissteigerungen herausrechnet, haben wir sie sogar erheblich gesenkt. Ich bin von den bereinigten Ausgaben ausgegangen. Das muss ich noch
einmal sagen.
Ich finde es auch richtig, dies zu tun, weil die bereinigten Ausgaben bezogen auf den Bundeshaushalt verdeutlichen, dass wir einen großen Teil der Rentenfinanzen umfinanziert haben. Dies geschah teilweise auch mit
Ihrer Unterstützung: Kindererziehungszeiten werden angerechnet und wir haben den Beitragssatz durch die
Ökosteuer stabilisiert. Dadurch haben wir den Rentenzuschuss erhöht. Ich meine, zu wissen, dass Sie uns mit
Vorschlägen für einen ausgabenmindernden Eingriff bei
der Rente nicht überholt haben. Ich glaube, man kann
der Ehrlichkeit halber sagen - ich denke, das können Sie
zugeben, auch wenn Sie mit unserer Finanzpolitik insgesamt vielleicht nicht zufrieden sind -, dass die somit bereinigten Bundesausgaben
({2})
um diese erheblichen Änderungen bei den Rentenfinanzen zurückgegangen sind.
Wenn Sie das angreifen wollen, dann müssen Sie entweder den Beitragszahlern sagen, dass Sie lieber die
Beiträge zur Rentenversicherung von 19,5 Prozent nach
oben erhöhen wollen, oder Sie müssen hier deutlich sagen - das traue ich Ihnen ehrlich nicht zu -, dass Sie den
Rentnern Einsparungen im zweistelligen Milliardenbereich zumuten wollen.
Ich glaube, wenn Sie diese kleine Erläuterung zu meinen Zahlen zur Kenntnis nehmen, dann werden wir uns
in der Sache sehr schnell einig.
({3})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat der
Kollege Hans Eichel.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich wiederhole das, was ich schon vorhin gesagt
habe, jetzt für den Herrn Abgeordneten Kampeter: Ich
finde es ungeheuerlich, dass Sie bei einer zentralen
Frage hier noch einmal einen haltlosen Vorwurf erhoben
haben. Es hat zu keinem Zeitpunkt eine Diskussion über
eine Auflösung der Währungsunion oder Ähnliches gegeben, an der ich mich beteiligt habe. Es ist unverantwortlich, dass Sie das hier wiederholt haben.
({0})
Dass durch solche falschen Nachrichten auch Märkte
beunruhigt werden, ist richtig. Ich würde Ihnen dringend
raten, sich anzusehen, wann die Abwärtsbewegung des
Euro in den letzten Tagen angefangen hat. Dies geschah
nämlich nach dem französischen Referendum. Es lohnt,
darüber nachzudenken, warum sich die Bevölkerung in
zwei Ländern mit einer konservativen Regierung gegen
die europäische Verfassung gewandt hat. Vielleicht denken Sie darüber einmal ein bisschen nach.
Im Übrigen rate ich Ihnen: Wenn Sie noch einen Rest
von Verantwortungsbewusstsein und Anstand haben,
dann sollten Sie das, was Sie hier eben gesagt haben,
nicht nur nicht wiederholen, sondern zurücknehmen.
({1})
Bitte schön, Herr Kollege Kampeter.
Die Frau Abgeordnete Hajduk hat hier wortreich erklärt, dass die Behauptung, es sei falsch, dass in
Deutschland mehr ausgegeben werde, worauf ich hingewiesen habe, richtig ist. Ich will deswegen noch einmal
die Zahlen nennen. Frau Hajduk, wir können zwar bereinigte, halbbereinigte, viertelbereinigte oder sonstige Fälschungen der Statistik vornehmen. Ich aber verlasse
mich auf den Haushaltsplan und die Zahlen, die darin
stehen und die so auch der deutschen Öffentlichkeit bekannt sind.
Laut dem Haushaltsplan des Bundes sind 1998
233,6 Milliarden Euro ausgegeben worden. Im Haushaltsplan für 2005 stehen etwa 255 Milliarden Euro.
({0})
Die Regierung hat allein für die Hartz-IV-Gesetze von
Mehrausgaben in Höhe von 10 Milliarden Euro gesprochen. Das macht insgesamt 265 Milliarden Euro.
265 Milliarden sind mehr als 233 Milliarden. Ich bedanke mich, dass Sie das noch einmal ausdrücklich bestätigt haben.
({1})
Herr Bundesfinanzminister oder auch Herr Abgeordneter Eichel, ich habe darauf hingewiesen, dass Beamte
Ihres Hauses - für dieses Haus tragen Sie persönlich nun
einmal die politische Verantwortung, solange Sie im
Amt sind - in einem Diskussionspapier halböffentlich
darüber spekuliert haben, dass eine Option auf die Auflösung der Währungsunion im Finanzministerium in
Deutschland erörtert worden ist. Wer wie Sie als verantwortlicher Fachminister in seinem Haus eine solche Diskussion offenbar zulässt, wer ein windelweiches
Dementi vornimmt, als diese Diskussion in der Öffentlichkeit bekannt wird, der trägt für die Währungsturbulenzen, die dadurch mit ausgelöst wurden, ein gerüttelt
Maß an Verantwortung.
({2})
Dies steht in einer gewissen Kontinuität. Herr Eichel,
unter Ihrer politischen Führung sollte der europäische
Stabilitätspakt weggewischt werden. Das war ihr politisches Ziel.
({3})
Sie wollen keine Stabilität in Europa. Schulden und Inflation sind Ihr politisches Programm.
({4})
Dass dann natürlich bei Ihnen über europäische Stabilitätskultur innerhalb eines gemeinsamen europäischen
Währungssystems streitig diskutiert wird, ist der zweite
Schritt. Er ist konsequent und zeigt, welcher währungspolitischen und wirtschaftspolitischen Verantwortungslosigkeit Sie anheim gefallen sind.
({5})
Herr Kollege Eichel, es ist nicht üblich, eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention zu machen. Die
Kurzintervention bezieht sich auf eine Rede.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Das, was Sie eben geboten haben,
Herr Kampeter, kann man wirklich nur noch unter dem
Stichwort abhandeln: Kampeter toppt Austermann. Mehr
kann man dazu nicht sagen. Ihre Lügen werden auch dadurch nicht besser, dass Sie sie ständig wiederholen.
Herr Eichel hat den Sachverhalt eben klargestellt. Sie
sollten Manns genug sein, das zu akzeptieren.
({0})
Im Übrigen kann man Ihre Debattenbeiträge und das,
was Sie sich bisher im Bundestag und im Bundesrat geleistet haben, nur noch unter das Motto stellen: Denn sie
wissen nicht, was sie tun!
({1})
Die Finanzminister der Länder klagen ständig über
Einnahmeprobleme, die so genannten Haushaltsexperten
hier im Hause über Ausgabeprobleme. Die Finanzminister der Länder mit ihren Einnahmeproblemen blockieren
seit Jahr und Tag den Abbau von Steuersubventionen in
Höhe von mittlerweile jährlich 17 Milliarden Euro. Die
Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte ist so, wie
sie ist, weil Sie sich weigern, dem Staat das zu geben,
was er braucht, um die notwendigen Ausgaben auch tätigen zu können.
Sie haben mit den Anträgen, die Sie heute vorlegen,
wieder das gemacht, was Sie schon in den letzten Jahren
immer gemacht haben. Aber offenbar sind die Anträge
in Ihrer Fraktion in Abwesenheit der Fraktionsvorsitzenden und der Fachpolitiker beschlossen worden. Wie können Sie es sonst erklären, dass Ihre Fraktionsvorsitzende
umfangreiche Steuersenkungen in Aussicht stellt? Ihr
Konzept 21 würde Einnahmeausfälle von rund 10 Milliarden Euro bedeuten. In den ersten beiden Jahren wären das sogar 15 bis 16 Milliarden Euro. Wie sonst ist es
zu erklären, dass der verkehrspolitische Sprecher Ihrer
Fraktion mal eben 3 Milliarden Euro mehr für Verkehrsinvestitionen fordert? Wie ist es zu erklären, dass die
Kopfpauschale, an der Sie offenbar immer noch festhalten, die öffentlichen Haushalte mit bis zu 23 Milliarden
Euro zusätzlich belasten würde?
({2})
Wenn man die Kosten dieser drei Vorschläge einmal zusammenrechnet, und zwar ohne den ganzen Kram, den
Sie sonst immer fordern, dann sind das 41 Milliarden
Euro. Vor diesem Hintergrund reden Sie von Haushaltskonsolidierung. Das kann ja wohl nicht wahr sein.
({3})
Sie befinden sich in einem haushaltspolitischen
Amoklauf und merken es noch nicht einmal. Sie fordern
uns auf, Ausgaben zu kürzen, und Sie selbst wollen noch
mehr Geld, das nicht vorhanden ist, verteilen. Wie soll
das denn eigentlich funktionieren?
Ich glaube, wir sollten uns über Ihre Kürzungsvorschläge beim Haushalt unterhalten; denn andere Ideen
haben Sie bisher nicht aufgezeigt. Sie, FDP und Union
zusammen, haben gefordert, die Steinkohlenbeihilfen
für das Jahr 2005 um 1,645 Milliarden Euro zu kürzen.
Es gibt aber einen rechtskräftigen Zuwendungsbescheid.
Der interessiert Sie nicht. Diese Ausgaben wären überhaupt nicht einzusparen.
({4})
Wenn man das gemacht hätte, wären Massenentlassungen im Bergbau, im Kraftwerksbereich und in der Zulieferindustrie die Folge gewesen. Ist das die Arbeitsmarktpolitik, die Sie wollen? Verstehen Sie das unter
„Vorfahrt für Arbeit“, liebe Kollegen und Kolleginnen
von der Union und der FDP?
({5})
Dann haben Sie gefordert, die Arbeitslosenhilfe um
1 Milliarde Euro und den Bundeszuschuss an die Bundesagentur für Arbeit auch um 1 Milliarde Euro zu
kürzen. Der Vorschlag ist eine Luftnummer; denn die
Arbeitslosenhilfe war eine gesetzliche Verpflichtung.
Oder wollten Sie zum Gesetzesbruch aufrufen? Das andere würde schlicht und ergreifend bedeuten: Entweder
man hat überhaupt keine Mittel mehr für die aktive Arbeitsmarktpolitik oder man muss das Arbeitslosengeld I
kürzen.
({6})
Aber dazu bedarf es auch einer Gesetzesänderung. Für
wie seriös halten Sie selbst denn Ihre Vorschläge eigentlich?
Herr Stoiber hat sich gestern auch wieder zu Wort gemeldet: Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte. - Was bedeutet das
denn? Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen werden gestrichen. Das hat er ja auch gesagt. Es werden sich insbesondere die Menschen im Osten freuen, dass da überhaupt nichts mehr läuft.
({7})
Das bedeutet natürlich, dass über kurz oder lang die
Kosten für das Arbeitslosengeld II auch steigen würden,
weil nicht mehr so viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt reintegriert werden können. Zum anderen würde
die Entlastung bei dem oder der Einzelnen bei einem Gehalt von 2 000 Euro brutto im Monat schlappe 15 Euro
betragen. Die Handwerkerstunde - das muss man sich
jetzt wirklich auf der Zunge zergehen lassen - würde um
sage und schreibe 10 Eurocent inklusive Mehrwertsteuer
billiger. Wenn das Ihre Vorstellungen von einer aktiven
Arbeitsmarktpolitik, von Wirtschaftsförderung und Wirtschaftswachstum sind, dann kann man Sie wirklich nur
zu Ihren Vorstellungen beglückwünschen. Das ist wirklich das Papier nicht wert, auf dem es steht. Vor allen
Dingen verschleiert es die wirklichen Probleme, die wir
haben.
({8})
Sie haben noch andere Vorschläge gemacht. Die FDP
beispielsweise wollte die pauschale Abgeltung versicherungsfremder Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung streichen. Dann sollten Zinsausgaben um
mehrere Milliarden Euro gekürzt werden und es sollten
andere Pseudokürzungen, die nicht umsetzbar sind, erfolgen. Ihre ganzen Vorschläge zur Ausgabenkürzung
waren Luftnummern.
({9})
Hier gaukeln Sie der Öffentlichkeit, ohne selber Vorschläge zu machen, vor, man müsse nur die Ausgaben
reduzieren und dann komme das alles schon in Ordnung.
Beim Steuersubventionsabbau verweigern Sie sich. Sie
entziehen den öffentlichen Haushalten jedes Jahr
17 Milliarden Euro. Das ist Ihre Verantwortung, die Verantwortung dieser Seite des Hauses. Dieser Verantwortung müssen Sie sich dann im September stellen.
({10})
- Herr Koppelin, wenn Sie einmal in Ihrem Leben zuhören würden. Ich habe Ihnen eben erklärt, dass das
schlicht und ergreifend nicht gegangen wäre.
Man muss vielleicht noch einmal deutlich machen,
wie sich Ihre Haushalts- und Finanzpolitik auswirkt.
Das wären massive Kürzungen bei Rentnern und Rentnerinnen, bei den Arbeitslosen und bei den Kurzarbeitern, das wären Massenentlassungen im Bergbau, bei
den Zulieferern, im Kraftwerksbereich und im öffentlichen Dienst. Sie wollten so eben mal die Verwaltungsausgaben um 1,9 Milliarden Euro senken.
({11})
- Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr Koppelin,
und schreien Sie nicht dazwischen. Sie wollen mittlerweile eine Mehrwertsteuererhöhung, die alle Konsumentinnen und Konsumenten betrifft.
({12})
Frau Kollegin, gestatten Sie die Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Koppelin?
Sehr gerne.
Bevor Sie sich die Sorgen machen, die sich eine zukünftige Koalition der CDU/CSU und der FDP machen
müsste, können Sie mir vielleicht sagen, wie es zurzeit
bei Ihnen aussieht. Ich nenne nur das Stichwort Arbeitslosigkeit. Ich könnte zwar noch andere Bereiche ansprechen, aber es würde mir schon reichen zu erfahren, was
im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit in den sieben Jahren geschehen ist, und zwar ausgehend von der
Bemerkung Gerhard Schröders, dass er die Arbeitslosenzahl senken wolle,
({0})
sonst solle man ihn nicht wiederwählen.
Ein Blick auf die öffentlichen Haushalte über alle
Ebenen zeigt, dass die Investitionstätigkeit des Bundes
relativ konstant geblieben ist, während bei den Ländern
und Gemeinden die Investitionen dramatisch zurückgegangen sind. Das hatte auch etwas mit Ihrer Steuerpolitik zu tun.
({0})
Wir haben dann gegen Ihren Widerstand die Gewerbesteuerreform auf den Weg gebracht. Seit letztem Jahr
fließt die Gewerbesteuer wieder. Sie aber wollen - zumindest Ihren Parteitagsbeschlüssen zufolge - die Gewerbesteuer wieder abschaffen, das heißt den Kommunen die Finanzgrundlage und damit den Boden für
eigene Investitionen entziehen.
Wie verhält es sich denn beispielsweise mit dem Abfluss der Mittel aus dem 4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm in den unionsregierten Ländern, das
kleinteilige lokale Investitionen fördern und das lokale
Handwerk mit Aufträgen versorgen würde? Nichts davon ist zu erkennen.
({1})
- Sie können auch gerne eine Zwischenfrage stellen.
({2})
- Sie müssen es schon mir überlassen, wie ich dem Kollegen Koppelin antworte.
({3})
- Das können Sie gerne kommentieren, wie Sie möchten. Ich weiß auch, wie die Bevölkerung Ihre Vorschläge
kommentiert, die Sie alle miteinander vorlegen. Sie haben ein stärkeres Wirtschaftswachstum blockiert, indem
Sie Steuereinnahmen blockiert und verhindert und damit
auch sinnvolle Investitionen verhindert haben. Insofern
können wir gerne darüber reden, was man alles hätte
besser machen können. Aber ständige Ausgabenkürzungen und Steuergeschenke an die oberen Zehntausend
schaffen sicherlich keine Arbeitsplätze, sehr geehrter
Herr Koppelin.
({4})
Ich war dabei, zu erläutern, welche Vorstellungen Sie
von Politik haben, was Sie aktuell diskutieren und welche Vorschläge Sie haben. Zurzeit wird die Mehrwertsteuererhöhung ins Spiel gebracht. Die FDP ist von einem klaren Nein über ein Vielleicht jetzt schon bei
einem Jein angelangt. Herr Koppelin hat sich eben in
seiner Rede schon gar nicht mehr getraut, etwas dazu zu
sagen.
({5})
- Wenn Sie etwas dazu gesagt haben, dann bitte ich um
Entschuldigung. Ich habe das wohl überhört. Aber wir
werden hören, mit welchen Wahlaussagen Sie in den
Wahlkampf hineingehen werden.
({6})
- Herr Stegner ist im Gegensatz zu Ihrer Fraktionsvorsitzenden kein Kanzlerkandidat der SPD.
({7})
Ihre Fraktionsvorsitzende hat Steuersenkungen angekündigt, die sie offenbar durch eine Mehrwertsteuererhöhung finanzieren will. Das bedeutet, dass die Konsumenten und Konsumentinnen die Entlastung der oberen
Zehntausend finanzieren sollen, dass die unteren Einkommen durch die Besteuerung der bisher steuerfreien
Sonn-, Feiertags- und Nachtschichtzuschläge zusätzlich
belastet werden und dass sie bei der Pendlerpauschale
zusätzlich herangezogen werden, sodass im Ergebnis die
Krankenschwester die Steuerentlastung für den Chefarzt
finanziert. Das ist Ihr Verständnis von Politik und sozialer Marktwirtschaft.
({8})
Das alles - einer Ihrer Kollegen hat es eben bereits
angedeutet - reicht Ihnen aber noch nicht aus. Sie wollen
auch noch de facto den Kündigungsschutz abschaffen,
den Jugendarbeitsschutz schleifen und in das Tarifrecht
und die betriebliche Mitbestimmung eingreifen.
({9})
Das verstehen Sie unter sozialer Marktwirtschaft. Wenn
Ihr Altbundeskanzler Erhard das wüsste, dann würde er
sich im Grab umdrehen.
({10})
Zum Abschluss, sehr geehrter Herr Kampeter: Zurzeit
ist überall von „neuer Ehrlichkeit“ zu lesen.
({11})
Was darunter zu verstehen ist, hat Ihr stellvertretender
Fraktionsvorsitzender Glos mit seiner Bemerkung deutlich gemacht, es werde sicher im Wahlprogramm eine
Formulierung gefunden, die die Union einerseits ehrlich
erscheinen lasse, die andererseits aber den notwendigen
Spielraum für die Sanierung der Staatsfinanzen biete.
({12})
Das ist keine neue Ehrlichkeit, meine Damen und
Herren von der Opposition; es ist vielmehr die alte
Scheinheiligkeit.
({13})
Sie hätten Ihre peinlichen Anträge am besten gar nicht
gestellt oder sie wenigstens zurückziehen sollen. Das
beste Haushaltssicherungskonzept, das ich mir vorstellen kann, besteht darin, dass Sie in der Opposition bleiben und wir in der Regierung.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5331 und 15/5477 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes
- Drucksache 15/5557 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksache 15/5565 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschus
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 15/5558 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem
Obersten Rat der Europäischen Schulen über die
Europäische Schule in Frankfurt am Main
- Drucksache 15/5517 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Dr. Volker Wissing, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes
- Drucksache 15/5494 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({5}), Joachim Günther ({6}),
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Überregulierung des grenzüberschreitenden
Schienengüterverkehrs verhindern - Wettbewerbschancen privater Güterbahnen erhalten
- Drucksache 15/5359 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Birgit Homburger,
Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Biologische Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz nutzen
- Drucksache 15/4665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in
Deutschland und Europa erhalten
- Drucksache 15/5274 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung und Entwicklung für innovative
Energieübertragungstechnologien voranbringen
- Drucksache 15/5140 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ergänzung des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes ({11})
- Drucksache 15/5576 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({13})
- Drucksache 15/5575 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reorganisation der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost und zur
Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 15/5573 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({15})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Vierten und Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/5574 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Abfallverbringungsgesetzes sowie
zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt
Solidarfonds Abfallrückführung
- Drucksache 15/5523 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Straffung der Umweltstatistik
- Drucksache 15/5538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank und zur Änderung
des Gesetzes über die Landwirtschaftliche
Rentenbank
- Drucksache 15/5566 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({18})
Finanzausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Ludwig Stiegler, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Albert Schmidt ({19}),
Volker Beck ({20}), Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Car-Sharing als innovative Verkehrsdienstleistung im Umweltverbund fördern
- Drucksache 15/5586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Hans-Joachim Otto ({22}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Finanzierung der Künstlersozialversicherung
sichern
- Drucksache 15/5476 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({23})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von
nichteinwilligungsfähigen Patienten stärken
- Drucksache 15/3505 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({24})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5517,
Tagesordnungspunkt 30 d, soll abweichend von der Tagesordnung federführend an den Ausschuss für Kultur
und Medien überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 h auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({25})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur
Änderung der Verordnung ({26}) Nr. 382/2001
des Rates vom 26. Februar 2001 hinsichtlich
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
des Zeitpunkts ihres Außer-Kraft-Tretens und
bestimmter Regelungen betreffend die Ausführung des Haushaltsplans
KOM ({27}) 840 endg.; Ratsdok. 5992/05
- Drucksachen 15/4969 Nr. 1.27, 15/5371 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Dr. Heinz Köhler
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({28}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Perspektiven für Deutschland - Nationale Strategie für eine nachhaltige Entwicklung
Fortschrittsbericht 2004
- Drucksachen 15/4100, 15/5399 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Helge Braun
Michael Kauch
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({29})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Karin Rehbock-Zureich, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({30}), Volker Beck ({31}), Franziska
Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Eisenbahnmagistrale für Europa zwischen
Paris und Budapest
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard
Oswald, Dirk Fischer ({32}), Georg
Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Europäische Eisenbahnmagistrale ParisBudapest im deutschen Abschnitt voranbringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({33}), Birgit Homburger,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Ausbau der Schienenmagistrale Paris-Karlsruhe-Stuttgart-München-Budapest
- Drucksachen 15/4864, 15/3715, 15/5041,
15/5572 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Paula
Eduard Lintner
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 bis 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, die Anträge der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der FDP auf Drucksache
15/4864, 15/3715 und 15/5041 zur Eisenbahnmagistrale
Paris-Budapest für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 206 zu Petitionen
- Drucksache 15/5470 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 207 zu Petitionen
- Drucksache 15/5471 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Sammelübersicht 207 ist ebenfalls mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 208 zu Petitionen
- Drucksache 15/5472 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 208 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 209 zu Petitionen
- Drucksache 15/5473 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 210 zu Petitionen
- Drucksache 15/5474 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({39}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung
für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({40}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz
({41}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien
({42}) vom 9. Juni
- Drucksache 15/5428 ({43})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({44})
- Drucksache 15/5588 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Marianne Tritz
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({45}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5608 Berichterstattung:
Abgeordnete Alexander Bonde
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kollegen! In den kommenden Monaten tritt der Prozess zur politischen Gestaltung des Kosovo in eine bedeutende Phase. Die Chancen, den Status
des Kosovo zu klären, haben deutlich zugenommen. Der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Schritte
dazu in der vergangenen Woche erörtert und stützt die
Empfehlungen des Generalsekretärs. Es zeichnet sich ab,
dass die angestrebte Feststellung und Bewertung der bisher erreichten grundlegenden demokratischen und
rechtsstaatlichen Standards im Kosovo Anfang Juli beginnen könnte. Darüber wird dem Sicherheitsrat ein Bericht vorzulegen sein, der bei positivem Ergebnis den
Statusprozess einleiten könnte. Einen Automatismus
gibt es dafür allerdings nicht. Die Erfüllung der Standards bleibt nach wie vor eine zwingende Voraussetzung.
({0})
Erst am vergangenen Freitag hat der Chef der
UNMIK in seinem Bericht an die Vereinten Nationen einen andauernden Fortschritt bei der Entwicklung im Kosovo festgestellt. Er hat aber gleichzeitig betont, dass zur
Verwirklichung aller acht Standards noch erheblich mehr
Anstrengungen unternommen werden müssen. Alle politischen Akteure im Kosovo wissen, dass von ihnen
- auch im eigenen Interesse - konkrete und entscheidende Fortschritte erwartet werden. Es kommt jetzt darauf an - auch im Interesse unserer Soldaten dort -, bald
Klarheit für die Menschen und die Region zu schaffen.
Die Lösung der Statusfrage wird die jahrelange Unsicherheit beenden. Das wird positive Auswirkungen für
das Land, aber auch für die gesamte Region haben. Dabei steht in jedem Fall fest: Die politische Zukunft des
Kosovo muss langfristig in eine europäische Perspektive
der Region eingebettet sein.
({1})
Wir alle wissen, dass der laufende politische Prozess
zur Zukunft des Kosovo nur in einem sicheren und stabilen Umfeld erfolgreich gestaltet werden kann. Durch
eine Reihe von internationalen und nationalen Maßnahmen ist es gelungen, eine Wiederholung der gewaltsamen Auseinandersetzungen wie im März des vergangenen Jahres zu verhindern. Generalsekretär Kofi Annan
hat am vergangenen Freitag die substanzielle Verbesserung der Sicherheitslage im Kosovo positiv gewürdigt.
Aber es gibt dort noch keine dauerhafte oder sich selbst
tragende Stabilität. Die gesellschaftliche und politische
Entwicklung des Kosovo ist unverändert gefährdet. Die
Gründe dafür sind vor allem die unbefriedigenden wirtschaftlichen Bedingungen, die hohe Kriminalitätsrate,
die fortbestehenden interethnischen Spannungen und der
politische Extremismus. Auch die anstehende Dezentralisierungsdebatte und die Statusfrage sowie der
Haradinaj-Prozess in Den Haag können zum erneuten
Ausbruch von Gewalt führen. Die Anschläge auf Einrichtungen der internationalen Gemeinschaft und auf
Politiker wie der Sprengstoffanschlag auf Präsident
Rugova im März dieses Jahres unterstreichen darüber hinaus die Gefährdung der Sicherheitslage.
In der vor uns liegenden wichtigen Phase für das Kosovo ist eine Fortsetzung der militärischen Unterstützung der politischen Bemühungen um Frieden und gesellschaftliche Normalisierung unerlässlich.
({2})
Die KFOR-Truppe trägt zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der im Kosovo
tätigen Organisationen bei. Sie bleibt gemeinsam mit
UNMIK unverzichtbar für die Sicherheit im Kosovo.
Deutschland ist mit rund 2 500 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr der größte Truppensteller für die
KFOR. Wir tragen damit eine herausgehobene Verantwortung. Wir sind aber beileibe nicht allein im Kosovo
engagiert. Die KFOR umfasst Streitkräfte von insgesamt
über 30 Nationen. Niemand wird bezweifeln, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 ganz wesentlich
zur Stabilisierung der Region und zum Wiederaufbau
des Landes beigetragen haben. Ich bin stolz auf diesen
Dienst für den Frieden, den unsere Soldaten geleistet haben.
({3})
KFOR muss auch weiterhin in der Lage sein, Gewalttätigkeiten und den sich abzeichnenden Unruhen mit
größtmöglicher Flexibilität zu begegnen. Die bisher erreichten Ergebnisse des immerhin schon sechs Jahre andauernden Einsatzes im Kosovo dürfen nicht gefährdet
werden. Deutschland hat, wie alle europäischen Staaten,
ein großes Interesse an der Fortsetzung einer friedlichen
und demokratischen Entwicklung im Kosovo. Deshalb
gibt es zur konsequenten Fortsetzung der Unterstützung
des Kosovo wie des gesamten Balkans auf deren Weg
zurück nach Europa überhaupt keine Alternative.
({4})
Auch deshalb ist es richtig, den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der KFOR-Mission auf bisherigem Niveau fortzuführen. Gleichzeitig gilt es, in den kommenden Monaten alles zu tun, um bei der politischen
Kernfrage des Kosovo, dem künftigen Status, endlich
weiterzukommen. Das liegt sowohl im Interesse der
Menschen im Kosovo als auch der KFOR-Truppenstellernationen.
Für die Zustimmung aller Fraktionen zum Antrag der
Bundesregierung, die in den folgenden Beiträgen deutlich werden wird, danke ich Ihnen sehr. Wir alle wollen
gemeinsam hoffen, dass sämtliche Soldatinnen und Soldaten aus dem Einsatz im Kosovo unversehrt zurückkommen werden.
({5})
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit im Kosovo wird knapp. Der gegenwärtige Zustand wird nicht halten. - Das schreibt die International Crisis Group, eine internationale Beratergruppe,
die einen sehr verdienstvollen Vorschlag zur weiteren
politischen Entwicklung der Fragen, die in der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats nur vorläufig geregelt
worden sind, gemacht hat. Wie wird das Kosovo in Zukunft aussehen? Wird es autonom, also unabhängig,
sein? Wie wird es sich in die staatlichen Strukturen auf
dem Balkan einordnen?
Diese Frage - sie wurde bereits gerade als Statusangelegenheit angesprochen - muss in diesem Jahr in
der Tat beantwortet werden, und zwar nicht nur deswegen, weil die Zeit knapp wird, eine allumfassend friedliche Lösung zu finden - wir haben im März letzten Jahres
einen Vorgeschmack bekommen, was passieren kann,
wenn die Dinge stagnieren -, sondern auch, weil wir
nicht wollen, dass aus dem Engagement von NATO,
KFOR und Bundeswehr im Kosovo eine unendliche Geschichte wird. Ein solches Engagement ist die Ausnahme und nicht die Regel.
Triebfeder zur Regelung des Status des Kosovos ist
auch der Wunsch, dass unsere Soldaten bald die Möglichkeit haben, das Schicksal dieses Teils des Balkans
der Verantwortung albanischer, kosovarischer oder serbischer ziviler Kräfte, also Polizeikräfte zu übergeben,
auch wenn sich Europa dort niemals politisch vollständig zurückziehen können wird. Wir werden auf politischer Ebene ein gewichtiges Maß an Verantwortung behalten.
({0})
Mit derzeit rund 2 600 Soldaten ist Deutschland einer
der größten Truppensteller im Kosovo. Unsere Soldaten
machen einen guten Job. Sie haben international einen
guten Ruf; ihr Engagement verdient Anerkennung. Wir,
die CDU/CSU, stehen zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Kosovomission. Wir
stehen dazu, dass wir unseren Soldaten die entsprechende Unterstützung, Ausbildung und Ausrüstung geben.
Unsere Fraktion ist auf die Statusfrage in einem ausführlichen Antrag zum Westbalkan eingegangen. Wir
haben über dieses Thema bereits diskutiert und wir werden es mit den Kollegen von und zu Guttenberg und
Helias heute vertiefen. Wir müssen aber auch dort reaChristian Schmidt ({1})
gieren, wo sich die Dinge nicht gut entwickelt haben,
und wir müssen die entsprechenden Probleme ansprechen. So hatte man den Eindruck, dass sich nach der
Erfahrung des 17./18. März 2004, als gewalttätige Demonstrationen insgesamt an die 30 Todesopfer gefordert
haben und der Kosovo in Aufruhr war, beim Einsatz der
Bundeswehr und der KFOR-Truppen einige Probleme
sehr deutlich gezeigt haben. Es war auffällig, wie selektiv und beschönigend die Auswertung der März-Unruhen in Berlin in den ersten Wochen vorgenommen worden ist. Es hat eines Anstoßes bedurft, damit man sich
parlamentarisch und auch publizistisch mit den Fragen
beschäftigt hat und zu einer nüchternen Betrachtungsweise der Probleme gekommen ist. Es hilft ja niemandem, so zu tun, als sei alles geregelt, wenn die Probleme
knapp unter der Oberfläche liegen und jederzeit wieder
ausbrechen können.
Ich stimme der Befürchtung des Verteidigungsministers zu, dass die Verhandlungen über die Statusfrage,
wenn sie denn in diesem Jahr beginnen werden, ein erhöhtes Risiko und ein Destabilisierungspotenzial im
Kosovo mit sich bringen werden. Die Verhandlungen
müssen ja nicht genau zu dem Ziel führen, das sich einige wünschen; es kann auch sein, dass es andere Überlegungen gibt und dann mancher meint, mit gewaltsamen Mitteln versuchen zu müssen, die Verhandlungen
zu beeinflussen.
Deswegen müssen wir schnell reagieren und übrigens
mit der Zahl, mit der die KFOR jetzt im Kosovo vertreten ist, dort bleiben. Man kann die Zahl nicht reduzieren,
solange die Probleme nicht reduziert sind. Deswegen
müssen wir dort bleiben.
Wir müssen darauf dringen, dass aus den Problemen
des Jahres 2004 Schlussfolgerungen gezogen werden.
Wir haben den Unterausschuss „Innere Führung/Kosovo“ des Verteidigungsausschusses mit Fragen zu Details beschäftigt und gefragt: Was ist im Kosovo vorgefallen? Da gibt es einige Punkte, die wir noch zu beraten
haben, die sich aber jetzt schon abzeichnen.
Es war nicht das Verschulden der Soldaten, dass das
Krisenmanagement nicht funktioniert hat. Wir haben
festgestellt, dass in einer internationalen Struktur schon
die Informationsgewinnung schwierig und verbesserungsfähig, ja verbesserungsnotwendig ist. Wir haben
festgestellt, dass die Einsatzregeln nicht von verschiedenen nationalen Vorbehalten und Vorstellungen geprägt
werden können; das mindert die Einsatzfähigkeit. Wir
haben festgestellt, dass sich die Kooperation und die Abstimmung auf der politischen Führungsebene, das heißt
zwischen dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen, dem Hauptquartier von KFOR und der Polizeistruktur UNMIK, als unzureichend erwiesen haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Arnold?
Bitte sehr.
Herr Kollege Schmidt, ich möchte einfach eine Zwischenfrage stellen: Ist Ihnen möglicherweise entgangen,
dass uns im Verteidigungsausschuss nach den Unruhen
im März von der politischen Leitung des Ministeriums,
aber auch von der militärischen Führung sehr zügig sehr
viele Punkte vorgetragen wurden, bei denen lesson learned, also die notwendigen Folgerungen tatsächlich vom
Haus aus selbst angegangen und Veränderungen eingeleitet wurden, oder sind Sie vielmehr der Meinung, es
bedurfte eines Drucks? Ich habe in Erinnerung, dass das
Ministerium die Dinge von sich aus vorgetragen und
verändert hat.
Herr Kollege, es wird die Mitarbeiter im Ministerium
ehren, wenn Sie sagen, alles wäre von selbst gekommen.
Natürlich hat man dort reagiert. Aber wir beide wollen
als Parlamentarier doch einmal unterstreichen, dass die
Erzeugung von politischem Aufklärungsdruck üblicherweise die Aufgabe des Parlaments - ich sage: in diesem
Fall auch der Medien - ist.
Bezüglich „selektiv“ und „beschönigend“ muss ich
mich entschuldigen, Frau Präsidentin. Ich habe vergessen, den Verfasser zu zitieren. Mit Genehmigung der
Präsidentin zitiere ich noch einmal einen Vermerk des
Kollegen Winfried Nachtwei von den Grünen von diesem Jahr, wo er sagte: Vor diesem Hintergrund war auffällig, wie selektiv und beschönigend in den ersten Wochen in Berlin die Auswertung der März-Unruhen auf
dem normalen Bundeswehrdienstweg war.
Ich bedanke mich beim Kollegen Nachtwei für die
Zurverfügungstellung dieses Berichts.
Zu dem Problem der internationalen Strukturen und
der Frage: Wie geht es weiter, wenn das in Polizeiaufgaben übergeführt wird? - Dass es zu viele Wege in Berlin
gegeben hat, ist das eine; dass die verkürzt werden und
auch schon verkürzt worden sind, mag das andere sein.
Dass Polizei-, Gendarmeriefunktionen mehr gefragt sind
als die Funktionen einer hart kämpfenden Truppe und
dass man seine Fähigkeiten auch anpassen muss, ist genauso wahr. Ich bedauere sehr, dass sich die Bundesregierung nicht dazu bereit erklärt hat, zur europäischen
Gendarmerietruppe, die beim europäischen Verteidigungsministertreffen in Noordwijk beschlossen worden
ist, einen Beitrag zu leisten; denn das brauchen wir in
der Zukunft.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich bin schon beim Ende und erkläre
noch einmal, dass wir diesem Antrag aus grundsätzlichen Erwägungen zustimmen werden.
({0})
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In wenigen Wochen jährt sich zum zehnten Mal das Massaker
von Srebrenica und dies ruft uns in Erinnerung, was in
Südosteuropa eigentlich auf dem Spiel steht. Vor diesem
Hintergrund ist unser Engagement im Kosovo zu sehen.
Unser gemeinsames Ziel - mit „uns“ meine ich die internationale Gemeinschaft, aber auch die regionalen Akteure - bleibt der Aufbau eines multiethnischen, demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Kosovo, der in ein
enges Interessengeflecht mit seinen Nachbarn eingebunden ist.
Es geht darum, den Kosovo - ich denke, das ist für
die ganze Region wichtig - europafähig zu machen.
Wenn wir über Standards sprechen, dann geht es genau
um diesen Punkt. Erst wenn auf dem Weg zu diesem Ziel
hinreichende Fortschritte erzielt worden sind, sind die
Voraussetzungen gegeben, um die Statusfrage einer Lösung zuzuführen.
Dennoch ist es sehr wichtig, dass die Diskussion der
Statusfrage jetzt gut vorbereitet begonnen wird und dass
das Überprüfungsdatum eingehalten wird. Es ist ein großer Fortschritt, dass sich die internationale Gemeinschaft
darauf hat einigen können.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten
also vor entscheidenden Herausforderungen stehen. Gerade angesichts der Erwähnung von Srebrenica möchte
ich aber nochmals darauf hinweisen, welche positiven
Veränderungen die vergangenen Jahre trotz aller großen
Probleme, die in der Region nach wie vor vorhanden
sind, gebracht haben.
Denken wir doch zurück: Srebrenica war die verbrecherische Konsequenz der Wiederkunft einer nationalistischen Politik, die mit den Mitteln von Vertreibung,
Massenvergewaltigungen und Massenmord eine neue
politische Grenzziehung auf ethnischer Grundlage erreichen wollte - etwas, was in Europa in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts - gerade in diesem Jahr haben wir
besonders daran gedacht - nicht nur auf dem Balkan,
nicht vor allem auf dem Balkan zu finden war. Heute
gibt es eine Entwicklung der gesamten Region hin zum
Europa der Integration. Gestatten Sie mir, dass ich nochmals unterstreiche: Alles, was es an Lösungsansätzen
gibt, lebt letztlich von der festen Verankerung dieser Region in der europäischen Perspektive.
({0})
Ohne diese europäische Perspektive werden die tragenden Säulen abgeräumt, die eine langfristige Lösung der
Konflikte in dieser Region ermöglichen.
Deswegen ist es wichtig, zu begreifen, dass das Kosovoproblem nicht allein aus sich heraus zu lösen ist. Die
Statusfrage wird nur zu lösen sein, wenn die Region eng
in eine stabile Gesamtregion eingebunden ist. Das Nachbarland Mazedonien verdient dabei unsere erste Aufmerksamkeit. Dass es unter dem Einsatz von NATO und
Europäischer Union gelungen ist, in Mazedonien eine
ähnlich katastrophale und furchtbare Entwicklung wie
etwa in Bosnien-Herzegowina zu verhindern, ist meines
Erachtens einer der wirklich großen Erfolge, die die europäische Balkanpolitik erzielen konnte.
({1})
Wenn wir über die Statusfrage nachzudenken beginnen, müssen wir einige Dinge klar aussprechen. Das
Erste: Es kann keine Rückkehr zum Status von vor 1999
geben. Wer eine solche Rückkehr anstrebt - aber Gott sei
Dank scheint klar zu sein, dass das keiner von den Beteiligten mehr will -, würde nicht die Lösung der Probleme, sondern ihre Verschärfung erreichen.
Ein zweiter wesentlicher Punkt ist, dass die Entwicklung nicht in Richtung einer Teilung des Kosovo gehen
darf. Wer anfängt, die Grenzen auf dem Balkan infrage
zu stellen, der kann nicht absehen, wo dieses Unterfangen enden wird. Eines ist allerdings gewiss: Er wird
nicht Frieden und Stabilität kreieren, sondern genau das
Gegenteil.
({2})
Deswegen ist es drittens sehr wichtig, dass der multiethnische Charakter gewährleistet wird, dass Rückkehrmöglichkeiten geschaffen werden, dass das Pilotprojekt zur Dezentralisierung, das heißt zur kommunalen
Selbstverwaltung auch dort, wo es serbische Mehrheiten
gibt, vorankommt. Wir brauchen über eine Europäisierung nicht zu sprechen, wenn der multiethnische Charakter infrage gestellt wird. Letzterer beinhaltet nämlich
im Kern, den europäischen Standard beim Minderheitenschutz zu erreichen. Ich denke, hier gibt es gerade in Mazedonien, aber auch in vielen anderen europäischen Regionen hervorragende Erfahrungen mit Modellen, die
ohne weiteres angepasst übernommen werden können.
Viertens ist festzuhalten, dass es keinen Weg in unkonditionierte Unabhängigkeit geben wird, denn Unabhängigkeit muss auf solider Grundlage stehen, also auf
die Interessen der Nachbarn in der gesamten Region
Rücksicht nehmen.
Wenn man diese vier Ausschlusskriterien als Maßstab
nimmt, dann - das haben alle Gespräche gezeigt - stellt
man fest, dass die Positionen zwischen der kosovarischalbanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit
noch weit auseinander liegen. Es besteht aber sozusagen
nur noch eine quantitative und keine qualitative Differenz mehr. Insofern denke ich, dass wir hier ein Mehr an
Stabilität kreieren können.
({3})
Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren: Das
A und O ist die Garantie der Sicherheit, das heißt, dass
unsere Soldaten, eingebunden in die Anstrengungen von
KFOR, Vereinten Nationen und UNMIK, von NATO
und Europäischer Union, dort präsent bleiben müssen.
Ich war erst jüngst in Prizren und konnte mich davon
überzeugen, welche hervorragende Arbeit dort gemacht
wird. Es wurden wirklich Konsequenzen aus den Erfahrungen vom März letzten Jahres gezogen und entsprechende Maßnahmen umgesetzt. Für eine positive Entwicklung im Kosovo und damit der gesamten Region
sind unsere Soldaten zusammen mit den anderen nationalen Einheiten von KFOR unverzichtbar. Deswegen ist
auch die Verlängerung dieses Mandats unverzichtbar.
Ich freue mich - dafür möchte ich mich bei allen bedanken -, dass dieses Anliegen interfraktionell auf breitester
Grundlage steht. Das haben zumindest die Ausschussberatungen gezeigt.
Ein weiteres Mal erleben wir doch hier in einem Teil
Europas, dass es nicht mehr um traditionelle Machtpolitik geht. Die Bundeswehr wird nicht auf dem Balkan
oder am Hindukusch aus traditionellen Gründen nationalen Interesses, aus traditionellen Gründen machtgestützter Außenpolitik eingesetzt, sondern sie ist dort, um kollabierten Staaten bzw. Regionen zu helfen, auf die
eigenen Beine zu kommen, um furchtbare Bürgerkriege
zu beenden, um Sicherheit und Stabilität vor allen Dingen für die Zivilgesellschaften zu garantieren und um
eine demokratische und positive wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft zu gewährleisten. Dieser Auftrag verdient jede Unterstützung.
({4})
Meine Damen und Herren, wir stehen auf dem Balkan
vor einem entscheidenden Jahr. Wenn Europa aufgrund
seiner internen Probleme das Signal aussenden würde,
seine Haltung lockern zu wollen, würde das auf dem
Balkan umso stärkere Folgen haben. Das wäre also ein
falsches Signal. Deswegen rate ich dringend dazu, sauber zu unterscheiden: Die Lösung der internen europäischen Probleme ist nach den beiden Entscheidungen in
Frankreich und den Niederlanden schwer genug. Europa
wird sich aber aufgrund seiner internen Probleme keine
Auszeit bezüglich seiner geschichtlichen Verantwortung
nehmen können. Wenn wir meinen, die auf dem Balkan
eingegangenen Verpflichtungen auch nur ansatzweise infrage stellen zu können, weil der europäische Einigungsprozess stagniert, dann werden wir dafür einen hohen
Preis bezahlen. Das wäre unvernünftig und sollte unterlassen werden.
({5})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich nochmals
für die fraktionsübergreifende Unterstützung unserer
Soldaten bedanken und mich dem Wunsch anschließen,
dass alle gesund und wohlbehalten nach Hause zurückkehren mögen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Außenminister, Sie haben heute eine Rede
gehalten, in der ohne jeden Zweifel vieles richtig gewesen ist.
({0})
Es war aber die Rede vom letzten Jahr. Bis auf den letzten Absatz hätten Sie diese Rede genauso gut vor einem
Jahr halten können. Sie wäre auch damals richtig gewesen.
({1})
Aber wir haben erwartet, dass in den letzten zwölf Monaten von der Bundesregierung mehr gekommen wäre.
Ihre Rede war die Rede von vor einem Jahr und wir erwarten von der Bundesregierung eben mehr.
({2})
Die FDP-Fraktion wird heute dem Antrag auf Verlängerung des Kosovo-Mandats zustimmen. Wir wissen,
dass im Kosovo nach wie vor NATO-Soldaten gebraucht
werden und wir wollen als Deutsche dazu unseren Beitrag leisten. Aber seit Beginn der Diskussion über die
Mandatsverlängerung gab es immer wieder ein Credo:
Wir brauchen dringend politische Perspektiven, eine
politische Lösung dieses Problems. Das müssen wir vorantreiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Soldaten auf
Dauer als Ersatz für Politik gebraucht werden. Wir müssen politisch agieren und das verlangen wir von allen.
({3})
- Herr Nachtwei, wir sind uns alle einig; das freut mich
sehr.
Meine Fraktion, die FDP, hat dazu im Frühjahr letzten
Jahres einen ganz konkreten Antrag eingebracht.
({4})
Wir haben im Frühjahr letzten Jahres ganz konkret gefordert, dass sich die Europäische Union stärker engagiert. Wir haben ein europäisches Treuhandgebiet gefordert. Internationale Studien bestätigen uns in unserer
Anschauung. Der Bericht des norwegischen Botschafters Eide für die Vereinten Nationen nach den Ereignissen im März 2004 geht eindeutig in unsere Richtung eines stärkeren europäischen Engagements. Noch stärker
in dieselbe Richtung geht der Bericht der Balkan-Kommission vom April dieses Jahres, die unter der Führung
des italienischen Exministerpräsidenten Amato stand
und der auch Herr von Weizsäcker angehörte. Dort heißt
es: Die UNMIK muss durch die Europäische Union abgelöst werden. Das ist eine klare Sprache, die wir auch
im Deutschen Bundestag verlangen.
({5})
Wir haben diese Forderung eingebracht. Die Bundesregierung sagt heute - deutlicher als vor einem Jahr; das
gebe ich zu -, dass die europäische Perspektive wichtig
ist. Trotzdem lehnt die rot-grüne Mehrheit unseren Antrag ab. Auch hier schlägt Parteipolitik Sachpolitik. Das
ist für uns auf Dauer nicht akzeptabel.
({6})
- Wir brauchen hier und heute konkretere Schritte, Frau
Zapf. Ich erinnere mich sehr gut an Ihre Rede vor genau
einem Jahr hier, in der Sie gesagt haben: Die Zeit rennt
uns davon, der Balkan brennt. Sie können nicht zufrieden sein mit dem, was im letzten Jahr erreicht worden
ist; Sie müssen einfach konkreter werden.
Herr Minister, sowohl das, was Sie heute hier gesagt
haben, als auch das, was Sie gestern im Ausschuss gesagt haben, bleibt im Ungefähren, im Wolkigen, ist als
Perspektive zu wenig konkret.
({7})
- Herr Weisskirchen, wir wissen alle spätestens seit
Sonntag und seit gestern, seit den Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden, wie wichtig es ist, die
Bevölkerung bei politischen Prozessen mitzunehmen.
Wir müssen jetzt auch dahin kommen, Herr
Weisskirchen, die betroffene Bevölkerung in Serbien
und im Kosovo bei dem Prozess mitzunehmen. Wo tun
wir das? Auch das muss getan werden.
Wir müssen konkreter werden. Dazu haben wir einen
Vorschlag gemacht. Wir erwarten von der Bundesregierung und von der Europäischen Union, dass sie sich hier
stärker engagieren. Das ist der einzig richtige Weg. Wir
müssen unseren Soldaten sagen, dass wir an der politischen Perspektive arbeiten. Die europäische Lösung ist
der richtige Weg. Arbeiten wir gemeinsam daran! Das
sind wir den Soldaten schuldig. Wir können nicht zulassen, dass in den nächsten drei Monaten hier nur noch
Wahlkampf gemacht wird, statt dass dafür gesorgt wird,
dass die Soldaten sicher nach Hause kommen. Wir müssen ihnen sagen: Die politische Lösung ist da und deshalb können wir euren schweren Einsatz endlich beenden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube nicht, dass wir hier die Reden vom letzten
Jahr halten.
({0})
- Ich sage jetzt aber etwas anderes, Herr Stinner. Mir
fällt öfter einmal etwas Neues ein.
Wir alle wissen, dass die KFOR-Verlängerung dringend notwendig ist, dass wir wahrscheinlich nicht das
letzte Mal verlängern, aber dass wir fast alle einmütig
zustimmen, weil wir wissen, dass dies für die künftige
Stabilität im Kosovo dringend erforderlich ist.
({1})
Die Sicherheitslage - so steht es in dem Bericht des
BMVg - ist ruhig, aber nicht stabil. Was heißt das, liebe
Kolleginnen und Kollegen? Die Märzunruhen haben wir
immer noch im Hinterkopf. Wir haben das Attentat auf
Rugova in Erinnerung, die Ermordung des Bruders von
Haradinaj und den Anschlag auf die Partei ORA von
Veton Surroi. Das beängstigt uns; deswegen fürchten
wir, dass wieder Eruptionen auftreten.
Aber wir konnten im letzten Jahr auch positive Abläufe beobachten: Die fairen Wahlen und die Regierung
Haradinaj, die sich zu unserer großen Überraschung als
ausgesprochen stabilisierend erwiesen hat; die Übergabe
von Haradinaj an Den Haag und die Regierungsübergabe
an Kosumi, die allesamt geklappt haben. Wir haben also
immer auch Positives zu beobachten. Deshalb stelle ich
fest, dass wir in diesem für den Statusprozess entscheidenden Jahr 2005 ganz genau hinsehen müssen, was in
dem Bericht von Kofi Annan an den Sicherheitsrat steht.
Ich empfehle ihn wirklich zur Lektüre; Herr Stinner, ich
nehme an, Sie haben ihn gelesen. In ihm steht, dass es
sehr viele Fortschritte bei der Statusimplementierung gegeben hat, dass es natürlich noch Defizite gibt und dass
auch in den prioritären Bereichen - ({2})
- Da habe ich mich versprochen; aber Sie verstehen ja
immer, was ich sagen will. Das ist gut.
Innere Streitigkeiten bei den Kosovaren behindern bestimmte Fortschritte. Sie betreffen zum Beispiel die
Flüchtlingsrückkehr, bei der es noch Probleme gibt, die
Dezentralisierung, die nicht vorankommt, und die Restitution der Flüchtlinge aus der Zeit der Märzunruhen.
Es wird einen weiteren Bericht geben, den wieder
Karl Eide erstellen wird; er wird in etwa drei Monaten
vorliegen. Aber ich glaube, dass es eine positive Perspektive gibt, die wir von uns aus unterstützen sollten.
Ich habe heute mit Herrn Rücker gesprochen, der dort im
Bereich der Wirtschaftssäule tätig ist. Er hat mir einen
sehr positiven Eindruck von der Entwicklung vermittelt.
Weitere Fortschritte sind selbstverständlich notwendig. Dazu gehört insbesondere die Teilhabe der KosovoUta Zapf
serben an den politischen Institutionen und die Teilnahme an der Parlamentsarbeit. Ich denke, wir alle
haben ein Interesse daran, dass sich auch dieser Bevölkerungsteil an der Entwicklung beteiligt. Wir sollten sie
ausdrücklich dazu auffordern.
({3})
Lassen Sie mich noch auf ein paar positive Punkte
hinweisen. Zum Beispiel ist die Bewegungsfreiheit der
Serben verbessert worden. KFOR braucht also nicht
mehr so häufig bei irgendwelchen Bewegungen Schutz
zu gewähren. Als besonders gut erachte ich, dass sich die
Kooperation zwischen UNMIK und PISG, also der kosovarischen Regierung, hervorragend entwickelt hat. Als
ich zum letzten Mal im Kosovo war und mit den Kosovaren sprach, sagten sie, die Vertreter der UNMIK seien
schreckliche Diktatoren; die UNMIK sagte, die Leute
von der Regierung könnten es ja gar nicht. Mittlerweile
hat sich ein vertrauensvolles, kooperatives Verhältnis
entwickelt. Dies ist ein wichtiger Ansatz, den man nicht
unterschätzen darf.
({4})
Auch die Privatisierung ist auf einem besseren Weg; dies
hat große Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung.
Recht positive Entwicklungen gibt es aber auch in
Belgrad. Ich halte dies ebenfalls für einen sehr wichtigen
Punkt. Die Position ist flexibler geworden. Der Dialogprozess an den drei verschiedenen Tischen - Vermisste,
Kulturerbe, Transport, Verkehr und Energie - ist wieder
aufgenommen worden. Das sind noch keine Verhandlungen, aber hier ist wieder ein Dialog in Gang gekommen.
Tadic hat ein Angebot zu Gesprächen an Rugova gemacht; leider hat Rugova abgelehnt. Aber Kosumi hat
das Angebot von Kostunica angenommen und wird demnächst nach Belgrad reisen. Ich finde, das ist eine gute
Entwicklung.
({5})
Wer genau zuhört, hat bei allen Vertretern der demokratischen Parteien - nicht der radikalen Parteien -, mit
denen man in Belgrad spricht, das sichere Gefühl, dass
Belgrad einen wichtigen Anreiz braucht, um diesen Prozess weiterzuführen. Dieser Anreiz ist die EU-Perspektive. Herr Stinner, es ist richtig: Nur, Sie haben perfekte
Rezepte vorgegeben, während sich die Strukturen noch
in der Entwicklung befinden und noch ausgearbeitet
werden müssen. Zum Beispiel hat das positive Ergebnis
der EU-Machbarkeitsstudie Belgrad einen ganz großen
Schub gegeben, sich mit dem Problem Kosovo in einer
positiven Richtung auseinander zu setzen. Das, was mit
dem Stabilitätspakt begonnen und 2003 in Thessaloniki
versprochen wurde, diese europäische Perspektive dürfen wir unter gar keinen Umständen stoppen.
Deshalb wiederhole ich, was ich schon im Ausschuss
gesagt habe: Wer wie die CDU/CSU in populistischer
Art und Weise an der europäischen Perspektive rüttelt,
versündigt sich in der Tat an dem Stabilisierungsprozess
in einer ganzen Region, zu dem die Bundesrepublik erheblich beigetragen hat.
({6})
Diesen dürfen wir nicht stoppen.
Herr von Guttenberg, ich möchte Sie, wie ich es
schon einmal getan habe, an Ihren Balkan-Antrag erinnern. Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin,
aus dem Antrag der CDU/CSU:
Die Europäische Union hat den Staaten des westlichen Balkan eine EU-Beitrittsperspektive gegeben,
die ein wichtiger Anreiz für die Entwicklung von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft in diesen Ländern ist.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Aber dann bitte ich Sie, Frau Merkel, Herrn Glos und
andere Ihrer Kolleginnen und Kollegen aufzufordern,
die wirklich gefährlichen Sprüche in Bezug auf eine zukünftige Erweiterung der EU einzustellen und zu überlegen, wie wir die gegenwärtige Krise, die natürlich auch
wir empfinden, so meistern können, dass wir die wichtigen Aussichten, die die Erweiterungsperspektive von
Thessaloniki und die Stabilitäts- und Assoziationsabkommen für die gesamte Region bieten, nicht leichtfertig zerstören und damit unsere eigenen Sicherheitsinteressen nicht in Gefahr bringen.
Lassen Sie mich ein letztes Wort sagen. Herr von
Guttenberg, in Ihrem Antrag steht, dass die Regierung
mutlos im Status quo verharre. Hier könnte ich Ihnen in
der Tat Gedächtnisschwund nachweisen. Was diese Bundesregierung, angefangen bei der Initiative zum Stabilitätspakt, über die ganzen Jahre hin getan hat, um diese
Region zu stabilisieren, sollten Sie selbst im Wahlkampf
nicht heruntermachen.
({7})
Ich glaube, wir alle haben eine große Verantwortung
für die Zukunft einer Region, die zu Europa gehört und
der wir dringend helfen müssen, sich zu stabilisieren.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Karl-Theodor
Freiherr zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Zapf, Ihre Verknüpfung der Erweiterung
der EU um Rumänien und Bulgarien mit den Fragen, vor
denen wir im Westbalkan stehen, ist - Herr Bundesaußenminister, auch Sie haben dies implizit angesprochen - in
der Form, wie Sie es tun, unseriös. Man kann nicht Äpfel
mit Birnen vergleichen.
({0})
Für die Westbalkanländer geht es um die Perspektive
Europa und die Wirkkräfte, die diese Perspektive entfalten kann - das ist richtig -, bei Rumänien und Bulgarien
um den konkreten Beitrittstermin und die nicht ausreichende Erfüllung entsprechender Kriterien. Auch wenn
sich das für Sie nicht unmittelbar erschließen mag: Das
sind zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel, verehrte
Frau Zapf und verehrter Herr Bundesaußenminister.
({1})
Sie wollen doch nicht ernsthaft den Eindruck vermitteln, dass im Umkehrschluss ein Beitritt zur Europäischen Union einem Durchmarsch gleichkommt. Herr
Bundesaußenminister, gerade diese Haltung kann sich
die Europäische Union momentan am allerwenigsten
leisten. Frau Zapf, die CDU/CSU unterstützt ganz ausdrücklich die Gewährung einer europäischen Perspektive für die Westbalkanländer. Nur müssen auch die
zum gegebenen Zeitraum ihre Hausaufgaben im Hinblick auf eine Vollmitgliedschaft, die derzeit noch gar
nicht im Raume steht, angehen. Sollten die Westbalkanländer dann einmal so weit sein - wir wünschen uns
schließlich alle, dass Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden -, darf es für diese keinen Rabatt geben.
Diesen Rabatt gewähren Sie anderen Ländern derzeit jedoch mit allzu leichter Hand.
({2})
Im Rahmen der Abwägung all dieser Aspekte ist für
Sie offensichtlich die Signalwirkung in Richtung dieser
Länder bei weitem gewichtiger als der innere Zustand
beitretender Länder und möglicherweise auch wichtiger
als die Kompensationsfähigkeit der Europäischen
Union. Auch dieser Zusammenhang ist zu sehen.
Wie oft haben wir in den vergangenen Jahren das
Wort Perspektive gebraucht? Kollege Stinner hat auch
darauf hingewiesen. Wie oft haben wir gebetsmühlenartig - wenn auch zu Recht - unseren Soldaten gedankt
und mit dem Dank an die Soldaten auch die Notwendigkeit von Veränderungen verknüpft? So oft, dass man
mittlerweile auch darauf achten muss, dass daraus keine
Routine lediglich erneuerter Hoffnungen erwächst.
Die schrecklichen Ereignisse im März 2004 waren ein
Wachrütteln, allerdings alles andere als ein Frühlingserwachen im Hinblick auf die Kernfragen im Kosovo.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass die
klamme Kälte, die die Stagnation auch danach noch auszustrahlen wusste, immer noch in unseren politischen
Knochen steckt.
Meine Damen und Herren - das richtet sich insbesondere an die Bundesregierung -, wo ist eigentlich der unbedingte Wille im Hinblick auf den Kosovo, den wir
1999 verspüren durften, der unbedingte Wille, den man
in die Region hinein und den man der Region selbst auch
vermitteln muss, Herr Bundesaußenminister? Er erscheint nur noch schlagwortartig und schlaglichtartig in
Debatten wie dieser, die wir heute führen. Er erscheint
innerhalb der internationalen Gemeinschaft, wenn es in
der breiten Tagesordnung irgendwann einmal angesagt
erscheint, sowie in der Reaktion auf unvorhersehbare
Geschehnisse. Dieser unbedingte Wille flaut dann erstaunlich schnell wieder ab. Das gilt auch für das Bedürfnis, sich substanziell damit auseinander zu setzen,
wie vorhersehbar solche Ereignisse gewesen sind. Der
Kollege Christian Schmidt hat darauf hingewiesen.
Wir stehen vor einem entscheidenden Jahr. Auch darauf wurde hingewiesen. In der internationalen Gemeinschaft entwickelt sich eine gewisse Dynamik. Auch aus
der Region selbst sind zumindest zaghafte Töne zu vernehmen, dass ein Einigungspotenzial vorhanden ist.
Dieses Einigungspotenzial sollten wir aufgreifen und die
erkennbare Verhandlungsbereitschaft sollten wir unterfüttern.
({3})
Dazu genügt es allerdings nicht, nur Kosmetik zu betreiben. Ein vernarbtes Gesicht schminkt sich weder
selbst noch will es sich von außen schminken lassen. Es
gewinnt - wenn überhaupt - durch die Wiedergewinnung von Selbstachtung und durch Anerkennung von außen. Diese Anerkennung ist nicht nur auf den Kosovo zu
übertragen, sondern auch auf die angrenzenden Länder,
unter gewissen Voraussetzungen auch auf Serbien. Auch
das ist angesprochen worden und ist in diesem Kontext
auch völlig richtig. Das heißt aber, dass wir keine Ausgrenzung betreiben dürfen. Demzufolge müssen wir Serbien innerhalb dieser Voraussetzungen und Anforderungen mit ins Boot nehmen. Das bedeutet aber auch, dass
wir klar machen müssen, dass eine Zusammenarbeit mit
dem Internationalen Strafgerichtshof in diesem Kontext
entscheidend bleibt und auch die anderen Voraussetzungen erfüllt werden müssen.
Nun zur Statusfrage, Herr Bundesaußenminister. Wir
wiederholen seit Jahren - meist ex negativo - all die Aspekte, die die Statusfrage nicht umfassen darf. Aber wie
sehen Ihre positiven Konzepte aus? Es wurde zum Beispiel von einer konditionierten Unabhängigkeit gesprochen. Das wäre ein möglicher Ansatz. Aber auch dieser
Ansatz muss irgendwann einmal seinen Kinderschuhen
entwachsen. Dafür zu sorgen, das ist Aufgabe der Bundesregierung.
Ich schließe meine Rede und sage, dass wir für diesen
gesamten Komplex ein willens- und handlungsfähiges
Europa brauchen, insbesondere im Lichte der beiden Referenda, die in den letzten Tagen in Frankreich und in
den Niederlanden stattgefunden haben. Willens- und
handlungsfähig bedeutet, seine Kräfte nicht lediglich im
Anspruch der Grenzüberschreitung zu verschleißen,
Herr Bundesaußenminister, sondern die Grenzen auch zu
fassen wissen.
