Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell wurde vereinbart, dass am Mittwoch,
dem 15. Juni 2005, keine Befragung der Bundesregierung stattfindet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe
({0})
- Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045 ({1})
Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Bericht
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend ({2})
- Drucksache 15/5616 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Rupprecht ({3})
Ingrid Fischbach
Ina Lenke
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich
({4})
- Drucksache 15/4532 ({5})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/4158 ({6})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({7})
- Drucksache 15/5616 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Rupprecht ({8})
Ingrid Fischbach
Ina Lenke
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({9})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5617 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Antje Tillmann
Anna Lührmann
Otto Fricke
Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP vor. Zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Renate Schmidt.
({10})
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe
Kollegen, liebe Kolleginnen! Am 1. Januar dieses Jahres
ist das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das TAG, in Kraft
getreten, nachdem der Einspruch des Bundesrates mit
der Mehrheit des Bundestages zurückgewiesen worden
Redetext
war. Schon nach nicht einmal fünf Monaten zeigt sich,
dass dieses Gesetz greift.
({0})
Das Land Rheinland-Pfalz hat das Gesetz zum Beispiel
zum Anlass genommen, das Programm „Zukunftschance
Kinder - Bildung von Anfang an“ zu initiieren und damit die Kinderbetreuung nachhaltig zu verbessern.
Große Städte wie Düsseldorf und kleinere wie Felsberg
forcieren den Ausbau von bedarfsgerechten Angeboten
der Tagesbetreuung für Kinder. Kommunale Spitzenverbände wie der Städte- und Gemeindebund unterstützen
das Ausbauprogramm. In mittlerweile 150 lokalen Bündnissen setzen Kommunalpolitiker und -politikerinnen,
freie Träger und die Wirtschaft alles daran, das Betreuungsangebot zu verbessern und Eltern die Vereinbarkeit
von Erwerbstätigkeit und Familie zu erleichtern.
Ich nehme im Übrigen für mich nicht in Anspruch,
dass nur durch das TAG der Ausbau vorangetrieben
wird; aber er wird dadurch deutlich beschleunigt.
({1})
Viele Kommunalpolitiker sagen mir, dass sie nur durch
die im TAG verankerte Pflichtaufgabe überhaupt die
Möglichkeit haben, tätig zu werden. Das TAG gibt also
dem Ausbau der Betreuung den notwendigen Kick.
({2})
Um das KICK geht es heute, um den vorliegenden
Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Er enthält unter anderem weitere
Regelungen, die den Ausbau der Tagesbetreuung flankieren. So wird mit der jetzt vorgesehenen Regelung der
Erlaubnispflicht zur Tagespflege der Forderung der
Sachverständigenkommission zum Zwölften Kinderund Jugendbericht genauso Rechnung getragen wie den
Bedenken, die in der Sachverständigenanhörung geäußert wurden, wo man sich einhellig für eine Erlaubnispflicht zur Tagespflege ausgesprochen hat. Auf der
anderen Seite wird ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Aufwand vermieden: Gelegentliche Betreuung, Nachbarschaftshilfe und Verwandtenhilfe bleiben
selbstverständlich erlaubnisfrei. Die Tagespflegeerlaubnis soll künftig für bis zu fünf Kinder gelten und nicht
mehr wie bisher für jedes einzelne Kind neu beantragt
werden müssen.
({3})
Ich weiß, dass bei den Regelungen für die Tagespflege noch Wünsche offen bleiben. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir mit den Regelungen des TAG
und des KICK in der Tagespflege als qualifizierter Alternative zur stationären Betreuung ein großes Stück vorangekommen sind.
({4})
Im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfes steht jedoch
die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir
machen Schluss mit dem Selbstbedienungsladen Jugendhilfe. Wir sorgen dafür, dass Eltern bei stationärer
Unterbringung ihrer Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten an den Kosten beteiligt werden. Das Finanzieren teurer Internate für Kinder aus vermögenden Familien, auch wenn es nur Einzelfälle waren, hat damit ein
Ende.
Bereits in der Anhörung zum Regierungsentwurf des
TAG im letzten Jahr wurde deutlich, dass mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz der Ausbau des Kinder- und
Jugendhilferechts zu einem modernen, auf Prävention
ausgerichteten Gesetz gelungen ist.
Neben dieser positiven Bewertung wurde ebenfalls
mit großer Einhelligkeit der Änderungsbedarf bei folgenden Eckpunkten angemahnt: Konkretisieren des
Schutzauftrages der Jugendhilfe, Stärken der Steuerungsverantwortung des Jugendamtes, Verbessern der
Wirtschaftlichkeit dadurch, dass die Kinder- und Jugendhilfe nachrangig eintritt und Aufgaben nicht einfach
dort hingeschoben werden können, Verwaltungsvereinfachung insbesondere beim Heranziehen zu den Kosten.
Diese Ziele setzen wir jetzt um. Wir verbessern zum
Ersten den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
Gefahren für ihr Wohl. Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung, finanzielle Probleme und
andere stellen große Herausforderungen an die Familien
dar, denen sie sich oftmals nicht mehr gewachsen sehen.
Dies erhöht das Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Jugendhilfe ist hier in besonderer Weise
gefordert.
Zum Zweiten verbessern wir die fachliche und wirtschaftliche Steuerungskompetenz des Jugendamtes,
damit vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen
die Leistungen gezielt den Jugendlichen zugute kommen, die der Unterstützung bedürfen.
({5})
Dies geschieht durch das Eindämmen der Selbstbeschaffung und durch striktere Leistungsvoraussetzungen bei
der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder
und Jugendliche.
Zum Dritten wird deutlich gemacht, dass die Jugendhilfe nicht länger der Reparaturbetrieb für die Versäumnisse anderer ist.
({6})
Insbesondere Schulen - da waren wir uns alle hier im
Hohen Hause einig - müssen ihrem Erziehungs- und
Bildungsauftrag überall nachkommen und dürfen ihre
Verantwortung zum Beispiel bei Lese- und Rechtschreibschwächen nicht einfach an die Jugendhilfe abgeben. Damit muss endlich Schluss sein.
({7})
Zum Vierten schließlich wollen wir den Verwaltungsaufwand in den Jugendämtern durch eine Neuregelung
der Kostenbeteiligung deutlich mindern, gleichzeitig
aber auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt werden.
Zwischen dem KICK und dem vom Bundesrat vorgelegten KEG, dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen,
gibt es große Schnittmengen; das gestehe ich hier eindeutig zu. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied: Im KICK wird von der notwendigen Weiterentwicklung der Jugendhilfe ausgegangen, die dann auch
positive Auswirkungen auf die kommunalen Finanzen
hat.
({8})
Das KEG, das Gesetz zur Entlastung der Kommunen, hat
die Entlastung der Kommunen als Erstes und nahezu
Einziges im Auge, und zwar leider zum Teil ohne ausreichende Rücksichtnahme auf die fachliche Diskussion im
Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.
({9})
So wird im KEG gefordert, die Eingliederungshilfe für
seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, § 35 a
SGB VIII, wieder der Sozialhilfe zuzuweisen. Damit
wären wir wieder in den Zustand vor der Einführung des
§ 35 a zurückversetzt, was ein dauerndes Hin- und Herschieben zwischen der Sozial- und der Jugendhilfe zur
Folge hätte. Eine Streichung des § 35 a würde aber nicht
nur die Abgrenzungsprobleme verschärfen - das habe
ich gerade geschildert -, sondern zudem zu Mindereinnahmen in einem Großteil der Kommunen führen, da
besser verdienende Eltern dann nach den maßgeblichen
Vorschriften des SGB XII nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu den Kosten herangezogen würden.
Ich habe bei diesem Gesetzentwurf der unionsgeführten Länder manchmal den Eindruck, dass man dort der
irrigen Auffassung ist, durch das Streichen eines Paragraphen verschwänden auch die Menschen, die bisher
davon profitiert haben.
({10})
Das gilt übrigens auch für die im KEG vorgesehenen
Leistungseinschnitte bei der Hilfe für junge Volljährige. Kurzfristig - das gestehe ich Ihnen zu - würde dadurch sicherlich gespart; mittel- und langfristig aber
würde das Geld zum Fenster hinausgeschmissen werden,
weil diese Maßnahmen, angefangen bei den Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit bis hin
zum Strafvollzug - das muss man hier einmal in aller
Deutlichkeit sagen -, allemal teurer sind als ein rechtzeitiges Eingreifen der Jugendhilfe, wie wir es mit diesem
Gesetz vorsehen.
({11})
Als großer Block bleibt noch die Forderung nach einer Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen übrig. Diese Forderung lehnen wir deshalb ab, weil zum einen die zu erzielenden Einnahmen kaum die Bürokratie
und den Verwaltungsaufwand bei einer einkommensabhängigen Kostenbeteiligung rechtfertigen könnten.
Wenn hier aber einkommensunabhängige Kostenbeiträge erhoben würden, würde diese Zugangsmöglichkeit
zu frühzeitigen Hilfen und Interventionen zulasten des
Kindeswohls, aber auch des Elternrechts zunichte gemacht. Dies würde wiederum zu späteren intensiveren
und kostenträchtigeren Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe führen.
({12})
Zum anderen würde die niedrigschwellige Inanspruchnahme von ambulanten Angeboten unmittelbar
erschwert. Gerade im Zusammenhang mit einer Gefährdung des Kindeswohls lassen sich Eltern auf eine freiwillige Beratung in der Regel nur höchst zögerlich ein.
Wir alle miteinander beklagen doch, dass die Hemmschwelle, zu einer Erziehungs- oder Familienberatung zu
gehen, gerade für die Familien besonders hoch ist, die
sie eigentlich am meisten brauchen. Eine Kostenbeteiligung würde dieses Problem nur noch verschärfen.
({13})
Die so genannte Finanzkraftklausel, also Jugendhilfe nach Kassenlage, lehnen wir ab.
({14})
Ich freue mich daher aufrichtig - ich war ja bei den Beratungen im Ausschuss dabei -, dass das Gesetz zur Entlastung der Kommunen gleich im gesamten Hohen Haus
abgelehnt wird.
({15})
Es genügt den Ansprüchen einer modernen Jugendhilfepolitik genauso wenig wie dem Ziel, den Staat und vor
allem die Kommunen zu entlasten. Leider habe ich von
der letzten Jugendminister- und Jugendministerinnenkonferenz nicht den Eindruck mitnehmen können, dass
dort die Einsicht herrscht, sich mit dem KEG gründlich
vergaloppiert zu haben. Dies hat einen Kompromiss, den
ich für möglich gehalten hätte, vereitelt.
Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz dagegen enthält überzeugende Antworten auf die
aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen.
Es wird der staatlichen Mitverantwortung für das Aufwachsen junger Menschen gerecht. Es macht keine Abstriche im Leistungsrecht der Kinder- und Jugendhilfe.
Junge Menschen und ihre Familien können weiterhin auf
das Leistungsangebot vertrauen. Das Instrumentarium
der Kinder- und Jugendhilfe wird verbessert, vor allem
bei der Risikoabschätzung in Fällen der Kindeswohlgefährdung. Jugendämter werden von überflüssigen
Verwaltungsaufgaben entlastet und Eltern entsprechend
ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt.
Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wartet auf
dieses Gesetz und die Kommunen brauchen es. Deshalb
bitte ich Sie: Stimmen Sie zu! Tragen Sie vor allen Dingen mit dazu bei, dass dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode auch im Bundesrat eine Mehrheit findet.
Wir alle miteinander brauchen es.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegin Maria Eichhorn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, zur Klarstellung: Der Ausbau der nachhaltigen
Kinderbetreuung hat mit dem Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz im Jahre 1996 begonnen. Die Länder
waren hier schon aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz verabschiedet wurde. Heute geht es
um den zweiten Teil des Tagesbetreuungsausbaugesetzes, nämlich um die Kinder- und Jugendhilfe.
CDU und CSU wollen eine Kinder- und Jugendhilfe,
die den wirklich Hilfebedürftigen auch in Zukunft eine
zielgenaue und qualitativ hochwertige Hilfe nachhaltig
sichern kann.
({0})
Entscheidend sind für uns folgende Prinzipien: Subsidiarität, Stärkung der Eigenverantwortung, Vermeidung von
Missbrauch.
Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und
Jugendhilfegesetz hat sich in seiner Zielsetzung bewährt
und zu einer Qualifizierung der Angebote im Interesse
der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien beigetragen. 14 Jahre Praxiserfahrung zeigen aber auch die Notwendigkeit, einzelne Bereiche dieses Sozialgesetzes, deren Wirksamkeit und Kosten-Nutzen-Relation auf den
Prüfstand zu stellen. Ziel der Prüfungen ist es, die Handlungsfähigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe, das heißt:
eine qualitativ hochwertige und kostenbewusste Hilfe,
auch in Zukunft zu sichern. Wir beobachten mit großer
Sorge, dass die Ausgaben der Jugendhilfe von rund
14,3 Milliarden Euro im Jahre 1992 auf rund 20,6 Milliarden Euro im Jahre 2003 angestiegen sind.
Wir wollen gemäß der ursprünglichen Intention des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Prävention und
Erziehung in den Familien wieder stärker fordern.
({1})
Dafür müssen wir aber auch die Mittel gezielt einsetzen.
Dabei steht die soziale Verantwortung für die Hilfebedürftigen, die besonders auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, im Mittelpunkt. Allerdings müssen wir bei der Gewährung von Sozialleistungen auch
die Rahmenbedingungen beachten. Sozialpolitik kann
nur funktionieren, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Leistungsträger sichergestellt ist. Deshalb können finanzpolitische und ökonomische Gesichtspunkte nicht völlig außer Acht gelassen
werden.
Es besteht dringender Handlungsbedarf. Dieser wird
seitens der Länder und der Kommunen bereits seit langem angemahnt. So wurde in einer gemeinsamen Entschließung, initiiert von den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen, im Mai 2004 im Bundesrat beschlossen, die Bundesregierung und den Bundestag aufzufordern, eine substantiierte Änderung des SGB VIII vor allem mit dem Ziel der Entlastung der Kommunen und
Länder auf den Weg zu bringen. Nordrhein-Westfalen
war damals bekanntlich SPD-regiert.
Die Unionsfraktion hatte dazu bereits im Rahmen des
Tagesbetreuungsausbaugesetzes zahlreiche Vorschläge
gemacht. Offensichtlich hat der Druck auch Ihrer Kommunalpolitiker bei Ihnen endlich Wirkung gezeigt. Wir
begrüßen, dass Sie zahlreiche Vorschläge von uns im
Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz aufgenommen haben.
({2})
- Schauen Sie unsere Änderungsanträge vom letzten
Jahr an; dann sehen Sie genau, was Sie übernommen haben.
({3})
Dazu gehört der grundsätzliche Nachrang der Kinderund Jugendhilfe gegenüber anderen Sozialleistungssystemen,
({4})
die stärkere Steuerungs- und Finanzverantwortung der
Jugendämter sowie der verbesserte Schutzauftrag bei
Kindeswohlgefährdung. Besonders wichtig ist uns die
stärkere Kostenbeteiligung von Eltern, jungen Volljährigen und Lebenspartnern, insbesondere die Möglichkeit
der Kindergeldanrechnung bei Unterbringung von Kindern außerhalb des Elternhauses.
Eine nachhaltige Sicherung der Versorgungsstrukturen kann nur durch einen effizienten Mitteleinsatz erreicht werden. Die Jugendämter wissen am besten, wie
die Prioritäten zu setzen sind, und brauchen entsprechende Entscheidungsfreiheit. Kinder- und Jugendhilfe
dient grundsätzlich der Erziehung, Bildung und Betreuung junger Menschen. Dies ist ihre zentrale Aufgabe.
Auf die Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe müssen wir uns endlich wieder besinnen. Diese sind die
Förderung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen Menschen, die Unterstützung von Eltern in schwierigen Erziehungssituationen und die nachhaltige Förderung der Erziehung in
Familien. Dazu sind ziel- und zweckgerichtete Leistungen notwendig. Vor allem müssen Mitnahmeeffekte und
falsche Anreize beseitigt werden, die eine wesentliche
Ursache für den Kostenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe sind.
({5})
Fälle, in denen der Besuch einer teuren Eliteprivatschule
im Ausland über die Eingliederungshilfe nach dem
SGB VIII finanziert wird, zeigen die Mitnahmeeffekte
und die falschen Anreizwirkungen des § 35 a SGB VIII.
Das müssen wir ändern.
({6})
Die Praxis zeigt auch, dass diese Vorschrift von Interessengruppen aufgrund des ausufernden Tatbestandes
zunehmend als freier Markt verstanden wird. Folge ist,
dass zu viele Leistungen, zum Beispiel die Behebung
von Lernschwächen und schulischen Defiziten, auf
die kommunale Jugendhilfe abgewälzt werden. Jugendamtsleiter, mit denen ich in Verbindung stehe, insbesondere aus meinem Wahlkreis, berichten mir, dass es besonders im Bereich von seelisch behinderten jungen
Menschen immer schwieriger wird, zielgerichtete Hilfen
anzubieten. So gibt es nach wie vor erhebliche Vollzugsprobleme in der Praxis. Sowohl die Bedarfsermittlung
als auch die Entscheidung über notwendige und geeignete Hilfeangebote konnten bis heute nicht zufrieden
stellend gelöst werden. Auch Sie, Frau Ministerin, haben
in der abschließenden Ausschussberatung am Mittwoch
festgestellt, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht weiterhin Aufgaben wahrnehmen dürfe, für die sie nicht gedacht sei. Deshalb wollen wir mit einer Neufassung des
§ 35 a SGB VIII ein einheitliches Recht für alle jungen
Menschen mit Behinderungen schaffen.
({7})
Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht auch bei
der Hilfegewährung für junge Volljährige. Bisher können junge Volljährige auch nach Vollendung des
18. Lebensjahres, in Einzelfällen sogar bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, erstmals Jugendhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Fachleute haben jedoch erhebliche Zweifel, ob diese Regelung die beabsichtigte
Wirkung erzielt. Jugendhilfeleistungen für über 21-Jährige sollten daher nach dem Willen des Gesetzgebers
auch nach derzeit geltender Gesetzeslage die Ausnahme
sein. In der Praxis hat sich dies jedoch zum Regelfall
entwickelt. Die Folgen sind massive Abgrenzungsprobleme zwischen Jugend- und Sozialhilfe sowie Zuständigkeitsstreitigkeiten.
Durch die Neufassung, wie wir sie wollen, würde erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortgesetzt werden und Leistungen
der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres beendet sind. Das lehnen Sie jedoch ab.
Die gesellschaftliche Integration junger Menschen sowie die Entfaltung ihrer Persönlichkeit erfolgt vor allem
im Rahmen schulischer oder beruflicher Ausbildung.
Wir wollen die Hilfegewährung gemäß dem Grundsatz
„Fördern und fordern“ an eine schulische oder berufliche Ausbildung koppeln. Damit wird eine Grundlage
geschaffen, die jungen Menschen ein eigenständiges Leben ermöglicht. Leider haben Sie auch dieses abgelehnt.
Das ist völlig unverständlich.
({8})
Die von uns geforderte Öffnungsklausel ist aus Sicht
der Länder notwendig. Einziges Ziel dieser Änderungen
ist, Länder und Kommunen bei einem weiteren qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. Der
qualitätsorientierte und bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung hat für Länder und Kommunen bereits seit Jahren höchste Priorität. Die Länder waren aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz von
Ihnen vorgelegt wurde.
Um einen nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben, erarbeiten viele Länder derzeit eigene Gesetze - und das ist gut so. Dazu sind aber strukturelle Rahmenbedingungen notwendig, die der Bund
schaffen muss. Sie haben in der abschließenden Ausschussberatung unseren Änderungsantrag hierzu abgelehnt. Damit wird der gesellschaftlich notwendige Ausbau der Kinderbetreuung wesentlich erschwert.
Die kommunalen Haushalte brauchen dringend mehr
Entlastung. Vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl hatten
wir uns mit Ihnen zusammengesetzt, um im Interesse der
Kommunen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wir
hielten und halten das auch nach wie vor für richtig. Leider haben Sie nach der Wahl diese gemeinsamen
Gespräche aufgekündigt und unsere Änderungsanträge
abgelehnt, obwohl Sie unsere Vorschläge vorher durchaus als berechtigt und richtig angesehen hatten. Das bedauern wir sehr.
({9})
Damit ist leider deutlich geworden, dass es Ihnen nicht
um die Sache, sondern nur um Taktik vor der NordrheinWestfalen-Wahl ging.
({10})
Meine Damen und Herren, Ihre Behauptung, mit dem
Gesetz zur Entlastung der Kommunen würde ein Kahlschlag in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen,
({11})
geht völlig ins Leere. Die Einsparungen daraus sind mit
250 Millionen Euro berechnet. Die Einsparungen bei Ihrem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz
liegen bei 200 Millionen Euro. 50 Millionen Euro mehr
an Einsparungen können keinen Kahlschlag bewirken.
({12})
Das KEG ist jedoch zielgenauer, um Missbrauch besser
verhindern zu können.
Die im Gesetz zur Entlastung der Kommunen formulierte Finanzkraftklausel gibt immer wieder Anlass zu
Diskussionen. In diesem Zusammenhang darf ich jedoch
darauf hinweisen, dass Sie in Ihrem Entwurf des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch in § 70 selbst gefordert haben, die Finanzkraft
der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen. Wir haben dies damals abgelehnt, weil wir notwendige Leistungen nicht infrage stellen wollten.
Zur Finanzkraftklausel, die jetzt im KEG formuliert
ist, hätten wir gerne durch einen Änderungsantrag eine
Klarstellung erreicht. Doch alle Versuche zur Klarstellung sind an Ihnen gescheitert. Daher haben wir nun in
unserem Entschließungsantrag unsere Haltung zur Finanzkraftklausel dargestellt. Wir wollen vermeiden - ich
denke, darin sind wir uns einig -, dass diese Klausel zu
uneinheitlichen Lebensbedingungen führt.
({13})
Um dies deutlich zu machen und Ihnen keine Gelegenheit zur Missdeutung zu geben, werden wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ablehnen.
({14})
Es wird wohl niemand in Abrede stellen, dass die
kommunalen Haushalte mehr Entlastung brauchen. Ihre
Vorschläge gehen nicht weit genug. Deswegen lehnen
wir sie ab. Wir haben unsere umfassenden Forderungen,
die ziel- und zweckgerichtet sind und wesentlich mehr
zur Entlastung der Kommunen beitragen als Ihr Vorschlag, im vorliegenden Entschließungsantrag formuliert.
Mit einer neuen Politik in Deutschland wird es uns
möglich sein, den Kommunen die notwendige Entlastung zu gewähren, dabei aber eine qualitativ hochwertige, zielgenaue und nachhaltige Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten. Wir wollen mit unseren
Vorschlägen erreichen, dass die präventiven Aufgaben
der Kinder- und Jugendhilfe und die Förderung von
Kindern und Jugendlichen wieder stärker im Vordergrund stehen.
({15})
Das werden wir nach einer erfolgreichen Bundestagswahl in Angriff nehmen.
Ich danke Ihnen.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Eichhorn, Ihre Vorschläge gehen wirklich zu weit. Deswegen lehnen wir sie ab. Ich glaube, dass es auch keinen
Sinn macht, wenn Sie hier immer wieder ausufernde
Leistungen, Mitnahmeeffekte und Missbrauchsfälle beschreiben, die es in dieser Art und Weise nicht gibt, wie
auch in zwei Anhörungen deutlich wurde.
({0})
Wir alle wissen - und zwar nicht nur aus den Anhörungen -, dass die Jugendhilfe schon seit Jahren keine Luxusleistungen mehr erbringt.
({1})
Finanzkraftklausel, Einsparungen auf dem Rücken
von jungen Menschen mit seelischen Behinderungen,
Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts, Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen, Sparen auf Kosten
von jungen Volljährigen, Lockerung des Datenschutzes,
Jugendhilfe nur noch unter deutschen Eichen - das ist
die schwarze Horrorliste des Gesetzes zur Entlastung der
Kommunen, kurz: KEG. Seine einzige Botschaft war:
Die Kommunen müssen entlastet werden. Im Unterschied dazu ist das Ziel des rot-grünen KICK die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir sind aus
fachpolitischer Sicht an die Frage herangegangen, wo
noch Einsparungen möglich sind. Sie sind nach dem
Motto vorgegangen: Wir sparen alles ein und dann gucken wir einmal, was passiert. Das unterscheidet uns
voneinander.
Kurzum: Das KICK hat vor allem den fachlichen
Blick auf die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet. Es entlastet die Kommunen zusätzlich, aber nicht durch Leistungskürzungen. Das ist der
Unterschied.
({2})
Zum KEG hat Ihnen die Caritas ins Stammbuch geschrieben:
Der Gesetzentwurf beschränkt sich weitgehend auf
die Einführung fragwürdiger Instrumente zur
schlichten Kostenheranziehung, anstatt innovative
Lösungen sozialer Probleme zu ermöglichen und so
einen wirtschaftlichen Ressourceneinsatz zu fördern, Selbsthilfekräfte zu stärken und damit die soziale Hilfe auch wirtschaftlich-effektiver zu gestalten.
So weit, so schlecht.
Vor zwei Tagen im Ausschuss haben Sie dann eine
vermeintliche Kehrtwende hingelegt und gegen das
KEG gestimmt,
({3})
nachdem Sie zwei Jahre lang eine Attacke nach der anderen - immer nach dem Motto: „Hau alles weg, was sozial ist“ - gegen die Kinder- und Jugendhilfe gefahren
haben.
Nachdem Sie die gesamte Fachwelt auf die Barrikaden gebracht und die Praktiker das Fürchten gelehrt haJutta Dümpe-Krüger
ben, könnte man nun mit ein bisschen gutem Willen meinen, Sie seien lernfähig. Man könnte sogar auf die Idee
kommen, Sie hätten verstanden, dass man Kinder und
Jugendliche nicht nur in schönen Sonntagsreden spazieren führen darf und montags dann fordern kann, es
müsse nun Jugendhilfe nach Kassenlage geben und auf
Kosten und zulasten unserer Kinder und Jugendlichen
müssten die kommunalen Haushalte saniert werden.
Man muss leider feststellen: Sie haben zwar einmal kurz
in die richtige Richtung geblinkt, als Sie das KEG versenkt haben. Aber dann sind Sie zügig geradeaus in die
falsche Richtung gefahren.
Sie haben einen Entschließungsantrag und etliche Änderungsanträge zum KICK eingebracht, mit dem Sie unser KICK verschlimmbessern wollen, und zwar indem
Sie mit dem Griff in die Mottenkiste ziemlich alles wieder hineinschreiben, was schon vorher im KEG stand,
mit Ausnahme der Finanzkraftklausel. Schauen wir uns
das anhand von drei Beispielen einmal an.
§ 35 a, Eingliederungshilfe für junge Menschen
mit seelischen Behinderungen: Im KEG wollten Sie
§ 35 a komplett streichen, und zwar angeblich aus Gründen der Gleichbehandlung und zur Vermeidung von Abgrenzungs- und Zuständigkeitsproblemen. In Ihrem Änderungsantrag fassen Sie ihn so, dass es faktisch einer
Streichung gleichkommt. Eingliederungsleistungen wollen Sie gewähren,
… wenn und solange nach der Besonderheit des
Einzelfalles, vor allem nach Art und Schwere der
Behinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabe
der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Kindern und Jugendlichen mit einer anderen seelischen
Behinderung kann Eingliederungshilfe gewährt
werden.
Ich habe es Ihnen schon im Ausschuss gesagt: Welches
Tatbestandsmonster wollen Sie damit eigentlich schaffen? Der einzige Grund ist: Sie wollen die Jugendhilfe
zur behindertenfreien Zone machen, weil Sie Kosten
sparen wollen. Sie sorgen gleichzeitig mit solchen Formulierungen dafür, dass Eltern klagen müssten, um
überhaupt noch Hilfen für ihre Kinder zu bekommen.
Dazu bedürfte es eines riesigen Verwaltungsaufwandes
und mindestens zwei Gutachten, nämlich zu Prognose
und Krankenstand.
Zu den niedrigschwelligen Angeboten: Schon das
KEG sah eine Eintrittsgebühr für Erziehungsberatung
vor. Städte und Gemeinden sollten die Möglichkeit bekommen, bei ambulanten Hilfen zur Erziehung und Erziehungsberatung eine Kostenbeteiligung vorzusehen.
Gleiches Spiel in Ihrem Änderungsantrag: Sie stellen
denjenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen und für
die man versucht hat, niedrigschwellige Angebote
- diese haben ihren Namen nicht umsonst - zu schaffen,
Hürden in den Weg. Damit schließen Sie die Betroffenen
von Beratung und Hilfe aus.
§ 41, Hilfen für junge Volljährige: Hier haben Sie
ebenfalls nicht dazugelernt. Sie schreiben in Ihrem Änderungsantrag, dass Sie bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortsetzen wollen, dass
die Ersthilfe für junge Volljährige komplett wegfallen
soll und dass die Leistungen ab dem 21. Lebensjahr auf
jeden Fall beendet sein sollen. Besonders bösartig ist die
Formulierung, dass eine Maßnahme über den Zeitpunkt
der Volljährigkeit fortgesetzt werden kann, wenn
… der junge Volljährige bereit ist, an der Maßnahme mitzuwirken, und diese Maßnahme für die
Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund der individuellen Situation des jungen Volljährigen notwendig ist.
({4})
Dies gilt nur, wenn der junge Volljährige an einer
schulischen oder beruflichen Bildungs- oder Eingliederungsmaßnahme teilnimmt.
In Ihrem Entschließungsantrag setzen Sie dann noch eins
oben drauf, indem Sie feststellen:
Im Sinne eines echten „Förderns und Forderns“ soll
die Gewährung von Leistungen an die schulische
oder berufliche Ausbildung der jungen Menschen
gekoppelt werden.
({5})
Jede Hilfe zur Erziehung macht nur Sinn, wenn der
Betroffene mitarbeitet; das ist aber heute schon so. Das
sollten Sie eigentlich wissen. Es wäre ehrlicher, wenn
Sie zugäben, dass Sie jungen Menschen, die in zunehmendem Maße als junge Erwachsene Hilfen für den
schwierigen Ablösungsprozess und den Übergang in die
Selbstständigkeit brauchen, von Hilfen ausschließen
wollen. Dass Sie genau das vorhaben, kann jeder nachlesen. Sie sind ja der Meinung, dass jungen Volljährigen
„notwendige Hilfe zur Selbsthilfe … durch die Leistungen zur Eingliederung aus dem SGB II angeboten werden“ soll.
({6})
Wenn man aber weiß, dass das SGB II ausschließlich auf
schnelle Vermittlung junger Menschen ausgerichtet ist
und dass gerade die unter § 41 SGB VIII fallenden jungen Menschen nicht zu denjenigen gehören, die schnell
vermittelt werden können, dann verschlägt Ihr Motto
„Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ einem wirklich die
Sprache.
({7})
Kindern und Jugendlichen in Notlagen muss geholfen
werden. Dazu brauchen die Fachkräfte vor Ort Handlungssicherheit und auch klare gesetzliche Regelungen.
Diesem Anspruch wird unser KICK gerecht: Es setzt die
Not von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in den
Mittelpunkt und nicht die Finanzen. Wir haben die
Jugendhilfe mit unserem Gesetzentwurf weiterentwickelt, um sie zukunftstauglich zu machen.
Ich sage aber auch: Wir können uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Dazu sind die Problemlagen zu
vielfältig. Wir müssen unseren Blick weiter verstärkt auf
die Probleme junger Menschen in prekären Lebenslagen
richten und aus dieser Perspektive neue Maßnahmen entwickeln und erproben. Dazu gehören mehr Investitionen in die Jugendförderung und in die Prävention.
Fachliche Standards müssen gesichert werden.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Dazu gehört für
mich auch, dass alle Kinderregelungen - unabhängig
von der Art der Behinderung eines Kindes - ins
SGB VIII gehören. Es geht nicht an, dass wir die Regelungen, die Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen betreffen, ins SGB XII abschieben. In diesem Fall könnte ihnen nicht so gut geholfen werden wie
bei einer Verankerung im SGB VIII.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
SGB VIII hat sich seit seiner Einführung 1991 grundsätzlich bewährt; dennoch hat sich in der Praxis
Reformbedarf gezeigt, der über die bisherigen Änderungen hinausgeht. Sowohl mit dem Gesetzentwurf des
Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen
Bereich, KEG, als auch mit dem Koalitionsentwurf eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, KICK - auch ich möchte diese Abkürzungen
einmal benutzen -, will man eine höhere Effektivität in
der Kinder- und Jugendhilfe.
Angesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen müssen auch einzelne Leistungen der Kinderund Jugendhilfe kritisch überprüft werden. Wer jedoch
in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen:
Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen sind Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft.
({0})
Falsches Sparen an dieser Stelle kann schlimme Folgen
haben. Auf steigende Fallzahlen bei einzelnen Hilfearten
kann die Politik nicht einfach mit der Abschaffung der
betreffenden Leistungen reagieren.
({1})
Wenn Kinder und Eltern immer mehr tatsächlichen
Unterstützungsbedarf haben, müssen wir viel mehr nach
den Ursachen und nach besseren Lösungen fragen.
({2})
Wenn Jugendarbeit den heutzutage sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze
Gesellschaft die negativen - auch die finanziellen - Folgen.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat am Sozialbudget unseres Landes keinen entscheidenden Anteil. Der Anteil
der Kinder- und Jugendhilfe an den Ausgaben der Kommunalhaushalte ist für die insgesamt schwierige Finanzsituation nicht hauptsächlich verantwortlich. Doch die
Haushaltslage gebietet es, dass alle kinder- und jugendpolitisch verantwortbaren Einsparpotenziale aktiviert
werden. Hierbei dürfen wir die Kommunen nicht allein
lassen.
Der Bund muss durch die Einführung des strikten
Konnexitätsprinzips, wie es die FDP in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen hat, in die Pflicht genommen
werden, die Finanzierungsverantwortung für die von
ihm erlassenen Gesetze im Kinder- und Jugendhilfebereich zu übernehmen. Die Länder sind in der Pflicht, die
vom Bund an die Kommunen gezahlten Mittel zur Bewältigung der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe
wirklich bereitzustellen. Gleichzeitig sind aber auch die
Kommunen aufgefordert, noch stärker voneinander zu
lernen, um Maßnahmen effizienter zu steuern.
Das KEG enthält weit reichende Änderungsvorschläge, nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in Bezug auf SGB I, SGB XI und
SGB XII. Die FDP sieht zwar die gute Einsparabsicht,
kann das KEG insgesamt aber nicht mittragen. Der Gesetzentwurf enthält im Bereich des SGB XII und des
SGB I Regelungen, die in der vorgesehenen Fassung sozialpolitisch bedenklich und daher abzulehnen sind.
({3})
Dazu zählt vor allem die geplante Übertragung weitgehender Kompetenzen auf die Länder bei der Festlegung der Regelsätze in der Sozialhilfe. Im Bereich des
SGB XII kann eine solche Freigabe der Regelsätze zu
unzumutbaren Härten führen, wenn gerade finanzschwache Länder von ihren Regelsatzkompetenzen Gebrauch
machen.
Aber auch hinsichtlich der Kinder- und Jugendhilfe
sind im KEG Änderungen geplant, die mit der FDP
schlicht und einfach nicht zu machen sind.
({4})
Eine Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts
durch die vorgeschlagene Änderung des § 5 auf absolut
kostengleiche oder kostengünstigere Maßnahmen würde
das Pluralismusgebot in der Kinder- und Jugendhilfe im
Kern treffen und ist daher abzulehnen.
({5})
Die Praxis hat die Notwendigkeit verdeutlicht, intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland besser zu
steuern und die Qualitätssicherung zu gewährleisten. AlKlaus Haupt
lerdings sollten solche Maßnahmen als Ausnahmefall
eine Option für die Kinder- und Jugendhilfe bleiben.
Die vorgesehene Einschränkung der Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und die Verlagerung dieser Leistungen in die Sozialhilfe können von
uns nicht mitgetragen werden. Es ist zu bezweifeln, dass
aus der Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität wie bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe Hilfen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden können. Außerdem ist es schlicht ein Verschiebebahnhof.
({6})
Der Einschränkung der Jugendhilfemaßnahmen für
junge Volljährige kann ich ebenfalls nicht zustimmen.
Diese Leistungen sollen auch künftig in Ausnahmefällen
über die Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus möglich sein. Denken Sie an Haftentlassene, denken Sie an
Frauen, die zur Zwangsheirat verdammt waren.
Dagegen kann die FDP dem KICK zustimmen, nachdem die Koalition FDP-Forderungen entgegengekommen ist - wofür ich mich bedanke - und von einem
generellen Erlaubnisvorbehalt für jedes einzelne Tagespflegeverhältnis Abstand genommen hat. Eine solche
Regelung wäre realitätsfremd gewesen und hätte vermutlich noch mehr Tagesmütter in die Schwarzarbeit getrieben.
({7})
Das KICK enthält sinnvolle Weiterentwicklungen der
Kinder- und Jugendhilfe. Zum Beispiel werden durch
eine Stärkung der Steuerungskompetenzen der
Jugendämter, insbesondere durch Einschränkung bei
der Selbstbeschaffung von Leistungen und bei intensivpädagogischen Maßnahmen im Ausland, Einsparmöglichkeiten für die Kommunen eröffnet.
Ich begrüße auch ausdrücklich die angemessene Kostenbeteiligung von Eltern und die Berücksichtigung des
Kindergeldvorteils bei Leistungen, die den Unterhalt des
Kindes aus öffentlichen Kassen sichern. Auch die Konkretisierung des Schutzauftrages des Jugendamtes und
die Klarstellung der Befugnisse bei Inobhutnahme sind
ein Fortschritt. Eine scharfe Prüfung von Personen mit
bestimmten Vorstrafen im Hinblick auf ihren Einsatz in
der Kinder- und Jugendhilfe sollte eigentlich schon
heute selbstverständlich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit KICK und KEG
stand die Wertigkeit der Kinder- und Jugendpolitik auf
dem Prüfstand. Wir Liberalen haben uns kritisch, sachorientiert und konstruktiv - auch mit zwei Anträgen bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen eingebracht
und sind dabei auch über parteipolitische Schatten gesprungen. Das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich.
Ich kann Ihnen sagen: So werden wir es auch weiterhin
tun, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn
es um Kinder und Jugendliche geht.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über das TAG, was auf Amtsdeutsch Tagesbetreuungsausbaugesetz heißt. Noch einmal übersetzt: Es geht
um Kinder und es geht um ihre Betreuung in Kindertagesstätten. Der PDS geht es außerdem um eine garantierte und um eine qualifizierte Betreuung.
({0})
Rein statistisch ist Deutschland bei der Kinderbetreuung Schlusslicht in Europa. Hinzu kommt ein
großes Ost-West-Gefälle. 37 Prozent aller Kinder bis
drei Jahre können in den neuen Bundesländern betreut
werden, was wesentlich an der Mitgift aus DDR-Zeiten
liegt. In den alten Bundesländern liegt die Betreuungsquote im Durchschnitt bei peinlichen 2,7 Prozent. Das
umschreibt die ganze Misere.
({1})
Nun soll die Tagesbetreuung ausgebaut werden. Das
ist der Sinn des Gesetzes. Die PDS begrüßt das ausdrücklich.
({2})
CDU/CSU haben das Gesetz bislang angefochten. Ihr
Argument: Die Kinderbetreuung falle nicht in die Kompetenzen des Bundes, sondern sei Sache der Länder. Ich
merke an: Den Kindern und Eltern hilft das wenig, zumal die unionsregierten Länder bei der Kinderbetreuung
am schlechtesten dastehen.
Außerdem - so argumentieren Kritiker des Gesetzes würden die Kommunen damit finanziell überlastet. Sie
wollen Kinderbetreuung bestenfalls nach Kassenlage.
Ich merke an: Damit würde alles so bleiben, wie es ist,
und zwar zulasten der Kinder und zulasten der Eltern.
Rot-Grün veranschlagt summa summarum vier Milliarden Euro, davon 1,5 Milliarden Euro, die den Kommunen, wie gesagt wird, dank Hartz IV erspart würden.
Dazu kann ich nur anmerken: Das sind, wenn überhaupt,
Peanuts im Vergleich zu den Steuergeschenken, die RotGrün an Wohlhabende und Unternehmen verteilt hat
({3})
und die der Opposition zur Rechten noch nicht weit genug gehen.
({4})
Nun komme ich zu den inhaltlichen Tücken des Gesetzentwurfs. Wenn es um eine bessere Kinderbetreuung geht, dann muss ausgeschlossen werden, dass es Betreuung guter und Betreuung niedriger Qualität gibt.
Darauf macht die GEW mit Blick auf Ihren Gesetzentwurf aufmerksam. Die Gefahr ist auch nicht gebannt,
wenn wir heute zustimmen, und sie wächst, wenn so genannte Ein-Euro-Jobber befristet zur Kinderbetreuung
eingesetzt werden. Das lehnt die PDS ab.
({5})
Wir brauchen zudem einen individuellen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, so wie das im rot-grünen
Koalitionsvertrag einst vorgesehen war. Innerhalb einer
Übergangsfrist muss er mindestens für Kinder von Erwerbstätigen, von Arbeitsuchenden und von Eltern in
Aus- und Fortbildung sowie für Kinder mit besonderem
Erziehungsbedarf gelten und danach generell.
Die PDS fordert übrigens ähnliche Regeln für Schulkinder, insbesondere dort, wo es keine Ganztagsschulen
gibt, allemal in sozialen Brennpunkten.
Schließlich: Wer eine gute Kinderbetreuung will, und
zwar für alle, der sollte in einem ersten Schritt alle von
Hartz IV betroffenen Familien von den üblichen Gebühren befreien.
({6})
Ich erteile Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte für die Zuhörerinnen und Zuhörer einfach einmal klarstellen bzw. richtig stellen: Was wir eben gehört
haben, war eigentlich ein Beitrag zu einem Gesetz, das
bereits seit Januar in Kraft ist. Wir reden heute über den
zweiten Teil der Reform und dabei geht es um die Kinder- und Jugendhilfe. Dazu haben die Ministerin und
viele Kolleginnen und Kollegen Stellung genommen.
Die Diskussion führen wir seit Jahren. Sie wird nicht
immer so geführt, wie ich sie mir wünsche, nämlich
sachlich und an den Kindern und Jugendlichen orientiert. Sie wird dominiert von den Kameralisten und von
denen, die gern Stimmung machen. Es gibt Schlagzeilen
wie „Internatsaufenthalte in Schottland für Millionärskinder“, so erst vor kurzem bei mir in einem ländlichen
Wahlkreis. Daraufhin habe ich den Jugendamtsleiter angerufen und gesagt: Herr Schmidt, erklären Sie mir doch
einmal, warum der CSU-Kollege in der Zeitung heute
von ausuferndem Missbrauch spricht! Wie viele haben
Sie denn schon nach Schottland oder ins sonstige Ausland geschickt? Darauf hat er geantwortet: Frau
Rupprecht, das haben wir noch nie gemacht. Dann habe
ich gefragt: Wie kommt der Kollege denn dazu, so etwas
in die Zeitung zu setzen und zu verbreiten, das sei die
Regel?
Eine andere Schlagzeile ist: Luxusnachhilfe für Kinder von Reichen. - Klar, da erhitzen sich die Gemüter.
Auch mich würde es furchtbar nerven, wenn ich den
Kindern eines Millionärs auch noch die Nachhilfe zahlen
sollte. Dass damit Stimmung gemacht wird und der Eindruck hervorgerufen wird, hier finde maßlos Missbrauch
statt, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer dies macht,
hat natürlich eine Absicht. Er will bezwecken, dass wir
die Kinder- und Jugendhilfe nur noch mit dem Blick auf
möglichen Missbrauch anschauen.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gern auf die Kinderund Jugendhilfe lenken. Was ist denn Kinder- und Jugendhilfe? Worum geht es da? Worum geht es in unserem Entwurf? Ich will dazu noch einmal auf den
§ 35 SGB VIII - heute schon mehrfach zitiert und mehrfach vorgetragen - hinweisen. In diesem Bereich geht
man unterschwellig immer davon aus, dass Missbrauch
stattfindet, dass Leute öffentliche Leistungen bekommen, die ihnen nicht zustehen. Wenn das so wäre, dann
gibt es dafür Ursachen. Entweder ist das Gesetz ungenau
oder der, der die Leistung bewilligt, weiß nicht, was er
bewilligt. Wenn das Gesetz die Ursache ist, muss das
Gesetz geändert werden. Wenn derjenige, der die Leistung bewilligt, einen Fehler macht, muss der Landrat
oder Oberbürgermeister ihm kräftig auf die Finger klopfen.
Kollegin Rupprecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dörflinger?
Wunderbar. Herr Dörflinger, Sie geben mir Zeit, um
das dann vielleicht noch etwas deutlicher auszuführen.
Frau Kollegin Rupprecht, ich brauche nur ein bisschen Aufklärung.
({0})
Dazu bin ich da.
Sie haben eben dargestellt, dass es keinen Missbrauch
gebe bzw. die Darstellungen über Missbräuche im Zusammenhang mit dem KJHG weit übertrieben seien.
Können Sie mir erklären, warum die Ministerin in ihrem
Beitrag davon gesprochen hat, dass man den Selbstbedienungsladen beseitigen müsse?
({0})
Herr Dörflinger, es geht nicht um Missbräuche, sondern darum, dass Eltern, die Probleme mit ihren Kindern
haben, Leistungen in Anspruch nehmen, ohne das Jugendamt vorher zu konsultieren und dort die Leistungen
genehmigen zu lassen. Dieses Vorgehen haben wir unterbunden. Selbstbeschaffte Leistungen werden nicht mehr
ersetzt. Dabei ging es aber nicht um Missbrauch, sondern schlicht und ergreifend darum, dass Eltern in ihrer
Not zum Arzt gegangen sind und dieser nach der Untersuchung gleich mit der Therapie angefangen hat. Hier
haben wir präzisiert, was bisher schon im Gesetz stand,
Marlene Rupprecht ({0})
indem wir denjenigen, die Texte nicht gründlich lesen
können, Nachhilfe gegeben haben.
({1})
So gilt nun, dass jemand, der ein Gutachten erstellt, nicht
sofort eine Therapie durchführen darf. Vielmehr muss
erst das Jugendamt darüber entscheiden. Das, was schon
bisher im Gesetz stand und nun von uns noch einmal
klargestellt wurde, ist höchstrichterlich mehrmals so bestätigt worden.
({2})
- Bei manchen dauert die Aufklärung halt etwas länger.
Schauen wir uns einmal die Praxis an. Ich kann jetzt
nur für Bayern sprechen, weil ich von dort komme; das
ist meine Heimat, dort fühle ich mich wohl. Ich habe
20 Jahre Schuldienst in Bayern hinter mir, daher weiß
ich, was war. Damals habe ich noch eine Ausbildung für
lese- und rechtschreibschwache Schüler bekommen. In
Bayern passierte nun Folgendes: Man hat den Umgang
mit diesem Problem aus der Schule in Privatpraxen verlagert; die Schulen haben sich also dieses Problems entledigt. Wir haben das nun klar geregelt: Die Behebung
von Lernschwierigkeiten gehört in die Schulen. Erst
wenn die Lernschwierigkeiten zu seelischer Behinderung führen, ist das Jugendamt zuständig. Damit das klar
ist, haben wir es noch einmal unter dem Stichwort
„Nachrang der Jugendhilfe“ in das Gesetz geschrieben.
Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist nämlich an sich
nicht seelisch behindert. Sie können jetzt natürlich fragen, ob man „seelische Behinderung“ überhaupt klar definieren könne. Darauf antworte ich Ihnen, dass es hier
ganz klare internationale Klassifizierungen gibt. Diese
können Sie nachlesen.
Ich glaube, dass jetzt mit unseren Regelungen zu
§ 35 a eindeutig und klar geregelt ist, wie das Verfahren
abläuft und wer wofür zuständig ist. Dass wir insgesamt
einen Aufwuchs verzeichnen, liegt daran, dass es
schlicht und ergreifend mehr Fälle gibt.
({3})
Wenn Sie die Zahl der Fälle verringern wollen, müssen
Sie die Strukturen vor Ort so verändern, dass Familien
rechtzeitig Hilfe bekommen. Wenn man sich dagegen die
Situation in Bayern anschaut, fragt man sich, was der
CSU die Familie noch wert ist. So steht in einem Artikel
aus Regensburg - das ist Ihr Wahlkreis, Frau Eichhorn vom 1. Juni: „Freistaat spart bei der Erziehungsberatung“.
({4})
Die Staatsregierung fährt die Beiträge für die Erziehungsberatung brutal herunter und erwartet, dass die Eltern zur Selbsthilfe greifen, wenn sie Hilfe brauchen. So
stellen wir uns strukturelle Jugendhilfe nicht vor.
({5})
Was wir wirklich nicht brauchen können, ist die Streichung von Hilfen.
Ich muss Ihnen auch noch etwas anderes vorhalten,
was Bayern mit dem kommunalen Entlastungsgesetz
vorhatte. Laut KEG ist die Fortgeltung abgelaufener
Vereinbarungen rigoros auf sechs Monate beschränkt.
Danach lassen Sie es frei floaten. Das bedeutet für alle
Heimbewohner: Die Kostensätze sind frei, jeder kann
verhandeln, wie er mag, und die Angestellten, die Pfleger und Betreuer, die dort arbeiten, müssen die neu ausgehandelten Tarife akzeptieren oder werden entlassen.
Das haben Sie Gott sei Dank, weil auch Sie es mies fanden, abgelehnt. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es
nach der Bundestagswahl, die ja nun bald bevorsteht,
wieder eingebracht wird.
Das Allerschlimmste ist aber der Halbsatz, dass nur
nach der Finanzkraft der Kommunen gehandelt wird.
Gestern hat die Kollegin Fischbach, heute hat die Kollegin Eichhorn ausgeführt, dass die CDU/CSU verhindert
hätte, dass die entsprechende Formulierung in den Entwurf des SGB XII kommt. So ist das halt, wenn man
nicht genau liest. Das ist wirklich ein Drama.
({6})
In diesem Entwurf und bei dem, was Sie zitierten,
geht es darum - so ist das in allen Sozialgesetzen -, dass
Haushaltspolitiker die Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit immer präzise berücksichtigen
müssen, wenn sie Geld ausgeben. Es darf nicht so sein
wie bei Ihnen, dass nur noch bezahlt wird, wenn Geld da
ist. Das ist eine Veränderung des Staates weg vom Sozialstaat hin zum Almosenstaat.
({7})
Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt: Mit uns nicht!
Ich denke, die Menschen draußen werden das auch nicht
wollen. Die, die keinen Staat brauchen, können gut darauf verzichten; die Mehrheit der Bevölkerung aber
kommt irgendwann im Leben an einen Punkt, an dem sie
die Hilfe der Gemeinschaft braucht. Da brauchen wir die
Unterstützung und die Solidarität der anderen.
Sie sagen - das ist der gravierende Unterschied -: Es
muss an die Sätze für Sozialhilfeempfänger herangegangen werden; sie müssen verändert und angepasst werden. Das ist Originaltext aus Bayern. Sie wollen hier totale Änderungen vornehmen und das Sozialhilfeniveau
absenken. Wir dagegen sagen: Menschen brauchen ein
bestimmtes Einkommen, damit sie leben können. Ihr
Menschenbild möchte ich nicht unterstützen. Ich glaube,
das KEG, das Sie jetzt ganz mutig abgelehnt haben,
kommt - nach der Wahl - wieder im Rollback zurück.
Ich hoffe und wünsche es der Bevölkerung, dass Sie
keine Gelegenheit zur erneuten Ablehnung bekommen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort der Kollegin Verena Butalikakis,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Rupprecht, wir sprechen hier natürlich
nicht nur über die Kinder- und Jugendhilfe, sondern wir
sprechen beim heutigen Tagesordnungspunkt auch über
das Sozialhilferecht. Dazu kann ich nur wiederholen:
Wir sprechen auch über die Finanzierbarkeit von Leistungen.
Die finanzielle Situation der Kommunen ist äußerst
angespannt - deutlicher gesagt: die Lage ist katastrophal -, und das seit Jahren.
({0})
Das Gesamtdefizit war im Jahre 2003 auf der Rekordhöhe von 8,5 Milliarden Euro. Nach einem kurzfristigen
Absinken im Jahre 2004 - weil die Kommunen so bei
den Investitionskosten gespart haben - wird von den
kommunalen Spitzenverbänden für dieses Jahr wieder
ein Anstieg auf ungefähr 7 Milliarden Euro prognostiziert, das heißt Schulden in Höhe von 7 Milliarden Euro.
Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Was hat denn
die Bundesregierung oder die Regierungskoalition getan
angesichts dieser dramatischen Lage? Ich will nur noch
einmal darauf hinweisen: Die den Kommunen im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe versprochene Entlastung
({1})
in Höhe von 2,5 Milliarden Euro findet, wenn überhaupt,
nur in geringerem Maße statt
({2})
- die Zahlen liegen noch gar nicht vor -; denn wir alle
wissen, dass natürlich genau von diesen 2,5 Milliarden
Euro - ({3})
- Ich finde es schön, dass Sie so aufgeregt sind. Ich habe
die Umfragen in der ARD heute auch gehört. Merkel
liegt mit riesigem Abstand vor Schröder, das macht Sie
natürlich nervös. Aber vielleicht hören Sie trotzdem
noch einmal zu.
({4})
Also, wir alle wissen, dass von diesen versprochenen
2,5 Milliarden Euro natürlich mehr als die bisher angegebenen 1,5 Milliarden Euro für die Kindertagesbetreuung ausgegeben werden müssen.
Als Hauptursache der Verschuldung der Kommunen sind die ständig steigenden Sozialausgaben anzusehen. In den Jahren 2000 bis 2004 haben wir hier einen
Anstieg um 6 Milliarden Euro zu verzeichnen, bei einem
Gesamtvolumen in 2004 von über 32 Milliarden Euro.
Deshalb ist es angesichts der finanziellen Not der Kommunen richtig und notwendig, finanzielle Entlastungsvorschläge zu machen. Genau dies erfolgt mit dem vom
Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich.
Im Kinder- und Jugendhilfebereich und im Bereich
des Sozialhilferechts werden hier konkrete Änderungsvorschläge vorgelegt, die zu Einsparungen führen; für
den Sozialhilfebereich, auf den ich mich beziehe, in
Höhe von 300 Millionen Euro.
Dass es richtig ist, Entlastungsvorschläge zu machen,
ist das eine. Die im Art. 3 vorgesehene Finanzkraftklausel, die ja heute schon mehrfach angesprochen worden ist und offensichtlich nicht von allen verstanden
wird, bezieht sich auf alle Sozialgesetzbücher.
({5})
Meine Kollegin Eichhorn hat dazu schon Näheres gesagt.
Ich will einmal eines ganz deutlich festhalten: Die unterschiedliche Finanzkraft der öffentlichen Träger darf
nicht zu unterschiedlichen Lebensverhältnissen in diesem Lande führen. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit
hier im Haus. Ich will aber an dieser Stelle daran erinnern, weil das immer ein bisschen durcheinander geht.
({6})
Ich war in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses Ende 2003, die sich mit dem Sozialgesetzbuch XII
beschäftigt hat. In dem Entwurf der rot-grünen Bundesregierung, von Sozialministerin Ulla Schmidt eingetragen, stand die Finanzkraftklausel.
({7})
Das ist auch nie bestritten worden, im Gegenteil. Man
hat das daran gemerkt, dass die kommunalen Spitzenverbände gejubelt und gesagt haben: Wunderbar, da ist die
Finanzkraftklausel! Es war die CDU/CSU in dieser Arbeitsgruppe, die genau diese Finanzkraftklausel hat streichen lassen, aber in dem Einvernehmen, dass - so steht
es auch im Protokoll des Vermittlungsausschusses - eine
Arbeitsgruppe eingerichtet werden soll, die sich mit den
möglichen Einsparungen, die die Kommunen gerade im
sozialhilferechtlichen Bereich erreichen könnten, beschäftigen soll.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Humme?
({0})
Nein, ich möchte das gerne zu Ende bringen.
({0})
- Das fällt mir nicht schwer. - Diese Arbeitsgruppe, wie
sie im Protokoll vermerkt ist, ist nie eingesetzt worden;
das heißt, wir haben keine Entlastungsmöglichkeiten für
die Kommunen.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
steht dafür ein. Um den Menschen und den Kommunen
wirklich zu helfen, brauchen wir eine Gesamtkonzeption. Wir brauchen eine vernünftige Gemeindefinanzreform
({1})
und wir brauchen grundlegende Änderungen im sozialen
Bereich.
({2})
Im Sozialhilfebereich weist die Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen eine dynamisch wachsende
Kostenentwicklung auf. In einem Zeitraum von nur zehn
Jahren, von 1993 bis 2003, haben sich die Ausgaben fast
verdoppelt
Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Was ist
denn die Ursache? Missbrauch, oder was?)
und alle Fachleute sind sich einig, dass die Kostensteigerungen anhalten werden.
Um die kommunalen Finanzen von diesem Risiko zu
entlasten und vor allem um die Versorgung behinderter
Menschen auch in Zukunft sicherzustellen, muss die
Eingliederungshilfe auf eine neue Grundlage gestellt
werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Einbeziehung des Kindergeldes bei volljährigen Behinderten
zu klären sein.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits im Oktober
2003 bei der ersten Beratung zum SGB XII - das ist
jederzeit nachzulesen, weil der Entschließungsantrag
vorliegt - die Bundesregierung aufgefordert, mit der
Erarbeitung eines eigenständigen, von der Sozialhilfe
unabhängigen Leistungsgesetzes zu beginnen. Die rotgrüne Bundesregierung lehnt dies bisher ab.
({3})
- Wir reden über ein Leistungsgesetz, Frau Kollegin
Rupprecht. Ich glaube, Sie wissen jetzt nicht so richtig
die Unterscheidung zu treffen.
({4})
Ich will einen weiteren Punkt in dem vorliegenden
Gesetzentwurf ansprechen, den auch der Kollege von
der FDP aufgegriffen hat und der thematisch eigentlich
auch schon im Rahmen der Föderalismuskommission
besprochen worden ist. Dazu will ich festhalten: Wiederum im Sinne von einheitlichen Lebensbedingungen
in Deutschland halten wir die Regelungskompetenz des
Bundes, bezogen auf die Bemessungskriterien für die
Bestimmung der Regelsätze und bezogen auf die Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe, nach wie vor für notwendig.
Meine Damen und Herren, der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf belegt ein weiteres Mal, wie groß
der Handlungsbedarf im Hinblick auf die Finanzsituation der Kommunen ist.
Mehrere Punkte - ich betone: mehrere Punkte - aus
dem Gesetzentwurf sind wichtig und richtig. Aber nur
ein Gesamtkonzept kann den Leistungsbedarf der Hilfebedürftigen sichern und gleichzeitig die Kommunen
wieder handlungsfähig machen.
({5})
Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf ab.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Seit zwei Jahren diskutieren wir nun Lösungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. In den zwei Jahren - die
Rede vorher hat mich in meiner Auffassung bestätigt hatte ich immer den Eindruck, dass der Fachausschuss
- das ist der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend - eigentlich zum Finanzausschuss degradiert
wurde.
({0})
Denn die Interessen von Kindern und Jugendlichen standen bei Ihnen von der Union meiner Ansicht nach zu selten im Vordergrund.
({1})
Ich sage an dieser Stelle Folgendes sehr deutlich. Für
uns rot-grüne Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker
war von Anfang an klar: Leistungskürzungen für Kinder
und Jugendliche, die unserer Hilfe bedürfen, wird es mit
uns nicht geben. Darauf können sich die Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft verlassen.
({2})
In zwei Anhörungen 2003 und 2004 haben uns die jugendpolitischen Fachleute mit großer Mehrheit Recht
gegeben. Die von Bayern 2003 eingebrachte Initiative
zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und
das ebenfalls von Bayern - wir haben es heute oft genug
gehört - vorgelegte Kommunale Entlastungsgesetz, das
so genannte KEG, wurden nahezu von allen Sachverständigen abgelehnt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, erstaunlicherweise lehnen Sie heute das bayerische KEG
ab. Dazu beglückwünsche ich Sie. Aber zu glauben, Sie
hätten aus der Anhörung die richtigen Lehren gezogen,
wäre falsch.
({3})
Sie lehnen zwar heute den Gesetzentwurf Ihrer eigenen
Länder ab, führen aber das KEG mit Ihrem Entschließungsantrag durch die Hintertür sozusagen als „KEG
light“ wieder ein. Das ist Tricksen und Täuschen; das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({4})
Wenn man im Wahlkampf bestehen will, dann gehört
Ehrlichkeit dazu.
({5})
An Frau Butalikakis und an Frau Eichhorn gerichtet
möchte ich sagen: Sie beziehen sich immer auf unseren
Gesetzentwurf zum SGB XII und behaupten steif und
fest, wir hätten die Finanzkraftklausel in § 70 gefordert.
({6})
Erstens steht in § 70, dass die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen ist. Es
ist nichts also von einem Kahlschlag zu lesen, den Sie
wollen. Zweitens bezog sich dieser § 70 nur auf eine
kleine Vereinbarung mit den Trägern. Sie fordern aber,
die Leistungen im gesamten Sozialgesetzbuch für alle
Bereiche zu kürzen. Das geht zu weit; das lehnen wir
strikt ab.
({7})
Zur Ehrlichkeit gehört auch, die ganze Wahrheit und
nicht nur einen Teil der Wahrheit zu sagen.
Wir wollen das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterentwickeln. Damit entlasten wir auch die Kommunen,
aber eben nicht auf dem Rücken der Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich der Kinder und Jugendlichen,
die unserer Hilfe bedürfen. Gerade bei Ihren Forderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz legen Sie offen,
was konkrete Politik bei Ihnen tatsächlich heißt. Ihre
Vorschläge, meine Herren und Damen von der Union,
sind sozial ungerecht und gehen zulasten der Menschen
mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Mittlerweile zieht sich das wie ein „schwarzer“ Faden
durch all Ihre Maßnahmen in den unterschiedlichsten
Politikfeldern: Wer wird belastet, wenn Sie die Steuerfreiheit auf Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge
abschaffen? - Die Krankenschwester, die Nachtschichten macht, und der Arbeiter bei VW, der im Dreischichtsystem arbeitet.
({8})
Wer wird durch die Kopfpauschale, die Sie vorschlagen,
belastet? - Die Sekretärin, die für ihre Krankenversicherung ebenso viel zahlen müsste wie ihr Chef. Wer wird
belastet, wenn Sie die Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe kürzen? - Die Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder und Jugendlichen.
Meine Herren und Damen von der Union, das
Schlimmste ist: Sie verschlechtern die Chancen der jungen Menschen und sparen noch nicht einmal Kosten ein,
sondern verschieben sie bloß. Sie lösen damit kein einziges Problem.
Sie wollen die Hilfen für junge Volljährige massiv
einschränken; um das als Beispiel zu nennen. Wir haben
es vorhin sowohl von der Frau Ministerin als auch von
meinen Vorrednerinnen gehört. Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen teuer zu stehen kommen.
({9})
Denn wenn wir diesen jungen Menschen jetzt keine
Hilfe geben, ist nicht selten ein späteres Abrutschen in
Drogensucht, Straffälligkeit oder Obdachlosigkeit die
Folge.
({10})
- Das ist so. - Präventive Maßnahmen sind besser als ein
nachträgliches Kurieren; das ist ganz klar. An dieser
Stelle haben wir die richtige Politik, indem wir die Prävention in den Vordergrund stellen.
({11})
Deshalb gehen wir mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe,
dem KICK, einen anderen Weg als Sie, einen Weg, der
nachhaltiger und gerechter ist. In unserem KICK gibt es
weiterhin zielgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche.
Zudem entlasten wir die Kommunen. Darum ist es mir
völlig unbegreiflich, dass Sie heute, wie es vorhin in einer Rede der Fall war, die Belastung der Kommunen bejammern und unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen
können. Denn mit unserem Gesetzentwurf erhalten die
Kommunen eine Entlastung von rund 200 Millionen
Euro.
({12})
Das sind Entlastungen, die sie zusätzlich für den Ausbau
der Betreuung von unter Dreijährigen dringend brauchen. Denn wir wollen die Chancen der Kinder auf Bildung und Betreuung verbessern und nicht verbauen, wie
Sie das wollen.
Unsere Politik ist - das zeigt KICK ganz deutlich sozial gerecht. Ich weiß, dass die Jugendverbände, die
die Interessen der Kinder und Jugendlichen wahrnehmen, Ihre Vorschläge schon seit Monaten kritisieren. Ich
sage Ihnen an dieser Stelle: Wir stellen uns an die Seite
der Jugendverbände, an die Seite der Kinder und Jugendlichen und kämpfen mit ihnen für die Durchsetzung
ihrer Interessen. Wir sagen „Stopp!“ zu Ihrer ungerechten Politik.
Danke schön.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes, das sind die Drucksachen 15/3676,
15/3986 und 15/4045. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den bislang
noch nicht abschließend beratenen Teil des Gesetzentwurfes auf den Drucksachen 15/3676 und 15/3986 als
Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
({0})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5622? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5623? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP
abgelehnt.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen
im sozialen Bereich; das ist Drucksache 15/4532. Der
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5616, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses bei einer Enthaltung und einer Zustimmung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5624. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen
Fraktionen abgelehnt worden.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/4158. Der
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Wachstum in Deutschland und Europa stärken - Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln
- Drucksachen 15/5025, 15/5614 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kenneth
Rogoff, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, hat gesagt: Wenn die Europäer in
naher Zukunft mehr Wachstum sehen wollen, müssen
sie den Fernseher anschalten. Das sind harte Worte,
aber Recht hat er. Wenn man die neuen Wachstumsprognosen der EU-Kommission ansieht, stellt man fest,
dass zwar die Weltwirtschaft robust ist - China, Indien,
die Schwellenländer wachsen -, aber der Euroraum in
diesem Jahr nur auf bescheidene 1,4 Prozent Wachstum
kommt. Letztes Jahr hatten die USA 4,4 Prozent
Wachstum, der Euroraum mickrige 2,1 Prozent. Das
Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt in Europa bei 72 Prozent
von dem der USA. Die USA haben eine Beschäftigungsquote, die 10 Prozent höher liegt als die der EU.
Was sagt uns das? Es sagt uns, dass das ehrgeizige
Ziel, das wir uns vor fünf Jahren in Lissabon gesetzt haben - Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen -, in
weite Ferne gerückt ist. Das Ziel war ehrgeizig, es war
aber auch richtig. Die Zwischenbilanz, die jetzt, nach
fünf Jahren, gezogen worden ist, ist ernüchternd. Meine
Damen und Herren von Rot-Grün, an dieser Ernüchterung haben Sie einen ganz großen Anteil.
({0})
Wenn man den Kok-Bericht ansieht, stellt man vor allem fest: Es mangelt an dem politischen Willen in den
Mitgliedstaaten. Schöne Worte und Ankündigungen, die
immer wieder gemacht werden - vor allem von Ihrer
Seite -, tragen nicht dazu bei, dass wir zu mehr Wirtschaftswachstum kommen. Der Kommissionspräsident
hat hier klare und mutige Worte gefunden, als er gesagt
hat: So wie in den letzten fünf Jahren kann es hier nicht
weitergehen. Es ist richtig, wenn mit den neuen Vorschlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen, Wachstum und
Beschäftigung in den Mittelpunkt rücken. Das entspricht genau der Aussage der Union: Wachstum und
Beschäftigung sind das A und O und müssen für uns zukunftsweisend sein.
Das Ziel, das gesetzt worden ist, ist ehrgeizig und es
ist auch wichtig, die Abstimmung der EU-Länder effizienter zu gestalten. Aber Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitik sind in erster Linie nationale Aufgaben. Wir selbst sind gefordert, unsere Hausaufgaben zu
machen. Wir selbst sind gefordert, aus eigener Kraft unsere Wirtschaft wieder aufzurichten. Es geht in erster Linie um uns, um unser Land und um unsere Menschen. Es
geht um unsere Verantwortung, die Verantwortung, die
wir in Deutschland haben: für das Ganze und auch für
Europa. Wir haben Pflichten, die sich auch aus der Lissabon-Strategie ergeben.
Die deutsche Wirtschaft ist bei weitem die größte in
Europa. Wir erwirtschaften ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts der EU der 25. Wenn wir unser Wachstumspotenzial betrachten, dann erkennen wir, dass wir
nicht entsprechend diesem Potenzial wachsen. Unser
Wachstum stagniert leider. Das Zugpferd, das wir vor
vielen Jahren gewesen sind - wir als Deutsche waren
stolz darauf, wir sind mit unserem Wachstum nach vorne
gegangen und haben Europa gezogen -, sind wir heute
nicht mehr, wir sind im Zug nach hinten abgedriftet.
2005 und 2006 werden wir wieder die Allerletzten des
Wachstumszugs in Europa sein. Das heißt, wir Deutsche
tragen durch Ihre Politik die Verantwortung dafür, dass
Europa und seine Zahlen derart nach unten gezogen werden.
Seit Rot-Grün an der Regierung ist, hatten die Wachstumszahlen bis auf ein einziges Mal immer eine Null vor
dem Komma. Auch dieses Jahr wird das Wachstum voraussichtlich nicht höher als 0,7 Prozent liegen. Wir sind
also meilenweit von den 2 Prozent der Beschäftigungsschwelle entfernt. Ein so hohes Wachstum brauchen wir,
wenn wir zu mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten kommen wollen. Auch die Zahlen, die uns
jetzt vorliegen, sind nicht positiv. Die inländische Nachfrage schrumpfte im ersten Quartal wiederum um
0,6 Prozent. Besonders enttäuschend war die Entwicklung des privaten Verbrauchs. Das jüngste Bild, das uns
durch die Zahlen vermittelt wird, zeigt, dass sich bei uns
leider nichts ändert.
({1})
Wir haben immer noch das alte, bekannte Bild: Die Binnenkonjunktur liegt flach und das Einzige, das uns noch
einigermaßen aufrechterhält, ist die Außenwirtschaft.
Selbst außenwirtschaftlich gute Rahmendaten, die wir
durch die Weltwirtschaft haben, reißen uns aufgrund Ihrer verkorksten Politik, die uns inzwischen auf das ökonomische Abstellgleis geführt hat, nicht heraus. Es ist
traurig, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün, es geschafft haben, unser Land bis auf die
Substanz herunterzuwirtschaften.
({2})
Es nützt auch nichts, wenn immer wieder versucht
wird, irgendeinen Sündenbock zu finden. Sie finden ja
immer irgendeinen Sündenbock, nur an Ihre eigene Nase
fassen Sie sich nie. Der neueste Sündenbock sind jetzt
Europa bzw. die Euroeinführung, die für die anhaltende
Wachstumsschwäche verantwortlich sein soll. Ein anderes Mal war es der Stabilitätspakt. Ich sage: Deutschland
hat seinen wirtschaftlichen Vorteil weniger durch die
Einführung des Euro als durch die Amtseinführung dieser Regierung verloren.
Sie haben inzwischen offensichtlich jegliche Art von
Hemmung verloren. Man braucht sich nur Ihren Haushalt anzuschauen. Das vierte Mal in Folge verstoßen Sie
gegen den Stabilitätspakt. Das ist jetzt schon ganz normal; das ist Usus, das ist Tradition. Das ist offensichtlich
nichts Schlimmes. Das war schon immer so und das wird
auch weiter so sein. Das regt Sie überhaupt nicht mehr
auf.
({3})
Wir wissen doch eines: Das Wichtigste für Wachstum
und Beschäftigung sind eine solide Haushaltspolitik und
eine solide Finanzpolitik.
({4})
Wenn Sie diese nicht betreiben, dann können Sie alle
Hoffnungen vergessen, das Land nach vorne zu bringen
und für mehr Wachstum zu sorgen, das mehr Menschen
in Arbeit bringt.
({5})
Deswegen kann ich nur sagen: Es ist ein Segen, dass Sie
Ihre Regierung nun selbst abwickeln, auch wenn Sie
noch nicht genau wissen, wie.
({6})
Wir werden sehen, was Sie uns hier am 1. Juli 2005 vorlegen werden.
Wir als Union werden ehrlich sein und den Menschen
nicht versprechen, dass wir sofort, von heute auf morgen, ein anderes Wachstum haben werden. Wir werden
Zeit brauchen, um aus dieser Misere, die Sie zu verantworten haben, wieder nach oben zu kommen. Wir werden es probieren und unsere Kräfte einsetzen, um wachstumsfördernde Maßnahmen auf den Weg zu bringen,
sodass wir wieder stolz auf unser Land sein können und
sagen können: Wir Deutsche wollen im Zug in Europa
wieder vorne sein und nicht vom Ausland bemitleidet
werden, weil wir ganz hinten vor uns hindümpeln.
({7})
Wir werden die Sache in die Hand nehmen. Wir werden Bürokratie abbauen. Wir werden - Sie können das
gerne im Protokoll nachlesen und es mir dann irgendwann vorhalten - kiloweise Gesetze entrümpeln, um
auch denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen, dem
Mittelstand, den Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrer
Überbürokratisierung zusätzlich belastet haben.
Eines werden wir bestimmt nicht machen: Wir werden bestimmt nicht wie Sie unsere Aufgabe darin sehen,
auf Richtlinien aus Europa etwas draufzusatteln. Diese
Übererfüllung von europäischen Richtlinien ist wachstumshemmend. Das bürokratische Monster namens Antidiskriminierungsgesetz ist das abschreckendste Beispiel für den Übereifer, den Sie von Rot-Grün immer an
den Tag legen.
({8})
Europa braucht nicht nur einen neuen Wachstumsimpuls aus Deutschland. Vor allem gilt jetzt nach den Voten
in Frankreich und den Niederlanden: Europa braucht
auch einen Begeisterungsschub. Wir haben die Verpflichtung, die Menschen mitzunehmen. Die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden müssen uns
aufrütteln. Wir müssen uns fragen, warum die Menschen
so entschieden haben. Wir haben die Verpflichtung, die
Menschen an Europa heranzuführen. Wir müssen auch
dafür sorgen, die Zwangsbeglückung, die zum großen
Teil aus Europa kommt, in Maßen zu halten. Auch das
ist unsere Verpflichtung als Deutsche und als Europäer.