Herr Kollege, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie
Ihre Rede schließen wollten.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Die Grenzziehung als solche umfasst den Westbalkan.
Überschätzen Sie Ihre Europapolitik nicht und fassen Sie
sie wieder in Muster, die für unsere Bevölkerung verständlich sind.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Mandat der Bundeswehr, das heute erneut verlängert werden soll, reicht zurück in das Jahr 1999. Damals
begann der Krieg der NATO gegen Jugoslawien. Für
Deutschland wurde er zum Sündenfall. Die PDS im
Bundestag hat bereits damals gesagt: Das ist politisch
falsch und obendrein völkerrechtswidrig.
({0})
Damals war die Debatte aufgeheizt. Verteidigungsminister Scharping handelte mit Geheimplänen, die PDS
wurde als fünfte Kolonne Moskaus verdächtigt und Tausende Friedensbewegte demonstrierten gegen den drohenden Krieg - vergebens. Kurzum, wir haben das Bundeswehrmandat 1999 abgelehnt und wir werden heute
auch seiner Verlängerung nicht zustimmen.
({1})
Wie bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr vermissen wir auch bei diesem Einsatz drei wesentliche
Leitplanken: ein tragfähiges politisches Konzept, eine
glaubwürdige Analyse und ein überschaubares Ausstiegsszenario. Stattdessen erleben wir, dass sich die
Lage im Kosovo zwar gewendet, nicht aber gebessert
hat. Hieß es anfangs „Serben kontra Albaner“, so heißt
es längst „Albaner gegen Serben“. Selbst wenn ich opportunistisch wäre und meinen würde, der Erfolg heilige
die Mittel, bliebe unter dem Strich das Fazit: Es gibt keinen Erfolg.
({2})
Diese Region Europas ist ein Pulverfass, wodurch wiederum die dafür bereitgestellten Mittel zusätzlich in
Zweifel gezogen werden. Daher wird die PDS im Bundestag sie auch nicht nachträglich legitimieren.
Seit einigen Tagen gibt es bei Rot-Grün ganz offensichtlich ein paar Abstimmungsprobleme. Aber auch innerhalb der SPD-Ressorts scheint die eine Hand nicht zu
wissen, was die andere treibt. Verteidigungsminister
Struck, SPD, verlangt eine Verlängerung des KFORMandats. Seine Begründung: Die Lage im Kosovo ist
höchst instabil. Innenminister Schily, SPD, und die Landesinnenminister bereiten massenhafte Abschiebungen
von Kriegsflüchtlingen vor, was allerdings voraussetzt,
dass die Lage im Kosovo für die Betroffenen zumutbar
ist.
Nach allen Regeln formaler Logik muss eine der zwei
SPD-Argumentationen falsch sein, entweder die des Innenministers oder die des Verteidigungsministers.
({3})
Wir lehnen beides ab, sowohl die Verlängerung des Krieges als auch die Abschiebung der Opfer. Auch deshalb
wird die PDS mit Nein stimmen.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Soldatinnen und Soldaten ist zu Recht für
ihre aufopferungsvolle Arbeit gedankt worden, und dies
nicht nur gebetsmühlenartig, sondern vielmehr aus vollster Überzeugung. Ich möchte in diesen Dank auch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisationen einbeziehen, die ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität dieses Landes leisten.
({0})
So sehr sich die Sicherheitspräsenz auch bewährt hat,
bleibt die Lage im Kosovo weiterhin von Kriminalität,
ethnischen Konflikten und politischen Extremen gekennzeichnet; der Verteidigungsminister hat dies zutreffend festgestellt. Der Außenminister hat zudem einige
Ausführungen zum künftigen Status gemacht; dafür ist
ihm zu danken. Umso bedauerlicher ist es, dass sich der
Antrag der Bundesregierung auf eine Stellungnahme
zum Istzustand beschränkt und eigene Ideen zum politischen und zum wirtschaftlichen Status des Kosovo vermissen lässt.
({1})
Über den sicherheitspolitischen Aspekt wird hier
kaum hinausgedacht. Mittlerweile hat sich sogar die
neutrale Schweiz mit eigenen Vorschlägen zu Wort gemeldet, doch auf eine Initiative der Europäischen Union
oder der Bundesregierung, wie sie der Kollege Stinner
gefordert hat und wie sie auch von unserer Fraktion erwartet wurde, warten auch die Kosovaren leider vergebens.
({2})
Die Entsendung des Sondergesandten Kai Eide - Herr
Minister Struck, Sie haben das angesprochen - durch
den UN-Generalsekretär zwecks Überprüfung des Minderheitenstandards ist der beste Beweis dafür, dass abermals die Vereinten Nationen das Heft in die Hand
nehmen müssen. Trotz dieser begrüßenswerten UNMission darf nicht vergessen werden, dass es im Kosovo
nicht nur um Standards und um den Status geht - es geht
vor allen Dingen um die Menschen, die in diesem Gebiet
wohnen und die eine Existenzgrundlage und eine Lebensperspektive benötigen.
({3})
Im Ergebnis sieht sechs Jahre nach dem Krieg die Gesamtbilanz leider immer noch trostlos aus, nicht zuletzt
aufgrund des ebenso kostspieligen wie verfehlten Managements der internationalen Gemeinschaft. Diese hat
- das müssen wir festhalten - mit ihren bisherigen Konzepten schlichtweg versagt. Allein im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden
Euro in den Wiederaufbau weitgehend fehlinvestiert.
Deutschland hat sich auf bi- und multilateraler Ebene am
Wiederaufbau beteiligt. Die verschiedenen Mittel flossen in Infrastrukturprojekte, in den Aufbau mittelständischer Strukturen sowie in die Selbstverwaltung der Kosovaren. Das ist begrüßenswert. Doch wenn wir nach der
Verwendung der Gelder fragen, stellen wir fest, dass im
Kosovo Unvermögen auf Unfähigkeit trifft. Das Engagement der internationalen Gemeinschaft, allen voran der
UNMIK, ist ein Trauerspiel.
({4})
Es korrespondiert mit der Bilanz einer völlig überforderten Selbstverwaltung, die immer noch in den Kinderschuhen steckt. Wir müssen feststellen, dass die Kosovaren immer noch keine Perspektive haben. Die Menschen
im Kosovo wollen aber nicht nur Empfänger von Hilfsleistungen sein und sich so empfinden, sondern gleichberechtigte Partner in der Entwicklungszusammenarbeit.
Obwohl sich die wirtschaftliche Situation des Kosovo also nicht gebessert hat, drosseln die Geberländer
ihre Hilfsleistungen: Allein die EU hat ihre Mittel von
154 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 50 Millionen Euro
im letzten Jahr abgesenkt. Die ausländischen Kapitalzuflüsse versiegen zu einer Zeit, in der eine Klärung der
Statusfrage völlig offen, aber dringend geboten ist. Mit
den von deutscher Seite in Rede stehenden weiteren
13 Millionen Euro für 2005 stellt sich die Frage, wie
Deutschland seine künftige Entwicklungszusammenarbeit im Kosovo gestalten will, um den Menschen eine
Perspektive zu geben. Hier muss nach meiner Auffassung das Umdenken beginnen: Wir müssen die Ursachen
der wirtschaftlichen Misere bekämpfen und nicht allein
die Symptome.
({5})
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Zur Stabilisierung des gesamten westlichen Balkans müssen dem Kosovo nicht nur politische, sondern auch klare wirtschaftliche Perspektiven eröffnet werden. Dies, meine Damen
und Herren, hat die Bundesregierung bislang leider versäumt.
({6})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter-
nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Es liegen eine
persönliche Erklärung des Abgeordneten Koppelin und
eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Winkler
mit insgesamt 36 Unterschriften von anderen Kollegen
vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5428 anzunehmen.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne damit
die Abstimmung.
Ich denke, Sie sind damit einverstanden, dass wir
noch zwei weitere Unterschriften unter der persönlichen
Erklärung des Abgeordneten Winkler zu Protokoll neh-
men. - Dann tun wir das.
Wie sieht es aus? Ist ein Mitglied des Hauses anwe-
send, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? -
Ich höre keine Proteste. Dann schließe ich damit die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Schwerer Störfall in der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-
ben es hier mit einem sehr ernsten Vorgang zu tun. Es ist
nicht das erste Mal, dass es in der Wiederaufarbeitungs-
anlage in Sellafield zu einem Störfall kommt. Es ist auch
nicht das erste Mal, dass über diesen Störfall nur mit er-
heblicher zeitlicher Verzögerung berichtet wird. Erst
nachdem dies der britischen und internationalen Presse
bekannt wurde, erst nachdem wir am 9. Mai schriftlich
und mündlich bei den britischen Aufsichtsbehörden
nachgefragt haben, sind wir schriftlich und mündlich in-
formiert worden.
Nach diesen Informationen stellt sich der Vorgang
wie folgt dar: In der Wiederaufarbeitungsanlage wurde
am oder um den 19. April herum mithilfe einer Kamera
1) Anlage 2 und 3
2) Seite 16762 C
festgestellt, dass 83 000 Liter hoch radioaktive konzentrierte Salpetersäure aus einer vollständig abgerissenen
Rohrleitung in die Bodenwanne einer so genannten Heißen Zelle geflossen sind. 83 000 Liter Salpetersäure sind
in etwa 22 Tonnen abgebrannte Brennelemente. Man
kann es auch anders ausdrücken: 220 Kilogramm Plutonium sind dort aufgelöst.
Gott sei Dank hat die Bodenwanne der Heißen Zelle
diese Menge aufgenommen und es ist nicht zu einer
Freisetzung gekommen. Gott sei Dank ist es zumindest
nach den Informationen, die die Briten uns übermittelt
haben, so, dass die Gefahr einer Kritikalität, das heißt
das Entstehen einer Kettenreaktion, zurzeit ausgeschlossen ist.
({0})
Die Internationale Atomenergie-Behörde hat diesen
Störfall in Stufe 3, also als einen ernsten Störfall - a serious incident -, eingeordnet. Dennoch wurde dieser
Vorfall gegenüber der Öffentlichkeit lange Zeit geheim
gehalten.
Ursache ist übrigens nach bisheriger Einschätzung
Materialermüdung. Es gibt ernste Hinweise darauf, dass
diese Materialermüdung schon im August 2004 festgestellt wurde. Es ist offensichtlich so, dass seit Januar
2005 kontinuierlich Flüssigkeitsvolumina ausgetreten
sind. Trotzdem wurde dort weiterbetrieben und dieser
Störfall lange verschwiegen. Ich sage mit allem Nachdruck: Ich halte bei aller Kollegialität diese Art des Umgangs für nicht akzeptabel.
({1})
Wir kennen solche Probleme aus vielen Fällen. Es gehört bei solchen Anlagen, wenn man sie betreibt und etwas passiert, zu einem verantwortungsbewussten Sicherheitsmanagement, schnell zu handeln und umfassend
und korrekt zu informieren. Leider ist das nicht der erste
Fall. 1950 ist in Sellafield der erste Störfall aufgetreten.
Inzwischen ist dies zum Symbol für die Achillesferse der
Nukleartechnik geworden, nämlich das Sicherheitsmanagement. Es ist oft gar nicht die Technik als solche,
sondern das Zusammenspiel zwischen Technik und
Menschen, das darüber entscheidet, ob es zu einem Unfall kommt und ob auf einen Unfall adäquat reagiert
wird.
Die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen ist, wie das Beispiel zeigt, technisch riskant. Sie
ist bereits im Normalbetrieb mit unverhältnismäßig hohen Ableitungen von Radioaktivität in die Umwelt verbunden. Sie können die Ableitungen von Sellafield noch
in den Lachsfarmen Norwegens nachweisen.
Die Wiederaufarbeitung ist auch ökonomisch ein außerordentlich fragwürdiges Unterfangen. Selbst in Großbritannien, wo diese Anlage betrieben wird, wird der Gesamtwert des hier erzeugten Materials mit 0,00 Pfund in
der Bilanz geführt.
({2})
- Das wäre ganz ehrlich, Frau Griefahn, aber ich habe
mich jetzt auf das, was ausgewiesen ist, bezogen.
Der Störfall in Sellafield zeigt, dass die Entscheidung
dieser Bundesregierung richtig war, die Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls zu beenden.
({3})
Übrigens, die ökonomische Einschätzung, die ich Ihnen
hier vorgetragen habe, teilen auch die Betreiber unserer
Atomkraftwerke. Weil wir heute über ein vernünftiges
Konzept von dezentraler Zwischenlagerung verfügen,
haben sie die Zahl der möglichen Transporte drastisch
minimiert, fast auf die Hälfte. Anfang 2000 hatten sie
noch vor, 500 Behälter in die Wiederaufarbeitungsanlagen nach La Hague und Sellafield zu bringen. Tatsächlich wurden jetzt nur noch 267 verbracht. Ich sage Ihnen
auch und gerade mit Blick auf die Diskussionen über
Atomtransporte hier: Jeder Behälter, der nicht nach
Sellafield geht, jeder Behälter, der nicht nach La Hague
geht, ist ein Behälter weniger, der zurück nach Gorleben
oder Ahaus kommt.
({4})
Die Praxis des Transportes unseres Atommülls in das
Ausland endet jetzt vollständig. Ab 30. Juni wird es
keine Transporte mehr geben. Der letzte Transport nach
Sellafield, der von Vattenfall vorgesehen war, ist am vergangenen Freitag abgesagt worden. Ich begrüße außerordentlich, dass man sich so verhalten hat.
Der Störfall in Sellafield bestätigt auch, dass nicht nur
die Beendigung der Wiederaufarbeitung, sondern auch
der Ausstieg aus der Atomenergie der richtige Weg ist.
({5})
Nur durch einen Verzicht auf die Atomenergie können
die Gefahren, die mit dieser Hochrisikotechnologie verbunden sind, nachhaltig beseitigt werden. Wer heute darüber spekuliert, Laufzeiten zu verlängern, der vermehrt
nicht nur die Menge hoch giftigen Atommülls, der gefährdet nicht nur die Entscheidungen über Investitionen
in die Modernisierung des Kraftwerksparks in Deutschland,
({6})
sondern er verlängert auch das Risiko der Menschen, mit
solchen Störfällen wie in Sellafield leben zu müssen. Ich
halte das für verantwortungslos.
Vielen Dank.
({7})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich
Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und
zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244
({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen
Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien ({2}) vom 9. Juni 1999“ mitteilen.
Abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 575.
Mit Nein haben gestimmt 7. Es gab keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
worden.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 582;
davon
ja: 575
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({3})
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({4})
Klaus Barthel ({5})
Sören Bartol
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({6})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({7})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Martina Eickhoff
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Hans Forster
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({8})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({9})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({10})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({11})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann
({13})
Iris Hoffmann ({14})
Frank Hofmann ({15})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Heinz Köhler ({16})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({17})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({18})
Christian Müller ({19})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({20})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({21})
Michael Roth ({22})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({23})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({24})
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({25})
Ulla Schmidt ({26})
Silvia Schmidt ({27})
Dagmar Schmidt ({28})
Wilhelm Schmidt ({29})
Heinz Schmitt ({30})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Brigitte Schulte ({31})
Reinhard Schultz
({32})
Swen Schulz ({33})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({34})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({35})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({36})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({37})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({38})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({39})
Heidi Wright
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({40})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({41})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Roland Dieckmann
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({42})
Georg Fahrenschon
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({43})
Dirk Fischer ({44})
Axel E. Fischer ({45})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({46})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({47})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({48})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({49})
Dr. Karl A. Lamers
({50})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({51})
Eduard Lintner
({52})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({53})
Stephan Mayer ({54})
Dr. Conny Mayer ({55})
Dr. Martin Mayer
({56})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({57})
Doris Meyer ({58})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({59})
Bernward Müller ({60})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({61})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({62})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({63})
Anita Schäfer ({64})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({65})
Andreas Schmidt ({66})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({67})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({68})
Gerald Weiß ({69})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({70})
Volker Beck ({71})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Joseph Fischer ({72})
Katrin Göring-Eckardt
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Jutta Krüger-Jacob
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({73})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({74})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({75})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({76})
Werner Schulz ({77})
Petra Selg
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({78})
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({79})
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({80})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({81})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({82})
Eberhard Otto ({83})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
({84})
Manfred Carstens ({85})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Hans-Christian Ströbele
FDP
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Jetzt hat das Wort in der Debatte der Abgeordnete
Klaus Lippold.
({86})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anfang
der Rede von Minister Trittin sah ganz danach aus, als
sollte es sich hier um eine sachliche Behandlung eines
Themas handeln, die einem ernsten Störfall immer einzuräumen ist.
({0})
Aber zum Schluss wurde dann deutlich, dass hier nur ein
Aufhänger für die aktuelle Wahlkampfsituation gesucht
wurde und nichts anderes.
({1})
Das ist es nämlich, was hinterher auch beim Kollegen
Michael Müller kommen wird, dessen Presseerklärung
ich heute gelesen habe: Angstmache zum Wahlkampfauftakt und Angstmache mit Kernenergie, und zwar deshalb, weil diese Koalition in allen anderen Feldern versagt hat.
Hier soll von der katastrophalen Situation auf dem
deutschen Arbeitsmarkt abgelenkt werden.
({2})
Hier soll von dem Sachverhalt abgelenkt werden, dass
die Jugendarbeitslosigkeit zurzeit eine Rekordmarke erreicht hat und dass wir eine Rekordverschuldung zu verzeichnen haben.
({3})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, Herr Minister
Trittin!
({4})
Jetzt hat sich die auseinander laufende Koalition für
einen Moment wieder einmal halbwegs zusammengefunden.
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
({6})
Aber man muss wissen, dass das, was hier gerade zum
Ausdruck kam - nämlich dass man in Deutschland aus
der Hochsicherheitstechnologie aussteigen muss, weil es
diese Technologie in anderen Ländern nicht gibt -, ein
völlig falscher Weg ist. Wenn andere Länder die deutsche Technologie hätten, dann wäre es nicht zu diesem
Unfall gekommen.
({7})
Diejenigen, die in Deutschland aus der Hochsicherheitstechnologie aussteigen wollen, verhindern, dass wir
diese Technologie in den internationalen Gremien einfordern. So einfach ist das.
({8})
Das ist auch Ausdruck Ihrer Technologiefeindlichkeit.
Sie sind schließlich nicht nur gegen Kernkraft, sondern
auch gegen die Bio- und Gentechnologie. Das ist doch
das Entscheidende: Immer dann, wenn es um Fortschritt
geht, sind Sie dagegen.
({9})
Die folgende Feststellung ist durchaus richtig:
Die Grünen haben den Hang, Investitionsmaßnahmen, Planungsmaßnahmen und Innovationsmaßnahmen mit einer überbordenden Bürokratie zu befrachten, die uns daran gehindert hat, in
Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern … Ich nenne nur das Thema Gentechnologie.
Das hat kein Unionsmann gesagt, sondern der frühere
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen Gabriel in
Bezug auf die Grünen. Das sollten Sie sich hinter die
Ohren schreiben. Denn überall dort, wo Rot-Grün regiert, findet die Bio- und Gentechnologie genauso wenig
Berücksichtigung wie die Hochsicherheitstechnologie
im Kernkraftbereich.
Herr Kollege, bei der Aktuellen Stunde sind wir sehr
großzügig, aber ein bisschen zur Sache müssen Sie
schon sprechen.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin, mir steht keine Kritik zu,
aber wenn die Damen und Herren aus der Koalition hier
eine bestimmte Vorgehensweise wählen, dann muss es
mir als frei gewähltem Abgeordneten überlassen bleiben, was ich darauf antworte.
({0})
Ich liege mit meiner Rede im Thema.
({1})
Das macht auch das deutlich, was ich gerade über
Gabriel gesagt habe.
({2})
- Sie waren so viel unterwegs, Herr Tauss. Das muss
man nicht jedes Mal mitbekommen.
Der Kernpunkt ist: Mit unserer Technologie - ich
wiederhole es - wäre das nicht passiert.
({3})
Aber das interessiert Sie ja nicht.
Wir müssen eines feststellen: Die Akzeptanz für
Kerntechnologie in der Bundesrepublik steigt. Eine Tagung der Bürgermeister der Standorte der Kraftwerke
hat noch einmal deutlich gemacht, dass gerade dort, wo
eigentlich maximale Betroffenheit herrschen müsste,
maximale Zustimmung gegeben ist. Besuchen Sie doch
einmal diese Orte!
({4})
Die Proteste kamen von denjenigen, die von außerhalb
herangekarrt wurden.
Ich verstehe zwar, dass Sie, nachdem Sie die Bürgerrechtsbewegungen als Ihre Hilfstruppen enttäuscht haben, jetzt bei einer vorgezogenen Wahl versuchen, sie
möglichst schnell wieder hinter sich zu sammeln, aber
das ist der falsche Weg. Notwendig ist - dafür treten wir
ein - Sicherheit. Deshalb erhalten wir die Option Kernenergie aufrecht, auch weil ohne die Option Kernenergie
die Fragen des weltweiten Klimaschutzes nicht zu lösen
wären.
({5})
- Sie können ruhig lachen. Das zeigt nur, dass Sie nicht
in der Sache drin sind.
({6})
Mit Kernenergie sparen wir jährlich 2,8 Milliarden
Tonnen CO2 ein. Das ist wesentlich mehr, als nach den
Kioto-Vereinbarungen weltweit eingespart werden soll.
Wenn Sie daraus aussteigen, blockieren Sie die KiotoVereinbarungen und sämtliche vernünftigen klimaschutzpolitischen Maßnahmen. Diese Position tragen
wir so nicht mit.
Wir wollen Klimaschutz. Wir wollen die großen Risiken für diese Welt auch für die zukünftigen Generationen abwenden. Deshalb müssen wir Ihnen mit Ihrer
kleinkarierten Antitechnologiehaltung eine klare und
eindeutige Absage erteilen, auch wenn Sie ausländische
Vorwände nutzen, um in Deutschland Stimmung zu machen.
Herr Müller, ich sage es Ihnen noch einmal: Jetzt mit
Angst und Panikmache zu kommen und davon zu sprechen, noch wüssten wir nicht, wie viele Tote und Betroffene es in Sellafield gibt - obgleich Sie über die Nachrichten genau wissen, dass da nichts ist; sonst hätte
Dr. Klaus W. Lippold ({7})
dieser Minister es ja auch gesagt -, das halte ich schon
für nicht verantwortlich. Sie wollen mit Angst Politik
machen und Angst ist ein falscher Ratgeber.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Martina Eickhoff.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Keine Frage, die Pressemeldungen vom 29. Mai 2005 zum Atomunfall in Sellafield
stimmen bedenklich. Dass 83 000 Liter hoch radioaktive
Flüssigkeit über neun Monate hinweg unbemerkt austreten können, bereitet große Sorgen und stellt die Frage
nach den Sicherheitsvorkehrungen in den Vordergrund.
Meine Damen und Herren, unweigerlich schauen wir
auf die Situation in Deutschland. Das Ereignis in Sellafield ruft die Gefahren für Mensch und Umwelt, die von
hoch radioaktiven Stoffen ausgehen können, wieder in
Erinnerung. Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl waren die Risiken der Atomkraft deutlicher in der
Wahrnehmung der Menschen vorhanden als heute. Wir
müssen uns klar machen, dass die Folgen 19 Jahre danach noch nicht überwunden sind. 40 Prozent der ukrainischen Wälder gelten als kontaminiert und über
400 000 Kinder haben an den Folgen radioaktiver Verstrahlung zu leiden - ein Schicksal, das wir nicht gerne
selbst erleben und erleiden möchten.
({0})
Mitarbeiter und Umfeld sollen laut Betreiber beim aktuellen Ereignis in Sellafield nicht gefährdet gewesen
sein; dennoch bezeichnet die Internationale Atomenergiebehörde den Unfall als ernst. Zu dieser Kategorie gehört auch der Aspekt „akute Gesundheitsschäden beim
Personal“. Im Grundsatz gilt: Störfälle dieser Art müssen durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen verhindert
werden.
Der jüngste Bericht des BMU zu meldepflichtigen
Vorgängen in deutschen Atomkraftwerken und Forschungsreaktoren verzeichnet erfreulicherweise kein
einziges Ereignis, bei dem akute sicherheitstechnische
Mängel aufzuzeigen waren. Trotz allem, die Gefahren
der Atomkraft können nicht ausgeschlossen werden.
Auch mögliche terroristische Angriffe auf Kernkraftwerke schüren die Ängste der Menschen, und das nicht
erst seit dem 11. September 2001.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausstieg aus
der Atomenergie war eine richtige und notwendige Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung.
({2})
Mit Interesse konnten wir in den vergangenen Tagen lesen, dass Frau Merkel, sollte sie irgendwann einmal die
Bundestagswahlen gewinnen,
({3})
der Atomwirtschaft bezüglich der Restlaufzeiten von
Atomkraftwerken freie Hand lassen will. Bleibt zu hoffen, dass sich die Risiken bei noch längerer Nutzung der
Atomkraftwerke nicht potenzieren. Immerhin erteilt die
Opposition dem Neubau von Atomkraftwerken - noch eine Absage. Man kann Zweifel haben, ob das so bleiben
wird.
({4})
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion steht
weiterhin zum Atomausstieg.
({5})
Natürlich bedeutet dieser Ausstieg, dass wir über die Gewährleistung von Versorgungssicherheit im Energiesektor diskutieren müssen. Diese Diskussion hat mit dem
gestern im Kabinett beschlossenen Energieforschungsprogramm konkrete Formen angenommen. Wir streben
einen ausgewogenen Energiemix an, der die Potenziale
unterschiedlicher Energieträger angemessen berücksichtigt. Zu diesem Mix gehören fossile Energieträger genauso wie die erneuerbaren Energien, die beachtliche
wirtschaftliche Potenziale bieten.
Neben der angesprochenen Versorgungssicherheit
müssen wir auf die Steigerung der Energieeffizienz hinarbeiten. Positive Beispiele gibt es bereits bei den modernen Kraftwerkstechnologien, die erhöhte Wirkungsgrade ermöglichen und gleichzeitig zum globalen
Umweltschutz beitragen, indem sie den CO2-Ausstoß
mindern. Das Stichwort lautet hier auch „clean coal“.
Seit Mitte Mai wissen wir, dass im brandenburgischen
Spremberg die weltweit erste Pilotanlage für ein CO2freies Braunkohlekraftwerk gebaut wird.
Zurück zur Energieeffizienz: Moderne Kohlekraftwerke hier in Deutschland erreichen Wirkungsgrade von
45 Prozent. Im Vergleich dazu ist die Atomkraft geradezu verschwenderisch.
({6})
AKWs erreichen bei der Energieumwandlung in Strom
Wirkungsgrade von 30 Prozent.
Massiv an Energie sparen können wir aber auch durch
energieoptimiertes Bauen bzw. durch die energiegerechte Sanierung älterer Gebäude. Privathaushalte benötigen mehr als ein Drittel des Endenergieverbrauchs
Deutschlands, noch vor den Sektoren Verkehr und Industrie. Der Energieverlust durch schlechte Wärmedämmung oder veraltete Heizungssysteme ist erschreckend
hoch. Die 2002 in Kraft getretene Energieeinsparverordnung hat bereits neue Akzente für die Energieeinsparung
im Gebäudebereich gesetzt. Diese Linie muss fortgeführt werden.
Nur ein Ausstieg aus der Atomkraft kann Störfälle
wie in Sellafield verhindern.
({7})
Die rot-grüne Bundesregierung hat diesen Schritt gewagt
und damit Verantwortungsbewusstsein gegenüber
Mensch und Umwelt bewiesen. Das gestern im Kabinett
beschlossene Energieforschungsprogramm zeigt Alternativen zur Atomkraft auf.
Vielen Dank.
({8})
Ich danke auch und möchte Ihnen, Frau Kollegin, zu
Ihrem heutigen Geburtstag im Namen des Hauses gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über einen Unfall in der britischen
Wiederaufbereitungsanlage Sellafield. Es ist absolut
richtig, dass wir hier darüber sprechen. Vor allen Dingen
will ich sehr deutlich machen: Ich halte es für richtig,
dass der Bundesumweltminister direkt die britische
Atomaufsicht um Aufklärung gebeten hat. Ich bitte darum, das Ergebnis dieser Aufklärung auch dem Umweltausschuss des Deutschen Bundestages zur Verfügung zu
stellen.
({0})
Alle Euratom-Vertragspartner haben sich schließlich
dazu verpflichtet, die Sicherheit zu gewährleisten, und
zwar nach entsprechenden Standards. Darauf müssen wir
achten. Deswegen reicht es meines Erachtens nicht aus,
die britische Regierung um Aufklärung zu bitten. Vielmehr sollte man Gespräche darüber beginnen, wie in den
Euratom-Vertragsstaaten die Sicherheit gewährleistet
werden kann.
({1})
Herr Bundesumweltminister Trittin, es ist aber vollkommen unverantwortlich, dass Sie den Vorfall in Großbritannien nun nutzen, um alle Anlagen zur friedlichen
Nutzung der Kernenergie auf eine Stufe zu stellen. Das
ist nicht redlich.
({2})
Was Sie hier tun, ist nichts anderes als der Missbrauch
eines Vorfalls, um Angst zu schüren. Das ist nicht in
Ordnung.
({3})
Deutschland hat schließlich völlig andere, höhere Sicherheitsstandards, deren Einhaltung streng kontrolliert
wird. Wenn Sie behaupten, dass eine Verlängerung der
Restlaufzeiten unverantwortlich sei, dann antworte ich
Ihnen: Herr Minister Trittin, Sie handeln unverantwortlich. Entweder ist ein Kernkraftwerk sicher - dann muss
es betrieben werden können - oder es entspricht nicht
den Sicherheitsanforderungen; dann muss es abgeschaltet werden, und zwar sofort.
({4})
Herr Minister Trittin, die Tatsache, dass Sie die Kernkraftwerke in Deutschland nicht abgeschaltet haben,
zeigt, dass sie den Sicherheitsanforderungen entsprechen. Deswegen muss es möglich sein, sie weiterzubetreiben.
({5})
Ich möchte aus dem Atomkonsens zitieren. Dort
steht:
Kernkraftwerke und sonstige kerntechnische Anlagen werden auf einem international gesehen hohen
Sicherheitsniveau betrieben.
Das ist ein Zitat aus dem Atomkonsens, unterschrieben
von Bundesumweltminister, Bundeswirtschaftsminister
und Bundeskanzler. Ich finde, man sollte das, was Sie
unterschrieben haben, für bare Münze nehmen.
({6})
Herr Trittin, ich sage Ihnen ganz klar, was unverantwortlich ist: Ihre Politik. Es ist unverantwortlich, ohne
irgendein vernünftiges Argument die Genehmigung von
Gorleben und Schacht Konrad nicht voranzutreiben. Sie
haben gesagt, Sie wollten eine andere Lösung. Sie wollen statt zwei Endlagern nur noch ein Endlager haben.
Sie haben dafür ein Gesetz angekündigt. Auf dieses Gesetz warten wir aber seit Jahren vergeblich. Sie verzögern auf unverantwortliche Art und Weise die Beantwortung der Endlagerfrage auf Kosten zukünftiger
Generationen. Das ist nicht akzeptabel, Herr Minister.
({7})
Sie selbst haben doch den so genannten Atomkonsens
unterschrieben. Darin steht, dass die bisherigen Befunde
nicht gegen die Eignung von Gorleben sprechen. Die
Behandlung von Zweifelsfragen wird aber immer wieder
verschoben. Das Ergebnis ist, dass der Atommüll mittlerweile oberirdisch an den Kernkraftwerken zwischengelagert wird. Das ist meines Erachtens in keiner Weise
sicherer als eine unterirdische Lagerung. Im Gegenteil:
Es ist unsicherer.
({8})
Herr Minister Trittin, nicht das, was wir sagen, ist unverantwortlich. Ihre Politik und Ihre Aktionen sind unverantwortlich.
({9})
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Genauso unverantwortlich ist es, die Entscheidung über Schacht Konrad als
atomares Endlager zu verzögern. Selbst wenn Sie sämtliche Kernkraftwerke in Deutschland abschalten, wird es
Atommüll geben, nämlich den, der in Forschungseinrichtungen produziert wird. Dieser Atommüll muss endgelagert werden. Die Tatsache, dass die Entscheidung
über Schacht Konrad im Augenblick verzögert wird, bedeutet, dass dieser Müll derzeit nicht dauerhaft gelagert
werden kann. Da dieser Müll nur eine bestimmte Zeit in
dieser Form gelagert werden kann, muss er in Zukunft
umkonditioniert, also umgepackt werden.
({10})
Dadurch werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von Forschungsanlagen einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt. Das ist unverantwortlich, Herr Minister.
({11})
Ich komme zum Schluss. Es ist absolut unverantwortlich, dass Sie sich hierhin stellen und erklären, der
Atomausstieg sei richtig.
({12})
Bisher haben Sie überhaupt kein Konzept für den Energiestandort Deutschland vorgelegt. Wir warten noch immer auf ein Energiegesamtkonzept. Sie riskieren, dass
wir die Klimaschutzziele nicht erreichen, weil Sie keine
Antworten auf die Fragen geben, wie Sie die Kernenergie ersetzen wollen und wie Sie erreichen wollen, dass
Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Herr Minister
Trittin, ich sage Ihnen ganz klar und eindeutig: Sie haben
in Ihrer Amtszeit alles versäumt, was in diesem Bereich
zu tun nötig gewesen wäre.
({13})
Deswegen ist es nicht unverantwortlich, Ihnen das zu sagen; unverantwortlich ist vielmehr die Politik der Grünen. Durch das, was Sie tun, sind Sie ein Sicherheitsrisiko für Deutschland.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst etwas zu Sellafield sagen. Der irische Umweltminister Dick Roche hat auf die Nachricht,
dass es dort ein Leck gibt, empört reagiert und gesagt,
dies sei ein weiteres vernichtendes Urteil über die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Anlage. Er fordert, dass
diese Anlage möglichst schnell ordnungsgemäß geschlossen wird, weil sie eine Gefahr für die Irische See
ist.
({0})
Wir unterstützen diese Forderung ausdrücklich.
Im Februar 2005 gab es in Sellafield einen weiteren
Fall, als plötzlich 30 Kilogramm Plutonium fehlten. Man
behauptete, es handele sich dabei um ein Problem der
Buchhaltung. Ich glaube, auch das war eine Lüge, die
wir nicht akzeptieren können. Auch da erwarten wir
ganz eindeutig Aufklärung.
({1})
Sellafield ist auch im Visier der EU-Kommission: Die
EU-Kommission klagt seit Jahren darüber, dass es dort
erhebliche Kontrollmängel gibt und dass die Verseuchung der Luft und der Irischen See nicht mehr hinnehmbar ist. In einem Gutachten, das die EU in diesem
Zusammenhang selber in Auftrag gegeben hat, heißt es,
rein technisch sei Materialermüdung schuld an dem Malheur - das wurde hier gerade schon angedeutet; es geht
wirklich um die Versprödung von altem Material; bei einer so gefährlichen Technologie ist das völlig inakzeptabel -, vor allem aber sei die Gleichgültigkeit derjenigen
zu tadeln, die dort Verantwortung tragen. Die Kombination aus Atomenergie und Gleichgültigkeit ist tödlich.
Das dürfen wir nicht vergessen.
({2})
Ich bin mit der Argumentation der Kollegin
Homburger - hier die gute, sichere deutsche, dort die unverantwortliche ausländische Atomtechnologie - nicht
ganz einverstanden. So sauber lässt sich die Scheidelinie
nicht ziehen. Die Atomtechnologie ist sehr gefährlich.
Ich muss in Erinnerung rufen, warum wir die Atomtechnologie für nicht zukunftstauglich halten und warum wir
den schrittweisen Ausstieg aus dieser Technologie wollen. Ausschlaggebend sind vor allen Dingen Sicherheitsgründe. Ich verweise auf die Gefahr durch Niedrigstrahlung, auf die Unfallgefahr - haben wir Harrisburg und
Tschernobyl denn schon vergessen? - und auf die Missbrauchsgefahr, vor allem auf die Gefahr eines militärischen Missbrauchs. Ich nenne die ungeklärte Endlagerung. Außerdem sind Nuklearbrennstoffe wie Uranium
genauso endlich wie die fossilen Energieträger. Das sind
viele gute Gründe, um aus der Atomenergie auszusteigen.
Sie teilen sie nicht; wir hingegen halten sie für richtig.
({3})
Jetzt zur Position der Kollegin Homburger. Ich habe
heute den „Tagesspiegel“ gelesen. Ich weiß nicht, ob alles zutreffend ist. Hier steht, Frau Homburger, dass Sie
die Atomkraftwerke bis zum Jahr 2039 am Netz lassen
wollen.
({4})
Gut, bei Ihnen heißt das: Sie sollen so lange betrieben
werden, wie es die Betreiber wollen.
({5})
Offensichtlich ist es ein gewaltiger Unterschied, wer
in diesem Land die Regierung stellt; denn seit wir an der
Regierung sind, sind die Atomkraftwerke in Stade und
Obrigheim abgeschaltet worden. In der nächsten Legislaturperiode wird sich die Frage stellen: Was ist mit
Biblis A? Wird Biblis A im Jahr 2008 abgestellt, ja oder
nein? Was ist im Jahr 2009 mit Biblis B, Brunsbüttel und
Neckarwestheim? Werden sie abgestellt, ja oder nein?
Sie sagen: Sie bleiben am Netz. Wir wollen sie vom Netz
nehmen. Darüber können die Leute bei der Wahl unmittelbar entscheiden.
({6})
Zum Klimaschutz. Herr Kollege Lippold, Sie haben
über Klimaschutz gesprochen. Wenn man sich mit dem
Thema „Atomenergie, Weltenergiebedarf und CO2Emissionen“ beschäftigt und sich die Lösungen anschaut, erkennt man, dass die Atomenergie absolut randständig ist. Was den Primärenergieverbrauch betrifft, liegen wir im Weltmaßstab bei um die 5 Prozent. Da
können Sie doch nicht ernsthaft behaupten, das wäre die
Lösung des Problems. Das liegt völlig neben der Wahrheit.
({7})
Noch eine Zusatzinformation: In allen durchgespielten Weltenergieszenarien, in denen die Atomenergie eine
größere Rolle spielt - das sind nämlich expansiv orientierte, angebotsorientierte Szenarien -, gibt es auch einen
deutlichen Aufwuchs an Kohlendioxid. Das heißt: Das
ist eingebettet in eine Strategie, die sehr expansiv ist und
eben nicht auf Energieeinsparung und erneuerbare Energien setzt, wie wir es für richtig halten. Deswegen ist die
Zuspitzung „Klimaschutz oder Atomenergie“ schlicht
und einfach falsch.
({8})
Wir als Koalition setzen als Antwort auf die drei E:
Wir setzen auf erneuerbare Energien; da hatten wir in der
Vergangenheit einen enormen Wachstumsschub und diesen wollen wir fortschreiben. Wir setzen auf Energieeinsparung im Gebäudebestand und bei Strom. Wir setzen
auf Energieeffizienz, vor allen Dingen auf die gekoppelte Erzeugung von Strom und Wärme, weil wir damit
Wirkungsgrade von beinahe 90 Prozent erreichen können.
({9})
Das ist unsere Antwort auf die Klimaschutzfrage. Sie
unterscheidet sich in der Tat fundamental von der Ihren.
Mein letzter Punkt. Wenn wahr wird, was Sie vorhaben, nämlich die Nutzung der Atomenergie nach hinten
hin offen laufen zu lassen, ist das nichts anderes als ein
Verhinderungsprogramm von Investitionen in neue
Technologien.
({10})
Denn es ist völlig klar: Mit abgeschriebenen Atomkraftwerken, die „im goldenen Ende“ laufen, kann keine neue
Technologie konkurrieren, weder die erneuerbaren Energien noch die Brennstoffzelle noch die Kraft-WärmeKopplung noch moderne und hocheffiziente Gaskraftwerke.
Wir haben die Rahmenbedingungen so gesetzt, dass
es jetzt einen Investitionsschub in den neuen Technologien geben kann. Wenn sich die Strategie des offenen
Endes durchsetzt, wird das im Ergebnis dazu führen,
dass Investitionen nicht getätigt werden, sondern die alten Möhren weiter betrieben werden. Das halten wir für
falsch. Das ist ein enormer Unterschied zu Ihrem Programm. Darüber kann in der Tat in wenigen Monaten abgestimmt werden.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion hat gezeigt, dass in einem Punkt Einvernehmen
in diesem Hause existiert; das ist der Störfall in Sellafield. Wir alle sind der Ansicht, dass das, was dort passiert ist, nicht verharmlost werden darf. Ich wiederhole,
was der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Klaus
Lippold für uns gesagt hat: Das ist ein Vorfall, den man
überprüfen muss.
Es ist inakzeptabel, dass mehr als neun Monate lang
unbemerkt blieb, dass über 83 000 Liter uranverseuchte
Salpetersäure in ein Tanklager ausgelaufen sind, und
dass man höchstwahrscheinlich im Januar nicht festgestellt hat, dass es Risse gibt. Wieso hat es bis April gedauert, bis man das festgestellt hat?
Das alles ist völlig inakzeptabel, darf nicht verharmlost werden und muss auch im Deutschen Bundestag angesprochen werden.
Aber warum haben Sie das nicht im Umweltausschuss
zur Sprache gebracht? Warum haben Sie sich dieser
Frage erst jetzt, in einer Aktuellen Stunde, angenommen?
Wir haben einmal nachgeprüft: Herr Trittin, Sie als Umweltminister haben am 9. Mai eine einzige kleine Presseerklärung ins Internet gestellt. Das war bis zum heutigen
Tag Ihre Reaktion auf all das Schlimme, was in Sellafield passiert ist; es war in der Tat schlimm. Warum haben Sie nicht Wochen vorher reagiert?
({0})
Warum sagen Sie nicht, was Sie in Ihrem Ministerium
eventuell besprochen haben? Sie haben in der Frage
nichts gemacht.
Warum haben Sie im Umweltausschuss keinen Bericht vorgelegt? Weil das bei Ihnen politisch noch nicht
auf dem Radarschirm war! Das ist vielleicht erst auf dem
Radarschirm erschienen, als Frau Slomka dieses Thema
am Montagabend in der Moderation des „Heute-Journals“ angesprochen hat. Plötzlich war das ein Thema bei
Ihnen.
({1})
- Zwischenrufe von der Regierungsbank sind nicht erlaubt. Ich freue mich aber, wenn Sie bei meinen Reden
dazwischenrufen, Herr Minister.
({2})
Deshalb können wir die kritische Frage stellen: Warum haben Sie das Thema heute politisch hochgezogen?
Wir wissen ganz genau, warum Sie das getan haben. Sie
unternehmen hier nämlich den fadenscheinigen Versuch,
aus Anlass einer Angelegenheit, die man massiv kritisieren muss, Ängste zu schüren und aus Wahlkampfgründen Ihrer Klientel zu sagen: Wir sind doch die Partei, die
in dieser Sache alles unternommen hat und richtig gemacht hat. - Sie haben in dieser Angelegenheit nicht alles unternommen und nicht alles richtig gemacht.
({3})
Wir brauchen doch nur in die Zeitung zu schauen. Mit
Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, möchte ich zitieren aus
einem „FAZ“-Artikel über das, was sich in Ahaus, nur
wenige Kilometer von meinem Wahlkreis entfernt, zugetragen hat. Darin heißt es:
Aus Düsseldorf war die amtierende Umweltministerin Bärbel Höhn angereist - das war am Wochenende, und zwar zur
Demonstration im Dienstwagen und mit Verspätung. Sie wurde
nicht gerade freundlich begrüßt. Viele fragten sie,
wo sie
- Einschub von mir: als Grüne denn in den vergangenen sieben Jahren gewesen
sei.
Mit politischem Instinkt hat Frau Höhn sofort nach
Bekanntwerden der Transporte entschieden, nach
Ahaus zu kommen. Unbeabsichtigt hebt sie damit
das Dilemma der Grünen hervor. Sie
- die Grünen haben das Vertrauen der Atomkraftgegner verloren.
Doch auch bei der bürgerlichen Bevölkerung sind
sie nicht wohlgelitten.
({4})
Das zur Beschreibung der Demonstration in Ahaus.
Sie versuchen jetzt künstlich, das, was Sie bei Ihrer
Klientel verloren haben, wieder aufzuholen, indem Sie
Fälle wie den in Sellafield, die wir alle kritisieren, ansprechen und so tun, als ob Sellafield ein Problem der
deutschen Atompolitik sei. Dieser Schluss ist unverantwortlich.
({5})
- Das Hinbringen ist nicht das Thema.
({6})
Vielmehr ist heute das Thema, das Sie in Ihren Reden
genannt haben; was in Sellafield passiert ist, ist unverantwortlich und deshalb müssen wir auch in Deutschland
aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie aussteigen.
({7})
Diese Schlussfolgerung ist falsch. Sie ist unberechtigt.
Es ist nicht berechtigt, die deutsche Atompolitik und die
friedliche Nutzung der Kernenergie so zu beurteilen.
({8})
- Ich sage Ihnen auch, warum. Weil unsere Sicherheitsstandards
({9})
ein solches Niveau haben, dass es in höchstem Maße unethisch wäre, weltweit unsichere Kernkraftwerke zuzulassen, aber aus der Nutzung sicherer Kernkraftwerke
hier in Deutschland auszusteigen.
({10})
Wenn Sie sagen, dass Sie eine Politik machen, die
ethisch begründet sei, dann sagen wir: Da liegen Sie
falsch.
Aus Ihrer Presseerklärung, Herr Müller, wird deutlich, warum heute hier diese Diskussion geführt werden
soll. Sie haben vor einer Renaissance in Sachen Atompolitik durch CDU/CSU und FDP gewarnt.
({11})
Wir wollen keine Renaissance im Sinne von Neubau von
Atomkraftwerken.
({12})
Wir wollen, dass sichere Atomkraftwerke weiterlaufen,
weil sie sicher sind.
({13})
- Nein! Sie bauen jetzt einen Popanz auf.
({14})
Wir können ganz klar und selbstbewusst sagen: Wer
eine Klimaschutzpolitik will, der muss die Bereitschaft
haben,
({15})
sichere Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen.
({16})
Klimaschutzpolitik und friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland sind kein Widerspruch; sie bedingen sich. Das ist der richtige Weg.
Deshalb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie Abstand
von Ihrer Ausstiegspolitik!
({17})
Sagen Sie Ja zu der Aufhebung des Moratoriums in Gorleben! Sie zitieren immer nur Gorleben. Sie wollen verhindern, dass wir in Deutschland weiter erkunden, und
sagen dann: Die Erkundung in Deutschland ist noch
nicht abgeschlossen. Was ist das für eine Argumentation? Das ist absolut unredlich.
Wir sagen: Die weitere friedliche Nutzung der Kernenergie in deutschen Kraftwerken für eine Übergangszeit ist verantwortlich. Wir fordern Sie auf: Heben Sie
das Moratorium in Gorleben auf! Das wäre ein Konzept,
das uns in der Klimaschutzpolitik weiterbringt. Hören
Sie auf, Vergleiche zwischen Sellafield und der deutschen Kernenergiepolitik zu ziehen! Das ist in höchstem
Maße unredlich.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Horst Kubatschka.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ein Unfall in einer Wiederaufbereitungsanlage in Deutschland nicht passieren kann, verdanken wir
den Demonstranten von Wackersdorf; daran möchte ich
erinnern.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland
träumen einige Lobbyisten samt CDU/CSU und FDP
den Traum von der Renaissance der Kernenergie. Wie
aber sieht die Realität aus? Die Hightechnation Großbritannien - kein Entwicklungsland, wie Sie so tun, Herr
Lippold ({1})
kann eine Wiederaufbereitungsanlage nicht beherrschen.
Die Empfehlungen der Opposition lauten: Wir müssen
wieder in die Kernenergie einsteigen. Die atomare Wirklichkeit aber sieht so aus: Der jetzige Unfall in Sellafield
wurde als Unfall der Stufe 3 eingeordnet; das ist ein
ernster Zwischenfall. Durch einen Rohrabriss - verharmlosend heißt es in Deutschland: ein Leck - sind
83 Kubikmeter hoch konzentrierte, heiße Salpetersäure
ausgelaufen. In diesen 83 Kubikmetern waren 22 Tonnen Brennelemente aufgelöst. Dies ist ein Menetekel,
aber für Sellafield nichts Neues. In den 40 Jahren des
Betriebs dort sind über 300 Unfälle passiert.
Übrigens hieß Sellafield früher Windscale. Im Reaktor Windscale ist im Oktober 1967
({2})
ein Feuer ausgebrochen; dadurch sind mehrere hundert
Quadratkilometer kontaminiert worden - ein Menetekel,
das damals nicht wahrgenommen wurde. Wir lernen: Ein
Namenswechsel hilft nicht weiter. Das Einzige, was weiterhilft, ist ein Ausstieg aus der Kernenergie,
({3})
ein Ausstieg, der einen Einstieg in eine andere Energienutzung darstellt. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen
nicht lernfähig.
({4})
Sie will den Wiedereinstieg in die Kernenergie.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Renaissance
der Kernenergie jetzt Wunschdenken oder Realität? Mit
viel Propaganda wird sie beschworen, den bekannten
Lobbyisten wird fraglos geglaubt und die Realität wird
übersehen. Die Realität aber sieht so aus: Nach vielen
Jahren wird wieder ein Kernkraftwerk in Europa gebaut,
und zwar in Finnland. Aber eine finnische Schwalbe
macht bekanntlich noch keinen Kernenergiesommer.
Weiterhin ist Realität: Das schwedische Atomkraftwerk
Barsebäck wird abgeschaltet; das war gestern. Vattenfall
will dafür den größten Windpark in Nordeuropa bauen.
Es erfolgt also auch woanders ein Umstieg in Europa.
Die vereinte Opposition dagegen will den Konsens
aufkündigen; die Oppositionsführerin Frau Merkel will
die Kernkraftwerke unbegrenzt laufen lassen. Das ist
rückwärts gewandt. Die Euphorie der 50er- bis 70erJahre des letzten Jahrhunderts lebt in dieser Haltung fort.
Kein Realist will ein Kernkraftwerk in Deutschland
bauen.
({6})
Dagegen sprechen schon die Kosten. So sieht nämlich
die Realität aus: Das 1969 bestellte Kernkraftwerk
Biblis A kostete 750 Millionen DM, das 1982 bestellte
Kernkraftwerk Neckar II 5 Milliarden DM - wahrlich
eine Kostenexplosion.
({7})
Neckar II ist übrigens das modernste und das zuletzt fertig gestellte Kernkraftwerk in Deutschland. Seit 1982,
also seit 23 Jahren, wurde hier kein Kernkraftwerk mehr
bestellt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Endlichkeit der
Ölvorräte ist vielen Bürgerinnen und Bürgern bewusst.
Über die Endlichkeit der Uranreserven spricht keiner.
Deswegen nenne ich hier einmal zwei Zahlen: Die gesicherten Uranreserven betragen 3,9 Millionen Tonnen. Im
Jahr verbrauchen wir 65 000 Tonnen Uran. Damit beträgt die strategische Reichweite maximal 60 Jahre. Dies
sind nicht Zahlen von Gegnern der Atomenergie, sondern Zahlen von der Internationalen Atomenergie-Behörde und der Agentur für Nuklearenergie der OECD.
Diese beiden Einrichtungen sind bekanntlich keine Gegner der Kernenergie.
Die vereinte Opposition aus CDU/CSU und FDP will
den Konsens aufkündigen und Kernkraftwerke unbegrenzt weiterlaufen lassen. Sie empfiehlt die Kernenergie als Möglichkeit zum Klimaschutz. Durch Kernenergie werden 17 Prozent des weltweit produzierten Stroms
hergestellt; das entspricht 2,7 Prozent des weltweiten
Endenergiebedarfes. Für einen wirksamen Klimaschutz
müssten also Tausende von Kernkraftwerken gebaut
werden.
Kernkraftwerke sind in 31 Ländern in Betrieb. In
170 Ländern werden keine Atomkraftwerke betrieben.
50 Prozent der EU-Staaten kommen ohne Kernkraft aus.
Wer Kernkraftwerke unbegrenzt weiterlaufen lassen
will, spielt mit der Zukunft und geht an der Realität vorbei, wie ich sie gerade geschildert habe.
Ich danke fürs Zuhören.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Bietmann.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion heute hat gezeigt, dass einige
Punkte unstreitig sind. Unstreitig ist, dass der Unfall in
Sellafield einer kritischen Sicherheitsanalyse bedarf.
Unstreitig ist, dass die Ursachen aufgeklärt werden müssen.
({0})
Unstreitig ist, dass in Sellafield einiges auf unverantwortliche Schlamperei hindeutet.
({1})
Das muss man klarstellen.
Trotzdem bedarf es für diese unbestreitbar richtige
Erkenntnis nicht der für die heutige Bundestagssitzung
beantragten Aktuellen Stunde; denn aus all den Beiträgen, die ich gehört habe, kann ich bisher nicht schlussfolgern, was der Unfall in Großbritannien mit der deutschen Politik und den Sicherheitsstandards unserer
Anlagen zu tun hat.
({2})
Auswirkungen auf die Standards deutscher Kraftwerke
oder nuklearer Anlagen sind nicht ersichtlich. Unbestreitbar ist die Sicherheit der deutschen Anlagen international auf höchstem Niveau. Auch Minister Trittin,
dessen Haus oberste Aufsichtsbehörde für den Betrieb
der deutschen Kernkraftwerke ist, muss dies bestätigen.
Die jährlich dem Umweltausschuss vorgelegten Berichte
dokumentieren den hohen Sicherheitsstandard der Anlagen für jedermann.
Aber, meine Damen und Herren, wenn es um diese
Themen nicht geht, dann geht es eben um andere Themen. Es geht darum, das Thema Sellafield für den Auftakt eines Antiatomwahlkampfes zu gebrauchen.
({3})
Es geht darum, Betreiber von Kernkraftwerken zu beschimpfen, und insbesondere darum, die Bürgerinnen
und Bürger mit der Angst vor der Nutzung dieser Technologie zu konfrontieren.
({4})
Für mich ist das eine ganz billige Taktik, die nicht
aufgehen kann, und zwar aus einem ganz einfachen
Grund nicht: Die rot-grüne Bundesregierung hat mit der
Energiewirtschaft einen Vertrag geschlossen, in dem sie
Laufzeiten von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik
Deutschland bis über das Jahr 2020 hinweg festgeschrieben hat. Sie haben also die Nutzung der Kernkraft für
den Energiemix in Deutschland ausdrücklich vertraglich
akzeptiert. Wer das vertraglich akzeptiert, der kann sich
doch dann nicht hinstellen und sagen, das sei alles Teufelszeug und zu gefährlich, das könne dem Bürger nicht
zugemutet werden. Eine solche Politik ist hochgradig
unehrlich.
({5})
Entweder kein Vertrag oder eine konsequente Politik.
({6})
Ich sage Ihnen auch: Für mich ist es völlig unverantwortbar, die Frage offen zu lassen, wie Sie die fehlenden
29 Prozent des deutschen Stroms, der aus Atomkraft gewonnen wird, ersetzen wollen. Es kann doch nicht Ihre
ernste Antwort sein, dass Sie mit Windkraft und mit Solarenergie bis zum Jahr 2020 29 Prozent des deutschen
Strombedarfs ersetzen wollen.
({7})
Das wird nicht funktionieren, selbst wenn Sie die gesamte Landschaft der Bundesrepublik Deutschland mit
Windrädern überziehen und sie damit in einer Weise verschandeln würden, die völlig unverantwortbar und unvertretbar wäre.
({8})
Ich sage Ihnen eines: Völlig verantwortungslos ist die
Offenhaltung der Endlagerung atomaren Mülls. Seit
Übernahme der Regierungsverantwortung durch RotGrün ist in dieser Frage in Deutschland nichts mehr passiert. Das geschieht ganz bewusst, Herr Loske. Sie wollen das Problem der Endlagerung bewusst nicht lösen,
um den Menschen draußen sagen zu können: Dieses
Zeug ist deshalb so gefährlich, weil wir nicht wissen,
wohin damit; wir haben ja keine Endlagermöglichkeit.
Damit diese Frage offen bleibt, kommen Sie jetzt auf die
verrückte Idee, oberirdische Zwischenlager in Deutschland einzurichten. Verteilt über das gesamte Bundesgebiet wird nun der hochradioaktive Müll in Zwischenlagern oberirdisch gelagert.
({9})
Das wollen Sie nicht einmal für nur kurze Zeit, sondern
zumindest für 40 bis 50 Jahre tun.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht ernsthaft Ihre Politik sein, den Ausbau von Gorleben zu verhindern und die Fertigstellung von Schacht Konrad zu
hintertreiben, gleichzeitig aber den atomaren Müll im
gesamten Bundesgebiet oberirdisch zu verteilen. Diese
Politik glaubt Ihnen doch kein Mensch; das nimmt Ihnen
niemand ab.
({10})
Mit diesem Anti-Atom-Thema lassen sich die Menschen in Deutschland nicht für dumm verkaufen. Ich
weiß zwar, dass dies Ihr letzter verzweifelter Versuch ist,
doch noch irgendein Thema zu finden, um die Menschen
in diesem Lande zu verunsichern, zumal wir zurzeit kein
aktuelles Kriegsthema haben. Aber die Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land - ({11})
- Nein, das ist doch keine Hetze. Wissen Sie, was Hetze
ist? Wenn man den Menschen erklärt, dass die Wälder in
der Ukraine verseucht seien und wir keine vergleichbar
verseuchten Wälder in der Bundesrepublik Deutschland
haben wollten. Das ist Hetze, meine Damen und Herren;
dieser Vergleich ist hochgradig unseriös.
({12})
Deswegen sage ich Ihnen: Hören wir mit dieser Politik der Emotionalisierung auf und kommen wir gerade in
der Energiepolitik wieder zu etwas mehr Vernunft zurück. Die Vernunft sagt uns doch, dass die Vereinbarung,
die Sie mit der deutschen Energiewirtschaft geschlossen
haben, angesichts veränderter Rahmenbedingungen fortgeschrieben werden muss. Nichts anderes diskutiert die
Union. Es geht um die Fortschreibung dieses Vertragswerks aufgrund veränderter Bedingungen. Nicht wir haben die Laufzeiten von Kernkraftwerken bis 2021 festgeschrieben; es war Rot-Grün. Deswegen sollten Sie
sich überlegen, was Sie vertraglich vereinbart haben, bevor Sie hier von Teufelszeug sprechen. Ihre Position ist
nicht schlüssig und deswegen nimmt Ihnen diese Position draußen auch niemand ab.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU! Eines vorweg: Wer selbst mitten im Wahlkampf
steht - dies ist offensichtlich -, sollte anderen nicht vorwerfen, dass sie auch Wahlkampf machen. Am besten
wäre es, wenn wir klarstellten, dass wir in den nächsten
Monaten Wahlkampf führen werden und daher in vielen
verschiedenen Bereichen über unterschiedliche Konzepte streiten werden.
Heute streiten wir über unterschiedliche Konzepte
beim Umgang mit der Atomenergie: wie man anders
Energie erzeugt und dabei die Energieversorgung in
Deutschland sichert. Das ist die Grundfrage.
({0})
- Wir reden über Sellafield als Beispiel, genau. Sellafield liegt in der Tat nicht in Deutschland; das ist offenkundig.
Niemand hat hier heute behauptet, eine solche Anlage
wäre in Deutschland möglich. Es geht aber nicht nur darum, dass es diese Anlage bei uns nicht gibt, sondern
auch darum, dass bei uns andere Standards gelten und
wir ein anderes Rechtssystem haben. Trotzdem ist es
nicht so einfach, wie Sie es sich machen. Sie sagen, wir
hätten damit nichts zu tun, bei uns sei alles in Ordnung.
Man muss doch klar und deutlich sagen, dass die deutsche Atomwirtschaft bis zum heutigen Tage auch davon
gelebt hat, dass es Wiederaufarbeitungsanlagen wie in
Sellafield mit genau diesen miesen Standards gibt.
({1})
Über 800 Tonnen radioaktives Material aus deutschen
Atomkraftwerken sind dort verarbeitet worden. Dies,
meine Damen und Herren, haben wir in diesem Monat
beendet. Tun Sie nun nicht so, als hätten Sie nicht immer
genau dies bekämpft. Sie waren nämlich nicht nur für
die Fortsetzung der Atomenergie, sondern auch für die
Fortsetzung der Wiederaufarbeitung. Das heißt, Sie
wollten in vollem Bewusstsein der Zustände in La
Hague und in Sellafield weitermachen. An dieser Stelle
besteht zwischen uns der Unterschied.
({2})
In der heutigen Debatte hat die Frage der Sicherheit
eine große Rolle gespielt. Mich hat gewundert, dass gerade im Zusammenhang mit der Atomtechnologie in
Deutschland die Frage der Sicherheit neu gedacht
wurde, übrigens auch bei denen, die für Atomenergie
sind. Man hat nämlich gesagt, bei dieser Technologie
könne niemand perfekte Sicherheit garantieren. Man
könne allenfalls die Sicherheitsstandards erhöhen und
doppelte, dreifache und vierfache Sicherheit einbauen,
gleichwohl bleibe immer ein Restrisiko. Man spricht
eben nicht mehr einfach von Sicherheit oder Unsicherheit, sondern von Risiko und Risikominimierung.
Sie haben heute in all Ihren Beiträgen dargelegt, dass
Sie diese Debatte offenkundig verdrängen möchten. Sie
verdrängen, dass, obwohl man die Atomtechnologie immer weiter verbessern und immer sicherer machen kann,
am Schluss ein großes Risiko bleibt. Dieses große Risiko
hat sich in zahlreichen Unfällen, in zahlreichen kleineren
und größeren Katastrophen niedergeschlagen. Wenn ich
mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich Ihnen einmal vorgetragen, welche größeren atomaren Zwischenfälle und Unfälle nahezu alle zwei Jahre allein in Sellafield passiert
sind und wie oft Menschen verstrahlt wurden. Inzwischen ist das gesamte Umfeld verstrahlt. Die Irische See
ist verstrahlt. Die Tiere in dieser Region sind - das ist
aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen
nachweisbar - hochgradig verstrahlt. Die Leukämierate
bei Kindern in dieser Region ist nachweislich mindestens doppelt so hoch wie im Rest Großbritanniens. Es ist
nachgewiesen, dass je höher die Kontamination der Väter ist, desto höher das Risiko ihrer Kinder ist.
All das ist inzwischen Stand der Wissenschaft und ist
für uns eine Begründung dafür, dass wir sagen: Diese
Art der atomaren Wiederaufarbeitung muss beendet werden. Die Deutschen können nicht auf ein solches System
setzen.