({9})
Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Wir
müssen die Begeisterung für Europa wecken. Wir werden sie aber nicht wecken, wenn wir es wie diese Regierung machen und die Schuld für die Wachstumsschwäche in unserem Lande immer in Brüssel abladen. Ihr
Motto lautet ja: Einmal ist der Euro schuld, ein anderes
Mal ist der Stabilitätspakt schuld, aber die Regierung ist
nie schuld.
Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie wirklich
Ihre Hausaufgaben! Dafür sind Sie gewählt worden. Suchen Sie Lösungen für die Probleme und schieben Sie
die Schuld nicht immer auf andere! Sie sind noch immer
die Regierung.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Günter Gloser, SPDFraktion.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Ergebnisse der Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden erfordern in der
Tat, dass wir Antworten auf die Fragen der Globalisierung finden. Die Globalisierung wird von den Bürgerinnen und Bürgern in vielen Bereichen wahrgenommen
und sie fragen: Wer gibt uns Antworten? Kann das die
nationale Ebene machen oder muss das eher auf europäischer Ebene geleistet werden? Ich bin ganz klar der Auffassung, dass vieles in den Nationalstaaten erledigt werden muss, dass es aber ebenso erforderlich ist, dass die
Europäische Union als Ganzes handelt und Antworten
auf die Fragen der Globalisierung findet.
Sehr geehrte Frau Kollegin Wöhrl, wo haben Sie in
Ihrer Rede Antworten auf die vor uns liegenden Herausforderungen gegeben?
({0})
Manchmal habe ich gedacht: Das ist wie bei einem unzureichend ausgebildeten Arzt, der seinem Patienten nichts
anderes zu bieten hat als die Aussage: Weil Sie jetzt
krank sind, müssen Sie schneller wieder gesund werden.
Das ist mein Rezept. - Das ist aber gar kein Rezept.
({1})
Was muss konkret gemacht werden? Da Sie wieder einmal einem fröhlichen Marktradikalismus frönen, frage
ich mich, ob das die Antwort auf die Ängste und Nöte
der Bürgerinnen und Bürger ist.
({2})
Ich sage klipp und klar: Unsere Vorstellung von einer
Europäischen Union und die Lissabon-Strategie - darüber werden wir heute noch sprechen - sehen vor, dass
es eine Balance zwischen Europa als Wirtschaftsraum
und Europa als einer sozialen Union geben muss. Da
kann man nicht einfach sagen, dass einen eine Seite davon nicht interessiert. Sie und Ihr Ministerpräsident in
Bayern geben schon zu erkennen, dass Sie einen sozialpolitischen Kahlschlag veranstalten wollen. Das aber ist
keine Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnen
und Bürger. Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.
({3})
Sie stimmen immer wieder Ihre Klagelieder an. Frau
Wöhrl, ich frage mich immer: Wo waren Sie und die
CDU/CSU, als Sie in Ihrer Regierungszeit den Sozialsystemen, die in der Tat einer Reform bedürfen, die
finanziellen Lasten der deutschen Einheit aufgebürdet
haben?
({4})
Wie sähen denn die Sozialversicherungsbeiträge aus,
wenn das nicht geschehen wäre?
({5})
- Herr Grill, Sie haben - das muss immer wieder deutlich gemacht werden - durch die falsche Finanzierung
der deutschen Einheit die Sozialversicherungssysteme
belastet. Wir haben jetzt diese Hypothek. Die Bürger und
die Arbeitgeber haben sie heute noch zu tragen.
({6})
Wir wollen Sie an der Frage messen, was in Europa
und was auf der nationalen Ebene geleistet werden muss.
({7})
In Ihrem Antrag steht:
Bildung, Forschung und Entwicklung haben immer
noch einen zu geringen Stellenwert.
Oder:
Die Belastung für Unternehmen durch Steuern und
administrative Hemmnisse ist im internationalen
Vergleich zu hoch. ({8}) Die Ausgaben für Bildung
und Forschung bleiben hinter den vereinbarten Zielen zurück und haben eine zu geringe Ausstrahlung
auf die Wirtschaft.
({9})
Wie hat doch Frau Merkel so pathetisch gesagt? Ich will
dem Land dienen. ({10})
Das gilt doch nicht nur für die Regierung, das gilt auch
für die Opposition. Was machen Sie denn im Bereich der
Forschung? Wir sind es doch gewesen, die die Ausgaben
für Bildung und Forschung nach Ihren Kürzungen in
den Jahren bis 1998 erhöht haben.
({11})
Wir haben diesen Bereich ausgebaut.
({12})
- Daran ändert auch nichts Ihr Hinweis auf Ihre Elderstatesmen. - Wo sind denn beispielsweise die Initiativen
der Kollegen Koch und Wulff? Das Exzellenzprogramm
dieser Bundesregierung wird doch blockiert.
({13})
Alle Fachleute - auch konservative Ökonomen - sagen: Es hat gar keinen Sinn, einen Wettlauf beim Lohnund Sozialdumping mitzumachen. Wenn wir in einer
Wettbewerbsgesellschaft bestehen wollen, dann müssen
unsere Produkte besser werden und dann müssen wir bei
Bildung und Wissenschaft besser werden.
({14})
Aber was machen Sie? Seit Monaten wird dieses Programm blockiert. Warum denn eigentlich? Sie sollten
nicht immer alle Aufgaben der Regierung überlassen.
Sie könnten ganz klar sagen: Ja, Deutschland setzt ein
Zeichen im Bereich der Bildung und Forschung und wir
blockieren dieses Programm nicht.
Wenn Sie die Kongresse der Rektoren und Präsidenten von Universitäten verfolgen, dann wird Ihnen doch
klar, woher der Wind weht. Die warten darauf, dass sie
Geld bekommen. Sie aber verhindern dieses Projekt, nur
weil Sie eine Blockadestrategie verfolgen.
({15})
Kommen wir zu der schönen Mär von Bürokratie.
Wir hatten an diesem Mittwoch eine Anhörung zu der
Richtlinie über Dienstleistungsfreiheit. Es ging zwar in
erster Linie um juristische Aspekte, aber erfreulicherweise wurden auch wirtschaftliche Aspekte angesprochen. Da sagte ein Vertreter, der wirklich nicht der
Sozialdemokratie nahe steht, sondern die Kammern in
Brüssel vertritt, auf die Frage, warum sich so viele Ausländer als Selbstständige in Deutschland niederließen:
Das liegt einfach daran, dass in vielen Mitgliedsländern
der Europäischen Union ein viel größerer Verwaltungsaufwand als in Deutschland herrscht. Man braucht zahlreiche Bescheinigungen, aber in Deutschland ist das
nicht der Fall. - Sehen Sie!
({16})
Sie sollten nicht immer diese Mär verbreiten, wir hätten
einen überregulierten Staat. Es gibt Leute, auch in der
Industrie, die sagen, dass es nicht so ist, wie Sie es immer beschreiben. Im Übrigen sind auch wir dabei, in bestimmten Bereichen Bürokratie abzubauen.
({17})
Ich komme noch einmal zurück
({18})
auf die Lissabon-Strategie. Wir geben Herrn Kok Recht,
was die Prüfung der Lissabon-Strategie betrifft. Wir
müssen uns auf Ziele konzentrieren. Ich sage ganz bewusst: Mit Papierbergen kann man keine Probleme löGünter Gloser
sen. Ich sage aber auch: Wenn wir die Lissabon-Strategie
zum Erfolg bringen wollen, dann müssen wir auf diesen
Feldern unsere Akzente setzen. Frau Wöhrl, von Ihnen
habe ich keinen einzigen solchen Aspekt gehört, nur ein
laues Sommerliedchen, das übliche Wehklagen der
Union, aber keine konkreten Vorschläge. Das können
wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich möchte wissen,
wo Sie etwas ändern. Wollen Sie an die Sonntags- und
Feiertagszuschläge herangehen? Hat es etwas mit der
Lissabon-Strategie zu tun, ein soziales Ungleichgewicht
herbeizuführen? Was wollen Sie mit dem Flächentarifvertrag machen?
Gerade in einer Zeit, in der die Bürgerinnen und Bürger unsicher sind, müssen wir Politiker den Menschen
Sicherheit geben. Das heißt nicht, dass wir nicht reformbereit wären. Diese Regierung hat in den letzten Jahren
ständig Reformen durchgeführt. Wenn Sie die OECDBerichte lesen, dann stellen Sie fest, dass dort deutlich
zum Ausdruck gebracht wird, was Deutschland in den
letzten Jahren
({19})
im Bereich der Sozialversicherungssysteme angepackt
hat. Das betrifft auch den Bereich, der beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt diskutiert wurde, nämlich
die Bildungspolitik und die Ganztagesbetreuung. Sie haben die Maßnahmen doch immer verhindert. Wir haben
das Thema aufgegriffen. Sie sollten nicht so tun, als ob
Sie diejenigen gewesen seien, die die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf entdeckt hätten.
({20})
Sie sind erst nach zeitlicher Verzögerung dorthin gekommen.
Die Gestaltung der Lissabon-Strategie ist bei dieser
Bundesregierung und dieser Koalition in guten Händen.
Wer sich - wie Sie in den letzten Jahren - nur darauf beschränkt, zu blockieren, ist nicht tauglich, eine Regierung zu übernehmen.
Vielen Dank.
({21})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in dieser Woche tektonische Verschiebungen in Europa
erlebt. Die Volksabstimmungen in Frankreich und den
Niederlanden haben ein politisches Erdbeben ausgelöst.
Das Epizentrum ist sicherlich nicht Berlin, aber die
Noch-Regierung Schröder/Fischer trägt ein großes Maß
an Mitverantwortung für das Auseinanderdriften in
Europa.
({0})
Grün-Rot hat aus Deutschland eine Wachstumsbremse gemacht. Deutschland zieht Europa runter.
Deutschland stagniert mit einem Wirtschaftswachstum
irgendwo zwischen 0,7 und maximal 1 Prozent. In England liegt das Wachstum bei 2,8 Prozent, in Spanien bei
2,6 Prozent und in Frankreich immerhin noch bei
1,9 Prozent. Wir streiten uns seit Jahren mit Italien, wer
die rote Laterne in Europa trägt.
({1})
Im letzten Jahr hatten wir durch Kalendereffekte leichte
Verbesserungen.
Entscheidender Punkt ist, dass das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft mit etwa 1 Prozent zu
gering ist.
({2})
Das sagt Ihnen die Bundesbank, das sagen Ihnen die
Wirtschaftsforschungsinstitute und das sagen alle Sachverständigen. Die Amerikaner haben ein Potenzial von
gut 3 Prozent. Hier liegt der entscheidende Unterschied
und das ist der Grund für die Schwäche unserer Volkswirtschaft. Dieser Unterschied ist jedoch nicht gottgegeben. Man kann auf Regierungsgipfeln wie im Jahre 2000
in Lissabon tolle Wachstumsziele beschließen, zu Papier
bringen. Papier ist geduldig. Damit hat man aber in der
Sache noch lange nichts erreicht, wenn man sich zu
Hause nicht auf den Hosenboden setzt, seine Hausaufgaben erledigt und die Politik so gestaltet, dass man einen
eigenen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung
einbringen kann.
({3})
Grün-Rot hat genau das Gegenteil gemacht. Besonders die Grünen missbrauchen die EU-Vorlagen für ihre
Luxusagenda, siehe Gentechnikverhinderungsgesetz, siehe
Antidiskriminierungsgesetz, siehe Chemikalienpolitik.
Überall wird draufgesattelt. Zu Hause werden Luxusthemen wie Dosenpfand und Windrädchen befördert. Das
fällt jetzt auf einmal selbst der SPD auf.
({4})
Herr Gabriel, Herr Müntefering lassen grüßen. Manche
SPD-Kollegen haben sieben Jahre gebraucht, um zu
merken, dass die Grünen Jobs verhindern. Sie werden als
Siebenschläfer in die stolze Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie eingehen.
({5})
Die neue EU-Kommission hat die Lissabon-Strategie
auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert. Das ist
richtig. Aber wie reagiert Deutschland? Herr Eichel
möchte Europa am liebsten den Steuerwettbewerb per
EU-Beschluss verbieten. Dahinter steht der eigenartige
Satz: Statt selbst besser zu werden, müssen andere
schlechter werden.
({6})
Heute lesen wir in der „Süddeutschen Zeitung“ - eine
Ihnen sehr gewogene Zeitung -: Clement muss mit
Rücktritt drohen, damit das Thema Unternehmensteuer
in der Koalition überhaupt noch weiter angepackt wird.
({7})
Nur aufgrund der Rücktrittsdrohung von Herrn Clement
wird es offenbar noch behandelt.
Statt selbst ein einfaches, niedliches, gerechtes Steuersystem einzuführen, will man lieber Estland und Slowenien die Flat Tax verbieten. Mit einem solchen Ansatz
wird Europa nie zum dynamischsten Wirtschaftsraum
der Welt werden. Der nächste Beschlussvorschlag der
grün-roten Bundesregierung wird wahrscheinlich lauten:
Wir beschließen, dass China, Indien, Japan und die USA
nicht mehr so stark wachsen dürfen, wie sie es bisher
tun. - Das ist natürlich eine geniale Politik, um die eigenen Probleme zu lösen.
({8})
Es geht jetzt um die Brot- und Butterthemen. Wir
müssen die Wachstumsbremsen in Deutschland lösen. Es
geht darum, die Staatsquote zurückzuführen. Sie muss
bei 40 Prozent und nicht in der Nähe von 50 Prozent liegen.
Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit,
damit man in den Betrieben eigene Entscheidungen
- ohne Genehmigungspflicht der Kartellbrüder - treffen
kann.
({9})
Deswegen sagen wir erneut: Wenn 75 Prozent der Mitarbeiter eines Betriebs bei freier und geheimer Abstimmung die alte Regelung haben wollen, müssen sie das
Recht haben, zugunsten der Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und der Schaffung neuer Arbeitsplätze einen eigenen Weg gehen zu können. Wir wollen Steuersenkungen,
keine Steuererhöhungen.
({10})
Das darf ich auch den Freunden von der CDU/CSU sagen.
Eines muss klar sein: Man kann durchaus über eine
Umstrukturierung des Steuersystems diskutieren,
({11})
aber per Saldo müssen die Menschen in Deutschland und
die Unternehmen entlastet werden,
({12})
indem ihnen bei einer Umstrukturierung hin zu mehr Eigenverantwortung in der Rentenvorsorge und im Gesundheitswesen auch die Möglichkeit geboten wird, das
verfügbare Einkommen zu erhöhen. Diesen Weg müssen
wir konsequent weiterverfolgen.
({13})
Die Unternehmensverfassung muss modernisiert werden. Daran ändern auch die Ausflüchte zu Karl Marx
und der Kapitalismusdiskussion nichts. Karl Marx gehört ins Trierer Museum, aber nicht in die aktuelle politische Diskussion.
Rot-Grün versucht, FDP und CDU/CSU quasi als
neoliberale Klabautermänner zu brandmarken.
({14})
Sie versuchen, das Erbe Ludwig Erhards zu erschleichen. Aber Ihnen fehlt jegliche geschichtliche Kenntnis.
Ludwig Erhard hat sich selbst als Neoliberaler bezeichnet. Es war die Antwort auf die Nazizeit und der Einfluss
der Freiburger Schule, dass kein Manchester-Kapitalismus betrieben wurde, sondern durch eine Ordnungspolitik eine Rahmensetzung vorgenommen wurde. Das ist
soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist
neoliberale Politik. Sie wollen offenbar keine soziale
Marktwirtschaft, sonst würden Sie nicht immer wieder
einen solchen Unsinn propagieren.
({15})
Soziale Marktwirtschaft ist sozial, weil sie die Chance
bietet, dass jemand durch harte Arbeit, Tüchtigkeit und
Engagement Erfolg hat, durch Leistung Geld verdienen
und einen Arbeitsplatz finden kann. Sie betreiben eine
Monopolisierungspolitik. Eon Ruhrgas lässt herzlich
grüßen. Das Unternehmen hat mittlerweile einen Marktanteil von 87 Prozent und jetzt beklagt der Kanzler, dass
die Gaspreise in Deutschland steigen. Wer einen solchen
Monopolisierungsgrad zulässt, darf sich nicht über Fehlsteuerungen in der deutschen Volkswirtschaft wundern.
Das sind falsche Denkansätze. In Ihrer Politik stimmen die Grundachsen nicht.
({16})
Ihre Wirtschaftspolitik hat keinen Charakter, weil sie
orientierungs- und prinzipienlos ist, weil sie nach Gutsherrenart gemacht wird, weil sie opportunistischen und
publizistischen Gesichtspunkten folgt.
({17})
Herr Clement war ein guter Journalist, aber er hat sich
nicht an den Grundachsen einer guten Wirtschaftspolitik
ausgerichtet, die den Menschen bessere Chancen bietet.
Deshalb muss die soziale Marktwirtschaft erneuert werden. Die Prinzipien müssen umgesetzt werden und die
Politik der Beliebigkeit und der tagespolitischen Orientierung muss endlich ein Ende haben.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile Kollegen Rainder Steenblock, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen zwar vorrangig eine innenpolitische Debatte, aber
gestatten Sie mir zunächst einmal eine Anmerkung zu
Europa und den sicherlich für uns alle durchaus
schmerzlichen Ereignissen in Frankreich und in den Niederlanden. Sie sind ein Signal, das wir wahrnehmen
müssen - das steht außer Frage -, weil es neben den innenpolitischen Themen in diesen Ländern darauf hindeutet, dass viele Menschen nicht mehr das Vertrauen
haben, dass die Europäische Union die bestehenden Probleme lösen kann.
Wir wissen aber genau, dass es keine Alternative zur
europäischen Integration gibt. Ein Zurück zu den Nationalstaaten wäre ein Zurück ins gesellschaftliche und
ökonomische Abseits. Deshalb sollten wir - wie wir es
auch in der Verfassungsdiskussion in Deutschland getan
haben - uns dieser Debatte sehr intensiv annehmen. Wir
haben in Deutschland mit großer Mehrheit für diese Verfassung gestimmt, weil wir wissen, dass es keine Alternative gibt.
Ich betone aber, dass wir uns davor hüten sollten,
Europa für all das zum Sündenbock zu machen, was wir
auf nationaler Ebene nicht hinbekommen haben.
({0})
Diese große Gefahr sollte in der Diskussion beachtet
werden.
Ich glaube, dass die europäische Integration ein sehr
hohes Gut ist. Sie hat uns 60 Jahre lang Frieden und
Aufschwung in Europa beschert. Diese Phase der Stabilität und des Glücks in Europa kann nicht hoch genug
geschätzt werden.
Deshalb ist alle billige Häme, die derzeit im Hinblick
auf die Abstimmungen in Frankreich und Holland ausgegossen wird, zu verurteilen. Lassen Sie uns in dieser
Frage zusammenstehen und Europa nicht für innenpolitische Debatten missbrauchen.
({1})
Was den Lissabon-Prozess angeht, hat Frau Wöhrl zu
Recht gesagt, dass es auch um uns gehe. Es geht in der
Tat um den deutschen Beitrag innerhalb der LissabonStrategie. Leider sind Sie, liebe Kollegin Wöhrl - der
Kollege Gloser hat zu Recht darauf hingewiesen -, in Ihren Ausführungen dazu, welchen Weg wir verfolgen
müssen und wie er konkret ausgestaltet werden kann,
sehr allgemein geblieben.
Ich verstehe, dass es heute für Sie vor dem Hintergrund der diffusen Debatten in der CDU/CSU darüber,
wie denn eigentlich ein ökonomisch sinnvoller Kurs aussehen soll, schwierig ist, überhaupt etwas Konkretes zu
sagen. Aber ich meine, dass Sie damit nicht durchkommen dürfen.
Wir haben in der Frage, wie unser Steuersystem gestaltet werden soll, sicherlich Handlungsbedarf. Das ist
von uns auch nie bestritten worden. Wenn man aber wie
Sie herangeht und die Mehrwertsteuer nur erhöhen will,
um eine Senkung der Einkommensteuer insbesondere
für die Reichen zu finanzieren - darüber wird zurzeit in
der CDU/CSU diskutiert -, dann ist das gerade vor dem
Hintergrund der Referenden in Europa und der Stimmung in der Bevölkerung genau die falsche Antwort.
Wir können es uns nicht leisten, die Probleme unserer
Sozialsysteme so zu lösen und die Fragen nach sozialer
Gerechtigkeit, sozialen Standards und der Innovationsfähigkeit unseres Gesellschaftsmodells so zu beantworten, dass man die öffentlichen Ressourcen noch mehr zugunsten der Reichen verschiebt. Vielmehr brauchen wir
eine Stabilisierung der Sozialsysteme in diesem Lande.
Dafür gilt es das Steuersystem umzubauen.
Wir, die Grünen, sagen sehr deutlich: Eine Mehrwertsteuererhöhung kann es nur geben, wenn es darum geht
- das ist die zentrale Frage in Deutschland -, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, das heißt, die Lohnnebenkosten
zu senken. Das muss das Ziel sein. Um Arbeit in
Deutschland gerade im Bereich geringfügiger Einkommen attraktiver zu machen und um das Steuersystem
umzubauen, brauchen wir eine Senkung der Lohnnebenkosten. Das wäre die große Jobmaschine. Aber Sie haben in den letzten Jahren ständig im Bremserhäuschen
gesessen, wenn es galt, unser Steuersystem in diese
Richtung umzubauen.
({2})
Bei der Lissabon-Strategie geht es auch um den Umbau unserer gesellschaftlichen Systeme, insbesondere
der Sozialsysteme. Wir wollen als eine der zentralen
Antworten eine Bürgerversicherung. Wie sieht Ihre
Antwort aus, wenn es um den Umbau der sozialen Sicherungssysteme geht? Sie wollen die Menschen pauschal, also unabhängig von Einkommen und sozialem
Status, mit den Kosten des Gesundheitswesens belasten.
Das halten wir für einen fatalen Fehler. Das hat nichts
mit der Stabilisierung der Sozialsysteme zu tun, sondern
das verankert zunehmend Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft. Das lehnen wir ab. Wir wollen ein sozial gerechtes System, die Bürgerversicherung, einführen.
Auch darum wird es in dem nun bevorstehenden Wahlkampf gehen. Die Bürgerinnen und Bürger wissen
sicherlich genau, in welche Richtung sie zu votieren haben.
Zum Bereich der Subventionen: Wir haben mit großem Erstaunen festgestellt, dass plötzlich auch in der
CDU/CSU eine Debatte über die Eigenheimzulage und
die Pendlerpauschale entbrannt ist. Wir begrüßen, dass
Sie beginnen, sich zu bewegen. Aber wo haben Sie in
den letzten Jahren gestanden? Wir haben so häufig versucht, die Eigenheimzulage abzuschaffen und die Pendlerpauschale zu senken. Aber Sie von der CDU/CSU haben das alles ständig blockiert. Dadurch sind uns
Milliardenbeträge verloren gegangen, die wir in diesem
Land für die Schaffung neuer Arbeitsplätze hätten sinnvoll einsetzen können. Sie haben nur im Bremserhäuschen gesessen und sind Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
({3})
Zum letzten Bereich: Wir wollen Europa - die Lissabon-Strategie ist dafür ein geeignetes Instrument - zu einem wissensbasierten, innovativen und dynamischen
Standort machen. Wenn man sich anschaut, welche innovativen Vorschläge Sie in der Bildungspolitik gemacht
haben bzw. bei welchen unserer innovativen Vorschläge
Sie gebremst haben, dann muss man deutlich sagen: Wir,
die rot-grüne Bundesregierung, haben den Bundesländern in den Bereichen Forschung und Bildung - auch
wenn es nicht nur unsere Aufgabe ist - mit Milliardensummen unter die Arme gegriffen und versucht, hier vieles anzuschieben, und zwar gegen Widerstand aus Ihren
Reihen. Es ist beschämend, dass in Deutschland noch
immer die Herkunft und das Einkommen der Eltern darüber bestimmen, ob Kinder das Abitur machen und später eine Hochschulausbildung absolvieren.
Wenn es uns nicht gelingt, den Zugang zu unseren
Bildungsabschlüssen sozial gerechter zu gestalten, dann
werden wir unsere Aufgaben nicht erfüllen können.
({4})
Diese rot-grüne Koalition steht für eine sozial orientierte
Bildungspolitik. Sie ist effizient und öffnet allen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen.
({5})
Die zentralen Elemente einer Lissabon-Agenda sind:
die Schaffung von zukunftsfähigen, auf Innovation ausgerichteten Arbeitsplätzen, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich - dort gibt es riesige
Potenziale, die wir ausschöpfen können - und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich der regenerativen
Energien. Dabei geht es um viel mehr als um Windenergie; das Feld der regenerativen Energien ist viel größer.
Auf diesen Gebieten sollten wir unsere Anstrengungen
verstärken. Wir werden dort zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, wir sind auf einem guten
Weg, dieses Ziel zu erreichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Herr
Steenblock, Sie haben hier über Ihre großartigen Leistungen in der Bildungspolitik gesprochen. Lassen Sie
uns einmal die Ergebnisse der PISA-Länderstudie im
Detail anschauen: Dort, wo SPD und Grüne regierten
- mittlerweile gibt es keine rot-grünen Landesregierungen mehr, aber es gab einige -, sind diese Ergebnisse in
einer bemitleidenswerten Weise schlechter. Wir sprechen hier über die Qualität von Bildungssystemen: Wir
haben exzellente Arbeit geleistet. Sie sollten sich daran
orientieren.
({0})
Sie haben mit Dankbarkeit festgestellt, dass wir über
Eigenheimzulage und Pendlerpauschale sprechen. Wir
hatten hierzu immer eine eindeutige Position: Wir werden frei werdende Mittel nicht verwenden, um Haushaltslöcher zu stopfen. Wir haben in der gestrigen Debatte wieder erlebt, dass Herr Eichel feststellen musste,
dass sein Haushalt eigentlich nur noch aus Löchern besteht, und dass er nicht mehr weiß, wie er damit umgehen soll. Deshalb fordern Sie das deutsche Volk auf, Sie
abzuwählen. Das ist ein ehrenwertes Vorgehen. Aber es
ist in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig,
dass eine Bundesregierung erklärt, sie sei nicht mehr fähig, irgendein Problem zu lösen, und das deutsche Volk
bittet, sie abzuwählen. Wir werden sehen, wie sich das
deutsche Volk verhält.
({1})
Herr Steenblock, ich habe mich gefreut, dass Sie mit
dem Hinweis auf unsere grundsätzliche Frage angefangen haben. Der Verfassungsvertrag hat keine Zukunft.
Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist von grundsätzlicher und übergeordneter Bedeutung. Ich glaube
nicht, dass es sehr viel Sinn macht, noch feinsinnigere
Verhandlungen zu führen und noch großartigere Gebäude an Regularien und Vereinbarungen aufzubauen.
Zu einem neuen Aufbruch kann es nur kommen, wenn
wieder übergeordnete Ziele - Visionen - erkennbar sind
und Personen, die sie verwirklichen.
Die Lissabon-Agenda, die ihren Niederschlag im ersten Verfassungsentwurf fand, war eine großartige Arbeit
von tüchtigen Bürokraten. Sie enthielt eine unglaubliche
Vielfalt an Vorschlägen, 28 Hauptziele, 120 Nebenziele,
Ausführungen zu E-Europe, zu Chancen für Frauen und
zu Dienstleistungen, Märkten und Finanzen. Oder frei
nach Clausewitz: Wer alles deckt, deckt nichts. - Insofern ist das, was jetzt angelegt ist, klüger; denn es ist
konzentriert auf Ziel: Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze sind entscheidend.
Herr Gloser, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
wie wichtig das Soziale und die Umwelt sind. Richtig!
Wir müssen erreichen, dass die Wirtschaft wächst und
dass mehr Arbeitsplätze entstehen, und zwar, ohne unsere Errungenschaften zu beschädigen. Alles zugleich
weiterzuentwickeln führt aber zu einem unbeherrschbaren System, in dem sich gar nichts mehr bewegt. Diese
Erfahrung haben wir in den ersten fünf Jahren nach Lissabon gemacht. Angesichts dessen ist die Konzentration
auf diese Ziele richtig: Wir bekommen Arbeitsplätze nur
mit Wirtschaftswachstum. Wir bekommen Wirtschaftswachstum nur über Innovationen. Und Innovationen beDr. Heinz Riesenhuber
kommen wir nur dann, wenn jeder Einzelne und wir alle
gemeinsam die richtigen strategischen Ziele verfolgen.
So sehen die Prioritäten aus.
({2})
Die in Lissabon entwickelte Strategie konvergiert mit
dem, was wir hier sagen. Angela Merkel sagt, dass ein
Schwerpunkt ihrer Regierungspolitik Innovationen sein
werden. Edmund Stoiber sagt, wir müssten 3 Prozent
vom Bruttosozialprodukt in die Forschung investieren.
Angela Merkel sagt: Wir wissen, dass wir nur einen
Schuss frei haben. Das heißt, dass wir in der Situation
von heute in sehr kurzer Zeit das tun müssen, was Sie eigentlich 1998 wollten. Nur, Sie haben inzwischen das
Ziel aus den Augen verloren. Seit Sie das Ziel aus den
Augen verloren haben, sind Sie viel schneller vorangekommen. Aber das war nicht hilfreich für Deutschland.
({3})
In der Forschung haben Sie die gesamten Mittel noch
nicht einmal um 10 Prozent nominal erhöht, wenn man
das Soll 2005 mit 1998 vergleicht. Sie wollten sie eigentlich verdoppeln! Hier müssen wir etwas tun. Nur aus
dem Grund, dass wir in diesem Bereich wieder klotzen
können, haben wir gesagt: Die verschiedenen Möglichkeiten, die der Haushalt bietet, wollen wir nicht verplempern, indem wir die Löcher einer misslungenen Finanzpolitik stopfen, sondern wir wollen sie nutzen, um aus
einer ganz schwierigen Situation - sie ist schwieriger als
vor sechseinhalb Jahren, als Sie angefangen haben - einen neuen Start in die Zukunft zu schaffen.
({4})
In den Lissabon-Zielen sind jetzt in der Tat genau die
Themen genannt, um die es hier geht: Attraktivität für
Arbeitsplätze und Investitionen, Infrastruktur, offene,
wettbewerbsorientierte Märkte, Bildung, Qualifikation,
Wissen und Innovation. Der Stifterverband, der gestern
getagt hat, sagt: Das Megathema ist Innovation. Ihr
müssen wir alles unterordnen. Wir brauchen keine Reparaturen am Haus Deutschland, sondern ein neues Fundament aus Bildung, Forschung und Innovation. - Dieses
neue Fundament brauchen wir, weil Sie das Fundament
in den letzten Jahren systematisch haben zerbröckeln
lassen. Sie sind nicht vorangekommen.
({5})
Selbst da, wo Sie vorangekommen sind, sind andere
- das zeigt der Bericht - schneller vorangekommen als
wir. Wir sind zurückgefallen. Weil wir zurückgefallen
sind, ist Europa zurückgefallen. Wenn die stärkste Macht
in Europa keine Linie aufbringt, dann fällt ganz Europa
zurück. Wenn es in Europa früher haarig wurde - zu
Kohls Zeiten, an die Sie sich so ungern erinnern -, hat
man auf einen Staatsmann, hat man auf ein Land, auf
Deutschland, geblickt.
({6})
Heute läuft die Sache auseinander, weil Sie eine Politik
angelegt haben, die die Menschen nicht zusammengeführt, sondern auseinander gebracht hat.
({7})
Wir sind in einer Situation, die offenkundig schwieriger ist als vor sechs, sieben Jahren. Aber wir haben nach
wie vor ein starkes Land. Reden Sie einmal mit den jungen Technologieunternehmen. Die wollen etwas und die
können etwas.
({8})
Reden Sie mit den Wissenschaftlern in der Technischen
Universität Darmstadt. Die sind froh, dass sie jetzt ihr
eigenes Schicksal unbehindert von irgendwelchen übergeordneten, hoch intelligenten Beamtenentscheidungen
gestalten können, dass sie selber Professoren berufen
können, dass sie über ihre Immobilien verfügen können
und dass sie Prüfungsordnungen einführen können. Geben Sie Freiraum!
({9})
Sie sagen, die bestehende Bürokratie sei gar nicht so
schlimm. Ich kann Ihnen respektvoll sagen, dass in
Deutschland sieben bis acht Wochen vergehen, bis ein
Unternehmen gegründet werden kann; in England sind
es sieben Tage. Dass wir auf diesem Gebiet nichts zu tun
hätten, ist eine tollkühne Annahme. Unser Steuersystem
ist so kompliziert, dass ein Mittelständler sich über mehrere Wochen des Jahres mehr mit seinen Steuerberatern
und den möglichen Steuerlücken befassen muss als mit
seinen Kunden und Lieferanten; das ist eine kranke
Situation.
({10})
Was wir brauchen, ist der Raum, in dem wir uns auf
die Tüchtigkeit der Einzelnen verlassen, aus dem Dynamik und Unternehmungsgeist entstehen. Dann wird
Deutschland wieder seine Rolle in Europa spielen, die
die Europäer zu Recht von uns erwarten. Mit Zuversicht,
Gestaltungskraft und Mut muss in einer schwierigen
Lage - diesen Umstand räumen wir alle ein - jeder seinen Beitrag leisten. Wir brauchen ein zuversichtliches
Europa und eine wissensbasierte Gesellschaft, die mit
der Tüchtigkeit ihrer Menschen, mit Unternehmungsgeist und Freiraum Arbeit schafft und ihre Rolle als Partner in der Welt spielt.
({11})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Dr. Riesenhuber, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Ihnen aufgefallen ist, dass die Lissabon-Strategie verändert wurde. Die Veränderung der
Lissabon-Strategie hat diese rot-grüne Bundesregierung
bewirkt.
({0})
Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie das feststellen. Das macht nämlich deutlich, dass Ihr Antrag, der
vom 8. März datiert, überflüssig ist. Er ist deswegen
überflüssig, weil ein ganzer Teil der Forderungen, die
darin formuliert worden sind, schon längst erfüllt ist.
({1})
Sie haben völlig Recht, Herr Professor Riesenhuber
- ich sage das ganz ausdrücklich -: Wachstum und
Ökonomie gehören in den Mittelpunkt dieser Strategie,
in den Mittelpunkt des politischen Handelns von Europa.
({2})
Weil Sie gesagt haben, man rede im Rückblick immer
nur schlecht über die Regierung Kohl, der Sie angehörten, empfehle ich Ihnen, einmal nachzulesen - vielleicht
können Sie das freundlicherweise auch an Frau Wöhrl
weitergeben -, wie im europäischen Kontext Ihre Platzierung beim Wachstum in den 90er-Jahren war, als
Helmut Kohl noch Regierungschef war. In den gesamten
90er-Jahren haben Sie immer den vorletzten Platz belegt.
Vielleicht können Sie das auch Frau Wöhrl sagen.
({3})
Damit bin ich bei einem zweiten Thema; ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie das angesprochen haben. Die
Schelte unserer nationalen Politik ist hinlänglich bekannt. Dass Sie das alles jetzt benutzen, um hier Wahlkampf zu machen, kann der interessierte Bürger ja auch
verstehen. Ihr Antrag ist aber schädlich. Er ist schädlich,
weil es gerade jetzt nach den Referenden in Frankreich
und in den Niederlanden ganz wichtig ist, den Bürgerinnen und Bürgern Europa wieder näher zu bringen und
Vertrauen in Europa zu pflanzen. Ich glaube auch nicht,
dass die Verfassung gescheitert ist, wie Sie das formuliert haben. Ich will festhalten: Es hat zwei Referenden
gegeben. Die Ratifizierung in den europäischen Ländern muss weiterlaufen. Wir haben im Bundestag und im
Bundesrat mit überwältigender Mehrheit ratifiziert und
das ist gut so.
({4})
Man braucht aus dieser Vertragskrise keine europäische Krise zu machen. Deswegen ist es ganz wichtig, die
Finanzverhandlungen in Europa in den nächsten
14 Tagen erfolgreich abzuschließen. Dazu ist Beweglichkeit von allen gefordert. Auch wir werden da beweglich sein.
Der dritte Punkt, den man festhalten muss, lautet: Geschlossene Verträge dürfen jetzt nicht infrage gestellt
werden. Deswegen ist es Unsinn, beispielsweise über die
vertraglich schon beschlossenen Erweiterungen um
Bulgarien und Rumänien zu diskutieren und sie öffentlich infrage zu stellen. Ich habe heute Morgen ein Interview des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, Herrn Rühe, dazu gehört, das mir sehr gut gefallen
hat. Er hat gesagt: Es gibt Verträge. Diese Verträge muss
man einhalten. Es ist eine vernünftige Position, auf der
Grundlage dieser Verträge weiter europäische Politik zu
gestalten.
Zu Ihren europapolitischen Forderungen: Der Europäische Rat hat am 22. und 23. März die Lissabon-Strategie neu ausgerichtet. Nach jahrelangen Bemühungen,
insbesondere auch der Bundesregierung, liegt der
Schwerpunkt jetzt auf Wachstum und Beschäftigung.
Diese Weiterentwicklung ist sinnvoll und richtig. Aber
sie bedeutet nicht, dass alles zuvor Dagewesene falsch
war. Insbesondere Ihre Vorwürfe, die Bundesregierung
habe sich nicht entschieden genug für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums eingesetzt,
laufen völlig ins Leere. Wir haben uns seit dem
Jahr 2000, als die Lissabon-Strategie geboren wurde,
wie kaum ein anderer Mitgliedstaat für die Fokussierung
auf Wachstum und Beschäftigung eingesetzt.