({3})
Nun ist gesagt worden, Sellafield sei ein ganz anderes
System. Trotzdem gibt es in den verschiedenen Systemen gleiche Elemente mit ähnlichen Risiken. Sie haben
- ob aus Kreisen der CDU/CSU, aus der baden-württembergischen Landesregierung oder aus der FDP - in den
letzten Tagen vorgeschlagen, die deutschen Kraftwerke,
die sehr sicher seien, länger laufen zu lassen. Dabei sollten Sie sich eines bewusst machen - das gilt für das
Auto, für die Waschmaschine und erst recht für
Hochtechnologieanlagen -: Je länger eine Anlage läuft,
je älter sie ist, desto eher gibt es Probleme bei den Materialien. Der Unfall, der in Sellafield geschehen ist, ist auf
die Ermüdung von Materialien zurückzuführen. Man
nimmt also, wenn man Anlagen länger laufen lässt, 30,
40 oder 50 Jahre, das Risiko, das durch Alterung entsteht, bewusst in Kauf.
({4})
Genau deswegen halte ich es für völlig fatal und völlig falsch, dass Sie mit Ihrer Energiepolitik darauf setzen, ausgerechnet die Laufzeit der alten Anlagen zu verlängern. Damit erhöhen Sie das Risiko und tragen ein
Stück weit dazu bei, dass es gerade in Deutschland immer riskanter wird, Atomenergie zu erzeugen.
({5})
Das lehnen wir mit aller Deutlichkeit ab. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer die Laufzeiten von Atomkraftwerken
verlängern will, ist technologisch einfältig und handelt
politisch unverantwortlich. Er treibt ein hochriskantes
Spiel.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Obermeier.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! An der
Rede soeben hat man gemerkt, wie schwer Sie sich tun,
die Argumentationslinie Ihrer politischen Haltung zur
Kernenergie überhaupt noch zu rechtfertigen. Es war einiges Neues dabei: Die Kernenergiewirtschaft in
Deutschland lebt von Sellafield. Das ist mir bislang noch
nicht untergekommen. Bislang habe ich es immer so aufgefasst, dass die Wiederaufarbeitung von abgebrannten
Kernelementen viel zu teuer ist und es besser wäre, Zwischenlager zu bauen und schließlich ein Endlager zu errichten.
Mein Vorredner war wenigstens ehrlich; das muss
man ihm zugestehen. Er hat uns deutlich gesagt, um was
es geht: Es geht um den Wahlkampf und nicht um Sellafield; es geht auch nicht um Sicherheitsphilosophien. Für
uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geht es aber
ausschließlich um die höchstmögliche technische Sicherheit der kerntechnischen Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus.
({0})
Sicherheitsdebatten werden von uns in gar keiner Weise
verdrängt. Wir verdrängen die Sicherheit in kerntechnischen Anlagen in gar keiner Weise.
({1})
Es ist im Gegenteil so, dass wir die internationale Forschung und Entwicklung kerntechnischer Anlagen in
puncto Sicherheit deutlich beschleunigen wollen.
Es ist völlig unstrittig, dass wir die Vorfälle in Sellafield aufs Schärfste verurteilen. Es ist mehrfach gesagt
worden, dass es in Sellafield viele Störfälle gegeben hat.
Ich möchte daher den verantwortlichen Minister dieser
Bundesregierung fragen, was er in den zurückliegenden
sieben Jahren in Europa bezüglich der Sicherheitsstandards in Sellafield getan hat.
({2})
Er hat nichts getan. Gleichzeitig werden die Vorfälle
hier angeprangert.
({3})
Sie haben Alterungsschäden von alten Anlagen bewusst in Kauf genommen. Wer mit technischen Dingen
einigermaßen vertraut ist, weiß ganz genau, wie lange
technische Anlagen sowie Rohre und Ähnliches halten
und wann sie ausgetauscht werden müssen.
Hier wird häufig dargelegt, wir seien für eine Verlängerung der Laufzeiten. Dazu sage ich: Ja, nach meiner
Auffassung ist das vertretbar. Es gibt jedoch einen
Orientierungsmaßstab, und zwar die Sicherheit der kerntechnischen Anlage. Es kommt nicht wie bei Rot-Grün
auf irgendwelche ideologischen Punkte an, sondern darauf, ob es sicherheitstechnisch verantwortbar ist, Laufzeiten von technischen Anlagen zu verlängern oder
nicht. Das ist das einzige Kriterium, über das wir mit Ihnen debattieren und das wir auch nach außen tragen werden.
({4})
Sie haben mit Ihrer Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur die drei E, sondern auch ein
großes A herbeigeführt. Dieses große A steht für Arbeitslosigkeit.
({5})
Wer vor wenigen Tagen beim Wirtschaftsverband Eisen,
Blech und Metall verarbeitende Industrie war, konnte an
allen Ecken und Enden von den Unternehmern hören,
was sie tun werden, wenn nicht bald eine Umkehr in der
Energiepolitik stattfindet. Ich weiß, dass eine ganze
Reihe von Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion
und der Grünen-Fraktion da waren. Auch Sie haben das
alles vernommen. Sie aber nehmen das hin und debattieren nicht die Frage: Wo kommen wir in der Bundesrepublik Deutschland hin, wenn die Energiepreise,
sprich Strompreise, auf dem derzeitigen Niveau bleiben?
Dieses Niveau haben Sie durch eine völlig verfehlte
Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland zu
verantworten.
({6})
Also wird es höchste Zeit, dass in der Energiepolitik in
der Bundesrepublik Deutschland wieder Vernunft und
Fakten zählen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Müller.
Meine Damen und Herren! Der Tatbestand ist klar:
Über neun Monate lang sind mehr als 83 000 Liter hoch
radioaktive Flüssigkeit durch ein Leck in einen nicht genehmigten Tank gelaufen und haben die Umwelt verseucht. Interessant ist, dass dies in einem neueren Teil
der Anlage passiert ist, einem Teil, der in den 90er-Jahren gebaut wurde. Dort wurden - so der Bericht - bereits
Ermüdungserscheinungen festgestellt.
Sie können deshalb nicht einfach sagen: Na gut,
Deutschland ist das Hightechland und der Rest der Welt
Entwicklungsland. Wir reden hier aber über Großbritannien.
({0})
Über was reden Sie eigentlich, wenn selbst in Großbritannien solche Dinge wie Ermüdungserscheinungen
derartig gravierende Auswirkungen haben? Da kann
man doch nicht so tun, als handele es sich um ein Zufallsereignis.
({1})
Man muss intensiv darüber nachdenken, welche Konsequenzen man generell daraus zieht.
({2})
- Ich nehme nur Ihre Worte wahr. Sie haben gesagt: In
dem Hochsicherheitsland Bundesrepublik passiert so etwas nicht. Das heißt doch im Umkehrschluss: Alle anderen Länder sind nicht hochsicher. Sagen Sie das doch
bitte einmal den Briten, Amerikanern und allen anderen.
Was ist das denn für eine Argumentation!
({3})
Versuchen wir, über die technischen Probleme der
Atomkraft zu reden. Das ist auch ein deutsches Problem.
Sie wissen genau, dass bis zum Atomausstieg der Entsorgungsnachweis in Deutschland unter anderem an
Sellafield gekoppelt war. Sie können doch nicht so tun,
als ob es da keinen Zusammenhang gäbe. Das wissen Sie
doch ganz genau.
({4})
Sie tun so, als sei das weltfremd, Sellafield zu kritisieren. Das ist überhaupt nicht weltfremd, sondern ein Teil
des Atomverbundes, weswegen es auch die Bundesrepublik berührt hat, was in Sellafield passiert ist.
({5})
Die erste Forderung ist klar: Wir brauchen mehr
Transparenz und mehr Informationen. Auch will ich sagen: Wir haben kein Verständnis dafür, dass die britische
Regierung diesen Unfall unter Wahlkampfgesichtspunkten nicht veröffentlicht hat. Weil man in Großbritannien
einen Wiedereinstieg in die Atomenergie will, hat man
ihn geheim gehalten. Das ist unverantwortlich und das
muss man kritisieren. Es gibt keine Begründung dafür,
einen solchen Unfall nicht zu veröffentlichen.
Michael Müller ({6})
({7})
Zweitens. Die irische Regierung hat Recht, wenn sie
sagt, dass die Atomanlage Sellafield geschlossen werden
muss; denn dort kam es immer wieder zu Unfällen und
gefährlichen Verstrahlungen. Das kann man ganz einfach aufzeigen. Bevor ich dies tue, will ich noch darauf
hinweisen, dass die Kritik keine spezifisch deutsche Position ist, die wir nur aus Wahlkampfgründen vertreten.
In Großbritannien kam es zu einer Verurteilung der Betreiber wegen Geheimhaltungspolitik. Sie sind verklagt
worden und mussten hohe Geldstrafen zahlen. Auch die
EU-Behörde klagt gegen sie. Es ist nachweisbar, dass
mehrfach Daten über die Anlage gefälscht wurden.
Wie sieht die traurige Bilanz der 1951 in Betrieb gegangenen Anlage aus? 1955 gab es dort 250 hochgradig
verstrahlte Arbeiter; deshalb, Herr Lippold, ist meine
Aussage richtig, dass es dort auch Tote und hochgradig
Verseuchte gegeben hat. 1957 kam es dort zum bis
Tschernobyl schwersten Atomunfall mit offiziell 33 Toten und 200 durch Schilddrüsenkrebs hervorgerufenen
„Langzeittoten“. 1973 wurden 35 Arbeitnehmer sehr
schwer verseucht. 1976 wurde ein Loch für atomare Abwässer entdeckt, das mehrere Jahre lang nicht abgedeckt
worden war. 1986 wurden 250 Kilogramm Uran irrtümlich ins Meer geleitet. 1993 wurde die Anlage aufgrund
hochgradiger Verseuchung evakuiert. 2004 kamen
29,6 Kilogramm Plutonium abhanden; das reicht für den
Bau von sieben Atombomben.
({8})
Hinzu kommt der jetzige Vorfall.
Es ist bekannt, dass jeden Tag unheimlich große Mengen radioaktiven Abwassers abgeleitet werden. Die Bodenproben weisen Verseuchungen aus, die weit über den
Grenzwerten liegen. Und der Anteil der Kinder, die an
Blutkrebs erkranken, ist zehnmal höher als im Rest
Großbritanniens. Das sind gravierende Vorfälle, über die
man reden muss. Darüber hinaus kann man sehr rational
begründen, warum man gegen eine bestimmte Technologie ist. Man kann nicht so tun, als gebe es diese Fakten
nicht oder als sei das Land, in dem diese Fakten passiert
sind, ein Entwicklungsland.
({9})
Meine Damen und Herren, wir kommen nicht an der
grundlegenden Auseinandersetzung vorbei, ob wir zu einer anderen Energiepolitik, die sicherer, umweltverträglicher und effizienter wäre, übergehen wollen oder nicht.
Zukünftig müssen wir eine Energiepolitik betreiben, die
vor allem auf die Vermeidung von Energieeinsätzen
setzt.
({10})
Das ist der Punkt, den Sie nicht wahrhaben wollen; denn
Sie glauben, dieses Grundproblem durch die Frage der
Energieträger lösen zu können. Aber das ist eine Illusion.
Allen Untersuchungen zufolge wissen wir - es sei
denn, Sie wollen den Weg in die Plutoniumswirtschaft
gehen -, dass wir beim Uran in kürzer Zeit große Ressourcenprobleme bekommen werden; denn Uran ist
knapp. Das ist bekannt. Sie können nicht so tun, als sei
dem nicht so. Wenn die Ausbaupläne, die heute bekannt
sind, verwirklicht werden, stellt sich in 20 Jahren die
Frage, ob wir generell in Richtung einer Plutoniumswirtschaft oder ob wir einen anderen Weg gehen wollen. Wir
wollen lieber heute, da es noch möglich ist, einen anderen Weg einschlagen.
({11})
Das wäre richtig; denn dann wären wir Vorreiter einer
effizienten, solaren Zukunft. Dabei geht es nicht nur um
Windmühlen. Das Thema Windkraft gehört zwar dazu,
aber es geht vor allem um das Bündnis von Effizienz und
erneuerbaren Energien. Das ist der Weg, den wir in Zukunft gehen wollen. Da sehen Sie hübsch alt aus.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Wenn
man die Debatte über die Geschichte von Sellafield bis
zum jetzigen Zeitpunkt verfolgt und insbesondere das
zur Kenntnis genommen hat, was Herr Müller, aber auch
andere vorgetragen haben, stellt sich eine einfache
Frage: Was hat eigentlich die Regierung Schmidt dazu
bewogen, die Wiederaufbereitungsverträge in Sellafield
völkerrechtlich abzusegnen?
({0})
- Entschuldigen Sie, Frau Mehl, Sie erzählen hier eine
Geschichte über Jahrzehnte von Atomunfällen, lassen jedoch aus, dass eine von Ihrer Partei geführte Bundesregierung die Wiederaufbereitungsverträge mit England
und Frankreich völkerrechtlich abgesegnet hat.
({1})
Also gibt es in diesem Lande sozialdemokratische Verantwortung für das, was Sie hier als großes Problem vortragen.
Zweitens. Sie haben hier Zeitabläufe geschildert:
Neun Monate ist das alles schon bekannt. Warum dann
heute eine Aktuelle Stunde? - Ich komme darauf zurück. - Die Frage, die sich daraus ergibt, ist doch nicht
an die Opposition zu richten, sondern es muss doch die
Frage der Opposition und dieses Parlaments sein: Was
hat der Bundeskanzler, was hat der Außenminister, was
hat der Umweltminister beim Genossen Blair in London
veranlasst, damit das, worüber wir hier heute diskutieren
- die Vorgänge in Sellafield -, aufgeklärt wird, und zwar
so, wie Sie es hier heute darstellen?
({2})
- Gar nichts haben Sie gemacht, meine Damen und Herren; das ist der Punkt.
({3})
- Ich habe sehr gut zugehört.
({4})
- Bei Ihnen braucht man manchmal nicht mehr zuzuhören, Herr Kubatschka.
Drittens. Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel
beweisen: Sie reden hier über Schweden. Barsebäck ist
doch ein wunderbares Beispiel. Reden Sie doch einmal
darüber, was in Schweden tatsächlich passiert: In
Schweden wird die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängert, weil die Schweden keine Antwort auf die Klimafrage haben. Der durch Volksabstimmung eingeleitete
Ausstieg aus der Kernenergie hat bis heute nicht stattgefunden. Schweden taugt nicht als Beispiel für die deutsche Diskussion. Sie waren es, die am Anfang ihrer
Regierungszeit 1998 gesagt haben: Europa steigt mit uns
aus. Das können Sie nicht beweisen. Viele der Länder,
die selbst keine Kernkraftwerke betreiben, importieren
Strom aus Kernenergie, beispielsweise die Österreicher,
die Italiener und die Dänen. Deswegen ist diese Darstellung eine statistische Verfälschung der realen Stromwanderungen und -lieferungen in Europa.
({5})
Ich will auf die Zeitabläufe eingehen - das hat der
Kollege Paziorek mit seinen Ausführungen zu Frau
Höhn eigentlich sehr deutlich gemacht -: Sie haben dieses Thema in der Sitzung im Mai, als Herr Trittin seine
Presseerklärung abgegeben hat, nicht als Aktuelle
Stunde auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt,
sondern erst nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl. Vor
der Nordrhein-Westfalen-Wahl hätten Sie nämlich bei
der Darstellung, die Sie heute wählen, erklären müssen,
warum die Transporte nach Ahaus und nach Sellafield
stattfinden. Diesen Widerspruch hätten Sie nicht auflösen können. Es ist geradezu klassisch und typisch, dass
Frau Höhn - kaum aus der Regierungsverantwortung wieder auf die Straße geht und da weitermacht, wo sie
vor der Regierungsverantwortung aufgehört hat. In der
Zwischenzeit haben von Sozialdemokraten und Grünen
geführte Landesregierungen und die Bundesregierung
die Transporte stattfinden lassen und die Zwischenlager
gebaut, die sie vor dem Regierungswechsel 1998 als unverantwortlich abgelehnt haben.
({6})
Das Zwischenlager in Gorleben, das Frau Griefahn
als Blechhütte und bessere Tennishalle kritisiert hat,
wurde mittlerweile in Deutschland 13-mal nachgebaut,
und zwar unter Ihrer Verantwortung. Deswegen lasse ich
mich von Ihnen, deswegen lassen wir uns von Ihnen in
der Frage der Verantwortbarkeit, der Beachtung des
höchsten Sicherheitsstandards, der möglich ist, um diese
Dinge beherrschbar zur machen, nicht in die Ecke der
unmoralischen und ethisch nicht verantwortbaren Politik
drängen. Sie sind diejenigen, die das fortgesetzt haben,
was Sie vorher als unverantwortlich kritisiert haben. Am
Ende Ihrer Zeit haben Sie keine - ({7})
- Herr Müller, mit Ihnen halte ich in der Logik immer
noch mit.
({8})
- Das schaffe ich locker. Wissen Sie, zu Ihren Ausführungen über Energieeffizienz sage ich: Das ist der
schlechteste Teil Ihrer Bilanz, Energieeffizienz ist in diesen sieben Jahren in Deutschland wirklich nicht vorangetrieben worden.
({9})
Herr Loske, weil auch Sie hier so trefflich argumentiert haben, sage ich Ihnen am Schluss eines: Wir werden
mit der Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke
trotzdem nicht die Frage beantworten, wie der Restbedarf von etwa 20 000, 30 000 Megawatt neuer Kraftwerkskapazität - etwa 300 000 Megawatt in Europa überhaupt vernünftig gestillt werden kann. Sie haben bis
heute kein Programm vorgelegt. Sie hinterlassen nach
sieben Jahren einen Einstieg in ausschließlich eine Richtung, ohne die Kernfrage - den CO2-freien Ausstieg aus
der Kernenergie - überhaupt beantwortet zu haben.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit. Letzter
Satz.
Ich komme jetzt gerade zum Schluss. - Der Vorgänger von Herrn Clement, Herr Müller, hat in seinem Gutachten dargestellt, dass der CO2-freie Ausstieg aus der
Kernenergie 250 Milliarden Euro kostet.
({0})
Die Fragen, die damit verbunden sind, sind am Ende Ihrer Regierungszeit nicht beantwortet. Das ist das
schwere Erbe, das wir übernehmen müssen.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Monika Griefahn.
Schauen wir es uns an: Ohne den Unfall sind dort in
der letzten Zeit 29,6 Kilogramm Plutonium verloren gegangen. Das ist genug für den Bau von sieben Atombomben. Dies geschah in einer Zeit, in der weltweit - auch in
Deutschland - in den Zeitschriften über die Renaissance
der Atomenergie diskutiert wurde.
Die Auguren aus der Wirtschaft und der CDU sagen,
alles sei sicher, obwohl in Sellafield in den Jahrzehnten
des Bestehens so viel passiert ist, dass 75 Prozent der radioaktiven Belastung der Irischen See von dieser Anlage
hervorgerufen werden. Das prangern nicht nur Umweltorganisationen, sondern auch die irische Regierung an.
Zu Recht wird die Schließung seit Jahrzehnten - nicht
erst seit heute - immer wieder deutlich gefordert.
Die EU-Kommission hat Großbritannien im September 2004 vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt,
gegen den Euratom-Vertrag zu verstoßen, weil wegen einer zu hohen Radioaktivität und schlechter Sichtverhältnisse im laufenden Betrieb keine Kontrollen in der Anlage möglich sind. Ich weiß nicht, wie man trotzdem
davon reden kann, dass eine scheinbar relativ neue Technik, die scheinbar mit technisch viel höherwertigen Materialien gebaut wurde, fehlerfreundlich ist. Man sagt, in
allen anderen Anlagen könne das nicht passieren. Das
erscheint mir einfach unlogisch. Diese Technik ist nicht
fehlerfreundlich;
({0})
denn man kann überall immer mit Dingen konfrontiert
werden, die man nicht vorausgesehen hat. Das gilt für
neue Materialien, eine neue Technik und eine neue Anlage gleichermaßen.
Schauen Sie es sich an: Die gefährlichsten Gammastrahler werden immer noch legal staatlich genehmigt.
Plutonium- und Technetiumpartikel - das sind Alphastrahler - gelangen ins Meer. Diese führen nicht nur
dazu, dass die Krebshäufigkeit in der Umgebung, in
Cumbria, angestiegen ist, sondern auch dazu, dass radioaktive Staubpartikel bei britischen Kleinkindern in Gesamtgroßbritannien nachgewiesen werden, die aufgrund
der Art der Partikel nur aus der Anlage in Sellafield
stammen können. Ich weiß einfach nicht, wie irgendjemand dazu kommen kann, zu sagen, dass man das beherrschen kann.
({1})
Wiederaufbereitung produziert eben neuen Müll.
Wenn man bedenkt, dass die Anlage in Sellafield ursprünglich für die Wiederaufbereitung gedacht war
- Plutonium sollte für schnelle Brüter und für Atomwaffen produziert werden -, dann wird klar, dass die Konstruktion bzw. die Idee der Anlage als solche schon dazu
ausgerichtet war, Unsinn zu produzieren.
Überlegen Sie einmal: Eine Mitbetreiberin der Anlage, die Firma Westinghaus, die übrigens auch eine
Zweigstelle in Deutschland hat, versucht, weltweit neue
Atomkraftwerke zu bauen. Ich kann nur sagen: Kann ich
wirklich Vertrauen in die Firma Westinghaus haben,
wenn sie diese Anlage noch nicht einmal nach mehreren
Anläufen in den Griff bekommen kann?
({2})
Wie gesagt: Das ist eine neue Technik.
Durch den Atomkonsens haben wir erstens die Abkopplung erreicht, sodass die Wiederaufbereitung nicht
mehr als Entsorgungsnachweis dient. Zweitens haben
wir erreicht, dass auch die Transporte zur Wiederaufbereitung gestoppt werden. Herr Grill, Sie haben gerade
gesagt, dass wir da nichts getan haben. Natürlich haben
wir etwas getan. Der Transport nach Sellafield ist abgesagt worden. Ab 1. Juli 2005 werden wir überhaupt
keine Transporte mehr haben.
({3})
Das ist das Entscheidende.
Ein Weiteres: Man spricht immer von der Wirtschaftlichkeit. Ein Großteil der Kosten der Sanierungen und
Reparaturen in Milliardenhöhe zahlt nicht der Betreiber,
sondern der Steuerzahler. Wenn wir das Gesetz so hinbekommen hätten, wie wir das gewünscht haben, dass
Atombetreiber nämlich unbegrenzt haften müssen, dann
würde weltweit niemand eine neue Anlage bauen. Jetzt
ist es so: Bei allem, was mit der Atomenergie zusammenhängt, zahlt im Zweifelsfalle immer der Steuerzahler. Er hat für die Subventionen zum Bau der jetzt bestehenden Anlagen gezahlt und wenn weiter betrieben
wird, haften die Betreiber auch nur mit einer begrenzten
Marge, wenn irgendein Schaden eintritt. Wenn man
schon nicht gesundheitliche oder andere Gründe ins Feld
führen will, sollte man schon allein aus diesem Grund
die Anlagen abschalten, um so die Gefahr zu reduzieren.
Herr Grill, Sie haben angeführt, dass die Zwischenlager nun bald an den Atomkraftwerken stehen werden.
Selbst wenn man die Atomkraftwerke jetzt abschaltet,
müssen sie noch lange überwacht werden. Dann ist es sicherer, ebenfalls dort den abgebrannten Müll so lange zu
bewachen, bis man ein sicheres Endlager gefunden hat.
Was im Salzstock Gorleben eingelagert ist, kann - das
wissen Sie - nicht mehr zurückgeholt werden.
({4})
Das heißt, der Salzstock Gorleben ist aufgrund der Tatsache, dass Brennelemente eingeschmolzen werden
müssen, nicht geeignet.
({5})
Zwischenlager heißt, dass dort etwas nur zwischengelagert wird. Man sucht weiterhin nach der besten Möglichkeit einer Endlagerung. Diese Suche nach einem Endlager - Sie kennen das Gutachten - haben wir
vorbereitet. Es geht darum, die beste Lösung zu finden.
Wir können es nicht in Gorleben einlagern, weil wir die
Brennelemente dort nie wieder herausbekommen. Das
ist der entscheidende Punkt.
({6})
Wie Sie gesagt haben, sind auch Arbeitsplätze ein
wichtiger Aspekt. In der Branche der regenerativen
Energien sind inzwischen 140 000 Arbeitsplätze entstanden.
({7})
Beim Export dieser Technologien sind wir Weltmarktführer. Selbst ein großer Energiekonzern wie zum Beispiel RWE hat erklärt, dass man sich ein virtuelles Kraftwerk vorstellen kann, bei dem Solarenergie und ähnliche
Energieformen zusammengeschaltet werden und die
Energie dorthin geschickt wird, wo sie gebraucht wird.
Das ist die Zukunftsperspektive. Solche neuen Technologien bieten uns neue Möglichkeiten, nicht aber große
Anlagen, die zentral errichtet werden und deren Strom
man überallhin transportieren muss.
Die Gebiete, bei denen überlegt wird, dort neue
Atomkraftwerke zu bauen, sind politisch unsicher. Wenn
sie nicht politisch unsicher sind, dann sind es vielleicht
geographisch unsichere Gebiete. In Japan zum Beispiel
gibt es fast jeden Tag irgendwo ein Erdbeben.
({8})
Vor diesem Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen,
dass Sie im Ernst glauben, diese Technologie könne fehlerfrei genutzt werden.
({9})
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Lassen Sie uns gemeinsam für eine zukunftsfähige
Energieversorgung arbeiten. Dabei beziehe ich mich auf
die drei E: Energieeinsparung, erneuerbare Energien und
Energieeffizienz. Wir müssen diejenigen belohnen, die
wirklich etwas dafür tun und sich dafür eingesetzt haben.
Das heißt, wir müssen die Industriezweige unterstützen,
die Solarenergietechnologien und Ähnliches entwickeln.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Grill - wie ich sehe, ist er schon
gegangen; das ist schade - hat Exbundeskanzler Schmidt
vorgeworfen, es sei ein Fehler gewesen, dass er die
Atomenergie befürwortet hat. Es ist schon kurios, wenn
einem die Union einen Fehler vorwirft, den sie selber
noch heute begeht. Schon 1984 hat sich die SPD auf ihrem Essener Parteitag von der Atomenergie verabschiedet und diesen Fehler eingestanden. Sie dagegen stehen
noch heute hinter der Atomenergie, obwohl Ihnen der
Unfall von Tschernobyl und andere Unfälle längst gezeigt haben müssten, wie gefährlich diese Technologie
ist. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und der SPD.
Wir müssen das historisch betrachten.
({0})
Es war gut, dass die rot-grüne Bundesregierung und
die Mehrheit dieses Parlamentes den Ausstieg aus der
Atomenergie beschlossen haben. Ansonsten hätten wir
noch viel schwierigere Probleme mit größeren Mengen
Atommüll, als wir sie schon heute haben. Es war zum
Beispiel gut, dass in den 80er-Jahren die Anti-Atom-Bewegung die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf
in Bayern verhindert hat, und zwar gegen Polizeistaatsmethoden einer CSU-Regierung.
({1})
Ich selbst war bei diesen Protesten dabei und habe erlebt,
wie die Menschen niedergeknüppelt wurden. Wo wären
wir ohne diese Bewegung heute? Wir hätten sonst in Wackersdorf die Probleme - die britischen Ingenieure sind
mit Sicherheit nicht viel schlechter als die deutschen Ingenieure -, die heute in Sellafield auftreten. Das sollten
Sie sich deutlich vor Augen führen. Es ist gut, dass wir
den Ausstieg aus der Atomenergie und aus der Wiederaufbereitung beschlossen haben.
Was überhaupt ist denn Wiederaufbereitung? Mit diesem beschönigenden Namen soll angedeutet werden,
dass es bei Brennstoffen atomarer Art angeblich einen
Kreislauf gibt. Wenn wir genau hinschauen, dann sehen
wir, dass aus jeder Wiederaufbereitungsanlage mehr
Atommüll herauskommt, als an Brennstoffen hineingegangen ist. Ein besserer Begriff für Wiederaufbereitung
wäre eigentlich Atommüllvermehrungsanlage
({2})
oder auch Giftchemieanlage. Was liegt denn in dieser
Wanne? 83 Kubikmeter hoch konzentrierte Salpetersäure, gemixt mit Plutonium und Uran. Ein Millionstel
Gramm Plutonium reicht aus, um einen Menschen zu töten. Das ist der giftigste Stoff dieser Welt. Allein die
Menge Plutonium und Uran in dieser Wanne in Sellafield - Gott sei Dank im verbunkerten Bereich, aber dennoch relativ ungesichert - reicht aus, um die gesamte
Menschheit zu vergiften.
({3})
Man muss sich vorstellen, worüber man hier redet. Es ist
keine Kleinigkeit, von der wir bei diesem Unfall sprechen. Sie reden ihn klein und sagen, nur weil in Großbritannien schlechte Techniker seien, sei das ein Problem.
Nein, es ist an sich ein Problem, mit der Plutoniumwirtschaft weiterzumachen.
({4})
Nehmen wir die Kosten.
({5})
Der britische Betreiber der Anlage von Sellafield, der
wegen der Kosten - zum Glück - verstaatlicht wurde,
British Nuclear Fuels, hatte 40 Milliarden Pfund Sterling
an Schulden aufgehäuft und wurde dann verstaatlicht.
Der britische Staat hat ihn übernommen. Das, was in den
letzten Monaten in Sellafield gelaufen ist, war überhaupt
nicht finanzierbar. Niemand weiß, was das noch kosten
wird.
Schauen wir uns doch ein Beispiel in unserem eigenen Land an. Wir haben doch auch eine Wiederaufbereitungsanlage in Deutschland, nämlich die Forschungsanlage Wiederaufbereitung im Forschungszentrum
Karlsruhe. An ihr merken wir schon, wie die Altlasten
dieser Technologie, die Sie zu verantworten haben, heute
große Kosten verursachen, obwohl das nur eine kleine
Forschungsanlage ist. Riesenhuber hatte den Vertrag Anfang der 90er-Jahre gemacht. 1 Milliarde Euro sollte der
Abbau kosten. So hat er es mit den Betreibern vereinbart, die riesige Gewinne machen im Gegensatz zum
Staat, der hoch verschuldet ist, jetzt aber die Kosten
übernehmen muss. Er hat gesagt, 1 Milliarde Euro übernähmen die Betreiber, den Rest der Staat.
({6})
- Nein, ich habe es in Euro umgerechnet. Natürlich waren es damals D-Mark.
Heute kostet der Abbau der Wiederaufbereitungsanlage bereits 2 Milliarden Euro. Das spüren wir schon im
Bundeshaushalt. 160 Millionen Euro müssen wir aktuell
im Etat des Bildungs- und Forschungsministeriums für
den Abbau von nuklearen Forschungseinrichtungen ausgeben; der Löwenanteil geht an die Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe. Das bindet Mittel, die wir für
Zukunftsprojekte ausgeben wollen, etwa für erneuerbare
Energien, insbesondere für deren Markteinführung.
Übrigens, schminken Sie sich einmal ab, dass es eine
Renaissance der Atomenergie geben könne und dass die
Atomenergie eine bedeutende Energiequelle sei.
Schauen Sie sich einmal die neuesten Zahlen an, die vor
wenigen Tagen von der Internationalen Energieagentur
veröffentlicht wurden. Da heißt es, 20 Prozent des weltweiten Energiebedarfs würden bereits von erneuerbaren
Energien gedeckt,
({7})
77 Prozent von den klimaschädlichen fossilen Energieträgern und lächerliche 3,3 Prozent von der Atomenergie. Das soll Klimaschutz sein? Wenn Sie wirklich
Klimaschutz betreiben wollen, dann müssen Sie endlich
in die erneuerbaren Energien einsteigen und Ihre Blockade beenden. Sie müssen aufhören mit Ihren Kampagnen gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz und gegen
die Forschungsförderung bei erneuerbaren Energien und
mit vielem anderen mehr. Das ist die Zukunft, der Sie
sich mit dem Beharren auf der Atomenergie verweigern.
Sellafield hat gezeigt, dass dies ein kolossaler Irrweg ist.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes
- Drucksache 15/5410 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Justizminister des Landes Hessen, Dr. Christean
Bachmaier.
({1})
- Er heißt Wagner. Ich bitte um Entschuldigung. Das war
auf dem Sprechzettel falsch.
({2})
Dr. Christean Wagner, Staatsminister ({3}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie ich gerade bemerkt habe, war das ein Versehen Ihrer Mitarbeiter, Frau Präsidentin. Deshalb habe ich
keine Probleme damit, dass Sie zunächst meinen Namen
nicht richtig genannt haben. Ein alter juristischer Grundsatz - schließlich spricht hier der hessische Justizminister - lautet: Falsa demonstratio non nocet.
({4})
Das Bundesland Hessen hat im Juli 2004 eine Gesetzesinitiative zur strafrechtlichen Verfolgung von schweren Belästigungen - im bisherigen Sprachgebrauch Stalking genannt - gestartet. Ich freue mich, dass diese
Initiative im Bundesrat von Erfolg gekrönt war, und ich
freue mich sehr darüber, dass wir heute im Deutschen
Bundestag die erste Beratung dieser Gesetzesinitiative
durchführen können.
Wir alle - das ist mein ernster Appell - sind aufgerufen, Stalkingopfer in Zukunft besser zu schützen. Es ist
deshalb notwendig, einen neuen Straftatbestand im
Strafgesetzbuch zu schaffen, der die Grundlage für ein
frühzeitiges und auch konsequentes Einschreiten der
Strafverfolgungsbehörden bietet.
Staatsminister Dr. Christean Wagner ({5})
Nach der geltenden Rechtslage sind Polizei und
Staatsanwaltschaft selbst bei intensiven Belästigungen
der Opfer oft die Hände gebunden. Die Strafverfolgungsbehörden müssen häufig tatenlos zusehen, weil es
im deutschen Strafrecht bislang keinen eigenen Straftatbestand für das so genannte Stalking gibt. Die Ermittler
können vielfach erst dann einschreiten, wenn es zu einer
Eskalation der Belästigungen - zum Beispiel zu Körperverletzungen - kommt.
Das Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 2002 - das
möchte ich klar und deutlich festhalten - hilft dabei nicht
weiter. Seine Strafdrohung hängt davon ab, dass das Opfer gegen den Täter zunächst eine zivilrechtliche Schutzanordnung erwirkt. Dieser Weg ist zeitraubend, umständlich und für das Opfer auch häufig mit erheblichen
zusätzlichen Belastungen verbunden. Die geltende
Rechtslage ist deshalb nach meiner Einschätzung den
Opfern nicht zumutbar. Die bestehende Gesetzeslücke
muss dringend geschlossen werden.
Hinter dem abstrakten Begriff „Stalking“ verbergen
sich häufig beklemmende Einzelschicksale. Es geht um
erhebliche Belästigungen von Personen durch fortgesetztes Nachstellen und Verfolgen. Nicht selten sehen
sich die Opfer zu einer gravierenden Veränderung ihrer
Lebensumstände gezwungen, um ihren Peinigern zu entgehen. Sie haben Angst und leiden unter Schlaflosigkeit
und Albträumen. Eskalieren die Belästigungen - etwa
nach einer Trennung vom Lebenspartner -, droht den
Opfern nicht selten auch physische Gewalt, die in Extremfällen sogar bis zum Totschlag reichen kann, wie
wir vor einigen Monaten in Bremen sehr leidvoll miterleben mussten.
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs des Bundesrates
steht die neue Bestimmung des § 238 Strafgesetzbuch,
die den Titel „Schwere Belästigung“ trägt. Danach sollen Personen, die andere unbefugt und nachhaltig belästigen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden können. Voraussetzung für die Strafbarkeit
ist, dass die Belästigung geeignet ist, den Betroffenen in
seiner Lebensgestaltung erheblich zu beeinträchtigen.
Die Freiheit der Lebensgestaltung ist das geschützte
Rechtsgut in dem neuen § 238 Strafgesetzbuch. Außerdem - das will ich noch anfügen - soll in qualifizierten
Fällen Untersuchungshaft angeordnet werden können,
um den Teufelskreis der Eskalation zu durchbrechen.
Die Bundesjustizministerin hat sich monatelang geweigert, die schwere Belästigung strafgesetzlich neu zu
regeln. Vor sechs Wochen hat sie aber überraschend angekündigt, einen eigenen Gesetzentwurf für einen Stalking-Straftatbestand vorzulegen. Bei dieser Ankündigung ist es leider bisher geblieben. Die Presseerklärung,
mit der sie es am 15. April angekündigt hat, lässt allerdings einen Gesetzentwurf erwarten, der die Opfer wesentlich schlechter schützt, als es im Vorschlag des Bundesrates vorgesehen ist.
({6})
Die Bundesregierung will nur bestimmte Belästigungen wie beispielsweise das Aufsuchen der räumlichen
Nähe unter Strafe stellen. Auf einen Auffangtatbestand, der alle schwerwiegenden Belästigungshandlungen erfasst, will die Bundesregierung verzichten. Eine
solche Einschränkung würde es den Tätern leicht machen, die Strafandrohung zu umgehen, indem sie nicht
die ausdrücklich im Gesetz geregelten Belästigungsformen wählen. Deshalb sage ich: Wer einen wirkungsvollen Schutz der Opfer vor Stalking will, muss eine offene
Formulierung der Tathandlungen wählen, um auch der
Vielschichtigkeit des Handelns der Täter zu begegnen.
({7})
Dass hierbei auch unbestimmte Rechtsbegriffe Verwendung finden müssen, ist nichts Außergewöhnliches.
Schon jetzt gibt es im geltenden Strafrecht zahlreiche
unbestimmte Rechtsbegriffe, die die Gerichte bei der
Rechtsanwendung konkretisiert haben.
Meine Damen und Herren, bedauerlich ist auch, dass
der Vorschlag der Bundesregierung keinen eigenen Haftgrund für schwere Stalkingfälle vorsieht.
({8})
Diese Lücke ist gefährlich. Sie verhindert, dass Eskalationen rechtzeitig abgebrochen werden. Die Möglichkeit
der Inhaftierung des Täters ist in gravierenden Fällen ein
wichtiger und notwendiger Beitrag zur Deeskalation und
damit zum wirksamen Opferschutz.
({9})
Meine Damen und Herren, das Vorgehen in Sachen
Stalking ist symptomatisch für die Rechtspolitik der rotgrünen Bundesregierung. Die Koalition hat sich in der
Vergangenheit in vielen wichtigen rechtspolitischen Fragen einem rechtzeitigen gesetzgeberischen Handeln verweigert. Zum Stalking - ich sagte es bereits - hat die
Bundesregierung noch bis vor kurzem wiederholt behauptet, die geltende Rechtslage sei nicht verbesserungsbedürftig. Durch die späte Aufgabe ihrer Verweigerungshaltung hat die Bundesregierung wertvolle Zeit auf
dem Weg zu einem wirkungsvollen Schutz vor Stalking
vergeudet.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Die Diskussion über die Strafbarkeit von Stalking verläuft, jedenfalls nach meiner Beobachtung, nach demselben Muster, wie wir es bei den Themen Graffitibekämpfung, Erweiterung der DNA-Analyse und Einführung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung erlebt haben.
({10})
Auch hier hat sich die rot-grüne Koalition lange Zeit geweigert, überhaupt tätig zu werden, und erst nach Jahren
und wiederholten Initiativen des Bundesrates eigene unzureichende Vorschläge vorgelegt. Mit diesem Zickzackkurs sind die berechtigten Interessen der Opfer, wie ich
finde, grob vernachlässigt worden. Ich gebe mich gleichwohl der Hoffnung hin, dass der von mir dargestellte
dringende gesetzgeberische Handlungsbedarf erkannt
und unserer Initiative eine Mehrheit auch im Bundestag,
das heißt bei Ihnen, beschert wird.
Ich will in meinem letzten Satz noch einmal ausdrücklich sagen: Das Gesetz erreicht Abschreckung der
Staatsminister Dr. Christean Wagner ({11})
Täter und bietet damit die Grundlage für einen wirksamen und konsequenten Opferschutz.
({12})
Jetzt hat definitiv der Abgeordnete Hermann
Bachmaier das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
ich es richtig sehe, ist das heute die erste Debatte des
Deutschen Bundestages, in der wir uns mit der Frage der
Notwendigkeit eines neuen Straftatbestandes gegen das
so genannte Stalking befassen. Auch aus den Reihen der
Opposition kam bislang kein Antrag.
Denjenigen, die mit diesem Problem näher vertraut
sind, ist schon seit längerem klar, dass unsere Rechtsordnung auf dieses Phänomen bislang keine hinreichende
Antwort gefunden hat. Ich habe als Anwalt und als Justitiar unserer Fraktion einige Stalkingfälle aus der Sicht
der Betroffenen näher kennen gelernt und weiß deshalb,
was Stalkingopfer ertragen müssen: Telefonterror, tagtägliche distanzlose und zum Teil bedrohliche Briefe,
stundenlanges Auflauern vor der Haustür oder vor der
Arbeitsstelle, ständiges Verfolgen und Abpassen, unerwünschte Ansprache des Opfers, Bedrohungen, Verleumdungen im privaten und beruflichen Umfeld. Es ist
bedrückend, mitzuerleben - da sind wir uns von der
Ausgangslage her einig, Herr Wagner -, wie die Freiheit
und die persönliche Lebensgestaltung der Betroffenen
eingeengt werden, und das praktisch jeden Tag über oft
unabsehbar lange Zeiträume, in vielen Fällen sogar über
Jahre hinweg. Im Übrigen kann es nicht nur Prominente
treffen - das ist ein Irrglaube, der leider noch immer weit
verbreitet ist -, sondern jeden.
Wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker der
SPD-Bundestagsfraktion haben vor einigen Monaten
eine Sachverständigenanhörung zu diesem Gesamtkomplex durchgeführt. In dieser Anhörung wurden uns erschreckende Fälle vorgetragen. So hat uns der Vorsitzende des Ersten Strafsenates des Bundesgerichtshofes
berichtet, dass eine nicht geringe Zahl der beim BGH anhängig gewordenen Fälle schwerster Verbrechen, also
von Mord und Totschlag, mit einem zunächst harmlos
erscheinenden Stalkingverhalten begonnen haben. Diesem Verhalten ist - weil es an einem entsprechenden
Straftatbestand leider bis heute fehlt; auch darüber sind
wir uns einig - oft nur unzureichend begegnet worden.
Reine Bagatellstrafen wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch oder leichter Körperverletzung reichen nicht aus,
um einem Stalker rechtzeitig den kriminellen Gehalt seines Fehlverhaltens vor Augen zu führen. Wir müssen davon ausgehen, dass manche schlimme Gewalttat hätte
verhindert werden können, wenn Polizei und Gerichte
früher die Möglichkeit zu entschlossenem Eingreifen gehabt hätten.
Auf Länderebene hat es zwar vielfältige Versuche gegeben, den Opfern zu helfen und die Hilfsmaßnahmen
zu koordinieren. In Bremen zum Beispiel war der Anlass
für solche Maßnahmen - das ist gerade erwähnt worden - der Mord an einer Frau, die zuvor Stalkingopfer
des Täters geworden war und die sich deshalb mehrmals
erfolglos an die Behörden - diese konnten ihr nicht weiterhelfen - gewandt hatte. Solche Projekte reichen aber
- das hat unsere Anhörung ebenfalls gezeigt - nicht aus.
Vor allem hilft das Gewaltschutzgesetz in diesen Fällen
leider nicht weiter. Ein Vorgehen nach dem Gewaltschutzgesetz birgt für das Opfer viel zu hohe Risiken.
Beschreiten die Betroffenen diesen Weg aber nicht, fehlt
es Polizei und Ordnungsbehörden an einer hinreichenden Rechtsgrundlage. Es ist deshalb mittlerweile unbestritten, dass wir dringend einen eigenständigen
Straftatbestand benötigen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates geht zwar in die
richtige Richtung, unterliegt aber in seiner konkreten
Fassung erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken
vor allem im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot.
Dies hat der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme zum Bundesratsentwurf erschöpfend dargelegt.
Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf des Bundesrates nur eine Beratungsgrundlage. Über ihn werden
wir genauso beraten wie über andere Vorlagen. Ich freue
mich sehr, dass das Bundesjustizministerium mit seinem
Referentenentwurf auf einem rechtsstaatlich besseren
Wege ist. Es ist gut, dass wir in Kürze mit einem Kabinettsentwurf zu rechnen haben,
({0})
der nach einer Befassung durch den Bundesrat schon zu
Beginn der nächsten Legislaturperiode eine solide
Grundlage für die zügige Verabschiedung einer Bestimmung mit einem entsprechenden Straftatbestand abgeben wird. Es ist sinnvoll und richtig, diesen Weg zu beschreiten; denn dieser Entwurf unterliegt nicht dem
Prinzip der Diskontinuität. Damit kann die durch Neuwahlen entstehende Pause des Bundestages ohne
Schwierigkeiten überbrückt werden. Wir können also zu
Beginn der nächsten Legislaturperiode sofort zur Tat
schreiten und einen entsprechenden Straftatbestand in
das Strafgesetzbuch aufnehmen.
Uns kann man nicht vorwerfen, dass wir nur wegen
einer symbolischen Wirkung leichtfertig Straftatbestände schaffen. Hier waren wir immer behutsam und
haben die entsprechende Vorsicht an den Tag gelegt.
({1})
Diese Gefahr besteht hier nicht. Im Kampf gegen die
vielfältigen Formen, mit denen Stalker ihre Mitmenschen peinigen, ist die Schaffung eines eigenständigen
Straftatbestandes vielmehr dringend vonnöten. Ich hoffe,
dass wir in Kürze den notwendigen Straftatbestand in
das Strafgesetzbuch aufnehmen werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Sibylle Laurischk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute über ein gesellschaftliches
Phänomen, das uns anscheinend so fremd ist, dass wir
dafür nicht einmal einen deutschen Begriff haben. Stalking heißt „anschleichen“. Die deutsche Bezeichnung
„schwere Belästigung“ erscheint mir sehr viel deutlicher.
Die Opfer dieses kriminologischen Phänomens müssen
ernst genommen werden.
Gemäß einer Studie des Mannheimer Zentralinstituts
für Seelische Gesundheit waren 12 Prozent der
2 000 Befragten schon einmal Opfer von Nachstellungen. Jedes vierte Opfer wurde länger als ein Jahr drangsaliert; fast jedes dritte Opfer wurde persönlich angegriffen. Die langfristigen traumatischen Auswirkungen auf
die Opfer sind vielfältig und man muss sie ernst nehmen.
({0})
Brauchen wir deshalb dieses Strafgesetz? Wir haben
das Gewaltschutzgesetz. Danach kann ein Zivilgericht
einem Stalker untersagen, sich im Umkreis seines Opfers aufzuhalten. Ebenso kann das Gericht anordnen,
dass der Täter es unterlässt, Verbindung zu verletzten
Personen aufzunehmen. Zudem ist der Gesetzgeber in
der 14. Wahlperiode davon ausgegangen, dass viele Stalkinghandlungen Straftatbestände wie Beleidigung, Nötigung, Körperverletzung oder Hausfriedensbruch erfüllen.
Erste Erfahrungen mit dem Gewaltschutzgesetz zeigen allerdings, dass diese gesetzlichen Regelungen aus
Opfersicht unzureichend sind. Eine sorgfältige, wissenschaftlich fundierte Evaluierung darüber, in welchen
Fällen sich das Gewaltschutzgesetz bewährt hat und in
welchen Fällen es Lücken gibt, wäre wünschenswert, um
eine sachliche Analyse des Sachverhalts vornehmen zu
können.
Bei näherer Prüfung des vorliegenden Gesetzentwurfs
zeigt sich, wie schwierig die Aufgabe ist, einen Straftatbestand zu schaffen, der die vielfältigen Belästigungshandlungen erfasst und sie gleichzeitig von normalem,
sozial adäquatem Verhalten abgrenzt. Es erscheint fraglich, ob der vom Bundesrat vorgeschlagene Tatbestand
wirklich konkret genug ist, um das unerwünschte Verhalten zu erfassen.
({1})
Im Grunde zeigt das Phänomen der schweren Belästigung, dass in einer Gesellschaft, die zunehmend vereinzelt und vereinsamt, keine adäquate soziale Kontrolle
mehr gewährleistet ist und dass auswüchsiges Verhalten
befördert wird.
Ich persönlich bin durch einen Fall, den ich als Anwältin bearbeitet habe, überzeugt worden, dass wir hier
Regelungslücken haben und dass eine strafrechtliche
Normierung notwendig ist. Ich denke an den ausgesprochen tragischen Fall, in dem ein Vater seinen Sohn belästigt hat. Es handelte sich dabei um ein elfjähriges Kind,
das sich nicht wehren konnte und das sogar in der Zeitung falsche Darstellungen über sich ergehen lassen
musste. Dieser Fall wurde letztendlich nicht strafrechtlich, sondern umgangsrechtlich gelöst: Der Sohn lehnt
den Kontakt zu seinem Vater mittlerweile ab. Das ist sicherlich eine tragische Entwicklung. Ich glaube, dass
eine klare strafrechtliche Stellungnahme hier sehr viel
wirkungsvoller und angemessen wäre.
({2})
Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang,
darauf hinzuweisen, dass es bei der Formulierung des
Gesetzes gelingen muss, die Arbeit von Journalisten und
damit die Pressefreiheit zu garantieren.
({3})
Meines Erachtens genügt es nicht, eine Klarstellung in
der Begründung des Gesetzes vorzunehmen. Der Gesetzestext selbst muss klar formuliert werden.
({4})
Es ist absehbar, dass uns der Gesetzentwurf des Bundesrates in dieser Legislaturperiode nicht mehr beschäftigen wird.
({5})
Wir, die FDP-Fraktion, werden auch in der nächsten Legislaturperiode eine eindeutige Lösung dieses gesellschaftlich brisanten Problems vorschlagen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stalking, also das fortgesetzte Verfolgen, Belästigen und
Bedrohen einer Person, hat in den letzten Monaten große
öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Häufig wurden Fälle
beschrieben, bei denen Stars oder Sternchen die Opfer
waren. Natürlich ist es schockierend und bietet auch Gesprächsstoff, wenn ein obsessiver Fan in die Wohnung
von Jeanette Biedermann einbricht, um sich in ihr Bett
zu legen.
({0})
Die meisten Stalkingfälle sehen aber anders aus: Stalking findet überwiegend in sozialem Nahraum statt; Täter und Opfer kennen sich bereits. Bei der Hälfte der
Fälle handelt es sich um bestehende oder ehemalige
Partnerschaften. In den allermeisten Fällen sind die Betroffenen Frauen. Anders als beim Prominentenstalking
sind diese Stalker leider häufiger bereit, physische und
psychische Gewalt anzuwenden.
Im Gewaltschutzgesetz hat die rot-grüne Regierung
2002 erstmals die Möglichkeit geschaffen, gegen Stalker
vorzugehen. Handelt es sich auch nicht immer gleich um
physische Gewalt, so bedeutet Stalking für die Opfer
doch eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensführung und oftmals auch ihrer Gesundheit. Die Opfer können heute eine zivilgerichtliche Schutzanordnung erwirken, wenn ihnen eine andere Person gegen ihren
ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder
sie mithilfe von Telefon und E-Mails verfolgt. Verstößt
der Täter gegen diese Anordnung, macht er sich strafbar.
Das Gericht kann eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verhängen.
Damit haben wir erstmals in Deutschland eine strafrechtliche Handhabe gegen Stalking geschaffen. Das war
ein sehr wichtiger Schritt. Allerdings wurde auch deutlich: Die Notwendigkeit, vor dem Zivilgericht selbst die
Beweise sammeln und anführen zu müssen, bedeutet für
die Opfer eine sehr große Belastung, die ihnen in ihrer
schwierigen Situation häufig nicht zuzumuten ist. Meist
rät ja auch die Polizei von einer Anzeige ab. Schaue ich
mir die Darmstädter Studie an, so sehe ich: 70 Prozent
der Opfer fühlen sich von der Polizei nicht ernst genommen.
({1})
Es wäre sinnvoll, die typischen Verhaltensmuster des
Stalkings endlich auch als strafrechtlich relevantes Unrecht festzuhalten; denn ohne geeignete gesetzliche
Grundlagen, Herr Justizminister, sind den Ermittlungsbehörden oft die Hände gebunden. Für sich allein genommen liegen die Handlungen der Stalker oft unterhalb
der Strafbarkeitsschwelle. Erst ihre Langfristigkeit, ihre
Wiederholung und ihr Kontext machen die Bedrohlichkeit für das Opfer aus.
Über die Notwendigkeit eines Straftatbestands - so
habe ich heute vernommen - sind wir uns einig. Nicht
einig sind wir uns über die Ausgestaltung. Wir können
dem vorliegenden Gesetzentwurf aus dem Bundesrat
nicht zustimmen. Der Tatbestand enthält vier unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Verhältnis zueinander
überhaupt nicht geklärt ist. Damit läuft er Gefahr, der
Bestimmtheitsanforderung des Grundgesetzes nicht
standzuhalten.
({2})
- Das sage ich gleich.
Zugleich wurden häufig vorkommende Belästigungsarten wie das Schalten von Anzeigen oder die Bestellung
von Waren und Dienstleistungen für das Opfer nicht aufgenommen. Völlig inakzeptabel, weil unangebracht und
unverhältnismäßig, ist für uns eine Deeskalationshaft für
„gefährliche Täter“ des Stalkings.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme lassen
sich auch nicht allein durch einen neuen Straftatbestand
lösen. Bremen ist - das wurde gerade gesagt - bisher das
einzige Bundesland, in dem Polizei, Justiz und Beratungsstellen zum Thema „Stalking“ gut vernetzt sind.
Hier spricht die Polizei die Stalker, sofern sie namentlich
bekannt sind, direkt an. Ihnen wird verdeutlicht, dass
ihre Handlungen nicht toleriert werden, und Hilfsangebote werden unterbreitet. Mit diesem Konzept ist Bremen sehr erfolgreich. Eine Deeskalationshaft ist dagegen
nur von kurzer Dauer und würde vermutlich oftmals nur
noch zu weiterer Gewalt führen.
Die anderen Bundesländer müssen jetzt nachziehen.
Polizei und Justiz müssen geschult werden, feste Ansprechpartner und -partnerinnen und spezielle, standardisierte Abläufe sind notwendig. Wir wollen nicht das
Risiko eingehen, ein an sich sinnvolles Gesetz zu schaffen, das keine Wirkung zeigt, weil die Bundesländer
nicht ihren Teil beitragen. Aber auch auf Bundesebene
sind Verbesserungen notwendig. Wir müssen das rechtliche Instrumentarium schärfen. Ich nenne nur Sonderzuständigkeiten und beschleunigte Verfahren bei den
Staatsanwaltschaften. Das wären zwei Instrumente, um
wirkungsvoller arbeiten zu können.
Ich würde mich freuen, wenn es uns gelänge, den Opfern von Stalking bald einen besseren strafrechtlichen
Schutz zu geben. Wir werden demnächst einen Gesetzentwurf vorlegen.
Recht herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Gesetz mit Wirkung, Frau Kollegin ScheweGerigk, wurde vom Bundesrat vorgeschlagen. Der Bundesrat hat umfassend getagt; es gab eine Arbeitsgruppe,
an der sich die Bundesländer - auch SPD-regierte Bundesländer - beteiligt haben, und es gab ein Ergebnis und
einen breiten Konsens. Das Ergebnis wird heute diskutiert. Ich denke, es ist eine gute Basis für uns, und wir
sollten auf diesem Weg fortschreiten.
({0})
Wenn ich höre, dass es einen Referentenentwurf
gibt, der gut sein soll, bin ich erstaunt. Uns liegt kein Referentenentwurf vor; wir hätten ihn gerne gesehen. Denn
die Thematik wird seit langer Zeit diskutiert. Der hessische Justizminister hat seine Anliegen bereits vor mehr
als einem Jahr eingebracht, und es hat lange Zeit die
Möglichkeit bestanden, etwas auf den Weg zu bringen.
Aber leider Gottes ist das nicht geschehen.
Ich unterstütze das, was die Kollegin Laurischk gesagt hat, nämlich dass wir nicht den Begriff „Stalking“
heranziehen, sondern von „schwerer Belästigung“ sprechen sollen; denn viele Menschen wissen gar nicht, was
Stalking ist. Wenn man es den Menschen erklärt, dann
erkennen manche: Ja, das ist mir auch schon widerfahren. Dagegen muss etwas gemacht werden. - Deshalb
sollten wir dazu übergehen, in der weiteren Diskussion
den Begriff der schweren Belästigung aufzunehmen.
({1})
Etwa 18 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer sind schon einmal von Stalking betroffen gewesen.
90 Prozent der Täter und Opfer kennen sich. Es sind also
Beziehungen, die bestanden haben, wobei die Beziehungen vielfältig sein können: Partnerschaften, Ehen, aber
auch Beziehungen zwischen Arbeitskollegen, zu Geschäftsleuten, Politikern, Anwälten, Ärzten.
Vielfältig ist auch die Problematik, die bestehen kann:
Der Expartner möchte seinen Partner zurückhaben und
versucht, dies letztlich auch mit psychischer Gewalt zu
erreichen. Rache-Stalking kommt bei den Gruppen
„Kollegen“, „Anwälte“, „Politiker“ etc. vor. Das Thema
Prominente wurde schon angesprochen. Der Fall
Jeanette Biedermann hat damals Aufsehen erregt und
das Thema Stalking bei uns in Deutschland erst öffentlich gemacht.
Die Palette der Möglichkeiten, Menschen massiv zu
belästigen, ist sehr groß. Die Täter sind sehr erfindungsreich in der Frage, wie sie schikanieren können. Gerade
deshalb, wegen der Vielschichtigkeit des Täterhandelns,
ist es erforderlich, den Straftatbestand so weit zu fassen,
dass all das, was es an Belästigung der Opfer gibt, umfasst werden kann. Ein Straftatbestand, der in der Praxis
nicht greift, nutzt nichts. Deshalb ist der ominöse Referentenentwurf, der etwas von „Nähe zum Opfer“ sagt,
einfach nicht ausreichend.
({2})
In Amerika, auch in anderen Ländern, in Belgien, in
Japan, also quer über den Erdball, gibt es das Phänomen
Stalking schon lange. Dort gibt es Gesetze, die dem ähnlich sind, was hier vorliegt. Diese Gesetze haben gegriffen. Es gibt jahrelange Erfahrungen. Warum sollen wir
das, was sich bewährt hat, nicht auch in Deutschland
aufgreifen?
Es gibt derzeit keinen wirksamen Schutz über das
Strafrecht, weil die möglichen Straftatbestände - Beleidigung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Nötigung - manchmal nicht greifen. Es muss umfangreich
ermittelt werden. Wir hatten eine Veranstaltung mit der
Bremer Polizei, haben uns informiert und aus der Praxis
erfahren, dass dringend ein Straftatbestand, so wie er
jetzt in dem Entwurf gefasst worden ist, geschaffen werden muss.
Das Gewaltschutzgesetz hilft mitnichten. Die Opfer
werden auf den Zivilrechtsweg gezwungen. Das heißt:
Antragsschriften verfassen, Beweise erheben, mit dem
Täter konfrontiert werden, noch einmal leiden. Es ist
sehr schwierig, den Weg zum Anwalt zu gehen, das Gericht zu beauftragen.
({3})
- Auch das. - Davor schrecken die Menschen zurück.
Statistiken sagen uns - das Mannheimer Institut wurde
schon angesprochen -, dass die Opfer im Schnitt zwei
Jahre das Leid ertragen, bevor sie den Weg zu einem Anwalt oder zum Gericht wagen. Deshalb - wir sind es den
Opfern schuldig - müssen wir endlich einen Straftatbestand schaffen.
Auch die Interessen der Medien sind berücksichtigt.
In dem Gesetzesvorschlag heißt es klar und eindeutig:
wer unbefugt die Belästigung vornimmt. - Die Presseorgane arbeiten im Rahmen des Presserechts, insofern
nicht unbefugt. Von daher ist auch die Pressefreiheit gewahrt.
({4})
Das Argument der Unbestimmtheit können wir
nicht gelten lassen. Es werden immer wieder irgendwelche Gründe dafür vorgetragen, dass das, was von der
Union oder auch vom Bundesrat vorgelegt wird,
schlecht ist. Überall wird ein Haar in der Suppe gefunden, weil es eine bestimmte Handschrift trägt. Die Erfahrung in den Nachbarländern hat gezeigt: Es ist mitnichten so, dass die Tatbestände unbestimmt sind und die
Juristen sagen, es müsse eine andere Formulierung gefunden werden.
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja.
Mittlerweile ist in breitem Konsens eine Formulierung gefunden worden, die tragfähig ist. Wir bitten Sie
im Interesse der Opfer herzlich, nicht durch die Parteibrille zu sehen, sondern sich um die Opfer zu kümmern
und dem Gesetzesvorschlag, der uns vom Bundesrat vorgelegt wurde, zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! - Nun ist der Herr Dr. Wagner weg.
({0})
- Okay. Ich teile ihm dann auf dem Hessen-Fest mit, was
ich ihm zu sagen habe.
Wir sind uns sicherlich einig darüber, dass wir etwas
gegen diese Nachsteller oder Stalker oder Verfolger, wie
immer man sie nennen mag, tun müssen. Allerdings ist
der Gesetzentwurf des Bundesrates nicht der richtige. Es
wird mit diesem Gesetzentwurf nicht gelingen, die Opfer
zu schützen.
Frau Granold, auch wenn Sie sich eben mit großem
Eifer für den Entwurf eingesetzt haben, ohne allerdings
Belege zu bringen, gilt: Der Entwurf ist verfassungsrechtlich nicht einwandfrei. Er enthält eine Vielzahl wenig bestimmter Rechtsbegriffe und wird wegen dieser
Häufung mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot in Konflikt geraten. Der Entwurf wird eben
nicht mit dem schwierigen Problem fertig, das Gesamtphänomen Stalking normativ angemessen zu erfassen.
Stalking ist nicht eine bestimmte Handlung, sondern
hat ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Ein
Straftatbestand, der alle möglichen Tathandlungen in einer abstrakten Formulierung erfassen will, verliert seine
Konturen. Darauf haben inzwischen auch die Medien,
die in ihrer Mehrheit immer gefordert haben, Stalking
zum Straftatbestand zu erheben, hingewiesen, nicht ohne
eigenes Interesse. Der Bundesrat hat dieses Problem
auch gesehen und in die Entwurfsbegründung zu dem in
§ 238 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorgesehenen Auffangtatbestand hineingeschrieben, dass sich der durch den Stalker
vollführte Terror einer abschließenden gesetzlichen Eingrenzung entziehe. Diese Einsicht hat man bei der Formulierung des Gesetzestextes aber wieder aus den Augen verloren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die prozessrechtlichen Änderungen finden nicht unsere Billigung.
Die Ausweitung des Haftbefehls bei Wiederholungsgefahr billigen wir nicht. Die Vorschrift wird in der Praxis
nur Probleme bringen.
({1})
Stalker begehen in der Regel Straftaten, die für sich genommen nicht zur Deliktsgruppe der schweren Straftaten gehören. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr
fordert aber zumindest mittelschwere Straftatbestände.
So steht es auch in der Begründung des Entwurfs des
Bundesrates. Sie sagen mit entwaffnender Deutlichkeit,
dass es sich bei einem Stalker zumeist „um eine ansonsten strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretene
Person in geordneten sozialen Verhältnissen handelt“.
Aber auch diese Einsicht hat keinen Eingang in das Gesetz gefunden. Wenn Stalker dennoch ausnahmsweise
einmal massiver reagieren, langt das vorhandene Prozessrecht aus, Herr Dr. Wagner, um eine Inhaftierung
vorzunehmen.
Der Bundesratsentwurf taugt vielleicht als politischer
Leistungsnachweis für Landespolitiker gemäß dem
Motto: Seht einmal her, Leute, wir haben etwas getan! Mit den Problemen und Defiziten hätten sich dann allerdings Polizei und Staatsanwaltschaft auseinander zu setzen, den Opfern würde es nichts helfen.
Der von der Bundesministerin der Justiz im April vorgestellte Gesetzesvorschlag, der mittlerweile als Referentenentwurf vorliegt - hier habe ich ihn -,
({2})
sich in den Ressorts zur Abstimmung befindet und demnächst auch dem hessischen Minister der Justiz vorliegen wird, fasst das alles sehr viel deutlicher. Unter der
Überschrift „Nachstellungen“ verlangen wir, dass bestraft werden: die physische Annäherungen an das Opfer; alle unerwünschten Kontaktaufnahmeversuche über
Telefon, schriftlich oder über Dritte; das Bestellen von
Waren und Dienstleistungen; bestimmte gewichtige Drohungen, wenn dadurch die Lebensgestaltung des Opfers
schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt wird.
Diese Tathandlungen sind dann auch für Polizei und
Staatsanwaltschaft handhabbar und können bestraft werden.
Strafrechtliche Maßnahmen allein, liebe Kolleginnen
und Kollegen, können das Problem nicht lösen. Wir
brauchen weiterhin das Gewaltschutzgesetz und begleitende polizeiliche und zivilrechtliche Möglichkeiten.
Hier besteht noch erheblicher Informations- und Nachholbedarf. Unser Hauptaugenmerk sollte deshalb darauf
gerichtet sein, dass neben der Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes, den wir mit diesem Gesetzentwurf
- ich halte ihn noch einmal hoch, damit ihn alle sehen gewährleisten, noch weitere Maßnahmen ergriffen werden. Dies ist - damit gebe ich den Ball an den Bundesrat zurück - Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie von sozialen Diensten. Hier sind dann die
Länder gefragt. Sie möchte ich bitten, dem in dem Rahmen nachzukommen, was sie tun dürfen.
Nun hat mich der Herr Staatsminister Dr. Christean
Wagner eben bis aufs Blut gereizt - das muss ich hier
einmal deutlich sagen -,
({3})
indem er behauptet hat, wir würden nichts tun.
({4})
- Damit liegen Sie nicht richtig, Herr Niebel. Sie sollten
einmal Ihre Zunge ein wenig hüten, sie ist manchmal zu
schnell. Das hat er nicht richtig gesehen.
({5})
Wenn wir Gesetze machen - das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren; Sie sind ja kein Jurist, aber das
macht nichts -,
({6})
dann hören wir Vertreter aus Praxis und Wissenschaft an,
dann sprechen wir mit den Verantwortlichen in anderen
Ministerien und mit den Verfassungsexperten bei uns.
Erst dann trauen wir uns nach draußen; erst dann ist ein
solcher Gesetzentwurf auch diskutabel. Was wir in der
letzten Zeit aus dem Bundesrat auf den Tisch bekommen
haben, war - mit Ausnahme des Betreuungsrechts, das
wir auch noch verbessert haben - so schlimm, dass man
die Zähne des Reißwolfs beleidigt hätte, hätte man dem
Reißwolf diese Gesetze anvertraut.
({7})
- Mein lieber Herr Grosse-Brömer, mit Ihnen arbeite ich
ja besonders gern zusammen.
Nun fordere ich Sie auf: Egal wie das Leben spielt, ob
wir uns nach dem 18. September wieder sehen oder nicht
und in welcher Form wir uns wieder sehen
({8})
- na ja, wenn ich mal so schaue, könnte der eine oder andere auf der rechten Seite fehlen -, wir sollten dann gemeinsam darangehen, Frau Laurischk, Frau Granold,
Herr Dr. Wagner, lieber Hermann Bachmaier, liebe Frau
Schewe-Gerigk, und ein vernünftiges Gesetz machen.
Das, was ich hier in der Hand halte, sollten wir mit großer Mehrheit verabschieden. Dann sind wir gute Menschen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/5410 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksachen 15/5556, 15/5602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Niebel, Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen
- Drucksache 15/5270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD hält Kurs, selbst in schwierigsten Zeiten. Heute
verwirklichen wir weitere Teile dessen, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 17. März vorgeschlagen hat. Unsere Arbeitsmarktgesetze bedeuten
eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und dieser
haben Sie von der Opposition zum großen Teil zugestimmt. Es ist richtig: Wegen der schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lage in Deutschland und Europa haben
die Maßnahmen noch nicht so gegriffen, wie wir uns das
vorstellen. Deshalb - das zeichnet uns ja auch aus - passen wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente an und
verlängern ihre Laufzeit, damit sie jetzt, wo sie zu greifen beginnen, ihre Wirkung entfalten können.
Die Förderung der beruflichen Weiterbildung älterer und von Arbeitslosigkeit bedrohter Arbeitnehmer
dürfen wir gerade jetzt nicht schleifen lassen.
({0})
Es ist doch ein Irrsinn, dass bei uns nicht einmal
40 Prozent der über 55-Jährigen noch in Arbeit sind.
Was für eine Vergeudung von Wissen, Erfahrung, Fähigkeiten und Kreativität! Unsere Volkswirtschaft kann sich
das überhaupt nicht erlauben, wo sie doch bereits seit geraumer Zeit über Fachkräftemangel jammert. Deshalb
verlängern wir den Förderungszeitraum und konzentrieren auch unsere Vermittlungstätigkeiten verstärkt auf
diesen Personenkreis. Dafür werden wir mehr als
250 Millionen Euro mobilisieren und das ist gut für die
Menschen.
({1})
Aber wenn das alles im Einzelfall nicht greifen sollte,
werden die Betroffenen von uns nicht alleine gelassen,
weshalb die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer
entsprechend angepasst wird.
Wichtig - auch das hat der Kanzler am 17. März ohne
Umschweife zum Ausdruck gebracht - ist uns, befristete Beschäftigung zu erleichtern, ohne gleich wieder
dem Missbrauch Tür und Tor zu öffnen. Die befristete
Beschäftigung soll nicht mehr dem absoluten Verbot der
Vorbeschäftigung unterliegen, sondern dieses Verbot ist
auf zwei Jahre zu begrenzen. Damit werden die früher
üblichen Kettenarbeitsverträge nicht mehr möglich sein.
Der FDP-Antrag allerdings geht genau wieder in diese
Richtung.
({2})
- Doch.
({3})
Die Ich-AG bzw. Existenzgründung hat sich für viele
Arbeitslose zu einer interessanten Alternative entwickelt. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Selbstständigkeit nicht immer mit den nötigen Kenntnissen angestrebt
wurde. Nun wollen wir alle, dass sich die Selbstständigenquote verbessert. Genauso wichtig ist aber auch, dass
die Verselbstständigung dauerhaft ist. Deshalb wird es
die Förderung zukünftig nur geben, wenn das Konzept
für die Existenzgründung stimmt. Hier sind jetzt die
Kammern gefordert, ihre zukünftigen Mitglieder so zu
beraten und zu betreuen, dass aus dem Plan auch eine
Existenz werden kann.
Mit den von uns gemachten Vorschlägen zur besseren
Feinjustierung der Instrumente für den Arbeitsmarkt helfen wir den Menschen; wir fördern sie. Aber was ist Ihre
Alternative, welche Antwort gibt die Opposition den
Menschen? Außer dem Hoffen auf Arbeitsplätze haben
Sie für die arbeitende Bevölkerung nur „Knüppel im
Sack“.
Mit der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung sollen Arbeitsplätze preiswerter gemacht werden. Das hat Stoiber gestern fest versprochen.
Er sagte:
Im Gegenzug müssten bestimmte Fördermaßnahmen
- ich sage: alle der BA reduziert werden.
Da wären wir auch wieder beim Lieblingsthema von
Herrn Niebel: Aufgabenreduktion der BA und damit
auch die Chance, die BA endlich zu zerschlagen.
({4})
Das scheint jetzt auch die Überzeugung der CDU/CSU
zu sein, wenn das CDU-Mitglied Weise in der „Financial
Times Deutschland“ verkündet, für eine Privatisierung
der Aufgaben seiner Behörde offen zu sein.
({5})
Wenn aber den Arbeitslosen Mittel in Höhe von
11,2 Milliarden Euro für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, in diesem Falle für Weiterbildung und Eingliederungsmaßnahmen, genommen werden, heißt dies, dass
damit auch die Mittel für Benachteiligte gestrichen werden. Offensichtlich haben Sie all diese Menschen schon
abgeschrieben. Sind Ihnen diese Menschen nichts mehr
wert? Sind sie es Ihnen nicht wert, in die Lage versetzt
zu werden, eine Arbeit aufzunehmen? Wenn ja, wie soll
denn diese Arbeit aussehen? Qualifiziert?
({6})
Nein, Sie brauchen die Nichtqualifizierten, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, einen Niedrigstlohnbereich aufzubauen und die Menschen mindestens
im ersten Jahr ihrer Beschäftigung unter Tarif zu entlohnen. Dabei begnügen Sie sich nicht mit den Tarifverträgen, die das regeln, nein, Sie wollen das per Gesetz festschreiben.
Dies ist ein weiterer Nagel für den Sarg, den Sie im
Moment für die Gewerkschaften zimmern. Diesen Sarg
basteln Sie systematisch zusammen: dort ein bisschen
untertariflicher Lohn per Gesetz, hier ein bisschen Bündnis für Arbeit ohne Gewerkschaften. Ihr Anliegen ist
nicht „Vorfahrt für Arbeit“, Ihr Anliegen lautet: Arbeiten
ohne Rechte.
({7})
Deshalb soll auch der Kündigungsschutz rasiert werden. Sie umschreiben das mit Lockern. Dabei konnte Ihr
letzter Kanzler schon beweisen, dass weniger Kündigungsschutz nicht mehr Arbeitsplätze bringt.
({8})
Was haben Sie speziell für junge Menschen übrig?
Dort gehen Sie an den Arbeitsschutz. Arbeitsschutz
scheint für Sie ja ohnehin etwas aus der bürokratischen
Mottenkiste des Sozialstaates zu sein. Deshalb wollen
Sie auch keine Pflicht zur Bestellung von Fachkräften
für Arbeitssicherheit oder Betriebsärzten. Dabei ist Prävention - darunter verstehe ich sichere und gesunde Arbeitsplätze - doch die Voraussetzung für eine günstige
Personalkostenentwicklung, denn gesunde Mitarbeiter
brauchen kein Krankengeld; sie sind produktiv.
Ihr Instrumentenkasten besteht hauptsächlich aus Rasierklingen. Um dies etwas zu kaschieren, überlegen Sie
jetzt laut, die Bezugszeiten für das Arbeitslosengeld zu
verlängern. Menschen mit 40-jähriger Beschäftigung
wollen Sie 24 Monate lang das Arbeitslosengeld I zahlen. Dazu kann ich - sicherlich stellvertretend für viele
Frauen meiner Generation - nur Danke sagen, aber:
nein, danke! Frauen mit ihren oft unterbrochenen Erwerbsbiografien hätten davon nämlich nichts, außer dass
selbst in der Arbeitslosigkeit alte Rollenbilder wieder
aufleben. Schöne Aussichten, kann ich da nur sagen. Dabei habe ich nur einen ganz kleinen Teil Ihres Instrumentariums ausgepackt.
({9})
Ich halte fest: Im Jahr 2005 brauchen wir eine Arbeitnehmerschaft, die gleichwertiger Partner in der Arbeitswelt ist. Die Menschen sind Mitarbeiter und keine Kostenfaktoren, die man braucht oder nicht braucht und
aussortiert. Deshalb brauchen wir auch im Betrieb den
aufrechten Gang, also Tarifverträge, sowie ein demokratisches Mitwirken, also Betriebsverfassung. Diejenigen,
die noch nicht im Betrieb, sondern noch auf Arbeitsuche
sind, müssen die notwendigen Chancen und Möglichkeiten bekommen, sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen
und dort auch zu bestehen.
Danke.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Göhner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung will mit diesem Gesetzentwurf
eine ganze Reihe von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten verlängern, darunter sinnvolle, darunter auch einige bis zu 20 Jahre alte; deren Erfinder heißen Blüm,
Riester, Hartz und Clement. Aus diesem Grunde sollten
wir trotz des nahenden Wahlkampfes, Frau Barnett, ganz
nüchtern und jenseits parteipolitischer Grenzen die
Frage aufwerfen: Wollen wir sie wirklich verlängern,
wollen wir wirklich ein „Weiter so!“ in der Arbeitsmarktpolitik?
Wir haben in den letzten zwei Jahren gemeinsam - jedenfalls die Regierungsfraktionen und die CDU/CSU einige grundlegende Veränderungen auf den Weg gebracht, zum Beispiel Hartz IV.
({0})
- Ja, einige auch im großen Konsens in diesem Hause.
Nach den ersten Erfahrungen mit diesen neuen,
grundlegenden Änderungen kann es doch trotz allem
keinen Zweifel geben: Die Arbeitsmarktpolitik der jetzigen wie der früheren Regierungen ist gescheitert - steigende Rekordarbeitslosenzahlen und dramatisch weniger Beschäftigte!
({1})
Der jüngste Beleg hierfür ist: Vorgestern wurde in Nürnberg ein Minus von 300 000 Arbeitsplätzen in den letzten zwölf Monaten in Deutschland verkündet. Das zeigt:
Die Arbeitsmarktpolitik hat keine positiven Wirkungen
entfalten können.
Dass Rot-Grün jetzt ausgerechnet eine alte Frühverrentungsmaßnahme aus dem Jahre 1986 verlängern will,
erstaunt uns besonders. Nach der 58er-Regelung, die ursprünglich schon Ende 2000 auslaufen sollte und von Ihnen bis Ende 2005 verlängert wurde, sollen Arbeitslose,
die älter als 58 sind, Arbeitslosengeld auch dann bekommen, wenn sie nicht mehr arbeiten wollen und sich verpflichten, zum frühestmöglichen Zeitpunkt Altersrente
in Anspruch zu nehmen.
({2})
- In der Tat, das haben Sie von Blüm aus dem Jahre
1986 übernommen. - Das Wichtigste an dieser Maßnahme ist, dass diejenigen Arbeitslosen, die 58 Jahre
oder älter sind, nicht mehr in der Statistik aufgeführt
werden. Das ist eine Erfindung, die in der Tat nicht von
Ihnen stammt. Aber das war und ist ein Anreiz zur Frühverrentung und zusätzlich Kosmetik in der Statistik.
Diese Frühverrentungspolitik hat sich längst als
gravierender Fehler herausgestellt.
({3})
Man muss daraus Konsequenzen ziehen. Kein einziger
Arbeitsplatz ist dadurch entstanden. Ich denke, das ist
unstreitig; etwas anderes wird niemand ernsthaft behaupten. Im Gegenteil: Weil die Frühverrentungspolitik
teuer war, hat sie zahlreiche Arbeitsplätze gekostet. Sie
verlängern die Gültigkeit von falschen Anreizen auf dem
Arbeitsmarkt und konterkarieren Ihre eigenen Bemühungen, die Beschäftigungsbedingungen für ältere Arbeitnehmer zu verbessern.
({4})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie im
Arbeitsrecht den Abschluss befristeter Arbeitsverträge
vor allem für Ältere erleichtern. Diese Absicht ist vernünftig. Sie wollen damit das Kündigungsschutzgesetz
bei Neueinstellungen ausschalten. Das ist Ihre erklärte
Absicht. Übrigens, Frau Barnett: Hören Sie endlich damit auf, uns in Sachen Kündigungsschutz zu diffamieren! Keine Regierung hat jemals den Kündigungsschutz
so stark eingeschränkt wie die jetzige.
({5})
Deshalb lassen Sie uns jenseits aller Partei- und Fraktionsgrenzen einmal überprüfen, wie wirkungsvoll eine
solche Maßnahme ist. Die Absicht, die Sie haben, folgt
der richtigen Erkenntnis, dass der Kündigungsschutz für
diejenigen, die Arbeit suchen, vor allem für ältere Arbeitslose, kein Schutz, sondern ein Hindernis ist.
({6})
Gut gemeint, aber schlecht gemacht! Denn Sie gestalten
diese Regelung so, dass sie für die älteren Arbeitslosen
erneut wirkungslos ist. Sie behaupten andauernd - Herr
Clement macht das; der Bundeskanzler hat es neulich
getan -, das geltende Recht ermögliche die Einstellung
von Arbeitnehmern über 50, ohne dass der Kündigungsschutz gelte, weil unbegrenzt befristet werden könne.
Diese Behauptung ist schlicht und einfach falsch. Nach
geltendem Recht geht das noch 18 Monate, nach dem
Gesetzentwurf noch 30 Monate.
({7})
Okay, das wären sechs Monate mehr als nach dem
Recht, das für alle Arbeitnehmer gelten würde.
Wenn heute ein älterer Arbeitsloser nach diesem Befristungsrecht eingestellt wird, endet die gewollte Ausschaltung des Kündigungsschutzes faktisch Ende 2006,
nach dem Gesetzentwurf Ende 2007. Damit schaffen Sie
nur Rechtsunsicherheit, aber keine Verbesserung in der
Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer.
({8})
Die bisherige Befristung bis 2006 hat sich als wirkungslos herausgestellt. Die künftige Regelung wird wegen ihrer Begrenzung auf 2007 ihre Wirkung genauso verfehlen wie die jetzige. Wenn Sie wirklich wollen, dass bei
Neueinstellungen älterer Arbeitnehmer Befristungen unbegrenzt möglich sind - Sie tragen hier ja vor, dass Sie
das wollen -, dann dürfen Sie diese Regelung nicht erneut auf 30 Monate begrenzen.
({9})
Grundsätzlich vernünftig erscheint dagegen die vorgesehene Lockerung des Verbotes der wiederholten befristeten Beschäftigung. Die Formulierung „Verbot der
wiederholten befristeten Beschäftigung“ in dem vorliegenden Gesetzentwurf sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es wird höchste Zeit, dass Sie diesen groben Unfug, den Sie vor fünf Jahren eingeführt haben,
endlich abschaffen.
({10})
Dass Sie einem Arbeitslosen, der vielleicht einmal vor
zig Jahren anlässlich eines Ferienjobs oder eines Praktikums in einem Betrieb gearbeitet hat, zehn oder 20 Jahre
später verbieten wollen, in dem gleichen Betrieb eine befristete Beschäftigung anzunehmen, war immer gröbster
unsozialer Unfug zulasten der Arbeitslosen.
({11})
Jetzt sagen Sie: Nach zwei Jahren darf er nun einen
solchen Job wieder annehmen. Das ist ein erster Schritt
der Korrektur, aber wieder halbherzig. Stellen Sie sich
doch einmal vor, ein arbeitsloser Jugendlicher bekommt
einen Praktikantenplatz im Rahmen des Ausbildungspaktes, einen der 30 000 zur Verfügung gestellten Plätze.
Ein halbes Jahr nach Ende des Praktikums ist in dem
Unternehmen ein Job frei, vielleicht ein Hilfsjob. Der Jugendliche ist wieder arbeitslos. Der Unternehmer sagt:
Okay, du kannst befristet bei mir anfangen.
Nach Ihrem Gesetz geht das nach wie vor nicht.
({12})
Der Arbeitgeber muss sagen: Schade, ich hätte dich
gerne eingestellt. In zwei Jahren ginge es wieder. Aber
jetzt darf ich dich nicht befristet einstellen.
({13})
Auch wir wollen keine Kettenbefristung. Der Bundesrat schlägt vor, spätestens vier Monate nach einer Vorbeschäftigung ein neues befristetes Arbeitsverhältnis zu ermöglichen. Die FDP schlägt vor, das nach drei Monaten
zu tun. Ich halte das für vernünftig.
({14})
Der Bundesrat schlägt im Übrigen vor, die Befristungsmöglichkeiten von 24 auf 48 Monate auszudehnen. Das sollte doch auch für Rot-Grün akzeptabel sein.
Denn für Existenzgründer haben Sie das selber - übrigens aus guten Gründen - geschaffen und ins Gesetz geschrieben. Warum nur für den Existenzgründer? Warum
nicht für den Mittelständler, der zehn oder 20 Beschäftigte hat und vor der Frage steht: Soll ich das riskieren?
Heute wird er vom Kündigungsrecht genauso abgeschreckt wie der Existenzgründer, dem Sie mit der neuen
Regelung zu Recht helfen wollten. Folgen Sie deshalb
diesem Vorschlag aus dem Bundesrat!
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
kuriert die Regierung wieder halbherzig an Symptomen,
schafft Ausnahmen von den Ausnahmen, befristet und
verlängert, kompliziert und bürokratisiert in der Arbeitsmarktpolitik. Was wir in Deutschland wirklich brauchen,
ist eine grundlegend neue Arbeitsmarktverfassung und
nicht das x-te Reparaturgesetz.
({15})
Eine neue, moderne Arbeitsmarktverfassung muss
zwei Säulen haben, erstens ein neues Arbeitsvertragsgesetzbuch, in dem die zurzeit reichlich unverständlichen,
nur noch von einer kleinen Zahl von Experten überhaupt
überschaubaren 60 arbeitsrechtlichen Gesetze zusammengefasst, vereinheitlicht - wir haben 160 verschiedene Schwellenwerte nur im deutschen Arbeitsrecht; das
hat Professor Junker gerade zusammengestellt -, entbürokratisiert und verständlich gemacht werden.
({16})
Zweitens brauchen wir eine grundlegende Neuordnung der Arbeitslosenversicherung. Die Bundesagentur
muss sich wirklich auf die Kernaufgaben einer Arbeitslosenversicherung konzentrieren können. Das haben wir
als Gesetzgeber bisher systematisch verhindert. Die
Kernaufgaben sind die Vermittlung, die Versicherung
- also die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld - und
eine streng an der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt orientierte Arbeitsförderung.
Heute ist die BA für alles Mögliche zuständig und
deshalb immer weniger kompetent und effektiv. Die BA
ist zuständig für Schule - Nachholen des Hauptschulabschlusses -, Suchtberatung, Familienkasse und sozialpädagogische Betreuung. Jetzt haben wir ihr auch noch die
Zuständigkeit für viele Sozialhilfeempfänger gegeben.
Da kann die BA sich nicht auf die eigentlichen Aufgaben
konzentrieren. Sie ist größer als je zuvor. Wenn wir die
Mitarbeiter aus den kommunalen Arbeitsgemeinschaften, die ja nach den Anweisungen und Bedingungen aus
Nürnberg arbeiten müssen, dazuzählen, haben wir heute
rund 106 000 Mitarbeiter. Trotzdem ist es nicht möglich,
sich auf die Kernaufgaben zu konzentrieren.
({17})
Es bleibt ein folgenreicher, schwerer Fehler der Bundesregierung, mit Hartz IV die Betreuung der Sozialhilfeempfänger auf die Bundesagentur übertragen und auch
noch eine neue Bürokratieebene geschaffen zu haben,
nämlich diese Mischebene der Arbeitsgemeinschaften
zwischen Kommunen und Bundesagentur.
({18})
Das wird nie funktionieren. Herr Weise erklärt zu Recht:
Das ist ein Konstruktionsfehler. Das müssen wir korrigieren.
({19})
Wir sind gegen die Zerschlagung der Bundesagentur
für Arbeit. Es macht aus meiner Sicht auch keinen Sinn,
aus einer Behörde drei Behörden zu machen.
({20})
Aber Konzentration auf die eigentlichen Kernaufgaben
und Entschlackung von all diesen zusätzlichen Aufgaben, die wir der Bundesagentur übertragen haben, das
scheint mir unverzichtbar zu sein, auch um die Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung senken zu können.
({21})
Die Bundesregierung sagt: 1 Prozentpunkt weniger
Lohnzusatzkosten sind 100 000 Beschäftigte. Einige
wissenschaftliche Institute schätzen den Effekt höher
ein. Lassen wir einmal die Zahlen weg! Einig sind sich
doch alle bis hin zu den Gewerkschaften, dass mit einer
Senkung der Lohnzusatzkosten mehr Beschäftigung erreicht werden kann. Deshalb muss eine Arbeitsmarktreform in der Tat das Ziel haben, die Beitragsbelastung
zu senken. Deshalb bleibt es richtig, auf eine Absenkung
des Arbeitslosenversicherungsbeitrages hinzuwirken.
Der größte Konstruktionsfehler, der bei Hartz IV gemacht worden ist, ist in meinen Augen der Aussteuerungsbetrag. Natürlich ist mir klar: In Wahrheit werden
Beitragsgelder in Höhe von 7 Milliarden Euro aus der
Arbeitslosenversicherung zur Sanierung des Haushalts
herangezogen. Dass der Haushalt damit allerdings nicht
mehr zu sanieren ist, ist uns allen klar.
Ein Bestandteil einer neuen Arbeitsmarktverfassung
muss deshalb sein, die Kosten der Arbeitsmarktpolitik
zu senken. In keinem Land der Welt wird für den Arbeitsmarkt so viel Geld ausgegeben wie bei uns; das hat
Herr Clement vor einiger Zeit selbst eingeräumt. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die Vergabe dieser
Mittel äußert ineffektiv ist. Deshalb verfolgen Sie in Ihrem Gesetzentwurf, in dem Sie im Wesentlichen nur Verlängerungen vorschlagen, den falschen Ansatz. Vielmehr
brauchen wir eine grundlegend neue Arbeitsmarktverfassung.
Danke schön.
({22})
Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Göhner, wenn ich den Rednern der CDU/CSU
zuhöre, dann schleicht sich bei mir der Eindruck ein,
dass Sie sich langsam einmal entscheiden müssen, was
Sie eigentlich wollen. Ich habe erlebt, wie Sie durch das
Land gezogen sind und die Betreuung der Arbeitslosen
aus einer Hand gefordert haben. Heute sagen Sie wieder
etwas anderes.
({0})
Oder Sie sagen - zu Recht -: Wir wollen die Möglichkeiten der Befristung der Arbeitsverhältnisse älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verlängern; das
schlagen wir heute vor. Entscheiden Sie sich doch, nicht
immer dagegen, sondern auch einmal dafür zu stimmen.
Man weiß nie, was Sie wollen. Das ist, als wolle man einen Pudding an die Wand nageln.
({1})
Es ist so - das ist richtig -, dass in Deutschland die
Arbeitslosigkeit von Älteren, Frauen und gering
Qualifizierten hoch und die Erwerbsquote von Frauen
und Älteren im europäischen Vergleich extrem niedrig
ist. Ich denke - darüber müssen wir diskutieren -, dass
wir uns, wenn wir Arbeitsplätze für gering Qualifizierte,
Ältere und Frauen schaffen wollen, von einem wirklich
fatalen, über Jahrzehnte gepflegten Irrglauben verabschieden müssen. Ich meine den Irrglauben, dass man
durch Arbeitskräfteverknappung mehr Arbeit schaffen
könne: durch das Aussteuern von Älteren, zum Beispiel
im Rahmen der Frühverrentung, und durch das Konzept
„Frauen zurück an den Herd“, demzufolge Frauen Platz
für Männer machen müssen.
Das war ein großer historischer Irrtum, den unsere
Nachbarländer längst erkannt haben. Jetzt machen sie
uns vor, wie man durch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, durch verbesserte Kinderbetreuung und Ähnliches, die Möglichkeiten von
Frauen erhöhen und ihre Erwerbsquote erhöhen kann
({2})
und wie man durch eine Kultur der Altersarbeit die Erwerbsquote von Älteren steigern kann, statt genau das
Gegenteil zu tun. Diese Erhöhung der Erwerbsquote von
Frauen und Älteren führt dazu, dass wir im Dienstleistungsbereich neue Beschäftigungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte schaffen können. Das ist in Zukunft
wichtig und muss von einer Senkung der Lohnnebenkosten begleitet werden; das ist völlig klar. Der Weg der
Frühverrentung, den Sie angesprochen haben, war
grottenfalsch.
({3})
Er ist in den 80er-Jahren eingeschlagen worden.
({4})
Herr Göhner, ich spreche das an, weil Sie durch das,
was Sie gemeinsam mit Herrn Pofalla vorschlagen, der
Fortsetzung der Frühverrentungspraxis erneut Tür und
Tor öffnen.
({5})
Was Sie in Ihren Konzepten vorschlagen, bedeutet eine
Rolle rückwärts in die Vergangenheit. Sie lehnen alles
ab, was auf die Integration Älterer zielt. Wir schlagen
heute zum Beispiel vor, die berufliche Weiterbildung
und die Entgeltsicherung für Ältere zu verlängern und
die Sozialversicherungskosten für Ältere zu senken,
wenn sie als Langzeitarbeitslose eingestellt werden. All
das lehnen Sie ab, ebenso wie Existenzgründungshilfen.
Sie selbst schlagen über Herrn Pofalla - das sage ich
unter der Überschrift „Ehrlichkeit“ - eine Mogelpackung zur Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges
vor. Meine Damen und Herren, das hat mit Ehrlichkeit
nichts zu tun, sondern das ist ein sehr vergiftetes Angebot. Das will ich Ihnen aufzeigen. Der Vorschlag richtet
sich an die Unwissenden, für die es gut klingt, wenn es
heißt: Wer länger zahlt, bekommt auch mehr. Das heißt
aber auch, dass wir die Risikoversicherung abschaffen
und durch eine Äquivalenzversicherung ersetzen. Das
heißt, dass ein heute 55-Jähriger 25 Jahre abhängig beschäftigt gearbeitet haben muss - seit dem 30. Lebensjahr - um 18 Monate Arbeitslosengeld zu beziehen.
Nach dem rot-grünen Konzept soll ihm das nach drei
Jahren Beschäftigung zustehen. Ein 55-Jähriger, der Ihr
Höchstangebot bekommen soll - 24 Monate Arbeitslosengeld -, muss vom 15. Lebensjahr an durchgängig abhängig beschäftigt gewesen sein, um da überhaupt hinzukommen.
Ich frage Sie: Welches Bild von Beschäftigung haben
Sie? Welche Frau soll das erreichen? Welcher Mann soll
das in Zukunft erreichen? Unsere Kinder, die heute eine
Beschäftigung aufnehmen, werden eine Erwerbsbiografie haben, die unterbrochen ist, zum Beispiel
durch selbstständige Tätigkeit, durch Wechsel in ganz
unterschiedliche Beschäftigungsfelder. Was Sie hier abgeben, ist doch ein leeres Versprechen! Und es öffnet
Tür und Tor für eine neue Welle der Frühverrentung in
den Betrieben. Da haben wir doch den Salat: Wir haben
Betriebe, die keine Beschäftigten mehr haben, die über
50 Jahre alt sind. Das darf so nicht weitergehen.
({6})
Meine Damen und Herren, dieses Angebot von Herrn
Pofalla ist vergiftet - ich habe es Ihnen gesagt -, und
zwar auch für die jungen Leute. Denn nur jemand bekommt ein Jahr Arbeitslosengeld, wenn er 10 Jahre gearbeitet hat. Nach geltendem Recht sind es zwei Jahre.
Nach Ihren Vorschlägen wird es in der Zukunft so sein,
dass jemand mit Mitte, Ende 20 - in der Familiengründungsphase - gerade einmal eine ganz schwache Absicherung haben wird. Das ist die Konsequenz Ihrer Vorschläge, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin, würden Sie bitte einmal auf die Uhr
schauen.
({0})
Ja. - Sie blinkt. Ich komme sofort zum Schluss.
Es geht darum, eine Politik der Integration der Älteren, der Integration der Frauen, der Integration derjenigen, die außerhalb stehen, umzusetzen. Dazu brauchen
wir die Verlängerung der Elemente von Job AQTIV, wie
wir es hier vorschlagen. Ich würde Sie bitten, im Zusammenhang mit der neuen Ehrlichkeit, die Sie propagieren,
den Leuten reinen Wein einzuschenken: dass Sie alle
Elemente der aktiven Arbeitsmarktpolitik schleifen wollen, dass Sie sie abschaffen wollen.
Frau Kollegin, jetzt müssen Sie aber wirklich zum
Schluss kommen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ihr Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang
Clement hat vor einiger Zeit sinngemäß gesagt, dass wir
im OECD-Vergleich die höchsten Ausgaben für aktive
Arbeitsmarktpolitik haben, auf der anderen Seite aber
mit die geringste Effizienz. Ich kann ihm hier nur zustimmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich schon nicht
ganz unberechtigt die Frage, die der Kollege Göhner
aufgeworfen hat, warum Sie diese alte aktive Arbeitsmarktpolitik, die offenkundig - auch nach Ansicht Ihres
eigenen Ministers - nicht erfolgreich war, fortsetzen
wollen, warum Sie sie verlängern wollen.
({0})
Es ist ein Stück Endzeitstimmung in dieser Regierung, was wir hier heute sehen: Man will - solange man
die parlamentarische Mehrheit dafür gerade noch hat die Geltungsdauer bestimmter, lieb gewonnener Instrumentarien verlängern. Das bringt aber im Ergebnis
nichts für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.
({1})
Wir haben hier einen Entwurf eingebracht, der es ermöglichen soll, lieber eine Zeit lang befristet in Arbeit
zu sein, als dauerhaft arbeitslos bleiben zu müssen. Auch
wir wollen keine Kettenarbeitsverhältnisse. Sehen Sie,
ich komme aus Heidelberg, einer großen Universitätsstadt. Dort ist es gang und gäbe, dass Studierende, aber
auch diejenigen, die ihr Studium abgeschlossen haben,
hier und da im Bereich der Universität befristete Beschäftigungsverhältnisse finden. Der Arbeitgeber ist
demnach das Land Baden-Württemberg. Sie alle wissen,
dass die öffentlichen Haushalte überall so angespannt
sind, dass Dauerbeschäftigungsverhältnisse kaum noch
angeboten werden. Nach der Regelung, die Sie jetzt vorgelegt haben, hat man innerhalb von zwei Jahren keine
Chance mehr, beim Land Baden-Württemberg irgendwo
noch einmal befristet beschäftigt zu werden. Das muss
man sich einfach einmal vor Augen führen.
({2})
Es gibt auch andere Landesregierungen - rote; die
Grünen sind zum Glück nirgendwo mehr dabei -, die aus
den gleichen haushälterischen Gründen nur noch befristete Beschäftigungsverhältnisse anbieten.
({3})
Sie nehmen mit dieser Regelung den Menschen die
Möglichkeit, mit einem anderen Beschäftigungsverhältnis aus der Arbeitslosigkeit zu kommen.
({4})
Mit einem Beschäftigungsverbot beim ehemaligen Arbeitgeber für eine Frist von drei Monaten wollen wir
Kettenbefristungen verhindern, den Menschen aber
trotzdem die Chance geben, zumindest eine Zeit lang beschäftigt zu sein und nicht dauerhaft in der Arbeitslosigkeit verweilen zu müssen.
({5})
Die so genannte aktive Arbeitsmarktpolitik, die Sie
hier fortschreiben wollen, war nicht erfolgreich, auch
nicht, als noch Schwarz und Gelb regiert haben.
({6})
Deswegen müssen wir uns frei nach Hermann Hesse, der
gesagt hat, in jedem Neubeginn liege ein Zauber, Gedanken darüber machen, wie wir die Massenarbeitslosigkeit
bekämpfen können. Wir können die Massenarbeitslosigkeit nur bekämpfen, indem wir innovationsfreundlicher
werden, indem wir die Bundesagentur für Arbeit so organisieren, dass sie nach ihrer Auflösung den Ausgleich
am Arbeitsmarkt effizient schafft,
({7})
indem wir die sozialen Sicherungssysteme in den Griff
bekommen, damit die Kosten des Faktors Arbeit geringer werden, und indem wir die lieb gewordenen alten
Zöpfe des Klassenkampfes von Rot und Grün endlich
abschneiden.
({8})
Wir erleben heute hier die Endzeitstimmung einer abgewirtschafteten Regierung. Das ist schade. Hoffentlich
geht das bald vorbei.
Vielen Dank.
({9})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir befinden uns in einer sehr spannenden
Zeit. Gerade beim letzten Redner hier hat sich das schon
sehr nach Wahlkampf angehört.
({0})
In den nächsten Wochen und Monaten wird es für uns
darum gehen, unsere eingeleitete Reformpolitik zur
Wahl zu stellen. Für Sie aus der Opposition wird es darum gehen, endlich einmal Alternativen klar zu benennen, sofern Sie dazu in der Lage sind. Heute habe ich
nichts dazu gehört.
({1})
Lassen Sie mich eines klarstellen: Unsere Reformpolitik ist durch die Agenda 2010 charakterisiert, deren
zentraler Bestandteil die Strukturreformen am Arbeitsmarkt sind. Damit bildet sie auch eine gute Grundlage
für Arbeitsplätze.
({2})
Neben vielem anderen haben wir hierzu im SGB III eine
Reihe von Instrumenten festgelegt, die bis Ende 2005
oder 2006 befristet sind. Angesichts der weiterhin großen Probleme am Arbeitsmarkt, die niemand leugnen
will, wollen wir diese Instrumente teilweise in modifizierter Form bis Ende 2007 fortführen, was einfach Sinn
macht.
Lassen Sie mich auf zwei wesentliche Punkte eingehen:
Ein erster Schwerpunkt ist für mich die Förderung
älterer Arbeitnehmer. In diesem Zusammenhang
möchte ich auf die Forderung der Lissabon-Strategie
verweisen. Die Europäische Union hat sich das Ziel gesetzt, die Erwerbsquote der älteren Arbeitnehmer zwischen 55 Jahren und 64 Jahren bis 2010 auf 50 Prozent
zu steigern. Das ist ein richtiger Weg. Zu diesem Weg
stehen wir.
Lassen Sie uns schauen, was wir auf diesem Weg bereits erreicht haben:
Zum einen hat die Bundesregierung die Attraktivität
von Vorruhestand und Frühverrentung vermindert. Das
war richtig. Erste Anzeichen einer Trendwende sind erkennbar. Zwischen 1998 und 2003 ist das durchschnittliche Renteneintrittsalter von 59,7 Jahre auf 60,7 Jahre um
ein Jahr angestiegen. Das durchschnittliche Rentenalter
liegt nun knapp unter 63 Jahren. In einem Punkt sind wir
uns doch einig: Wir brauchen die älteren Arbeitnehmer
mit ihren Erfahrungen und Fähigkeiten. Mehr als
1,2 Millionen Menschen über 50 Jahre sind arbeitslos.
Hier müssen wir tätig werden.
Zum anderen sollen unsere Maßnahmen dazu dienen,
Beschäftigungshemmnisse für ältere Menschen abzubauen. Dazu zählen für mich drei Punkte:
Erstens. Für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst wird insbesondere der Zugang zu Fortund Weiterbildungsangeboten erleichtert.
Zweitens. Die Lohnkostenzuschüsse werden dazu
beitragen, Beschäftigung zu fördern.
Drittens. Die befristete Beschäftigung von Arbeitnehmern über 52 Jahre haben wir erleichtert. Wir wollen die
Gültigkeit dieser Regelung bis 2007 verlängern.
({3})
Mit dem vorliegenden Gesetz wird ein wiederholtes
befristetes Beschäftigungsverhältnis ohne sachlichen
Grund möglich, wenn zwischen den Arbeitsverhältnissen ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren liegt. Lassen Sie mich dennoch eines klarstellen: Ich bin generell
keine Freundin dieser befristeten Arbeitsverhältnisse.
Aber wir müssen hier mit Augenmaß Flexibilisierungen
schaffen, die Neueinstellungen schneller ermöglichen.
Dass die Opposition das anders sieht, wird aus dem Vorschlag des Bundesrates deutlich, befristete Arbeitsverhältnisse bis zu vier Jahren im Prinzip auch als Kettenbefristung zuzulassen. Da kann ich nicht mitgehen.
({4})
Als zweiten Schwerpunkt wollen wir die Möglichkeit der Ich-AG verlängern. In den Jahren 2003 bis
2004 haben insgesamt über 268 000 Arbeitslose mithilfe des Existenzgründungszuschusses eine selbstständige Tätigkeit aufgenommen. Die Ich-AG-Förderung
erreicht - das müssen Sie zugeben - besser als das Überbrückungsgeld Problemgruppen wie Langzeitarbeitslose. Das ist unbestritten. Darüber hinaus ist die Ich-AG
für Frauen sehr attraktiv, weil diese häufiger als Männer
nur über geringe Lohnersatzansprüche verfügen.
Trotz mancher Skepsis, die mit der Einführung der
Ich-AG einhergingen, können wir feststellen: Wir brauchen diesen Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit. Aber wir wollen auf diesem Weg neue Maßstäbe setzen. Die Gründerinnen und Gründer müssen
künftig die Tragfähigkeit des Vorhabens nachweisen und
ihre unternehmerische Eignung und Fähigkeiten darlegen.
Wir werden und wollen unsere Reformen weiterführen. Die letzten Sitzungswochen vor den Wahlen sind für
uns kein Grund zur Pause.
({5})
Ich sage ganz klar: Fördermaßnahmen im Bereich Arbeit
sind weiterhin notwendig und geben auch denjenigen
Chancen, die sonst auf dem Arbeitsmarkt nur schwer
vermittelbar sind. Die Ankündigung der Union, diese
Maßnahmen einschränken zu wollen, zeigt mir eines
ganz deutlich: Die Opposition wäre bereit, den Staatshaushalt auf Kosten der Arbeitslosen zu sanieren.
({6})
Ein möglicher finanzieller Ausgleich einer Einkommensteuersenkung würde nach Stoibers Vorschlägen ausschließlich zulasten der Arbeitnehmer und der Arbeitslosen gehen. Das wollen wir nicht - Ihr Herr Seehofer
sieht das genauso wie wir - und setzen mit diesem Gesetzentwurf ein klares Zeichen dagegen. Wir wollen den
Sozialstaat reformieren und ihn nicht zerschlagen. Auch
hier hat Deutschland in den kommenden Wochen die
Wahl.
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5556, 15/5602 und 15/5270 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Cajus Julius Caesar,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Auswirkung der Zerstörung von tropischen
Regenwäldern auf das weltweite Klima
- Drucksachen 15/4193, 15/5075 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Cajus Julius Caesar, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Erhalt der tropischen Regenwälder ist für uns
eine zentrale Herausforderung und von großer Bedeutung: für die Armutsbekämpfung der vor Ort lebenden
indogenen Völker, aber natürlich auch für Klimaschutz
und Artenvielfalt.
Die Situation verschlechtert sich stetig. Das belegen
ganz eindeutig die Daten, die die Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Union geliefert hat. Deshalb fordern wir als Union die Bundesregierung auf, endlich zu
handeln, Maßnahmen zu ergreifen, und nicht durch
kleinkariertes Vorgehen im eigenen Land, durch mehr
Steuern, Abgaben, Gesetze, Verordnungen und vielerlei
mehr, die Dinge zu behindern.
({0})
Wir sehen, dass immer mehr Wälder verloren gehen.
Es sind im Jahr netto rund 12,5 Millionen Hektar; das ist
nicht zu vernachlässigen. Die Wälder haben eine enorme
Bedeutung für unsere Ökosysteme. Sie verhindern Erosionen. Sie filtern Luft und Wasser und beherbergen eine
unermessliche Zahl von Heilpflanzen, Harzen, Ölen und
Früchten. Sie erhöhen die Luftfeuchtigkeit, sie bremsen
den Wind und sie sorgen für Temperaturausgleich - und
das weit über den eigenen Raum hinaus.
Die Tropenwälder sind zudem gigantische Kohlenstoffspeicher. Wenn wir betrachten, dass wir hier über
viele Monate Gesetzesvorlagen - beispielsweise zum
Emissionshandel - diskutieren und auch verabschieden,
dann wird deutlich, um welche Dimension es geht, wenn
beispielsweise Torfbrände in Indonesien auf Flächen
von zwei mal 4 000 Kilometern brennen und schwelen.
Hier tritt allein durch den CO2-Ausstoß eine Klimaverschlechterung ein, die all das zerstört, was Deutschland
zehn Jahre nach dem Kioto-Abkommen in der gesamten
Zeit an Maßnahmen verabschiedet und umgesetzt hat.
Daran sieht man, welch schädliche Auswirkungen diese
Torfbrände und die Zerstörung der Wälder haben.
Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und Forstwirtschaft stärken - das war und ist eine Initiative der
Union, auch belegt durch die Drucksache 15/2747. Wir
als Union fordern, die Einfuhr illegal geschlagenen und
gehandelten Holzes aus Urwäldern sowie von Produkten
aus seiner Verarbeitung ohne Genehmigung zu unterbinden. Das ist eine zentrale Forderung von uns.
({1})
Neben zu schützenden Kernzonen wollen wir, dass
auch vor Ort die nachhaltige Forstwirtschaft erlaubt
bleibt, somit die Länder die nötigen Einnahmen erhalten
und der Lebensstandard der Bürger vor Ort gewährleistet
wird. Es kann aber nicht sein, dass beispielsweise illegal
geschlagene Mahagonistämme vor Ort für 30 Euro in
Besitz genommen werden, dann für 3 000 Euro auf dem
Exportmarkt gehandelt werden und nach der Verarbeitung 128 000 Euro erzielen, wie das eine Berechung von
Experten ergibt.
Ein Weg in die richtige Richtung ist der europäische
Aktionsplan FLEGT. Es soll ein Genehmigungssystem
aufgebaut werden, mit dem gewährleistet werden soll,
dass nur legal geschlagenes Holz in die EU eingeführt
wird. Dazu sollen Partnerschaftsabkommen mit den
Holz erzeugenden Ländern und Regionen erfolgen. Dies
wird auch vor dem wirtschaftlichen Hintergrund sehr positive Auswirkungen haben, sowohl auf die Einnahmesituation der Partnerländer als auch auf die Holzpreisstruktur in der EU und in Deutschland.
Von der rot-grün geführten Bundesregierung vermissen wir praktikable Lösungen und den notwendigen
nachhaltigen Einsatz auch auf internationaler Ebene.
Vielmehr werden die Gelder für praktische Projekte in
den Ländern vor Ort zurückgefahren und dagegen der
Verwaltungshaushalt und die Bürokratie hier ausgeweitet. Es muss uns um den Erhalt der Tropen- und Urwälder im Sinne einer nachhaltigen Bewirtschaftung gehen. Statt in Deutschland ein nicht handhabbares
Urwaldschutzgesetz vorzulegen, das dem einzelnen
Waldbesitzer das Leben noch weiter erschwert und ihm
vorschreibt, welches Pflänzchen er auf welchen Quadratmeter setzen soll, sollten wir dafür sorgen, dass unterbunden wird, dass in manchen Ländern teilweise
mehr als 80 Prozent des Holzes illegal geschlagen und
dieses ausgeführt und bei uns eingeführt wird.
({2})
Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der
Bereitstellung beispielsweise von Hermesbürgschaften
dafür zu sorgen, dass nicht durch die zusätzliche Ausstattung mit Maschinen und Geräten Überkapazitäten
der Holzindustrie verstärkt werden, was wiederum dazu
führt, dass der Druck auf den wertvollen Wald erhöht
wird.
Zertifiziertes Holz und damit Holz aus nachhaltiger
Forstwirtschaft ist der richtige Weg. Das ist keine Frage.
Es ist nach unserer Ansicht nicht richtig, ein System der
international anerkannten acht Systeme zu bevorzugen,
etwa das FSC-System. Man soll sich vielmehr insbesondere dafür einsetzen, dass in Ländern wie beispielsweise
Malaysia, wo es das Zertifizierungssystem MTCC gibt,
dieses unterstützt wird.
({3})
Anstatt dass dieses Modellprojekt vorangebracht
wird, müssen wir feststellen, dass bei der Zusammenarbeit des Hamburger Senats, der GTZ und der MTCC im
Rahmen einer PPP Hürden aufgebaut werden. Das BMZ
will sich einbringen, blockiert aber letztlich mehr, als
dass es sich einbringt. Wir müssen feststellen, dass es
stete Versprechungen im Monatsrhythmus gibt, man
aber nicht zum Erfolg kommt. Das hat das MTCC nicht
verdient. Dieses wäre zum Beispiel auch ein Weg der
Zertifizierung, um damit zu gewährleisten, dass letztendlich nur noch zertifiziertes Holz aus legalem Holzeinschlag in die Europäische Union und in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt wird.
({4})
Wir wollen seitens der Union, dass in diesem Zusammenhang unbürokratische Regelungen getroffen werden.
Deshalb sehen wir beispielsweise in der Selbstverpflichtung der Holzindustrie eine Möglichkeit. Wir wollen nicht, dass in einem so genannten Urwaldschutzgesetz in Deutschland Flächen von 10 Hektar festgelegt
werden und dass jeder Waldbesitzer für jede einzelne
dieser kleinen Flächen nachweisen soll, dass sie kein Urwald ist, obwohl wir genau wissen, dass es in Deutschland gar keinen Urwald gibt. Das trägt dem, was auf der
Tagesordnung steht, nicht Rechnung. Darüber hinaus der
Holzbranche ein überaus kompliziertes Nachweissystem
aufzubürden ist sicherlich ebenfalls nicht der richtige
Weg.
Wir wollen unbürokratische und praktische Regelungen. Deshalb meinen wir - das hat auch die Anhörung
zum Urwaldschutzgesetz und zur vorgesehenen Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes gezeigt -, dass es
möglich ist, solche Regelungen zu finden. Wir sind der
Meinung, dass hierbei der Bundesumweltminister gefordert ist. Beschimpfungen bringen uns aber in keiner
Weise voran. Wenn etwa der Bundesumweltminister,
Herr Trittin, die bei der Anhörung der Verbände anwesenden Vertreter des Holzhandels als Diebe beschimpft,
dann kann man nicht auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit setzen. Das ist jedenfalls nicht der Weg der
Union und das kann auch nicht der Weg zu einem Miteinander sein. Dieser Weg verhindert, dass in diesem
wichtigen Feld ein Erfolg für die Zukunft erzielt wird.
Ihre Aussage „Mit Dieben macht man keine Verträge“
ist verantwortungslos und bösartig, Herr Trittin. Sie trägt
nicht dazu bei, dass wir in diesem Thema vorankommen.
Es muss vielmehr darum gehen, den illegalen Holzeinschlag in den betroffenen Ländern durch entsprechende
Partnerschaftsabkommen zu verhindern und gleichzeitig in Zusammenarbeit mit der Holzindustrie und der
Forstwirtschaft vor Ort Möglichkeiten und Regelungen
zu finden, die uns auf dem Weg des Erhalts des Tropenwaldes und der Rahmenbedingungen für unsere eigene
Forstwirtschaft voranbringen.
Das sind wichtige Akzente für unsere Waldbesitzer,
aber auch weltweit für die Menschen in den betroffenen
Regionen, für den Erhalt unserer Tropenwälder und damit für den Erhalt der Artenvielfalt, für ein weltweites
Vorankommen im Klimaschutz. In diesem Bereich wollen wir als Union die entsprechenden Akzente setzen
und unsere Ideen weiterhin einbringen.
In diesem Sinne setze ich auf die Zusammenarbeit,
damit wir gemeinsam erfolgreich sind. Nur so kann es
gelingen, diesen wichtigen Bereich voranzubringen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
CDU/CSU zeigt:
Erstens. Die Zerstörung der tropischen Wälder schreitet voran.
Zweitens. Wir brauchen dringend internationale Lösungen, um den Urwaldtod zu stoppen.
Drittens. Deutschland nimmt im Kampf gegen die
Vernichtung der tropischen Regenwälder mit ihren verheerenden Auswirkungen auf das weltweite Klima eine
international führende Rolle ein.
Innerhalb des 20. Jahrhunderts hat sich eine dramatische Abnahme der globalen Waldressourcen vollzogen.
Es ist kaum vorstellbar, aber seit 1950 hat sich die Regenwaldfläche auf der Erde halbiert.
Die Konsequenzen sind fatal. Bodenerosion führt in
niederschlagsarmen Gebieten zu Wüstenbildung. Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen wird zerstört. Bodenverdichtung als Folge von Tropenwaldzerstörung ist Ursache für katastrophale Fluten, wie sie in
Bangladesch immer wieder auftreten.
Die Zerstörung von Regenwäldern durch Brandrodung setzt große Mengen CO2 frei. Die Erhöhung dieser
und anderer Treibhausgase wird den Treibhauseffekt
weiter verstärken. Die globale Erwärmung führt zu
weiterer Wüstenbildung und zu Naturkatastrophen.
Brandrodung ist zudem häufig die Ursache für riesige
Waldbrände wie etwa 1998 in Indonesien.
Das Ausmaß der Zerstörung und die folgenschweren
Auswirkungen auf unser Ökosystem sind bekannt.
Eigentlich müssten jetzt alle sagen: Stopp! Aber das passiert nicht; denn die Armut in den Entwicklungsländern
ist so groß, dass sie den Menschen zum nackten Überleben oft überhaupt keine andere Wahl lässt, als ihre Wälder abzuholzen.
Die rücksichtslose Zerstörung der globalen grünen
Lebensader ist aber für einige ein profitables Geschäft.
Jährlich werden nach Schätzung der OECD über
150 Milliarden Euro im illegalen Holzhandel verdient.
Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Auch
Deutschland wird mit illegal geschlagenem Holz beliefert. Wir kennen die genauen Zahlen nicht. Umweltverbände gehen aber davon aus, dass die Hälfte der Tropenholzimporte aus illegalem Einschlag stammt. Der Anteil
illegaler Holzimporte liegt nach diesen Schätzungen in
Deutschland zwar nur bei einem Prozent unserer Gesamteinfuhren. Wenn man aber bedenkt, dass dies einem
Gegenwert von über 300 Millionen Euro entspricht, ist
das schon ein ganz schön großer Brocken.
Wir haben gehandelt und im letzten Jahr im Bundestag einen Antrag beschlossen, mit dem wir dem Wahnsinn begegnen. Hierin zeigen wir auf, was schon alles
läuft und was noch zu tun ist. Was machen wir schon?
Ein Beispiel auf EU-Ebene: Die Bundesregierung hat
sich für den Ausbau des FLEGT-Prozesses stark gemacht. FLEGT ist das Kooperationsprogramm zwischen
der EU und Holzerzeugerländern mit dem Ziel, Legalität
sicherzustellen und nachhaltige Waldbewirtschaftung
voranzubringen. Seit Sommer 2004 liegt ein Verordnungsvorschlag vor, mit dem ein freiwilliges Genehmigungssystem für Holzimporte in die EU eingeführt werden soll.
Das ist ein großer Erfolg. Es gibt aber leider auch
Schwachstellen. Die Teilnahme der Tropenholz exportierenden Länder ist freiwillig, das Einhalten der Vereinbarung schwer zu kontrollieren. Dennoch ist die FLEGTVereinbarung ein ganz wichtiger erster Schritt hin zu
weltweit gültigen Richtlinien und Sanktionsmöglichkeiten.
Ein weiteres Beispiel ist die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit im Waldsektor. Der aktuelle
Fortschrittsbericht der Bundesregierung zeigt den hohen
Stellenwert der internationalen Waldpolitik im Rahmen
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahr
2003 förderte das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung etwa 170 Waldvorhaben in 50 Ländern.
Mit diesen Maßnahmen schützen wir die Tropenwälder und bekämpfen die Armut in den Entwicklungsländern. Es muss gelingen, den Schutz der Wälder in
Armutsminderungsstrategien einzubinden und den Menschen Einkommensalternativen anzubieten. Vieles haben
wir angeschoben, aber es bleibt noch eine Menge zu tun.
In der letzten Woche hat das UN-Waldforum in New
York getagt. Die Ergebnisse sind niederschmetternd:
trotz des vorbildlichen Engagements der Bundesregierung keinerlei Bewegung, wieder keine Einigung auf international verbindliche Standards zum Schutz der Wälder.
Meine Damen und Herren, wir dürfen trotzdem nicht
resignieren. Wir müssen sagen: Jetzt erst recht!
({0})
In unserem Urwaldantrag zeigen wir auf, wo es lang gehen muss: Fortsetzung der bilateralen Zusammenarbeit,
Schuldenerleichterung für Entwicklungsländer, die sich
zu Umweltschutzmaßnahmen verpflichten, Beibehaltung des vorbildlichen finanziellen Einsatzes Deutschlands im Rahmen von UNO und Weltbank für globale
Umweltschutzprogramme, Schaffung eines internationalen Netzwerkes von Schutzgebieten zu Lande bis zum
Jahr 2010, Unterstützung weltweit anerkannter Zertifizierungssysteme wie das FSC-Label sowie Voranbringen
des FLEGT-Prozesses mit dem Ziel, illegal geschlagenes
Holz und Holz aus Raubbau vom europäischen Markt
auszuschließen. Auch auf der nationalen Ebene prüfen
wir alle Handlungsmöglichkeiten zur Verbannung illegal
geschlagenen Holzes. Die Bundesregierung hat ihre Vorschläge in einem Urwaldschutzgesetz zusammengefasst. Ich hoffe sehr, dass wir es schon bald im Bundestag gemeinsam auf den Weg bringen werden.
Wir werden im Kampf gegen die Vernichtung der
letzten großen Regenwälder nur dann erfolgreich sein,
wenn es gelingt, dem illegalen Holzhandel das Handwerk zu legen und den Menschen in den Entwicklungsländern endlich nachhaltige Überlebensperspektiven
zu geben. Deutschland nimmt im Kampf gegen die Armut in den Entwicklungsländern und für den Erhalt der
Tropenwälder eine vorbildliche Rolle auf internationalem Parkett ein. Die anderen Länder werden unserem
Beispiel folgen, wenn wir diesen Weg fortsetzen. Das
tun wir.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tropische Wälder sind faszinierend. Jeder Bildband
zeigt das. Sie werden als Klimaanlage der Erde bezeichnet. Ihre Zerstörung nimmt Tier- und Pflanzenarten den
Lebensraum und schädigt das Klima. Wir alle sind uns in
diesem Hause immerhin einig, dass die weitere Zerstörung der Wälder gestoppt werden muss. Deswegen ist es
deprimierend, festzustellen, dass die Bundesregierung in
ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSUFraktion zu dem Schluss kommt: Der Trend zur Waldzerstörung konnte nicht gestoppt werden. Dies müssen
wir so feststellen. Daher, glaube ich, war Ihr Fazit, Frau
Hiller-Ohm, ein bisschen zu optimistisch.
In den meisten tropischen Ländern werden Wälder
zerstört, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen. Dies scheint unaufhaltsam zu sein. Gleichzeitig
dürfen wir nicht vergessen, dass auch unsere Wälder früher einmal aus diesem Grund abgeholzt wurden. Weitere
Gründe für die voranschreitende Zerstörung sind illegaler Holzeinschlag und Feuer, aber auch die Armut der
Bevölkerungen, die zur Übernutzung führt. Die Debatten
in diesem Haus haben gezeigt, dass alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages den Erhalt der verbliebenen Urwälder als wichtige globale Aufgabe ansehen. Nicht nur
SPD und Grüne, sondern auch die CDU/CSU-Fraktion
hat einen Antrag vorgelegt, dem wir zugestimmt haben.
Wir alle fühlen uns dieser Aufgabe verpflichtet. Deswegen ist es bedauerlich, dass ein gemeinsamer Antrag
nicht zustande kam. Das bedeutet nämlich, dass der Erhalt der Regenwälder einen geringeren Stellenwert hat
als die eigene Profilierung. Das finde ich bei so viel Gemeinsamkeit in dieser Frage beschämend.
Die FDP unterstützt den Erhalt der Primär- und Urwälder. Wir wollen, dass die Waldnutzung in den Entwicklungsländern im Wesentlichen der heimischen Bevölkerung zugute kommt. Das vielfach geforderte
Verbot, Holz illegaler Herkunft zu importieren, kann
nach Aussage der Bundesregierung nicht erlassen werden. Deswegen müssen andere Wege beschritten werden. Den vom Umweltminister vorgelegten Entwurf eines Urwaldschutzgesetzes bezeichne ich aber als eine
Farce. Er soll gegenüber verschiedenen Verbänden als
Handlungsnachweis dienen, ohne irgendwelche Realisierungschancen zu haben. Der Kollege Caesar hat zu
Recht darauf hingewiesen, dass 10 Hektar Wald, die in
einer halben Stunde zu durchqueren sind, sicherlich
nicht das sind, was wir uns unter einem Urwald vorstellen. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Aufbauprogramm für Bürokratie, das wesentlich mehr heimische
Betriebe in den Konkurs treibt, als es Bäume zu retten
vermag. Das kann es nicht sein.
({0})
Es gibt immerhin einen erwähnenswerten Lichtblick.
Den Tropenholz exportierenden Ländern ist es gelungen,
die Wertschöpfungspotenziale im eigenen Land stärker
auszuschöpfen. Das heißt, die Hilfe zur Selbsthilfe ist
erfolgreich. Das sollten wir würdigen.
Deutlich ist aber auch, dass die Förderung des FSCZertifikats durch die Bundesregierung, die immer mit
der Eindämmung des illegalen Holzeinschlags begründet
wurde, für den Erhalt der Wälder nichts gebracht hat.
Denn das Fazit bleibt: Der Trend zur Waldzerstörung
wurde nicht umgekehrt. Daher halte ich es für folgerichtig, dass sich die Bundesregierung davon verabschiedet
und inzwischen die gegenseitige Anerkennung der
Zertifikate für notwendig hält. Eine solche Anerkennung ist eine Forderung der FDP und daher unterstützen
wir die Bundesregierung in diesem Punkt.
({1})
Wir freuen uns über diese späte Einsicht der Bundesregierung. Ich will aber hinzufügen: Es ist nicht glaubwürdig, die gegenseitige Anerkennung zu fordern und
gleichzeitig ein Zertifikat zu fördern. Das ist unglaubwürdig. Die FAO, die auch von der Bundesregierung als
eine der wichtigsten Organisationen im Waldbereich
angesehen wird, hat schon vor Jahren einen Kriterienkatalog für Zertifizierungssysteme aufgestellt und die
gegenseitige Anerkennung gefordert. Der grüne Ökokolonialismus ist völlig ungeeignet, die drängenden Probleme zu lösen.
({2})
Bemerkenswert ist, dass der Anspruch der Verbraucher auf den „Ausschluss illegaler Herkünfte“ beim
Holzkauf thematisiert wird. Das macht doch sehr deutlich, wie sehr sich Rot-Grün bei der Behandlung dieser
Thematik an den Wunschbildern der Wohlstandsgesellschaft orientiert. Die FDP fordert dagegen, dass der
Waldschutz als eine zentrale Aufgabe einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik angesehen wird. Die existenziellen Bedürfnisse der Menschen in den betroffenen
Ländern haben einen viel höheren Stellenwert als Ansprüche der Wohlstandsgesellschaft.