({5})
Wir haben dafür gekämpft, dass die Belange der Wirtschaft auf europäischer Ebene wieder stärker Berücksichtigung finden und die Bereiche „Förderung des
Geschäftsklimas“, „Forschungsförderung“ und „Wissensgesellschaft“ wesentliche Bestandteile einer Neuausrichtung werden. Es war diese Bundesregierung, die
darauf gedrungen hat, die Industriepolitik zu erneuern
und der Wirtschaft durch vorbeugende Verfahren auf
EU-Ebene Freiräume zu schaffen und zu erhalten.
In den beiden zurückliegenden Jahren stand insbesondere die Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts, REACH, im Mittelpunkt. Dass jetzt noch einmal
Anstrengungen unternommen werden und dass nach einer industrieverträglicheren Lösung gesucht wird, ist
nicht zuletzt das Verdienst gemeinsamer Anstrengungen
und Interventionen von Bundesregierung, VCI und
IG BCE in Brüssel.
Ich verweise auch auf das gemeinsame Eintreten von
Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac für
„europäische Champions“ oder die im Frühjahr 2004
gestartete Innovationsoffensive von Bundeskanzler
Schröder, Staatspräsident Chirac und Premierminister
Blair. Dazu, dass Sie jetzt endlich die Innovation entdeckt haben, Herr Riesenhuber, gratulieren wir Ihnen
herzlich.
({6})
Das können Sie hier ganz oft vortragen. Aber ich kann
Ihnen sagen: Das haben wir im europäischen Kontext
längst vorangetrieben.
({7})
Ich werde Ihnen gleich noch ein paar Ergebnisse nennen.
Inzwischen hat Industriepolitik in Brüssel wieder
einen ganz anderen Stellenwert. Noch einmal: Die Erfolge gehen eindeutig auf die Bemühungen dieser BunParl. Staatssekretär Gerd Andres
desregierung und insbesondere des Bundeskanzlers zurück.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der intellektuelle Höhepunkt Ihres Antrags besteht in der Forderung, die europäische Wachstumsstrategie durch nationale Maßnahmen zu flankieren, die - keiner hat das
bisher je für möglich gehalten - eine Reform der Sozialsysteme, eine Reform des Steuersystems, den Abbau von
Überregulierung nebst Bürokratie und die Erhöhung der
Ausgaben für Forschung und Entwicklung beinhalten
sollen. Toll, was in Ihrem Antrag steht! Ich empfehle den
Bundesbürgern, die Zugang dazu haben, einmal die Seite
www.bundestag.de aufzurufen und sich diesen Antrag
herunterzuladen. Es ist wirklich ein Genuss, ihn sich anzuschauen.
({8})
Da weiß man wenigstens, was hier diskutiert wird.
Ich finde es beinahe ein bisschen peinlich, darauf eine
Replik zu geben. Ich möchte vielmehr die Frage stellen:
Wo waren die Autoren dieses Antrags die letzten Jahre?
Die Bundesregierung hat ihre nationale Verantwortung
gerade in den Kernbereichen Wirtschaft und Soziales
sehr ernst genommen. Mit der Agenda 2010 haben wir
große, wichtige Reformen angestoßen, die notwendig
waren und erste Erfolge zeitigen. Dass sie schwierig
sind, wissen wir selbst. Dass der so genannte Kok-IBericht der Bundesregierung gerade hierfür gute Arbeit
bescheinigt, wird von Ihnen natürlich wohlweislich unterschlagen. Diese Bundesregierung hat die umfangreichste Steuerreform in Kraft gesetzt, die es je in
Deutschland gab. Ich erinnere nur daran, dass wir den
Eingangsteuersatz von 26 auf 15 und den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt haben.
Es gibt in der Tat weiteren Handlungsbedarf. Wie er
aussehen kann, wissen Sie ja selbst. Sie diskutieren ja
gerade öffentlich über Mehrwert- und Unternehmensteuern, die Streichung der Absenkung der steuerlichen
Freibeträge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit
und sogar über die Abschaffung der Eigenheimzulage.
Diese Möglichkeit entdecken Sie offensichtlich nun,
nachdem Sie sie mehrere Jahre blockiert haben. Das ist
schon erstaunlich.
Am besten gefällt mir Ihre Forderung, unverzüglich
den Anstieg der Förderung von Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent umzusetzen. Um das 3-ProzentZiel zu erreichen, sollen bei uns die öffentliche Hand
1 Prozent, die Privatwirtschaft 2 Prozent beisteuern.
Beide Werte sind so gut wie erreicht. Die öffentliche
Hand liegt bei 0,77 Prozent, die Privatwirtschaft bei
1,78 Prozent. Deutschland steht im Vergleich der 25 EULänder - ich erwähne das der Vollständigkeit halber und
um hier auch einmal Erfolge mitzuteilen - hinter Schweden und Finnland auf Platz drei.
({9})
Auch die im Antrag geäußerte Kritik hinsichtlich der
Umsetzung der Binnenmarktrichtlinien in Deutschland ist schlicht überholt. Nach offiziell bestätigten Angaben der Kommission vom März betrug das deutsche
Umsetzungsdefizit 1,6 Prozent, mittlerweile sogar nur
noch 1,5 Prozent. Damit liegt Deutschland auf Platz fünf
unter den 25 Mitgliedstaaten. Nur einmal zur Erinnerung
für die interessierte Öffentlichkeit: Wir haben von Ihnen
ein Defizit in der Größenordnung von 4 Prozent übernommen. Dieses Defizit haben wir systematisch zurückgeführt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
rate Ihnen, Ihre Zeit künftig sinnvoller zu verwenden.
Solche Anträge helfen uns inhaltlich nicht weiter.
({10})
Sie haben nur ein Gutes: Die Auseinandersetzung damit
zeigt, dass wir bisher auf einem guten Weg waren. Wir
sind auch entschlossen, diesen Weg entsprechend fortzusetzen.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Andres, nachdem ich Ihre
Rede gehört habe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie eine selektive Wahrnehmung haben, da
Sie in Ihrer Rede mindestens 50 Prozent der deutschen
und der europäischen Wirklichkeit verdrängt haben.
({0})
Wenn man sich die Analysen des Kok-Berichtes,
nicht die der CDU/CSU, anschaut, dann findet man dort
stichwortartig aufgeführt: überfrachtete Agenda, mangelnde Koordinierung und Konsequenz, Konflikte in
Bezug auf unterschiedliche Ziele, die nicht aufgelöst
sind - REACH und anderes - und mangelnder politischer Wille in den Nationalstaaten - das wird als Hauptursache angeführt -, sich wirklich aktiv der LissabonStrategie zuzuwenden. Herr Kollege Riesenhuber hat
hier deutlich gemacht, dass ein Teil des Scheiterns der
Strategie darauf beruht, dass versucht worden ist, in ein
Papier alle Ziele hineinzuschreiben, die man überhaupt
postulieren konnte. Wer zu viel aufschreibt, erreicht aber
nichts.
Nachdem Sie meinten, sich über das Datum unseres
Antrages aufzuregen, will ich dazu nur eine kleine Anmerkung machen: Schauen Sie einmal auf den Antrag
von Rot-Grün; der wurde eine Woche später geschrieben. Daran wird eines deutlich: Wir diskutieren in Europa über die Frage einer Neuausrichtung der Lissabon-Strategie. Wir beklagen uns im Deutschen
Bundestag über die mangelnde Mitsprache bei europäischen Entscheidungen. Es wird keiner hier bestreiten,
dass wir darüber eine tiefgehende Diskussion haben und
haben müssen, wenn das überhaupt in Zukunft funktionieren soll.
Wenn unser Antrag am 8. März nicht eingereicht worden wäre, gäbe es den vom 16. März von Rot-Grün überhaupt nicht. Das heißt, ohne unseren Antrag würde sich
der Deutsche Bundestag mit der Frage, was die europäische Neuausrichtung der Lissabon-Strategie für unser
Land bedeutet, überhaupt nicht beschäftigen.
({1})
Das ist das entscheidende Moment: dass wir unseren Anspruch, uns in die europäische Politik einzumischen,
auch wirklich ernst nehmen.
Ich will jetzt gar nicht darüber streiten, in welchem
Maße die Bundesregierung das, was jetzt neu auf dem
Tisch liegt, mitgestaltet hat. Ich will nur einmal anhand
der im Eckpunktepapier für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 fett markierten Ziele, die ausgerichtet sind auf die Lissabon-Strategie - das haben Sie alles
mit verabschiedet -, deutlich machen, wo Sie im Verhältnis zu dem stehen, was Sie in Europa mitentschieden
haben. Da heißt es:
Die Steigerung von Wachstum und Beschäftigung
muss im Zentrum der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 stehen.
So weit ist das vielleicht noch in Ordnung. Dann steht
hier: „solide makroökonomische Politik“. Da fängt das
Problem in diesem Lande schon an.
Ich möchte Ihnen noch drei Punkte vorlesen. Dann
können Sie die Situation in Deutschland an dem messen,
was Europa von uns fordert.
Erstens:
Die Mitgliedstaaten sollten über den Konjunkturzyklus hinweg einen nahezu ausgeglichenen oder
einen Überschuss aufweisenden Haushalt erreichen …
Meine Damen und Herren, davon sind Sie nach der Diskussion über den Haushalt Megawelten entfernt.
({2})
Das Zweite:
… die Solidität der öffentlichen Finanzen auf lange
Sicht zu stärken.
Fehlanzeige in diesem Lande!
Das Dritte:
Die Mitgliedstaaten sollten sich verstärkt für den
produktiven Einsatz der öffentlichen Mittel einsetzen und dafür sorgen, dass diese zunehmend in
wachstumsfördernde Maßnahmen im Sinne der
Schwerpunktziele von Lissabon fließen.
Wenn ich mir die Investitionskraft des Bundeshaushaltes
einmal anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass Sie
auch hier nicht auf einem positiven, sondern auf einem
negativen Wege sind.
Insofern können wir doch nur festhalten: Sie sind weit
von den Zielen der Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, die Sie selber in Europa mit verabschiedet haben,
entfernt. Darum geht es in dieser Debatte, nicht nur um
einzelne Forderungen.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben sich bemüßigt
gefühlt - in diesen Tagen wird ja sichtbar, dass nur noch
über die nächste Regierung diskutiert wird, nicht mehr
über das Versagen der jetzigen Regierung -, vom Ansatz
her den Versuch zu machen, die europäische Debatte
auch in diesem Haus zu führen. Dann sind Sie aber genau wie wir in der Innenpolitik gelandet. Das will ich
auch gar nicht negativ bewerten, das gehört dazu; denn
aus beidem wird das Ganze. Ich kann aber nur sagen: Sie
sind es doch gewesen, die 2002 drei Monate vor der
Bundestagswahl mit Herrn Hartz die Verringerung der
Arbeitslosigkeit auf die Hälfte versprochen haben. Sie
sind heute bei mehr und nicht bei der Hälfte. Von der
Hälfte sind Sie meilenweit entfernt.
({3})
Lassen Sie mich aus dem Forschungsbereich nur einen Punkt herausgreifen. Nach sieben Jahren haben wir
zum ersten Mal ein Energieforschungsprogramm. Die
Energieforschung ist die strategische Variante der Energiepolitik. In dieser Frage der strategischen Variante haben Sie eklatant versagt.
Zu der Rede des Herrn Kollegen Gloser sage ich nur:
Er hat ganz gut damit angefangen, dass wir über die EU
als Ganzes reden müssen, ist dann aber auch auf die nationale Ebene geschwenkt. Das finde ich bedauerlich.
Der Lissabon-Antrag der Union koppelt sich mit dem
Antrag der CDU/CSU zum Pakt für Deutschland. Sie
müssen beides zusammen lesen, dann kommen Sie auf
die richtigen Antworten.
Ich denke, dass wir über die Frage der nationalen Verantwortung im Sinne auch der innenpolitischen Gestaltung mehr diskutieren müssen. Ich will allerdings auch
eine Bemerkung zur Frage der Glaubwürdigkeit der EU
machen. Das, was passiert ist - ich bin mit den Formulierungen von Herrn Steenblock durchaus einverstanden -, ist nicht zuletzt auch auf mangelnden Erfolg in
der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zurückzuführen.
Wenn Europa und damit wir alle - nicht nur eine sozusagen anonyme Kommission - an dieser Stelle versagt
haben, dann müssen wir uns zur Überwindung der jetzigen Krise unter anderem - das ist nicht das Einzige auch damit auseinander setzen, wie wir in der Wachstums- und Beschäftigungspolitik neue Kräfte mobilisieren, damit die Menschen in diesem Europa, die Frieden
und Freiheit als etwas Großes und Selbstverständliches
mit auf den Weg bekommen haben, auch erfahren, dass
dieses Europa Perspektiven in der Wirtschafts-, Sozialund Umweltpolitik bietet.
Deswegen glaube ich, dass wir über die Frage reden
müssen, ob Europa nicht zu sehr nach innen diskutiert.
Ich will an dieser Stelle bewusst nicht nach innen, nicht
über die Frage der nationalen Verantwortung diskutieren, sondern auf etwas anderes hinweisen, was in der EuKurt-Dieter Grill
ropäischen Union Gegenstand der Erörterungen ist. Ich
rate uns dringend, uns mit dieser Frage zu beschäftigen;
es hängt mit dem Kapitalmarkt und vielen anderen Dingen zusammen. Europa steht in einem massiven Wettbewerb mit den anderen Kontinenten. Wenn wir - damit
ist auch Deutschland gemeint - nicht die Herausforderung annehmen, uns auf den Wettbewerb mit den anderen Kontinenten einzustellen, dann werden wir beim Zugang zu Kapital, Menschen und Rohstoffen schlicht und
einfach versagen, weil die anderen auf uns keine Rücksicht nehmen werden. Wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen.
Auch vor dem Hintergrund einer Veröffentlichung
von Herrn Tremonti in der „FAZ“ vom 1. Juni stelle ich
deswegen fest: Die Selbstverständlichkeit des Wohlstandes ist vorbei. Wohlstand ist nicht mehr so selbstverständlich wie vor 1990. Es gibt neue Herausforderungen.
Herr Kollege, Sie sagen gerade gute und wichtige
Dinge; aber Sie müssen doch zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit dem
Thema Bürokratie eines aufnehmen sollten - ich zitiere
hier noch einmal Herrn Tremonti, weil mir das, was er
geschrieben hat, ausgesprochen gut gefallen hat -:
Europa muss auf das Modell einer perfekten Gesellschaft und eines perfekten Marktes verzichten.
Das wäre der erste Schritt, um weniger Bürokratie und
mehr Wachstumskräfte zu erreichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner
Bertl.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es gut, dass wir heute über einen Antrag der
CDU/CSU sprechen, der die Bundesregierung auffordert, sich mit den Ende März im Europäischen Rat und
auch im Kok-1-Bericht aufgezeigten Problemen des Lissabon-Prozesses zu beschäftigen. Aber viel entscheidender finde ich, dass wir daran heute festmachen können,
dass genau dieser Weg durch die Bundesregierung beschritten wurde und wir entscheidend dazu beigetragen
haben, dass die Konzentration des Lissabon-Prozesses
überhaupt vorankommt.
Ich glaube, die Menschen wissen kaum, was mit diesem Lissabon-Prozess gemeint ist. Es ist ein sehr ehrgeiziges Programm, welches im März 2000 aufgelegt
wurde, um Europa zum - was sagen diese Begriffe? wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Es geht um Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und - dieses Wort
habe ich jetzt hier noch nicht gehört, aber davon haben
wir damals im Lissabon-Prozess gesprochen - den
sozialen Zusammenhalt Europas. Gerade das, was wir
in den letzten Tagen in Frankreich und den Niederlanden
erlebt haben, zeigt vielleicht auch, wie wichtig für die
Menschen in Europa die Frage des sozialen Zusammenhaltes ist,
({0})
wie wichtig es ist, Europa nicht als etwas Angstbesetztes
zu erleben. Europa ängstigt sie möglicherweise, was die
globalisierten Wettbewerbssysteme angeht; es ängstigt
sie aber sicherlich, was ihre eigene Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme betrifft.
Ich glaube, die Herausforderung für uns liegt darin, den
Weg des Lissabon-Prozesses entsprechend zu gestalten.
({1})
Insgesamt lässt sich an diesen ehrgeizigen Zielen und
meiner Meinung nach auch an der Kritik, die notwendig
ist, festmachen, was die Bundesregierung getan hat. Für
mich ist auch entscheidend, mit welchen Instrumenten
wir die Ziele von Lissabon auf nationaler Ebene verfolgen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, auch in der Bewertung Ihres Antrages, wie sich die
Opposition dabei verhalten oder enthalten hat. In weiten
Bereichen haben Sie verhindert, dass die Ziele, insbesondere im Bereich Bildung und Forschung, erreicht
werden konnten. Von meinem Kollegen sind schon die
schwierigen Prozesse, sei es im Bundesrat oder im Vermittlungsverfahren, angesprochen worden, die stattgefunden haben, um finanzielle Ressourcen genau für diesen Weg, der meines Erachtens im Lissabon-Prozess
richtig beschrieben ist, zu erschließen.
Man muss deutlich machen, dass zwar im Bereich der
Arbeitsmarktpolitik ein Teil des Prozesses im Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV von der
Opposition mitgestaltet wurde. Auf der anderen Seite
haben Sie sich aber immer wieder ganz schnell in die
Büsche geschlagen. Der Erfolg zeigt dennoch, dass der
Weg zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele richtig ist.
Unser Ziel ist ein Europa, das für die Bürgerinnen und
Bürger ein Raum der Freiheit und der sozialen Sicherheit sowie ein Raum von Wachstum und Beschäftigung ist. Ich glaube, der Aspekt Freiheit und soziale
Sicherheit muss genauso beachtet werden wie der Aspekt Wirtschaft und Beschäftigung. Beide Aspekte sind
wichtig. Wir müssen den Menschen in den 25 Staaten
der EU die von ihnen gewünschte Sicherheit geben. Sie
werden Europa nämlich nur dann akzeptieren, wenn dieser Prozess in der EU nicht von Ängsten um Arbeitsplätze, um die Sicherung sozialer Standards und um die
Zukunft der sozialen Sicherungssysteme geprägt wird.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über die
Wettbewerbsfähigkeit, die wir sicherlich führen müssen.
Gerade angesichts der aktuellen Entwicklung können
wir erkennen, dass es notwendiger denn je ist, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit zu beachten.
Im Bericht von Wim Kok - ich muss das einmal
deutlich sagen - sind wir für den gesamten Prozess der
Agenda 2010 und dafür, wie wir versucht haben, den
Weg der Arbeitsmarktreformen erfolgreich zu gestalten,
ausdrücklich gelobt worden. Es gibt deutliche Hinweise
darauf, dass dieser Weg für die Bundesrepublik richtig
ist. Wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum, wir müssen Forschung und Entwicklung fördern sowie die Beschäftigungsrate steigern.
Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben enorme Vorleistungen in diesem Bereich erbracht.
({2})
Wir haben Bürokratie abgebaut und wir haben mit der
Agenda 2010 ein Umsteuern bis in den Bereich der sozialen Sicherungssysteme hinein vorgenommen. Wir
müssen leider feststellen, dass weite Teile der Wirtschaft nur wenig Bemühen gezeigt haben, diesen Weg
konstruktiv und fördernd mitzugehen. Ich finde es hochinteressant, dass man in dieser Woche erstmals in
Deutschland in führenden Wirtschaftszeitungen lesen
konnte, dass plötzlich auch Chefvolkswirte und Vorstände renommierter Banken den Zeigefinger heben und
die fahrlässige Vernichtung von Kapital kritisieren. Sie
fordern, dass Unternehmen und Management Verantwortung übernehmen. Das ist übrigens eine Position,
die aus diesem Bereich der Wirtschaft jahrelang im
Rausch der New Economy nie gehört werden konnte.
Ich finde es, wie gesagt, hochinteressant, dass diese
Punkte jetzt plötzlich zur Sprache kommen. Das zeigt,
dass unser Weg, den wir durch enorme Vorleistungen in
der Sozialpolitik, in der Steuerpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik gestaltet haben, von den Verantwortlichen
der Wirtschaft langsam als richtig erkannt wird und von
ihnen vielleicht auch mitgegangen wird. Ihnen ist deutlich geworden, dass sie damit große Spielräume erlangen, die Lissabon-Ziele zu erreichen.
Ich habe schon gesagt, dass auch Forschung und
Entwicklung wichtige Ziele sind. Dazu gehört der nationale Aktionsplan. Wir sind der Meinung, dass Arbeit
für junge Menschen und für ältere Menschen ein ganz
entscheidender Punkt ist. Wir haben mit der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes eine Vorleistung im
Bereich der Bildung und Ausbildung junger Menschen erbracht, die uns die große Möglichkeit bietet, das
Problem der Jugendarbeitslosigkeit bei uns erfolgreich
zu bekämpfen. Im Rahmen der SGB-II-Reformen wurden fast 7 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt. Auch das muss man unter
der Überschrift „Vorleistungen“ zur Kenntnis nehmen.
({3})
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Frage der
Ausbildung junger Menschen ernst nehmen. Wir wollen
allen Menschen unter 25 Jahren konkrete Angebote machen. All das gehört zur Lissabon-Strategie. Ich will an
dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Die Lissabon-Strategie ist eingebettet in den europäischen Gesamtkontext. Die damit verbundene Aufgabe ist, soziale
Gegensätze in Europa zu verringern. Das bedeutet, dass
es Investitionen in die Bildung der jungen Generation
und in das lebenslange Lernen für alle als bestes Mittel
gegen Ausgrenzung geben muss. Wenn wir den Lissabon-Prozess so verstehen und ihn entsprechend gestalten, werden wir erfolgreich sein.
Zu Ihrem Antrag, den wir heute auf Empfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ablehnen werden,
sage ich Ihnen: Wenn Sie sich in den letzten Monaten
und Jahren im Kontext Ihres eigenen Antrages bewegt
hätten, dann wären wir in Deutschland ein Stück weiter.
Wir hätten mit Ihrer Hilfe deutlich größere finanzielle
Ressourcen freisetzen können. Sie hatten nämlich die
Möglichkeit, uns im Bundesrat zu unterstützen. Mit Ihrer
Hilfe wären wir in weiten Bereichen bezüglich der
Frage, wie der zukünftige Prozess gesteuert werden soll,
ein Stück weiter. Sie haben hier große Versäumnisse bei
sich festzumachen.
({4})
Sie sollten ein Stück schuldbewusst mit sich ins Gericht
gehen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/5614 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/
CSU mit dem Titel „Wachstum in Deutschland und
Europa stärken - Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? ({0})
Gegenstimmen? ({1})
- Herr Ramsauer, Sie wissen: Wenn man die Macht hat,
muss man bei so etwas sehr aufpassen.
({2})
Also noch einmal: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? ({3})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist in einer zweiten Abstimmung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen worden.
Herr Ramsauer, ich hatte richtig gefragt. Sie haben
das erste Mal falsch abgestimmt. So war es.
({4})
- Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, aber in
diesem Fall nicht.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige ({5})
- Drucksache 15/5446 ({6}) ({7})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({8})
- Drucksache 15/5607 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5609 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer Beschäftigung im
ersten Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksachen 15/5271, 15/5607 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute das Freibetragsneuregelungsgesetz. Es ist erfreulich - das möchte
ich zu Beginn sagen -, dass wir uns auch in der heutigen
Zeit auf eine sinnvolle Regelung verständigen können.
Denn das Freibetragsneuregelungsgesetz ist kein fauler
Kompromiss. Es ist eine sinnvolle Lösung. Es reiht sich
in unsere Arbeitsmarktpolitik mit der klaren Losung
„Fördern und fordern“ ein. Es ist ein weiterer Baustein
im Rahmen unserer Arbeitsmarktgesetzgebung. Wir
wollen damit Anreize schaffen. Wir wollen aktivieren.
Wir wollen fördern. Wir wollen Chancen nutzen.
Die Anreize zur Arbeitsaufnahme und zur Weiterführung einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt werden gestärkt. Wenn ich zum Beispiel 100 Euro
hinzuverdiene, kann ich diese 100 Euro zukünftig für
mich behalten. Darin besteht ein klarer Anreiz. Wenn ich
600 Euro hinzuverdiene, kann ich 200 Euro behalten.
Wenn ich 1 200 Euro verdiene, kann ich 280 Euro behalten. Wenn ich 1 500 Euro verdiene, kann ich davon
310 Euro behalten.
Ich will damit deutlich sagen: Die neue Regelung ist
einfach. Sie ist nachvollziehbar und sie ist transparent.
Sie ist - das ist ganz wesentlich für Sozialdemokraten auch familienfreundlich.
Wir beschließen heute mit der abschließenden Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf weiterhin, dass es
endlich Rechtssicherheit für Frauen in Frauenhäusern gibt. Frauen in prekären Situationen sollen nicht
hin und her geschoben werden. Wir wollen, dass sie von
einer gesicherten Rechtsgrundlage aus ihre prekäre
Situation verbessern können. Deshalb haben wir jetzt
verbindlich geregelt, dass die bisherige Wohnortkommune nicht aus der Verantwortung entlassen werden
darf, wenn sich eine Frau zum Beispiel aus ihrem Wohnbereich in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt begeben
muss.
Insofern schaffen wir Rechtssicherheit und Klarheit.
Das war absolut notwendig. Die Städte und Gemeinden,
die sich aus der Verantwortung stehlen wollten, haben
wir damit nicht durchkommen lassen. Wir sagen: Unsolidarisches Verhalten darf sich in diesem Land nicht lohnen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union
ist endlich zur Einsicht gekommen. Ehrlicherweise muss
man in diesem Zusammenhang auch sagen, dass viele
Monate ins Land gegangen sind - verlorene Monate -;
denn wir hätten eine der jetzigen Regelung vergleichbare
bereits im Herbst 2003 haben können.
({1})
Für diese verlorene Zeit tragen Sie die Verantwortung.
Das alles ist schade. Sie haben eine Chance vertan, Menschen in prekären Situationen zu helfen; auch das muss
heute ganz deutlich gesagt werden.
({2})
Seien wir einmal ganz ehrlich: Die Union ist spät aufgewacht; wir haben es gerade an diesem Beispiel gesehen. Wir haben aber auch eine ganze Reihe anderer Situationen, mit denen wir uns zurzeit auseinander setzen
müssen. Frau Merkel hat gerade nach ihrer Nominierung
zur Kanzlerkandidatin ein Wahlprogramm mit „Mut zur
Ehrlichkeit“ versprochen. Das sind große Worte.
Schauen wir, was davon übrig bleibt.
Konkret fordern Sie zum Beispiel mehr Beitragsgerechtigkeit. Tatsächlich wollen Sie das Arbeitslosengeld
für alle kürzen. Für jeden Arbeitslosen wollen Sie das
Arbeitslosengeld im ersten Monat um 25 Prozent reduzieren. Da frage ich Sie ganz konkret: Was hat das eigentlich mit Beitragsgerechtigkeit zu tun?
({3})
Heute muss man zwei Jahre gearbeitet haben, um
12 Monate lang Arbeitslosengeld zu erhalten. Nach Ihren Vorstellungen muss man hierfür zukünftig zehn
Jahre gearbeitet haben. Was hat das mit Gerechtigkeit zu
tun?
({4})
Heute muss ein 45-Jähriger drei Jahre gearbeitet haben,
um 18 Monate Arbeitslosengeld zu bekommen. Nach Ihren Vorstellungen muss er dafür zukünftig 25 Jahre gearbeitet haben, fast ein ganzes Berufsleben - um 18 Monate Arbeitslosigkeit finanziert zu bekommen! Was hat
das mit Gerechtigkeit zu tun?
({5})
Diese Beispiele decken Ihre ganze Scheinheiligkeit
auf. Sie fordern mehr Flexibilität, Sie fordern mehr Zeitarbeit, Sie fordern, dass unstete Erwerbsbiografien akzeptiert werden. Wenn sie akzeptiert werden sollen,
wenn mehr Flexibilität akzeptiert werden soll, dann
braucht man auf der anderen Seite aber auch mehr Sicherheit. Genau diese nehmen Sie mit einem solchen
Gesetz. Nach außen geben Sie vor, den Zeitraum für den
Bezug von Arbeitslosengeld zu verlängern - tatsächlich
verkürzen Sie ihn. Das ist eine Mogelpackung und das
muss hier entlarvt werden.
({6})
Ich will klar sagen: Die Arbeitslosenversicherung
ist keine Kapitalansparversicherung. Sie muss Risiken
abdecken. Ihre Regelung ist aus meiner Sicht ganz klar
eine Regelung, die erstens die Leistungshöhe reduziert
und zweitens die Bezugsdauer kürzt. Sie mag für Sie gerecht sein - für uns ist das ungerecht. Es ist familienfeindlich, weil gerade Eltern in ihrer Erziehungsphase
genau diese unterbrochenen Erwerbsbiografien haben.
Es ist unsolidarisch und ungerecht. Deswegen werden
wir diesen Weg so nicht mitgehen können.
({7})
Die Union ist arbeitsmarktpolitisch auf Abwegen. Sie
täuscht ein weiteres Mal, indem sie die Senkung des
Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 5 Prozent
fordert. 1,5 Prozentpunkte weniger Beitrag - ich frage
mich immer, inwiefern das eigentlich Mut erfordert?
Beitragssenkungen, das ist leicht gesagt. Nur, was steckt
denn dahinter, meine Damen und Herren? Wer den Beitrag in diesem Ausmaß senkt, nimmt genau das komplette Volumen für die aktivierenden Maßnahmen im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Er nimmt genau das,
was im Kern an Förderung für diejenigen zur Verfügung
steht, denen man Hilfen organisieren muss, damit sie in
den ersten Arbeitsmarkt eintreten können: zum Beispiel
Jugendlichen für den Eintritt ins Berufsleben oder Existenzgründern, die sich selbstständig machen wollen. Genau denen nimmt man die Chance. Ist das Ihr Mut zur
mehr Ehrlichkeit, meine Damen und Herren? Dann hören Sie aber bitte schön auch mit Ihren Wallfahrten zu
den Berufsbildungswerken, zu den Behinderteneinrichtungen auf: Nach außen loben Sie deren Arbeit, postieren sich für Pressefotos und sagen, wie wichtig all das
ist, was sie machen. Durch die Hintertür aber entziehen
Sie ihnen die Finanzierungsgrundlage. Solche Scheinheiligkeit lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das muss
hier deutlich angesprochen werden.
({8})
Lassen Sie mich ein Weiteres ganz klar sagen: Sie sagen, Sie wollen die Steuern senken - oder auch nicht.
Auf jeden Fall wollen Sie bei den Arbeitnehmern tiefer
in die Tasche greifen. Ich nenne nur die Streichung der
Sonn- und Feiertagszuschläge und die Pendlerpauschale.
Das sind Beispiele dafür, dass Sie nach außen vorgeben,
wie Sie Belastungen nehmen wollen, gleichzeitig aber
die Belastungen tatsächlich bei den Arbeitnehmern abladen. Denen, die sich ihrer besonderen Situation stellen,
die am Wochenende und unter besonderen Bedingungen
ihre Arbeit leisten und lange Wege in Kauf nehmen, um
zur Arbeit zu kommen, wollen Sie ihre Chancen rauben.
Das muss so deutlich und klar gesagt werden, wenn man
Ihre Steuersenkungspläne prüft, durch die deutlich wird,
wo Sie wirklich sparen wollen. Sie wollen dies zulasten
der kleinen Leute und nicht, wenn man so will, zulasten
derjenigen tun, die auf breiteren Schultern wirklich mehr
tragen können.
({9})
Sie sprechen von der Vorfahrt für die Arbeit. Das ist
ein toller Slogan. Vorfahrt für die Arbeit heißt für die
Union: Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, den Kündigungsschutz schleifen, die Tarifautonomie knicken, das
Betriebsverfassungsgesetz in wesentlichen Teilen zurücknehmen und die untertarifliche Entlohnung für
Langzeitarbeitslose gesetzlich durchsetzen. Genau hiermit verschärfen Sie die Situation bei den prekären Beschäftigungsverhältnissen. Das, was Sie hier betreiben,
ist keine Vorfahrt für die soziale Marktwirtschaft, das ist
die Vorfahrt für den Sozialabbau.
({10})
Ich sage Ihnen: Die Situation im Land bessert sich
mehr und mehr.
({11})
Wenn man ehrlich ist, dann muss man bekennen, dass so
grundlegende Reformen, wie wir sie machen mussten,
Zeit brauchen.
({12})
Sie bringen auch Verunsicherungen mit sich. Wer aber
die Verunsicherungen nutzt, um eine viel tiefere soziale
Ungerechtigkeit zu organisieren, der verhält sich nicht
ehrlich. Es ist ehrlich, den Leuten zu sagen, wohin man
will. Wir als Sozialdemokraten haben das getan. Was Sie
gemacht haben, ist scheinheilig.
({13})
Das lassen wir nicht durchgehen. Wir werden das
landauf, landab im Land deutlich brandmarken, damit jeder weiß, wohin die Reise mit Ihnen und wohin die
Reise mit uns geht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Meckelburg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Brandner, die Rede, die Sie hier
gerade gehalten haben,
({0})
hörte sich wirklich so an, als ob Sie entweder auf die
Wiedereingliederung in den DGB nach einer verlorenen
Bundestagswahl mit vollen Dienstbezügen oder zumindest auf erhöhte Tantiemen hinarbeiten, falls Sie diese
zurzeit noch bekommen. Jedenfalls ging das an dem,
über das wir heute hier debattieren, ziemlich vorbei.
({1})
Sie haben hier zu Punkten Stellung genommen, die
Sie irgendwoher gezogen haben.
({2})
Ich bitte Sie einfach, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
das Wort der Kanzlerkandidatin Angela Merkel gibt,
dass das Programm am 11. Juli 2005 in den gesamten
Zusammenhängen vorhanden sein wird.
({3})
Warten Sie bitte einmal ab, was darin steht. Ich habe
nicht den Eindruck, dass Deutschland Angst vor diesem
Programm hat. Deutschland hat Angst vor den Ergebnissen Ihrer Politik der letzten sieben Jahre. Das ist das Problem.
({4})
Ich komme auf die Hartz-Gesetzgebung insgesamt
und auf die Präsentation der Ergebnisse im August 2002
zurück.
({5})
Man möchte fast von einer Zelebration im Französischen
Dom sprechen. Peter Hartz hat gesagt: Ziel des Masterplans ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um
2 Millionen zu verringern, sie also zu halbieren.
({6})
Das hat nicht ganz funktioniert. Damals, im August 2002, hatten wir 4 Millionen Arbeitslose, heute sind
es 5 Millionen.
({7})
Damals hatten wir 27,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, heute sind es nur noch 26,1 Millionen.
({8})
- Sofort. - Das Problem ist, dass genau in dem Bereich,
in dem ordentlich Steuern und auch Beiträge gezahlt
werden, 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen
sind.
({9})
Diese fehlen beim Steuereinkommen und bei den Versicherungen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({10})
- Zu den Erwerbstätigenzahlen sage ich Ihnen sehr
gerne, dass Sie sie im Moment gerne zitieren. Aber man
muss wissen, dass es bei diesen Zahlen nicht um die sozialversicherungspflichtig Beschäftigen geht, sondern es
geht um eine Gesamtschau der Erwerbstätigen. Darunter
fallen unter anderem Menschen mit einer staatlich geförderten Ich-AG und auch die Minijobber. Das sind also
nicht die Zahlen, wie wir sie normalerweise verstehen.
Deswegen können Sie diese Zahlen zelebrieren. Entscheidend ist aber die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
({11})
Gerhard Schröder hat damals im Rahmen dieses Zelebrierens im Französischen Dom bei der Vorstellung des
Hartz-Konzeptes erklärt: Wir müssen aus dem großen
Wurf - das war das Hartz-Konzept - eine neue Wirklichkeit für Deutschland machen. - Die neue Wirklichkeit
für Deutschland sieht wie folgt aus: höhere Arbeitslosenzahlen und weniger Arbeitsplätze. Der große Wurf ist
zum Bumerang geworden. Er wird zum großen Rauswurf von Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt führen.
Nach der NRW-Wahl wissen wir, dass er nicht draußen
am Tor rüttelt und ruft: Ich will da rein. Vielmehr steht er
nun innen und bittet dringend darum: Ich will hier
raus. - Wir werden alles dafür tun, dies bis zum September zu erreichen.
Lassen Sie mich zu dem Gesetzentwurf kurz etwas
sagen. Es ist uns im Anschluss an den Jobgipfel, den wir
angestoßen haben, gelungen, doch noch ein paar Dinge
gemeinschaftlich auf den Weg zu bringen.
({12})
- Sie müssen immer angetrieben werden. Sie können
zwar „spät“ rufen, aber Sie sind vorher viel zu spät gewesen.
({13})
Lassen Sie mich etwas zu dem Ergebnis sagen. Wir
haben bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose einen Kompromiss erzielt. Es ist gut, dass
dies auch in solchen Zeiten möglich ist. Auf die Ergebnisse hat der Kollege Brandner hingewiesen; ich will sie
nicht im Detail wiederholen. Die Regelungen führen
dazu, dass das Ganze für die Betroffenen transparenter
wird, dass die Berechnungen unkomplizierter und einfacher werden und dass am Ende von dem hinzuverdienten
Geld mehr in den Taschen der Arbeitslosengeld-II-Bezieher verbleibt.