({3})
In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage heißt es:
Vorhaben nachhaltiger Waldentwicklung sind für
den Privatsektor nur dann attraktiv, wenn ausreichende Rechts- und Investitionssicherheit gegeben
ist, die eine langfristig selbsttragende Finanzierung
und eine regional- und wirtschaftspolitische Konkurrenzfähigkeit zu anderen Landnutzungsformen
erlaubt.
Das ist richtig. Das hätte auch ein liberaler Minister
schreiben können.
Es bedeutet aber auch, dass die staatlichen Institutionen auf dem Forstsektor in die Lage versetzt werden
müssen, Recht und Gesetz durchzusetzen. Dazu ist ein
Mindestmaß an Wohlstand erforderlich. Das heißt, wirkliche Fortschritte beim Schutz der Wälder können nur erzielt werden, wenn die Armut erfolgreich bekämpft
wird, wenn die Menschen Möglichkeiten erhalten, sich
selbst zu versorgen.
Daher sind die Ansätze der Bundesregierung, die auf
mehr Bürokratie setzen - Kontrollen, Zertifizierungssysteme, Datenbanken etc. -, zu sehr aus dem Blickwinkel
der Wohlstandsgesellschaft formuliert. Sie stärken das
Ansehen zu Hause, ohne den Menschen vor Ort zu helfen und ohne die Wälder effektiv zu schützen. Diese Politik können wir uns schon lange nicht mehr leisten.
Einen Beitrag zur besseren Bekämpfung der Armut
könnte die von der Weltbank entwickelte neue Strategie
zum Schutz der Wälder leisten. Die Weltbank will das
Potenzial der Wälder zur Verminderung der Armut einsetzen, sie will Wälder in eine nachhaltige Entwicklung
integrieren und sie will lokal und global bedeutsame
Wälder schützen. Diesen Weg sollten wir beschreiten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von allen Rednerinnen und Rednern hier ist darauf hingewiesen worden, mit welch atemberaubendem Tempo die
letzten Urwälder der Erde vernichtet werden. Wenn man
sich klar macht, dass allein in den Tropen jedes Jahr eine
Fläche etwa von der Größe halb Italiens abgeholzt wird,
dann versteht man, warum die Vernichtung von Wald
eine wesentliche Ursache des Klimawandels ist. Circa
20 Prozent der anthropogenen CO2-Emissionen sind
durch Landnutzungsänderungen entstanden. Dies ist
aber natürlich nur ein Aspekt.
Ein anderer Aspekt ist der unwiederbringliche Verlust
biologischer Vielfalt. An dieser Stelle - man versucht
gern, Naturschutz und Menschenschutz in Gegensatz zueinander zu bringen - muss gesagt werden: Damit verbunden ist häufig der Verlust der Lebensgrundlage dort
lebender indigener Völker. Das heißt, Waldschutz, gerade der Schutz der tropischen Regenwälder, ist nicht
nur eine Frage des Naturschutzes, sondern auch praktizierte Menschenrechtspolitik.
Wir wissen, dass dieses Problem nicht allein in Bezug
auf die Tropen besteht. Wir wissen, dass in Indonesien
etwa 73 Prozent des Einschlages illegal ist. Aber auch in
Russland gibt es eine illegale Quote von 20 bis
30 Prozent. Wir wissen, dass wir dies alles nur gemeinsam und international bekämpfen können. Dazu zählen
die Initiative der Europäischen Union und natürlich auch
unsere Bemühungen im Rahmen des UN-Waldforums.
Es ist eine Schande, dass man sich auf diesem Forum erneut nicht auf entsprechende Maßnahmen einigen
konnte.
Das ist ein schwieriger Prozess, und ich gehöre wirklich zu denen in der Umweltpolitik, die sagen: Es gibt
gerade auf diesem Gebiet keine Alternative zu einem
multilateralen Prozess. Dennoch müssen wir auch die
Möglichkeiten nutzen, die wir heute schon vor Ort mit
unseren Mitteln haben können. Das sind keine Alternativen zu multilateralen und europäischen Vereinbarungen,
und das sind auch keine Alternativen beispielsweise zum
FLEGT-Prozess, es ist aber eine sinnvolle und wirkungsvolle Ergänzung.
Wir können uns nicht damit abfinden, dass ein großer
Teil des Holzes, das zu uns kommt, illegal geschlagen
wurde. Ich kann mich auch nicht damit abfinden, dass
wir, selbst wenn wir das wissen, faktisch keine Möglichkeit haben, hier aktiv zu werden. Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten das Beispiel gebracht, dass nach
einem Hinweis von Greenpeace das Bundesamt für Naturschutz Holz aus Brasilien vom Zoll hat beschlagnahmen lassen. Anschließend ist der Holzeinschlag von der
Regierung in Brasilien kurzerhand für legal erklärt worden, und wir mussten das unzweifelhaft illegal geschlagene Holz freigeben.
Unser Gesetzesvorschlag für ein Urwaldschutzgesetz
zielt auf die Ergänzung dessen, was wir im Rahmen der
Konvention über biologische Vielfalt, im Rahmen des
UN-Waldforums und im Rahmen der FLEGT-Initiative
der Europäischen Union machen wollen.
Ich habe Ihre Äußerungen, Herr Caesar, so verstanden, dass über den Grundgedanken hier im Hause ein
sehr breiter Konsens besteht. Ich finde, in der Zeit, in der
wir uns alle sozusagen für eine muntere, sportive und
hoffentlich faire Wahlauseinandersetzung rüsten, sollten
wir auch an dieser Stelle bei der vorhandenen Gemeinsamkeit bleiben.
Ich möchte Ihnen eines ganz deutlich sagen. Wir haben
ein klares Prä für FSC, weil es das einzige international
anerkannte Zertifikat ist. Wir haben aber nichts dagegen,
auch andere Zertifizierungssysteme zu akzeptieren. Wir
haben - das haben Sie richtig gesagt - die bewusste
Gleichbehandlung und die gegenseitige Anerkennung
gefordert, wenn auch nicht eine gegenseitige Anerkennung auf einem naturschutzfachlich und waldwirtschaftlich nicht akzeptierbaren Niveau. Vielleicht sollte man
sich darüber noch verständigen.
Wir haben kein Problem mit PFC; beide müssen einfach zueinander kommen, und ich glaube auch, dass das
möglich ist. Die Standards sind in der Praxis nicht so
weit voneinander entfernt, und wenn beide Seiten aufeinander zugehen, müsste man das hinbekommen können.
Aber bei dem malaiischen System gab es gerade das
Problem, dass sie sich bei FSC beworben haben, aber
grauenvoll an dem gescheitert sind, was das Besondere
am FSC ist, nämlich dass es nicht nur um die naturschutzfachliche, sondern auch um die Frage geht, wie
mit der ortsansässigen Bevölkerung umgegangen wird
und welche Sozialstandards es gibt. Das ist der Grund.
Ich finde, da muss man seine eigenen Regeln und
seine eigene Überzeugung ernst nehmen. Wir wollen
nicht ein Siegel für alle, aber wir wollen einen Standard
und einen Nachweis entsprechender Initiativen haben.
Übrigens ist hier alles privatwirtschaftlich organisiert.
Hier geht es nicht um eine staatliche Bürokratie. FSC ist
keine staatliche Veranstaltung. Daher müssten wir eigentlich zu einem Urwaldschutzgesetz kommen können.
Sie haben auf einen Punkt hingewiesen, bei dem wir,
glaube ich, auch ganz schnell zusammenkommen können. In Deutschland gibt es keine Urwälder mehr, wie
wir sie verstehen. Deswegen ist die Furcht der deutschen Waldwirtschaft unbegründet. Wir versuchen gerade, der deutschen Waldwirtschaft zu vermitteln, dass
diese Frage für sie gar kein Problem ist. Ich habe ein
bisschen den Eindruck, bei Prinz zu Salm-Salm ist das
inzwischen auch angekommen - jedenfalls bei ihm als
Person.
Es geht um den Handel mit illegal eingeschlagenem
Holz aus Urwäldern. Es gibt in Deutschland wenig illegalen Einschlag, wenn ich das so vorsichtig aussagen
darf, und praktisch keinen Urwald nennenswerter Größe.
Wenn Sie das an den 10 Hektar festmachen: Wir haben
dem Kollegen inzwischen 1 000 Hektar angeboten. Damit, finde ich, können auch die privaten Waldbesitzer leben.
Lassen Sie uns nun in diesem Sinne gemeinsam darum bemühen, die Naturzerstörung durch die Vernichtung der letzten Urwälder und auch die permanente
Menschenrechtsverletzung - Herr Caesar, in vielen
Gebieten geht es dabei leider nicht nur um Diebstahl,
sondern auch um Mord und Vertreibung - zu verhindern!
Lassen Sie uns gemeinsam die Möglichkeiten, die wir
hier haben, nutzen und über ein solches Urwaldschutzgesetz dafür sorgen, dass nur Holz aus nachweislich vernünftig bewirtschafteten Wäldern hier auf dem Markt
gehandelt werden kann! Das sollten wir eigentlich gemeinsam hinbekommen, wenn wir schon so weit sind.
Wenn ich die beiden Anträge übereinander lege, erkenne
ich, dass das eigentlich zusammenpassen müsste.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir Deutschen haben ein wirtschaftspolitisches,
ein ökologisches, aber auch ein sicherheitspolitisches Interesse am Erhalt der Tropenwälder. Das Abbrennen der
Tropenwälder in Indonesien und die dadurch zu erwartende Klimaveränderung verursachen auch bei uns
volkswirtschaftliche Kosten. Zudem führt der Verlust
von Tropenwäldern oft zur ökologischen Destabilisierung ganzer Regionen. Der Verschlechterung der
Christa Reichard ({0})
Lebensbedingungen führt zu Migrationsströmen, die uns
auch bei uns zu Hause erreichen.
Vielen ist gar nicht bewusst, welche langfristigen
Folgen das Abholzen und das Abbrennen der Tropenwälder für die Menschen vor Ort wirklich haben. Tropenwälder und die darin enthaltene biologische Vielfalt
sind in vielerlei Hinsicht die Lebensgrundlage und die
Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung. In vielen
Regionen sind die Beseitigung der Armut, die Ernährungssicherheit, die Versorgung mit Trinkwasser, der
Schutz der Böden und die Gesundheitsversorgung unmittelbar mit dem Erhalt der Tropenwälder verbunden.
Die Existenzgrundlage gerade armer Bevölkerungsschichten in vielen ländlichen Regionen in Südostasien,
Lateinamerika und Zentralafrika hängt direkt vom Erhalt
der Wälder ab.
Besorgnis erregend ist die Geschwindigkeit, mit der
die Wälder verschwinden. Von den ursprünglich vorhanden gewesenen Tropenwäldern der Erde existieren heute
nur noch 20 Prozent. Weltweit gehen pro Jahr rund
15 Millionen Hektar Wälder verloren. Das ist etwa die
Fläche von Bayern, Hessen und Niedersachsen zusammen oder die Fläche von Italien, wie wir gerade gehört
haben. Mit dem Verlust derart großer Waldflächen versiegen Flüsse und Bäche. Der Grundwasserspiegel sinkt.
Wertvolle Naturressourcen gehen verloren. Die Bodenerosion nimmt zu und der Klimawandel verstärkt sich.
Natürlich ist es unsere gesellschaftliche Verantwortung, uns für den Erhalt der Schöpfung einzusetzen und
ökologische Integrität wichtiger Ökosysteme für zukünftige Generationen zu bewahren. Doch leider haben solche Appelle in der Vergangenheit noch nie viel bewirkt,
vor allem nicht in Entwicklungsländern, in denen die Politiker auch andere wichtige Probleme zu lösen haben.
Aber dank der Umweltökonomie, die den Wert des
Naturschutzes bzw. die Kosten der Umweltzerstörung
zumindest in Ansätzen monetär zu bewerten vermag,
wissen wir heute, dass die Naturzerstörung auch ein großes ökonomisches Problem darstellt. Naturzerstörung,
ausgedrückt in volkswirtschaftlichen Kosten, bleibt viel
eher in den Köpfen der Entscheidungsträger hängen als
ökologische Appelle allein und hat in vielen Fällen
schon geholfen, die Vernichtung bedeutender Naturgebiete zu verhindern.
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das
große Potenzial der Regenwälder für Forschung, Wissenschaft, Medizin und auch Tourismus, welches uns zunehmend verloren geht. Moderne Nutzen-Kosten-Analysen zur Bewertung des volkswirtschaftlichen Werts
wichtiger Naturressourcen sind heute gefragter denn je.
Sie helfen uns, den ökonomischen Wert oder die Kosten
ökologischer Veränderungsprozesse zu bewerten. Sie erleichtern uns die politische Entscheidungsfindung im
Umweltbereich. Natürlich kann der Wert der Natur nicht
auf Heller und Pfennig in Geldeinheiten ausgedrückt
werden. Wir bekommen aber mithilfe dieser Methoden
hilfreiche Anhaltspunke, die für politische Entscheidungen unerlässlich sind.
Die ganze Welt bedient sich inzwischen solcher Methoden, allen voran die Weltbank, die OSZE, die Europäische Union und viele europäische Entwicklungsorganisationen. Umso erstaunlicher finde ich die Antwort der
Bundesregierung auf die heute zur Debatte stehende
Große Anfrage der Unionsfraktion. Ganz unverblümt
gibt Rot-Grün zu, dass derartige Studien in dem heute
debattierten Kontext nicht unterstützt werden. Ich halte
dies für dilettantisch und höchst unprofessionell.
Lassen Sie mich folgendes Beispiel anbringen: Allein
die durch Walddegradierung provozierten Torfbrände im
indonesischen Teil der Insel Borneo im Jahr 1997 haben
eine Kohlendioxidmenge freigesetzt, die mehr als dem
Zehnfachen dessen entspricht, was in Deutschland in
den letzten zehn Jahren im Rahmen der Kioto-Vereinbarungen eingespart wurde. Kollege Caesar hat bereits darauf hingewiesen.
({1})
Berechnungen haben ergeben, dass es für Deutschland
wesentlich günstiger gewesen wäre, sich auch beim Tropenwaldschutz in Südostasien zu engagieren, als ausschließlich Treibhausgasemissionen in Deutschland einzusparen.
Ein weiterer viel versprechender Ansatz ist der Kauf
oder die Pacht von Tropenwaldkonzessionen durch
westliche Naturschutz- oder Entwicklungsorganisationen, um Kahlschlag und Brandrodung zu verhindern
bzw. nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden einzuführen. Dies kann, richtig ausgeführt, ein Ansatz sein, der
sowohl von Partnerländern als auch von der lokalen Bevölkerung unterstützt wird. Aber auch dieses Konzept
lehnt die rot-grüne Bundesregierung ab, wie in ihrer
Antwort auf unsere Große Anfrage zu lesen ist.
Ich könnte in diesem Zusammenhang noch weitere
Versäumnisse der rot-grünen Bundesregierung aufzählen. Stattdessen möchte ich sagen, dass das gegenwärtige
deutsche Engagement beim internationalen Tropenwaldschutz wenig innovativ und wenig flexibel ist. Angesichts der ohne Übertreibung als dramatisch zu bezeichnenden Bedrohung lässt das Engagement von Rot-Grün
zu wünschen übrig. Das gilt auch für die Entwicklungsministerin, die offensichtlich an dieser Debatte kein Interesse hat. Der schleichende Bedeutungsverlust des Sektors Natur- und Ressourcenschutz in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit muss umgehend ein Ende
haben. Dafür werden wir sorgen.
({2})
Meine Damen und Herren, uns allen sollte bewusst
sein, dass das derzeitige Engagement der Industrieländer
und auch Deutschlands im Bereich des Tropenwaldschutzes zu gering ist. Ich halte daher eine sofortige,
groß angelegte und international abgestimmte Initiative
zum Schutz der Tropenwälder für erforderlich - nicht
nur aus Interesse am Naturschutz und an den LebensbeChrista Reichard ({3})
dingungen der Menschen vor Ort, sondern auch aus globaler ökonomischer Perspektive.
Ich danke Ihnen.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst der Frage stellenden Fraktion, der CDU/CSU, dafür danken, dass sie dafür gesorgt
hat, dass wir über dieses Thema diskutieren können. Sowohl die Erstellung der Fragen als auch die der Antworten war angesichts der Vielzahl der Seiten sicherlich eine
Fleißarbeit.
({0})
Ich fand es etwas schade, dass man sich auch bei diesem Thema nicht des Wahlkampfes enthalten hat. Herr
Kollege Caesar, Sie müssen mir nachher noch einmal erklären, wie Sie den Sprung vom Regenwald zur deutschen Steuerpolitik geschafft haben. Ich glaube, das
konnte außer Ihnen keiner nachvollziehen.
({1})
Wir teilen die Einschätzung der Bedeutung des tropischen Regenwaldes für das weltweite Klima. Wir sind
darüber hinaus der Meinung, dass die borealen Wälder
und die großen Urwälder Nordeuropas und Nordamerikas die gleiche Bedeutung haben. Insofern fand ich es
schade, dass in der Großen Anfrage darauf nur mit einem einzigen Satz eingegangen wurde. Wir müssen
nämlich darauf achten, dass bei den Ländern, die tropischen Regenwald haben, kein falscher Eindruck entsteht.
Der Schutz der Wälder und der Schutz des Klimas bei
uns in den Industriestaaten müssen vorbildlich sein; erst
dann kann von anderen ebenfalls der Schutz wichtiger
Wälder eingefordert werden.
Deutschland spielt beim Schutz des tropischen Regenwalds eine positive Rolle. Das merkt jeder, der sich
vor Ort informiert und mit den Projektträgern und den
Einheimischen spricht. Das hat unter der Regierung
Kohl begonnen und ist unter der Regierung Schröder
fortgesetzt worden. Erlauben Sie mir als klimapolitischem Sprecher auch das zu sagen: Es wäre schön gewesen, wenn Sie in anderen Bereichen des Klimaschutzes
vor 1998 genauso konsequent gearbeitet hätten wie im
Bereich des tropischen Regenwalds.
Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm ist schon detailliert
auf die Bedeutung des tropischen Regenwalds eingegangen. Als klimapolitischer Sprecher möchte ich in diesem
Zusammenhang mehr auf die Fragen des Klimaschutzes
eingehen. Fakt ist: Die Zerstörung des Regenwalds führt
zu erheblichen Emissionen von klimaschädlichen Gasen.
Oft werden die durch die Zerstörung des Waldes gewonnenen Flächen nur sehr kurzzeitig genutzt; danach liegen
sie brach oder es entsteht Sekundärwald. Auf jeden Fall
werden sehr viel weniger Gase gebunden, als zuvor bei
der Vernichtung des Primärwaldes freigesetzt wurden.
Klimaschutz heißt in den Regionen des tropischen
Regenwalds noch mehr als anderswo auf der Welt, den
Menschen Alternativen zur Zerstörung der Wälder
zu geben. Ich konnte mich im Jahr 2001 zusammen mit
dem Kollegen Caesar in Brasilien vor Ort über Projekte
zum Schutz informieren und mir ansehen, was in den
Regionen geschehen ist, in denen der Primärwald schon
vernichtet worden ist. Eine Gemeinsamkeit aller Regionen, die wir uns angesehen haben, war: Überall dort, wo
die Flächen nur kurzfristig genutzt wurden - nach Rodung oder Brand -, ist die Region nicht nur ökologisch,
sondern auch ökonomisch verarmt. Es entstanden Slums,
es gab Erosion und Krankheiten. Dort, wo wir auf neue,
integrierte, moderne, nachhaltige Nutzungsmethoden gestoßen sind, war die Situation anders. Wir haben uns
zum Beispiel eine Region angeschaut, wo nur alle
25 Jahre sehr gezielt Stämme entfernt werden und der
Primärwald erhalten bleibt, oder eine, wo es einen gemeinsamen Anbau von Feldfrüchten und Bäumen zur
Wiederaufforstung gab. Das erwies sich nicht nur als
ökologisch verträglich, sondern diese Regionen erlebten
auch einen ökonomischen Aufschwung; denn es lohnt
sich, vor Ort in Infrastruktur zu investieren, wenn man
keine Wanderbewegung in der Wirtschaft haben will.
Das macht einen großen Unterschied.
Wichtig ist: Entwicklung und Schutz des Regenwalds
sind also nicht nur zu vereinbaren, sondern sie bedingen
sich gegenseitig und gehören zusammen.
Aber noch einmal zurück zu meiner Feststellung, dass
wir mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Das gilt
zum einen im direkten Zusammenhang mit dem tropischen Regenwald. Jeder Verbraucher kann sich zum Beispiel dafür entscheiden, Produkte aus einer nachhaltigen Regenwaldnutzung und nicht aus Raubbau zu
kaufen. Man muss eben wissen, dass, wenn man bestimmte Liegen für 49 Euro kauft, dafür Wald niedergeholzt und nicht nachhaltig genutzt wurde. Dafür gibt es
die Labels. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Überzeugung, dass FSC ein sehr erfolgreicher und moderner Ansatz ist.
Europa und Nordamerika müssen zum anderen vorbildlich vor der eigenen Haustür agieren. Deswegen gilt
es, die verbliebenen großen Wälder zu schützen. Erst
dann ist man glaubwürdig. Glaubwürdigkeit ist immer
entscheidend in den Diskussionen mit Vertretern des Südens. Sie fragen einen: Zeigt der Norden, dass Klimaschutz und Entwicklung zu vereinbaren sind?
({2})
Diese Frage ist auch für andere Gesetzgebungen, die
wir machen, hochaktuell. Wir unterhalten uns zurzeit
darüber, die in den Klimavereinbarungen zugesagte Reduzierung der Emission von Treibhausgasen auch durch
Mechanismen in anderen Ländern zu erreichen, also
nicht nur zu Hause, sondern auch in den Schwellenländern und Entwicklungsländern. Das ist eine wichtige
Frage, weil wir darüber den Technologietransfer fördern
wollen, die Schwellen- und Entwicklungsländer einbinden wollen und eines Tages vielleicht sogar die USA
wieder in den Klimaschutz zurückholen wollen. Jetzt haben wir aber die Situation, dass einige Mitgliedstaaten
der EU und die Opposition aus CDU/CSU und FDP fordern, mit diesen Mechanismen nicht den Klimaschutz zu
Hause in Deutschland voranzutreiben, sondern sie in den
Entwicklungsländern unbegrenzt zu erlauben, in Maximalposition also den gesamten Klimaschutz im Ausland zu betreiben. Dazu möchte ich sagen: Ich glaube,
dies ist kurzsichtig. Es widerspricht nationalen deutschen Interessen und schadet der internationalen Zusammenarbeit.
({3})
Nur eine Mischung aus Klimaschutz zu Hause und Technologietransfer in die Entwicklungsländer kann tatsächlich Wirkung erzielen.
Ich werde das näher erläutern. Zuerst zur Frage des
nationalen Interesses. Warum haben wir als Deutsche ein
nationales Interesse daran, dass Klimaschutz auch in
Nordamerika und in Europa betrieben und nicht nur in
Ländern des Südens bezahlt wird? Deutsche Firmen sind
führend bei Klimaschutztechnologien. Wenn Klimaschutz jetzt nur noch durch Billigstmaßnahmen in den
Entwicklungsländern, in den Ländern des Südens betrieben wird, werden Exportchancen für unsere deutschen
Unternehmen gefährdet. Das kann doch keiner wollen.
Allein aus diesem Grund sollten Sie als CDU/CSU und
FDP Ihre Position einmal überdenken.
({4})
Zweites Argument: Die unbeschränkte Nutzung ist
auch kurzsichtig. Wenn alles Geld für den Klimaschutz
nur noch auf kurzfristige Billigmaßnahmen in Entwicklungsländern konzentriert wird, fehlen Geld und Anreiz
für die Entwicklung neuer Technologien, die zusätzliche Schritte beim Klimaschutz ermöglichen. In Kürze
gingen uns die bezahlbaren Maßnahmen aus und es fehlten uns die Technologien, um weitere Schritte beim Klimaschutz zu erreichen. Gerade Hightechländer wie
Deutschland verlören damit einen sich sonst bildenden
Weltmarkt.
Drittes Argument, warum eine unbeschränkte Nutzung für die internationale Zusammenarbeit selbst
schädlich ist: Ein Verzicht auf Klimaschutzanstrengungen in den Industriestaaten mit der Begründung, die
Kosten für den Klimaschutz seien bei uns zu hoch, deshalb müsse er im Süden verfolgt werden, stärkt diejenigen in den Ländern des Südens, die sagen, Entwicklung
und Klimaschutz seien nicht miteinander vereinbar. Sie
lesen ganz genau, was in den Debatten in den Industrieländern gesagt wird, und ziehen daraus den Schluss, wir
glaubten nicht, hier Klimaschutz und Wohlstandsentwicklung gleichzeitig vorantreiben zu können, und wollten dies lediglich auf die Menschen im Süden verlagern.
Wenn man sich mit diesen Menschen unterhält, bekommt man genau dies zur Antwort. Daher wäre unser
Wunsch, auch die Schwellen- und Entwicklungsländer
zur Übernahme von Klimaschutzzielen zu verpflichten,
dann nicht zu erreichen.
Auch weil die Vereinigten Staaten die Einbindung der
Schwellen- und Entwicklungsländer als Voraussetzung
nennen, um überhaupt selbst wieder dem internationalen
Klimaschutz beizutreten, wäre eine unbeschränkte Nutzung, wie Sie sie von uns fordern und die wir Ihnen zu
Recht verweigern, ein Fehler. Wir würden es auf diese
Weise nie schaffen, den größten Emittenten klimaschädlicher Gase in die internationale Zusammenarbeit einzubinden.
Akzeptiert man diese Einschätzungen, dann kommt
man zu folgendem Fazit: Deutschland muss sich am
weltweiten Klimaschutz beteiligen, gerade auch am
Schutz des tropischen Regenwalds. Aber die Vorbildfunktion findet vor der eigenen Haustür statt.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
9 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lebenslagen in Deutschland - Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht
- Drucksache 15/5015 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan für Deutschland zur
Bekämpfung von Armut und sozialer Aus-
grenzung 2003 bis 2005
Strategien zur Stärkung der sozialen Integra-
tion
- Drucksachen 15/1420, 15/3041 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan für Deutschland zur
Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2003 bis 2005 - Aktualisierung 2004
Strategien zur Stärkung der sozialen Integration
- Drucksache 15/3270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Christoph Hartmann ({4}), Cornelia Pieper,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bildungsarmut in Deutschland feststellen und
bekämpfen
- Drucksachen 15/3356, 15/4587 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Gesine Multhaupt
Werner Lensing
Grietje Bettin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit und Soziales, Ulla Schmidt.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung füllt eine Lücke, die von der Regierung
Kohl mit Absicht hinterlassen worden ist. Die damalige
Regierung wollte die mit einem solchen Bericht verbundenen heißen gesellschaftlichen Eisen nicht anpacken.
Wer den Bericht genau liest, wird sehen, dass die
Frage, ob jemand arm ist oder zu denen gehört, denen es
in unserer Gesellschaft besser geht, eng damit verbunden
ist, welche Ausbildungschancen und welche Chancen
auf dem Arbeitsmarkt der Einzelne hat.
({0})
Deshalb ist eine der wesentlichen Folgerungen, die sich
aus diesem Bericht, aber auch aus der Politik ergeben
- und die die Bundesregierung vor allen Dingen mit der
Agenda 2010 auf den Weg gebracht hat -, für die Menschen einen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu schaffen und ihnen die Chance zu eröffnen, ihre Existenz und
die ihrer Familien zu sichern.
Wir tun alles, um die Rahmenbedingungen für Arbeit
und Beschäftigung zu schaffen. Bei genauem Hinsehen
zeigt sich allerdings, wie entscheidend es ist, welche
Form von Arbeitsplätzen und Teilhabemöglichkeiten angestrebt wird. Der Satz, sozial ist, was Arbeit schafft,
wird von Ihrer Seite immer wieder gesagt.
({1})
Dabei verschweigen Sie: egal unter welchen Bedingungen. Darin unterscheiden wir uns. Auch wir sagen, sozial
ist, was Arbeit schafft. Damit meinen wir aber Arbeit in
Würde und Arbeit, die den Menschen Sicherheit verschafft. Das ist ein entscheidender Unterschied.
({2})
Zu allen notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes
sowie der sozialen Sicherungssysteme gehört es, dass
wir Arbeitsplätze schaffen, die den Menschen ein Einkommen garantieren, von dem sie und ihre Familien leben können und bei denen die Schutzrechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gewahrt bleiben.
({3})
Denn die eigene Existenz zu sichern ist eine wesentliche
Voraussetzung für die Freiheit von Menschen und die
Bekämpfung von Armut.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Immer.
Frau Ministerin, Sie haben die Notwendigkeit auskömmlicher Arbeit sehr betont. Sind Sie bereit, einzuräumen, dass gerade jetzt wieder statistisch festgestellt
wurde, dass 300 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zum Vorjahr verloren gegangen sind, und dass Sie Ihre beschäftigungspolitischen Erfolge - wenn es überhaupt welche gibt allenfalls auf dem Gebiet der 1-Euro-Jobs, der geringfügigen Beschäftigung und der Ich-AG, also bei nicht
auskömmlichen Beschäftigungsverhältnissen erzielen?
Können Sie das bestätigen und wie würden Sie das gegebenenfalls bewerten?
Es gibt heute neben den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen eine große Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit. Selbstverständlich führen gerade
Minijobs und Midijobs, deren Einführung vor allen Dingen auf Ihre Empfehlungen zurückgeht,
({0})
aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
heraus.
({1})
- Sie funktionieren aber nicht ohne weiteres als Brücke
in den ersten Arbeitsmarkt. Wir haben heute in den sozialen Sicherungssystemen rund 1 Milliarde Euro weniger
Einnahmen, weil die Minijobs nicht dazu geführt haben,
dass die Betroffenen direkt in den ersten Arbeitsmarkt
zurückkehren.
({2})
Sie decken vielmehr andere Formen der Beschäftigung
ab.
Wenn wir sagen, sozial ist, was Arbeit schafft, und alles andere hintanstellen, werden wir in Zukunft verstärkt
erleben, dass die Menschen vielleicht zwei, drei oder
vier Minijobs haben müssen, damit sie überhaupt existieren können. Das ist nicht unsere Politik. Wir setzen
darauf, in diesem Lande wirklich Sozialpolitik zu machen.
Wir wollen trotz der Reformen, die notwendig sind,
und trotz einer Veränderung bei der Erwerbstätigkeit
- denn heutzutage wechselt ein Mensch mehrmals zwischen selbstständiger Arbeit, auch in Form der Ich-AG,
und einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt - Arbeitsplätze schaffen, bei denen die Rechte und die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer garantiert sind.
({3})
Unser Ziel ist, Arbeit zu schaffen und gute Ausbildungsmöglichkeiten für die junge Generation und gute Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten. Wir wollen die Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechte und starke
Betriebsräte erhalten und dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können
({4})
und die sozialen Sicherungssysteme weiter Bestand haben.
Angesichts der Tatsache, dass es weniger sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gibt, müssen wir eine
Diskussion über die Reform der sozialen Sicherungssysteme führen, da die Anbindung allein an Lohn und Gehalt nicht ausreicht, um tatsächlich auf Dauer einen ausreichenden Schutz zu gewähren.
({5})
Unsere Forderung ist, die Bürgerversicherung einzuführen. Ihre Forderung ist, eine Privatisierung vorzunehmen. Die der CDU/CSU ist, eine Kopfpauschale einzuführen.
({6})
Meine Damen und Herren, anknüpfend an das, was
der Kollege Kolb angesprochen hat, möchte ich feststellen, dass wir mit unserer Politik den Sozialstaat erneuern. Wir erneuern ihn, damit er auch unter schwierigeren
Bedingungen erhalten bleibt und auch in Zukunft für unsere Kinder und unsere Enkelkinder das leistet, was er
auch für unsere Generation geleistet hat, nämlich die
wesentlichen Lebensrisiken der Menschen abzusichern
und dafür zu sorgen, dass es in einer Gesellschaft, die
vielfältigen Veränderungen unterworfen ist, gerecht und
verlässlich zugeht.
Das ist keine einfache Aufgabe. Sie ist vielleicht damit vergleichbar, ein etwas schwerfälliges Schiff in stürmischer See um Klippen herum und an Sandbänken und
Wracks vorbei zu steuern.
({7})
Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich nicht gescheut, dieses Schiff zu besteigen, sondern sie haben gesagt: Wenn wir wollen, dass unsere
Kinder und unsere Enkelkinder in Sicherheit leben, dann
müssen wir heute notwendige, wenn auch manchmal
nicht sehr beliebte Reformen anpacken. Denn wer heute
nichts tut, fährt den Sozialstaat gegen die Wand und das
Schiff auf die Klippen.
({8})
Wir haben die Reformen angepackt und es geschafft,
das Schiff um die Klippen herumzuführen. Die sozialen
Sicherungssysteme sind nicht auf Grund gelaufen. Wir haben konsolidiert, und zwar angefangen bei der Gesundheitsreform, die wir ja noch mit Teilen der CDU/CSU zusammen gemacht haben. Der Unterschied ist: Als es
dann stürmisch wurde auf hoher See, waren wir fast alleine. Nur die Kollegen Seehofer und Zöller gingen nicht
von Bord. Die, die in den Verhandlungen am lautesten
nach Privatisierung gerufen haben, waren ja die, die als
Erste vom Schiff gingen, als es ein bisschen brenzlig
wurde. Aber da ist der Kollege Zöller ausgenommen.
({9})
Die Rentenreform werden wir wahrscheinlich alleine
machen können.
({10})
Wer den Armutsbericht und den Bericht über die Alterssicherung liest, der wird feststellen, dass Alter und
Armut heute nicht mehr so zusammengehören, wie das
früher der Fall war. Vielmehr hat sich die Einkommenssituation der älteren Generation verbessert - ich bin
stolz darauf -,
({11})
unter anderem durch die Einführung der Grundsicherung. Dass heute nur noch 1,8 Prozent der älteren Generation über 65 auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist eine
Leistung und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wenn man allerdings sieht, was Sie vorhaben, kann
man sagen: In 20 Jahren ist das anders.
({12})
Wir bauen die zweite Säule auf. Das ist notwendig. Die
CDU/CSU will mit ihren Beschlüssen den Rentnern und
Rentnerinnen die Renten um 10 Prozent kürzen. Ich
kann das hier nur noch einmal sagen. Ihre Beschlüsse
bedeuten 10 Prozent Rentenkürzung.
({13})
Mit Armutsbekämpfung und Sicherung im Alter hat dies
überhaupt nichts mehr zu tun.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Sozialpolitik
und Armutsbekämpfung gehört im 21. Jahrhundert auch
die Bildungspolitik. Investitionen in die Köpfe unserer
Jugend, Investitionen in Forschung und Wissenschaft
tragen dazu bei, dass unsere Produkte im weltweiten
Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben. Wir wollen keine
Konkurrenz um billige Arbeitskräfte, sondern eine Konkurrenz mit guten Arbeitsplätzen und zukunftsweisenden Produkten. Das ist unser Ziel.
Das ist auch das Ziel der Agenda 2010, die der Bundeskanzler auf den Weg gebracht hat. Sie hat zwei zentrale Punkte. Der erste Punkt ist, die Chancen für junge
Menschen zu erhöhen, eine gute Ausbildung zu erhalten.
Das ist in einer globalisierten Wissensgesellschaft das
Wichtigste. Deshalb nehmen wir Geld in die Hand und
investieren in Kinderbetreuung und Ganztagsschulen,
damit alle eine bessere Chance als heute haben.
({15})
Der zweite Punkt sind die Reformen des Arbeitsmarktes. Wir wollen mit den Reformen des Arbeitsmarktes erreichen, dass die Menschen, die arbeitslos werden,
schneller in neue Arbeit vermittelt werden, dass Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote erweitert werden.
Vor allen Dingen muss es gelingen, jungen Menschen
unter 25 in diesem Land eine Chance auf Ausbildung
oder Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben.
In den letzten Monaten konnten wir die Arbeitslosigkeit der jungen Menschen unter 25 um 10 Prozent senken. Das ist ein Erfolg und spricht für die Maßnahmen,
die wir eingeleitet haben. Sie sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass diese jungen Menschen überhaupt die Chance haben, mit ihren Familien nicht in die
Armut zu rutschen und ihren Weg in der Gesellschaft zu
finden. Ich bin stolz darauf, dass wir das gemacht haben.
Das sind die richtigen Antworten auf den Bericht, der
hier heute vorliegt.
({16})
Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
haben zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik den Mut gehabt, die Ärmsten der Armen in die
Förderung von Teilhabe und Chancen einzubeziehen.
Die mehr als 2 Millionen erwachsenen Menschen, die
bisher von der Sozialhilfe leben, haben jetzt die Chance,
an den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilzunehmen und Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote anzunehmen. Erstmalig sind sie rentenversichert,
pflegeversichert, krankenversichert. Das ist der Weg aus
der Armut. Darüber wird leider viel zu wenig diskutiert,
wenn es um Hartz IV geht.
({17})
Offensichtlich hat sich unsere Gesellschaft mit
2,5 Millionen Sozialhilfeempfängern ohne Chancen auf
dem Arbeitsmarkt abgefunden. Wir tun das nicht. Wir
wollen Teilhabe, auch die Teilhabe der Kinder von Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern. Das ist
unser Weg der Armutsbekämpfung.
({18})
Ich kann Ihnen eines sagen: Bei uns sind Armutsbekämpfung und Sozialpolitik gut aufgehoben. Was uns
drohen würde, wenn Sie die Regierung stellen würden,
sagt uns vielleicht Kollege Zöller, der nach mir reden
wird. Ich weiß nur von dem, was in den letzten Tagen
gesagt wurde. Langsam lüftet sich, wie CDU/CSU und
FDP ihre Vorschläge finanzieren wollen. Sie leisten aber
keinen Beitrag zur Armutsbekämpfung, wenn demnächst die Krankenschwester oder der Nachtschichtarbeiter pro Monat erheblich weniger in der Tasche hat,
weil Sie die Steuerfreiheit für Nacht- und Wochenendund Feiertagszuschläge abschaffen wollen.
Man muss wissen, dass Sie die Renten kürzen würden. Dadurch, dass Sie im Gesundheitswesen eine Kopfpauschale einführen wollen, würden zwei Drittel der
Rentnerhaushalte zu Bittstellern beim Staat.
({19})
Verschwiegen wird, dass in all Ihren Konzepten weder
die Absicherung von Zahnbehandlungen noch das Krankengeld enthalten sind.
({20})
Lassen Sie uns jetzt darüber diskutieren, wie es in unserem Lande weitergehen soll! Ich weiß nur eines: Wenn
das, was in den letzten Tagen durch Vertreter Ihrer Parteien an die Öffentlichkeit geraten ist, wahr wird, dann
ist das kein gutes Zeichen für die Menschen in Deutschland,
({21})
dass Sie die Armut in diesem Lande bekämpfen können.
Vielen Dank.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Schmidt, ich habe eine große
Befürchtung: Wir wollen heute zwar über den Zweiten
Armuts- und Reichtumsbericht diskutieren,
({0})
aber es scheint, als hätten Sie einen anderen Bericht bekommen als wir, die Opposition.
({1})
Das, was Sie hier vorgetragen haben, hat mit den Inhalten des Berichts nichts zu tun;
({2})
dazu werde ich gleich ein paar Fakten nennen.
Es muss wohl an Ihrem schlechten Gewissen gelegen
haben, dass Sie die Diskussion im Bundestag ganz bewusst auf einen Termin nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen platziert haben.
({3})
Diese Taktik ging auch auf, bis zum Sonntagabend nach
der Wahl um 18 Uhr.
({4})
Dann allerdings hat Ihnen Kanzler Schröder dieses faule
Ei durch seine eigenmächtige Entscheidung etwas zu
früh wieder ins Nest gelegt; denn eigentlich sollte die
nächste Bundestagswahl erst in eineinhalb Jahren stattfinden.
({5})
Wenn der Inhalt des Berichts nicht so deprimierend
wäre, könnte man fast noch Schadenfreude empfinden.
Wir beraten heute den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Mit diesem Bericht, der auf einen Antrag
von Rot-Grün zurückgeht, wollen Sie eine qualifizierte
Datengrundlage über die Verteilung der Einkommen in
Deutschland schaffen. Gleichzeitig sei dieser Bericht ein
Instrument zur Kontrolle der Wirksamkeit Ihrer Politik.
({6})
Bis hierhin ist alles in Ordnung.
Aber jetzt kommt es. Wie sieht das Ergebnis aus?
Dieser Bericht offenbart das absolute Scheitern der Regierung bei der Bekämpfung der Armut.
({7})
Das Armutsrisiko hat unter Rot-Grün zu- und nicht abgenommen. Das allein allerdings ist für Rot-Grün noch
nicht so schlimm. Viel schlimmer müsste für Sie sein,
dass der Abstand zwischen Arm und Reich zugenommen
hat.
Das ist dadurch zu belegen - wenn man den Bericht
genau liest, stellt man das fest -, dass über 1 Million
Kinder Sozialhilfe beziehen, dass die Überschuldung der
privaten Haushalte um über 13 Prozent gestiegen ist,
dass Alleinerziehende ein überproportionales Armutsrisiko von 35,4 Prozent tragen, dass die Zahl der Menschen, die nicht mehr aus der Sozialhilfekarriere herauskommen, steigt und dass die Rekordarbeitslosenzahl die
Hauptursache der Armut ist.
Was mich bei der Diskussion stört, ist die Argumentationslinie der Regierung: Schuld ist - so behaupten Sie
zumindest - die Schwäche der Weltwirtschaft, die Sie
noch durch den 11. September 2001 negativ beeinflusst
sehen.
({8})
Mit diesem Erklärungsversuch machen Sie es sich meiner Meinung nach viel zu einfach. Diese Erklärung ist
falsch, und zwar auch deswegen, weil Deutschland, was
das Wachstum angeht, unter den 25 EU-Staaten auf dem
25. Platz ist. Auf diese externen Bedingungen hatten die
übrigen Länder doch keine andere Einflussmöglichkeit
als wir.
({9})
An der Wachstumsschwäche in Deutschland ist einzig
und allein die verquere Wirtschaftspolitik schuld - da
können Sie noch so viel dazwischenrufen.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kirschner?
Selbstverständlich. Ich hoffe, dass es nicht seine letzte
ist; schade, dass er aufhört.
({0})
Herr Kollege Zöller, warum berücksichtigen Sie bei
Ihrer Kritik - die rein statistisch sicherlich richtig ist nicht, dass wir 1 Prozent Wachstum haben, und wieso
wird in der öffentlichen Diskussion und bedauerlicherweise jetzt auch von Ihnen nicht berücksichtigt, dass wir
4 Prozent des Bruttosozialprodukts ständig zum Aufbau
der neuen Länder benötigen?
({0})
- Ich weiß nicht, warum Sie dagegen sind. - Das ist ein
West-Ost-Transfer, den man einmal viel deutlicher öffentlich machen müsste und an dem Sie selber - ich
meine das im positiven Sinne - Ihren Anteil haben.
Wieso wird das in der öffentlichen Diskussion nicht berücksichtigt? Warum stimmen Sie in diesen Chor mit
ein?
Herr Kollege Kirschner, ich bin Ihnen sehr dankbar,
dass sich jetzt auch die SPD endlich zur Wiedervereinigung bekennt
({0})
- ja, selbstverständlich ({1})
und dazu, dass sie nicht ohne zusätzliche Kosten zu finanzieren war. Was Sie ausgeführt haben, kann ich voll
und ganz unterstützen. Sie werden von mir aus gerne immer wieder in Anspruch nehmen können, dass dies auch
ein Grund für diese Ausgabensteigerung ist; überhaupt
kein Problem.
({2})
Ich will Rot-Grün aber an einigen Beispielen zeigen,
warum sich die Armut entsprechend diesem Bericht
durch ihr ganz spezielles Handeln vergrößert hat. Der
kleine Mann ist nämlich der Verlierer von Rot-Grün.
({3})
Beispiel eins: Ökosteuer. Die Ökosteuer ist so, wie
Sie sie eingeführt haben, ungerecht. Denn Rentner, Studenten, Arbeitslose - die keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen - dürfen die volle Ökosteuer tragen, profitieren aber nicht von der Senkung der Lohnnebenkosten.
({4})
Daneben werden durch die Ökosteuer besonders Familien mit Kindern hoch belastet; denn sie verbrauchen
zwangsläufig mehr Energie.
Beispiel zwei: Rentenpolitik. Noch im Jahre 1998
hieß es im SPD-Wahlprogramm, dass die Kürzung des
Rentenniveaus von 70 Prozent auf 64 Prozent viele
Rentner zu Sozialhilfeempfängern machen würde. So
dürfe man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet hätten, nicht umgehen.
({5})
Dies kann ich voll unterstreichen. Nur, so wie die Regierung in den darauf folgenden Jahren mit den Rentnern
umging, muss man ganz offen von Wahlbetrug sprechen.
({6})
Die Rentenversicherung hat durch diese Regierung einen
massiven Vertrauensverlust erlitten. Nur durch manches
Tricksen und Täuschen haben Sie es geschafft, den Beitragssatz stabil zu halten.
({7})
Beispiel drei: Auch die Witwen werden durch Ihre
Regelung gleich mehrfach geschröpft.
Beispiel vier: Private Altersvorsorge. So wie sie ist,
ist die private Altersvorsorge unsozial, da Gering- und
Normalverdiener nur unzureichend unterstützt werden,
während die Bezieher höherer Einkommen erhebliche
Steuervorteile haben.
Beispiel fünf: Wohneigentum. Wohneigentum ist
nach wie vor die beliebteste und wirkungsvollste Form
der Vermögensbildung für das Alter, gerade für kleine
Leute. Ausgerechnet diese Form der Altersvorsorge ist
von der Förderung praktisch ausgeschlossen.
({8})
Beispiel 6: Familienpolitik. Die Bundesregierung hat
bei der Erhöhung des Kindergeldes Familien mit drei
und mehr Kindern ausgeschlossen. Im von der Regierung vorgelegten Armutsbericht heißt es aber, dass gerade Familien mit zwei und mehr Kindern massiv von
wirtschaftlicher Armut und verstärkter sozialer Ausgrenzung betroffen sind.
Das siebte Beispiel betrifft die Alleinerziehenden.
Die rot-grüne Bundesregierung strich den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende.
Warum habe ich diese Beispiele genannt? Ich habe es
getan, weil dies typische Beispiele dafür sind, wie durch
Ihr Handeln gerade der Personenkreis betroffen wurde,
der jetzt im Armutsbericht als besonders arm dargestellt
wird.
({9})
Sie können also nicht sagen, dass es Wirkungen von außen waren.
({10})
Es waren viele Einzelmaßnahmen, die Sie hier zu vertreten haben.
({11})
Arm zu sein bedeutet in Deutschland aber nicht nur,
weniger Geld zu haben. Es heißt auch, in einem schlechteren Gesundheitszustand zu sein und eine geringere Lebenserwartung zu haben als Personen mit einem höheren
Einkommen.
({12})
Menschen in Armut leiden vermehrt an Krankheiten
oder Gesundheitsstörungen und klagen häufiger über
starke gesundheitsbedingte Einschränkungen im Alltag.
Diese Tatsache stellt die Bundesregierung in ihrem eigenen Bericht fest. Der Sachverständigenrat bestätigt diese
Einschätzung. Zum Vergleich nur eine Zahl: Die Männer
in den einkommensstärkeren Bevölkerungsschichten
sterben zehn Jahre später als die in Armut lebenden; bei
den Frauen beträgt der Unterschied immerhin noch fünf
Jahre.
Der Sachverständigenrat bemängelt die unzureichende Studienlage zum Thema Gesundheitschancen
von sozialen Schichten. Er regt an, die Gesundheitsberichterstattung mit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung zu verknüpfen. Der Bundesregierung wird
vom Sachverständigenrat also bescheinigt, dass sie sich
nicht an den eigenen Beschluss gehalten hat, mit dem
eine umfassende Analyse gefordert wurde.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube,
der Kanzler hat momentan ein ganz großes Problem.
({13})
- Er hat ein ganz großes. - Es geht darum, wie er die
Vertrauensfrage formulieren soll, damit man ihm das
Misstrauen auch aussprechen kann. Für mich ist das ein
sehr zweifelhaftes Vorgehen. Wir haben einen besseren
und rechtssicheren Vorschlag: Wer einen solchen Armutsbericht trotz vollmundiger Ankündigungen, alles
besser zu machen, zu verantworten hat, sollte - Charakterstärke vorausgesetzt - einfach seinen Rücktritt erklären.
Vielen Dank.
({14})
Danke schön auch für die Knappheit. - Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Zöller, Tatsache ist: Die relative Einkommensarmut hat sich zwischen 1998 und 2003 von 12,1 Prozent
auf 13,5 Prozent erhöht.
({0})
Wir können aber nicht allein auf die Einkommensarmut schauen. Armut ist ein vielschichtiges Problem.
({1})
Wer ein geringes Einkommen hat, hat in der Regel auch
weitere Handicaps, zum Beispiel Probleme im Bildungsbereich, bei der Gesundheit oder auch Sprachprobleme
aufgrund der Herkunft bzw. eines Migrationshintergrunds.
({2})
Das heißt, wir müssen uns die Entwicklung getrennt
nach einzelnen Gruppen genau anschauen, um die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen zu können, wie
man die Armut am besten bekämpft.
({3})
- Nein, das läuft nicht auf Schönreden raus, Herr Kolb
von der Opposition, sondern ich analysiere die Situation.
Besonders betroffen sind Alleinerziehende - das ist
richtig -, Arbeitslose, junge Erwachsene zwischen
18 Jahren und 24 Jahren und betrüblicherweise, wie gesagt, Personen mit Migrationshintergrund.
Hier ist es in der Tat auch unter Rot-Grün zu einer
weiteren Zunahme der Armutsquote gekommen. Das
geschah aber nicht wegen der Politik von Rot-Grün, sondern trotz unserer Bemühungen: trotz der Erhöhung des
Kindergeldes, trotz der BAföG-Reform und trotz der
Steuerreform.
({4})
Das zeigt: Obwohl wir Umverteilungsanstrengungen
unternommen haben, sind zielgerichtete Programme
zur Armutsbekämpfung notwendig. Geldleistungen
sind wichtig.
Die Sicherung des Existenzminimums ist in einem
Sozialstaat natürlich die Grundvoraussetzung. Aber die
Transferleistung allein reicht nicht aus. Einem jungen
Menschen, der nicht richtig deutsch sprechen kann, helfen 100 Euro pro Monat auf Dauer nicht weiter. Besser
wäre es, das Geld in einen Deutschkurs zu investieren.
Wir brauchen also vor allen Dingen eine Infrastruktur,
die soziale Mobilität ermöglicht.
({5})
Politik wird - das sollten wir den Menschen klar sagen - Armut nie vollständig abschaffen können. Die Politik aber muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
die Menschen die Armut überwinden und aus ihr herausfinden können. Da haben diese Regierung und die Koalitionsfraktionen eine Leistungsbilanz der letzten Jahre
vorzuweisen, die sich sehen lassen kann.
({6})
Wir haben zum Beispiel die finanziellen Voraussetzungen für die Kommunen geschaffen, die Tagesbetreuung von Kindern zu organisieren.
({7})
Wir haben mit dem Ganztagsschulprogramm die Möglichkeit geschaffen, um über Bildung sozial aufzusteigen.
({8})
Wir haben die Ausbildungsumlage initiiert und so die
Arbeitgeber dazu gebracht, den Ausbildungspakt zu beschließen.
({9})
Wir haben in die Hartz-IV-Gesetze zum ersten Mal für
Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren einen Anspruch auf ein Angebot aufgenommen. All das
haben wir gemacht. Das können Sie nicht in Abrede stellen. Wir müssen im Bereich der Migration noch mehr
tun; denn hier tickt in der Tat die größte soziale Zeitbombe. 36 Prozent aller jungen Menschen mit Migrationshintergrund haben keine Berufsausbildung. Das ist
unsere Leistungsbilanz.
Kommen wir jetzt einmal zu Ihnen. Dazu muss man
gar nicht, wie das die Ministerin gemacht hat - das war
auch gut -, schauen, was Sie ankündigen, sondern wir
sehen ja, was Sie in den von Ihnen regierten Ländern
konkret für eine Politik machen. Ihr Wahlslogan ist
- Angela Merkel hat es bei ihrer Kandidatinnenkür
gesagt -: Wir wollen die Ich-AGs durch die Wir-Gesellschaft ersetzen.
({10})
Das hört sich so warm an. Weiter heißt es: Menschen
ohne Lobby, Bürger ohne organisierte Interessenvertretung - so wird jetzt behauptet - werden von der Union
besonders gestützt und gestärkt.
Schauen wir uns einmal die Realitäten an. Nach einer
Zeitungsmeldung vom Vortag will Sozialminister Renner in Baden-Württemberg die Schuleingangsuntersuchung streichen. Die Schuleingangsuntersuchung ist
speziell für Kinder aus sozialen Brennpunkten und für
Kinder mit Migrationshintergrund oft die erste und einzige Möglichkeit, zu erkennen, ob etwa Sprachstörungen
vorhanden sind. Der Schuleintritt bietet die Möglichkeit,
um zu intervenieren und die Voraussetzungen für einen
erfolgreichen Schulverlauf zu schaffen. Kinder sind sehr
wohl Menschen ohne organisierte Lobby. Das machen
Sie in Baden-Württemberg.
({11})
Ihr Herr Koch legt in Hessen mit der „Operation sichere Zukunft“ das größte Sparpaket der Landesgeschichte vor. Obdachlose werden künftig ohne begleitende professionelle Hilfe arbeiten müssen. Waren im
letzten Jahr der rot-grünen Regierung in Hessen 1999 für
Kinderbetreuung, Sprachförderung im Kindergarten und
Betreuungsplätze noch 59 Millionen Euro im Haushalt
eingestellt, so sind es jetzt - das ist beschämend - klägliche 17,3 Millionen Euro. Das ist die Politik für die Menschen ohne Lobby. Das ist Ihre Bilanz in Hessen.
({12})
Gestern habe ich in einer Pressemitteilung Folgendes
gefunden: Die hessische CDU-Fraktion kauft in Zeiten
knapper Kassen für repräsentative Zwecke dem Erbacher Grafen für 13 Millionen Euro sein Schloss ab.
({13})
Dafür geben Sie das Geld aus, aber für Kinderbetreuung
ist kein Geld da.
({14})
Die Caritas in Bayern hat aufgelistet, welche Sozialkürzungen Sie dort vornehmen. Im Etat für den Ausländersozialdienst streichen Sie 1,7 Millionen Euro. Sie
kürzen die Mittel für die ambulante sozialpsychiatrische
Betreuung. In Niedersachsen beabsichtigt Christian
Wulff, der beliebteste Politiker Deutschlands, die vollständige Streichung des Blindengeldes.
({15})
Er plant den Ausstieg aus der Mitfinanzierung des Bund/
Länder-Programms „Soziale Stadt“, das wir aufgelegt
haben, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Außerdem
will er die Mittel für die externe Drogenberatung in Justizvollzugsanstalten streichen.
Das mag zwar nur nach einigen Details klingen. Das
aber betrifft genau die Menschen ohne Lobby, die auf
unsere Unterstützung angewiesen sind. Gleichzeitig aber
sprechen Sie von der Wir-Gesellschaft. Sie lassen die
Vergessenen dieser Gesellschaft im Stich. Mit genau dieser Politik wird es Menschen unmöglich gemacht, Brücken aus der Armut zu bauen, um aus ihrer Situation
herauszukommen. Das ist der Unterschied zwischen
Rot-Grün und Ihnen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal zu Ihrer Bemerkung über den Mut,
heiße Eisen anzupacken, Frau Ministerin. Ihr Mut war
auch nicht sonderlich ausgeprägt. Sie haben zwar diesen
Armutsbericht beschlossen, ihn aber erst mit einem halben Jahr Verspätung und erst nach drängenden Fragen
der Opposition vorgelegt.
({0})
Jedem, der diesen Bericht liest, wird relativ schnell klar,
warum Sie das getan haben, nämlich weil der Bericht
eine offizielle Dokumentation des Scheiterns rot-grüner
Sozial- und Wirtschaftspolitik ist.
({1})
Er ist mehr als ein Armutsbericht, er ist ein Armutszeugnis für Ihre Regierung, Frau Schmidt. Deswegen ist es
verständlich und bezeichnend - da gebe ich dem Kollegen Zöller Recht -, dass er erst heute diskutiert wird,
zehn Tage nach der Wahl in NRW. Fairerweise und ehrlicherweise hätten Sie ihn vorher diskutieren müssen.
Dann hätte das Ergebnis vielleicht noch anders ausgesehen.
Dabei ist die Lage in dem Bericht stellenweise sogar
noch günstiger dargestellt, als sie in der Realität aussieht. So sagen Sie, zum Beispiel was die verdeckte Armut angeht, dass auf drei Sozialhilfeempfänger noch
einmal 1,5 bis zwei Anspruchsberechtigte kämen, die
ihre Ansprüche nicht geltend machten. Aber die Autoren
des Forschungsberichtes, der dem Bericht der Bundesregierung zugrunde liegt, gehen davon aus, dass mindestens zwei, eher aber drei weitere Berechtigte auf jeweils
drei Sozialhilfeempfänger kommen. Das ist die ganze
bittere Wahrheit und das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich will noch einmal anhand von Fakten unterstreichen und deutlich machen - Kollege Zöller hat damit
schon angefangen -, wie sich die Lage seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün verschlechtert hat. Die
Armutsrisikoquote ist von 1998 bis 2003 von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen. Das heißt, 2003 sind
rund 11 Millionen Menschen in diesem Land vom Risiko der Armut betroffen.
({2})
Das fiktive Armutsrisiko, das heißt die Einkommenssituation vor öffentlichen Transfers, ist sogar von
38,5 Prozent auf 41,3 Prozent in 2003 gestiegen. Jede
siebte Familie muss mit einem Einkommen unterhalb
der Armutsgrenze auskommen. Das sind 13,9 Prozent in
2003 gegenüber 12,6 Prozent in 1998. Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen stieg von 1 634 Fällen in 1999 auf
32 131 Fälle im Jahr 2003. Dabei ist sicherlich auch das
neue Insolvenzrecht zu berücksichtigen, aber das ist
auch zu einem guten Teil Ergebnis Ihrer Politik. Ganz
wichtig: Die unteren 50 Prozent der Haushalte verfügen
über etwas weniger als 4 Prozent des gesamten Nettovermögens. Der Anteil des oberen Zehntels ist in 2003
gegenüber 1998 um 2 Prozent gestiegen. Das alles - vor
allem der letzte Punkt - zeigt: Die Schere zwischen Arm
und Reich ist unter der sozialdemokratisch geführten Regierung nicht etwa zu-, sondern sie ist weiter aufgegangen. Anspruch und Wirklichkeit, Frau Schmidt, klaffen
bei Ihnen weit auseinander.
({3})
Trotz des historisch höchsten Anteils der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt von 32,6 Prozent ist die
Armutsrisikoquote bei nahezu allen gesellschaftlichen
Gruppen gestiegen. Das zeigt - das muss man doch zur
Kenntnis nehmen -: Der Versuch, Armut mit immer
mehr Umverteilung zu bekämpfen, ist gescheitert.
({4})
- Ich habe ihn gelesen, Herr Kollege Stöckel.
({5})
Der Bericht leistet immerhin - das will ich hier einräumen -, deutlich auf den Zusammenhang zwischen
Arbeitslosigkeit und Armut hinzuweisen. Der Erhalt
von bestehenden und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ist eben doch die wirksamste Maßnahme zur Bekämpfung und Beseitigung von Armut. Aus eben diesem
Grunde ist es für die Betroffenen so bitter, dass die halbherzige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der rotgrünen Regierung keine Erfolge zeitigen kann.
Ich stelle fest: Unter der rot-grünen Bundesregierung
ist die Armut mitten in der Gesellschaft angekommen.
Sie trifft heute nicht mehr nur so genannte Randgruppen,
sondern in Zeiten eines von Rot-Grün zu verantwortenden weiteren Anstiegs der Arbeitslosigkeit kann in
Deutschland faktisch jeder von Armut betroffen sein.
({6})
Das gilt auch für junge Menschen, deren Armutsrisikoquote besonders angestiegen ist. Hier besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Armutsrisiko und Bildung. Je niedriger der Bildungsgrad, desto höher ist die
Gefahr der Arbeitslosigkeit. Deswegen muss uns doch
alarmieren, Frau Kollegin Lotz, dass 2003 rund
90 000 Jugendliche eine allgemeinbildende Schule ohne
Hauptschulabschluss verlassen haben.
({7})
Wir hätten uns gewünscht - dazu gab es einen FDPAntrag -, dass in diesem Armutsbericht der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Lage deutlich ausgeprägter dargestellt und nicht nur auf 20 von insgesamt
322 Seiten behandelt worden wäre. Aber Sie haben diesen Antrag abgelehnt.
Ich komme zum Schluss. Sieben Jahre Rot-Grün haben dazu geführt - das muss ich zusammenfassend feststellen -, dass die Armut in Deutschland zugenommen
hat. Es ist unbestreitbar: Sieben Jahre Rot-Grün haben
dazu geführt, dass die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse in Deutschland größer geworden ist.
Die Wahrheit ist: Die rot-grüne Bundesregierung ist
das größte Armutsrisiko für die Menschen in diesem
Land. Deswegen ist es gut, dass dieses Risiko in
108 Tagen beseitigt sein wird.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Wenn es einen
wichtigen Grund für Neuwahlen gibt, dann ist es die zunehmende Armut in unserem Land.
({0})
Diese Regierung, die nicht alles anders, aber vieles besser machen wollte, hat es geschafft, die Politik von
Helmut Kohl fortzusetzen: Die Armen werden ärmer
und die Reichen reicher.
({1})
Meine Damen und Herren von der SPD, das ist nicht
das Ergebnis von unbeherrschbaren Heuschreckenschwärmen; es ist vielmehr das Ergebnis der Politik von
SPD und Grünen.
({2})
In Ihrem Bericht, der 320 Seiten umfasst, waren Sie
nicht in der Lage, auf den wichtigen Zusammenhang
von Armut und Reichtum hinzuweisen. Brecht hat es
so formuliert:
Reicher Mann und armer Mann standen da und
sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich
nicht arm, wärst Du nicht reich.
Forbes zählt für das Jahr 2003 43 deutsche Milliardäre zu den Reichsten der Erde. In Deutschland kommt
auf sieben Arbeitslose ein Vermögensmillionär. Auch
das ist eine Leistung der Bundesregierung, auf die Sie im
Bundestagswahlkampf hinweisen sollten, vielleicht unter der Überschrift „Die Bundesregierung produziert
nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch Milliardäre“.
Doch eigentlich ist das Thema nicht zum Scherzen
geeignet. Im Gegenteil: Angesichts von 1,5 Millionen
Kindern in Armut, besonders hoher Armutsrisiken für
Familien mit mehreren Kindern und von Alleinerziehenden ist es ein Ausdruck von bestürzender Lebensferne und Ignoranz, wenn die Familienministerin
Schmidt in der „Bild am Sonntag“ vom 27. Februar dieses Jahres über Armut in Deutschland zu bedenken gibt:
Armut hat nicht nur mit Geld zu tun. Entscheidend
ist, ob eine Familie es versteht, mit Geld gut umzugehen.
Frau Schmidt empfiehlt dann noch statt teurem Fast
Food „Eintopf mit Saisongemüse. Kluge Mütter wissen,
diese Mahlzeit lässt sich sogar für mehrere Tage im Voraus kochen … Manche Familie hat nicht gelernt, einen
Haushalt zu führen“. - So viel Inkompetenz und Zynismus kann man nur abwählen, je schneller, desto besser.
({3})
„Der Sozialhilfesatz in Deutschland reicht bei einer
Familie nur 20 Tage lang für eine gesunde Ernährung.“
Zu diesem Ergebnis gelangten Forscher der Universität
Gießen in einer Studie.
({4})
Aus finanziellen Gründen verpflegten sich Sozialhilfeempfänger für den Rest des Monats überwiegend mit
Brot, Kartoffeln und Teigwaren, so die Ernährungswissenschaftlerin Lehmkühler, die diese Untersuchung
durchgeführt hat. Für ausreichend Obst und Gemüse reiche das Geld nicht. Die Ernährungswissenschaftlerin berichtete von gravierenden Folgen, die diese Fehlernährung besonders bei Kindern hat. Mit dem Begriff
„Streckphase“ beschreiben Betroffene, dass sie Geld und
Essensreste oft bis zur nächsten Geldüberweisung strecken müssen, damit ihr Haushalt über die Runden bzw.
damit überhaupt etwas zu essen und zu trinken auf den
Tisch kommt. Das ist die Situation in einem der reichsten Länder der Welt!
Wir als PDS werden in unserem Wahlprogramm deutlich machen, dass wir gute Konzepte haben, um Armut
zu bekämpfen und Reichtum zu begrenzen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich zunächst einmal im Namen der SPD-Fraktion bei der Frau Ministerin und vor allem bei der Bundesregierung dafür bedanken, dass sie den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht fristgerecht vorgelegt hat.
({0})
- Vielleicht können Sie sich nicht mehr daran erinnern,
Herr Kolb. Sie haben hier den Beweis geliefert, dass Sie
den Bericht nicht richtig gelesen haben.
({1})
Die Drucksache trägt das Datum vom 3. März 2005. An
diesem Tag wurde der Bericht eingebracht. Er ist auch
öffentlich zugänglich.
({2})
Die Bundesregierung hat eine Pressekonferenz gegeben.
Die SPD-Fraktion hat öffentliche Veranstaltungen mit
den Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen
zu einer Problemlage durchgeführt, die uns alle angeht.
({3})
- Sie wollen hier Krawall machen. Mit diesen alten Politikritualen werden Sie den Betroffenen in keiner Weise
helfen. Das werde ich Ihnen gleich noch näher und konkreter erläutern.
({4})
Tatsächlich war es ein Antrag der Regierungsfraktionen aus dem Jahre 1999, aufgrund dessen es überhaupt zu einer konkreten Armuts- und Reichtumsberichterstattung und zu einer wissenschaftlichen
Untersuchung dieser Problemlagen gekommen ist. Sie
haben sich während Ihrer Regierungszeit geweigert, einen solchen Bericht zu erstellen,
({5})
obwohl es EU-Beschlüsse und die Aufforderung an die
nationalen Regierungen gab, Instrumente zur Armutsbekämpfung zu entwickeln. Sie, FDP und CDU/CSU, haben hier im Deutschen Bundestag gegen unseren Antrag
gestimmt und heute wettern Sie und weiden sich an den
Problemlagen. Diesen Bericht hätte es ohne unseren damaligen Antrag gar nicht gegeben
({6})
und Sie hätten heute nicht die Möglichkeit, den Leuten
zu erklären, die Armut sei mit dem Raumschiff 1998
nach Deutschland gekommen, die habe es vorher, unter
Ihrer Regierung, nicht gegeben. Das ist lächerlich, Herr
Kolb.
({7})
Wir jubeln nicht über die Ergebnisse, die dieser Bericht aufzeigt. Die Zahlen bedeuten nämlich nicht weniger, als dass 11 Millionen Menschen in Deutschland mit
weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen ProKopf-Haushaltsnettoeinkommens von 938 Euro leben
müssen, um die Summe hier auch einmal ganz konkret
zu nennen.
Entgegen den Darstellungen in den Medien hat die
Bundesregierung den Bericht weder versteckt noch verzögert. Wenn Sie glauben, dass Sie die Zahlen dieses Berichts und die Not der Betroffenen für Ihre Propaganda
gegen die Regierung ausschlachten können, dann sage
ich Ihnen: Wir haben mit dem Bericht die Probleme endlich offen gelegt, und zwar mit einer gegenüber dem ersten Bericht verbesserten Datenbasis. Es sind im Übrigen
noch weitere Verbesserungen erforderlich; das wird eine
Aufgabe für uns alle sein.
Wir haben die Wahrheit gesagt und wir fühlen uns
auch den anderen EU-Staaten gegenüber verpflichtet,
Armut aktiv zu bekämpfen, gemeinsame Konzepte für
die soziale Integration und gegen die Ausgrenzung von
Millionen von Benachteiligten umzusetzen.
Wir sind uns der großen Probleme bewusst und dass
sich die Wirkung der Maßnahmen und Reformen, die zur
sozialen Integration vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt beitragen, aber auch für bessere Bildungschancen
sorgen sollen, nicht bis zur nächsten Wahl einstellen
wird, sondern dass man einen langen Atem braucht.
Ich möchte Ihnen noch eines sagen. Sie haben sich
während Ihrer Regierungszeit bis 1998 - das waren die
16 Jahre vor diesem Berichtszeitraum - trotz der Forderungen von Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden immer geweigert, die EU-Beschlüsse und
auch unsere Oppositionsforderungen zur Armuts- und
Reichtumsberichterstattung umzusetzen. Sie haben während Ihrer Regierungszeit die Armutslage in Deutschland geleugnet und auf die Kinderarmut in der Dritten
Welt und auf die deutsche Sozialhilfe verwiesen, immer
nach dem Motto „Bei uns gibt es das nicht, das ist ein
Problem von Rot-Grün“.
Ihre Kritik ist sicherlich berechtigt, wenn Sie sagen,
wir hätten noch mehr tun können. Aber seit 1999 waren
Sie mit einer Bundesratsmehrheit zumindest mit in der
Verantwortung, Maßnahmen noch effizienter zu gestalten und nicht zu blockieren.
Die Wahrheit ist aber, dass die strukturellen Gründe
für die heutige Situation in Ihrer Regierungszeit liegen,
in den 16 Jahren bis 1998. Ich weiß, wovon ich hier rede.
Die Gründe liegen nicht nur in der deutschen Einheit und
der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, sondern
auch in der Verweigerung der Anerkennung der Tatsache, dass wir ein Einwanderungsland sind, und in unseren Defiziten in der Integrationspolitik, die wir vor allen
Dingen in Ihrer Regierungszeit hatten.
Ich habe während dieser Zeit 15 Jahre in einem Sozialamt als Schuldnerberater gearbeitet und dort genau
mitbekommen, wie die Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe geschoben wurden. Der Schaden durch das
hohe Ausmaß von Frühverrentungen, übrigens auf Kosten aktiver Arbeitsmarktpolitik und von Bildung und
Qualifizierung, und die Finanzierung der deutschen Einheit auf Kosten der Sozialkassen wird für die EinkomRolf Stöckel
mensverteilung in dieser Bundesrepublik Deutschland
auf Dauer ein Problem sein und nicht nur bis zum nächsten Wahltag wirken.
Wenn ausgerechnet die FDP, die 29 Jahre mitregiert
hat, hier einen Antrag zu den Defiziten der beruflichen
Qualifikation vorlegt, dann nenne ich Ihnen auch die
Zahlen für die Zeit von 1975 bis 1997, die zum größten
Teil in Ihre Regierungszeit fällt: Der Anteil der unqualifizierten Arbeitslosen ist von 6 Prozent unter der damaligen sozialliberalen Koalition während dieser Zeit auf
24 Prozent gestiegen, die Arbeitslosenquote insgesamt
von 4,7 auf 12,7 Prozent. Dass wir diesen Trend nicht
umdrehen konnten, ist sicherlich ein Problem, dem wir
uns offen stellen müssen. Ich habe schon gesagt, dass
das kein Grund für Selbstgerechtigkeit ist. Aber in Ihrer
Regierungszeit sind Sozialhilfedynastien und soziale
Brennpunkte entstanden, die bisher mit allen unseren
Instrumenten, etwa dem Programm „Soziale Stadt“,
nicht so verändert werden konnten, dass Kinder und Jugendliche, die in den betreffenden Stadtvierteln wohnen
müssen, tatsächlich wieder eine Perspektive haben.
Ich will Ihnen klar sagen: Die Zahlen, die unter anderem Herr Zöller vorgetragen hat, sind alles andere als
korrekt, gerade was die Beispielzahlen bei den Älteren
betrifft.
({8})
Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit ist unter unserer
Regierung der relative Anteil der von einem Armutsrisiko betroffenen Älteren von 13,3 Prozent auf
11,4 Prozent gesunken.
({9})
Das gilt auch für Paare mit zwei Kindern. Dort ist die
Quote auf 8,6 Prozent gesunken. Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen in Deutschland ist von über
500 000 im Jahr 1998, dem Ende Ihrer Regierungszeit,
auf rund 300 000 im Jahr 2003 gesunken. Das ist eine
eklatante Verbesserung.
({10})
Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass vor allen
Dingen bei Familien mit ausländischer Herkunft und
Unqualifizierten die Armutsrisikoquote enorm hoch ist.
Darüber sind wir sicherlich nicht glücklich. Aber das ist
auch eine Folge einer langfristig verfehlten Integrationspolitik.
({11})
Bei alleinerziehenden Frauen beträgt die Armutsrisikoquote sogar 35 Prozent, und das trotz Mehrbedarfszuschlägen und der Tatsache, dass wir die Steuerfreibeträge etwa bei der Betreuung erhöht haben. Das ist ein
wirkliches Problem. Verweigern Sie sich nicht unserer
Politik zur Förderung der Ganztagsschulen und integrierter Schulsysteme sowie vor allem nicht unserem
Ansatz, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei
Frauen, insbesondere bei alleinerziehenden, zu verbessern! Sie können es natürlich versuchen. Aber ich habe
größte Sorge, ob das, was Sie wollen, gelingt.
Sie haben gestern im Ausschuss das KEG, einen Gesetzesantrag Bayerns, abgelehnt. Das Land Hessen und
der Freistaat Bayern haben immer wieder versucht
- Herr Stoiber hat in den letzten Tagen noch Interviews
dazu gegeben -, gerade die Mittel, die wir in der Sozialhilfe zur Bekämpfung der Armut noch haben, in Zukunft
so zu gestalten, dass es sozusagen einen Dumpingwettbewerb nach unten gibt. Wenn Sie aber dem Bund die
Kompetenz wegnehmen und den Ländern oder womöglich sogar den Kommunen die Aufgabe übertragen, die
Eckregelsätze der Sozialhilfe, die ja Armut bekämpfen
soll, festzulegen, dann liegt es auf der Hand, dass es einen Dumpingwettbewerb nach unten geben wird. Das ist
so nach Adam Riese und dieser ist nicht Mitglied der
SPD.
({12})
Sie wollen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes eine Umschichtung vornehmen. Sie wollen eine
Missbrauchskontrolle durch einen Nachtwächterstaat gegen Rechtsansprüche und gegen einen Ansatz eines aktivierenden Sozialstaates setzen. Das werden wir den
Menschen in den nächsten Wochen und Monaten deutlich machen. Ich bin ganz sicher, dass die Menschen die
richtige Entscheidung im Hinblick auf Ihren und unseren
Sozialstaatsansatz treffen werden.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Storm.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! RotGrün war 1998 angetreten, zwar nicht alles anders, aber
vieles besser zu machen. Mehr Arbeitsplätze wollten Sie
schaffen und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.
Große Worte! Aber wie sieht die Wirklichkeit heute aus?
5 Millionen Arbeitslose, Wachstumsschwäche, Rekordverschuldung, geplünderte Sozialkassen,
({0})
das sind die Fakten. Deutschland ist nach sieben Jahren
Rot-Grün ausgezehrt und kein einziges Problem ist gelöst.
({1})
Kollege Kurth, in einer solchen Situation bauen Sie
Luftschlösser.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, der Zweite
Armuts- und Reichtumsbericht, über den wir heute debattieren, ist nichts anderes als ein Offenbarungseid Ihrer Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik, die Sie
seit 1998 betreiben.
({2})
Fakt ist: Erstens. Rot-Grün macht arm. Das Armutsrisiko ist unter Ihrer Regierungsverantwortung massiv
gestiegen, und zwar von 12,1 Prozent 1998 auf
13,5 Prozent 2003.
({3})
Nach Ihrem Armuts- und Reichtumsbericht ist in den
neuen Ländern jeder Fünfte arm. Über 11 Millionen
Bundesbürger sind nach Ihrer eigenen Vorlage von Armut betroffen. Da nützt Ihnen auch der Blick ins Ausland nichts. Das Armutsrisiko mag in Deutschland kleiner sein als in vielen anderen Ländern in Europa. Aber
das ändert nichts daran, dass das Armutsrisiko in
Deutschland seit 1998 deutlich gestiegen ist.
Zweitens. Rot-Grün spaltet die Gesellschaft. Zwischen 1998 und 2003 ist die Zahl der Armen größer geworden; gleichzeitig haben die Reichen immer mehr.
({4})
Die Schere zwischen Arm und Reich ist noch weiter
auseinander gegangen.
({5})
Kollege Stöckel, Sie haben gesagt, Sie hätten mit den
Gewerkschaften über diesen Bericht diskutiert
({6})
und es gebe keine Probleme.
({7})
In den „Wirtschaftspolitischen Informationen“ von Verdi
des heutigen Tages heißt es - ich zitiere die Kernpassage
wörtlich -:
Bereits vor zehn Jahren war die Vermögensverteilung extrem ungleich. Heute sieht es noch schlimmer aus.
Das ist die Beurteilung dieser Gewerkschaft.
({8})
Drittens - das ist mit das gravierendste Problem -:
Wer sich in Deutschland heute für ein Kind entscheidet,
trägt ein Armutsrisiko. Das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. Kinder und Jugendliche stellen heute
mit 1,1 Millionen die größte Gruppe unter den Sozialhilfeempfängern. Mehr als die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen wächst in Haushalten von Alleinerziehenden
auf.
({9})
Die Alleinerziehenden stellen mit fast 36 Prozent die
weitaus größte Gruppe, die von Armut betroffen ist.
({10})
Das Armutsrisiko der Familien ist seit 1998 stark angestiegen. Sie sind 1998 mit dem Versprechen angetreten,
die Situation der Familien zu verbessern.
({11})
Das Gegenteil ist der Fall.
({12})
Viertens. Das Hauptübel von Armut und sozialer Ausgrenzung ist die Massenarbeitslosigkeit. Vorgestern hat
die Bundesagentur für Arbeit die neuesten Arbeitslosenzahlen bekannt gegeben: Über 4,8 Millionen Menschen
sind arbeitslos. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit,
Herr Weise, hat aber vor kurzem eingeräumt, dass es,
wenn man diejenigen, die in Maßnahmen versteckt sind,
hinzurechnet, in Wirklichkeit etwa 6,5 Millionen sind.
Doch auch da macht die Arbeitslosigkeit nicht Halt.
6,5 Millionen Arbeitslose bedeutet, dass auch die Angehörigen betroffen sind: Über 10 Millionen Menschen leiden in Deutschland faktisch unter dem Schicksal der
Arbeitslosigkeit. Deshalb ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit die Aufgabe Nummer eins, wenn es
darum geht, Armut in Deutschland zu bekämpfen.
({13})
In Wahrheit geht die Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt
ungebremst weiter. Tag für Tag gehen 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse verloren.
({14})
Wenn es so weitergegangen wäre, wenn Sie nicht selber
die Notbremse gezogen hätten, weil Sie erkannt haben,
dass Sie die Probleme nicht mehr in den Griff bekommen, hätte diese Entwicklung überhaupt nicht gestoppt
werden könnte.
Fünftens. Armut ist nicht nur ein aktuelles Problem.
Durch die Massenarbeitslosigkeit und durch die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit schafft Rot-Grün die
Altersarmut von morgen.
({15})
Sie haben gestern Zahlen zur Situation im Jahr 2003 vorgelegt. Diese Zahlen machen deutlich, dass Deutschland
in den vergangenen Jahrzehnten bei der Vermeidung von
Armut im Alter sehr erfolgreich war. Aber diese Zahlen
berücksichtigen allesamt noch nicht die Kürzungen seit
den Hartz-Reformen. Zwei Nullrunden bei der Rente
und die Pflicht der Rentner, den vollen Pflegebeitrag zu
zahlen, haben ihre Spuren hinterlassen.
({16})
Der entscheidende Punkt ist, dass die Rentenansprüche für Langzeitarbeitslose im Zusammenhang mit dem
Sparpaket des Jahres 1999 drastisch reduziert worden
sind.
Unter Walter Riester wurden die Rentenansprüche
für Langzeitarbeitslose faktisch halbiert; dies schlägt
sich in diesem Armuts- und Reichtumsbericht naturgemäß noch nicht nieder. Das bedeutet: Wer heute lange
Zeit arbeitslos ist, hat in Zukunft ein Problem bei der Altersversorgung.
Eine zentrale sozialpolitische Aufgabe für die nächste
Wahlperiode wird es daher sein, das zweite Standbein
der Altersversorgung - neben der gesetzlichen Rente vor allen Dingen für Menschen mit niedrigem Einkommen aufzubauen. Wenn wir für Menschen mit niedrigem
Einkommen keine zusätzliche Altersversorgung schaffen - an dieser Stelle sind Sie in dieser Wahlperiode
grandios gescheitert, Frau Schmidt -, ist die Altersarmut
ein Problem der nächsten Jahrzehnte. Deshalb muss hier
dringend vorgebaut werden.
({17})
Das Fazit nach sieben Jahren Rot-Grün lautet: Armutsrisiko Nummer eins ist die Massenarbeitslosigkeit.
Armutsrisiko Nummer zwei - das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal - ist, dass neben den Arbeitslosen
die Familien das größte Armutsrisiko tragen. Hier muss
eine Trendwende erfolgen.
Sie haben vor den Problemen in Deutschland kapituliert. Sie haben Ihre Chance gehabt. Sie haben sie nicht
genutzt. Das spüren die Menschen. Deshalb ist es
höchste Zeit für eine Wende auch in der Sozialpolitik.
({18})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5015 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit und Soziale Sicherung auf
Drucksache 15/3041 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über den Nationalen Aktionsplan für
Deutschland zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung für die Jahre 2003 bis 2005. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3270 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Schließlich kommen wir zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung auf Drucksache 15/4587 zu dem An-
trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Bildungsarmut
in Deutschland feststellen und bekämpfen“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3356
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Unterhaltsrecht sozial und verantwortungsbewusst gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
anpassen
- Drucksache 15/5369 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Sibylle Laurischk, Daniel Bahr ({2}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Unterhaltsrecht auf dem Prüfstand
- Drucksache 15/3117 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch gibt es
keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Sybille Laurischk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit einem langjährig bekannten Thema,
das die FDP-Fraktion mit einem taufrischen Antrag unterlegt. Im Juni 2000 - Sie verhören sich nicht! - hat der
Bundestag erstmals eine Entschließung verabschiedet, in
der die Bundesregierung aufgefordert wurde, sich zügig
und mit allem Nachdruck - im Jahr 2000: zügig und mit
allem Nachdruck! - mit dem geltenden Unterhaltsrecht
zu befassen, es gründlich zu überprüfen und Vorschläge
zu seiner Neuregelung einzubringen. Nachdem die Bundesregierung dieser Aufforderung fünf Jahre lang nicht
nachgekommen ist - tatsächlich liegt mir erst seit gestern ein Referentenentwurf vor -, kann man wohl nicht
davon sprechen, dass hier zügig und mit Nachdruck gearbeitet worden ist.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass
das Unterhaltsrecht dringend einer Überarbeitung bedarf. Es ist kompliziert und für die Betroffenen undurchsichtig. Unterhaltsrechtliche Regelungen finden sich
längst nicht mehr nur im Bürgerlichen Gesetzbuch, sondern auch im Sozial-, Renten- und Steuerrecht. Das geltende Unterhaltsrecht wird den sehr verschiedenen Facetten der Lebensgestaltung und Lebensplanung in
unserer Gesellschaft nicht mehr gerecht. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt daher eine Anpassung des Unterhaltsrechts mit folgenden Schwerpunkten vor:
Das Unterhaltsrecht ist grundlegend zu vereinfachen.
Wir müssen eine Übereinstimmung mit dem Steuer- und
Sozialrecht herstellen. Bestehende Widersprüche sind
aufzuheben, unterschiedliche Wertungen der Lebensumstände und nicht mehr zeitgemäße Privilegierungen sind
abzuschaffen.
Unbedingten Vorrang bei dieser Reform hat für uns
die Sicherung des Kindesunterhalts. Kinder sind in zunehmendem Maße Sozialhilfeempfänger; wir haben es
schon in der vorausgegangenen Debatte gehört. Mittlerweile sind über 1 Million Kinder tatsächlich von Sozialhilfe abhängig. Durch einen Vorrang des Kindesunterhalts lässt sich dies ändern. Kinder erfahren dadurch
auch eine andere Wertung in ihrer rechtlichen Stellung.
Wir müssen auch hinsichtlich der Zahlungsmoral
eine andere Einstellung in unserer Gesellschaft schaffen.
Immer mehr Zahlungspflichtige kommen ihrer Unterhaltspflicht nicht nach. Wer Kindesunterhalt nicht zahlt,
macht sich zwar strafbar, aber tatsächlich wird dies als
Kavaliersdelikt angesehen. Väter - in der Mehrzahl sind
Väter unterhaltspflichtig - sollten sich nicht nur als
Zahlväter verstehen; sie sollten sich in ihrer Verantwortung auch den gesellschaftlichen Realitäten stellen. Ich
glaube, dass hier auch eine Debatte im sozialrechtlichen
Rahmen notwendig ist.
Unterhaltsansprüche müssen grundsätzlich befristet
werden. Unterhaltsverpflichtungen als lebenslange Belastung sind nicht mehr zeitgerecht.
({1})
Dies wird von vielen Unterhaltspflichtigen geradezu als
Strafe verstanden. Deswegen wird Unterhalt auch in immer weniger Fällen gezahlt.
Wenn neue Familien gegründet werden, gibt es bislang immer noch eine Privilegierung der Erstehe und
der Ansprüche aus der Erstehe. Auch insofern ist das
Unterhaltsrecht zu reformieren, wobei wir natürlich darauf achten müssen, dass bei Altehen, also solchen Ehen,
die noch unter dem geltenden Recht geschlossen worden
sind, ein gewisser Vertrauensschutz bestehen sollte;
diese Problemlage darf nicht einfach übergangen werden.
Ganz wichtig scheint mir auch zu sein, Alleinerziehende, egal ob sie nach einer Scheidung oder von vornherein als nicht eheliche Elternteile Erziehungsverantwortung wahrnehmen, gleichzustellen, zumindest soweit
dies verfassungsrechtlich möglich ist. Sicherlich müssen
wir hierbei beachten, dass Art. 6 Grundgesetz Grenzen
setzt. Aber die Tatsache, dass Alleinerziehende - sei es
nach einer Scheidung, sei es, ohne je verheiratet gewesen zu sein - Verantwortung für Kinder tragen, muss unterhaltsrechtlich angemessen gewürdigt werden.
({2})
Ein anderes Stichwort ist die so genannte Sandwichgeneration. Zur Sandwichgeneration gehören die Menschen, die Kinder großziehen und gleichzeitig auch für
alte Menschen Verantwortung tragen. Ihnen eine doppelte Unterhaltsverpflichtung aufzuerlegen erscheint mir
nicht sachgerecht. Hierfür müssen wir angemessene Lösungen schaffen, auch um die Motivation, nach wie vor
für die Familie Sorge zu tragen, aufrechtzuerhalten.
Uns erscheint es im Übrigen wichtig, das Unterhaltsvorschussrecht zu straffen, zu modernisieren und dabei
insbesondere die Kinder zu berücksichtigen, die zwölf
bis 18 Jahre alt sind und derzeit keine Ansprüche aus
dem Unterhaltsvorschussrecht ableiten können.
Wir haben auch einen umfangreichen Vorschlag im
Rahmen unserer steuerrechtlichen Überlegungen eingebracht. Wir sind der Meinung, dass Steuerrecht und
Unterhaltsrecht in Deckung gebracht werden können.
Wir sind bei dieser schwierigen Frage, der sich die Bundesregierung bislang nicht gestellt hat, gut aufgestellt.
Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Großen Anfrage,
die wir im Jahr 2004 mit insgesamt 86 Fragen gestellt
haben. Wir haben bisher keine Antwort darauf bekommen. Vielmehr gab es im November einen Antrag auf
Fristverlängerung. Am 20. Mai gab es einen weiteren
Antrag auf Verlängerung vonseiten der Bundesregierung; die Verlängerung wurde gewährt. Die Bundestagsverwaltung hat eine Verlängerung der Beantwortungsfrist bis zum - man höre - 23. September 2005 notiert.
Es mag ja sein, dass sich manche Dinge durch Liegenlassen erledigen. Immer wieder erleben wir auch Beispiele für die Bestrafung dessen, der zu spät kommt.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich völlig unabhängig von der weiteren politischen Entwicklung
Frau Kollegin, Sie wissen, dass Sie Ihre Redezeit
auch bei großzügigem Ermessen schon weit überschritten haben.
- die Reform des Unterhaltsrechts vorgenommen. Die
FDP wird nicht lockerlassen. Die betroffenen Menschen
warten darauf.
({0})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die wesentlichen Inhalte der Reform des Unterhaltsrechts hat Frau Ministerin Zypries im September
2004 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Reaktionen waren positiv. Inzwischen liegt ein Referentenentwurf vor,
der den Ländern und Verbänden zugeleitet wurde. Auch
hier fallen die Rückläufe sehr positiv aus.
Wenn die FDP nun ein halbes Jahr später, nämlich im
April 2005, wesentliche Punkte dieses Vorschlags aufgreift und uns damit weitestgehend zustimmt, ist das zumindest für mich ein willkommener Anlass, Ihnen unsere Reform vorzustellen.
({0})
Ich finde es etwas ärgerlich, liebe Frau Laurischk,
wenn Sie in einer Pressemitteilung schreiben, Ihr Fragenkatalog - diese 86 Fragen, die Sie angesprochen haben - hätte der Ministerin den Anstoß für die Reform
des Unterhaltsrechts gegeben. Sie dürfen mir glauben:
Am 5. Mai 2004, also an dem Tag Ihrer Anfrage, hatte
die Frau Ministerin bereits ihre grüne Tinte unter das
Konzept gesetzt.
({1})
- Grüne Tinte, mein Lieber! Das erreichst du nie. - Andersherum wird ein Schuh daraus: Sie wussten genau,
was wir vorhatten.
Gestatten Sie, Herr Staatssekretär, eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Von Herrn Funke immer.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, wenn Sie so gut
auf die Reform vorbereitet gewesen sind, warum dauert
es dann so lange, bis Sie die Fragen beantworten?
({0})
Herr Funke, Sie wissen aus Ihrer achtjährigen Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär erst bei einer
Bundesministerin und dann bei einem Bundesminister
der Justiz, während der Sie im Familienrecht nichts getan haben
({0})
- im Unterhaltsrecht nicht -, dass es sich hierbei um ein
besonders schwieriges Problem handelt und dass man
sehr genau prüfen muss, was man macht. Genau dies
haben wir getan. Wir haben - so läuft das Gesetzgebungsverfahren ab - erste Vorstellungen erarbeitet, uns
angehört, was Praktiker dazu sagen, und mit Wissenschaftlern geredet; dann haben wir erste Formulierungsvorschläge gemacht.
({1})
Ich habe Frau Laurischk, Frau Granold und Frau Noll
darüber unterrichtet, was wir planen. Als ein guter Vertreter der Bundesregierung habe ich die Opposition immer wieder darüber informiert, was wir vorhaben.
({2})
Nun ist es so, dass man ein Gesetzgebungsvorhaben
auch abstimmen muss, erst einmal im eigenen Haus und
dann mit den anderen Ressorts. Wenn 86 Fragen dazwischenkommen, dann müssen diese 86 Fragen in der gleichen Weise verantwortlich abgestimmt werden. Das alles braucht seine Zeit; es ist eben ein schwieriges
Problem. Wir werden das bis zum 23. September erledigt haben; das verspreche ich Ihnen.
({3})
Das war, glaube ich, eine sehr ausführliche Antwort.
Haben Sie noch einen neuen Aspekt anzusprechen?
Ist es nicht eine Missachtung des Parlamentes, wenn
eine Große Anfrage anderthalb Jahre liegen bleibt und
Sie parallel dazu ein Gesetz vorbereiten?
Ich kann mich erinnern, dass auch wir in unserer Oppositionszeit lange auf Antworten gewartet haben. Ich
entschuldige mich hier bei Ihnen; das tue ich wirklich
mit Bedacht und gerne. Ich weiß, dass es lange gedauert
hat. Aber, Herr Funke, Sie wollen doch gute Gesetze und
gute Antworten haben und darum bemühen wir uns.
({0})
Das ist keine Missachtung des Parlamentes. Ich habe
- ich habe es eben gesagt - die von mir sehr geschätzte
Rechtspolitikerin Laurischk
({1})
umgehend informiert und dazu beigetragen, dass sie
86 Fragen stellen konnte. Ich halte das für eine richtig
gute Leistung der Bundesregierung.
Jetzt kann ich es mir sparen, darauf einzugehen, dass
ich Sie informiert habe und dass ich mir nicht sicher bin,
ob eine anders gefärbte Bundesregierung so großzügig
mit der Opposition verfahren wäre.
Meine Damen und Herren, immer mehr Ehen werden
geschieden; immer mehr Menschen leben in so genannten Zweit- und Drittfamilien zusammen. Sehr viele Kinder leben bei Alleinerziehenden. Viele Menschen sehen
in dieser Entwicklung das Resultat eines angeblichen
Werteverfalls der letzten Jahrzehnte. Gegen Mütter und
Väter, die nicht oder nicht mehr verheiratet sind, wird
dabei oft unausgesprochen der Vorwurf erhoben, sie
seien egoistisch und nähmen keine Rücksicht auf das
Wohl ihrer Kinder.
Ich möchte vor einer solchen Diskussion warnen. Sie
ist schon historisch falsch. Im 19. Jahrhundert wurden in
Deutschland mindestens 15 Prozent der Kinder nicht
ehelich geboren. Eine Statistik verzeichnet beispielsweise für das Bayern des Jahres 1826 20 Prozent nicht
eheliche Geburten.
({2})
Für München im Jahr 1860, dem Gründungsjahr der Löwen, werden 50 Prozent nicht eheliche Geburten verzeichnet. Bedingt durch die kürzere Lebenserwartung
haben Ehepaare früher faktisch nicht länger mit ihren
Kindern zusammengelebt als heute. Heute leben Kinder
länger in Gemeinschaft mit ihren leiblichen Bezugspersonen als vor 100 Jahren. Der Erziehungswissenschaftler
Ladenthin hat darauf hingewiesen, dass sich die Menschen nicht scheiden lassen, um aus der Ehe zu flüchten
und alleine zu leben, sondern dass sie immer wieder die
Formen von Ehe oder Lebenspartnerschaft suchen.
Wir verfolgen daher mit unserer Reform zwei wesentliche Ziele: die Förderung des Kindeswohls und die Stärkung der nachehelichen Eigenverantwortung. Der wichtigste Aspekt ist für uns das Kindeswohl. Künftig soll
der Kindesunterhalt Vorrang vor allen anderen Unterhaltsansprüchen haben. Aber hier bleibt unser Konzept
nicht stehen. Auch die weitere unterhaltsrechtliche
Rangfolge wird konsequent am Kindeswohl ausgerichtet. Deswegen sollen sich im zweiten Rang die Unterhaltsansprüche aller Kinder betreuenden Elternteile
gleichberechtigt wiederfinden. Mütter sollen die Chance
haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Gleichgestellt
werden nur langjährige Ehegatten, da hier über viele
Jahre Vertrauen in die eheliche Solidarität gewachsen ist.
Das zweite wesentliche Ziel der Reform ist die Stärkung der nachehelichen Eigenverantwortung. Wir
wollen den Grundsatz der Eigenverantwortung daher
ausdrücklich im Gesetz verankern. Außerdem sollen die
Gerichte künftig mehr Möglichkeiten haben, den nachehelichen Unterhaltsanspruch zeitlich zu befristen oder
der Höhe nach zu begrenzen. Der in der Ehe erreichte
Lebensstandard wird nicht mehr die entscheidende Rolle
spielen. Stattdessen wird es auf die persönliche Situation
der Betroffenen ankommen, etwa darauf, ob ein ausreichendes Betreuungsangebot für die Kinder zur Verfügung steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Unterhaltsrechtsreform führt zu mehr Verteilungsgerechtigkeit für
diejenigen, die es nötig haben, nämlich für die Kinder.
Niemand kann das anders wollen; da darf natürlich auch
die FDP nicht fehlen. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Anders als die FDP hat die Bundesregierung
ein familienpolitisches Gesamtkonzept.
Diese Bundesregierung hat alle Anstrengungen unternommen, um das Betreuungsangebot zu verbessern.
Wir haben dafür gesorgt, dass den Städten und Gemeinden seit dem 1. Januar 2005 jährlich 1,5 Milliarden Euro
mehr für Betreuungsangebote zur Verfügung stehen. Bis
2010 werden wir durch das neue Kinderbetreuungsausbaugesetz 230 000 zusätzliche Plätze in Kindertagesstätten, in Krippen oder bei Tagesmüttern schaffen.
Daneben stellt der Bund bis 2007 den Ländern
4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen
zur Verfügung. Dadurch haben Eltern bessere Möglichkeiten, auch mit Kindern weiterhin ihren beruflichen
Weg zu gehen. Dies kommt in erster Linie den berufstätigen Eltern und den allein erziehenden Müttern zugute.
Es ermöglicht uns aber auch, den Zweitfamilien mit Kindern zu helfen, die heute häufig durch hohe Unterhaltszahlungen an den ersten Ehegatten belastet sind. So geben wir den Unterhaltspflichtigen die Chance, trotz einer
gescheiterten Ehe einen familiären Neuanfang zu wagen.
Meine Damen und Herren, Deutschland sollte zu einem familienfreundlicheren Land werden. Dafür steht
diese Bundesregierung, auch im Unterhaltsrecht. Wir
schulden es den heutigen und den kommenden Generationen.
Vielen Dank.
({3})
Ich habe die ganze Zeit gegrübelt, was im Jahr 1860
in München los war.
({0})
- Das weiß ich. Aber was war außerdem?
({1})
Es ist doch wirklich eine Frage, was der Fußballverein
mit den vielen unehelichen Kindern zu tun hat.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb.
({3})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um einen Antrag und um
eine Große Anfrage der FDP-Fraktion zum Unterhaltsrecht. Das ist ein wichtiges Thema und eine Reform des
Unterhaltsrechts ist schon lange überfällig. Das hat sich
auch aus den vorherigen Reden ergeben; es steht völlig
außer Zweifel.
Es war die CDU/CSU-Bundesregierung, die 1998 mit
der großen Kindschaftsrechtsreform den ersten Schritt
machte. Die zeitnahe Folge hätte eine Reform des Unterhaltsrechts sein müssen, was die 1998 gewählte Bundesregierung allerdings offensichtlich als nicht so dringlich
einstufte.
Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre Initiativen gehen in die richtige Richtung; Sie stellen die richtigen Fragen, Fragen, die auch der Referentenentwurf der
Bundesregierung zur Änderung des Unterhaltsrechts,
über den wir in der Presse schon viel lesen durften, der
uns aber erst seit gestern Abend im Wortlaut vorliegt,
nicht vollständig beantwortet.
Dennoch möchte ich eines loswerden, bevor ich mich
zum Thema selbst äußere: Warum wir hier und heute im
Wortsinne debattieren sollen, ist mir - mit Verlaub, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP - nicht ganz
klar. Die Debatte im Parlament ist ein wichtiger Bestandteil unseres parlamentarischen Verfahrens und sorgt
im Idealfall sogar für einen Erkenntnisgewinn. Sie sollte
doch so wenig wie möglich für reine Schauveranstaltungen missbraucht werden.
({0})
- Das ist jetzt allerdings verdächtig. Applaus aus dieser
Ecke bringt mir zu Hause Ärger, Herr Stünker.
({1})
Bei allem Respekt: Ihr Wunsch, heute über diese Initiativen zu debattieren, hat mit der Bedeutung und der
Funktion der Bundestagsdebatte im parlamentarischen
Verfahren wenig zu tun. Abgesehen davon, dass sich in
den vergangenen Wochen bereits ein breiter Konsens
über den Reformbedarf im Unterhaltsrecht gezeigt hat,
ist seit April - das Datum ist heute auch schon genannt
worden -, als Sie Antrag und Anfrage einbrachten, einiges passiert, wie wir alle wissen. Wie es aussieht, wird
die jetzige Bundesregierung ihren Gesetzentwurf nun
nicht mehr auf den parlamentarischen Weg bringen - jedenfalls habe ich bis heute nichts anderes gehört - und
wir werden uns mit diesem Thema zu einem späteren
Zeitpunkt ohnehin in der gebotenen Gründlichkeit und
mit der erforderlichen Akkuratesse beschäftigen müssen.
Ob die heutige Debatte als eine Debatte über Ihren Antrag oder vielmehr als vorgezogene Debatte über die
Pläne der Bundesregierung zur Reform des Unterhaltsrechts wahrgenommen werden wird, wird sich noch zeigen; es wird sich, wie wir in Kassel sagen, uswiesen.
({2})
Aber sei es drum: Sie haben sich die Arbeit gemacht,
Mühe investiert, die Anfrage und den Antrag zu formulieren, und so soll dies wenigstens gewürdigt werden.
Dass das Unterhaltsrecht an die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen angepasst werden muss, ist - ich
sagte es bereits - notwendig und überfällig. Die Bundesregierung nennt den Reformbedarf in ihrem Gesetzentwurf übrigens Anpassung an „geänderte gesellschaftliche Verhältnisse und den eingetretenen Wertewandel“,
meint damit aber wohl dasselbe. Man muss allerdings
immer vorsichtig sein, wenn die Bundesregierung ankündigt, sie wolle irgendetwas an die neuen Verhältnisse
anpassen.
Der Vorrang der Kinder, deren Unterhalt gesichert
sein muss, die Änderung der Rangverhältnisse, das Prinzip der nachehelichen Eigenverantwortung, all dies steht
im Antrag der FDP. Es stand auch schon in den vom
Bundesjustizministerium veröffentlichten Eckpunkten.
Es ist doch ganz klar - denn alle reden von Kindern, von
Kinderreichtum, von Kinderaugen; Kinder seien ein Segen -: Wenn das nicht zum bloßen Lippenbekenntnis
verkommen soll und wir nicht nur die Lippen spitzen,
sondern auch pfeifen, dann muss man - angelehnt an das
Grundbuchrecht - bei der Behandlung der Rangfolge sagen: Die Kinder müssen an bereitester Stelle stehen.
({3})
Das wollen wir, das haben wir immer gesagt und das
wird auch so bleiben.
Um die finanzielle Absicherung der Kinder - nicht
ehelicher wie ehelicher - zu verbessern, sind klare gesetzliche Vorgaben erforderlich, an denen sich die Gerichte auch orientieren können. Es reicht nicht, bloße,
vage Vorgaben zu machen. Dann müssen wir wieder jahrelang auf eine ständige, gefestigte Rechtsprechung warten. Allgemeine Vorstellungen sind zu wenig und die
Rechtsunsicherheit würde erhöht. Also bedarf es fester,
sauberer Vorgaben.
({4})
Obwohl wir eigentlich nicht über den Gesetzentwurf
aus dem Bundesjustizministerium reden wollen, will ich
eine Agenturmeldung von heute vorlesen. Heute Abend
wird dies in „Panorama“ dargestellt; diese Meldung ist
aber schon vorab veröffentlicht worden:
Die von Justizministerin Brigitte Zypries geplante
Reform des Unterhaltsrechts kann für die betroffenen Familien … zum Teil drastische finanzielle
Nachteile bringen. Der Gesetzentwurf sieht vor, den
Unterhaltsansprüchen von Kindern gegenüber denen geschiedener und aktueller Ehepartner Vorrang
einzuräumen. Allerdings könne der Hauptverdiener
gemäß dem Einkommensteuergesetz nur den an die
geschiedene Frau gezahlten Unterhalt steuerlich als
Sonderausgaben absetzen … Dadurch sinke das
Nettoeinkommen und damit auch die Unterhaltszahlungen, die daraus berechnet würden. Wie Panorama anhand eines Modellfalls vorrechnete, würde
bei einer Familie mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 2 300 Euro der Unterhalt für
Mutter und Kinder von 665 auf 544 Euro sinken also ein Verlust von 121 Euro.
({5})
Bei höherem Verdienst und mehr Kindern könne
der Verlust sogar mehr als 200 Euro betragen …
({6})
„Einzige Profiteure der Reform sind die Finanzminister von Bund und Ländern“ …
Genau das müssen wir verhindern.
Deswegen sollten wir es nicht dabei bewenden lassen,
das Unterhaltsrecht zu verändern, sondern sollten eine
Harmonisierung des Sozialrechts und des Steuerrechts
flankierend mit erledigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Vordergrund dieser Debatte heute steht das Kindeswohl. Es sind sich, wie ich heute zusammenfassen
würde, alle einig, dass dies auch so sein muss.
In der Tat gibt es gesellschaftlich veränderte Verhältnisse und einen gewissen Wertewandel. Darauf
muss die Politik reagieren. Die Politik muss vor allem
im Bereich des Unterhaltsrechts darauf reagieren, dass
die Scheidungszahlen in Deutschland nach wie vor steigen, es immer mehr Zweitfamilien bzw. Patchworkfamilien gibt, die Zahl der Kinder, die in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften oder bei Alleinerziehenden leben,
täglich zunimmt und sich die Rollenbilder in dieser Gesellschaft und die Verantwortungsaufteilung innerhalb
der Partnerschaft bzw. der Ehe verändert haben. Wir sind
gezwungen, im Bereich des Scheidungsrechts, des Unterhaltsrechts, überall dort, wo Familien betroffen sind,
darauf zu reagieren und richtige Antworten zu geben.
Was machen wir? Wir ändern die Rangfolge im Unterhaltsrecht; das wurde vom Staatssekretär vorgestellt.
Wir sagen: Kinder haben Vorrang im Sinne des Kindeswohls. Wir wollen sie stärken. Fraglos ist eines für uns
Grüne ganz wichtig: dass es bei langen Ehezeiten eine
gewisse Bestandsschutzgarantie geben muss. Dies gehört dazu.
Genau dies ist im FDP-Antrag enthalten. Man braucht
nicht unter den Teppich zu kehren, dass Sie im Wesentlichen genau das wollen wie wir. Auch die CDU/CSU hat
bisher nicht widersprochen. Ich hoffe sehr, dass dieser
Teil des Gesetzentwurfes umgesetzt wird, egal wie die
Wahl ausgeht, wobei ich ziemlich zuversichtlich bin,
dass wir diejenigen sind, die das umsetzen werden.
({0})
An einem Punkt aber trübt sich das Bild, das die FDP
hier abgibt. Sie fordert nämlich, die Bezugsdauer von
Unterhaltsvorschussleistungen für Alleinerziehende
von 72 auf 24 Monate zu verkürzen. Wen erreichen Sie
damit? Das ist ein Schlag in die Gesichter der Familien,
die von diesen Zahlungen abhängig sind. Das ist ein
Schlag in die Gesichter alleinerziehender Mütter, die davon abhängig sind und ohnehin schon eine Mehrbelastung hinnehmen müssen,
({1})
die ihre Kinder erziehen und Verantwortung dafür übernehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Frau Kollegin, Ihnen ist möglicherweise nicht aufgefallen, dass wir den Vorschlag machen, den Unterhaltsvorschuss für Kinder bis zum 18. Lebensjahr zu verlängern. Unser Vorschlag ist durchaus ein Plus und führt zu
einer positiven Entwicklung im Unterhaltsvorschussrecht. Das übergehen Sie bei Ihrer Bemerkung. Ich
würde gerne Ihre Einschätzung dazu hören.
Frau Kollegin, Sie dürfen nicht vom Thema ablenken.
({0})
Über eine Verlängerung bis zum 18. Lebensjahr kann
man debattieren. Das habe ich jetzt aber gar nicht angesprochen. Ich habe angesprochen, dass Unterhaltszahlungen nur noch 24 Monate lang vorgeschossen werden
sollen. Kommen Sie doch einmal in die Lebenswirklichkeit von Müttern mit jüngeren Kindern!
({1})
Gerade wenn die Kinder jünger sind, können sie oft
nicht arbeiten. Einen 16-Jährigen kann man nachmittags
durchaus einmal ein, zwei Stunden alleine lassen. Bei einem Zehnjährigen wird es schon schwieriger.
({2})
Ich bin keine Juristin, aber ich bin Familienpolitikerin
und Mutter. Ich kenne die Lebenswirklichkeit. Ich kenne
auch die Situation der Alleinerziehenden.
({3})
Da brauchen Sie mir nichts zu erzählen. Die Frauen, die
auf Unterhaltszahlungen angewiesen sind, weil sie nicht
arbeiten können, weil der Kindergarten um 12 Uhr
schließt oder weil sie nur einen Teilzeitjob annehmen,
um für ihre Kinder da zu sein, dürfen Sie nicht alleine
lassen.
Aber genau das machen Sie. Sie tun so, als wären die
Frauen selber an ihrer Lage schuld, als hätten sie genauso gut verheiratet bleiben können. Das ist ein Hohn
für die Situation alleinerziehender Frauen.
({4})
Wollen Sie eine Nachfrage stellen?
Ich freue mich.
Im Interesse aller bitte ich darauf zu achten, jetzt kurz
zu fragen. Ich habe jetzt sehr viele Zwischenfragen zugelassen.
Eine ganz kurze Frage. Ihren Ausführungen entnehme
ich, dass Sie die Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht
ausbauen wollen?
Nein, Frau Kollegin. Das können Sie vielleicht in einer Gerichtssituation machen. Aber es ist Quatsch, ausgerechnet mir das vorzuwerfen. Ich war doch die Abgeordnete, die den Ausbau der Kinderbetreuung für
Kinder unter drei Jahren und der Ganztagsschulen verhandelt hat. Wir Grünen gehen ja noch viel weiter. Wir
haben Konzepte, die wir im Wahlkampf bringen wollen,
in denen es gerade darum geht, Kinderbetreuung zuverlässig auszubauen. Das ist nicht nur gut für die Eltern im
Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern
auch gut für die Kinder im Sinne der Frühförderung.
Dass ausgerechnet die FDP, die zum ersten Mal in
dieser Wahlperiode das Wort „Kinder“ in den Mund
nimmt,
({0})
jetzt einen solchen Vorwurf macht, finde ich in der Tat
zum Lachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Reaktion ist da goldrichtig. Mehr haben Sie nicht zu bieten.
({1})
Da kann man nur sagen: Setzen! Das Einzige, was Sie zu
bieten haben, geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei.
({2})
Sie behaupten, ein sozial gerechtes und verantwortungsvolles Unterhaltsrecht zu fordern. Was Sie machen,
ist das pure Gegenteil. Das ist ein Schlag in die Gesichter der Mütter, in die Gesichter der Menschen, die Verantwortung in der Erziehung übernehmen.
Im Jahr 2003 haben 500 000 Kinder Unterhaltsvorschussleistungen vom Staat bekommen. Ich will jetzt
nicht die Väter vorführen, aber es sind nun einmal in der
Tat die Väter, die nicht zahlen. Es ist vielleicht nicht so
bekannt, dass ein Drittel der Väter gar nicht zahlt und ein
weiteres Drittel unregelmäßig zahlt. Das heißt, sie sind
säumig.
Darunter sind auch diejenigen, die mittel- und arbeitslos sind. Diese Personen nehme ich aus. Aber viele, die
zahlen könnten, stehlen sich aus ihrer Verantwortung.
Ich will, dass sie ihre Verantwortung auch weiterhin tragen. Wir setzen uns dafür ein, dass regelmäßig Unterhaltszahlungen geleistet werden.
Von der Reform, die wir vorschlagen - das ist die
Grundessenz -, erhoffen wir uns, dass über die Koppelung an die Kinder die Bereitschaft steigt, in Zukunft regelmäßig Unterhalt zu zahlen. Vom Anspruchsvorrang
erhoffen wir uns auch, dass sich die Väter ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern bewusst werden. Wir
erhoffen uns noch mehr: dass bei zukünftigen gerichtlichen Entscheidungen beiden Elternteilen stärker verdeutlicht wird, dass sie eine gemeinsame Verantwortung
für ihre Kinder haben. Nicht zuletzt wollen wir die Kommunen und die Länder dazu bewegen, sich stärker dafür
einzusetzen, dass das Geld, das die Väter ihren Kinder
schuldig bleiben, auch eingetrieben wird. Denn die
Rückholquote der Kommunen und Länder liegt derzeit
bei nicht einmal einem Viertel; sie ist viel zu niedrig.
Es geht darum, die Rechte unserer Kinder durchzusetzen, die Verantwortung der Väter bzw. der unterhaltspflichtigen Menschen zu stärken und sie zu unterstützen,
sie aber auch aufzufordern, sich ihrer Verantwortung zu
stellen. Eine Verkürzung der Bezugsdauer ist der falsche
Weg. Der richtige Weg sind die Vorrangleistung für Kinder und alle Maßnahmen, die die Situation Alleinerziehender verbessern. Dafür stehen wir und dafür wird die
Politik der Grünen auch in Zukunft stehen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir zurück zum Thema:
({0})
Heute geht es nicht um die Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, sondern um den Antrag der FDP zur Änderung des Unterhaltsrechts.
Was zum Thema Untätigkeit gesagt wurde, kann ich
nur bestätigen: Jahrelang wurde nichts getan. Herr Kollege Hartenbach, in der Tat waren die Kollegin Noll und
ich zu Beginn der Legislaturperiode 2002 bei Ihnen, allerdings nicht zu einer Unterrichtung, sondern, um anzumahnen, dass speziell in den Bereichen Unterhaltsrecht
und Versorgungsausgleich etwas getan werden muss.
Das war das Thema, Kollege Hartenbach.
({1})
Kollege Gehb hat vorhin angesprochen, dass die
CDU/CSU-FDP-Regierung 1998 die große Kindschaftsrechtsreform auf den Weg gebracht hat. Als Konsequenz
daraus wäre es zwingend notwendig gewesen, das Unterhaltsrecht zu reformieren. Aber Sie lamentieren nur
und beklagen sich über die Situation in Deutschland:
dass die Unterhaltspflichtigen säumig sind und dass aus
den Unterhaltsvorschusskassen keine Zahlungen geleistet werden. Aber es wird nichts getan.
({2})
Im Jahre 2000 hat der damalige Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, das Unterhaltsrecht zu reformieren. Nun schreiben wir das Jahr 2005. Erst gestern
Abend haben wir einen 56-seitigen Referentenentwurf
zu dieser Debatte bekommen, die wir heute auf Anstoß
der FDP-Fraktion führen. Ich denke, hätte die FDP diesen Anstoß nicht gegeben, hätten wir gestern Abend
auch keinen Referentenentwurf bekommen.
({3})
Das Einzige, was damals unternommen wurde - das
ist unglaublich -, war, dass ein Eckpunktepapier mit
Datum vom 1. November 2004 erarbeitet wurde. Die
Vorschläge dieses Papiers gehen in die richtige Richtung. Darin heißt es - das ist unbestritten -, dass die Privilegierung der Kinder und die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit nach der Ehe notwendig sind. Dann wird
lange in die richtige Richtung diskutiert und angekündigt, dass man in Kürze einen ausgearbeiteten Entwurf
bekommen wird. Diesen Entwurf haben wir auch bekommen: am 6. Mai 2005.
({4})
Man höre und staune: Es handelte sich wiederum um das
Eckpunktepapier, versehen mit dem Zusatz, dass diese
Reform im Jahre 2006 greifen wird. Mehr ist nicht geschehen. Ich muss Ihnen sagen: Die Art und Weise, in
der angesichts der Bedeutung dieses Themas mit einem
umgegangen wird, ist schier unglaublich.
({5})
Von den Betroffenen, den Verbänden und den
Gerichten wissen Sie: Es wurde angemahnt, dass das
Unterhaltsrecht dringend zu novellieren ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Grundgesetz beholfen. Der Bundesgerichtshof hat fortlaufend neue Pflöcke
eingeschlagen. Die Oberlandesgerichte haben ihre Leitlinien verfeinert, um den Familiengerichten auf der untersten Ebene für ihre tagtägliche Arbeit einen Leitfaden
an die Hand zu geben. Es kam zu Handlungsaufforderungen der obersten Gerichte, zum Beispiel zum Familienlastenausgleich und zum Ehegattensplitting. Aber bis
zum heutigen Tage wurde nichts getan. Kollege Gehb
hat vorhin zu Recht gesagt, dass das Sozialrecht - das
Steuerrecht flankierend - mit eingearbeitet werden muss.
Auch in dieser Hinsicht ist nichts geschehen.
({6})
Der Druck aus der Bevölkerung - ({7})
- Es reicht, ich kann es nicht mehr hören. Wissen Sie,
Sie sind sieben Jahre an der Regierung. Jetzt sind Sie
noch ein paar Monate dran und dann, Gott sei Dank,
weg. Dann können wir das, was 1998 erforderlich gewesen wäre, für die Menschen in unserem Land weiterführen.
Die Scheidungsquote ist in den letzten zehn Jahren
um 35 Prozent gestiegen. Eine zunehmende Zahl von
Zweitehen mit Kindern hat doch heute kaum eine Existenzchance.
({8})
Wir haben eine zunehmende Zahl von Alleinerziehenden, eine veränderte Verteilung der Rollen in der Familie, wirtschaftliche Engpässe durch die hohe Arbeitslosigkeit sowie rückläufige Kinderzahlen, auch wegen der
unglaublichen Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten im Unterhaltsrecht,
({9})
und vieles andere mehr.
({10})
Sie wissen es und haben trotzdem jahrelang nichts getan.
Was gefordert wird, ist eine Vereinfachung des Unterhaltsrechts, transparent, einfach, gerecht und der Lebenswirklichkeit entsprechend.
Der Antrag der FDP geht in die richtige Richtung. Ich
habe den Referentenentwurf - 56 Seiten - in der Kürze
der Zeit überflogen. Die Privilegierung der Kinder - sie
sollen den ersten Rang bekommen - steht außer Frage.
Auch die Mütter und Väter, die Kinder betreuen, sollen
geschützt werden, wobei hier natürlich berücksichtigt
werden muss, wie die Betreuungslandschaft bei uns in
Deutschland aussieht: hundsmiserabel. Nicht nur das:
Wenn wir keine gescheite Kinderbetreuung haben und
keine Arbeitswelt, die auf die Familien Rücksicht
nimmt,
({11})
dann ist es sehr schwierig, insbesondere den Frauen aufzuerlegen, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
Auch darüber müssen wir einmal nachdenken. Wir dürfen nicht immer nur fordern, sondern müssen auch die
Voraussetzungen dafür schaffen.
({12})
Die Kollegin von der FDP hat etwas Wichtiges angesprochen: Die Sandwichgeneration - die heute 40- bis
60-Jährigen -, die auf der einen Seite eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber ihren Kindern haben, die in der
Ausbildung sind, aber auf der anderen Seite auch die
Verpflichtung, ihre Eltern im Alter finanziell zu unterstützen, ist arg belastet. Auch hier muss dringend eine
Regelung her.
({13})
Es gibt viele Punkte, viele Baustellen im Unterhaltsrecht, die geklärt werden müssen, die zum Teil im Referentenentwurf nicht enthalten sind. Das ist die Bemessungsgrundlage des Unterhalts, das sind Maß, Höhe und
Dauer des Unterhalts und vieles andere mehr.
({14})
Wenn Sie eine Akzeptanz in der Bevölkerung für das
Unterhaltsrecht wollen, müssen Sie die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass die Menschen, wenn sie Unterhaltsschulden haben, diese tatsächlich begleichen. Es ist ein
Skandal, dass heute mehr als 1 Million Kinder in der Sozialhilfe leben. Es ist ein Skandal, dass nur 50 Prozent
der Unterhaltsschuldner ihre Leistungen erbringen und
der Rest gar nichts zahlt oder nur einen Teil des Unterhalts. Die Unterhaltsvorschusskassen leisten 800 Millionen Euro Unterhalt im Jahr. 22 Prozent davon werden
zurückgeholt. Das leisten der Bund, die Ländern und die
Kommunen. Das sind Steuergelder, obwohl normalerweise der Unterhaltsschuldner zahlen müsste. Darüber
müssen wir nachdenken.
Es ist schon richtig, wenn die Kollegin sagt, das Unterhaltsvorschussgesetz muss ein Stück weit geändert
werden, weil mit dem 12. Lebensjahr des Kindes die
Leistungen eingestellt werden. Was ist denn mit einem
13- oder 14-jährigen Kind?
({15})
Sie wollen ja wohl nicht behaupten, dass sie voll im Erwerbsleben stehen.
({16})
Auch diese Kinder verdienen Schutz. Die Kinder brauchen einen Schutz, und zwar gerade dann, wenn die Eltern sich trennen, wenn alles chaotisch ist, wenn die finanziellen Verhältnisse geregelt werden müssen. Dann
darf nicht differenziert werden zwischen einem neunjährigen Kind und einem zwölfeinhalbjährigen Kind. Das
kann nicht sein und wir kämpfen dafür, dass hier ein
Stück weit Ordnung einkehrt und insbesondere niemand
mehr auf den Unterhaltsvorschuss angewiesen ist.
({17})
Lassen Sie mich ganz am Schluss aus dem Referentenentwurf - wir werden ihn in den Beratungen noch
eingehend zu prüfen haben - zitieren. Auf Seite 12 steht:
Das Unterhaltsrecht ist in besonderer Weise auf die
Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Um diese Akzeptanz auf Dauer zu bewahren,
muss es zeitnah
- zeitnah! auf gesellschaftliche Veränderungen und gewandelte Wertevorstellungen reagieren.
Eine sehr richtige Erkenntnis, nur leider viel zu spät: Ein
Handlungsauftrag besteht seit dem Jahre 2000. Wir haben jetzt 2005. Gestern endlich kam ein Papier. Was damit passiert, wissen wir aber alle selbst.
Hoffen wir, dass die neue Regierung als erstes das
Unterhaltsrecht in Angriff nimmt und eine Regelung für
die vielen Menschen in unserem Land herbeiführt, die
angemessen und gerecht ist.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Bätzing.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich mir den FDP-Antrag ansehe, muss
ich schon sagen: Ich freue mich über das Ansehen - der
Parlamentarische Staatssekretär hat das auch zum Ausdruck gebracht -, das unsere Bundesregierung bei den
Liberalen zu genießen scheint. Denn es entsteht schon
ein bisschen der Eindruck, dass der von Ministerin
Zypries vorgelegte Referentenentwurf zur Reform des
Unterhaltsrechts als Vorlage bei der Formulierung
diente.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht gar nichts;
denn wir sind froh, dass Sie anders als die Union wirklich konkrete Vorschläge vorgelegt haben. Frau Granold,
ich wäre sehr gespannt, was Ihre kommunalen Spitzenverbände zu den Unterhaltsvorschussleistungen sagen
würden, wenn Sie ihnen das einmal vorschlagen würden.
({1})
Wir dürfen also hoffen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung besonders im parlamentarischen Verfahren
Ihre Zustimmung finden wird.
Lassen Sie mich die Gunst der Zustimmung nutzen
und nochmals kurz erläutern, für wen und warum wir
diese Gesetzesänderung anstreben. Das bestehende Unterhaltsrecht ist fast 30 Jahre alt und entspricht weder
den heutigen Vorstellungen eines Familienlebens noch
der Wirklichkeit. Die Fakten - wir haben es mehrfach
gehört - dokumentieren die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung beim Unterhaltsrecht zum Wohle
der Betroffenen. Darin sind wir uns hier in diesem Hohen Hause auch einig. Wir verzeichnen nämlich einen
stetigen Anstieg von Ehescheidungen und eine Zunahme
der Anzahl von Zweitfamilien. Wir haben auch schon
gehört, dass sich die Anzahl von Kindern, die in nicht
ehelichen Lebensgemeinschaften aufwachsen oder mit
ihren alleinerziehenden Eltern zusammenleben, erhöht.
Mit der geplanten Unterhaltsrechtsreform möchten
wir auf die veränderten Wertevorstellungen und den
damit verbundenen Wandel der Lebensformen reagieren. Dabei ist für uns eines klar: Familie ist dort, wo
Kinder sind. Das zentrale Anliegen unserer Reform ist
von daher die Stärkung des Kindeswohls. Darum muss
dem Anspruch auf Kindesunterhalt erstrangig vor sämtlichen weiteren Unterhaltsansprüchen Rechnung getragen werden. Den zweiten Rang nach den Kindern nehmen die Elternteile ein, die mit ihren Kindern
zusammenleben, und zwar unabhängig vom Familienstand. Damit steht die nicht verheiratete Mutter also
gleichberechtigt neben verheirateten oder geschiedenen
Müttern. Damit werden wir unserer Ansicht nach auch
dem veränderten Rollenverständnis der Frauen gerecht.
Sie wollen unabhängig sein. Das zweite Ziel unserer Reform ist deshalb auch die Stärkung der nachehelichen
Eigenverantwortung.
({2})
Hinzu kommt, dass Zweitfamilien durch die kaum
vorhandene Möglichkeit der Befristung - wir haben es
erwähnt - oder Beschränkung von Unterhaltsansprüchen
über Gebühr belastet werden und die Gerichte - das
kommt noch hinzu - von den bestehenden Möglichkeiten kaum Gebrauch machen. Klar ist für uns von daher,
dass wir auch hier handeln müssen. Deswegen geben wir
den Gerichten mit unserem Entwurf stärker als bisher
Möglichkeiten an die Hand, den Unterhalt zu befristen
oder in seiner Höhe zu begrenzen.
Wir handeln mit diesem Referentenentwurf bestimmt,
aber mit Maß und Ziel; denn es gibt Lebensumstände
und Biografien, die eine besondere Berücksichtigung
und einen besonderen Schutz verdienen. Darum gehören
lange miteinander verheiratete Ehegatten, die auch nach
Beendigung ihrer Ehe auf die eheliche Solidarität vertrauen sollen, ebenfalls in den zweiten Rang. Bei den besonderen Biografien haben wir auch an jene Ehegatten
gedacht, die sich mit ihrem Partner auf eine bestimmte
Rollenverteilung geeinigt und im Vertrauen darauf auf
eine Erwerbstätigkeit verzichtet haben.