Es gibt noch ein Problem, auf das ich hier auch öffentlich hinweisen möchte und das wir in dieser Woche
im Ausschuss beraten haben. Es geht um die Frage,
wann diese Regelungen in Kraft treten. Wir wollten immer, dass sie so schnell wie möglich in Kraft treten.
({14})
Unsere Vorschläge waren der 1. August oder der 1. September 2004. Im Entwurf des Gesetzes stand der 1. Oktober 2004. Es gab im Ausschuss Hinweise von der
Bundesagentur und auch von der Bundesregierung, dass
dies EDV-technisch zu einem so frühen Zeitpunkt nicht
möglich ist. Das führt zu Umgehungslösungen, weil das
in die EDV nicht direkt eingegeben werden kann. Würde
dann ein Bescheid herausgehen, wäre er für den Empfänger nicht nachvollziehbar.
Ich habe gesagt, das scheint darauf hinauszulaufen,
dass es nach dem Oktober 2005 zu einem ziemlichen
Kuddelmuddel kommen wird. Ich habe dann angeboten
- das ist auch am Vortag diskutiert worden -, uns gemeinschaftlich darauf zu einigen, die Regelungen dann
umzusetzen - auch wenn dies später sein sollte -, wenn
es für die Probleme eine Lösung gibt. Sollten nämlich
Einsprüche eingehen, so würden diese zu mehr Arbeit
und mehr Bürokratie führen.
Ganz offensichtlich war es so, dass die SPD bereit
war, sich im Sinne der Bundesagentur zu bewegen. Die
Grünen haben darauf gedrängt, es bei dem Termin am
1. Oktober 2005 zu belassen. Das war spürbar. Jetzt haben wir die Situation, dass Bundesregierung und Bundesagentur vor einem Durcheinander warnen, aber die
Koalition wegen des Koalitionsfriedens - mal sehen, wie
sie sich in zwei Wochen verhalten wird - beim 1. Oktober 2005 bleibt. Wir haben erklärt, dass wir an dem gefundenen Kompromiss festhalten und nicht aussteigen
werden. Ich sage nur deutlich, dass wir es nicht hinnehmen werden, dass uns ein mögliches Durcheinander, das
durch den heutigen Beschluss entsteht, nach einem Regierungswechsel angelastet wird.
({15})
Es kommt in den kommenden Wochen darauf an, in
der Auseinandersetzung deutlich zu machen, was wir
brauchen. Hierzu möchte ich nur zwei Stichworte nennen: Agenda Arbeit und Vorfahrt für Arbeit. Das werden
wir jedenfalls den Bürgern anbieten. Ich gehe davon aus,
dass dies dazu beitragen wird, Deutschland nach dem
18. September in eine bessere Zukunft zu führen.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute wird ein schwarzes Loch geschlossen, eines von
den schwarzen Löchern in der Hartz-Gesetzgebung.
({0})
Ich muss Ihnen sagen: Ich bin sehr froh darüber. Herr
Meckelburg, ich hätte mir von Ihnen schon gewünscht,
hier so viel Ehrlichkeit aufzubringen, dass Sie den Menschen an den Bildschirmen und hier im Saal sagen, dass
Ihre Blockade und nicht Ihr Antrieb dazu geführt hat,
dass wir nicht seit dem 1. Januar 2005 eine bessere Lösung für den Zuverdienst haben, sondern eine schlechte,
({1})
die wir jetzt ändern können, weil Sie gelernt und eine
Wende vollzogen haben. Wir begrüßen Lernfähigkeit
durchaus. Sie sollten aber nicht für sich in Anspruch
nehmen, gedrängt zu haben. Sie waren die Blockierer.
({2})
- Wir haben einen Kompromiss geschlossen, das ist
richtig.
Ich bin froh über die Lösung, aber wir müssen so viel
Ehrlichkeit haben, den Menschen zu sagen, was das
Ganze in diesem Jahr für sie bedeutet hat. Es gibt keine
genauen Zahlen über die Zuverdienste, aber es sind - so
wird geschätzt - ungefähr 500 000 Menschen, die dazuverdienen. Es werden jetzt nicht alle von dieser Veränderung betroffen sein, aber es ist schon so, dass ein großer
Teil dieser Menschen in diesem Jahr schlechtere Zuverdienstmöglichkeiten hatte, als er hätte haben können,
meine Damen und Herren von der Union. Deswegen
habe ich im Ausschuss darauf gedrängt - Sie sprachen
das an -, dass die Änderung so früh wie möglich erfolgt.
So früh wie möglich heißt zum 1. Oktober dieses Jahres. Wir wissen, das geht nur mit einer Umgehungslösung, weil die Technik umgestellt werden muss, da wir
eben nicht seit dem 1. Januar 2005 diese Regelung haben. Ich sage aber auch: Ich finde es wichtig, dass diese
Lösung nicht eine pflegeleichte Lösung für die Software
ist, sondern eine hilfreiche Lösung für die Menschen.
({3})
Deswegen haben wir darauf bestanden, diese Zuverdienstmöglichkeiten so früh wie möglich zu verbessern.
({4})
Es gab ein schwarzes Loch und es fehlte die Balance
zwischen Fordern und Fördern an einigen Stellen. Wir
stellen sie jetzt an dieser Stelle her.
Herr Brandner hat auf einen anderen Punkt hingewiesen, der mir auch sehr wichtig ist: Die Finanzierung der
Frauenhäuser ist jetzt sichergestellt, auch dann, wenn
Frauen vom Landkreis in die Städte ziehen. Das ist sicher ein Fortschritt für die Frauen und die Frauenhäuser.
Wir haben mit der gesamten Hartz-Gesetzgebung an
einem großen Rad gedreht. Das ist wohl wahr. Eine
große Reform führt, auch weil die Bundesagentur für
Arbeit eine große Institution ist, bei der wir viele Regeln
verändert haben, in der Umsetzung zum Knirschen. An
vielen Punkten hakt es. Wir haben deswegen den
Ombudsrat eingesetzt und hatten eine Hauptsteuerungsgruppe; denn wir wollten sehr genau beobachten,
wo es hakt und wo es knirscht. Der Ombudsrat hat jetzt
einzelne Punkte in die Debatte gebracht, bei denen er
Änderungsbedarf sieht. Das sind Punkte, die wir von
Anfang an thematisiert haben.
Ein Punkt ist die Altersvorsorge. Natürlich legen die
Menschen etwas für die Altersvorsorge zur Seite. Dies
müssen sie auch dann behalten können, wenn sie arbeitslos werden. Es wäre geradezu unsinnig, ihnen das wieder
wegzunehmen. Die Grünen haben dazu einen Vorschlag
gemacht und ein Altersvorsorgekonto entwickelt, welches das Ansparen für das Alter und die Situation in der
Arbeitslosigkeit erleichtert. Wir werfen das wieder in die
Debatte.
({5})
Der Ombudsrat hat darauf hingewiesen, dass viele
Einsprüche im Zusammenhang mit der Anrechung des
Partnereinkommens kamen. Das ist nahe liegend und
das ist etwas, das wir von Anfang an thematisiert haben.
Sie von der Union wollten ja bei der Anrechnung noch
weiter gehen. Sie wollten verhindern, dass wir die Verantwortlichkeit von Eltern gegenüber Kindern und von
Kindern gegenüber Eltern bei Hartz IV auflösen. Wir haben jetzt eine rigide Anrechnung des Partnereinkommens. Wir sollten auch dies auf den Prüfstand stellen,
wie es der Ombudsrat fordert, und eine weniger starke
Anrechnung des Partnereinkommens anstreben. Es gibt
zum Beispiel in Dänemark Regelungen, die das vorsehen, und zwar ohne große Verwerfungen.
Ein weiterer Punkt betrifft Probleme der Kinder. Wir
haben in der Praxis gesehen, dass Kinder, die beispielsweise in Bedarfsgemeinschaften leben, Schwierigkeiten
beispielsweise bezüglich der Teilhabe an Schulausflügen, kulturellen Angeboten und Ähnlichem haben. Diese
Problematik müssen wir aufgreifen.
Vonseiten der Grünen haben wir bei der Hartz-Gesetzgebung unser Modell der Kindergrundsicherung vorgeschlagen. Ich bin sehr froh, dass es teilweise, aber sicherlich noch nicht weit genug - auch hier gibt es
Verwerfungen - in die Gesetze eingeflossen ist. Der Ombudsrat macht auch darauf aufmerksam. Ich finde es gut,
von dieser Seite her Unterstützung für grüne Vorschläge
und grüne Politik zu haben.
Ein letzter Punkt, der auch in den letzten Tagen vom
Ombudsrat thematisiert worden ist, betrifft das Thema
Zentralismus bzw. Dezentralismus bei der Verwaltung
von Arbeitslosigkeit. In sämtlichen Arbeitsmarktgesetzen lautet die ganz klare Linie Dezentralisierung. Das,
was vor Ort passiert, muss ernst genommen werden. In
der Umsetzung - das wissen Sie auch - gibt es Probleme. Es gibt Kommunen und Städte, in denen das
Ganze wunderbar funktioniert, beispielsweise in Köln
oder Freiburg.
({6})
In Köln hat übrigens jetzt jeder Jugendliche ein Angebot; das finde ich sehr gut. Es gibt aber auch Landkreise,
in denen immer noch die Idee des Zentralismus in den
Köpfen vorherrscht. Diese müssen sich auf die Hinterbeine stellen, um nicht von der Bundesagentur für Arbeit
oder den Institutionen gedeckelt zu werden.
Ich glaube, dass wir zukünftig sehr viel dafür tun
müssen, um vor Ort eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu erreichen. Die Eingriffsmöglichkeiten der Bundesagentur für Arbeit müssen zurückgefahren werden.
Ich sage aber auch: Es ist keine Lösung, wenn entweder
der eine oder der andere alleine arbeitet. Wir müssen
eine vernünftige Kooperation vor Ort erreichen, in die
die regionalen Regelungen, die für die Langzeitarbeitslosen gut sind, aufgenommen werden, die damit eine
Chance auf Durchsetzung bekommen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Brandner, der Grund für Ihre Misserfolge
bei den letzten Wahlen und für die aktuellen Schwierigkeiten, in denen Sie sich befinden, ist, dass es Ihnen
nicht gelungen ist, am Arbeitsmarkt nachhaltige Erfolge
zu erzielen,
({0})
von größeren und offeneren Märkten zu profitieren;
denn dazu hätte es ein größeres Maß an Flexibilität am
Arbeitsmarkt gebraucht. Dazu waren Sie nicht bereit.
Denn zu einem funktionierenden Arbeitsmarkt gehört
unter anderem auch ein funktionierender Niedriglohnsektor, in dem Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden. Das heißt,
die Aufnahme, Herr Kollege Brandner, einer noch so gering bezahlten Beschäftigung muss attraktiv gemacht
werden. Das war - zumindest hatte ich das damals so
verstanden - auch das ursprüngliche Ziel der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Das
ALG II sollte einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsaufnahme setzen.
Das ist - wie man bei nüchterner Betrachtung feststellen muss - bisher nicht gelungen. Zum einen, weil die
Bundesagentur für Arbeit ihre Vermittlungstätigkeit fast
gänzlich eingestellt hat. Anders kann ich das jedenfalls
nicht nennen, wenn wir 2004 einen Durchschnitt von
1,4 Vermittlungen pro Monat und Arbeitsvermittler hatten. Zum anderen sind die Hinzuverdienstgrenzen im
geltenden Recht zu kompliziert und vor allem unattraktiv. Derzeit werden ALG-II-Empfängern bei einem Verdienst bis 400 Euro 85 Prozent angerechnet.
({1})
Das heißt, von 400 Euro verbleiben gerade einmal
60 Euro, während, Herr Kollege Brandner, das Entgelt
für die 1-Euro-Jobs anrechnungsfrei bleibt. Das ist eine
nicht länger hinnehmbare Verzerrung zugunsten des
zweiten und zulasten des ersten Arbeitsmarktes.
({2})
Dass bei der jetzigen und aktuell geltenden Hartz-IVGesetzgebung Nachbesserungen erforderlich würden,
war schon im letzten Jahr absehbar.
({3})
- Ja, die FDP hat schon im Vermittlungsverfahren, Herr
Kollege Brandner, höhere Freibeträge für Hinzuverdienste gefordert.
({4})
Die rot-grüne Bundesregierung und die Union haben
sich nun geeinigt, die Hinzuverdienstgrenzen zu verändern.
({5})
Für meine Fraktion will ich hier aber deutlich sagen:
Auch die geplanten Änderungen werden künftig nicht
ausreichen. Beim konkurrierenden Instrument 1-EuroJob wird nämlich die Mehraufwandsentschädigung immer noch nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet.
Für jemanden, der einen 2-Euro-Job hat und 30 Stunden
pro Woche arbeitet, sind monatlich 240 Euro zusätzlich
zum Arbeitslosengeld II anrechnungsfrei.
Um nach den von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union, SPD und Grünen, vorgeschlagenen
neuen Hinzuverdienstgrenzen auf denselben Betrag zu
kommen, muss man im ersten Arbeitsmarkt 850 Euro
verdienen. Deswegen wiederhole ich: Die Anreize zur
Aufnahme einer Tätigkeit sind im Modell von SPD,
Union und Grünen mit Freibeträgen von 20 Prozent im
Einkommensbereich von 100 bis 800 Euro - übrigens
auch nach Auffassung externer Experten; ich stehe mit
dieser Meinung nicht alleine - immer noch zu gering.
({6})
Ihr Vorschlag veranlasst die Menschen auch künftig, auf
niedrigen Einkommensstufen zu verharren.
Nach unserer Auffassung kann nur mit einem durchgängig hohen Freibetrag ein wirksamer Anreiz für eine
Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden.
Nur mit hohen Freibeträgen kann auch Schwarzarbeit
unattraktiv gemacht werden.
({7})
Für die FDP-Bundestagsfraktion will ich an dieser Stelle
deutlich sagen, Herr Brandner: Derjenige, der arbeitet,
muss mehr Geld zur Verfügung haben, als der, der nicht
arbeitet.
({8})
Auch für den Niedriglohnsektor gilt: Wer mehr arbeitet, muss mehr behalten können als derjenige, der weniger arbeitet. Das ist eine Schwäche Ihres Vorschlags,
Herr Kollege Meckelburg; ich muss das hier so deutlich
sagen.
Es gilt der alte Slogan: Arbeit muss sich lohnen. Die
FDP hat einen einfachen und, wie ich meine, vernünftigen Vorschlage vorgelegt. Für Empfänger von Arbeitslosengeld II soll der Freibetrag bei einem Hinzuverdienst
von bis zu 600 Euro im Monat auf 40 Prozent angehoben
werden. Mit dem Bürgergeld der FDP, das wir auf unserem letzten Parteitag in Köln beschlossen haben, erhöht
sich bei einem Einkommen von 600 Euro das verfügbare
Einkommen um 285 Euro. Von jedem verdienten Euro
bleibt also gut das Doppelte als bisher. Das ist eine echte
Belohnung für denjenigen, der sich um eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bemüht. Mit dieser Einschätzung stehen wir übrigens nicht allein: Nach
einer Auswertung des Instituts für Weltwirtschaft verbessert unser Bürgergeldmodell die Motivation von Arbeitslosengeld-II-Empfängern bei geringem Einkommen
deutlich stärker als das von Rot-Grün und Union vereinbarte Modell.
({9})
Deswegen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz, Rot und Grün, sich nicht mit dem
Kompromiss aufhalten, zu dem sich erstaunlicherweise
niemand so recht bekennen will; Sie sollten vielmehr mit
der Zustimmung zum FDP-Vorschlag den Weg für eine
nachhaltige und echte Reform des Niedriglohnsektors
freimachen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen,
ist eine sinnvolle Weiterentwicklung der Arbeitsmarktreform der Bundesregierung. Die bisherige Zuverdienstregelung war kompliziert und unlogisch. Sie geht auf
das segensreiche Wirken der Union - namentlich von
Herrn Ministerpräsident Koch - im Vermittlungsausschuss zurück. CDU und CSU haben aber jetzt mitgeholfen, diesen Unsinn zu bereinigen, und ich begrüße es außerordentlich, dass wir uns zusammengefunden haben,
um die Zuverdienstregelung zu reformieren.
Ich will zunächst eine Bemerkung zu Herrn Kolb machen. Ich habe bereits in der ersten Beratung gesagt, dass
der Vorschlag der FDP völlig untauglich ist.
({0})
- Ich habe ihn richtig gelesen und auch verstanden. Ich
weiß aber nicht, ob Sie ihn verstanden haben. - Denn Ihr
Vorschlag würde nicht zur Vereinfachung des Verfahrens
führen. Insofern ist unser Vorschlag deutlich besser. Wir
sehen einen Freibetrag von 100 Euro vor. Für den Teil
des monatlichen Einkommens, der diesen Betrag bis zu
einer bestimmten Grenze übersteigt, gilt, dass 20 Prozent
behalten werden können. Das entspricht beispielsweise
einem Zuverdienst von 160 Euro bei 400-Euro-Jobs.
({1})
Der Freibetrag von 100 Euro gilt durchgängig. Wir vollziehen damit auch hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse
mit Mehrbedarfsaufwand eine Anpassung, wie Sie zu
Recht bemerkt haben.
({2})
- Sie können zwar immer wieder dazwischenreden, aber
es kann Sie sowieso keiner verstehen.
Das zweite Problem besteht darin, dass Sie keine Deckelung vorsehen. Deswegen ist Ihr Vorschlag untauglich. Vielleicht weisen Sie auch Ihren arbeitsmarktpolitischen Spezialisten Niebel darauf hin,
({3})
dass schriftliche Vorlagen Hand und Fuß haben müssen.
Ihr Vorschlag hat das auf alle Fälle nicht.
({4})
Ich will ausdrücklich sagen, dass es gut ist, dass wir
eine Regelung für die Frauenhäuser gefunden haben.
({5})
Wir regeln das nun gesetzlich - ich sage das mit ein bisschen Bedauern -, weil sich ein Teil der Kommunen, die ja
Träger der Leistungen sind, geweigert hat, eine Regelung
anzuwenden, die ihnen der Deutsche Verein empfohlen
hat und die wir bei den Arbeitsgemeinschaften längst umgesetzt haben. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, in
Gesprächen auch mit der Union - das sage ich ausdrücklich - zu einer schnellen und unkomplizierten Regelung
zu kommen. Diese Neuregelung wird unmittelbar im
Monat nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten.
Wir wollen, dass das Gesetz am 1. Oktober in Kraft tritt.
Darüber hat es im Ausschuss Debatten gegeben; das will
ich gar nicht verschweigen. Die Koalitionsfraktionen haben sich darauf verständigt, an diesem Termin festzuhalten. Ob man es umsetzen kann, bleibt abzuwarten.
Wenn ich hier für eine vernünftige Weiterentwicklung
unserer Arbeitsmarktreform mit Augenmaß plädiere,
dann ist das gleichzeitig eine Absage an viele, die mit ihren konzeptionslosen Forderungen dieser Arbeitsmarktreform irgendeine neue Richtung geben wollen,
weil sie angeblich keine Wirkung zeigt. Ein paar Vorschläge, die seit der NRW-Wahl am vorletzten Sonntag
durch die Presse geistern, zeugen von derartiger Konzeptionslosigkeit. So will zum Beispiel Herr Pofalla eine
verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer einführen.
Abgesehen davon, dass das inhaltlich in die falsche
Richtung führt, will ich Ihnen nur sagen: Die Arbeitsverwaltung registriert bislang nicht die Beschäftigungsdauern. Wir haben doch gerade Beschäftigungsdauern als
Voraussetzung mit Hartz III beseitigt und die Rahmenfrist von drei auf zwei Monate reduziert. Wir haben deutlich entschlackt.
Die Umsetzung des Vorschlags von Herrn Pofalla
führte dazu, dass künftig die Erwerbsbiografien der Versicherten bei der Bundesagentur für Arbeit geführt werden müssen. Das hat mit weniger Aufwand überhaupt
nichts zu tun und führt im Übrigen zu Benachteiligungen
von Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien.
Wenn man weiß, dass die Zahl solcher Beschäftigungsverhältnisse in Zukunft zunehmen wird - es gibt nun
einmal nicht mehr das Dauerbeschäftigungsverhältnis,
das sich dadurch auszeichnet, dass man mit 16 Jahren
eingestellt wird und mit 65 Jahren ausscheidet; vielmehr
muss man heutzutage wechseln -, dann sollte man vorher genau darüber nachdenken, welche Vorschläge man
unterbreitet.
Wenn ich sehe, dass Herr Pofalla in einem Antrag mit
dem Titel „Pakt für Arbeit“ vom Februar dieses Jahres
noch eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von derzeit 6,5 auf 5,5 Prozent vorschlägt - er
sagt, es sei überhaupt kein Problem, dies zu finanzieren -, dann frage ich mich, wie er das alles in einer Strategie zusammenfassen will.
({6})
Während der eine Vorschlag zu gewaltigen Mehrausgaben führt - wenn Sie genau rechnen, werden Sie feststellen, dass man ganz schnell bei 10 Milliarden Euro ist -,
führt der andere Vorschlag betreffend die Senkung des
Beitrags zur Arbeitslosenversicherung dazu, dass die Arbeitslosenversicherung sehen muss, wo sie 11 Milliarden
Euro herbekommt. So viel macht nämlich die Senkung
des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt aus. Es wäre sinnvoll, wenn Sie das noch vor
der Wahl erklären könnten; denn dann wüssten die deutschen Wählerinnen und Wähler noch vor ihrer Wahlentscheidung, was Sie so alles auf der Pfanne haben.
Dann hat Frau Lautenschläger, die hessische Sozialministerin, letzte Woche verkündet - auch das dient nur
dazu, für Unklarheit zu sorgen und die Menschen zu
verwirren -, dass jede Kommune, wenn die Union gewinnen sollte, künftig das Recht bekommen solle, Langzeitarbeitslose in eigener Regie zu betreuen. Was gilt
denn nun? Vielleicht können Sie von der Unionsfraktion
das einmal beantworten. Gilt nun das, was Sie im Vermittlungsausschuss mit breiter Zustimmung mit beschlossen haben, oder gilt „rein in die Kartoffeln, raus
aus den Kartoffeln“ nach dem Motto „Wenn wir gewählt
werden, ist alles völlig egal; wir hauen dann die Systematik kurz und klein“? So geht es nicht. Ich glaube, dass
wir für unsere Reformen Zeit brauchen. Sie müssen umgesetzt werden und wirken können. Im Hinblick darauf
ist Ihr Vorschlag kontraproduktiv.
({7})
Klaus Brandner hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Hartz IV - das muss man sich einmal vorstellen - gerade erst einmal seit fünf Monaten umgesetzt
wird. In Großbritannien hat man sich - ich habe gerade
meinen britischen Amtskollegen besucht - für die Umsetzung des vergleichbaren Konzepts „Jobcenter plus“
fünf Jahre gegeben. Der britische Staatssekretär im Arbeitsministerium sagte: Wir gehen an die Angelegenheit
systematisch heran und stellen eine Region nach der anderen um. In Deutschland denkt man folgendermaßen:
Am 31. Dezember gilt noch das eine System und am
1. Januar - siehe da, wir klatschen alle in die Hände! gilt schon das andere System.
({8})
Dass man Zeit braucht und dass es notwendig ist, die
Umsetzung dieser Reformanstrengungen voranzutreiben, halte ich für selbstverständlich. Man muss es der
Bevölkerung sagen. Wir sehen, dass sich in der Zwischenzeit Erfolge eingestellt haben. Um das zu erkennen, muss man nur genauer hinschauen: Im Mai waren
161 000 Menschen weniger als im April arbeitslos. Das
ist ein saisonal bedingter Rückgang; aber er war viel
stärker als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Von
2000 bis jetzt hat der Rückgang von April zu Mai im
Durchschnitt immer nur bei rund 140 000 gelegen.
({9})
- Ich werde gerade nach dem Jahresvergleich gefragt.
Sie bekommen eine Antwort darauf. - Dabei muss man
berücksichtigen, dass seit Dezember letzten Jahres fast
400 000 ehemalige Sozialhilfeempfänger zusätzlich in
die Arbeitslosenstatistik aufgenommen worden sind.
({10})
Das zeigt, dass dieser Entwicklung nicht nur saisonale
Einflüsse zugrunde liegen, sondern dass die Reformen
schon ein wenig wirken.
Die Zahl der Erwerbstätigen steigt weiter. Zu dem,
was Sie hier eben erzählt haben, möchte ich sagen: Man
muss sich wirklich an den Kopf fassen. Sie sagen: Es gilt
nur die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
({11})
Was gilt denn nun? Sie tönen doch an jeder Straßenecke,
dass wir mehr Selbstständige brauchen,
({12})
dass wir also mehr Menschen brauchen, die sich selbstständig machen und damit erwerbstätig sind, und dass
die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse auf Dauer nicht so bleiben wird wie
bisher.
Wenn das stimmt, dann ist die Erwerbstätigenstatistik
eine ganz wichtige Größenordnung. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt weiter. Mit rund 39 Millionen Menschen waren im Mai 138 000 Personen mehr als im Mai
des Vorjahres erwerbstätig. Wir erreichen mit der Erwerbstätigenzahl von Monat zu Monat Rekorde in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das muss
man verfolgen; daran muss man arbeiten. Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass die Erwerbstätigkeit
in unserem Lande weiter und zügig zunimmt.
({13})
Das erste Ziel unserer Arbeitsmarktreform bleibt,
junge Menschen in Arbeit zu bringen. Mit aktuell
568 000 jungen Menschen unter 25 in Arbeitslosigkeit
liegen wir im Mai um fast 100 000 unter der Zahl von
April. Ich sage Ihnen - diese Botschaft muss klar sein -:
Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um zu erreichen, dass am Ende dieses Jahres unter 25-Jährige
maximal drei Monate arbeitslos sind. Wir werden alles
daransetzen, den Rechtsanspruch umzusetzen und junge
Menschen mit einer Beschäftigung, mit einer Qualifikation, mit einer Ausbildung zu versorgen. Hier sind wir
auf einem guten Weg. Auch in diesem Zusammenhang
wirkt die Arbeitsmarktreform, die wir auf den Weg gebracht haben.
({14})
- „Das ist besonders wichtig“, das sehe ich genauso.
Wir werden in unmittelbarer Zukunft ein Modellprojekt auf den Weg bringen - der Kanzler hat es schon angekündigt; das ist unsere letzte Maßnahme in diesem
Bereich in dieser Legislaturperiode -; dafür stehen
250 Millionen Euro zur Verfügung. Wir wollen für
50 Modellprojekte zur Beschäftigung Älterer sorgen.
Das Verfahren sieht so aus, dass wir die Regionen auffordern, Vorschläge zu unterbreiten. Wir werden uns
diese Vorschläge anschauen. Die kreativsten, die besten
werden entsprechend gefördert und das ganze Programm
wird umgehend umgesetzt.
Wer genau hinschaut, der wird merken, dass die
Hartz-Reformen wirken.
({15})
Ich empfehle insbesondere, einmal einen Blick auf die
Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland zu werfen: Die
Zahl der Langzeitarbeitslosen dort entspricht fast wieder
der im vergangenen Jahr. Das heißt, die Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist dort weitgehend so vorangeschritten, dass der durch die Umstellung der Berechnung entstandene Berg ein ganzes Stück
eingeebnet ist. Ich bin ganz optimistisch, dass wir in den
nächsten Monaten schrittweise vorankommen werden.
Freuen Sie sich nicht zu früh! Freude kann erst entstehen, wenn der Wahltag abgelaufen ist. Wir werden mit
allen Mitteln kämpfen und der deutschen Bevölkerung
deutlich machen, dass unsere Reformen sinnvoll, wichtig und richtig sind.
Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Veronika
Bellmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Andres, wenn man Sie hört,
dann kann man denken, die Hartz-Reform sei eine einzige Erfolgsgeschichte. Erzählen Sie das einmal den Betroffenen. Die sehen das ganz anders
({0})
- Moment, Herr Brandner. Ihr Kollege Wendt hat sich
im Ausschuss zu Recht des Satzes von Alexander Kluge
befleißigt: In Gefahr und großer Not ist der Mittelweg
der Tod.
Wenn man Kompromisse fasst, dann muss man auch
dazu stehen. Sie haben gerade heute das beste Beispiel
dafür gegeben, wie politisch schlecht miteinander umgegangen wird.
({1})
Fortwährend haben Sie uns unsere Argumente vorgehalten. Wenn auch wir das machen würden, dann könnten
wir zum Beispiel einmal über die Vermögensbehalte
sprechen, die Sie runtergesetzt hatten und wir durch unsere politische Argumentation wieder hoch gesetzt haben. Lassen Sie uns nicht weiter darüber reden.
({2})
- Ich lasse keine Zwischenfragen zu.
Ich bin sehr erfreut darüber, was die Kollegin Dückert
gesagt hat. Noch vor Jahresfrist, als wir über Änderungsbedarf bei Hartz IV gesprochen hatten, weil wir, bevor
es in Kraft getreten ist, schon einige Sachen gesehen hatten, die nicht in Ordnung waren, war bei Ihnen überhaupt kein Änderungswille vorhanden. Plötzlich ist er
da. Das kann man als positiv betrachten; das machen wir
auch. Denn in vielem ist Hartz IV nun einmal eine Fehlkonstruktion. Das einzige wirklich Gute daran sind der
Grundsatz, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen, weil beides steuerfinanzierte Systeme sind, und der
Grundsatz „Fordern und Fördern“.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brandner?
Nein.
({0})
Dem Vorwurf an die Union, den günstigeren Regelungen zum Zuverdienst nicht zugestimmt zu haben bzw.
nicht rechtzeitig zugestimmt zu haben, liegt etwas anderes zugrunde. Wir hatten früher die Regelung, dass man
165 Euro hinzuverdienen konnte. Deswegen ging der
Verdienst auch nur bis 165 Euro und nicht weiter. Das
war kein Anreiz - weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber -, etwas in diesem Bereich zu schaffen. Das
Fachleutevotum war daher auch, prozentuale Anrechnungslösungen und einen Freibetrag zu schaffen. Die
Lösung, die im Anschluss daran gefunden wurde - das
haben Sie selbst gesagt -, war weder transparent genug
noch war sie unbürokratisch und einen Arbeitsanreiz an
sich hat sie auch nicht geschaffen.
Deswegen ist es die richtige Entscheidung, die wir
jetzt gemeinsam getroffen haben - vielleicht auch noch
gerade rechtzeitig -, den Freibetrag pauschal auf
100 Euro festzulegen und höhere prozentuale Anrechnungen zu schaffen. Allerdings hätte ich mir bei dieser
Sache auch noch eine einfachere Lösung vorstellen können.
Die Kinderkomponente ist noch als positiv zu nennen
und auch die Klarstellung der Regelung der Finanzierung bei der Problematik der Frauenhäuser.
Alle bisherigen Modellrechnungen zeigen uns, dass
den betroffenen Hilfeempfängern tatsächlich mehr Zuverdienst in der Tasche bleibt. Wir werden sehen, ob die
erhofften Vorteile eintreten, nämlich ein besserer Anreiz
für Langzeitarbeitslose bei gering bezahlten Beschäftigungen, eine Senkung der Schwarzarbeit, Unterstützung
der Familien und Bürokratieabbau.
Große Bedenken habe ich allerdings bei der Umsetzung. Das wurde schon bei der Diskussion im Ausschuss
deutlich. Ich meine, normalerweise ist die Rechnung relativ einfach: 100 Euro Freibetrag, bis 800 Euro 20 Prozent Selbstbehalt und bis 1 200 Euro bzw. 1 500 Euro
10 Prozent. Das klingt alles sehr einfach. Manche würden sagen, man könne es auch mit einer russischen Rechenmaschine durchrechnen. Aber allein die Software
macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ich hoffe
nur, dass es die Betroffenen nicht so sehr trifft, dass sie
dann sagen: Das ist wieder das Gegenteil von gut gemeint. Die neue Regelung ist zwar da, aber für uns nicht
praktikabel.
Wenn ich das alles so betrachte - gerade die Schwierigkeiten, die es noch mit der Software gibt -, dann
komme ich zu dem Schluss, dass die Optionsgemeinden das gesamte Thema Arbeitsmarktverwaltung besser
anpacken als die Bundesagentur für Arbeit. Deswegen
möchten wir nach wie vor, dass es keine Begrenzung bei
den Optionen gibt. Das heißt, wer sich als Kommune
dazu willens und in der Lage fühlt, der soll diese Aufgabe übernehmen dürfen.
Wir hatten in der letzten Woche ein Gespräch mit einem Landrat aus Thüringen, der uns sehr anschaulich
gezeigt hat, wie er damit umgeht. Ich glaube, in den
Kommunen ist man einfach näher dran.
Das gilt auch bei dem Thema der Zuverdienstregelungen. Er hat uns zum Beispiel gesagt, dass er bei sich als
Landrat einen Wirtschaftsbeirat hat. In diesem Wirtschaftsbeirat sind auch Unternehmer tätig, die sich jetzt,
nach Thematisierung der Zuverdienstregelungen, sicherlich sehr viel mehr bemühen werden, auch solche Arbeitsplätze zu schaffen, auf denen Arbeitnehmer und betroffene Hilfeempfänger neue Zuverdienste erzielen
können.
Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass schon in
der Begrifflichkeit ein großer Unterschied zwischen der
Arbeitsverwaltung und den Kommunen besteht. Bei ihm
heißt es zum Beispiel eben nicht „Kunde“ oder „Agentur“, sondern es heißt „Grundsicherungsamt“, weil es eigentlich um nichts weiter geht als darum, wirklich die
Grundsicherung zu gewährleisten.
({1})
Bei ihm geht es um den Dienst am Hilfebedürftigen.
Die Antworten, die die Bundesagentur für Arbeit inhaltlich und methodisch gefunden hat, sind nicht mehr
ausreichend. Das wissen wir. Wir brauchen einfach Mitarbeiter, die sich viel intensiver um die Vermittlung
kümmern können und die den Leuten das Gefühl geben:
Da ist jemand. Er nimmt mich an die Hand. Er versteht
meine Situation. Er rechnet nicht nur nach Fallzahlen ab.
({2})
Ein Zitat vom Landrat Dr. Henning fand ich ganz interessant, in dem er beim Thema Vermittlung auch seine
Bürgermeister in die Pflicht nimmt.
({3})
Wir wissen, dass die so genannten 1-Euro-Jobs oder Arbeitsgelegenheiten eine wichtige Möglichkeit sind, doch
eine Beschäftigung oder sinnvolle Betätigung zu finden,
wenn auch sicherlich immer im Konflikt mit der gewerblichen Wirtschaft; aber es ist ein erster Ansatz.
Er sagte also: Ich sehe den Bürgermeister als Hauptfürsorger in seiner Gemeinde. Ich erwarte von ihm, dass
er in voller Verantwortung für die betroffenen Familien
in seinem Umkreis handelt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. Danke schön für den Hinweis.
Er sagte weiter,
({0})
dass bei ihm im Grundsicherungsamt eine betriebsame
Atmosphäre ist, aber doch ein sensibler und respektvoller Umgang der Mitarbeiter mit den Betroffenen gepflegt
wird.
({1})
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch etwas zu überlegen geben.
({2})
Wenn Sie schon so einen großen Änderungswillen gezeigt haben, dann sollten Sie vielleicht auch noch einmal
darüber nachdenken, beim Thema Optionsmodell ebenfalls neu zu befinden.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Brandner das Wort. - Frau Kollegin, Sie dürfen darauf
erwidern.
({0})
Dabei kann man immer noch einiges unterbringen.
Bitte.
Frau Präsidentin, die Abgeordnete Bellmann hat in ihrer Rede gerade sinngemäß behauptet, dass Anträge der
CDU/CSU auf höhere Altersfreibeträge für Langzeitarbeitslose als Schonvermögen abgelehnt worden sind.
({0})
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Koalition eine weitaus umfangreichere Freibetragsregelung
beschlossen hat, als im Existenzeingliederungsgesetz jemals vorgesehen war. Ich will noch einmal deutlich sagen, dass in Ihrem Entwurf bis zu einem Alter von
45 Jahren überhaupt keine Freibeträge vorgesehen waren, dass bis zu einem Alter von 50 Jahren 13 000 Euro
vorgesehen waren und dass bis zu einem Alter von
55 Jahren 15 500 Euro vorgesehen waren.
Ich will Ihnen jetzt sagen, welche Freibeträge von der
Koalition beschlossen worden sind. Wir haben pro Person pro Lebensjahr einen Betrag von 200 Euro und einen
Grundfreibetrag von 4 100 Euro vorgesehen. Das macht
bei einem Alter von 45 Jahren einen Altersfreibetrag von
18 000 Euro aus, bei einem Alter von 50 Jahren einen
Freibetrag von 20 000 Euro und bei einem Alter von
55 Jahren einen Freibetrag von 22 000 Euro. Hinzu
kommt die selbst genutzte Wohnung bzw. ein entsprechender PKW.
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass zumindest
im Deutschen Bundestag nicht bekannt geworden ist,
dass Sie sich per Gesetz für höhere Freibeträge eingesetzt haben.
({1})
Wir haben diese Regelung durchgesetzt. Von daher
bitte ich Sie um Stellungnahme, wie Sie zu dieser Äußerung kommen.