({3})
Die Detailfragen, die sich hieraus ergeben - darüber gibt
es sicherlich noch jede Menge Diskussionen -, werden
wir dann gemeinsam im parlamentarischen Verfahren erörtern.
Das dritte Ziel, das wir mit unserer Reform verfolgen,
ist die Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Frau
Laurischk, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen
- auch in Ihrem Antrag -, dass das Unterhaltsrecht für
die Betroffenen nur schwer verständlich ist.
({4})
Von daher sieht das Bundesjustizministerium bei der Reform eine klare und plausible Regelung der Rangfolge
vor. Wir wollen die verstreuten Befristungsregelungen
zusammenfassen und das komplizierte Verfahren der Regelbetragsverordnung ersetzen. Hier verweisen wir auf
das Steuerrecht. Damit entfällt auch die bisher notwendige Fortschreibung. Schließlich wollen wir durch die
gesetzliche Definition des Mindestunterhalts für minderjährige Kinder die Harmonisierung des Unterhaltsrechts
mit dem steuer- und sozialrechtlichen Existenzminimum
erreichen.
Trotz dieser vielen Übereinstimmungen werden wir
Ihren Antrag momentan aber noch ablehnen müssen,
weil wir uns bei einigen Detailforderungen einfach noch
zu sehr unterscheiden. Wir sind aber sicher, dass wir im
späteren Verfahren noch die eine oder andere Einigung
finden werden.
Ich möchte die Details noch kurz benennen. Wir können der vollständigen Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit dem Sozialrecht nicht zustimmen. Sie müssen
einfach sehen, dass die Bereitschaft zur Solidarität innerhalb einer Familie höher ist als die der Gesellschaft gegenüber den Bedürftigen. Diesen Umstand kann und
darf der Gesetzgeber nicht ignorieren. Etwas anderes gilt
bei der Festsetzung des Existenzminimums. Dem haben
wir ja mit Blick auf die Kinder durch die Harmonisierung Rechnung getragen.
Wie gesagt, Ihr Antrag kommt unseren Reformvorschlägen entgegen. Das eine oder andere Detail unterscheidet uns noch. Aber aus den genannten Gründen
werden wir Ihren Antrag heute leider ablehnen müssen.
({5})
Bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Gerade die Unterhaltsrechtsauseinandersetzungen belasten die am meisten, die wir am meisten beschützen
wollen, unsere Kinder. Von daher bin ich mir sicher, dass
wir hier im Hohen Hause im Sinne unserer Kinder und
eines respektvollen Umgangs zwischen Menschen, die
füreinander Verantwortung tragen, im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens auf der Basis unseres Referentenentwurfs zu einer guten und pragmatischen Lösung kommen werden.
Danke schön.
({0})
Ich danke auch und schließe damit die Aussprache zu
diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5369 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0})
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen und die Vorlagen sind mit Begeisterung überwiesen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({1})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Faße, Uwe Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert
Schmidt ({2}), Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt verbessern - Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({4}), Dr. Ole Schröder, Dirk
Fischer ({5}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Promillegrenze in der Seeschifffahrt
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Daniel Bahr ({6}),
Horst Friedrich ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen
- Drucksachen 15/4942, 15/4383, 15/3725,
15/5514 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen ({8})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Annette Faße.
({9})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was für den Straßenverkehr zählt, soll künftig auch in
der Seeschifffahrt gelten. Die Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit durch Alkoholgenuss ist in der Seeschifffahrt nicht anders zu beurteilen als im Straßenverkehr
oder in der Binnenschifffahrt.
Derzeit gilt für das Befahren deutscher Seeschifffahrtsstraßen eine Promillegrenze von 0,8. Demgegenüber liegt die Alkoholgrenze in der Binnenschifffahrt
und im Straßenverkehr bereits bei 0,5 Promille. Diese
unterschiedliche Regelung ist nicht zu rechtfertigen. Der
Handlungsbedarf ist unstrittig. Wir möchten mit unserem Antrag unter anderem erreichen, dass die Alkoholgrenze von 0,5 Promille generell für den Verkehr auf
See gelten soll. Die Herabsetzung der Promillegrenze
soll für Schiffsführungspersonal einschließlich der Besatzung während der Dienstzeit für das Befahren deutscher Seeschifffahrtsstraßen und weltweit für deutsche
Schiffe und für die Sportschifffahrt gelten.
Das Sicherheitskonzept der Bundesregierung beruht
zu einem wesentlichen Teil auf dem Präventionsgedanken. Dazu gehört auch, dass Kriterien wie Zuverlässigkeit und persönliche Eignung für die Erteilung und Fortdauer der Gültigkeit der Befähigungszeugnisse stärker
berücksichtigt werden müssen. Es ist erfreulich, dass alle
Fraktionen den Handlungsbedarf erkannt haben. Die
Ziele und Wege waren bzw. sind allerdings unterschiedlich. Ich begrüße nachdrücklich, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD und Grünen beraten.
Zu den notwendigen Schritten unseres Präventionsund Sanktionskonzeptes zählen wir neben der generellen
Herabsetzung der Promillegrenze die Einführung der
Nullpromillegrenze für besonders gefährliche Gefahrguttransporte.
({0})
Das sind Tankschiffe, die besonders gefährliche Stoffe,
zum Beispiel flüssige Gase, flüssige Chemikalien sowie
umweltschädliche Güter, transportieren, und Schiffe, die
radioaktive Stoffe und Abfälle befördern.
Zurzeit darf zum Beispiel ein Kapitän nach einer Ausnüchterung sein Schiff weiter führen, obwohl seine Alkoholwerte darauf hindeuten, dass er alkoholabhängig
sein könnte. Hier ist eindeutig eine Regelungslücke.
Dies räume ich klar und deutlich ein. Künftig soll es die
Möglichkeit geben, ihm vorläufig das Patent zu entziehen. Ein Kapitän soll nach einem alkoholbedingten Seeunfall oder einer Trunkenheitsfahrt bis zu seiner Verhandlung nicht mehr am Ruder stehen.
({1})
Die Grenzen zwischen einem Beinaheunfall, einem
leichten Unfall und einer reinen Trunkenheitsfahrt sind
häufig fließend. Wir wollen nicht warten, bis weiterhin
Unglücke, die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind,
geschehen. Wir wollen bei Trunkenheitsfahrten auch
ohne konkrete Gefährdung bereits einschreiten. Die patentausstellende Behörde soll die Befugnis erhalten, das
vorläufige Ruhen der Erlaubnis anzuordnen. Die WSD
Nord wird den Führerschein bzw. das Berufspatent vorläufig beschlagnahmen können, wenn ein Schiff trotz alkoholbedingter Fahrunsicherheit geführt wird und das zu
einer konkreten Gefährdung Dritter führt. Wir wissen,
dass wir damit einen tiefen Eingriff in die Berufsfreiheit
vornehmen. Es ist für einen Kapitän sehr schwierig,
denn ohne Patent darf er logischerweise seinen Beruf
nicht ausüben.
({2})
Ich hoffe hier auf die abschreckende Wirkung unserer
Regelung.
Wir wollen diese Änderungen in einem Verfahren,
das keine Änderung des SUG nötig macht. Das möchte
ich hier ganz klar sagen. Wir wollen den präventiven Bereich durch regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen
weiter ausdehnen. Wir wollen auch verstärkte Kontrollen in den Häfen haben. Das halten wir für notwendig;
denn sonst brauchen wir keine verschärften Regelungen.
Wir wollen das zentrale Überwachungsregister beim
BSH in Hamburg ermächtigen, vorläufige Patententziehungen und Fahrverbote in die Kartei aufzunehmen. Mit
der IMO - wir befinden uns hier im internationalen Bereich - sind bereits Kontakte aufgenommen worden, damit die Regelungen, die für Deutschland gelten sollen,
auch international auf fruchtbaren Boden fallen.
({3})
Denn wir haben es nicht nur mit der nationalen oder EUweiten, sondern mit der internationalen Seeschifffahrt zu
tun.
Präventives Handeln hat für uns Vorrang. Dieser gemeinsame Antrag zeigt es. Wir handeln verantwortungsvoll. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
({4})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Wolfgang Börnsen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Annette Faße hat das Ergebnis der sehr sorgfältigen Überprüfung eines Zustandes vorgetragen, der
nicht haltbar ist.
({0})
Allein in den letzten drei Jahren hatten wir 126 Fälle von
Alkoholmissbrauch von Schiffsführern.
({1})
Der Eisberg der nicht kontrollierten Schiffe ist noch sehr
viel größer. 126 Mal
({2})
- alleine in Deutschland - sind wir an kleineren und größeren Katastrophen auf See vorbeigeschrammt. 126 Mal
haben wir eine Situation gehabt, die dazu hätte führen
können, dass, ob in der Ostsee oder der Nordsee, große
Teile verwüstet worden wären, wenn es zu einem Unfall
gekommen wäre. Deshalb ist es richtig, dass wir, wenn
wir Menschen, See- und Lebensräume schützen wollen,
aufpassen, wo es Regelungsbedarf gibt. Er liegt jetzt vor.
Dass wir weitgehend zu einem gemeinsamen Antrag gekommen sind, zeigt, dass die Problematik, auch wenn
die FDP in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung
ist, von allen gesehen wird. Wir sind uns einig: Alkoholmissbrauch am Ruder darf es nicht geben. Dem haben
wir den Kampf anzusagen - ohne Wenn und Aber.
({3})
Der gemeinsame Antrag, den wir vorgelegt haben,
zeigt aber auch den Kurs von Verantwortung und von
Vernunft. Wir haben in Europa unterschiedliche Regelungen in Bezug auf die Mitnahme bzw. den Konsum
von Alkohol. Bei den Italienern gibt es zum Beispiel
überhaupt keine Begrenzung. Die Engländer und Holländer haben eine 0,5-Promille-Grenze, aber in anderen
Ländern gelten Grenzen von 0,8 Promille und mehr. Es
besteht insofern eine unterschiedliche Ausgangslage für
die Schiffsführer in Europa. Wir müssen zu einer Vereinheitlichung kommen, damit auch Ungerechtigkeiten beseitigt werden können.
Die Gründe, weshalb man jetzt in diesem Bereich
konsequent vorgehen will, liegen auf der Hand. Wir können es nicht zulassen, dass Menschen, die See und die
Umwelt dadurch beeinträchtigt werden, dass man nicht
zu einem vernünftigen Ergebnis kommt. Betrunkene gehören nicht als Rudergänger auf ein Schiff!
Einige von Ihnen werden sich an den schrecklichen
Unfall der „Exxon Valdez“ 1989 vor der Küste Alaskas
erinnern, bei dem 40 000 Tonnen Erdöl ausgelaufen
sind. Verursacht wurde der Unfall von einem alkoholisierten Schiffsführer. Das kann man nicht durchgehen
lassen. Dagegen muss etwas getan werden.
Wir sind dabei, heute gemeinsam eine entsprechende
Vorlage zu beschließen. Annette Faße hat darauf aufmerksam gemacht und mein Kollege Dirk Fischer hat
von Hamburg aus immer wieder deutlich gemacht, wie
notwendig dies ist. Bei Chemikalientankern, Öltankern
und Schiffen mit gefährlichen Stoffen darf es auch keine
Promillegrenze von 0,3 mehr geben. Wir müssen an dieser Stelle konsequent sein und die Null-Promillegrenze
einführen. Das wird in der Vorlage gefordert.
Es reicht nicht aus, nur darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Lage hinsichtlich des Alkoholmissbrauchs ändern muss, sondern wir müssen auch durch
eindeutige Maßnahmen zeigen, dass wir zum Handeln
bereit sind. Man darf nicht vergessen, dass die Reeder in
ihren Verträgen mit der Crew sehr wohl vorschreiben,
dass während der Arbeit an Bord nicht getrunken werden
darf. Wenn aber schon - wie eingangs deutlich wurde 126 Missbrauchsfälle bekannt wurden, dann heißt das,
dass über die Verträge hinweggegangen wird. Insofern
muss eine vernünftige Regelung für alle geschaffen werden. Das wollen wir tun.
Richtig ist, dass das Seesicherheits-UntersuchungsGesetz, das vor drei Jahren in Kraft getreten ist, nicht
ausreichend gewirkt hat. Das steht außer Frage. Es hat
keine abschreckende Wirkung, wenn betrunkenen
Schiffsführern auch nach Unfällen nicht die Fahrerlaubnis entzogen wird, wenn sie erst Monate später
belangt werden
({4})
und wenn im Falle eines Unfalls nicht als Konsequenz
mit dem Verlust der Fahrerlaubnis zu rechnen ist.
({5})
Wolfgang Börnsen ({6})
Es schreckt ebenfalls nicht ab - auch Rainder
Steenblock hat diesen Punkt immer wieder moniert -,
wenn entsprechende Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Vielmehr muss die Öffentlichkeit
dazu Zugang haben, um zu erfahren, wer andere gefährdet hat. Auch das muss in Zukunft zur Regel werden.
({7})
Wir glauben, dass es nicht ausreicht, wenn wie vor einem Jahr, als ein ukrainischer Kapitän sturzbetrunken
mit über 2 Promille in Bremen ankam - ({8})
- Das will ich ja gerade ausführen.
({9})
Ihm wurde zwar durch das Seegericht die Fahrerlaubnis
für die Straße innerhalb Deutschlands entzogen, aber
nicht die Fahrerlaubnis für die See.
({10})
Er ist nach drei Wochen nach England gegangen, hat
sich dort wieder ein Schiff genommen und fährt weiter
über die Weltmeere.
Das geht nicht mehr an. Wir müssen sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu einer Regelung kommen, damit solche Auswüchse verhindert
werden und wir dazu beitragen, dass diese Verhaltensweise unterbunden wird.
Ich will noch zu zwei Punkten etwas anmerken. Zum
einen ist es richtig, dass wir nicht nur von der Verantwortung des Kapitäns ausgehen, sondern auch von der
der gesamten Crew. Es geht nicht an, dass zwar der
Kapitän nüchtern, aber der am Ausguck stehende Steuermann stark betrunken ist. Alle haben im Dienst dem Gebot der Nüchternheit zu folgen. Dafür ist der Schiffsverkehr viel zu schwierig.
Zum anderen ist es auch richtig, dass wir die Einrichtung eines zentralen Überwachungsregisters fordern,
durch das der Wasserschutzpolizei und anderen die
Möglichkeit geboten wird, festzustellen, ob gegen ausländische Kapitäne - die ihr Fahrtenbuch nicht vorzeigen müssen, das auch nicht eingezogen werden kann;
auf diesen Punkt wird auch der Kollege Goldmann noch
näher eingehen - ein Fahrverbot verhängt wurde. Es
geht nicht an, eine Situation zu schaffen, die zu Beeinträchtigungen der Eingriffsmöglichkeiten der Wasserschutzpolizei führt. Das darf nicht sein. Wir sind für ein
zentrales Register. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten
das beim Kraftfahrtbundesamt ansiedeln können, weil
dort die Kompetenz vorhanden ist. Aber dazu ist es nicht
gekommen.
Ich appelliere an alle, die Freunde und Kollegen in
anderen Parlamenten haben: Sorgen Sie dafür, dass diese
Frage von Finnland bis Italien aufgegriffen wird. Wenn
bei einer Kollision ein finnischer und ein italienischer
Kapitän beteiligt sind, gilt zweierlei Recht. Hier sollte
man zu einer Vereinheitlichung und zu einer für alle vertretbaren Lösung kommen, damit ein Ausweichen auf
andere Länder unmöglich wird.
Viele kennen das wunderschöne Lied „What shall we
do with the drunken sailor?“
({11})
- Das haben einige schon überlegt; das ist ja auch nahe
liegend.
Nicht weit von meiner Heimat hat vor etwa einem
Jahr ein dänischer Kapitän im Großen Belt die
Stützwand der Brücke gerammt. Er war sturzbetrunken.
Und was ist ihm passiert? Er wurde von Bord gefegt. So
lange sollten wir mit dem „drunken sailor“ nicht warten.
Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, unter Rücksichtnahme auf die Besatzung eine größere Seesicherheit
für alle zu schaffen.
Herzlichen Dank.
({12})
Eine wirklich interessante Debatte, auch für uns
Landratten. Man lernt wirklich etwas dazu über die Verhältnisse auf See.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Havarie des Öltankers „Exxon Valdez“ - der Kollege Börnsen hat es angesprochen - vor der Südküste
Alaskas hat aus sehr vielen Gründen eine traurige Berühmtheit erlangt. Einer der Gründe war der Alkoholmissbrauch des Kapitäns; denn der betrunkene Kapitän
hatte das Schiff einem völlig unerfahrenen Offizier überlassen, der mit der Schiffsführung total überfordert war.
Die Havarie der „Exxon Valdez“ wurde zu einer der
größten Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts.
Betrunken war auch der Kapitän des Säuretankers
„ENA 2“, der im letzten Jahr im Hamburger Hafen havarierte. 960 Tonnen Schwefelsäure liefen in die Elbe.
Eine Blutprobe des Kapitäns ergab einen Blutalkoholwert von 2,2 Promille.
Diese Beispiele zeigen, dass wir dringend den Alkoholmissbrauch in der Seeschifffahrt bekämpfen müssen.
Der Kollege Börnsen hat schon die Zahl von 126 festgestellten Alkoholmissbrauchsfällen genannt. Natürlich
gibt es noch eine riesige Dunkelziffer. Mich macht die
Steigerung sehr besorgt. Diese Zahl 126 bedeutet eine
Verdreifachung gegenüber dem vorherigen Berichtszeitraum. Diese Steigerung muss uns zum Handeln zwingen
und ich bin sehr froh, dass wir das zusammen schaffen
werden.
({0})
Alkoholmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, auch
nicht in der Seeschifffahrt. Das Bild vom „drunken
sailor“ mag für Seefahrerromantik und Nostalgie etwas
taugen; in der modernen Seeschifffahrt hat dieses Bild
jedenfalls nichts zu suchen. Das Risiko von Katastrophen durch Havarie von Schiffen ist gerade bei Öltankern oder Chemietankern, wie „Erika“ oder „Prestige“
gezeigt haben, immens.
Zudem haben Schiffsunfälle gravierende Folgen für
die wirtschaftliche Situation der betroffenen Menschen
an den Küsten. Die Tourismusindustrie und die Fischerei
sind häufig über Jahre, manchmal über Jahrzehnte, gestört und geschädigt und die Kosten für die Schadensbeseitigung - das haben wir gerade in Spanien erlebt - sind
gigantisch.
Die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs ist also ein
wichtiger Punkt für mehr Sicherheit im Seeverkehr in
ganz Europa. Denn alljährlich werden zum Beispiel
800 Millionen Tonnen Öl allein über die Häfen in der
Europäischen Union umgeschlagen. Zudem passieren
zahlreiche Öltanker die Hoheitsgewässer der Europäischen Union, ohne überhaupt einen ihrer Häfen anzulaufen. Das betrifft insbesondere die russischen Öltanker,
die auf der Ostsee unterwegs sind. Das birgt bei der hohen Verkehrsdichte auf der Nord- und der Ostsee ein erhebliches Gefahrenpotenzial und Unfallrisiko und macht
drastische Maßnahmen notwendig. Deshalb haben wir
uns für die Nullpromillegrenze bei Gefahrguttransporten mit hohem Risikopotenzial wie Tankschiffen und
Schiffen, die radioaktive Stoffe befördern, eingesetzt
und sie auch umgesetzt.
({1})
Für alle sonstigen Schiffe und Sportboote werden wir
eine Anpassung an die „normalen“ Werte im Straßenverkehr und in anderen Bereichen des Verkehrs vornehmen
und die Grenze von 0,8 auf 0,5 Promille senken. Auch
die präventiven Maßnahmen werden durch Kontrollen
in den Häfen und regelmäßige Blutuntersuchungen im
Rahmen der Seetauglichkeitsuntersuchung verbessert.
All dies ist notwendig. Schließlich müssen wir - das
haben wir bereits gemacht - die rechtlichen Voraussetzungen für die vorläufige Anordnung des Ruhens von
Fahrerlaubnissen zur Klärung von Eignungszweifeln
schaffen.
Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt müssen so
weit wie möglich verhindert werden. Wir wissen zwar
genau, dass wir nie 100 Prozent erreichen können. Aber
wir müssen zumindest das Drohpotenzial zur Verfügung
haben, das möglich ist, um die präventive Funktion der
Strafgesetzgebung zu realisieren. Wir müssen die Kontrollen verstärken. Die Grenzwerte, die wir nun festgelegt haben, bedeuten einen vernünftigen Schritt hin zu
mehr Seesicherheit sowie mehr Schutz von Mensch und
Umwelt.
Gerade weil es sich um einen fraktionsübergreifenden
Antrag handelt, möchte ich mich zum Schluss bei der
Kollegin Annette Faße und dem Kollegen Uwe
Beckmeyer von der sozialdemokratischen Fraktion sowie dem Kollegen Wolfgang Börnsen von der CDU/
CSU für die sehr kollegiale Zusammenarbeit herzlich
bedanken. So haben wir es gemeinsam geschafft, ein
sehr großes Problem der Seeschifffahrt zu lösen. Dass
die FDP außen vor war, mag kein Signal für das Ergebnis bei der Bundestagswahl sein. Aber es ist ein bisschen
schade; denn es wäre, glaube ich, gut gewesen, wenn wir
alle an dieser Stelle gemeinsam gehandelt hätten und
wenn nicht Kleinigkeiten so hochstilisiert worden wären, dass wir nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung,
die von allen Fraktionen in diesem Hause hätte getragen
werden können, gekommen sind.
Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit.
({2})
Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann
das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Jetzt kommt der Fachmann!“ Ich nehme das einmal so an; denn in dieser Sache habe ich hundertprozentig Recht. - Herr Kollege von der SPD, nicht immer
gleich brüllen!
Das Thema ist Alkoholmissbrauch in der Seeschifffahrt. Es geht aber nicht um Promillegrenzen - darin
sind wir uns sicherlich einig -, sondern schlicht und ergreifend darum, was wir mit demjenigen machen, der
betrunken ist und der eigentlich seinen „Lappen“ zu verlieren hat. So simpel ist die Geschichte. Der jetzige
Schaden ist bei der Änderung des SUG entstanden. Das
weiß Annette Faße genauso gut wie ich.
({0})
Der Schaden ist entstanden, weil es damals einen Ministerialbeamten gab, der das unbedingt noch vor seinem
Ruhestand durchsetzen wollte. Alle an der Küste sind
sich aber einig: Das neue SUG ist nicht gut genug, wenn
es darum geht, den Alkoholmissbrauch und seine Auswirkungen einzudämmen.
Wir waren uns eigentlich einig, die entsprechende Regelungslücke zu schließen und den Alkoholmissbrauch,
auch durch präventive Maßnahmen, besser zu bekämpfen. Das hat der Kollege Börnsen - genauso wie der Kollege Steenblock - vor nicht allzu langer Zeit dankenswerterweise erklärt. Er hat gesagt: Nun machen wir uns
doch gemeinsam auf den Weg und sorgen wir für Abhilfe! Nun sagen Sie, Herr Börnsen: Ihr bösen Kapitäne,
126 von euch haben wir betrunken erwischt und eigentlich sind es ja noch viel mehr. - Herr Börnsen, was Sie
aber nicht sagen, ist, dass Sie mit der Regelung, die Sie
nun treffen, nur den deutschen Kapitän erwischen. Nur
bei einem deutschen Kapitän kann die Patentbehörde sozusagen einen Sofortvollzug vornehmen. Aber den
Ukrainer, den Sie eben als Beispiel angeführt haben und
den ich erwischen will, bekommt man so nicht. Das ist
der springende Punkt.
({1})
Es geht hier nicht um 0,5 oder 0,8 Promille. Vielmehr
geht es im Grunde genommen darum, was in der internationalen Seefahrt an der Tagesordnung ist. Es gibt sicherlich viele vernünftige Kapitäne. Aber wir haben spezielle Probleme mit dem einen oder anderen
ausländischen Kapitän, der betrunken ist oder der sein
Kapitänspatent allem Anschein nach im Lotterieverfahren gewonnen hat. Sie wissen ganz genau, welche
Schwierigkeiten wir da haben.
Wir haben das Problem, dass Sie diese Personen mit
den Änderungen, die Sie heute auf den Weg bringen,
nicht erreichen. Eine Zeitung, die sich mit diesem
Thema intensiv beschäftigt, hat Recht, wenn sie schreibt
- Herr Börnsen, hören Sie wenigstens einen Moment
zu! -: „Erlaubt: Betrunken am Steuerrad“. Das schlimme
Signal, das von dem heutigen Beschluss der Koalitionsfraktionen, also der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen, und der CDU/CSU-Fraktion ausgeht, ist, dass
das zukünftig zumindest auf ausländische Kapitäne zutrifft.
Dem wollen wir mit unserem Antrag entgegenwirken.
({2})
In unserem Antrag steht: Der „Lappen“ muss sofort
weggenommen werden, wenn jemand betrunken ist oder
deutlich zeigt, dass er im Grunde genommen nicht bereit
ist, sich an unsere Spielregeln zu halten. Dass deren Einhaltung dringend nötig ist, darüber besteht zwischen uns
Konsens. In punkto Seeschifffahrt ist in der Deutschen
Bucht eine Menge los. Auch was die Ostsee angeht, sind
wir uns einig. Um die dortigen Probleme zu lösen, müssten Sie unserem Antrag eigentlich zustimmen. Das wissen Sie auch ganz genau; da bin ich hundertprozentig sicher.
Wir bleiben dabei: Hier geht es nicht um einen Kompromiss, also darum, ob die Grenze nun bei 0,5 Promille
oder bei 0,8 Promille liegt. Hier geht es schlicht und ergreifend darum, ob wir den ausländischen Kapitänen, die
sich auf unseren Gewässern bewegen, das Patent entziehen können. Genau das können wir nicht, weil es nicht
von einer deutschen Patentbehörde ausgestellt worden
ist. Unterhalten Sie sich mit allen, die mit der Anwendung des SUG zu tun haben, unterhalten Sie sich mit
dem BSH und mit anderen! Sie alle sagen Ihnen das
Gleiche: Die Lösung, die heute auf dem Tisch liegt, ist
unzureichend. Unsere ist besser und deswegen stellen
wir sie zur Abstimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wäre schön, wenn wir „Fischköppe“ die Präsidentin
auf den Geschmack gebracht hätten. Die Seeschifffahrt
sucht gute Leute.
Ich bin demnächst frei.
({0})
Es gibt auch Frauen in der Seeschifffahrt, zum Beispiel sehr erfolgreiche weibliche Kapitäne. Also: Nur
zu!
Sicherheit in der Seeschifffahrt hängt nicht nur von
der Einhaltung hoher technischer Standards ab, sondern
natürlich auch von der Qualifikation und von der Zuverlässigkeit der Schiffsführung. Gravierende Eignungsmängel erhöhen das Unfallrisiko und haben oft verheerende Folgen für Mensch und Umwelt. Alkohol am
Ruder ist deshalb konsequent zu bekämpfen. Wenn das
geschieht, wird die Verkehrssicherheit insgesamt erhöht.
Das ist ein wichtiges nationales, aber auch ein internationales Anliegen.
Wie schon gesagt wurde, ist dieser Bereich im Straßenverkehr eindeutig geregelt: Wer einen Unfall unter
Alkoholeinfluss verursacht, der wird dafür zur Rechenschaft gezogen.
({0})
Auch die, die keine Unfälle verursachen, sondern „nur“
betrunken fahren, müssen mit ernsten Konsequenzen
rechnen, bis hin zum Entzug der Fahrerlaubnis.
Aber wie in vielen anderen Bereichen gibt es in der
Schifffahrt Fälle von Alkoholmissbrauch. Alkoholmissbrauch ist ein Indiz für gravierende Eignungsmängel
beim seemännischen Personal. Ich will deshalb auf die
Eckpunkte eingehen.
Die neue allgemeine Regelung, dass in der Seeschifffahrt eine Grenze von 0,5 Promille gelten soll, wird an
die Grenzwerte im Straßenverkehr und in der Binnenschifffahrt angeglichen. Das ist hierbei der größte Sanktionsfaktor.
Durch die Verschärfung der Kriterien der persönlichen Zuverlässigkeit schon bei der Erteilung von Patenten und von Fahrerlaubnissen tragen wir zu mehr Prävention bei.
Die Bundesregierung wird in einem ersten Schritt auf
dem Verordnungswege die allgemeine Promillegrenze
für den Bereich der deutschen Seeschifffahrt und für den
Bereich deutscher Seeschiffe, die weltweit unterwegs
sind, herabsetzen. Das folgt klaren Regeln, es dient der
Sicherheit und es ist gesellschaftlicher und rechtlicher
Konsens.
({1})
Aus Sicht der Bundesregierung ist es sehr erfreulich,
dass diese Beschlussempfehlung mit interfraktioneller
Übereinstimmung zustande gekommen ist. Sie behandelt
sehr viele Punkte, die auch wir in unserem Sanktionsund Präventionskonzept aufgeführt haben.
Wir sagen auch eindeutig: Das gilt für alle, das gilt für
die gesamte Schiffsbesatzung während der Dienstzeit.
Jeder Bordarbeitsplatz, ob im Brücken-, Maschinenoder Deckbereich, ist für die Sicherheit des Schiffes von
Bedeutung.
({2})
Zusätzlich soll - das haben wir auch gesagt - für bestimmte Gefahrguttransporte auf deutschen Seeschifffahrtstraßen künftig eine noch restriktivere Promille-Regelung gelten. Frau Faße hat schon von Tankschiffen
und gefährlichen Gütern gesprochen; ich glaube, Herr
Börnsen hat das auch gesagt. Ich nenne noch radioaktive
Stoffe.
Wir nehmen übrigens eine Anregung des Bundesrates
auf und prüfen, ob diese Regelung auch für Fahrgastschiffe gelten sollte. Da sind wir im Moment in der Abstimmung mit den Ländern.
Die neuen, verschärften Regelungen bedürfen einer
wirksamen Durchsetzung und Kontrolle. So werden wir
im Seeaufgabengesetz ein Fahrverbot auch außerhalb
konkreter Gefährdungen einführen. Vorläufige Maßnahmen wie das Ruhen der Fahrerlaubnis oder des Patentes
oder sofort vollziehbare Fahrverbote gegenüber Ausländern dienen nicht nur einer effektiven Sanktionierung,
sondern haben auch Abschreckungscharakter. Genau das
ist auch gewollt.
Dabei kommt es nicht, Herr Goldmann, zu einer
Kompetenzüberschneidung zwischen den Seeämtern
und den Wasser- und Schifffahrtsdirektionen.
({3})
Auch folgenlose Trunkenheitsfahrten, wie es so schön
heißt, ziehen die Eignung in Zweifel und müssen die Anordnung des Ruhens der Fahrerlaubnis als vorläufige
Maßnahme durch die patentausstellende Behörde nach
sich ziehen. Auch gegenüber Ausländern sollen vorläufige Maßnahmen in Form eines Fahrverbots durch die
Schifffahrtspolizeibehörden angeordnet werden können.
({4})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Börnsen.
Frau Staatssekretärin, ich finde, Sie haben mit Recht
auf einen Punkt aufmerksam gemacht, der von unserem
Kollegen Goldmann sehr stark diskutiert worden ist, die
Frage nämlich, ob wir mit unserer Regelung ausschließlich deutsche Schiffsführer meinen, obwohl wir uns eigentlich in dem Ziel einig sind - auch mit der FDP; deswegen ist das mehr eine künstliche Diskussion -, dass
auch ausländische Schiffsführer einbezogen werden sollen, wenn wir jetzt zu einer neuen Regelung kommen.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das verdeutlichen
könnten.
Herr Börnsen, Sie haben absolut Recht. Ausländische
Schiffsführungen - so muss man sagen; es sind ja nicht
nur die Kapitäne - sind auch betroffen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen auf wirksame Sanktionen und ein neues Präventionskonzept.
Frau Kollegin Mertens, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann? - Bitte schön, Herr
Goldmann.
Danke schön, Herr Präsident! - Geschätzte Staatssekretärin, stimmen Sie mit mir darin überein, dass sowohl der Antrag von SPD und Grünen als auch der von
CDU/CSU den Sofortvollzug der ausstellenden Patentbehörde zuweist? Ich meine, da Sie in Ihrem Antrag im
Grunde genommen eine Trennung der Verfahren in Eilentscheidung und Hauptsacheverfahren vornehmen, ist
der Sofortvollzug bei einem ausländischen Kapitän, dessen Patent nicht von einer deutschen Behörde ausgestellt
wurde, nicht mehr möglich.
({0})
Ich habe Ihnen das eben schon beantwortet: Die
schifffahrtspolizeilichen Behörden können auch gegenüber einem ausländischen Kapitän eine vorläufige Maßnahme ergreifen, das heißt, ein Fahrverbot aussprechen.
({0})
Das wissen Sie eigentlich auch.
Herr Goldmann, Sie wollen die SUG-Debatte wieder
eröffnen. Das steht Ihnen auch zu. Sie haben ja damals,
als wir das behandelt haben, eine klare Position bezogen.
Aber in diesem Fall irren Sie sich wirklich. Die schifffahrtspolizeilichen Behörden haben die Befugnis, dieses
Fahrverbot auszusprechen.
({1})
Dann komme ich zum Schluss. Wir setzen auf wirksame Sanktionen und ein neues Präventionskonzept. Wir
werden uns logischerweise auch bei der IMO dafür einsetzen - vielleicht beantwortet das auch ein bisschen
das, was Sie gefragt oder gedacht haben, Herr
Goldmann -, dass weltweit verbindliche einheitliche Alkoholgrenzwerte festgelegt werden.
Ich bedanke mich noch einmal für den sozusagen interfraktionellen Antrag, bedanke mich also bei den
Koalitionsfraktionen und bei der CDU/CSU-Fraktion.
Was ich vorhin gesagt habe, gilt auch in diesem Fall,
auch in diesem Monat noch: Wir werden das zügig umsetzen. Wir sind in dieser Angelegenheit mit dem Bundesrat schon sehr weit. Ich danke für die außerordentlich
nüchterne Debatte, die wir heute darüber geführt haben.
({2})
Das Wort hat der Kollege Enak Ferlemann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Goldmann, wir haben Ihnen diese
außerordentlich spannende und informative Debatte hier
heute Abend zu verdanken. Insofern sind wir tatsächlich
alle Betroffene dieser Angelegenheit.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob Ihre Einlassungen hier korrekt waren.
({0})
Sie wissen selbst, dass es sich zunächst einmal um einen
Antrag handelt, den wir hier beschließen.
({1})
Es ist noch nicht das Gesetzgebungsverfahren. Wenn Sie
da etwas ändern wollen - ({2})
- Darin steht genau das, was Gesetz werden soll. Aber
wenn wir eine Gesetzesänderung wollen, die Thematik
also nicht auf dem Verordnungswege geregelt wird,
brauchen wir ein weiteres Verfahren. Insofern verstehe
ich gar nicht, warum Sie hier den Teufel an die Wand
malen.
Im Übrigen ist die Erklärung, die die Staatssekretärin
gegeben hat, richtig: Man kann auch heute sofort den
Führerschein entziehen. Das ist überhaupt keine Frage.
Wenn die Wasserschutzpolizei das macht, dann ist der
Führerschein weg und dann kann die Person das Schiff
nicht weiter führen, wenn die Regelungen so getroffen
werden.
({3})
Zu diesem Thema ist heute im Grunde genommen
schon alles ausgeführt worden. Wir alle gemeinsam sind
in Sorge um die drastisch zunehmende Zahl von Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt. Die Statistiken sagen aus, dass sich die Zahl etwa verdreifacht hat. Die
möglicherweise gravierenden Folgen für die Küsten und
die Seeschifffahrtsstraßen sind drastisch geschildert
worden. Ich will nur an die Havarie der „ENA 2“ erinnern, bei der 960 Tonnen Schwefelsäure in die Elbe geflossen sind. Das zeigt deutlich, welches Gefährdungspotenzial von alkoholbedingten Schiffsunfällen ausgeht.
Dass wir uns über die Promillegrenze haben einigen
können - eine große Debatte zwischen den Fraktionen
war ja, wo man sie ansetzen soll -, halte ich für sehr gut.
Die gefundene Regelung, nach der bei besonderer Gefährdung die Null-Promille-Grenze gilt, wie beim Flugverkehr, und für Normalfahrten die Grenze wie auf Straßen und Binnengewässern, nämlich 0,5 Promille, ist,
denke ich, eine gute Sache.
Auch der Fall des ukrainischen Kapitäns, der mit seinem Feederschiff MS Robert volltrunken - mit 2,4 Promille - auf der Außenweser gestoppt wurde, hat uns sicherlich sehr zu denken gegeben.
({4})
Auch dieser Fall war ein Hinweis darauf, dass bei der
Gesetzesänderung, die wir vor einigen Jahren beschlossen haben, ein Fehler gemacht worden ist. Wir als Union
haben schon damals kritisiert, das alte Seeunfalluntersuchungsgesetz sei besser gewesen als das nachfolgende
Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetz, das dann 2002 in
Kraft getreten ist. Auf diese Lücke haben wir mehrfach
hingewiesen. Ich finde es gut, dass die Koalition zugegeben hat, dass damals ein Fehler unterlaufen ist,
({5})
und gesagt hat: Diesen Fehler wollen wir korrigieren.
(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen
({6}) ({7}) - Hans-Michael
Warum tut sie es nicht?)
Darin sind wir uns einig. Das ist der richtige Ansatz.
Dass wir uns dabei auch über die Promillegrenzen haben
einigen können, halte ich für eine gute Sache.
Dass wir dann gemeinsam auch noch der Auffassung
sind, dass wir ein zentrales Überwachungsregister
brauchen, ist ebenfalls gut. Nur, auf nationaler Ebene allein wird das nicht ausreichen. Das brauchen wir auf internationaler Ebene. Die IMO muss gebeten werden, das
konsequent fortzuführen, damit es nicht nur eine nationale Regelung, sondern eine internationale Regelung
gibt. Zumindest EU-weit müssen wir dafür sorgen, dass
wir denjenigen, die mit solchen Trunkenheitsfahrten des
Öfteren auffallen, die Erlaubnisse dauerhaft entziehen
können, ähnlich wie das durch das Kraftfahrtbundesamt
möglich ist.
Das ist ein spannendes Thema, ein interessantes
Thema für alle diejenigen, die die Küstenschifffahrt und
die Seeschifffahrt nicht so kennen. Wir kennen diese
Problematik. Deswegen halte ich die gemeinsam gefundene Regelung für sehr gut. Ich wundere mich, dass der
Kollege Goldmann da nicht mitmacht. Schließlich
kommt auch er, wie er sagt, von der Küste - obwohl Papenburg sehr weit landeinwärts liegt und es dort nicht so
viel Küste gibt.
({0})
- Die nennen sich Seehafen, für uns ist das aber fast
schon ein Binnenhafen; das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
({1})
- So viele große Schiffe, wie bei uns in einer Stunde vorbeifahren, seht ihr bei euch nicht einmal an einem Tag.
Dass Sie also nicht mitmachen, mag Profilierungsgründe haben, die mit dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf zu tun haben.
({2})
Wir werden sicherlich danach in anderer Funktion sehen,
wie wir zu entsprechenden Regelungen kommen.
Ich darf mich bei den Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen für die gute Zusammenarbeit
bedanken. Wir werden Ihren Antrag heute im Sinne der
Seeschifffahrt und der Menschen an den Küsten gemeinsam verabschieden.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/5514.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4942
mit dem Titel „Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt
verbessern - Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4383 mit
dem Titel „Promillegrenze in der Seeschifffahrt“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3725 mit dem
Titel „Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSUFraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine klare europäische Perspektive der
Ukraine
- Drucksache 15/5021 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Claudia Nolte von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen ist es ein halbes Jahr her, als uns die Bilder aus
Kiew erreichten, wo die Menschen mit viel Mut und
Ausdauer in der orangen Revolution für demokratische
Grundrechte demonstriert haben und den Respekt vor
dem freien Willen der Wähler eingefordert haben. Die
Menschen waren erfolgreich mit ihrem Protest. Seitdem
bemühen sich der Präsident Juschtschenko und die Regierung Timoschenko um eine Neuausrichtung der Politik. Die Richtung ist eindeutig: Sie weist nach Europa.
Nicht nur die politische Elite in der Ukraine richtet ihre
Erwartungen auf uns, sondern gerade auch die Menschen in der Ukraine erhoffen sich Unterstützung und
vor allen Dingen eine Verbesserung ihrer konkreten Lebenssituation durch die Europäische Union.
Viele von uns mögen jetzt denken: zur Unzeit. Erst in
den vergangenen Tagen haben die Franzosen und die
Niederländer in Referenden zum EU-Verfassungsvertrag
mit einem klaren Nein gestimmt. Nun mögen viele
Gründe dafür die Ursache gewesen sein, aber ganz sicher auch der, dass man meint, die letzte Erweiterungsrunde war ein so großer Schritt, dass es jetzt erst einmal
angebracht wäre, innezuhalten und sich über die Frage
klar zu werden, welches Europa mit welchen Grenzen
wir haben wollen.
Das heißt, die EU ist aufgefordert, sich jetzt erst einmal zu konsolidieren. Aber die Ukraine ist unbestritten
ein europäisches Land. Gerade in dem EU-Verfassungsvertrag, den wir Deutsche so verteidigt haben, ist ausdrücklich für jedes europäische Land der Weg in die EU
prinzipiell eröffnet. Wir haben bei den ehemaligen Beitrittskandidaten und heutigen neuen Mitgliedsländern
die Erfahrung gemacht, welch große Motivation gerade
diese Perspektive für die Durchsetzung von Reformen,
die erst einmal schmerzhaft für die Menschen und in dieser Zeit nicht gerade populär sind, schafft. Ich denke,
auch für die Ukraine wird der Weg Richtung Europa
schwer. Die Voraussetzungen dafür sind längst noch
nicht vorhanden. Deshalb braucht die Ukraine ein Signal.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Sache
so ist, wie sie ist - die EU ist noch nicht so weit, die
Ukraine ebenfalls noch nicht -, haben wir in unserem
Antrag ausdrücklich nicht von Beitrittsperspektive gesprochen. Jetzt ist nicht die Zeit, über einen Beitritt zu
reden, sondern jetzt ist die Zeit, die Voraussetzungen für
einen möglichen Beitritt zu schaffen. Nach meiner festen
Überzeugung meint europäische Perspektive deutlich
mehr als nur den Beitritt. Uns geht es ja nicht nur darum,
dass die Ukraine in Europa liegt, sondern sie muss auch
in ihrer inneren Verfasstheit ein europäisches Land sein,
das heißt ein Land, das unsere Werte und Prinzipien teilt.
Dazu gehören Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und eine
funktionstüchtige Marktwirtschaft. Die Schaffung dieser
Voraussetzungen trägt zur Annährung an die EU bei.
Was aber noch wichtiger ist: Sie dient auch zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen.
Aber es wird nicht einfach sein, dies alles in kurzer
Zeit zu schaffen, schon gar nicht, wenn wir die nötige
Unterstützung jetzt verweigern. Die Ukraine braucht vor
allen Dingen unsere Hilfe, besonders vor dem Hintergrund, dass schon bald Parlamentswahlen stattfinden
und man befürchten muss, dass manch schwieriges Reformvorhaben jetzt erst einmal brachliegen wird, bis die
Wahl vorbei ist. Natürlich ist in erster Linie die Ukraine
selbst gefordert, die wichtigen Schritte zu unternehmen.
Aber wir bringen viel Expertise aus Transformationsprozessen mit. Deswegen können wir eigentlich vieles leisten. Unser Eindruck ist, dass die derzeitige Zusammenarbeit von deutscher Seite, aber auch vonseiten der EU
wie bisher läuft, nämlich sehr formalisiert und ohne Enthusiasmus. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht
nach unserer Auffassung nicht.
({0})
Ich denke, das Mindeste ist, dass die EU das umsetzt,
was sie selber zugesagt hat. Dabei denke ich vor allen
Dingen an die Anerkennung des Marktwirtschaftsstatus.
Man mag da viele Bedenken ins Felde führen; aber ich
finde, man darf nicht vergessen, wie man bei anderen
Ländern verfahren ist. Wir wissen, dass in vergleichbaren Fällen eine politische Entscheidung getroffen worden ist. Deshalb hat auch die Ukraine darauf einen Anspruch.
({1})
Uns ist aber vor allem wichtig, unsere Hilfen sehr
konkret zu gestalten. Darauf haben wir uns in unserem
Antrag konzentriert. Damit meine ich den Aufbau von
effizienten Strukturen in der Verwaltung - das ist in
diesen Transformationsländern wichtig - und in der Justiz. Das schaffen wir am besten, wenn Fachkräfte beispielsweise direkt vor Ort arbeiten können, wenn wir vor
Ort Präsenz zeigen können. Wir können in diesen Ländern vor allen Dingen Beratungstätigkeit leisten. Umso
bedauerlicher finde ich, dass ausgerechnet jetzt die Finanzierung der bisherigen Wirtschaftsberatung, die wir
vorgenommen haben, so heruntergefahren wird, dass das
Ende schon in Sicht ist. Mit Präsident Juschtschenko haben wir jemanden, der marktwirtschaftlich orientiert ist
und konzeptionell Wirtschaftsreformen durchführen
will. Er wäre auf unsere Erfahrungen, auf unsere Expertise angewiesen. Deshalb halte ich die Einschränkung
der Finanzierung für einen Fehler; hier sollten wir gegensteuern.
Neben der Verwaltung und der Wirtschaft gibt es
viele weitere Felder für eine mögliche Zusammenarbeit,
Felder, von denen im Übrigen auch wir selber profitieren. Solidarität und Hilfe müssen ja keine Einbahnstraße
sein. Ich denke zum Beispiel an den Umweltbereich, die
Umsetzung des Kioto-Protokolls. Der große Modernisierungsbedarf in der Ukraine - angesichts dessen, dass ein
Großteil der Energie vergeudet wird und viel geleistet
werden kann, um die CO2-Emission zu vermindern bietet uns gute Felder der Kooperation und der Zusammenarbeit.
Ähnliches gilt sicherlich auch für die Zusammenarbeit im Bereich der Streitkräfte. Auch dort gibt es einen
großen Modernisierungsbedarf. Wir haben Erfahrungen
mit der Verkleinerung unserer Streitkräfte sowie mit der
Frage der Grenzsicherung gewonnen. Auf diesen Feldern können wir der Ukraine die von ihr benötigte
Unterstützung in ganz praktischer Weise geben. Nicht
zuletzt könnte die Kooperation im Wissenschafts- und
Forschungsbereich beiderseitigem Nutzen dienen.
Ich wollte damit nur deutlich machen, dass es vielfältige Möglichkeiten der Unterstützung gibt, die sich auch
auf viele Schultern verteilen lassen. Es ist nicht nur Regierungshandeln gefordert. Auch die Wirtschaft, kommunale Selbstverwaltungen und politische Stiftungen
können daran mitwirken. Dafür ist heute ganz sicher die
richtige Zeit.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Jelena Hoffmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich gebe zu, es ist nach den Nachrichten aus
Paris und Den Haag nicht einfach, über klare europäische Perspektiven zu sprechen. Das Abstimmungsverfahren zur Verfassung muss aber weitergehen. Auch
muss uns klar sein, dass wir jetzt noch mehr auf die
Menschen und ihre Sorgen achten müssen und die Menschen von Helsinki bis Lissabon, von Dublin bis Athen
mitnehmen und von den Vorteilen des vereinten Europa
überzeugen müssen.
({0})
Trotzdem freue ich mich als Vorsitzende der DeutschUkrainischen Parlamentariergruppe des Bundestages,
dass wir heute über die Ukraine sprechen. Ich weiß, dass
diese Debatte für uns in Deutschland wichtig ist, um die
strategische Bedeutung unseres europäischen Nachbarn erneut in das Bewusstsein zu holen. Gleichzeitig,
Frau Nolte, weiß ich aber, wie sensibel wir mit dem
Thema umgehen sollen, weil alle unsere Aussagen, Bestrebungen und Taten in der Ukraine sehr genau und aufmerksam aufgenommen werden.
Ich freue mich sehr, dass in der letzten Zeit in unserer
Gesellschaft viel Gutes für das deutsch-ukrainische Verhältnis geschehen ist: Gerade am Montag hat zum zweiten Mal der Tag der Ukraine im Deutschen Bundestag
stattgefunden, worauf ich selbst sehr stolz bin, da diese
Veranstaltung unter der Regie der Deutsch-Ukrainischen
Parlamentariergruppe geplant und durchgeführt worden
ist.
({1})
Abgeordnete aus dem Bundestag und dem ukrainischen
Parlament sowie Wissenschaftler der beiden Länder haben in Anwesenheit von 300 Gästen über Wirtschaftsreformen, Verfassungsreform und die europäische Perspektive der Ukraine diskutiert. Die ukrainische
Delegation wurde vom Minister für europäische Integration, Oleg Rybatschuk, der gleichzeitig Vize-Premierminister ist, geleitet. In Politik und Medien der Ukraine hat
die Veranstaltung eine sehr positive Resonanz gefunden.
Nun zum Antrag der Union, der einen sehr anspruchsvollen Namen hat. Erlauben Sie mir aber, Kollegin Nolte, Ihnen die Frage zu stellen, ob Sie selbst und
Ihre Fraktion überhaupt eine klare europäische Perspektive haben. Bis jetzt habe ich eher den Eindruck gewonnen, dass bei Ihnen die Linke nicht weiß, was die Rechte
macht. Dabei spreche ich nicht einmal von der Türkei.
Ministerpräsident Peter Müller, CDU, hat Nachverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien verlangt, die Anfang 2007 der EU beitreten sollen. Ihr Fraktionskollege
und europapolitischer Sprecher Peter Hintze stellt dagegen den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens grundsätzlich infrage.
({2})
Auch über die europäische Perspektive der Ukraine
wird in Ihrer Fraktion immer noch gestritten. In dem Antrag, den Sie am 8. März geschrieben haben, erwähnen
Sie ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine.
Am selben Tag bezeichnete Ihr Fraktionskollege
Matthias Wissmann, der Vorsitzende des EU-Ausschusses, eine „privilegierte Partnerschaft“ als einziges Angebot in Richtung Ukraine. - So viel zur Klarheit Ihres Angebotes an die Ukraine, das, wie ich schon sagte, sehr
genau in der Ukraine beobachtet wird.
({3})
Noch etwas irritiert mich an Ihrem Antrag: Viele Ihrer
Vorschläge gehen in die richtige Richtung. Doch Sie tun
so, als ob Sie die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern erst gestern erfunden hätten, und fordern
die Bundesregierung auf, das zu tun, was sie längst
macht.
({4})
- Dann hätten Sie sich besser erkundigen müssen. - Damit tragen Sie Eulen nach Athen.
Entweder haben Sie sich nicht richtig informiert - Sie
hätten auch schriftliche oder mündliche Anfragen stellen
können - oder Sie haben diesen Antrag nur aus parteipolitischem Interesse, aus rein innenpolitischen Gründen
gestellt.
({5})
Außerdem hätte sich ein Blick in unseren Ukraine-Antrag vom Oktober letzten Jahres für Sie gelohnt. Darin
sind die wesentlichen Forderungen Ihres Antrages bereits enthalten. Damals haben Sie unseren Antrag nicht
mittragen wollen.
Sie haben höchstwahrscheinlich vergessen oder nicht
mitbekommen, dass sich die Bundesregierung schon seit
längerem für Freiheit, Selbstbestimmung und demokratische Standards in der Ukraine einsetzt.
Jelena Hoffmann ({6})
({7})
Auch haben Sie wohl nicht mitbekommen, welch wichtige Rolle die Bundesregierung bei der Erarbeitung des
Aktionsplanes der EU für die Ukraine und beim zehn
Punkte umfassenden so genannten Solana-Papier gespielt hat.
Ich muss Ihnen daher wohl noch einmal erklären,
welche konkreten Maßnahmen unsere Bundesregierung gegenwärtig unternimmt, um die europäische Perspektive der Ukraine zu verbessern: Schon Ende Januar
hat das Auswärtige Amt mit allen Ressorts die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Ukraine abgestimmt. Anlässlich des Besuches von Präsident
Juschtschenko in Berlin sind mit der Bundesregierung
für das Jahr 2005 25 Millionen Euro für die Zusammenarbeit mit der Ukraine vereinbart worden.
({8})
Zum Schluss möchte ich doch noch einmal auf das
Solana-Papier eingehen, das auch Sie in Ihrem Antrag
erwähnen. In einem Punkt dieses Strategiepapiers werden echte Verhandlungen über Visaerleichterungen gefordert. Dazu kann ich nur sagen: Der von Ihnen initiierte Visa-Untersuchungsausschuss lässt grüßen.
({9})
Einerseits haben Sie von der orangen Revolution
geschwärmt; andererseits diffamieren Sie aus parteipolitischen Gründen das ukrainische Volk für Ihre Zwecke
als Illegale, Schwarzarbeiter, Schwerkriminelle und
Zwangsprostituierte.
({10})
- Frau Nolte, ich sitze sehr häufig in diesem Untersuchungsausschuss. Ich weiß, wovon ich rede.
({11})
CDU/CSU und FDP haben damit außenpolitisches
Porzellan zerschlagen und den Dialog zwischen unseren
Staaten schwer belastet. Es vergeht keine Unterhaltung
mit Ukrainern, ohne dass diese Frage angesprochen
wird. Dazu hätten Sie einen Antrag schreiben sollen.
Übrigens, mich haben schon heute Mittag ukrainische
Zeitungen angerufen. Sie haben sich dafür bedankt, dass
wir die Arbeit des Visa-Untersuchungsausschusses nun
beenden.
Was die Ukraine braucht, ist ein klares Signal. Mit Ihrem Antrag verfehlen Sie dieses Ziel.
({12})
Der nächste Redner ist der Kollege Harald Leibrecht
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
mit der Liebe ist mitunter eine schwierige Sache: Wie
findet man den richtigen Partner fürs Leben? Und noch
schwieriger: Wie überzeuge ich meine Auserwählte,
dass ich der Richtige bin? So wie es sicherlich jedem
von uns im Leben ein- oder mehrmals geht, geht es im
Moment auch der Ukraine. Die Ukraine hat sich verliebt.
Sie hat sich in Europa verliebt. Das Dumme ist nur, dass
die Auserwählte, Europa, nicht weiß, ob sie diese Liebe
erwidern will. Sie zögert und sie zaudert.
({0})
Vielleicht ist das Problem, dass die Ukraine derzeit
nicht mit ausreichender Attraktivität und Ausstrahlung
aufwartet. Wie denn auch, nach all den Jahren des Kommunismus und dann der Jahre unterdrückter Demokratie?
Was der Ukraine derzeit noch an Glanz zum Beispiel
im Bereich der Wirtschaft oder beim Aufbau demokratischer Strukturen fehlt, macht sie durch Aufrichtigkeit
und Zielstrebigkeit wett. Präsident Juschtschenko hat für
sein Land wiederholt und mit Nachdruck - auch hier im
Deutschen Bundestag - zum Ausdruck gebracht, dass es
eine feste Beziehung mit Europa möchte und dass es dafür auch kämpft. Denn die Ukrainer sind Europäer.
({1})
Nun warten die Ukrainer zu Recht auf eine Reaktion
der Europäischen Union. Wir müssen mit der Ukraine
fair umgehen. Wir müssen ihr klar machen, welche Erfolgschancen es gibt. Alles andere wäre falsch und unehrlich. Warum aber zögert die Europäische Union? Hat
sie kein Vertrauen in wirkliche Veränderungen in der
Ukraine? Ist alle Begeisterung über die orange Revolution schon verflogen? Glaubt die EU nicht an den Erfolg
des neuen Kurses?
Mir scheint, dass die EU derzeit etwas müde ist: müde
vom täglichen Kampf mit der ureigenen Bürokratie, ausgezehrt von der letzten Erweiterungsrunde, die sicherlich sehr viel Kraft gekostet hat, und jetzt zusätzlich geschockt vom Ausgang der Referenden in Frankreich und
in den Niederlanden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider geht es bei
der EU-Perspektive der Ukraine nicht nur um Emotionen, sondern auch um so nüchterne Fragen wie Aufnahme- und Beitrittsfähigkeit. Deshalb kann das Ansinnen der Ukraine jetzt noch keine sofortige und
abschließende Antwort erhalten. Das wäre übereilt. Zum
einen muss die Ukraine erst noch unter Beweis stellen,
dass sie wirklich willens und in der Lage ist, die europäische Neuausrichtung des Landes durch- und umzusetzen. Zum anderen muss die EU erst wieder Kraft
sammeln und nach innen wachsen, bevor sie an eine Erweiterung denkt.
({2})
Aber es wäre verheerend, deshalb die Türe für die
Ukraine voreilig zuzuschlagen:
({3})
verheerend für die mutigen Reformer und die gleichermaßen reform- und europabegeisterten Menschen in der
Ukraine; verheerend aber auch für die EU, die ein großes
Interesse daran haben muss, die Reformen in der
Ukraine zu unterstützen, das Land einzubinden.
Was die Ukraine jetzt braucht, ist ein klares Ziel auf
dem Weg in die Zukunft und Geduld auf dem Weg dorthin. Geben wir ihr beides: eine klare europäische Perspektive und ausreichend Zeit, um die begonnenen Reformen umzusetzen. Dann - davon bin ich von ganzem
Herzen überzeugt - wird die Ukraine ein Teil der europäischen Erfolgsgeschichte.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ukraine ist flächenmäßig der größte rein europäische
Staat. Die Ukraine ist ein Land mit reichem kulturellen
Erbe, mit einem hohen wirtschaftlichen Potenzial. Es
liegt in unserem ureigenen politischen und ökonomischen Interesse und es liegt natürlich auch im gesamteuropäischen politischen und ökonomischen Interesse,
eine wirklich starke, politisch eigenständige und demokratische Ukraine als engen Partner und guten Nachbarn
an unseren östlichen Grenzen zu haben.
Dieser Partner braucht eine Perspektive. Das ist
überhaupt keine Frage. Da sind wir uns in diesem Hause,
glaube ich, alle einig: Die Ukraine ist ein europäisches
Land und braucht auch eine Perspektive in die Europäische Union. Dafür streiten wir alle. Da sollten wir uns
nichts gegenseitig unterstellen.
({0})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso klar
ist, dass die Entscheidung, ob diese Perspektive Realität
wird, heute nicht zu treffen ist. Das hat nichts damit zu
tun, irgendjemand in der Ukraine zu diskriminieren.
Vielmehr hat es etwas mit der Glaubwürdigkeit von Politik der Europäischen Union zu tun. Denn der Beitritt
zur Europäischen Union ist an Kriterien geknüpft. Gerade die Referenden, die wir jetzt erleben und erleiden
mussten und auf die wir eine Antwort finden müssen,
machen sehr deutlich, dass wir mit den Kriterien für den
Beitritt zur Europäischen Union sehr sorgfältig umgehen
müssen, um nicht bei den Menschen, den Bürgerinnen
und Bürgern in Europa, ein Glaubwürdigkeitsdefizit aufzubauen. Deshalb schaden falsche Versprechungen, auch
wenn sie gut gemeint sind, mehr als sie nützen.
({1})
- Das gilt für alle Beitrittsländer, die an diesem Prozess
beteiligt sind. Das haben wir immer deutlich gemacht.
Die Einhaltung von Kriterien gilt für die Türkei in ganz
besonderem Maße,
({2})
weil die Aufmerksamkeit an dieser Stelle natürlich sehr
groß ist.
Für meine Fraktion und, wie ich glaube, auch für die
gesamte Koalition sage ich sehr deutlich: Als Politikerinnen und Politiker haben wir, insbesondere im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse in der Türkei, die Verantwortung, diesen Prozess sehr kritisch zu beobachten
und auch zu reagieren, wenn er sich in die falsche Richtung entwickelt. Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht,
dass wir diese Position vertreten.
({3})
- Nein, ich glaube, wir haben immer politisch begründet,
warum wir diesen Weg gehen und keine Illusionen oder
euphorischen Realitätsverleugnungen praktizieren wollen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich an
die Debatte zum Thema Ukraine erinnert, die wir vor
den dortigen Wahlen, im September oder Oktober letzten
Jahres, in diesem Hause geführt haben, und sich vor
Augen führt, wie sich dieses Land seitdem entwickelt
hat und welche Dynamik der Aufbruch nach Europa, den
Juschtschenko symbolisiert, freigesetzt hat, dann kann
man die Bevölkerung und die Regierung der Ukraine nur
beglückwünschen und diesen Prozess mit der Solidarität
des Deutschen Bundestages unterstützen.
({5})
Wir brauchen ein Instrument, um dies politisch handhabbar zu machen; das ist völlig in Ordnung. Das Instrument, das dafür genutzt werden muss, ist die europäische Nachbarschaftspolitik. Seit Februar dieses Jahres
ist im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik
der Aktionsplan für die Ukraine in Kraft. In zwei Wochen findet das Treffen des Kooperationsrates und im
Oktober dieses Jahres der Gipfel statt. Diese Schritte
müssen, wenn wir vorankommen wollen, vernünftig und
handwerklich sauber vorbereitet werden.
Die Ukraine, Deutschland, das diesen Prozess massiv
unterstützt, und die Europäische Union sind insgesamt
auf einem guten Weg. Allerdings muss auch klar sein:
Wir dürfen nach der orangen Revolution, die auch ein
Medienereignis war, nicht den Fehler machen, die Ukraine jetzt in der Mühsal der Ebenen allein zu lassen.
Wenn nicht mehr jeder Besuch in der Ukraine von einem
großen Fernsehteam begleitet wird, ist dieses Land darauf angewiesen, dass wir auch in diesem Hause unsere
praktische Solidarität in konkreten Projekten weiterhin
unter Beweis stellen. Dafür werbe ich.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Grund von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa
befindet sich in keiner besonders guten Verfassung. In
Frankreich und Holland ist der Verfassungsvertrag durch
Volksentscheide abgelehnt worden. Damit scheint die
Vertiefung der Europäischen Union vorläufig gescheitert zu sein. Auch wenn es unterschiedliche Ablehnungsgründe gegeben haben mag - in Frankreich waren sie
stärker innenpolitisch motiviert, in Holland hatte man
möglicherweise die Sorge, dass ein kleines Land in einer
großen EU untergehen könnte -, scheint es doch so, als
seien die Europäer ihrer selbst unsicher geworden und
als wollten sie zu den Zielen Europas - der Entwicklung
eines einheitlichen, freiheitlichen, wirtschaftlich dynamischen und sozial verantwortlichen Europas - auf Distanz gehen.
In genau diesen Wochen und Tagen diskutieren wir
über einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
mit dem Titel „Für eine klare europäische Perspektive
der Ukraine“. Zu Recht stellt sich die Frage: Ist diese
Diskussion zeitgemäß? Auch wir haben einmal kurz innegehalten und uns gefragt: Wollen wir diese Diskussion
verschieben? Ich finde, die Tatsache, dass wir heute über
dieses Thema diskutieren - auch in dieser Breite der
Auffassungen -, ist ein Signal nach innen, also an uns
selbst, aber auch ein Signal nach außen.
Das Signal nach innen zeigt uns: Wir wollen an diesem europäischen Weg, an dieser EU und an dieser freiheitlichen, demokratischen, wirtschaftlich erfolgreichen
und sozialen Europäischen Union festhalten, und es
lohnt sich, daran zu arbeiten und dafür zu kämpfen.
({0})
Es gibt auch keine Alternativen dazu.
Das Signal an die Ukraine bedeutet: Es lohnt sich, den
Demokratisierungsprozess, die beginnende Integration
in die europäische Gemeinschaft, den Weg zu Menschenrechten und Gewaltenteilung weiterzugehen. Wir
müssen den Ukrainern aber auch sagen: Ihr müsst das
nicht unseretwegen leisten. Nicht der EU wegen habt ihr
das zu leisten - und das ist kein Eintrittsbillet in die
europäische Staatengemeinschaft -, sondern ihr macht
das in erster Linie für eure Menschen.
Die Frage ist: Was können wir - was kann Deutschland -, was kann Europa dabei leisten? Hilfestellungen
sind angesprochen worden. Das, was vereinbart worden
ist, ist in Teilen bereits umgesetzt: der EU-UkraineAktionsplan vom Beginn dieses Jahres. Nach einem
Jahr wird gefragt werden: Was hat er gebracht, wie weit
sind wir? Er müsste fortgeschrieben werden, immer mit
dem Ziel, die Annäherung der Ukraine an die EU zu beschleunigen. Wir selbst, in Deutschland, sind beim Besuch von Präsident Juschtschenko einige Vereinbarungen eingegangen. Am zweiten Tag ist im Parlament
davon gesprochen worden, dass sich die Ukraine
wünscht, dass wir durchaus mit mehr Herzenswärme darangehen, dass wir es etwas konkreter untersetzen. Ich
glaube, das Parlament kann ein bisschen dazu beitragen,
dass diese Punkte untersetzt werden, Arbeitsgruppen
eingesetzt werden und auch die Ukraine das Gefühl hat
- und nicht nur das Gefühl hat, sondern weiß -, dass sie
nicht allein gelassen wird.
Wir müssen den Menschen in der Ukraine allerdings
auch sagen: Seid nicht enttäuscht, wenn Europa euch
keinen Zeitpunkt für Beitrittsgespräche, für Annäherungsgespräche nennen kann. Wir haben eine gewisse
Verunsicherung: Bei manchen in Europa herrscht das
Gefühl, dass sich die Europäische Union mit der Erweiterung vor einem Jahr um zehn neue Mitglieder vielleicht überhoben hat, vielleicht etwas verhoben hat. Es
besteht die Sorge - das kommt in diesen Referenden
zum Ausdruck -, dass die Erweiterung der Europäischen
Union um Bulgarien und Rumänien möglicherweise etwas zu früh kommt, obwohl natürlich die ganzen Fortschrittsberichte abzuwarten bleiben und es erst dann
möglicherweise zur Ratifizierung von Beitrittsverträgen
kommt. Klar sein muss aber auch: Bulgarien und Rumänien sind europäische Staaten, ebenso wie die Ukraine
ein europäischer Staat ist.
Eine weitere Sorge, die durchaus da sein könnte, ist,
dass wir mit der Erweiterung der Europäischen Union
um die Türkei einen Automatismus bekommen, an dessen Ende eine europäisch-asiatische, eine eurasische
Freihandelszone stehen könnte und eben nicht die politische Union, diese politische Europäische Union, auf
dem Weg, zu der die Ukraine ist.
({1})
Wir wollen die Ukraine ermutigen, ihren Weg der Demokratisierung im eigenen Lande, ihre Reformen zur
Gewaltenteilung, Rechtssicherheit und Unabhängigkeit
von Justiz und Gerichten fortzusetzen. Dies ist eine der
Voraussetzungen für mehr Investitionen. Wir werden
nämlich immer wieder gefragt: Warum gibt es so wenige
Investitionen aus Deutschland, warum ist Deutschland in
der industriellen Fertigung so wenig präsent? Rechtssicherheit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen. Ich
glaube, dass wir dann gemeinsam durchaus in der Lage
sein werden, der Ukraine diese europäische Tür zu öffnen - wir sollten sie nicht zuhalten -, auch wenn wir
heute nicht in der Lage sind, einen konkreten Termin dafür zu benennen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Derzeit macht Europa Schlagzeilen, die sich
bis auf einige Politiker von Union und PDS nur wenige
hier im Bundestag wünschen.
Engagiert haben wir gemeinsam parteiübergreifend
für die europäische Verfassung gekämpft. Diese ist mit
großer Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat verabschiedet worden. Der deutsche Hauptwiderstand kam
von der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und von Teilen der Christlich Sozialen Union. Wir haben in
Deutschland den Weg freigemacht für eine moderne
europäische Verfassung, für ein modernes Europa. Leider ist dies in den Niederlanden und in Frankreich noch
nicht gelungen. Trotz dieses Rückschlages ist in Europa
gerade seit 1989 Großartiges geschehen; das sollten wir
nicht vergessen.
Einen entscheidenden Anteil daran haben die friedlichen Revolutionen. Diese haben Diktaturen beseitigt.
Das trifft auf Deutschland genauso wie auf die Ukraine
zu. Unser größter Respekt gilt der friedlichen Revolution
in Orange unter Führung des jetzigen Präsidenten Viktor
Juschtschenko.
Die Ukraine ist auf unsere europäische Landkarte der
demokratischen Staaten zurückgekehrt. Sie braucht eine
europäische Perspektive. Hier haben die Antragsteller
durchaus Recht. Niemand kann heute aber sicher sagen,
wie sich diese Perspektive ganz konkret entwickeln
wird. Die Europäische Union hat der Ukraine Verhandlungen über einen Aktionsplan angeboten, dessen zehn
Punkte den Reformprozess politisch und wirtschaftlich
stabilisieren helfen sollen.
Der politische Neuanfang in Kiew erfordert jetzt entschiedene Reformen und vor allem einen langen Atem.
So ehrlich muss man sein. Dies liegt auch in unserem eigenen Interesse; denn die Ukraine ist aufgrund ihres erheblichen wirtschaftlichen Potenzials als Partner für
Deutschland von großem Interesse. Dadurch können
auch in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden.
Herr Kollege Grund ist darauf schon eingegangen.
({0})
Im Übrigen ist die heutige Situation in der Ukraine
durchaus ein wenig mit der in Deutschland vergleichbar.
Es gilt, in einem Reformprozess für das Zusammenwachsen der Landesteile zu sorgen. Das ist eine riesige
Herausforderung für die junge Demokratie in der Ukraine. Wichtig ist dabei, dass auch der bisher russisch orientierte Teil des Landes in diesem Prozess mitgenommen und integriert wird. Schon dieser Fakt zeigt, dass
die Ukraine einen langen und komplizierten Weg vor
sich hat.
Das Gleiche gilt auch für den Erweiterungsprozess
der Europäischen Union. Die Integration der zehn neuen
Mitgliedstaaten bleibt eine große Herausforderung beim
Zusammenwachsen von Europa. Nicht zuletzt von diesem Prozess hängt es ab, ob es irgendwann zu einer Erweiterung der Europäischen Union über Rumänien und
Bulgarien hinaus kommen wird.
Trotz all dieser Schwierigkeiten sollten wir eines
nicht vergessen: Unser Europa ist ein Kontinent des
Friedens und der Sicherheit geworden.
({1})
Wir in Deutschland sind nur noch von Freunden umzingelt. Zu unseren Freunden gehört auch die junge Demokratie in der Ukraine. Diese werden wir in ihrem
Reformprozess - das kann man mit Sicherheit parteiübergreifend sagen - entschieden unterstützen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5021 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ingrid ArndtBrauer, Norbert Barthle, Veronika Bellmann,
Lothar Binding ({1}), Renate Blank und
weiterer Abgeordneter
Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht
von Geburt an
- Drucksachen 15/1544, 15/4788 Berichterstattung:
Abgeordnete Barbara Wittig
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die Fraktion der SPD 18 Minuten, die Fraktion der CDU/
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
CSU 18 Minuten, die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen sieben Minuten und die Fraktion der FDP sechs
Minuten erhalten sollen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Barbara Wittig von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lobbyarbeit der Anhänger eines Wahlrechtes von Geburt an
ist bemerkenswert, ja, geradezu beeindruckend.
Nach meiner Rede zu diesem Thema im Rahmen der
ersten Lesung im Plenum habe ich viele Zuschriften aus
allen Teilen Deutschlands erhalten; denn ich hatte mich
ja bereits in der ersten Lesung als Gegnerin dieses Wahlrechtes von Geburt an geoutet.
({0})
- Danke. - Viele haben meine Argumente für plausibel
gehalten, andere wiederum konnten sie nicht verstehen
oder einfach nicht akzeptieren. Das ist normal. Wir haben uns damit auseinander gesetzt.
Das hat mir aber auch gezeigt, dass viele Menschen
aus allen politischen Lagern eine noch stärkere Berücksichtigung der Interessen von Kindern, Jugendlichen
und Familien in unserer Gesellschaft für dringend geboten halten. Sie erwarten von den Abgeordneten des
Deutschen Bundestages, dass sie als Vertreter des ganzen Volkes, so wie es in Art. 38 unseres Grundgesetzes
festgeschrieben ist, in ihrem Zuständigkeitsbereich auch
im Sinne von Kindern, Jugendlichen und Familien handeln.
Dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung auf
diesem Gebiet einiges erreicht haben, darf an dieser
Stelle nicht unerwähnt bleiben.
({1})
Der vom Bundesverfassungsgericht am 10. November
1998 festgestellten steuerlichen Benachteiligung von Familien wurde ein Ende gesetzt. Kinderfreibetrag, Kindergeld und Kinderzuschläge beim Aufbau einer privaten Rentenversicherung sind dabei die wichtigsten
Punkte.
({2})
Länder, Landkreise und auch Kommunen müssen natürlich ebenfalls zur weiteren Verbesserung der Situation
von Kindern und Jugendlichen in Familien ihren Beitrag
leisten, und zwar mit dem, was ihnen als Aufgaben zugewiesen wurden.
({3})
Zurück zu unserem Wahlrecht von Geburt an. Die Zukunft unserer Gesellschaft zu sichern, eine familien- und
kinderfreundliche Politik durchzusetzen, Belange der
jungen Generation angemessen zu berücksichtigen sind
alles Ziele, die jeder von uns richtig findet und sicher
auch unterstützt. Die Frage ist nur, ob ein Wahlrecht von
Geburt an dorthin führt. Im Ziel bin ich mir mit den Befürwortern des Wahlrechtes von Geburt an einig. Das
Mittel halte ich allerdings aus den verschiedensten Gründen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, für
falsch.
({4})
„Was ist der Rechtsgewinn für Kinder, wenn unter
dem Strich für sie ein symbolisches Recht herauskommt,
das ihnen eigentlich nichts bringt?“ „Familienwahlrecht
ist auch kein Königsweg zur Erreichung wünschenswerter Ziele, sondern ein demokratietheoretischer Irrweg.“
Dies sind nur zwei Zitate aus dem Expertengespräch, das
wir im Dezember 2004 durchgeführt haben. Viele von
Ihnen waren dabei; doch der Reihe nach.
Die Initiatoren des Gruppenantrages „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“
versprechen sich davon sehr viel. Mit ihrem Antrag
möchten sie erreichen, dass der Bundestag die Bundesregierung auffordert, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen, Art. 38 des Grundgesetzes zu ändern.
Zudem möge die Bundesregierung weitere Vorschriften
vorlegen. Wie soll das aussehen? Kinder sollen von Geburt an Inhaber eines solchen Wahlrechtes werden, das
aber bis zur Volljährigkeit treuhänderisch von den Eltern
bzw. den Erziehungsberechtigten als den gesetzlichen
Vertretern ausgeübt werden soll.
Die Initiatoren führen unter anderem zur Begründung
an, dass der Ausschluss der jungen Generation vom
Wahlrecht ihre angemessene Berücksichtigung im politischen Willensbildungsprozess vereitle. Sie führen außerdem an, dass gemäß Art. 20 Abs. 2 unseres Grundgesetzes die gesamte Staatsgewalt vom deutschen Volk
ausgehe und deshalb alle dazu gehörenden Menschen in
das Wahlrecht einbezogen werden müssten. Schließlich
sagen sie, der allgemein anerkannte Grundsatz der
Höchstpersönlichkeit, auf den ich nachher noch einmal
zu sprechen komme, sei zwar bei Wahlen von Geburt an
nicht berücksichtigt, aber in der Verfassung stehe er auch
nicht ausdrücklich. Überdies werde davon bei der Briefwahl sowieso abgewichen. Auch dazu sage ich später
noch etwas.
Bei oberflächlicher Betrachtung klingen diese Argumente vielleicht sogar schlüssig. Doch das bereits erwähnte Expertengespräch vom Dezember 2004 beleuchtete schließlich die gesamte politische und
rechtliche Dimension. Gemeinsam mit den Experten erörterten wir sowohl die von den Initiatoren erhofften
Ziele als auch eine Vielzahl von Problemen der praktischen Umsetzung, vor allem der rechtlichen Aspekte eines Wahlrechtes von Geburt an.
Einer der Experten stellte fest - ich zitiere wieder -:
Im Recht ist es üblich, dass ich von Rechten nur
spreche, wenn ich sie einklagen, wenn ich sie irgendwie kontrollieren kann und wenn das Recht
verletzt wird, dass es auch Sanktionen gibt. Das
gibt es aber beim Elternwahlrecht nicht. Es gibt nur
die Hoffnung, die Eltern werden schon im Interesse
des Kindes wählen.
Recht hat er.
Kommen wir aber nun zu diesen rechtlichen Einwendungen. Die Befürworter eines Wahlrechtes von
Geburt an gehen davon aus, dass minderjährige Kinder
in zivilrechtlichen Angelegenheiten von ihren Eltern
vertreten werden. Diesen Sachverhalt kann man aber
nicht einfach auf eine Wahl übertragen; denn eine Wahl
ist kein Rechtsgeschäft. Bei Wahlen für ein Parlament
handelt es sich um eine politische Willensentscheidung
und nicht um ein spezielles Privatinteresse. Ein Wahlausgang hat auch immer nachhaltige Auswirkungen auf
das gesamte Staatsvolk.
({5})
Eine zivilrechtliche Minderheitenvertretung kann demnach nicht mit einer solchen bei öffentlichen Wahlen
gleichgesetzt werden. Nicht umsonst haben die Mütter
und Väter des Grundgesetzes für Wahlen Grundsätze
festgelegt. Hier ist noch einmal der Art. 38 zu erwähnen.
Sehen wir uns erstens an, was mit dem Wahlgrundsatz der Unmittelbarkeit zusammenhängt. Wenn wir
von der Unmittelbarkeit, die im Grundgesetz festgeschrieben ist, ausgehen, dann müssen wir feststellen:
Zwischen das an und für sich wahlberechtigte Kind oder
den Jugendlichen und dem Wahlbewerber wäre eine
dritte Person geschaltet. Es wäre außerdem überhaupt
nicht sichergestellt, dass der unverfälschte Wille des
Wahlberechtigten zum Durchbruch käme. Zudem stellte
sich die Frage, von welchem Willen der Kinder die Eltern eigentlich ausgehen sollten.
Nehmen wir zweitens den Grundsatz der geheimen
Wahl. Auch der wäre verletzt, da sich der Wahlberechtigte und der Vertreter grundsätzlich austauschen müssten. Die Initiatoren erwarten geradezu, dass sich die Eltern mit den schon verständigen Kindern austauschen
und die Wahlentscheidung besprechen.
Es handelte sich drittens auch nicht um eine freie
Wahl, da sich die Eltern auch gegen den Willen der
schon verständigen Kinder und Jugendlichen an der
Wahl beteiligen oder vielleicht auch nicht beteiligen
könnten. Zudem ist überhaupt nicht auszuschließen, dass
im Rahmen dieser Eltern-Kind-Gespräche eine Beeinflussung - womöglich im Sinne der Elternentscheidung - vorgenommen werden könnte.
In diesem Zusammenhang kann ich auch nur vermuten, dass die Befürworter des Wahlrechtes von Geburt an
mit 14- bis 18-Jährigen entweder kaum oder vielleicht
gar keinen Kontakt hatten; denn sonst wäre ihnen wohl
des Öfteren gesagt worden, was diese jungen Leute von
einem Wahlrecht halten, das ihre Eltern stellvertretend
für sie ausüben sollen. Ich habe mich sehr viel umgehört.
Sie finden das unmöglich und halten überhaupt nichts
davon. Ich kann das verstehen.
({6})
Sofern Eltern für ihre Kinder zusätzliche Stimmen erhielten, verfügten sie außerdem gegenüber anderen
Wahlberechtigten über ein wesentlich stärkeres Stimmengewicht. Das wiederum wäre - viertens - ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl. Der Gleichheitsgrundsatz verlangt aber nun gerade, dass alle Wähler mit
den Stimmen, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf
das Wahlergebnis haben. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht auch klargestellt - ich zitiere das Bundesverfassungsgericht -:
daß es angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller
Staatsbürger bei der Teilnahme an der Staatswillensbildung gar keine Wertungen geben kann, die es
zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu
differenzieren.
Festzuhalten ist also: Ein Wahlrecht von Geburt an ist
mit den Grundsätzen der allgemeinen, der gleichen, der
freien, der unmittelbaren und der geheimen Wahl, wie es
der Art. 38 im Grundgesetz vorschreibt, überhaupt nicht
zu vereinbaren.
({7})
Ich muss noch auf Ihr Argument eingehen, bereits bei
der Briefwahl werde das Höchstpersönlichkeitsprinzip
durchbrochen. Ich kann Ihnen das leider nicht ersparen.
Die Briefwahl ist nämlich das allerschwächste Argument
für Ihr Anliegen. Es ist nicht stichhaltig. Wer schon einmal an der Briefwahl teilgenommen hat - ich vermute,
das trifft auf einige von uns zu -, der müsste sich eigentlich daran erinnern, dass Briefwähler auf dem Wahlschein an Eides statt erklären müssen, dass der Stimmzettel persönlich gekennzeichnet wurde.
Bei Wählern, die des Lesens unkundig oder durch
körperliche Gebrechen gehindert sind, den Stimmzettel
zu kennzeichnen, und sich deshalb bei der Urnen- oder
Briefwahl eines Helfers bedienen, gilt grundsätzlich
nichts anderes. Es handelt sich dabei lediglich um eine
technische Hilfeleistung bei der Kundgabe des Wählerwillens. Das ist auch allgemein bekannt.
Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ist
zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz festgeschrieben, aber nicht umsonst heißt es in Art. 38 Abs. 3: „Das
Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.“ Genau das tut das
Bundeswahlgesetz. Es konkretisiert die in Art. 38 genannten Grundsätze. Deshalb schreibt § 14 Abs. 4 des
Bundeswahlgesetzes vor, dass jeder Wahlberechtigte
sein Wahlrecht nur einmal und nur persönlich ausüben
kann und eine stellvertretende Stimmabgabe unzulässig
ist.
Neben den rechtlichen Einwänden muss auch auf
nahe liegende technische Schwierigkeiten und den enormen bürokratischen Aufwand hingewiesen werden.
({8})
Vor jeder Wahl müsste behördlich festgestellt und dokumentiert werden, wer zu der Zusatzstimmengruppe geBarbara Wittig
hört. Welche Behörde oder welches Gericht sollte zum
Beispiel in Zweifelsfällen entscheiden? Ich vermute,
dass die Wahl vorbei wäre, ehe diese Frage geklärt ist.
({9})
Schließlich bleibt immer noch die sachliche Grundfrage,
ob nicht davon ausgegangen werden muss, dass Eltern
mit der zusätzlichen Kinderstimme einfach ihrer eigenen
Wahlentscheidung doppeltes Gewicht verleihen.
({10})
Einer der Experten brachte es in dem Gespräch im
Dezember auf den Punkt. Er bezeichnete ein Wahlrecht
von Geburt an als unpraktisch, unpraktikabel
({11})
und verfassungswidrig. Es verstieße gegen die
Zählwertgleichheit und Kinder und Jugendliche hätten
keinen Rechtsgewinn durch ein Wahlrecht von Geburt
an. Das sagt ein Experte. Dem kann ich nur zustimmen.
({12})
Interessant sind auch die Voten der Ausschüsse, die
über das Wahlrecht von Geburt an zu befinden hatten.
Sowohl die mitberatenden Ausschüsse - der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der
Rechtsausschuss und der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - als auch der federführende Innenausschuss, für den ich als Berichterstatterin vortrage,
haben den Antrag fraktionsübergreifend mit deutlichen
Mehrheiten abgelehnt.
({13})
Doch zurück zum Ausgangspunkt, Frau Lenke: Für
mich ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu stärken,
ihnen mehr Möglichkeiten zu geben, ihre Anlagen zu
entfalten und sich für ihre eigenen Belange einzusetzen,
und sie zu ermuntern, sich selber aktiv zu beteiligen.
({14})
Meine Alternative besteht darin, ihnen Gelegenheit zu
geben, demokratische Verhaltensweisen einzuüben.
({15})
- Das habe ich doch gerade gesagt.
Aus der Überschrift des Antrages muss meiner Meinung nach eine Frage werden: „Mehr Demokratie durch
ein Wahlrecht von Geburt an?“
({16})
Meine Antwort ist einfach: Wir brauchen keine
Fremdbestimmung durch ein Stellvertreterwahlrecht,
sondern mehr Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen.
({17})
Für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an
politischen Entscheidungen wäre das Wahlrecht von Geburt an ein deutlicher Rückschritt und kein Fortschritt.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
nur, weil ich den, wenn auch leisen, Zwischenrufen habe
entnehmen können, dass eine saubere Argumentation,
dass Fakten, dass die Meinungen von Sachverständigen,
dass die einschlägige Fachliteratur, dass namhafte
Staatsrechtler usw. den von Ihnen vorgeschlagenen Weg
als einen ungangbaren bezeichnen,
({0})
und weil diese Argumentation, so wie jetzt auch, Frau
Lenke, überhaupt nicht zieht, mache ich mir die Mühe,
noch einmal, wenn auch mit ähnlichen Argumenten wie
die Frau Kollegin, deutlich zu sagen, warum der hier
vorgeschlagene Weg nicht gangbar ist.
({1})
Frau Lenke, ich stimme Ihnen zu und ich stimme mit
der Intention des Antrages völlig überein, dass für die
Familie, für Familienpolitik insgesamt und insbesondere für Familien mit Kindern mehr getan werden muss.
({2})
Darin sind wir uns ganz schnell und völlig einig. Ich
finde das bemerkenswert in einer Zeit, in der man Besuchergruppen eigentlich immer erzählen muss, dass wir
uns hier nicht nur zanken, sondern dass es auch große
Gemeinsamkeiten gibt wie zum Beispiel in einem solchen Fall.
Wir sind uns eigentlich auch schnell darüber einig,
dass die Familie das Fundament einer solidarischen Gesellschaft ist, auch wenn wir unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was wir unter Familie verstehen. So
stimmen wir zum Beispiel der Definition der SPD überhaupt nicht zu, die sagt: Familie ist da, wo Kinder sind.
({3})
Damit kann ich mich überhaupt nicht einverstanden erklären. Wenn ich aus dem Fenster gucke und einen
Sandkasten sehe, in dem Kinder spielen, komme ich
nicht auf die Idee zu sagen, das sei eine Familie.
({4})
Ich glaube, dass Familie auf Dauer angelegt ist, etwas
mit Zuverlässigkeit und mit Verantwortung auf Dauer zu
tun hat, auch wenn ich natürlich weiß, dass das in der
Realität nicht immer so von allen eingehalten werden
kann.
Ich finde auch die Kolleginnen und Kollegen sowie
den amtierenden Präsidenten, der zu den unterzeichnenden Antragstellern gehört,
({5})
sehr sympathisch, aber Sympathie allein reicht leider
nicht aus. Wir können nicht das Grundgesetz ändern, nur
weil uns etwas sympathisch ist. Deswegen müssen Sie
sich jetzt der Mühe unterziehen, sich noch einmal anzuhören, warum wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
Ich zitiere aus der Begründung des Antrages, weil
diese Begründung richtig ist:
Immer noch sind Kinder, insbesondere mehrere, eines der größten Armutsrisiken in Deutschland, vor
allem für Alleinerziehende.
Die Begründung ist richtig, aber der Weg, den Sie beschreiten wollen, ist eben ein nicht gangbarer. Ich will
das noch mit ein paar Beispielen begründen.
Im Übrigen wäre ja auch einmal interessant darüber
nachzudenken, warum die Antragsteller glauben, diesen
Druck von außen aufbauen zu müssen. Ich sage für
meine Fraktion: Wir haben immerhin angefangen mit
der Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht
und mit anderen familienpolitischen Initiativen. Vielleicht haben wir ja ab September ein bisschen mehr
Spielraum, um Familienpolitik wieder in den Mittelpunkt zu rücken.
({6})
Trotzdem denke ich, dass sicherlich nicht alle diesen
Druck von außen, der hier aufgebaut werden soll, brauchen.
Ich würde auch gern Herrn Professor Kirchhof zitieren, dem in meiner Heimatstadt Düsseldorf der „Bergische Löwe“ verliehen wurde und der in seiner Rede ausgeführt hat:
Die veröffentlichte Meinung scheint den Verzicht
der jungen Menschen auf das Kind zum Wertewandel zu erklären. Dies ist eine normative Todsünde.
Im Übrigen ist die These von einer Verschiebung
der Werte in der Vorstellung der Beteiligten empirisch nicht belegt. Aktuelle Umfragen ergeben, dass
die jungen Menschen in der Liste ihrer dringlichsten Wünsche an erster Stelle Kinder
- im Plural benennen und ältere Menschen wünschen sich am
dringlichsten Enkelkinder. Ich denke, diesen Menschen kann geholfen werden.
Diese Sätze stammen, wie gesagt, aus der Rede von
Herrn Professor Kirchhof, in der er natürlich auch darauf
hingewiesen hat, dass die Verschuldung unseres Staates,
der Städte und Gemeinden sowie der Länder und des
Bundes, eine unzulässige Verlagerung von Lasten auf
die kommenden Generationen ist.
Ich teile also die Besorgnis der Initiatoren des Antrags für mehr Generationengerechtigkeit und eine
bessere Familienpolitik von ganzem Herzen.
({7})
- Frau Lenke, wenn die ganze Fachliteratur und die Experten in der Anhörung der Meinung sind, dass es so
nicht geht - Sie mussten ja hinnehmen, dass eigentlich
alle Vorschläge Punkt für Punkt von den Verfassungsrichtern auseinander genommen wurden -, dann muss
man sagen: Ich würde es gern so haben, aber es geht leider nicht. Ich finde, dass das ebenfalls zur Lauterkeit
bzw. zur Wahrheit gehört.
Erstens: zur Überschrift „Wahlrecht von Geburt an“.
Es geht keineswegs um ein Kinderwahlrecht, sondern
um ein Mehrfachstimmrecht für Eltern, also um ein Pluralwahlrecht.
({8})
Selbst wenn man dieses Mehrfachstimmrecht hinter einer elterlichen Stellvertretung versteckt, ändert das
nichts an der Tatsache. Kinder sollen nicht einen Tag früher wählen können als bisher. Sie haben auch keinerlei
Kontrolle über das Wahlverhalten der Eltern. Wie soll
denn gewählt werden, wenn es in der Familie - das
könnte ja einmal sein; dafür gibt es prominente Beispiele - unterschiedliche Auffassungen über politische Richtungen gibt? Ich könnte mir vorstellen, dass Kinder ab
14, also mit dem Eintritt der Religionsmündigkeit, eine
Möglichkeit zur Kontrolle des Wahlverhaltens der Eltern
erhalten. Es ist ja möglich, dass sich Kinder von diesem
Alter an schon selbst zu politischen Sachverhalten äußern. Ich stelle jedenfalls fest: Der Antrag stellt keinen
echten Rechtsgewinn für Minderjährige dar.
Zweitens: der Verstoß gegen die Zählwertgleichheit.
Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl ist fundamental
mit unserem Demokratieprinzip verbunden - darauf hat
die Kollegin schon hingewiesen - und aufgrund der
Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes
einer Veränderung nicht zugänglich. Die Schaffung eines
faktischen Mehrfachstimmrechts für Eltern eröffnete
aber die Argumentation für ein neues Klassenwahlrecht
auch in anderen Bereichen, Frau Lenke. Warum sollten
dann zum Beispiel nicht auch Frauen eine zusätzliche
Stimme erhalten, um die zweifellos noch immer vorhandenen Benachteiligungen auszugleichen? Warum sollten zum Beispiel nicht Umweltaktivisten wegen der besonderen Bedeutung der Umwelt ein doppeltes
Stimmrecht erhalten? Das ist nicht albern, sondern das
meine ich ganz ernst. Immer dann, wenn man Benachteiligungen feststellt, kann man doch den Betroffenen nicht
ein doppeltes oder dreifaches Stimmrecht einräumen.
Drittens. die Stellvertretungsfeindlichkeit des Wahlrechts. Das Wahlrecht ist ein höchstpersönliches Recht,
bei dem eine Stellvertretung absolut unzulässig ist. Der
Verweis auf die Briefwahl und auf Wahlhelfer für gebrechliche Personen ist nicht geeignet, diesen Vorbehalt
zu entkräften; denn dabei handelt es sich um technische
Hilfestellungen. Nun wird behauptet, dass das vielleicht
nicht immer so sei. Aber ein möglicher Missbrauch - das
lehrt uns ein bisschen die Lebenserfahrung - kann doch
kein Grund für einen Gesetzentwurf oder eine Änderung
des Grundgesetzes sein.
Viertens. Wählen ist kein Rechtsgeschäft. Darauf ist
schon hingewiesen worden. Wenn man sein Kind an einer Schule oder bei einem Sportverein anmeldet, dann
ist das nicht mit einer Bekundung im Rahmen der Staatswillensbildung gleichzusetzen.
Fünftens. Bei der elterlichen Vertretung im Sinne des
Zivilrechts, etwa bei der Wahl der Religion, sind die
Wirkungen ausschließlich auf das einzelne Kind beschränkt. - Es ist wie in der Anhörung: Sie hören nicht
zu und folgen meiner Argumentation nicht. Das macht
es schwierig, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.
({9})
Ich befasse mich ja mit der Argumentation der Befürworter. Wenn Sie sich aber die Schuhe zumachen oder in
die Luft schauen, während ich jedes einzelne Argument
auseinander klamüsere und Ihnen sage, warum es nicht
möglich ist, dann kann ich mir das eigentlich sparen. Das
wäre aber schade; denn ich glaube, dass die Bevölkerung
zunächst aus dem Bauch heraus sagen wird: Da die Familien nach vorne gebracht werden müssen, ist es eigentlich ganz logisch, dass derjenige, der viele Kinder
hat, viele Stimmen hat. Aber der Teufel steckt wie immer im Detail. Das müssen Sie sich nun einmal anhören.
({10})
Wenn man für seine Kinder entscheidet, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören oder welche Schule sie
besuchen sollen, dann sind die Wirkungen dieser Entscheidungen ausschließlich auf die eigenen Kinder beschränkt. Wenn man aber eine Wahlvertretung zuließe,
dann hätte das Folgen für die Allgemeinheit. Das darf
nicht sein.
Sechstens. Es gibt kein Grundrecht auf Wahlteilnahme von Geburt an. Es war für mich schon bemerkenswert, dass in der Anhörung argumentiert wurde, es
handele sich um ein „verfassungswidriges Verfassungsrecht“, das geändert werden müsse. Die schwierigen
Ausführungen dazu überlasse ich gerne denjenigen, die
noch folgen werden.
Siebtens. die Diskursfähigkeit des Wahlberechtigten.
Auch das ist ein Grundsatz, von dem wir nicht abrücken
können.
Deshalb kann der Antrag von uns keine Unterstützung erfahren.
Wir können zweifellos über die Absenkung des Wahlalters reden. Auch damit hätte ich zwar meine Probleme.
Das steht hier aber nicht zur Debatte.
Eine bessere Familienpolitik und die Vertretung der
Interessen der Kinder und Jugendlichen sind angesichts
unserer äußerst problematischen demographischen Entwicklung von herausragender Bedeutung. Die Beförderung dieses Themas muss - völlig unabhängig von Ihrem
Antrag - eine Selbstverständlichkeit für alle Abgeordneten sein. Ich wünschte mir in diesem Bereich mehr interfraktionelle Gemeinsamkeit. Einer Grundgesetzänderung bedarf es hierzu nicht.
({11})
Ich sage in aller Bescheidenheit: Meine Fraktion hat,
wie ich eben schon erwähnt habe, zur Besserstellung der
Familie erheblich beigetragen. Mir ist klar, dass diese
Besserstellung noch nicht ausreichend ist. Vielleicht haben wir ab September wieder mehr Entscheidungsspielraum.
({12})
Auf diese Zeit, Frau Kortmann, hoffen die meisten Menschen in unserem Lande, meine Fraktion und auch ich.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat die Frau Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mehr Demokratie wagen, das wollen die Verfasserinnen
und Verfasser des Gruppenantrages. Aber eine echte Demokratieinnovation ist das nicht. Davon könnte man eigentlich nur sprechen, wenn es ein originäres Wahlrecht
für Kinder gäbe, wie es zum Beispiel die Berliner Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. fordert, aber nicht so.
Ihnen, liebe Antragstellerinnen und Antragsteller,
geht es eigentlich nicht um das Prinzip „Kinder an die
Macht“; denn Sie wollen kein Wahlrecht für Kinder. Was
Sie wollen, ist ein zusätzliches Wahlrecht für die Eltern.
({0})
Für ihre Bereitschaft, Kinder zu bekommen, sollen sie
mit einer zusätzlichen Stimme bei den Parlamentswahlen belohnt werden, also mit einer Art parlamentarischem Kindergeld.
({1})
Da Sie aber kein originäres Elternwahlrecht fordern
können, fordern Sie eben ein abgeleitetes. Genau das ist
vom Grundgesetz aber nicht gewollt. Der Grundsatz der
Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl schließt es
aus, ein Stimmengewicht von Gruppen verschieden zu
bewerten. Das Dreiklassenwahlrecht von Preußen mit
seiner unterschiedlichen Stimmengewichtung nach dem
jeweiligen Stand wurde bereits 1918 abgeschafft. Also
versuchen wir doch jetzt nicht, es für Eltern wieder einzuführen.
({2})
Für Kinder und Jugendliche ergeben sich durch ein
Wahlrecht ab Geburt keinerlei Rechte - das wurde in der
Anhörung sehr deutlich -; denn von Rechten kann man
nur dann sprechen, wenn man sie einklagen und bei ihrer
Verletzung Sanktionen durchsetzen kann. All das gibt es
bei einem Elternwahlrecht nicht.
Wer garantiert eigentlich dafür, dass die Eltern das
Wahlrecht „treuhänderisch für das Kind“ ausüben? Niemand! Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist
es doch fast schon der Regelfall, dass die politische
Meinung der Eltern von der ihrer Kinder abweicht. Dass
sich die politische Meinung der Kinder tatsächlich im
Stimmverhalten der Eltern widerspiegelt, ist nicht mehr
als eine vage Hoffnung. Ich glaube, dass die Eltern die
Stimmen ihrer Kinder dazu benutzen, um so zu wählen,
wie sie es selbst für richtig halten; durch das Elternwahlrecht haben sie dann eben mehr Stimmen. Das ist kein
Wahlrecht für Kinder.
({3})
Das Wahlrecht ist ein höchst persönliches Recht. Es ist
nicht übertragbar und es duldet keine Stellvertretung.
Der Vergleich mit dem Wahlhelfer bei Menschen mit
Behinderung zieht nicht. Zu diesem Vergleich muss ich
sagen: Dieser Vergleich hinkt; denn die Wahlhelfer sind
an die Weisungen des Wählers oder der Wählerin gebunden, Eltern sind das nicht.
Die Intention des Antrags ist und bleibt - auch das
wurde hier schon gesagt - richtig: Unser Land muss kinderfreundlicher werden. Jungen Menschen müssen Hindernisse und Risiken aus dem Wege geräumt werden,
damit sie wieder mehr Freude haben, Kinder zu bekommen. Die Aufgabe der Politik ist, die entsprechenden
Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihren Investitionen in den Ausbau von Ganztagsschulen und Kindertagesstätten ganz neue Maßstäbe gesetzt, und das ohne
ein Elternwahlrecht. Ein Elternwahlrecht ist der falsche
Weg zu mehr und besserer Familienpolitik. Es ist doch
hanebüchen, zu glauben, dass Eltern grundsätzlich mehr
als andere darauf achten, dass Politik die Interessen der
Kinder und der jüngeren Generation vertritt. Das ist eine
reine Hypothese. Genauso könnten wir behaupten, eine
weibliche Kanzlerin mache automatisch Interessenpolitik für Frauen.
({4})
Interessant finde ich übrigens, dass Sie zum einen
mehr demokratische Rechte und eine andere Politik fordern, und in Ihrer Begründung zugleich kalkulieren, dass
diese Ausweitung keine Verschiebung innerhalb des politischen Spektrums bedeutet. Mehr Demokratie wagen,
aber dabei bitte keine großen Veränderungen - das ist die
konservative Grundhaltung, von der der Antrag geprägt
ist.
Wenn wir die Interessen von Kindern und Jugendlichen tatsächlich mehr berücksichtigen wollen, sollten
wir endlich das Wahlalter auf 16 Jahre absenken, wie
wir Grüne das schon seit Jahren fordern.
Die Einführung eines Familienwahlrechts ist in jeder
Hinsicht der falsche Weg. Er ist verfassungswidrig, lebensfremd und unpraktikabel. Darum bitte ich Sie, der
Beschlussempfehlung zuzustimmen und den Antrag abzulehnen.
Recht herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
erste Lesung des fraktionsübergreifenden Gruppenantrags für ein Wahlrecht ab der Geburt war für mich eine
kleine Sternstunde des Parlaments. Wir haben damals
fair und sachlich eine sicher mutig quer gedachte Initiative jenseits von Fraktionsgrenzen und fest gefügten Ritualen debattiert, was ich heute nicht ganz so beobachte.
({0})
Es handelt sich eben um kein parteipolitisches Thema,
Frau Wittig, sondern um ein gesamtgesellschaftliches
Thema.
({1})
Die Bundestagsberatungen wurden von einer breiten
Diskussion in Verbänden und Vereinen begleitet, die sich
Sorgen um die Zukunft unserer Gesellschaft machen.
Der Deutsche Familienverband startete eine große Unterschriftenaktion. Der Verfassungsrechtler von Arnim
sprach von einer echten Innovation für die deutsche Demokratie. Die „Financial Times“, die ja nun kein sozialromantisches Blättchen ist, schrieb als Abschluss eines
freundlichen Kommentars: Worauf es jetzt ankommt,
sind der Mut und die Beharrlichkeit der Reformer. Recht
hatte sie.
({2})
In der Expertenanhörung erkannten auch die von den
Antragsgegnern nominierten Experten an, dass der Antrag wesentliche Fragen für die Zukunft unserer Gesellschaft thematisiert, und unbestreitbar sehen heute Verfassungsjuristen die Kinder als Träger von Grundrechten
von Geburt an. Wahlrecht ist ein entscheidendes Bürgerrecht. Kinder sind Bürger.
({3})
Unser Rechtssystem sieht, soweit Rechtsfähigkeit und
Geschäftsfähigkeit auseinander fallen, die Möglichkeit
der Stellvertretung vor und weist diese im Falle von
Kindern den geborenen Vertretern zu, die nun einmal die
Eltern sind. So wollen wir das auch beim Wahlrecht.
Selbstverständlich muss man darüber diskutieren, ab
wann junge Menschen das Wahlrecht selber ausüben.
Mir fehlt leider die Zeit, darauf näher einzugehen.
Das Kinderwahlrecht bringt nicht Privilegien für Familien oder für die Eltern, sondern beseitigt eine bestehende Diskriminierung und beendet die Benachteiligung der Kinder.
({4})
Ich halte es für ungerecht, dass heute ein kinderloses
Paar an der Urne doppelt so viele Stimmen hat wie eine
Alleinerziehende mit zwei Kindern. Ich will: jeder Bürger eine Stimme.
({5})
Der von den Antragsgegnern, also der Gegenseite, nominierte Professor Dr. Pechstein - das ist interessant - hielt
dementsprechend den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gegenüber unserem Antrag für eine Argumentation
auf, wie er sagte, schwankendem Boden. Das bestätigen
übrigens auch die zahlreichen renommierten Verfassungsjuristen, die sich für eine solche Reform ausgesprochen haben. Frau Philipp, ich nenne die ehemalige
Justizsenatorin Frau Peschel-Gutzeit, ich nenne den Verfassungsrechtler Professor Kirchhof,
({6})
und ich nenne den ehemaligen Bundespräsidenten
Roman Herzog.
Meine Damen und Herren, solange sich unsere Gesellschaft auf Pump finanziert und damit trotz Sonntagsreden Belastungen in die Zukunft verschiebt, wird die
junge Generation um Zukunftschancen beraubt. Ich
glaube, wir können die Zukunft der Familien und damit
unserer ganzen Gesellschaft nur sichern, wenn wir das
politische Gewicht von Familien und Kindern ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend durch ein
Wahlrecht ab Geburt erhöhen.
({7})
Mit einem Drei-Generationen-Wahlrecht geben wir
der Zukunft eine Stimme, verwirklichen wir das Prinzip
„Jeder Mensch eine Stimme“ und verändern wir die
Prioritäten in der Politik, und zwar nicht nur in der Familienpolitik, sondern auch in der Bildungs-, der Finanzund der Umweltpolitik - übrigens zum Wohl der gesamten Gesellschaft.
Hans-Olaf Henkel sagte dazu, er fände diese Idee
nicht nur richtig, sondern überfällig in einer Situation,
wo der Populismus auf Kosten der kommenden Generation neue Triumphe feiert.
Herr Haupt, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ich komme zum Schluss.
Ich darf noch einmal Hans-Olaf Henkel zitieren: Wir
leiden in Deutschland nicht an einem Zuviel so genannter Schnapsideen, sondern daran, dass zu vieles so bezeichnet wird. Deshalb verlieren wir viel Zeit.
Ich bitte Sie: Geben Sie der Zukunft eine Stimme!
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenigstens hat diese Debatte, so wie sie jedenfalls bis
jetzt verlaufen ist, den Vorteil, dass nicht Wahlkampfreden mit Blick auf den möglichen Wahltermin
18. September gehalten werden, wie wir das den Nachmittag über erlebt haben, sondern dass es irgendwie zur
Sache geht.
Trotzdem habe ich, als ich gerade die Kritiker dieses
Vorschlags gehört habe, eine ganze Zeit lang etwas irritiert gedacht: Man merkt doch auch hier, dass wir uns
faktisch schon ganz gut im Closedshop der älteren Gesellschaft eingerichtet haben
({0})
und das Bohrende und auch Irritierende dieses Vorschlags kaum erkennen. Dass man bei aller gut gemeinten Familien- und Kinderpolitik bisher so dramatisch
schlechte Ergebnisse bekommen hat, sollte uns zu der
Frage führen, ob nicht doch etwas dramatischere Vorschläge gemacht und etwas grundsätzlichere Überlegungen angestellt werden müssten.
({1})
Ein Gutteil der Argumente, die gegen diesen Vorschlag des Wahlrechts von Geburt an angeführt worden
sind, erinnert mich sehr an Argumentationen aus früheren Phasen der Veränderung des Wahlrechts, zum Beispiel an die Debatten gegen oder für das Frauenwahlrecht.
({2})
Das miteinander zu vergleichen ist wirklich wunderbar.
Ich habe das mal sehr intensiv studiert.
In Wahrheit handelt es sich im Kern doch um die
Frage: Wer soll an der Formierung des politischen Willens und der Repräsentanz eines Gemeinwesens teilhaben? Das heißt, es geht im Kern um die Frage: Wen betrachten wir als Bürger dieser Gesellschaft? Das
wichtigste Recht von Bürgern, das wichtigste Bürgerrecht, ist eben diese Teilhabe an der Bildung der politischen Machtrepräsentanz.
Da hat es immer genau diese Entwicklung gegeben.
Im alten Athen, der ersten Fast-Demokratie, waren alle
diejenigen ausgeschlossen, die keinen Besitz hatten. Es
waren die Frauen ausgeschlossen. Es waren die Kinder
ausgeschlossen. Es waren die Sklaven ausgeschlossen.
Es waren auch die Hetären ausgeschlossen. Es war also
ein sehr kleiner Kreis, der die Macht unter sich ausmachte.
Nach der bayerischen Verfassung von 1818 - übrigens auch eine Verfassung! - verfügten nur männliche
Angehörige einer christlichen Konfession ab 30 Jahre
über das Wahlrecht. Auch ein sehr interessantes Modell.
Bis 1918 besaßen die Frauen kein Wahlrecht und in
der Schweiz, wie man weiß, hat der letzte Kanton das
Wahlverbot für die Frauen erst 1990 aufgehoben.
Bei all diesen Reformen der Verfassung, um das
Wahlrecht zu ändern, stand im Kern die Frage dahinter:
Wen betrachten wir als relevante Bürger unseres Gemeinwesens? Immer dann, wenn das Verhältnis nicht gestimmt hat, immer dann, wenn sich unter der bestehenden Verfassungswahlrechtsordnung Ungerechtigkeiten
eingeschlichen haben, wurde am Ende das Wahlrecht
verändert. Über genau diese Ungerechtigkeiten reden
wir. Das ist Gegenstand der Initiative.
({3})
Die Frage ist, ob die Gleichheit aller Staatsbürger
wirklich noch gewährleistet ist, wenn ein Fünftel des
Staatsvolkes - selbstverständlich sind Kinder Teil des
Staatsvolkes - an dieser Bildung des politischen Gemeinwesens nicht teilnehmen kann. Um diese Ungerechtigkeit aufzuheben, ist diese Initiative entstanden.
Ich wäre froh, wenn sich die Gegner dieser Initiative
etwas mehr anstrengen würden, um dann ihrerseits produktive Vorschläge zu unterbreiten,
({4})
zum Beispiel das Wahlalter zu senken. Da hätten Sie
uns alle, die wir für das Wahlrecht von Geburt an sind,
sofort auf Ihrer Seite. Es wäre jedenfalls ein Schritt in
die richtige Richtung.
({5})
Darüber, ab wann die Kinder dann selber wählen, ist
zu diskutieren. Ich finde den möglichen Streit in den Familien wunderbar, wenn die Kinder sagen: Ich will
schon ab zehn Jahre wählen. - Ich wäre jederzeit dafür.
Genau das ist offen gehalten. Aber man muss erst einmal
anfangen, zu akzeptieren, dass Kinder Bürger sind. Ich
glaube, da besteht, jedenfalls in Bezug auf das Wahlrecht, noch eine gewisse Unklarheit.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach meiner Kenntnis ist vereinbart, dass von jeder Fraktion ein Redner, der
dafür ist, und ein Redner, der dagegen ist, benannt
wurde. Ich höre jetzt, dass von der CDU/CSU-Fraktion
zwei Redner benannt wurden, die dagegen sind.
({0})
Das kann ich nicht zulassen. Wenn es bei der CDU/
CSU-Fraktion einen Redner gibt, der dafür sprechen
will, bitte ich ihn, das Wort zu nehmen. Ansonsten überspringe ich die nächste Rednerin.
({1})
- Das ist nach meiner Kenntnis so zwischen den Fraktionen vereinbart worden. Das ist im Übrigen fair. Ich bin
der amtierende Präsident und entscheide das so.
Zur Geschäftsordnung, bitte schön.
Herr Präsident, ich akzeptiere, dass Sie das Wort erteilen. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass es
hier widersprüchliche Meinungen gibt. Uns gegenüber
wurde ganz klar die Aussage getätigt, dass es eine solche
Vereinbarung nicht gibt. Wir haben vor diesem Hintergrund die Rednerin, die jetzt dran wäre, gemeldet.
Ich möchte nur ankündigen, dass wir diese Frage im
Ältestenrat klären lassen. Wir verzichten darauf, jetzt
eine Sitzungsunterbrechung zu beantragen und den Ältestenrat einzuberufen. Wir werden das dann aber bei der
nächsten Gelegenheit klären lassen.
Selbstverständlich. Das ist Ihr gutes Recht.
({0})
- Bemühen Sie sich bitte selbst um die Geschäftsordnung. Da steht drin, dass der amtierende Präsident das
Wort erteilt, je nach Meinungsäußerung. Im Übrigen haben die anderen Fraktionen das ja auch so entschieden.
Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen. Außerdem
ist es ein reiner Akt der Fairness, dass bei einer solchen
überparteilichen und überfraktionellen Debatte jeweils
ein Redner, der dafür ist, und ein Redner, der dagegen
ist, das Wort erhalten. In Ihrer Fraktion gibt es ja eine
ganze Reihe von Abgeordneten, die sich dafür ausgesprochen haben. Von diesen hätte sich ja einer zu Wort
melden können.
({1})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Damit hat nun der Kollege Daniel Bahr von der FDPFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere, dass das jetzt ein bisschen einen
Schatten auf die Debatte wirft. Ich bedauere auch, dass
diese Debatte in der Tat parteipolitischer geführt wird,
als es erfreulicherweise in der ersten Lesung der Fall
war. Ich würde mir wünschen, dass wir uns wirklich an
der Sache und an den Inhalten orientieren.
Ich möchte den Initiatoren dieses Antrages sehr herzlich danken. Ich bin Gegner dieses Antrages, aber ich
finde es gut, dass wir diese Debatte führen. Auch die Initiatoren weisen ja darauf hin, dass wir in Deutschland in
der Tat auf ein Problem zusteuern. Wenn die Alterspyramide kippt und wir immer mehr ältere und immer weniger jüngere Menschen haben werden, dann wird das
Auswirkungen auf fast alle Politikbereiche in Deutschland haben. Insofern ist die Frage, die die Initiatoren hier
stellen, berechtigt. Sie gehen aber mit einem falschen
Ansatz an sie heran.
Die Initiatoren sagen - wenn das stimmte, wäre das
ein Armutszeugnis -, dass sich Politik allein an den Bevölkerungsgruppen orientiert, die in der Alterspyramide
am stärksten vertreten sind. Sind wir Politiker in diesem
Hause denn wirklich so schwach, dass wir uns danach
richten, welche Altersgruppe besonders stark ist und
dementsprechend auch mehr Stimmen bei einer Wahl
bringt? Es ist doch heute schon so, dass die ältere Bevölkerung stärker an den Wahlen teilnimmt. Es ist doch
heute schon so, dass die ältere Bevölkerung insofern
überrepräsentiert ist. Aber trotzdem bin ich doch als Politiker und Abgeordneter für das ganze Volk verantwortlich. In Art. 38 des Grundgesetzes steht, dass wir Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sind.
({0})
Insofern vertrete ich als Abgeordneter auch die Interessen der Minderjährigen in diesem Parlament.
Herr Kollege Haupt, ich schätze Sie sehr. Aber auf Ihren eben getätigten Ausspruch, Sie wollten verwirklichen, dass jeder Mensch eine Stimme hat, muss ich Ihnen sagen: Das stimmt nicht. Eine Mutter oder ein Vater
eines minderjährigen Kindes bzw. Jugendlichen hätte
dann zwei Stimmen und nicht eine Stimme. Das heißt,
das Prinzip „Jeder Mensch eine Stimme“ wird hier verletzt. Sie schaffen nicht ein Kinderwahlrecht, sondern
Sie schaffen ein Elternwahlrecht. Genau den Vorwurf
müssen Sie sich gefallen lassen.
({1})
Was machen wir denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn jemand wie in meinem Fall schon mit 15 oder
16 Jahren in einer politischen Jugendorganisation politisch aktiv wird, aber die Eltern, die für mich das Stimmrecht wahrnehmen, möglicherweise eine andere politische Partei präferieren und nicht das Signal, was ich
durch die Präferenz für eine politische Organisation gesetzt habe, setzen wollen? Das heißt, hier wird nicht der
politische Wille von mir als Minderjährigem vertreten,
sondern hier bestimmt in erster Linie der Wille der Eltern. Insofern erreichen Sie damit Ihr eigentliches Ziel
nicht.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe sehr viel Sympathie dafür und kämpfe dafür, dass Minderjährige, Kinder
und Jugendliche, politische Beteiligung erlangen. Deswegen halte ich es für richtig, dass auf kommunaler
Ebene ein Wahlrecht ab 16 Jahren eingeführt wird,
({3})
dass wir in den Kommunen Jugend- und Kinderräte
schaffen, dass wir gerade dort vor Ort eine höhere Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erreichen.
({4})
Da muss viel mehr geschehen. In meiner Heimatstadt
Münster wird das gerade erst aufgebaut, obwohl wir darüber seit vielen Jahren diskutiert haben.
({5})
- In anderen Städten gibt es das schon länger; Sie haben
vollkommen Recht.
Aber wir müssten das Grundprinzip verankern. Dafür
ist der Antrag gut. Wie schaffen wir es, mehr Nachhaltigkeit in die Politik zu bekommen? Wie schaffen wir es,
zu erreichen, dass die Interessen von nicht geborenen
Generationen, von kommenden Generationen berücksichtigt werden? Das schaffen wir nicht mit Ihrem Vorschlag, sondern das schaffen wir, indem wir uns als Politiker selbst verpflichten, den Schuldenaufbau zu
beenden und Lasten nicht immer weiter auf kommende
Generationen zu verschieben, indem wir anfangen, die
Probleme zu lösen, angesichts der demographischen
Entwicklung vor allem die der Sozialversicherungssysteme, und Familienpolitik in den Mittelpunkt zu stellen.
Das ist nicht der Inhalt Ihres Antrages; aber ich danke
Ihnen trotzdem für Ihre Initiative, weil sie uns wieder
einmal Gelegenheit zu einer Debatte über diese Probleme gegeben hat.
Ein letzter Satz. Die jungen Abgeordneten dieses Parlamentes haben eine ähnliche Initiative geplant, nämlich
die Verankerung der Nachhaltigkeit im Grundgesetz.
Morgen hätten wir sie gerne vorgestellt; leider hat uns
die Ankündigung der Neuwahlen einen Strich durch die
Rechnung gemacht. Aber heute ist nicht das Ende aller
Tage; wir kommen wieder, keine Frage. In der nächsten
Legislaturperiode werden wir jungen Abgeordneten
diese Initiative einbringen und damit die Debatte voranbringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Daniel Bahr ({6})
({7})
Als letzter Redner hat der Kollege Rolf Stöckel von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Innenausschuss empfiehlt mit einer Gegenstimme einmütig, weiterhin ein Fünftel des Staatsvolkes, nämlich die
dritte Generation, von der Geburt bis zum
18. Lebensjahr vom wichtigsten Recht in der Demokratie, nämlich dem Wahlrecht, auszuschließen. Wir, die wir
als Sozialdemokraten mit insgesamt 41 Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses die fraktionsübergreifende Initiative ergriffen haben, respektieren selbstverständlich
die demokratische Mehrheit, die ein von den Eltern
wahrgenommenes Stellvertreterwahlrecht ablehnt. Aber
bei aller Ablehnung und auch allem Spott: Immerhin hat
der Ältestenrat die heutige, vorläufig abschließende Beschlussfassung nicht wie die erste Lesung vor über einem Jahr auf den 1. April gelegt.
({0})
Das ist ja schon ein kleiner Fortschritt. Wir werden bestimmt auch in der nächsten Wahlperiode wieder einen
Versuch starten.
Die kleine Expertenanhörung im Innenausschuss hat
übrigens, wie auch die Literatur zu diesem Thema, zumindest ein ausgewogenes Verhältnis von Argumenten
gebracht. Die Argumente waren nicht, wie das hier zum
Teil dargestellt worden ist, eindeutig und sind es auch
nicht. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, etwa was das Stellvertreterwahlrecht angeht,
widersprüchlich.
Mehr als die klare Ablehnung enttäuscht mich persönlich aber, dass keinerlei Initiativen vorgeschlagen
wurden, weder für eine Wahlalterssenkung, die das Problem allerdings nur teilweise lösen würde, noch für
praktische Verbesserungen und eine Ausweitung der
Partizipation von Kindern und Jugendlichen in den
Angelegenheiten, öffentlichen Räumen und Institutionen, die sie direkt betreffen, mit und in denen sie aufwachsen, leben und lernen müssen.
({1})
Es wird immer wieder auf die Partizipation in den Jugendverbänden hingewiesen. Wir können heute Zuschauer und Zuschauerinnen aus den Jugendparlamenten
in Hattingen, Witten und Herdecke begrüßen,
({2})
die wissen: Partizipation von Kindern und Jugendlichen
heißt, dass Erwachsene einen Teil der Macht an sie abgeben müssen, dass sie sie mit ihnen teilen müssen.
({3})
Das wollen wir natürlich, wie der Kollege Bahr richtig
gesagt hat, in dieser Demokratie flächendeckend verankern.
Es gibt einige Modelleinrichtungen, Schulen und Kindergärten, die etwa nach dem italienischen Reggio-Konzept demokratische Beteiligung einüben. Aber das sind
Ringeltauben. Ansonsten herrscht gegen besseres Wissen, was die sozialen Lernerfolge angeht, in den meisten
Bildungsanstalten tote Hose in Sachen Partizipation.
({4})
Ich sage damit nicht, dass diese Initiative keine Unterstützung bei der Mehrheit der Abgeordneten der Fraktionen finden würde, dass hier eine schlechte Jugend- oder
Familienpolitik gemacht würde. Vielleicht haben ich und
meine Mitunterzeichner da teilweise eine andere Meinung. Aber es geht doch überwiegend um Geld und um
Elternförderung. Die Frage der demokratischen Rechte
von Kindern und Jugendlichen ist aber eine zentrale
Wertefrage in einer demokratischen Gesellschaft, die
Zukunft gewinnen will.
({5})
Deswegen bin ich dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen, die dies wollen, wählen können und von Politikern
und Parteien ernst und angenommen werden. Das stellvertretend von den Eltern wahrgenommene Wahlrecht
betrachte ich jedenfalls nur als einen Einstieg in eine solche Entwicklung der Demokratie.
Wovor haben wir eigentlich Angst, meine Damen und
Herren? Vor Missbrauch durch Eltern, vor Beeinflussung
von Kindern? Vor mangelnder Urteilsfähigkeit oder einseitigen Vor- und Nachteilen für die eine oder andere
Partei? Vor einer Übermacht der Familieninteressen? Ich
halte das eigentlich für Anmaßung und Bevormundung
des Staatsvolkes durch diejenigen, die in unserer Demokratie genau zu wissen glauben, was für die Menschen
politisch richtig und falsch ist.
({6})
Ich halte dies sogar für Quatsch, weil die Realität eine
Unvollkommenheit bei allen Wählergruppen zeigt. Die
Risiken sowie die Vor- und Nachteile wären auf alle Parteien gleich verteilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch Experten können irren.
Eine mutige Demokratie, die noch wachsen will,
würde sich darüber freuen, dass in den Familien und
Schulen altersgemäß und zunehmend über politische Zusammenhänge und Interessen gesprochen würde und tatsächlich alle im Staatsvolk eine Stimme hätten.
Schade drum und auf ein Neues!
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/4788 zu dem Antrag der
Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, Norbert Barthle,
Veronika Bellmann und weiterer Abgeordneter mit dem
Titel „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von
Geburt an“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1544 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurfs zur Sicherung der Unternehmensnachfolge, Drucksache 15/5604, zu erweitern und
diesen jetzt gleich als Zusatzpunkt 8 ohne Aussprache
aufzurufen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unternehmensnachfolge
- Drucksache 15/5604 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wir kommen gleich zur Überweisung. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache
15/5604 an die aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Verbot des Führens von Anscheinwaffen
- Drucksache 15/5106 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
debeiträge der Kollegen Gabriele Fograscher, SPD,
Kristina Köhler und Dorothee Mantel, CDU/CSU, Silke
Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, Ernst
Burgbacher, FDP, und für die Bundesregierung des Par-
lamentarischen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper.1)
1) Anlage 4
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen
({3})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP
Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung abschließen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Königshofen, Dirk Fischer ({4}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der
Deutschen Flugsicherung GmbH
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({5}), Birgit Homburger, HansMichael Goldmann weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Leitlinien für die Privatisierung der Deutschen Flugsicherung - Gesamtkonzept zur
Neuordnung der Flugsicherung
- Drucksachen 15/5342, 15/4829, 15/4670, 15/
5519 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Weis ({6})
Norbert Königshofen
Albert Schmidt ({7})
Horst Friedrich ({8})
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Redebeiträge der Kolle-
gen Reinhard Weis, SPD, Norbert Königshofen und Dirk
Fischer, CDU/CSU, Albert Schmidt, Bündnis 90/Die
Grünen, Horst Friedrich, FDP, und für die Bundesregie-
rung der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris
Gleicke.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/5519. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP auf Drucksache 15/5342 mit dem
Titel „Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsiche-
rung abschließen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
2) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4829 mit
dem Titel „Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der
Deutschen Flugsicherung GmbH“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/4670 mit dem Titel „Leitlinien
für die Privatisierung der Deutschen Flugsicherung Gesamtkonzept zur Neuordnung der Flugsicherung“
ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Ortel, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine
Kurth ({9}), Volker Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Situation der Fischerei durch nachhaltige
Bewirtschaftung verbessern
- Drucksache 15/5587 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Auch die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Holger Ortel, SPD, Gitta Connemann, CDU/CSU,
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen, und
Dr. Christel Happach-Kasan, FDP.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/5587 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für Tourismus zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({12}), Dr. Christian Ruck,
Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Mikrofinanzierung und Finanzsystementwick-
lung zur nachhaltigen Armutsbekämpfung
und Mittelstandsförderung ausbauen
- Drucksache 15/5455 -
1) Anlage 6
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Haushaltsausschuss
Die Reden hierzu sollen ebenfalls zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Fraktion, sowie der Kollegen Peter Weiß ({14}), CDU/CSU-Fraktion,
Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen, und Markus
Löning, FDP-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({15})
zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß
({16}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Chance zum demokratischen Neubeginn in
Haiti unterstützen
- Drucksachen 15/2746, 15/4973 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sascha Raabe
Peter Weiß ({17})
Thilo Hoppe
Markus Löning
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion, Peter Weiß ({18}), CDU/CSU-Fraktion, Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Karl Addicks, FDP-
Fraktion.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 15/4973 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Chance zum de-
mokratischen Neubeginn in Haiti unterstützen“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2746 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Frak-
tion, die sich enthält, angenommen.
2) Anlage 7
3) Anlage 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({19}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Zügige Verwirklichung der ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt ({20})
- Drucksache 15/5456 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Haushaltsausschuss
Die Reden hierzu werden zu Protokoll genommen. Es
handelt sich um die Reden der Kollegen Heinz Paula,
SPD-Fraktion, Volkmar Vogel und Renate Blank, CDU/
CSU-Fraktion, Albert Schmidt ({22}), Bündnis 90/
Die Grünen, und Horst Friedrich ({23}), FDP-Frak-
tion.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5456 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. Juni 2005, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.