({2})
Herr Kollege Brandner, ich habe mich nicht auf das
Gesetzgebungsverfahren
({0})
oder auf die vorliegenden Gesetzentwürfe, sondern auf
unser Kompromissverfahren bezogen. Im Kompromissverfahren haben wir mit unserer Argumentation erreicht,
dass die Grenzen nach oben geschoben wurden.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht heute um Hartz IV. Es geht darum, dass Langzeitarbeitslose, also Empfängerinnen und Empfänger
von Arbeitslosengeld II, mehr hinzuverdienen können
als bislang zugelassen. Die PDS im Bundestag wird dem
zustimmen. Natürlich werden wir nicht Nein sagen,
wenn es um Erleichterungen für Hartz-IV-Betroffene
geht. Ich sage Ihnen aber zugleich, die Erleichterungen,
um die es heute geht, beseitigen bei Hartz IV nicht einmal die unsoziale Spitze, geschweige denn die ungerechte Philosophie.
Nun soll es ja bekanntlich Neuwahlen geben. Wenn
ich den Bundeskanzler und den Kapitalismuskritiker
Müntefering richtig verstanden habe, geht es ihnen dabei
um eine Volksabstimmung über ihre Agenda 2010 nebst
Hartz IV. Ich finde das gut und demokratisch. Sie können sicher sein, wir werden so viele Bürgerinnen und
Bürger wie möglich ermutigen, an dieser Volksabstimmung teilzunehmen.
({0})
Natürlich läuten längst die Wahlkampfglocken. So
verspricht Thüringens Ministerpräsident Althaus zum
Beispiel Nachbesserungen bei Hartz IV, vorausgesetzt,
die CDU/CSU gewinnt die Bundestagswahl. Nun habe
ich von Frau Merkel dazu noch nichts gehört, jedenfalls
nichts Gutes. Ich weiß nur aus dreijähriger Erfahrung,
dass der gesamte rot-grüne Sozialabbau einschließlich
Hartz IV der CDU/CSU bislang stets zu lasch war. Wenn
von daher CDU-Minister meinen, sie würden wollen,
wenn sie denn gewännen, dann kann ich sie nur auffordern: Wollen Sie doch jetzt! Vielleicht gewinnen Sie
dann auch die Bundestagswahl. Das wäre zumindest
glaubwürdig. Aber genau das tun Sie nicht.
Anders verhält sich übrigens das Berliner Abgeordnetenhaus. Es hat sich gestern erneut mit Hartz IV befasst. Beide Regierungsparteien, die SPD und die PDS,
haben dem rot-roten Senat ein klares Mandat für eine
Bundesratsinitiative erteilt:
Die Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose sollen deutlich erhöht werden, und zwar stärker, als
Rot-Grün und die Union es heute zugestehen.
Der Arbeitslosengeld-II-Regelsatz soll bundesweit
einheitlich gestaltet und angehoben werden, also ohne
die soziale Mauer, die die Bundespolitik bestimmt.
Auch Ausgegrenzte, die kein Arbeitslosengeld II erhalten, sollen durch beschäftigungspolitische Maßnahmen gefördert werden.
({1})
Die private Altersvorsorge soll bei der Anrechnung
zum Arbeitslosengeld II besser geschützt werden, damit
Hartz IV nicht Altersarmut potenziert.
Schließlich sollen die Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen der Agentur für Arbeit und den Kommunen eindeutiger geregelt werden.
Die Bundesregierung will das bislang nicht und die
Opposition zur Rechten lehnt das grundsätzlich ab. Sie
haben offensichtlich andere Pläne.
Die PDS im Bundestag befürwortet die rot-roten
Pläne aus Berlin. Wir kennen nämlich aus unserer täglichen Arbeit und aus unseren Sprechstunden die Sorgen
und Nöte der Hartz-Betroffenen, im Übrigen nicht nur
diese, sondern auch die von manchen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften und Arbeitsagenturen, die sich trotz des schlechten Gesetzes mühen,
eine gute Arbeit zu machen. Deshalb werden wir auch
nicht müde, auf unsere Alternativen, auf unsere „Agenda
sozial“ zu verweisen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich
eben Herrn Andres zugehört habe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass er bar jeder Realität lebt. Er sagte
beispielsweise, dass für Jugendliche bis zum Jahresende
ein Rechtsanspruch auf Arbeit durchgesetzt werden
sollte, scheint dabei aber die Zahlen völlig vergessen zu
haben. Zurzeit gibt es 568 000 Jugendliche, die keinen
Arbeitsplatz haben und auf einen solchen warten. Das
sind, nebenbei bemerkt, 111 000 mehr als letztes Jahr.
Das zeigt, wohin Ihre Politik geführt hat.
Wir haben ein weiteres Problem: Die gesamte Situation der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist
so miserabel, dass keine Hoffnung auf Besserung der
Lage am Arbeitsmarkt in Sicht ist. Daran ist Ihre Politik
schuld. Sie sollten einsehen, dass Sie niemand anderen
dafür verantwortlich machen können.
Ich habe auch kein Verständnis dafür, Herr Andres,
wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, der Kollege
Pofalla würde ja sogar noch bei der Verlängerung des
Bezugs von Arbeitslosengeld drauflegen. Jawohl, der
Kollege Pofalla hat Recht. Ich sage Ihnen: Das entspricht auch meinem Menschenbild und dem christlichen Menschenbild meiner Partei.
({0})
Es für mich nicht gerecht, jemanden, der mehr als
40 Jahre lang gearbeitet hat, auf die gleiche Stufe zu stellen wie jemanden, der 25 Jahre alt ist und gerade das
erste Mal arbeitslos geworden ist.
({1})
Er muss auch etwas von den vielen Jahren, die er in
diese Versicherung eingezahlt hat, haben. Ich halte das
für notwendig und richtig.
({2})
Wenn Sie dann sagen, das könne man nicht organisieren, dann tun Sie mir Leid. Wissen Sie nicht, dass es eine
Rentenversicherung gibt, in der all diese Zeiten aufgeführt sind? Das ist sehr einfach zu organisieren. Die Zahlen sind vorhanden, man kann sie abgreifen. Das wäre
überhaupt kein Problem. Herr Andres, Sie sollten darüber einmal nachdenken. Das zeigt aber, wie praxisfern
Gewerkschaftssekretäre denken. Sie kennen die Arbeitsplätze nicht mehr und wissen auch gar nicht, was auf
dem Arbeitsmarkt passiert.
({3})
Mich macht es betroffen, wenn ein Mann, der 35 Jahre
lang geschafft hat, mit 50 Jahren arbeitslos wird. Dem
sollten wir bitte etwas mehr helfen als dem jungen
Mann, der mit 25 gerade das erste Mal arbeitslos wird.
({4})
Aber zurück zu dem uns heute hier vorliegenden Gesetzentwurf zu den verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten: Ich halte das für gut. Es muss aber trotzdem
immer wieder gelten, dass wir erstens das Lohnabstandsgebot beachten und zweitens dafür sorgen, dass die Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt immer im Vordergrund
steht. Wir müssen sehr genau aufpassen, dass hier nicht
genau das Gegenteil passiert, nämlich dass die Arbeit
auf dem zweiten Arbeitsmarkt mehr gefördert wird als
die auf dem ersten.
Es ist auch dringend notwendig, dass wir bei den
1-Euro-Jobs aufpassen. Die 1-Euro-Jobs, Herr Kollege
Brandner, die wir eingeführt haben, führen in vielen Bereichen schon dazu, dass Arbeit in die falsche Richtung
gelenkt wird.
({5})
Wenn es obendrein auch noch so ist, dass derjenige, der
einen 1-Euro-Job hat, besser dasteht als jemand, der über
ALG II und Zuverdienst arbeitet, dann ist das mit Sicherheit eine Fehllenkung.
({6})
Leider ist mir aufgefallen, dass das, was wir gemeinsam
gemacht haben - ich sage durchaus, dass wir das gemeinsam gemacht haben -, ein Fehler geworden ist;
denn in vielen Kommunen wird wegen der klammen
Lage, die Sie allerdings auch zu verantworten haben, der
1-Euro-Job missbraucht. Das führt dazu, dass Arbeitsplätze im regulären Arbeitsmarkt gefährdet sind. Die Begründung dafür ist natürlich darin zu sehen, dass Sie die
Haushaltslage dahin gesteuert haben, wo sie jetzt ist.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Jahr
annähernd 60 Milliarden Euro strukturelles Defizit zu
erwarten. Dieses Defizit werden Sie uns am 18. September als Mitgift übergeben. Ich sage Ihnen voraus:
Wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht entlassen.
({7})
Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Wahlkampf sehr genau beweisen, wer die Situation so
verfahren hat, wie sie verfahren ist.
({8})
Verehrter Herr Andres, Sie sprachen eben davon, dass
Hartz IV eine solche Erfolgsgeschichte sei und Wunder
in diesem Lande bewirkt hätte. Ich darf zur Auffrischung
Ihrer Erinnerung das eine oder andere dazu sagen und
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir folgen könnten.
Erstens. Jährlich 350 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs über die Personal-Service-Agenturen
wurden uns versprochen. Das wären 1 Million Jobs in
drei Jahren. Wie viele sind es geworden, Herr Andres?
Ganze 26 000.
Zweitens. Sie haben uns die Ich-AGs als Wunderwaffe versprochen. Herr Hartz hat gesagt - der Bundeskanzler hat das begeistert angenommen -, es gäbe pro
Jahr 500 000 neue Selbstständige. 500 000 mal drei wären 1,5 Millionen. Wie viele sind es? Im Mai 2005 - um
Ihnen die genaue Zahl zu nennen - waren es 235 000.
Versprochen, gebrochen: 1,5 Millionen zu 235 000. So
gehen Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern um. Sie belügen die Bürgerinnen und Bürger von vorne bis hinten.
Sie erzählen große Stücke und haben kurz vor der Wahl
diese 1,5 Millionen angekündigt. Was ist dabei herausgekommen? 235 000.
({9})
Ein weiterer Beweis. Kapital für Arbeit, der berühmte Jobfloater: 360 000 neue Jobs sollten geschaffen
werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Andres?
Aber gerne doch, das verlängert meine Redezeit.
Herr Dr. Fuchs, da Sie mich hier persönlich der Lüge
bezichtigt haben,
({0})
wollte ich Sie Folgendes fragen. Als gelernter Apotheker
und langjähriges Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sind Sie doch
sicherlich in der Lage, zu unterscheiden, wer wo was zugesagt hat. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass
ich diese Zahlen so nicht gebraucht habe und dass ich
beispielsweise die Ich-AG für eine außerordentliche arbeitsmarktpolitische Erfolgsgeschichte halte? Sie rechnen sich irgendwelche Zahlen zusammen, die Sie mir
nicht in die Schuhe schieben können. Würden Sie das
zur Kenntnis nehmen und bestätigen?
Ich kann gerne zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege
Andres, dass Sie diese Zahlen nicht selbst gemacht haben, sondern Ihr Herr Hartz sie zusammen mit Ihrer
Bundesregierung gemacht hat. Aber Sie sind, soweit ich
informiert bin, bis jetzt noch Mitglied dieser Bundesregierung.
({0})
Deshalb sind Sie für Zahlen verantwortlich, die Herr
Hartz gemacht hat
({1})
und die Sie den Bürgerinnen und Bürgern als Fakten
vorgestellt haben. Der Bundeskanzler hat doch im Französischen Dom, unweit von hier, gestanden, zum
Himmel geschaut und geglaubt, er könne mit diesen
Zahlen irgendetwas bewirken. Sie können doch nicht sagen, es sei eine Erfolgsgeschichte, wenn von den angekündigten 1,5 Millionen 235 000 tatsächlich eine IchAG gegründet haben. Das können Sie doch nicht ernsthaft meinen. Sie haben schließlich gesagt, es würden
1,5 Millionen Ich-AGs gegründet. Das ist doch ein Unterschied.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Aber gerne.
Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass der
Bundeskanzler bei der Veranstaltung im Französischen
Dom überhaupt nicht zugegen war?
Darf ich wenigstens meine Frage zu Ende stellen,
Herr Dr. Fuchs? Das wäre nett von Ihnen; ich lasse mich
ja von Ihnen hier auch laufend als Lügner beschimpfen.
Das habe ich nicht getan.
Doch. Lesen Sie Ihre Rede nach! Sie haben gesagt,
ich hätte gelogen. Deswegen frage ich Sie, ob ich diese
Zahlen irgendwo benutzt habe.
Ich sage Ihnen noch einmal: Ich glaube, dass die IchAG als arbeitsmarktpolitisches Instrument eine außerordentliche Erfolgsgeschichte ist. Wir fördern rund
500 000 Menschen, die sich selbstständig machen, aus
der Arbeitslosenversicherung. Das zeigt, dass das eine
außerordentliche Erfolgsgeschichte ist. Ich wollte Sie
einfach nur fragen, ob Sie das verstehen oder nicht.
({0})
Nein. Ich bleibe bei meiner Aussage, Herr Andres: In
Ihrem Programm zur letzten Wahl ist von 1,5 Millionen
Ich-AGs die Rede. Erreicht haben Sie 235 000. Bleiben
Sie doch bei der Wahrheit! Genau das ist doch keine Erfolgsgeschichte, wenn Sie vorher den Wähler haben
glauben machen wollen, dass er auf diese Art das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst bekommt. Sie haben damals im Französischen Dom versprochen - wieder versprochen und gebrochen -, dass mit den Hartz-Reformen
die Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um
2 Millionen verringert würde. Lesen Sie dazu bitte Herrn
Hartz und Herrn Bundeskanzler nach. Als Mitglied der
Bundesregierung sollte Ihnen das bekannt sein. Die Arbeitslosigkeit ist um 1 Million gestiegen. Das bedeutet
ein Saldo von 3 Millionen. Das können Sie doch hier
nicht wegdiskutieren. Glauben Sie doch nicht, dass die
Bürgerinnen und Bürger so dumm sind, dass sie das
nicht merken!
({0})
Fest steht eins: Wir müssen Arbeitsplätze im ersten
Arbeitsmarkt schaffen. Es gibt noch 26,13 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Nebenbei gesagt ist das der Stand März;
wahrscheinlich sind die Zahlen heute schon wieder
schlechter. Mit diesen Arbeitsplätzen sollen 70 Millionen Versicherte finanziert werden. Erklären Sie mir einmal, wie das in der Zukunft funktionieren soll!
Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Gott sei Dank
werden wir in Bälde die Möglichkeit dazu haben und das
Ganze dann in eine andere Richtung bewegen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige
Hilfebedürftige auf Drucksache 15/5446 ({0}). Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 15/5607, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und der Abgeordneten Pau bei Enthaltung der FDP ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten
Stimmenverhältnis angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Arbeit auf Drucksache 15/5607 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Hinzuverdienstmög-
lichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer
Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt verbessern“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/5271
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung
des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Stimmen der FDP bei Enthaltung der Abgeordneten Pau
angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl
({2}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Abschiebehindernisse beseitigen
- Drucksachen 15/3804, 15/5193 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Josef Philip Winkler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Hartmut Koschyk, Dr. Norbert Röttgen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen
- Drucksachen 15/1239, 15/5525 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zugegeben: Es ist ja ein bisschen schwer, der Bundesregierung und der sie tragenden rot-grünen Koalition in
Fragen der Sicherheits- und Migrationspolitik am Zeug
zu flicken. Die meisten Gesetze aus diesem Bereich haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der
Union, mit beschlossen. Also probieren Sie es einmal
mit der Methode, irgendwie die Schraube noch ein Stück
weiterzudrehen - übrigens mit geringen Erfolgsaussichten.
Die beiden Anträge, über die wir heute Mittag befinden, sind allerdings besonders untaugliche Versuche. Ich
möchte kurz erklären, warum. Teils fordern Sie Dinge,
die schon getan sind; teils schießen Sie übers Ziel hinaus; teils nehmen Sie längst bewältigte Probleme wie
den Fall Metin Kaplan nur noch als Vorwand für Ihren
leider aktuell geplanten Feldzug gegen die bevorstehenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei.
Ich weiß, dass der Antrag vom Juni 2003 veraltet ist.
Aber warum bequemen Sie sich dann nicht dazu, ihn der
Mottenkiste anzuvertrauen? Sie tun dies nicht, weil Sie
ihn heute und in den kommenden Wochen offenbar zur
Stimmungsmache nutzen wollen. Zum Glück stehen Sie
damit isoliert da. Nicht nur SPD und Grüne, sondern
auch die Freien Demokraten werden beide Anträge ablehnen. Und das ist auch gut so.
Der Fall Kaplan - dies nur zur Erinnerung - hat bis
zur Abschiebung - kein Zweifel - mühselige und ärgerliche Auseinandersetzungen wegen vielfacher Gerichtsurteile gekostet. Aber auch ein Kaplan, so widerwärtig
uns sein Denken und sein Handeln sein mögen, hat einen
Anspruch auf menschenwürdige und rechtsstaatliche Behandlung. Außerdem haben wir eine unabhängige Justiz,
deren Entscheidungen man zwar kritisieren kann, die
man aber respektieren muss.
Nun zu Ihrem neueren Antrag unter der Überschrift
„Abschiebehindernisse beseitigen“. Natürlich braucht
man überhaupt nicht darum herumzureden, dass manche
Ausländer es darauf anlegen, ihre Ausreise zu verzögern
oder zu verhindern. Deshalb haben wir ja im Zuwanderungsgesetz festgelegt, dass zwischen denen, die nicht
ausreisen wollen, und denen, die ohne eigenes Verschulden nicht ausreisen können, deutlich unterschieden werden muss.
Was ist im neuen Gesetz alles vorgesehen bzw. was
wurde auf europäischer Ebene in Angriff genommen?
Ich nenne die wesentlichen Maßnahmen: Mithilfe einer
Fundpapierdatenbank sollen aufgefundene Papiere passlosen Ausländern leichter zugeordnet werden.
({0})
- Herr Kollege Grindel, das stimmt nicht. - „Ausreisezentren“ sollen die Rückkehrbereitschaft fördern. Falsche Angaben zur Identität oder Staatsangehörigkeit
werden unter Strafe gestellt. Wer seine Aufenthaltsdauer
mit Tricks zu verlängern versucht, erhält nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur abgesenkte Leistungen. Ins
künftige EU-Visum-Informationssystem werden biometrische Daten aufgenommen, um Personen sicherer zu
identifizieren. Zudem gibt es zahlreiche Rückübernahmeabkommen, bilateral und auf Ebene der EU.
Sie merken: Der Katalog gesetzlicher Handhabe ist
umfassend. So ganz leugnen können Sie dies nicht. Deshalb ist in Ihrem Antrag von „intensiveren“ oder „eindringlicheren“ Bemühungen die Rede. Die Formulierung im Komparativ zeigt, dass Sie zugestehen: Es
geschieht allerhand.
Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Länder
die gesetzlichen Regelungen nutzen - unter Wahrung eines rechtlich einwandfreien und humanitär verantwortungsvollen Vollzugs, versteht sich. Dazu lieferte nun
leider der Hamburger Innensenator Udo Nagel ein trauriges Beispiel. Wie er erst vollmundig verkündete, Hamburg beginne jetzt als erstes Land mit der Rückführung
von Afghanen
({1})
- ich sage gleich, wie das abgelaufen ist, falls Sie dies
nicht gelesen haben sollten -, wie dann die einen Asylanträge stellten, ein anderer eine Deutsche heiratete und
wieder ein anderer länger als sechs Jahre in der Bundesrepublik lebte, also nicht unter den Personenkreis derer
fiel, die abgeschoben werden sollen, oder wie das Manöver einfach an einer ausgebuchten Maschine nach Kabul
scheiterte! Das alles zeigt, wie man es nicht machen soll.
({2})
Ich nutze den Anlass unserer heutigen Debatte zu
dem Appell an die Länderinnenminister, dass sie auf ihrer Konferenz am 23. und 24. Juni für lange hier lebende, sozial integrierte afghanische Familien dauerhafte Bleibemöglichkeiten und beim Pro und Kontra der
Rückkehr ethnischer Minderheiten in das Kosovo behutsame, humanitär geprägte Lösungen finden mögen. Das
ist mein herzlicher Appell.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand redet einer
blauäugigen Großzügigkeit das Wort. Vor Extremisten
müssen wir uns schützen. Das Zuwanderungsgesetz, das
die Lehren aus dem 11. September 2001 durchaus nachzeichnet, sieht tragfähige Lösungen vor. Bei Unterstützung des Terrorismus, Aufruf zu oder Androhung von
politisch motivierter Gewalt wird ein Aufenthaltstitel
versagt. Das Verbot der Abschiebung von politisch Verfolgten, die die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden, wird eingeschränkt. Das Staatsangehörigkeitsgesetz
sieht nun vor einer Einbürgerung die Regelanfrage beim
Verfassungsschutz vor. Wir brauchen daran nichts zu
verschärfen. Das ist noch ein Grund mehr, Ihre Anträge
abzulehnen.
Ein anderer Aspekt in Ihrem Forderungskatalog alarmiert mich allerdings mehr. Sie sprechen davon - ich zitiere -, „die Abschiebungsschutzvorschriften der aktuellen Herausforderung anzupassen“. Sie wollen überprüft
wissen, ob die Schutzpflichten, die sich aus der europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, in Übereinstimmung mit den Sicherheitserfordernissen Deutschlands gebracht werden können. Ich finde das ganz schön
verbrämt ausgedrückt. Im Klartext stellen Sie nämlich
offenbar die Grundprinzipien der europäischen Menschenrechtskonvention infrage. Das sollten Sie dann
aber auch deutlich sagen. Von mir hören Sie ebenso
deutlich, dass wir gar nicht daran denken, internationale
völkerrechtliche Verpflichtungen auf den Prüfstand zu
stellen.
({4})
Wir sind uns doch hoffentlich darin einig: Die Stärke
der Demokratie erweist sich darin, dass sie angesichts
terroristischer Bedrohung das Notwendige für Schutz
und Sicherheit tut, ohne aber die Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates aufzuweichen.
Vielleicht ist dies eine der letzten ausländerpolitischen Debatten, die wir in der laufenden Legislaturperiode führen. Für mich ist es höchstwahrscheinlich die
letzte, weil ich nicht wieder kandidiere. Ich wünsche mir
für die Zukunft, dass dieses Thema nicht mehr oder zumindest nicht zu sehr polarisiert. Es muss doch möglich
sein, die Probleme, aber auch die Chancen der Migration
beim Namen zu nennen. Jawohl, es gibt Missbrauch
beim Aufenthaltsrecht; aber wir tun doch viel dagegen.
Jawohl, es gibt Ausländerkriminalität; aber es gibt keinen statistischen Beleg dafür, dass ausreisepflichtige
Ausländer besonders häufig straffällig werden. Jawohl,
Ausreisepflichtige müssen unser Land verlassen, wenn
es rechtsstaatlich zu verantworten ist.
Es muss doch möglich sein, dass man sich darauf verständigt, sachlich aufzuklären,
({5})
statt zu polemisieren. Die Menschen brauchen auch und
gerade in der Ausländerpolitik Information statt Agitation. Es geht immer um Menschen, um das Zusammenleben, das friedliche Zusammensein, um Toleranz und darum, sich aufeinander zuzubewegen. Weder die so
genannten Gutmenschen noch die Scharfmacher sind da
besonders hilfreich. Sehen wir doch zu - ich hoffe es immer noch für die Zukunft -, dass wir endlich aus diesem
Lagerverhalten, aus diesen beiden Gräben herauskommen!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Liebe Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wenn es denn
stimmt, dass das Ihre letzte Rede war, dann will ich Ihnen im Namen des Hauses sehr herzlich für Ihre vielfältige Tätigkeit danken und Ihnen alles Gute wünschen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ole Schröder.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich schließe mich selbstverständlich dem Dank
und den guten Wünschen für unsere Ausschussvorsitzende Frau Sonntag-Wolgast an.
Zu unseren beiden Anträgen. Deutschland galt bisher
- das ist allen bekannt - in erster Linie als Vorbereitungs- und Rückzugsraum für Terroristen. Das alleine ist
schon schlimm genug. Doch die bisher aufgedeckten islamistischen Strukturen und deren Vernetzung mit den
Terrororganisationen machen deutlich, dass Deutschland
auch das Ziel von zukünftigen Anschlägen geworden ist.
Im jüngsten Verfassungsschutzbericht wird darauf hingewiesen, dass auch Deutschland im Zielkreuz des Terrornetzwerkes al-Qaida steht.
({0})
Das Gefährdungspotenzial ist enorm: Etwa
30 000 islamistische Extremisten leben in der Bundesrepublik Deutschland, von denen ein erheblicher Teil als
gewaltbereit einzustufen ist. Der internationale Terrorismus ist eine epochale Bedrohung; darüber sind wir uns
im Klaren. Auf absehbare Zeit wird die Verhinderung
von Anschlägen die ganz große Herausforderung der Regierung und unserer Behörden darstellen. Die Schlussfolgerungen hieraus sind klar: Wir müssen den Glaubensterrorismus noch entschiedener bekämpfen, als es
von Rot-Grün bisher getan wurde.
({1})
Die von CDU und CSU unterstützten Sicherheitspakete I und II und auch das Aufenthaltsgesetz haben
Verbesserungen gebracht; auch das muss deutlich gesagt
werden.
({2})
Aber die wesentlichen Verbesserungen gehen auf die
Initiative der CDU/CSU-Fraktion und der unionsgeführten Länder zurück.
({3})
Doch wir konnten uns nicht mit allen Forderungen
durchsetzen. Es bestehen weiterhin Sicherheitslücken,
für die der Bundesinnenminister und vor allen Dingen
die grüne Koalition verantwortlich sind.
({4})
Meine Damen und Herren, anhand von vier Fragen
müssen wir prüfen, ob wir unseren Bürgern wirklich den
größtmöglichen Schutz vor dem Terrorismus bieten:
Erstens. Wie können wir die Einreise von Terroristen
verhindern?
({5})
Zweitens. Wie schaffen wir es, Terroristen, die sich in
Deutschland befinden, schneller abzuschieben?
Drittens. Was machen wir mit Extremisten, die sich in
Deutschland aufhalten, die wir aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit aber nicht abschieben können, beispielsweise weil ihnen im Zielland Folter droht?
Viertens. Wie erhalten wir Informationen über die terroristischen Netzwerke, wie erhalten wir Informationen
über deren gefährliche Pläne?
Zur ersten ganz konkreten Frage: Verhindern wir
wirksam die Einreise von Extremisten?
({6})
Hier macht Rot-Grün genau das Gegenteil mit seiner
Visapolitik. Ich denke, der Visa-Ausschuss hat eindeutig gezeigt,
({7})
welches Sicherheitsrisiko der grüne Außenminister für
unser Land darstellt. Das ist mittlerweile Allgemeinwissen. Der rechtswidrige Fischer/Volmer-Erlass hat dafür
gesorgt,
({8})
dass Tausende Kriminelle und auch Extremisten ins
Land gekommen sind.
Noch vor knapp einem Jahr hat Bundesinnenminister
Otto Schily hier an dieser Stelle zu diesem Antrag in erster Lesung behauptet - ich zitiere -:
Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung.
Da hat er noch Recht. Und weiter:
Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung statt.
Ob der Bundesinnenminister über die Missstände Bescheid wusste - was ja schon schlimm genug wäre oder ob der Bundesinnenminister hier an dieser Stelle
das Plenum angelogen hat, wird der Visa-Untersuchungsausschuss hoffentlich noch klären können.
({9})
Damit nicht genug, meine Damen und Herren: Zeitungsmeldungen konnten wir entnehmen, dass die Bundesregierung nun auch noch die Sicherheitsprüfung bei
der Vergabe von Visa an Reisende aus den Staaten der
Golfregion lockert. Gerade die Golfregion stellt das
Drehkreuz für den internationalen Terrorismus, für alQaida-Mitglieder, dar. Auch hier werden wir für Aufklärung sorgen. Wir sind gespannt, was die Bundesregierung uns auf unsere schriftlichen Fragen hierzu antworten wird.
Zur zweiten konkreten Frage: Wie schaffen wir es,
extremistische Ausländer schneller abzuschieben? Hierfür haben wir Vorschläge gemacht. Der Kollege Grindel
wird darauf eingehen.
({10})
Drittens. Ich frage ganz konkret: Was machen wir mit
islamistischen Extremisten, die wir nach geltendem
Recht nicht abschieben können, zum Beispiel weil ihnen
im Zielland Folter droht? Wie wollen Sie den Bürgern
bei einem in Deutschland verübten Anschlag erklären,
warum sich diese Extremisten immer noch relativ frei in
Deutschland bewegen können? Es ist selbstverständlich,
dass die Sicherungshaft nur das letzte Mittel darstellen
kann. Wenn eine Abschiebung von gefährlichen Extremisten nicht möglich ist, so muss die Sicherungshaft
aber eine Option sein. Das hat auch der Bundesinnenminister zu Recht gefordert. Er konnte sich innerhalb
seiner Koalition aber wieder einmal nicht durchsetzen.
Die vierte und vielleicht wichtigste Frage lautet: Wie
schaffen wir es, an Informationen heranzukommen? Jeder weiß, dass wir in die geschlossenen Täterkreise, die
geschlossenen Netzwerke der islamistischen Terrororganisationen nicht mit V-Leuten eindringen können. Deshalb ist die Kronzeugenregelung von entscheidender
Bedeutung. Ich bitte Sie, sich dieser wirkungsvollen Regelung nicht weiter zu verschließen.
({11})
Ein weiterer Punkt ist die Schaffung einer umfassenden Antiterrordatei. Der Bundesrat hat hierfür einen
entsprechenden Entwurf eingebracht. Sie von Rot-Grün
haben dagegengestimmt. Sie, Frau Stokar von Neuforn,
haben hier vollmundig gesagt: Bis Ostern 2005 wird die
Bundesregierung einen entsprechenden Antrag einbringen. Ostern 2005 ist vorbei und ein effizienter und effektiver Informationsaustausch zwischen den Behörden ist
immer noch nicht gegeben.
Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit.
Rot-Grün sollte auch hier endlich einmal seine Hausaufgaben machen, wenn es Ihnen mit der Sicherheit für
unsere Bürger ernst ist.
Wenn wir in Deutschland das Risiko einer Katastrophe eingrenzen wollen,
({0})
dann müssen wir jetzt schnell handeln. Ich bitte Sie, sich
dem nicht zu widersetzen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Josef Winkler.
({0})
Ja, Herr Tauss, den Auftrag nehme ich an.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Schröder, ich dachte, Sie wären
schon beim Schreiben Ihres Berichts für den Untersuchungsausschuss. Wenn alle Ergebnisse so klar sind, wie
Sie das gerade geschildert haben, dann weiß ich gar
nicht, warum Sie sich so darüber aufgeregt haben, dass
die Beweisaufnahme bis zur möglichen Neuwahl unterbrochen wird.
({0})
- Ich habe hier überwiegend das Wort.
Die CDU/CSU gibt in ihren Anträgen, über die wir
heute hier zum wiederholten Male sprechen, vor, sich
mit der Beseitigung von Abschiebungshindernissen zu
befassen. Herr Kollege Grindel, dass das Wahlkampfmunition sein soll, haben Sie schon gesagt; es ist ein wenig
Getöse. In Wirklichkeit zielen Sie darauf ab, eine rigorose und meiner Meinung nach fast schon menschenverachtende Abschiebungspolitik durchzusetzen.
({1})
Herr Niebel von der FDP hat gesagt, Frau Merkel sei
auch die Kanzlerkandidatin der FDP. Herr Burgbacher
und Herr Dr. Stadler, vielleicht können Sie gleich darauf
eingehen, wie die Tatsache, dass Ihre Kanzlerkandidatin
solche Anträge ins Parlament einbringt, mit Ihren Ansichten kompatibel gemacht werden kann.
({2})
Wie soll ich diese Anträge sonst werten, wenn zum Beispiel die Nutzung der zulässigen Rechtsmittel oder psychische Erkrankungen generell unter einen Missbrauchsverdacht gestellt werden?
({3})
Die Kollegin Sonntag-Wolgast hat bereits gesagt,
dass Sie die Bundesregierung dazu auffordern, sich für
eine Aufweichung der menschenrechtlichen Schutzstandards der europäischen Menschenrechtskonvention zu
bemühen. Die europäische Menschenrechtskonvention
verbietet zu Recht Abschiebungen, auch solche von unliebsamen Straftätern und Extremisten, wenn ihnen Folter droht. Daran wird nicht gerüttelt. Wer das ändern
will, der muss eben die europäische Menschenrechtskonvention ändern. Das werden wir nicht mitmachen.
({4})
Der von Personen wie dem erwähnten Metin Kaplan
oder von ähnlich gelagerten Fällen ausgehenden Gefahr
für die Bundesrepublik kann mit den Mitteln der Strafverfolgungsbehörden und des Zuwanderungsgesetzes
- unseres Kompromisses -, wie zum Beispiel neuen
Meldeauflagen und Einschränkungen der Freizügigkeit,
begegnet werden. Wer diesem Personenkreis gegenüber
nach einer Sicherungshaft oder einem kurzen Prozess
ruft, der streut der Öffentlichkeit Sand in die Augen.
Wir haben hierzu schon gemeinsam einen Kompromiss erarbeitet, dem wir unter Schmerzen zugestimmt
haben. Dass Sie sich daran nicht mehr erinnern wollen,
ist mir inzwischen auch klar geworden.
({5})
Die Voraussetzungen für eine Abschiebung ausländischer Extremisten in deren Herkunftsländer müssen
diese Staaten demnach primär selbst schaffen. Wenn in
diesen Ländern zum Beispiel Folter für ein minder
schweres Delikt gehalten oder es zugelassen wird, Aussagen vor Gericht zu nutzen, die unter der Folter erpresst
wurden, soll es meiner Meinung nach nicht möglich sein
- es ist auch nicht möglich -, dass Menschen aus einem
Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland in solche Länder abgeschoben werden.
Zusammengefasst: Sachgerechte und rechtsstaatliche
Maßnahmen gegen Personen wie Metin Kaplan, aber
auch Extremisten und potenzielle Terroristen finden unsere Unterstützung. Für eine reine Symbolpolitik und
den Abbau von Grundrechten zu Wahlkampfzwecken
stehen Bündnis 90/Die Grünen und große Teile der SPD
({6})
- sogar alle - nicht zur Verfügung.
({7})
- Der Kanzler hat mein volles Vertrauen. Ich glaube, das
hört er gar nicht so gerne.
({8})
Das ist aber gefährlich.
Ich möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf eine andere
Gruppe von ausreisepflichtigen Menschen richten - die
Kollegin Sonntag-Wolgast hat das schon getan; ich will
das, was sie gesagt hat, noch einmal unterstreichen -: Es
geht um Flüchtlinge aus Afghanistan, die hier seit langen Jahren immer mit kurzfristig verlängerten Duldungen leben und dementsprechend bisher keine Integrationsperspektive hatten und auch noch keine haben. Sie
kennen die Geschichte mit den Entscheidungsstopps
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die
Flucht und die verschiedenen Gerichtsverfahren. Zwar
wurde die Abschiebung für immer wieder ausgesetzt.
Aber ihnen wurde keine Integrationsperspektive eröffnet. Dabei sind wir uns bei Flüchtlingen aus Afghanistan
sicher einig, dass diese Menschen, die vor dem finsteren
Bürgerkrieg und dem schlimmen Regime, das dort geherrscht hat, hierher geflohen sind, ihre jahrelange Anwesenheit in unserem Land nicht selbst verursacht haben.
({0})
Die Kettenduldungspraxis - damit komme ich zum
Schluss -, die wir als Gesetzgeber überwinden wollten,
wird leider auch nach In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes fortgeführt. Ich möchte an dieser Stelle
vor allem an Sie, meine Damen und meine Herren von
der Unionsfraktionen, aber auch an die Bundesregierung
- die, wie gesagt, mein volles Vertrauen hat - appellieren, Ihren Einfluss auf der demnächst anstehenden Innenministerkonferenz dahin gehend geltend zu machen,
dass jahrelang geduldete afghanische Flüchtlinge im
Rahmen einer Altfallregelung endlich ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten. Eine solche positive Entscheidung ist unserer Meinung nach überfällig.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt - und
wird das auch in Zukunft tun - humanitäre Verpflichtungen, etwa durch Gewährung des Asylgrundrechts. Wir
haben den Zugang in unser Land mit dem Zuwanderungsgesetz vorsichtig und in vernünftiger Weise geregelt. Deswegen ist es auf der anderen Seite völlig konsequent, wenn diejenigen, die kein Recht und keine
Duldung mehr haben, in Deutschland zu bleiben, entschlossen abgeschoben werden.
({0})
Insofern teilen wir das Anliegen der Union. Wenn Abschiebungen, die vom Gesetz her geboten sind, durch
Rechtsmissbrauch oder Tricksereien verhindert werden,
so muss dem entgegengetreten werden. Auch dieses Anliegen aus Ihrem Antrag teilen wir als FDP selbstverständlich.
Aber es gibt auch einige Aspekte, die in den Anträgen
der CDU/CSU nicht enthalten sind. Das größte Abschiebungshindernis ist in Wahrheit doch meistens die unsichere Lage im Herkunftsland von Flüchtlingen. Wir
haben das kürzlich in der Unterrichtung einiger Mitglieder des Innenausschusses durch den renommierten
Experten Victor Pfaff aus Frankfurt erfahren, der die
schwierige Lage in Afghanistan geschildert hat.
({1})
- Herr Grindel, ich weiß, dass Sie behaupten, andere Informationen zu haben.
({2})
Ich kann nur aufgrund der Delegation von renommierten
Experten, die mit Herrn Pfaff gerade dort gewesen ist,
sagen: Vorsicht bei Abschiebungen in Gebiete, in denen
Leib und Leben der Flüchtlinge gefährdet sind.
({3})
Es gibt ein weiteres Abschiebungshindernis, und zwar
nicht rechtlicher, sondern praktischer Art. Viele Menschen, die lange in Deutschland sind und hier ihre Kinder geboren haben, die schon zur Schule gehen, sind hier
verwurzelt und integriert. Jeder von uns wird doch in
seinem Wahlkreis von Kirche und Schule, von Handwerkern und Vereinen angesprochen,
({4})
weil niemand versteht, dass sich viele in Deutschland
aufhalten, bei denen die Integration Probleme macht,
aber auf der anderen Seite solche, die bestens integriert
sind,
({5})
plötzlich abgeschoben werden sollen.
({6})
Da muss es doch vernünftige Altfallregelungen geben.
Ich sage Ihnen am Ende noch eines ganz klar: Mit der
FDP gibt es kein Rütteln an der Europäischen Menschenrechtskonvention und an der Antifolterkonvention.
({7})
Ich sage: Hände weg von diesen internationalen Verpflichtungen, die wir zu Recht eingegangen sind! In einer Formulierung einer der Anträge der Union sah es so
aus, als ob Sie das nicht mehr gelten lassen wollten.
({8})
Ich habe das schon von dieser Stelle aus gerügt und Sie
haben klargestellt, dass es nicht so gemeint gewesen sei.
Das ist eine Basis. Aber wir können natürlich nicht einem Antrag zustimmen, in dem eine Formulierung steht,
die den Eindruck erweckt, als wollten Sie die Europäische Menschenrechtskonvention zur Disposition stellen.
({9})
Ganz zum Schluss, Herr Kollege Schröder: Sie kommen aus dem schönen Norden unseres Landes.
({10})
Daher ist Ihnen der Landkreis Passau verständlicherweise nicht bekannt. Ich will Ihnen berichten: In Hauzenberg im Landkreis Passau gibt es den ersten Fall, den
Sie angesprochen haben. Bei jemandem, der aufgrund
bestimmter Umstände des Terrorismus verdächtigt wird
und den man im Moment noch nicht abschieben kann
- das wird noch kommen -, werden die neuen Möglichkeiten des Zuwanderungsgesetzes, nämlich ihn völlig zu
isolieren und total zu überwachen, in einer solchen
Weise angewandt, dass alle Ihre Bedenken berücksichtigt sind. Hier haben wir also beim Zuwanderungskompromiss gemeinsam Regelungen geschaffen.
({11})
Die FDP greift berechtigte Anliegen auf; aber wir halten uns an die humanitäre Tradition des Grundgesetzes
und an internationale Verpflichtungen, die aus der Antifolterkonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention resultieren. Das ist in diesem Bundestag so
und das wird im nächsten Bundestag so bleiben.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will gerne die Worte meines Kollegen Thomas Strobl
wiederholen: Wir müssen uns einmal über das Aufenthaltsrecht des Kollegen Tauss hier im Deutschen Bundestag unterhalten. Er ist manchmal in der Tat schwer zu
ertragen.
({0})
Die Menschen fragen oft, wo eigentlich die Unterschiede zwischen CDU/CSU und Rot-Grün sind. An diesem Punkt kann man das klar und deutlich herausarbeiten: Ob es Bleiberechtsregelungen für Illegale sind, ob
es die Visaaffäre ist oder Ihre mangelnde Bereitschaft zu
einer konsequenten Abschiebung von ausreisepflichtigen Ausländern ({1})
Ihnen geht es in Wahrheit um massenhafte Zuwanderung, auch auf Kosten der Integration der hier lebenden
Ausländer.
({2})
Uns geht es um weniger Zuwanderung und mehr Integration der ausländischen Mitbürger, die hier leben. Das
ist der zentrale Unterschied.
({3})
Ich will etwas zu dem sagen, was Sie, Frau SonntagWolgast, angesprochen haben, zu den EU-Rückführungsabkommen. Hier hat die EU versagt. Es gibt
Rückführungsabkommen mit Hongkong und Macao,
aber nicht mit den Hauptherkunftsländern der Ausländer,
über die wir uns unterhalten. Es gibt Rückführungsabkommen, die funktionieren, und zwar mit Ungarn, mit
Polen und mit Rumänien; die hat Innenminister Rudolf
Seiters gemacht. Davon leben wir noch heute. Das ist die
Faktenlage bei der Frage der Rückführungsabkommen.
Sie waren ein bisschen unvorsichtig, als Sie hier die
Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen und die
Diskussion in Hamburg thematisiert haben. Die praktischen Probleme, die es in der Tat gibt, hat die Ausländerbehörde in Hamburg zu verantworten. Es wäre schon
fair gewesen, den Kollegen hier mitzuteilen, dass der
Leiter der Ausländerbehörde in Hamburg, Ralph
Bornhöft, ein ehemaliger SPD-Bürgerschaftsabgeordneter ist.
({4})
Er ist der Verantwortliche.
({5})
Vielleicht sollten Sie bei Ihren eigenen Genossen aufräumen, bevor Sie den Senat der Freien Hansestadt Hamburg angreifen.
({6})
- Ich weiß, dass es für Sie schwer erträglich ist, dass
man sich über die Verhältnisse etwas schlauer gemacht
hat.
({7})
- Das ist keine Ablenkung. Es wäre nett, wenn ich bei all
Ihren Zwischenrufen kurz die Gelegenheit hätte, ein
Sachargument einzubringen.
({8})
- Ja, ich bringe es gerne ein.
Bundesinnenminister Otto Schily hat uns am Mittwoch - die Vorsitzende des Ausschusses wird das
wissen - einen schriftlichen Bericht über die Lage in Afghanistan und über die Frage der Rückführung von afghanischen Flüchtlingen und Kosovo-Albanern bzw.
Flüchtlingen, die in das Kosovo zurückgeführt werden
sollen, vorgetragen. In diesem Bericht steht, dass es um
die Ausreise von 16 000 afghanischen Flüchtlingen von
insgesamt 60 000 Afghanen, die bei uns sind, geht. Man
muss der Öffentlichkeit sagen, um was für Personen es
sich handelt. Es handelt sich nur um allein stehende
männliche Volljährige zwischen 18 und 60 Jahren und
vor allen Dingen um Straftäter, die ein erhebliches Strafmaß bekommen haben, die wir zurückführen wollen.
({9})
In dem Bericht von Otto Schily steht auch, dass andere
EU-Staaten selbstverständlich abschieben, etwa Großbritannien, die Niederlande und Dänemark. Großbritannien hat im letzten Jahr fast 600 Afghanen abgeschoben.
Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Dass man noch
nicht einmal Straftäter abschieben können soll, obwohl
mittlerweile Tausende von pakistanischen und iranischen
Gastarbeitern in Afghanistan arbeiten, hat mit dem Schutz
von Flüchtlingen nichts mehr zu tun, aber sehr wohl mit
hemmungsloser Zuwanderung durch die Hintertür.
({10})
Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Sonntag-Wolgast?
Ja.
Herr Kollege Grindel, ist Ihnen bei Ihrem etwas aufgeregten und polemisierenden Beitrag entgangen
({0})
- darf ich meine Frage stellen? -, dass ich in meinem
Plädoyer für einen humanitären Umgang mit afghanischen Flüchtlingen von schon lange hier lebenden Familien, von sozial integrierten Menschen gesprochen
habe?
Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie nicht überhören
können, dass ich gesagt habe, dass sowohl der Bundesinnenminister in seinem schriftlichen Bericht an unseren
Ausschuss als auch wir immer von der Rückführung von
16 000 afghanischen Flüchtlingen sprechen, wie es auch
auf der Innenministerkonferenz vereinbart wurde. Zu
diesen 16 000 afghanischen Flüchtlingen gehört der Personenkreis, den Sie erwähnt haben, überhaupt nicht.
({0})
Ich will Ihnen noch etwas vorhalten, damit sie
genauer erkennen können, worum es geht. Diese Bundesregierung macht auch in diesen Tagen durch das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Rückführungswerbeaktionen für Afghaner unter der Überschrift:
Heimat in Afghanistan
Zurückkehren? Wir beraten Sie gern!
Damit das Ganze auch verstanden wird, gibt es dies auch
in afghanischer Sprache. So viel zu der Frage, ob es unmoralisch, ob es unverantwortlich ist, diese afghanischen Flüchtlinge zurückzuführen. Die eigene Bundesregierung macht solche Werbekampagnen. Vielleicht
räumen Sie erst einmal in Ihrem eigenen Laden auf, bevor Sie solche polemischen Angriffe gegen uns starten.
({1})
Innenminister Schily hat uns auch etwas zur Rückführung von Roma und Serben geschrieben. Er
schreibt:
Bleiberechtsregelungen
- wie Sie und auch die Ausländerbeauftragte sie verlangt
haben würden der mit UNMIK vereinbarten Weiterentwicklung der Rückführungsprozesse für Minderheiten aus dem Kosovo, die sich voraussichtlich auch
positiv auf die freiwillige Rückkehr auswirken
dürfte, zuwiderlaufen.
Auf der Regierungsbank ist leider kein Vertreter des
Bundesinnenministeriums.
({2})
Es wäre ganz schön, wenn Sie Ihre Position einmal mit
der vom Bundesinnenministerium koordinieren würden.
Ich kann nur sagen: Wo der Bundesinnenminister und
sein Ministerium Recht haben, haben sie Recht. Wir unterstützen diese Politik.
Es geht darum, dass wir keine zusätzlichen Abschiebehindernisse schaffen wollen. Sie hingegen haben dies
versucht, indem Sie sich im Vermittlungsausschuss dafür eingesetzt haben, dass eine Überprüfung von Flüchtlingen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Zukunft unterbleibt und diese sofort eine
Niederlassungserlaubnis bekommen. Wir haben das zurückgewiesen und damit erreicht, dass zum Beispiel diejenigen, die als mutmaßliche Straftäter des geplanten Attentats auf Alawi verhaftet wurden - auf diese
Verhaftung ist der Bundesinnenminister ja sehr stolz -,
nicht unter diese Regelung fallen. Die hätten nämlich
eine Niederlassungserlaubnis bekommen, wenn Sie sich
durchgesetzt hätten. Damit hätten wir große Schwierigkeiten gehabt, sie abzuschieben.
Noch ein Wort zu Kettenduldungen. Ich will ganz
klar hervorheben - daran werden wir auch nach einem
Regierungswechsel nicht rütteln -, dass wir die Kettenduldungen für diejenigen, die ihre dauerhafte Anwesenheit hier nicht selbst verschuldet haben, abschaffen. Das
haben wir im Zuwanderungsgesetz vereinbart; wir haben
auch eine Härtfallregelung vereinbart. Eines aber ist völlig eindeutig: Wer seine Papiere vernichtet hat und seinen Reiseweg verschleiert - das trifft für den überwiegenden Anteil der ausreisepflichtigen Ausländer zu -,
der kann doch nicht noch mit einem Bleiberecht für
seine Rechtsverstöße belohnt werden.
({3})
Die Anwesenheit von mehreren Hunderttausend ausreisepflichtigen Ausländern sorgt für Probleme; ich habe
schon in der ersten Beratung darauf hingewiesen. Sie
wirkt sich auf die Kriminalität aus und verursacht hohe
Kosten für Länder und Kommunen. Es geht nicht an,
dass wir auf der einen Seite in den Kommunen keine
Kindergärten bauen und Schulen und Straßen nicht sanieren können, sodass vor allem im Baugewerbe Arbeitsplätze wegen mangelnder Investitionen verloren gehen, aber auf der anderen Seite Hunderte von Millionen
für ausreisepflichtige Ausländer ausgeben, weil wir ihre
Abschiebung nicht hinbekommen. Das verstehen die
Menschen in unseren Wahlkreisen nicht. Das verstehen
übrigens gerade auch die Wähler Ihrer Partei, der SPD,
nicht. Deswegen kann und darf das nicht so bleiben.
Spätestens nach dem 18. September - sofern der Bundespräsident den Bundestag auflöst - werden wir dafür
sorgen, dass sich das ändert und dass die Menschen in
ihre Heimat zurückgeführt werden, wie es das Gesetz
vorschreibt.
({4})
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/5193 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Abschiebehindernisse beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3804 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Wir kommen zur nächsten Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 15/5525 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1239 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
24. Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Olaf Scholz, Erika Simm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen ({1})
- Drucksache 15/5577 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({3}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Stärkung der Eigentümerrechte einer Aktiengesellschaft ({4})
- Drucksache 15/5582 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Zypries.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anfang März haben wir uns mit der SPD-Fraktion
darauf verständigt, dass die individuelle Offenlegung der
Vorstandsbezüge bei börsennotierten Aktiengesellschaften gesetzlich geregelt werden soll.
({0})
Das Kabinett hat daraufhin auf meinen Vorschlag am
18. Mai das so genannte Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz verabschiedet. Heute führt der Bundestag
die erste Beratung des gleich lautenden Entwurfs der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch.
Warum legen wir diesen Gesetzentwurf vor? Seine
Geschichte beginnt im Jahr 2001, als die Bundesregierung die Regierungskommission Corporate Governance
Kodex eingesetzt hat. Unter Leitung des renommierten
Thyssen-Krupp-Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Gerhard
Cromme erarbeitete sie 70 Empfehlungen für eine gute
Unternehmensführung der börsennotierten Unternehmen. Der so genannte Corporate Governance Kodex,
der Unternehmen Leitlinien für gute Unternehmensführung bieten soll, orientiert sich vor allem an einem
Grundsatz, nämlich dem der Transparenz. Denn für die
Aktionäre als Eigentümer der börsennotierten Unternehmen ist es wichtig, zu wissen, welche Entscheidungen in
der Unternehmensführung in Vorbereitung sind und ob
diese nachvollziehbar sind. Nur dann ist auch Kontrolle
möglich und nur dann, wenn Kontrollmöglichkeiten bestehen, können Fehlentwicklungen verhindert werden.
Der Kodex enthält das, was Herr Cromme als „Verhaltensweisen eines ehrbaren Kaufmanns“ umschreibt.
Er ist auch im Ganzen gesehen eine echte Erfolgsgeschichte. Im Jahr 2005 werden allein im DAX-Segment
durchschnittlich 70 der 72 Empfehlungen befolgt. Insgesamt beträgt die Umsetzungsquote mehr als 97 Prozent.
Insofern wird deutlich, dass die Idee der Selbstregulierung funktioniert, in diesem Fall allerdings mit einer
einzigen Ausnahme. Diese betrifft die Offenlegung der
Vorstandsgehälter. Der Kodex empfiehlt, dass die Vorstandsgehälter individualisiert offen gelegt werden sollen. Wir haben immer sehr dafür geworben. Wir haben
die Frist noch einmal verlängert und den Unternehmen
gesagt: Bitte tut es selbst, sonst muss der Gesetzgeber
handeln. - Die Offenlegung setzt sicherlich einen Kulturwandel in den Unternehmen voraus, zumindest in
Deutschland, nicht aber in Großbritannien, Frankreich,
Italien, den USA oder Kanada; denn überall dort ist eine
individualisierte Offenlegung längst vorgeschrieben.
Trotz der verlängerten Frist waren es gleichwohl nur
etwa 70 Prozent der DAX-30-Unternehmen, die sich zu
einer Offenlegung bereit erklärt haben. Bei den M- und
S-DAX-Unternehmen ist die Quote noch deutlich niedriger.
Ziel unseres Gesetzes ist die Stärkung der Kontrollrechte der Aktionäre. Es geht nicht darum, einen allgemeinen Informationswunsch der Öffentlichkeit zu erfüllen oder sogar Neid und Neugier zu befriedigen. Das ist
nicht unser Ziel. Wir wollen vielmehr, dass die Aktionäre, die Eigentümer der Unternehmen, darüber informiert werden, ob der Aufsichtsrat die Vergütung für den
Vorstand angemessen festgesetzt hat. Das Aktiengesetz
verlangt schon heute, dass die Bezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und zur Lage der
Gesellschaft stehen. Das sollen Aktionäre künftig nachvollziehen können.
({1})
Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig die
gesamten Bezüge jedes einzelnen Vorstandsmitglieds
unter Namensnennung anzugeben sind. Wir verlangen
die Aufschlüsselung in erfolgsunabhängige und erfolgsbezogene Komponenten sowie Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung wie Aktienoptionen. Wir wollen
auch, dass die Ruhestandsgehälter sowie die Versorgungs- und Abfindungszusagen erfasst werden; denn gerade das ist einer der Punkte, bei denen es in der Vergangenheit immer wieder zu erheblichen Problemen
gekommen ist.
({2})
Ganz wichtig: Es geht um eine Stärkung der Aktionärsrechte. Deshalb sollen es letztlich die Aktionäre
sein, die darüber entscheiden. Wir ermöglichen es jedem
einzelnen Unternehmen, zu sagen: Wir wollen das nicht
wissen. - Das können die Aktionäre in der Hauptversammlung mit Dreiviertelmehrheit entscheiden. Ein solcher Beschluss gilt jeweils für fünf Jahre.
Um es klar zu sagen: Wir wollen mit dieser Regelung
den Kodex, also die freiwillige Selbstverpflichtung zu
guter Unternehmensführung, nicht infrage stellen. Das
ist nicht das Ziel; denn der Kodex funktioniert, wie gesagt, im Großen und Ganzen sehr gut. Er wird ständig
weiterentwickelt. Wenn Sie heute die Zeitung gelesen
haben, wissen Sie, dass man sich derzeit mit der Frage
beschäftigt, wie die Aufsichtsräte zusammengesetzt sein
sollen. Auch das ist ein ganz wichtiges Thema, auf das
der Gesetzgeber ein Auge haben wird.
An die Kollegen der FDP sage ich - ich muss monieren, dass die Opposition in der Debatte über dieses
Thema nicht sehr stark vertreten ist -:
({3})
Unser Vorschlag ist besser, weil er klarstellt, dass zunächst einmal offen gelegt werden muss. Erst dann kann
davon abgewichen werden. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, argumentieren Sie: Die Hauptversammlung
kann ja entscheiden, ob offen gelegt werden soll. Ich
meine, dass das ein Schritt zu wenig ist; denn diese
Möglichkeit besteht schon jetzt und wird nicht wahrgenommen. Damit wird die Logik umgedreht. Es hilft uns
deshalb nicht weiter.
({4})
Ich appelliere an Sie: Ermöglichen Sie es uns, unseren
Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung durchzubringen!
Es ist nicht unser Anliegen, sondern auch das der Bevölkerung, die bei der Altersvorsorge verstärkt zu Aktien
greift und deshalb wissen will, was in den Unternehmen
geschieht. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf noch in
dieser Legislaturperiode durchbringen! Sehen Sie von
einer anderen Form der Offenlegung ab! Sonst würde
das Verfahren verzögert.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute, in der wahrscheinlich drittletzten Sitzungswoche des Deutschen Bundestages der 15. Wahlperiode, diskutieren wir über die individualisierte Offenlegung der Vergütung der Mitglieder des Vorstandes
börsennotierter Aktiengesellschaften. Die Bundesregierung hat sich entschieden, dieses Thema in den zeitlichen Kontext der Kapitalismuskritik des Vorsitzenden
der SPD und der SPD-Bundestagsfraktion zu stellen,
und Frau Zypries hat sich entschieden, den Regierungsentwurf vier Tage vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen im Kabinett verabschieden zu lassen. Das ist
nicht unbedingt Ausweis einer soliden und nachhaltigen
Wirtschafts- und Rechtspolitik, sondern offensichtlich
Teil eines parteitaktischen Manövers. Das zeigt auch,
dass diese Bundesregierung nach jedem Strohhalm
greift, um ihr unaufhaltsames Abrutschen in der Wählergunst zumindest ein wenig zu verlangsamen.
({0})
Angesichts der verzweifelten Suche nach Kampfthemen hat man wohl keinerlei Überlegung darauf verwendet, wann der richtige Zeitpunkt ist, ein solches Gesetz
einzubringen. Frau Zypries, Sie selbst haben im letzten
Jahr mehrfach betont, man solle erst einmal abwarten,
wie sich die Sache entwickelt. Mit anderen Worten: Sie
haben davon gesprochen, dass man diese Entwicklung
beobachten muss. Sie haben eben gesagt, dass zwei Drittel der DAX-Unternehmen inzwischen entsprechend
vorgehen, Anfang 2004 war es noch ein Drittel. Das
heißt, die Entwicklung ist nicht so schlecht, wie Sie es
dargestellt haben. Wir erwarten, dass das eine oder andere Unternehmen in der kommenden Hauptversammlungssaison doch noch die richtige Entscheidung, also
die zur Offenlegung, trifft.
Parteitaktik Ihrerseits hin oder her - wir werden uns
heute und in den folgenden Debatten im Rechtsausschuss mit dieser Frage vertieft beschäftigen. Wir begrüßen ausdrücklich den Ansatz dieses Gesetzentwurfs.
Was börsennotierte Aktiengesellschaften angeht, streben
auch wir ein hohes Maß an Transparenz im Hinblick
auf die relevanten Unternehmensdaten an. Das erfordert
schon der internationale, globalisierte Aktienanlagemarkt.
({1})
Die Höhe der Bezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder gehört zu den wichtigen Informationen, die Aktionäre zu Recht interessieren. Zwar ist richtig - ich glaube,
Sie haben das nicht ausdrücklich erwähnt -, dass nicht
die Hauptversammlung, sondern der Aufsichtsrat die
Bezüge festlegt und darauf achten muss, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zur Aufgabe des jeweiligen Vorstandes und zur Lage der Gesellschaft im Sinne
von § 87 des Aktiengesetzes stehen. Richtig ist allerdings auch, dass die Hauptversammlung den Aufsichtsrat auch dabei kontrolliert. Die Offenlegung befriedigt
dabei nicht nur die Neugier der Aktionäre, sondern sie
ist auch ein berechtigtes Anliegen.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung in Sachen
Transparenz den Vorbildern USA und Großbritannien
folgt. Ich erspare mir den Hinweis, dass in der Wirtschaftspolitik der letzten sieben Jahre vieles besser gelaufen wäre, wenn man auch in anderen Bereichen die
vielleicht etwas antiquierte deutsche Tradition verlassen
und sich an den genannten Ländern orientiert hätte.
Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen
- diese Auffassung teilen übrigens auch viele Unternehmer -, dass die Höhe der Gehälter der Manager und
die Höhe der Gehälter der Mitarbeiter in den letzten
Jahren auffällig auseinander klaffen. Die entscheidende
Frage ist: Wie reagieren wir auf dieses Auseinanderklaffen? Nach einigen Äußerungen der letzten Wochen und
Monate von der linken Seite dieses Hauses kann ich mir
schon vorstellen, dass viele den Impuls nur schwer unterdrücken können, dass man die Gehälter am besten per
Gesetz deckelt
({2})
und weitere gesetzliche Regulierungen vornimmt. Ich
finde es begrüßenswert, dass man diesen falschen Weg
nicht gegangen ist.
({3}): Märchenstunde! - Wilhelm Schmidt
[Salzgitter] [SPD]: Für wen haben Sie denn
das jetzt wieder verbreitet?)
Wir müssen festhalten, dass es keine objektiven Kriterien für die Höhe von Managergehältern gibt. Wenn es
solche Kriterien nicht gibt, dann bleibt als einziges Mittel die Transparenz, um diesem Auseinanderklaffen entgegenzuwirken. In Bezug auf das US-amerikanische
Aktienrecht heißt es treffend: Sonnenlicht ist das beste
Reinigungsmittel. Wenn ein großer Teil der etwa
1 000 börsennotierten Aktiengesellschaften in Deutschland diese Offenlegung dennoch nicht will, dann ist der
Gesetzgeber in der Tat aufgefordert, darauf zu reagieren.
Im Kern geht es - da stimmen wir mit allen Fraktionen überein - um die Stärkung von Eigentümerrechten.
Lieber Kollege Funke, der FDP-Gesetzentwurf liest sich
erst einmal ganz gut. Mit seinem suggestiv-programmatischen Titel „Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz“ steht
er meines Erachtens aber in der Tradition einiger Gesetzestitel der noch amtierenden Bundesregierung. Ich erinnere nur an das Steuervergünstigungsabbaugesetz
({4})
oder andere.
Der Ansatz der FDP, die stets auf die Mehrheit in der
Hauptversammlung der Aktiengesellschaft abstellt, verkennt indes, dass nicht nur die Gesamtheit oder die
Mehrheit der Aktionäre, sondern jeder Aktionär Eigentümer ist, egal ob er eine Aktie oder Tausende von Aktien hält. Deswegen hat Eigentümerschutz immer auch
etwas mit Minderheitenschutz in einer Aktiengesellschaft zu tun. Zwischen dem Interesse der Mehrheit und
dem des einzelnen Aktionärs muss daher ein gerechter
und vernünftiger Ausgleich gefunden werden. Der liegt
sicherlich eher bei einem Quorum von einem Viertel des
Kapitals als bei einem von 50 Prozent.
Umgekehrt bedeutet Eigentümerschutz aber auch,
dass es keinen Sinn macht, Eigentümer zwangszubeglücken. Es erscheint daher zumindest überlegenswert, eine
Initiative aus der Mitte der Hauptversammlung heraus zu
erwarten, und zwar mit einem nicht zu hohen Quorum,
damit die Offenlegung Platz greift.
Einige Fragen allerdings werden durch beide Gesetzentwürfe nicht hinreichend beantwortet. Ich erwähne nur
die erfolgsabhängigen Vergütungskomponenten; das ist
ja eine ganz spannende Frage. Wenn man diese, wie Sie
es vorsehen, in absoluten Zahlen ausweist, ist das eine
wenig hilfreiche Information, weil sie vergangenheitsbezogen ist. Wichtig ist, das Vergütungssystem, das dahintersteckt, kennen zu lernen, weil es dem Aktionär
eben nur dann möglich ist, es gegebenenfalls auf der
Hauptversammlung zur Grundlage von Entscheidungen
zu machen.
Doch gerade die Informationen über das Vergütungssystem können tief in sensible Bereiche und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens hineinreichen; denn ihre
Veröffentlichung für die Allgemeinheit kann den Wettbewerbern leicht aufschlussreiche Einblicke in die Unternehmenspolitik geben. Sie schlagen nun vor, zumindest im Rahmen einer Soll-Vorschrift die Grundzüge des
Vergütungssystems offen zu legen. Das ist ein Versuch,
dieses Problem zu lösen. Allerdings sage ich: Immer
dann, wenn der Gesetzgeber Begriffe wie „Grundzüge“
benutzt, verrät das die Hilflosigkeit des Gesetzgebers
und lässt den Gesetzesanwender zumeist relativ ratlos
zurück. Der eine oder andere von Ihnen mag sich an das
eigene juristische Staatsexamen erinnern, wenn es vor
einer bestimmten Examensklausur hieß, man müsse nur
die Grundzüge des Erbrechts oder die Grundzüge des Insolvenzrechts lernen. In einem solchen Fall waren wir
als Studenten relativ ratlos, wie weit und tief das gehen
sollte.
({5})
Das ist also ein Begriff, der noch der Diskussion und der
Klärung im Ausschuss bedarf.
({6})
Ferner verwundert mich schon sehr - das muss ich an
dieser Stelle kurz erwähnen -, dass wir in der Begründung des Gesetzentwurfs leider nur ganz wenig zur
Frage der Verfassungsmäßigkeit der Offenlegung finden. Ich erinnere daran, dass 1994, als über eine globale
Offenlegungspflicht für den Vorstand diskutiert wurde,
sehr wohl verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden sind und einschränkend gesagt wurde, dass keine
Rückschlüsse auf einzelne Vorstandsmitglieder gezogen
werden dürfen.
Ich glaube, dass dieser Vorschlag im Ergebnis verfassungsrechtlich haltbar ist. Allerdings hätte ich dazu noch
einige Ausführungen erwartet. Das müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren nachholen. Das muss
nicht lange dauern. Aber über dieses Thema müssen wir
durchaus ernsthaft diskutieren.
Die Union ist zu vernünftigen Lösungen bereit.
({7})
Wir sind auch durchaus bereit, zu prüfen, ob wir das
noch in dieser Legislaturperiode erreichen können.
({8})
Ich glaube, dass wir noch einige Fragen klären müssen.
Das könnte im Rahmen einer Expertenanhörung oder eines Berichterstattergesprächs geschehen. Jedenfalls sind
wir für konstruktive Vorschläge offen. An uns soll es
nicht scheitern. Wir sollten über diesen Gesetzentwurf
noch in dieser Legislaturperiode vernünftig beraten. Allerdings darf das nicht auf Kosten der Qualität gehen.
Die von mir angesprochenen Fragen und einige andere
müssen vernünftig und solide geklärt werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen, die vielleicht von der Bundesregierung als Aufforderung angesehen werden kann, um in ihren letzten
Wochen in diesem Bereich noch einmal tätig zu werden.
Es wäre nicht schlecht, wenn Sie zeitgleich zu diesem
Gesetzgebungsverfahren dafür sorgten, dass der Staat
mit gutem Beispiel vorangeht und nicht nur Ankündigungen macht. Er sollte dafür sorgen - dafür braucht
man kein Gesetz -, dass die Bezüge von Vorstandsmitgliedern in Gesellschaften, die dem Bund gehören,
durchgängig offen gelegt werden.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass der geplagte Bahnkunde und Steuerzahler ein Interesse daran
hat, die Bezüge etwa von Herrn Mehdorn zu erfahren. So
wie der Aktionär als Privateigentümer ein berechtigtes
Interesse an der Offenlegung hat, so hat es auch der Bürger als Steuerzahler. Der Staat wirkt allemal glaubhafter,
wenn er in seinem unmittelbaren unternehmerischen
Verantwortungsbereich nicht anders handelt, als er es
von der Privatwirtschaft erwartet.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist manchmal schon erstaunlich - ich will ja nichts gegen
Juristen sagen -, wie Juristen es immer wieder schaffen,
einfache Sachen ganz kompliziert darzustellen. Herr
Kollege Krings, was wir wollen, ist ganz einfach; Sie
brauchen gar nicht zu spekulieren. Wir wollen das, was
international längst Standard ist, nämlich eine Offenlegungspflicht auch in Deutschland.
({0})
In der Schweiz, in Frankreich, in Skandinavien, in Großbritannien und in den USA ist das Standard. In den USA
ist das schon seit 1932 so.
({1})
Dort hat man in der jüngsten Zeit die Regelungen noch
einmal verschärft.
Es ist also Standard. Wir wollen das auch hier, weil es
selbstverständlich ist, Transparenz herzustellen. Wenn
man auf die Erfahrungen im Ausland blickt, stellt man
fest, dass das weder zum Zusammenbruch von Großkonzernen noch zur Verarmung von Spitzenmanagern geführt hat.
Die Offenlegung von Managergehältern bei uns sollte
selbstverständlich sein. Da muss sich allerdings in den
Köpfen zum Teil schon noch eine ganz andere Denkweise einstellen; das ist richtig.
({2})
Ich denke übrigens auch, dass es für Unternehmen, an
denen der Bund maßgeblich beteiligt ist, ebenfalls
selbstverständlich sein sollte.
({3})
Die deutsche Heimlichkeit verursacht im Ausland
Kopfschütteln. Die Bundesregierung und die rot-grüne
Koalition wollten zunächst auf Selbstverpflichtung setzen. Aber es hat sich nun gezeigt, dass beispielsweise
BMW, BASF, Porsche, Daimler-Chrysler nicht bereit
sind mitzugehen.
({4})
Deswegen ist es absolut notwendig, dass wir handeln.
({5})
Ich möchte mich bei der Justizministerin ausdrücklich
dafür bedanken, dass so schnell gehandelt worden ist.
({6})
- Sie haben doch gerade beklagt, dass es zu schnell geht.
({7})
Vielleicht entscheiden Sie sich einmal, was Sie eigentlich meinen.
Die Kontrolle darüber, ob ein Manager sein Millionengehalt auch wert ist, wird in Deutschland offenbar
immer noch gescheut. Manager vergleichen sonst gern
international, mit Konzernen in den USA oder anderswo,
aber den persönlichen Leistungsvergleich wollen sie offenbar nicht antreten. Das ist wirklich ein Armutszeugnis für die deutschen Unternehmen. Es ist ein Bärendienst, der von BMW, BASF, Daimler-Chrysler und
Porsche den Managern anderer deutscher Unternehmen
erwiesen wird. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt handeln.
({8})
Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass hohe Bezüge in irgendeiner Weise bekämpft, gedeckelt oder infrage gestellt werden; es geht wirklich schlichtweg darum, ob sie leistungsadäquat sind. Ich denke, dass es
sowohl gegenüber den Aktionären als auch gegenüber
der Öffentlichkeit eine Rechtfertigungspflicht gibt in der
Frage, ob dem Gehalt auch eine entsprechende Leistung
gegenübersteht.
Dass da im öffentlichen Diskurs immer wieder Fragezeichen gemacht werden, ist völlig klar angesichts dessen, dass auf der einen Seite Millionenbezüge und auf
der anderen Seite Arbeitsplatzverluste, Kurseinbrüche
und Ähnliches stehen. Wenn das so ist, muss Transparenz hergestellt werden und müssen die Manager gezwungen werden, sich einer Kontrolle zu stellen und einer Rechtfertigung zu unterziehen.
({9})
Wir wollten das schon lange. Ich bin froh darüber,
dass es jetzt von der Justizministerin so umfassend auf
den Weg gebracht worden ist, dass auch Erfolgsprämien,
Pensionszahlungen, Aktienoptionen dargestellt werden
müssen, aber auch Abfindungszahlungen und finanzielle
Vereinbarungen, beispielsweise bei Übernahmen. Man
braucht nur an die Übernahme von Mannesmann zu denken. Wir haben in Deutschland schlechte Erfahrungen
gemacht.
Allerdings denke ich, dass die Opting-out-Regelung
in der jetzigen Fassung zu großzügig ausgefallen ist. Ich
habe große Sorge, dass die Ausübung des Stimmrechts
durch Kreditinstitute und Großaktionäre zu einer sehr
einfachen und schnellen Umgehung der Offenlegungspflicht führt. In den einschlägigen Fachzeitschriften gibt
es schon Spekulationen darüber, welches Unternehmen
das erste sein wird, in dem ein Freibrief für die Manager
ausgestellt wird. Es wird Porsche sein, so wird spekuliert; vielleicht wird es aber auch ein anderes Unternehmen sein. Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Optingout-Regelung zu verschärfen und nicht noch zu erleichtern ist, wie das die CDU/CSU vorschlägt. Wir wollen
kein Gentlemen’s Agreement auf den Chefetagen. Wir
wollen, dass auch die Kleinaktionäre die Möglichkeit
zur Beurteilung bekommen.
Die Kultur der Heimlichkeit ist in Deutschland allerdings noch stark verankert, vor allem - wen wundert
es? - bei den Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
die hierzu einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Ich denke, dieser eigene Gesetzentwurf zeigt, dass es im
Grunde genommen darum geht, durch Verfahrenstricks
die Beschlussfassung hinauszuzögern bzw. zu verhindern.
Dieses Eintreten für Heimlichkeit hat mit sozialer und
liberaler Politik überhaupt nichts zu tun,
({10})
sondern ist Klientelpolitik und nichts anderes. Das kennen wir schon. Deswegen wundert uns das nicht. Immer
da, wo über mehr Wettbewerb diskutiert wird und Ihre
eigene Lobby betroffen ist - ich denke an das Gesundheitsreformgesetz und die Apotheker -, stehen Sie in der
ersten Reihe und versuchen, Ihre eigene Klientel zu verteidigen. Ich hoffe, dass Sie damit nicht durchkommen
und wir vielmehr in Deutschland das nachvollziehen,
was im Ausland längst Alltag ist, nämlich Transparenz.
Das beinhaltet eine Rechtfertigung vor den Aktionären
und vor der Öffentlichkeit, wie es um die Managergehälter steht. Dann kann gemessen werden, ob ihr Verdienst
ihren Leistungen entspricht oder nicht. Darüber sollte
wirklich debattiert werden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Offenlegung von Vorstandsbezügen beschäftigt uns ja seit
über einem Jahr, wobei unterschiedliche Meinungen vertreten wurden.
({0})
Mit dieser Diskussion wurde die Neiddebatte vonseiten
der Regierung und der Koalitionsfraktionen immer wieder populistisch angeheizt.
({1})
Das muss man hinnehmen.
Die FDP bringt deswegen heute einen Gesetzentwurf
ein, der sich mit den eigentlichen Fakten auseinander
setzt. Wir als Gesetzgeber sollten uns nicht an der Neiddebatte beteiligen. Ziel ist vielmehr die einzig logische
und richtige Regelung,
({2})
nämlich die Rechte der Aktionäre zu stärken. In dieser
Hinsicht sind wir mit der Ministerin einer Meinung.
({3})
Die Aktionäre sollen als Eigentümer der Gesellschaften
entscheiden, ob die Vorstandsgehälter offen gelegt werden oder nicht.
Die These, die hier mehrfach in den Raum gestellt
worden ist, dass eine gesetzliche Offenlegung aufgrund
des internationalen Vergleichs notwendig sei, stimmt so
nicht. In den Ländern, in denen eine gesetzliche Offenlegungspflicht besteht, sind die Gesellschaften anders
konzipiert als die deutsche Aktiengesellschaft. In diesen
Ländern - es sind zumeist Common-Law-Länder - haben die Gesellschaften nur ein Organ, nämlich das
Board. Dieses bestimmt sich selbst sein Gehalt. Deswegen ist ein Zwang zur Offenlegung in diesen Rechtsordnungen gerechtfertigt, um In-sich-Geschäften und
Selbstbedienungsmentalität vorzubeugen. Diese Begründung ist aber auf deutsche Gesellschaften nicht zu übertragen; denn hier entscheiden die Aufsichtsräte - in der
Regel von Gewerkschaften mitbestimmte Aufsichtsräte - über ein angemessenes Gehalt der Vorstände.
Zur Förderung der Transparenz der Vorstandsgehälter
sehen wir in unserem Gesetzentwurf eine Stärkung der
Aktionärsrechte vor.
({4})
Diese sind die Anteilseigner des Unternehmens. Die Aktionäre sollen selbst entscheiden können, und zwar mit
einfacher Mehrheit in der Hauptversammlung, ob sie
eine Offenlegung wünschen. Wir können in der Tat, Herr
Dr. Krings, darüber diskutieren, ob wir zum Zwecke des
Minderheitenschutzes ein anderes Quorum wählen. Da
bin ich bei den anstehenden Beratungen im Rechtsausschuss ganz offen.
({5})
- Ich fürchte, auch Sie werden bald dahin kommen, Herr
Tauss.
Die Aktionäre können ferner festlegen, ob die Offenlegung für jedes Vorstandsmitglied ausgewiesen werden
soll. Es obliegt ihnen darüber hinaus, den Auftrag zu erteilen, die Gesamtbezüge des Vorstands nach den einzelnen Positionen aufzuschlüsseln. Nach unserem Vorschlag soll der Beschluss einer Hauptversammlung das
Unternehmen für drei Jahre und nicht wie bei Ihnen für
fünf Jahre binden. Den Anteilseignern haben wir damit
einen maximalen Entscheidungsspielraum gegeben; das
ist auch demokratisch.
({6})
Dagegen ist ein gesetzlicher Zwang ein Eingriff in die
Rechte der Aktionäre und damit eine Entmündigung.
Das können wir nicht mittragen. Deswegen lehnen wir
den Entwurf der Koalitionsfraktionen ab.
({7})
Wir erwarten nun von Ihnen, verehrte Kollegen, ein
ordentliches parlamentarisches Verfahren,
({8})
so wie bei jedem Gesetzentwurf. Sie kommen in allerletzter Sekunde und bringen diesen Gesetzentwurf ein.
({9})
Wir wollen aber ordnungsgemäß beraten. Herr Scholz,
Sie lächeln mich so an, das ist sehr nett. So wie wir es
beim KapMuG und beim UMAG gemacht haben, so
möchten wir auch diesen Gesetzentwurf ordnungsgemäß
mit Ihnen beraten. Das ist auch in dieser Legislaturperiode noch möglich. Wer das Gerücht aufgebracht hat,
dass wir den Gesetzentwurf verzögern wollten, weiß ich
nicht. Wir wollen ihn nicht verzögern, wir werden konstruktiv daran mitarbeiten.
({10})
- Es stimmt nicht alles, was in den Zeitungen steht, das
müssten Sie, Herr Kollege, wissen.
({11})
- Ich bin heute gefragt worden und habe das mehrfach
dementiert.
Meine Damen und Herren, wir werden hier also nicht
in Wahlkampf ausbrechen,
({12})
sondern werden das ordnungsgemäß beraten - wenigstens bei diesem Gesetz. Ich hoffe auf Ihre Mithilfe.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Olaf Scholz, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier ein sehr wichtiges Gesetz, das die Öffentlichkeit, aber auch die Wirtschaft in unserem Lande schon
lange verlangt hat. Es geht darum, dass wir eine der ganz
wichtigen Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Gesellschaften gewährleisten, nämlich Transparenz und
Offenheit. Märkte, bei denen man nicht weiß, wer
eigentlich was macht, funktionieren nicht.
Natürlich gehört es zur Wirklichkeit unserer Republik
und zu den Erfahrungen, die wir in der Wirtschaft gewonnen haben, dass manches in den Vorständen und
Aufsichtsräten fast wie in einer Gruppe von Leuten, die
sich schon lange kennen, ausgemacht wird. Das ist aber
mehr Feudalismus als Marktwirtschaft.
({0})
Insofern brauchen wir dringend eine Veränderung in diesem Bereich. Das soll dieses Gesetz zustande bringen.
Das Gesetz hat einen zweiten Vorzug, den man unbedingt erwähnen muss: Es ist weise. Es ist ein weises Gesetz, weil wir vorschreiben, dass Vorstandsgehälter offen
gelegt werden müssen, sodass jeder Bescheid weiß, was
die Vorstände verdienen, und zwar in den Details, die dafür notwendig sind. Aber weil es um die Rechte von Aktionären und Eigentümern geht und nicht um Voyeurismus, sagen wir: Wenn die das partout nicht wissen
wollen, dann brauchen sie es auch nicht zu wissen. Mit
dieser weisen Lösung, die sich aufdrängt, mit diesem
Opting-out, ist auch verbunden, dass jeder Einwand
überflüssig ist, dass es sich bei dem Gesetz um ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz handele.
({1})
Niemandes Recht ist betroffen, die Aktionäre und die
Eigentümer können machen, was sie wollen - allerdings
schreiben wir einen Regelfall vor.
Das ist - das will ich ausdrücklich sagen - auch dringend notwendig; denn eines sollten wir, wenn wir uns
alle hier versichern, eigentlich das Gleiche zu wollen,
aber unterschiedliche Vorschläge zu haben, an dieser
Stelle nicht machen: Das ist aus meiner Sicht dasjenige,
was ich gerne als den Stoiber-Sozialismus bezeichne.
Der Stoiber-Sozialismus geht so: Man kündigt in der
„Bild“-Zeitung etwas an - alle sind begeistert -, macht
es dann aber hinterher nicht wahr oder macht Vorschläge, die so wenig mit der Ankündigung zu tun haben, dass das „Handelsblatt“, die „Wirtschaftswoche“
und die „Financial Times Deutschland“ berichten können: Herr Stoiber ist doch nicht so schlimm.
Deshalb müssen wir dieses Gesetz so gestalten, dass
es wirklich zur Veröffentlichung von Vorstandsgehältern
führt - es sei denn, die Aktionäre wollen das nicht. Der
Vorschlag, den wir hier von der Union gehört haben, ist
insofern schön, als er Konstruktivität zumindest zeigt
({2})
- „andeutet“, ja; man soll das nicht schlecht finden,
wenn jemand Konstruktivität andeutet -, er hat aber einen Nachteil: Es käme dann gar nicht zur Veröffentlichung von Vorstandsgehältern. Das ist eine Variante
des Stoiber-Sozialismus. Man erweckt den Eindruck,
man sei auch dafür, kann aber den beteiligten Spenden
fördernden Wirtschaftskreisen vermitteln: Es kommt
doch nicht. Das, glaube ich, ist etwas, was in seiner Unehrlichkeit nicht hilfreich ist.
({3})
Deshalb werden wir den Vorschlag natürlich nicht mitmachen, wir werden nicht sagen: Es kommt nur dann zu
einer solchen Regelung, wenn eine Minderheit - ich
glaube, von 25 Prozent - der Aktionäre das verlangt;
denn dann würde es nie dazu kommen. Im Übrigen ist
das Argument auch nicht logisch. Muss sich jemand
25 Prozent des Aktienkapitals kaufen, um herauszufinden, ob die Vorstandsvergütungen so hoch sind, dass es
sich nicht gelohnt hat, die Aktien zu kaufen?
({4})
Das ist doch die Konsequenz, die dabei herauskommt.
Wir wollen auf dem Kapitalmarkt nicht nur eine Information für diejenigen bieten, die schon Aktionäre sind,
sondern es geht auch um diejenigen, die sich überlegen
- diese brauchen wir, wenn unsere Marktwirtschaft
funktionieren soll -, ob sie sich eine solche Beteiligung
kaufen,
({5})
seien es 100 Aktien oder eine Aktie oder wirklich eine
Beteiligung von 25 Prozent. Aber dass es immer gleich
so viel sein muss, um herauszufinden, ob das Investment
richtig ist, ist falsch und macht die Unehrlichkeit Ihrer
Position deutlich.
({6})
Meine Damen und Herren, bei aller Diskussion über
die Unterschiede geht es mir hier nur darum, deutlich zu
machen, auf welche Weise wir miteinander klarkommen
können und auf welche Weise nicht. Wir können uns einigen, wenn Sie wirklich ein Gesetz wollen, das zur Veröffentlichung von Vorstandsbezügen beiträgt. Dann werden wir auch über Details reden können. Aber wir
werden uns nicht einigen, wenn es nur danach aussehen
soll. Das ist der Unterschied zwischen den Vorschlägen,
die ich bisher von der FDP und von Ihnen gehört habe,
und dem ehrlichen, gut ausgewogenen Gesetzentwurf,
den die Bundesregierung hier vorgelegt hat.
Schönen Dank.
({7})
Nun hat Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Es ist vernünftig - darüber brauchen wir uns auch gar
nicht künstlich zu streiten -, mehr Transparenz zu schaffen. Was die Cromme-Kommission vorgeschlagen hat,
ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Frage ist: Wie
setzt man das möglichst vernünftig und zielführend um?
Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Die erste ist,
öffentlichen Druck zu erzeugen und auf freiwillige Lösungen zu setzen. Man kann sich darüber unterhalten,
wie lange man das probieren will. Wenn man dann erkennt, dass das Ziel nicht erreicht wird, kann man gesetzgeberisch handeln. Auch das ist völlig unstreitig.
Wir können eine kleine Differenz darüber haben, ob das
Handeln gerade jetzt richtig ist. Der geplante Zeitpunkt
hat ein bisschen ein Geschmäckle. Ihr Müntefering hat
die Kapitalismuskritik angefangen. Er hat keine Maßnahmen dagegen und da kommt das gerade zupass. Das
ist der Müntefering-Sozialismus:
({0})
Er beklagt die Heuschrecken, hat keine Lösung dafür,
lässt dann schnell einen Gesetzentwurf, wie wir ihn hier
vorliegen haben, auf die Schiene bringen und sagt: Es ist
doch alles gar nicht so schlimm; aber es hilft in dem
Sinne, den ich gemeint habe. Dieser Müntefering-Sozialismus hilft uns aber auch nicht weiter. Die erste Möglichkeit ist also Freiwilligkeit und öffentlicher Druck.
Die zweite Möglichkeit ist: Wir schreiben vor, dass es
beraten werden muss,
({1})
lassen den Aktionären aber die Freiheit, zu entscheiden,
ob sie das mit einem Quorum von 25 Prozent beschließen wollen oder nicht. Ihr Gesetzentwurf aber sieht vor,
das per Gesetz zu beschließen, es sei denn, 75 Prozent
entscheiden sich dagegen. Interessanterweise, Herr
Scholz, haben wir in beiden Fällen die 25 Prozent: Sie
von unten, wir von oben.
({2})
In jedem Falle entmündigen wir den Teil, der sich nicht
durchsetzen kann, und zwingen den anderen Teil. Das ist
ein Stück weit ein Streit um des Kaisers Bart.
Nur damit das zwischen uns klar ist: Wir wollen, dass
Transparenz hergestellt wird. Wir möchten vermeiden,
dass das damit verbunden wird, dass man das schon immer wissen wollte und dass alles ungerecht sei, was da
geschehe. Wir betrachten das als einen Beitrag, die
Neidkultur, die wir in Deutschland leider haben, besser
bekämpfen zu können. Wir glauben, dass man, wenn
man offen zeigt, was Sache ist, weniger Neid produziert,
als wenn man heimlich handelt. Deswegen ist das ein gemeinsames Ziel. Wenn Sie nicht einen Fehler beim Zeitpunkt gemacht hätten, hätten wir überhaupt kein Problem damit, jetzt gemeinsam den richtigen Weg zu
definieren, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.
Dass der Gesetzentwurf jetzt in einer solchen Hektik
verabschiedet werden soll, dass wir vorher kaum noch
durch einen Sachverständigen ein paar Rechtsfragen, die
es immer noch gibt und die man vernünftig einkreisen
könnte, klären lassen können, ist ärgerlich. Sie wissen
selber, dass das auch dem Gesetz nicht gut tut. Es täte
dem Gesetz gut, wenn wir es einvernehmlich beschließen könnten. Dann hätte es die höchste Akzeptanz und
auch die beste erwünschte Wirkung. Ich bedaure, dass
das Gesetz jetzt in diesen Clinch gekommen ist. Aber
wir konnten das nicht steuern; Sie hätten es steuern können.
Wir empfehlen, in einem Berichterstattergespräch
noch einmal ernsthaft zu versuchen, den Gesetzentwurf,
so hektisch die Zeiten auch sind, einvernehmlich zu formulieren. Dann wird er eines Verdachts enthoben, in den
er nicht kommen darf. Ob nicht der eine oder andere das
vielleicht geregelt haben möchte, um es hinterher im
Wahlkampf zu instrumentalisieren, ist eine andere Frage.
Es wäre für die Aktienkultur in unserem Land wichtig, wenn sich dieser Verdacht ausräumen ließe. Wir bieten unsere Bereitschaft an, daran mitzuwirken.
Wir legen großen Wert auf Praktikabilität; Kollege
Krings hat dies schon angesprochen. In dem einen oder
anderen Fall ist eine Veröffentlichung praktikabel. Den
entsprechenden Katalog würde ich mir aber gerne noch
genauer anschauen. Wir sind daran interessiert, ein bürokratisches Monstrum zu vermeiden. Denn wenn die Umsetzung scheitern würde, wären wir es, die Änderungen
durchführen müssten, nachdem wir den Regierungsauftrag erhalten haben.
Damit Sie glauben, dass wir wirklich redlich an diesem Thema interessiert sind, möchte ich Ihnen Folgendes versichern: Wenn - aus welchen Gründen auch immer - dieser Gesetzentwurf jetzt nicht verabschiedet
wird, werden wir später ein entsprechendes Gesetz verabschieden, das in der von mir beschriebenen Weise
wirkt. Wir wollen, dass die offenen Fragen geklärt werden; denn wir brauchen Transparenz. Wenn sich unsere
Gesellschaft in diesem Punkt schwer tut, dann müssen
wir an der einen oder anderen Stelle für einen Anschubimpuls sorgen, damit es in dieser Frage zu Veränderungen kommt. Ich denke, wir liegen inhaltlich nicht sehr
weit auseinander.
Dass es bei dieser Sache ein Geschmäckle gibt, hängt
mit Fehlern zusammen, die in den Fällen Ron Sommer
und Klaus Esser gemacht wurden. Da sind sozusagen
Raketen losgegangen, die uns alle wach gemacht haben.
({3})
- Das weiß ich. Guten Morgen, Herr Tauss!
({4})
- Da sind wir ja wach geworden.
Es ist interessant, diese Fälle einmal zu rekapitulieren. Ron Sommer stand quasi einem Staatsunternehmen
vor.
({5})
Da hätten Sie oder wir - also diejenigen, die gerade den
Minister und die Verwaltungsräte stellten - alles klären
können. Herr Esser stand einem in vollem Umfang paritätisch mitbestimmten Unternehmen vor.
({6})
Von Gewerkschaftsseite hätte enorm viel getan werden
können. Aber die Gewerkschaft hat verschwiegen, dass
sie an der Abfindungsregelung für Herrn Esser mitgewirkt hat. Es war schon eine interessante Konstellation.
Wir wollen - ich bleibe bei meiner Aussage -, dass es
ein solches Gesetz gibt.
Ich habe schon die Praktikabilität und die öffentlichen
Unternehmen - dies ist mein letzter Gedanke - angesprochen.
({7})
- Wir haben damit überhaupt kein Problem, Herr Tauss. Wir haben einen ganz klaren Kurs: Wir glauben - das ist
unser Kerngedanke -, dass es durch mehr Transparenz
zu weniger Neid in unserer Gesellschaft kommt. Aber
diese Transparenz muss richtig eingestielt werden und
darf nicht an den falschen Punkten hochgezogen werden.
Insofern haben Sie dieser Sache mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf zu diesem Zeitpunkt einen Bärendienst
erwiesen. Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ihnen gemeinsam eine Lösung zu suchen.
Meine Schlussbemerkung. Die falschen Motive bei
dem einen oder anderen, der diesen Gesetzentwurf unterstützt, können uns nicht daran hindern, an dem mitzuwirken, was wir für richtig halten. Ich bin gespannt, ob
Sie dieses ernsthafte Angebot annehmen.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP legt einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz“ vor. Wenn Sie die Rechte
der Eigentümer von Aktien und damit von Unternehmen
stärken wollen, dann müssten Sie eigentlich unserem
Gesetzentwurf zustimmen, Herr Funke.
({0})
Dass Sie nicht verstanden haben, um was es uns eigentlich geht, sieht man an der Problembeschreibung in
Ihrem Gesetzentwurf. Dort steht, dass es um die KonNina Hauer
trolle der Angemessenheit der Bezüge ginge. Aber darum geht es doch gar nicht.
({1})
Es geht am allerwenigsten um die Höhe der Bezüge. Es
geht vielmehr darum, wie sie sich zusammensetzen. Einfach gesagt, geht es darum, festzustellen, nach welchen
Regeln der Manager tickt. Sie können das gerne mit der
Debatte über die Offenlegung von Nebeneinkünften der
Politiker, die Sie ja - vielleicht aus denselben Gründen auch nicht wollen, vergleichen.
({2})
Es geht also darum, aufzulisten, nach welchen Kriterien jemand bezahlt wird: Wird er dafür bezahlt, dass er
das Unternehmen nach vorne bringt? Wird er für das
Sterben von Beteiligungsgesellschaften bezahlt, wodurch Arbeitsplätze verloren gehen? Wird er dafür bezahlt, dass der Aktienkurs nach oben geht, oder wird er
dafür bezahlt, neue Märkte zu erobern?
({3})
Diese Fragen kann man beantworten, wenn man die Vergütungen von Vorständen offen legt. Es geht also überhaupt nicht um die Höhe und um eine Neiddebatte.
({4})
Im Gegenteil: Es geht um die Stärkung der Aktienkultur in Deutschland.
Sie sind bei jeder Gelegenheit dabei, wenn es darum
geht, große Unternehmen zu verteidigen.
({5})
Unterstützen Sie doch einmal die Aktienkultur!
Wir fordern die Menschen auf, ihr für die Altersversorgung vorgesehenes Geld in Aktien anzulegen. Wir
wollen erreichen, dass Leute, die Aktien kaufen, mehr
Eigentümerrechte haben; Herr Funke, da können Sie
gleich mitmachen. Wir müssen ihnen dann aber auch die
Möglichkeit geben, zu beurteilen, wie sich das Unternehmen, an dem sie beteiligt sind und dem sie vielleicht
einen Teil ihres für die Altersversorgung vorgesehenen
Geldes anvertrauen, entwickeln und nach welchen Regeln es aufgestellt sein wird. Dabei geht es nicht darum,
zu sagen: Die Vergütung, die gezahlt wird, ist zu hoch.
Es geht darum, zu sagen: Die Entwicklung geht in die
falsche Richtung.
Die Sixt AG hat jetzt angekündigt, auf ihrer Hauptversammlung einen Vorratsbeschluss zu fassen und die
Opting-out-Regel zu nutzen, bevor sie überhaupt gesetzlich vorgesehen ist, um festzustellen, dass sie ihre Vorstandsvergütung nicht offen legen wird - mit der
Begründung, das Gehalt sei Privatsache. Wer Eigentümerrechte stärken will, darf nicht sagen, dass das Gehalt
der Vorstände von Aktiengesellschaften Privatsache sei.
({6})
Das ist Sache der Eigentümer.
({7})
Herr Krings, Ihr Vorschlag, der von Herrn Schauerte
unterstützt wurde, hört sich so an, als ob Ihnen nichts anderes eingefallen wäre. Aber wenn man sich genau betrachtet, was Sie da wollen, stellt man fest, dass das
natürlich eine perfide Strategie ist. Eine Hauptversammlung ist bei allen demokratischen Regeln, die da
gelten mögen, kein Parlament. Aus der Mitte der Hauptversammlung wird es keinen Vorschlag geben. Aber
selbst wenn ein solcher gemacht wird und er dann für
drei oder fünf Jahre gelten soll, wird es der Hauptversammlung nicht möglich sein, mit der Offenlegung der
Bezüge zu hantieren. Denn eine solche wird zwar beschlossen werden können; aber dann wird man die Offenlegung erst über die nächsten Jahre hinweg verfolgen
können.
Es geht aber darum, dass die Vergütungen schon auf
der Hauptversammlung selber offen gelegt sind. Die
Hauptversammlung kann sich dann mit einer Dreiviertelmehrheit dazu entscheiden, den Opting-out-Weg zu
wählen. Der Gesetzentwurf ist ja in dieser Hinsicht offen.
Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Ja.
Frau Kollegin, ich möchte Sie gern fragen, wie Ihre
Haltung zu Unternehmen ist, an denen der Bund zu
100 Prozent beteiligt ist. Mir fällt spontan die KfW und
die GTZ - ich könnte noch mehr aufführen - ein, in denen nach meiner Erkenntnis einige Leute höhere Gehälter als zum Beispiel ein deutscher Ministerpräsident bekommen. Sind Sie dafür, diese Gehälter offen zu legen?
Ich habe nichts dagegen, dass man das auch bei Beteiligungsgesellschaften des Bundes macht. Ich finde, das
wird die Beteiligungskultur eher stärken als schwächen.
({0})
- Herr Koppelin, wir bringen erst einmal den vorliegenden Gesetzentwurf ein.
Die Frage, welches Thema die Hauptversammlung
beherrscht, darf aus meiner Sicht nicht lauten: Wollen
wir in den nächsten Jahren wissen, was die Vorstände
verdienen? Ich muss vielmehr anhand der Vorstandsvergütungen sehen können, wohin sich das Unternehmen,
auf dessen Hauptversammlung ich bin, entwickelt.
({1})
Dazu darf ich dann auch etwas sagen.
Die Entscheidungen, die da getroffen werden, sind
nicht von der Alternative hopp oder top geprägt. Es geht
also nicht gegen oder für eine Offenlegung. Die Entscheidung ist vielmehr, ob ich aus der zunächst gesetzlich festgelegten Offenlegung aussteigen will. Aber bevor ich aussteige, kann ich dazu etwas sagen.
Das hat mit einer Stärkung der Aktienkultur weitaus
mehr zu tun als Ihr Vorschlag, der dazu führen wird, dass
sich dieses Thema auf der Hauptversammlung gar nicht
in dieser Form stellen wird.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 19. Januar dieses Jahres hat eine Gruppe von
40 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion einen
eigenen Entwurf eines Gesetzes zur Transparenz von
Vorstandsbezügen aufgelegt. Ich will Ihnen, Frau Ministerin, und der Bundesregierung an dieser Stelle Dank dafür sagen, dass Sie diesen Gesetzentwurf aufgegriffen
und damit Sorge dafür getragen haben, dass wir, die
Fraktionen wie die Bundesregierung, heute diesen Entwurf eines Gesetzes zur Offenlegung von Vorstandsvergütungen beraten können.
({0})
Warum haben wir dies getan? Wir haben diesen Gesetzentwurf zum Ersten nicht als Gegensatz zum
Cromme-Kodex verstanden. Ganz im Gegenteil haben
wir immer gesagt: Dies geschieht zusätzlich, weil ein
Großteil der im Cromme-Kodex festgelegten Maßnahmen umgesetzt wird und sie kein Gegensatz zu unserem
Gesetzentwurf sind, sondern sich ergänzen.
Wir haben uns zum Zweiten an die Skandale der vergangenen Jahre erinnert. Einer davon war die Mannesmann-Übernahme. Wir haben uns ganz genau angeschaut, wie die Anklage lautete. Klaus Esser sowie
weitere Manager dieses Konzerns mussten sich des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Untreue in einem besonders schweren Fall bzw. der Beihilfe verantworten. Sie
hatten, so die Anklage, die 180 Milliarden Euro teure
Übernahme von Mannesmann durch den Mobilfunkriesen Vodafone Anfang 2000 genutzt, um Managern und
Exvorständen des Unternehmens ungerechtfertigte
Abfindungen in Höhe von fast 60 Millionen Euro zuzuschieben. Wir haben gedacht: Dies muss uns als Gesetzgeber in der Tat beunruhigen; es besteht Handlungsbedarf.
Was ist uns dabei ganz besonders wichtig? Zwei
Punkte sind bereits erwähnt worden. Der eine ist der Anlegerschutz. Es in der Tat wichtig, dass auch Kleinaktionäre die Chance haben, Einsicht zu nehmen, und nicht
nur die großen, die vielleicht besser informiert sind. Zum
Zweiten wollen wir die Aktienkultur in Deutschland
stärken, indem wir dafür Sorge tragen, dass nicht nur die
30 DAX-Unternehmen, die den Cromme-Kodex unterzeichnet haben, sondern alle börsennotierten Unternehmen davon erfasst werden - wie es der ursprüngliche
Gesetzentwurf vorgesehen hatte. Genau das ist jetzt im
Gesetzentwurf enthalten und das finden wir ganz wesentlich. Deshalb fiel es uns leicht, unseren eigenen
Gesetzentwurf zugunsten eines gemeinsamen Gesetzentwurfs der Koalition und der Bundesregierung zurückzuziehen.
Ich will einen Kritikpunkt aufgreifen, der vonseiten
der FDP eingebracht wurde: die Absenkung der Mehrheitsregelung beim Opt-out. Ich will Ihnen ganz deutlich
sagen: Ich bin in der Tat der Auffassung, dass dies der
falsche Weg ist. Das zeigen übrigens auch die Reaktionen. Ich habe mich gewundert, dass ausgerechnet der
Vorstandsvorsitzende der Firma Porsche AG, Herr
Wiedeking, diesen Gesetzentwurf als „Sozialismus auf
Vorstandsebene“ bezeichnete. Wenn es richtig ist, was
die Kollegen der CDU/CSU gesagt haben - dass Transparenz nicht nur die Aktienkultur stärkt, sondern auch
gegen Neid und Missgunst hilft -, dann ist dies genau
die falsche Antwort.
({1})
Dies bestärkt uns darin, in der Frage des Dreiviertelquorums auf gar keinen Fall herunterzugehen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt aufgreifen, den
Kollege Schauerte erwähnt hat: die Frage der Bürokratie. Wir haben uns in der Tat umgeschaut, wie es in
anderen Ländern ist. In Großbritannien gibt es eine Vorschrift, die unserer ähnlich ist; die Offenlegungspflichten
werden in einer 27-seitigen Verwaltungsvorschrift im
Detail dargestellt. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf damit vergleichen, werden Sie feststellen, dass wir den
Grundgedanken der Offenlegung aus Großbritannien
aufgegriffen haben, dass es uns aber gelungen ist, das
auf 4 Seiten darzustellen. Das ist das beste Beispiel dafür, wie man einen schlanken und, wie ich meine, intelligenten Gesetzentwurf auf den Weg bringen kann.
({2})
Herr Kollege Lange, gestatten Sie kurz vor Ende Ihrer
Redezeit noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hauer?
Die kommt mir wunderbar gelegen. Gerne.
Wie bestellt. - Bitte schön.
Schauen wir einmal, was sie fragt.
Herr Lange, ist der Vorwurf gerechtfertigt, das sei
wieder so eine rot-grüne Sonderidee, in anderen Ländern
werde das ganz anders gemacht?
Frau Kollegin, ich bin Ihnen dankbar für die Frage.
Insbesondere von Herrn Funke wurde ja darauf hingewiesen, wir würden einen nationalen Sonderweg gehen,
({0})
weil die unterschiedlichen Formen der Vorstände und
die Organisation der Aktiengesellschaften - die Sie in
den Mittelpunkt gestellt haben - nicht zu vergleichen
seien: Boardsystem auf der einen Seite und Aufsichtsrat/Vorstand auf der anderen. Deshalb ist es wichtig, mit
unserer Regelung in Deutschland internationale Standards einzuführen, die in großen Ländern wie den USA,
Kanada, Großbritannien, Irland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Schweden
schon gelten.
({1})
- Die Frage ist in der Tat, Herr Kollege Tauss: Wo nicht?
Wenn unser Gesetzentwurf jetzt mit Ihrer Hilfe - so
habe ich die Diskussion zumindest verstanden - eine
breite Mehrheit im Hause findet, werden wir auch in
Deutschland diese internationalen Standards zum Wohle
aller Aktionärinnen und Aktionäre einführen.
Dafür herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5582 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5577 - Tagesordnungspunkt 24 - soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?
({0})
Mit dem freundlichen Entgegenkommen des Kollegen
Schmidt bezüglich seiner frei erfundenen Bedenken kön-
nen wir diese Überweisungen einvernehmlich so be-
schließen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b so-
wie Zusatzpunkt 6 auf:
25 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland für die Fußballweltmeisterschaft
2006 fit machen - Längere Öffnungszeiten der
Außengastronomie ermöglichen
- Drucksache 15/5452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gudrun Kopp, Detlef Parr, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sperrzeiten für Außengastronomie zur Fußballweltmeisterschaft 2006 verbraucherfreundlicher gestalten - Freigabe der Ladenöffnungszeiten ermöglichen
- Drucksache 15/5581 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({3}), Werner Schulz ({4}), Volker Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Öffnungszeiten der Außengastronomie während der Fußball-WM 2006 flexibel handhaben
- Drucksache 15/5585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({6})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ich weise darauf hin, dass hier nicht das voraussichtliche Ergebnis der Fußballweltmeisterschaft verhandelt
und verkündet wird, sondern dass es sich um die Gestaltung nicht ganz unbedeutender äußerer Rahmenbedingungen handelt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Noch-Oppositionspolitiker
({0})
hat man ja selten Grund zur Freude. Kleine und Große
Anfragen an die Regierung werden mehr schlecht als
recht beantwortet. Für die eigenen Anträge erhält man,
wenn man Glück hat, inoffiziell Lob von der Konkurrenz, sie werden aber abgelehnt.
Kleine Freuden hat man dadurch, dass man die anderen Fraktionen, so wie heute, mit eigenen Initiativen etwas zum Rotieren bringt. Den Kollegen Burgbacher
nehme ich hier ausdrücklich aus; denn wir haben in Sachen Sperrzeiten ja die gleiche verbraucherfreundliche
Haltung. Herr Kollege Burgbacher, in der Frage der Ladenöffnungszeiten unterscheiden wir uns etwas. Deswegen stimmen wir Ihrem Antrag in diesem Punkt nicht zu.
Wir enthalten uns bei der Abstimmung darüber. Uns geht
es primär um die Außengastronomie und eine Verbesserung der Situation dort.
Als wir unsere beiden Anträge eingereicht haben
- wir als CDU/CSU und Sie als FDP -, habe ich mit Interesse darauf gewartet, was Rot-Grün macht und ob
überhaupt etwas kommt. Ich habe mich insgeheim gefragt, ob die Sozialdemokraten und die Grünen ihre
spaßfreie Haltung korrigieren und ob sie unserem Antrag
zustimmen, weil sie momentan sowieso nicht so viel
zum Lachen haben. Haben Sie vielleicht sogar selbst die
Freude entdeckt, länger als bis 22 Uhr im Freien eine
Apfelschorle oder meinetwegen auch eine Gerstenkaltschale zu trinken?
({1})
Nein, weit gefehlt, Frau Irber. Sie können die Enttäuschung, die ich hatte, als ich den rot-grünen Antrag sah,
gar nicht nachvollziehen. Er war nicht nur offensichtlich
mit der heißen Nadel gestrickt, er ist einfach schlecht
({2})
und er geht am Kern der Sache vorbei.
Sie gönnen uns, den Deutschen, und unseren Gästen
zum Confederations Cup und zur WM wirklich nicht den
Hauch von Spaß.
({3})
Ich habe es in meiner letzten Rede hierzu ja schon einmal gesagt: Sie wollen Multikulti, aber zu deutschen Ladenschlusszeiten. Das funktioniert nicht.
Weil ich den Eindruck habe, dass Sie die Grundlagen
immer noch nicht richtig verstanden haben, darf ich Ihnen noch einmal deutlich machen, worum es wirklich
geht:
Die allgemeine Sperrzeit, die grundsätzlich auch für
die Außengastronomie gilt, beginnt je nach Bundesland
zwischen 1 Uhr und 5 Uhr morgens. Die Sperrzeitenregelungen für die Außengastronomie werden durch die
Länder bzw. durch kommunale Bestimmungen in Verbindung mit immissionsschutzrechtlichen Vorschriften
eingeschränkt und daher eben auf 22 Uhr festgelegt.
({4})
- Dann endet der Spaß, genau. - Das Hauptproblem der
Außengastronomie ist also der Lärmschutz. Deshalb genügt für die Außengastronomie die alleinige Änderung
des § 18 Gaststättengesetz nicht, da für die Festlegung
der Sperrzeiten immer die von der Freiluftgaststätte ausgehende Geräuscheinwirkung berücksichtigt werden
muss.
({5})
In der Regel führt das eben zum Schließen der Biergärten nach 22 Uhr.
Hier liegt der Kern des Problems. Freiluftgaststätten
werden nach der TA Lärm, der Technischen Anleitung
Lärm, beurteilt. Um es einfach zu formulieren: Weil die
Außengastronomie nicht in dieser TA Lärm aufgeführt
ist, gibt es zurzeit keine gesetzlichen Vorschriften, die die
Immissionen bzw. die Geräuscheinwirkung von Freiluftgaststätten beurteilen und bewerten können. Trotzdem
ziehen Gemeinden und Gerichte bei Rechtsstreitigkeiten
die TA Lärm zur Beurteilung der Geräuschimmissionen
von Biergärten als Richtschnur heran. So ist das leider.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Geräusche
von Freischankflächen - das sind hauptsächliche
menschliche Kommunikationsgeräusche; manchmal klirrt
vielleicht ein Glas - wie technischer Lärm gemessen und
nach der Technischen Anleitung Lärm bewertet werden.
({6})
Diese kompromisslose Anwendung der auf die Bewertung von Industrielärm zugeschnittenen TA Lärm führt
zu einer Überbewertung des individuellen Nachbarschutzes und zu unsozialen und unverträglichen Ergebnissen.
({7})
Menschliche Kommunikationsgeräusche, das Reden, das
Lachen, die Unterhaltung, vielleicht auch einmal das
Singen, sollten eben nicht wie technische Geräusche,
zum Beispiel Bohren, Hämmern oder Sägen, bewertet
werden. Deshalb sind ein gesondertes Messverfahren
und höhere Grenzwerte für Geräuschimmissionen unter
Berücksichtigung von kurzfristig höheren GeräuschspitJürgen Klimke
zen für die Außengastronomie nicht nur sinnvoll, sondern auch erforderlich.
Um dieses Kernproblem geht es. Hier ist das Parlament als Gesetzgeber gefragt. Hier müssen wir agieren.
Das ist auch die Hauptforderung des Antrages der Liberalen und unseres Antrages. Wenn Sie das alles richtig
verstanden haben, liebe Kollegin, dann müssen Sie Ihren
Antrag zurückziehen und unserem Antrag zustimmen.
Das, was Sie uns als Forderung präsentieren, ist eigentlich nur traurig.
({8})
Sie beziehen sich als Kronzeugen für Ihre Haltung auf
zwei Bundesländer. Ich weiß gar nicht, ob Sie gemerkt
haben, dass dies CDU-regierte Länder sind,
({9})
nämlich Hamburg und Niedersachsen, die mit einer Ausnahmeregelung besonders verbraucherfreundlich sind.
Diese kommen den Wünschen der Gäste und der Branche durch ein zweijähriges Pilotprojekt nach. In Niedersachsen geschah dies durch einen Ministererlass. Das ist
auch gut so. Es ändert aber, liebe Kollegin Irber, nichts
an der Tatsache, dass es einer bundeseinheitlichen endgültigen, alles klärenden Regelung bedarf; denn in beiden Ländern handelt es sich nur um eine zeitlich begrenzte Ausnahme.
({10})
Das, was im Norden im Moment diskutiert und auch
umgesetzt wird, soll offensichtlich auch bald im Süden
erfolgen. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat angekündigt, die Sperrzeiten in BadenWürttemberg ganz aufzuheben.
({11})
Das Bundesland der Biergärten, Bayern, hat sich in dieser Hinsicht offensichtlich noch nicht gerührt. Diese
Forderung geht vor allen Dingen auf die Landesverbände des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes
und der Tourismusindustrie zurück. Das CDU-regierte
Nordrhein-Westfalen wird sich dieser Forderung anschließen.
Wir müssen uns während der WM und auch schon in
den nächsten Wochen beim Confederations Cup als modernes, gastfreundliches, attraktives und offenes Land
präsentieren. Darauf weisen Sie in Ihrem Antrag zu
Recht hin. Aber Sie tun es nicht, sondern kündigen es
nur an und erklären, dass das ganz schön sei. Das, worauf es ankommt, nämlich unter die bisherigen Regelungen einen Schlussstrich zu ziehen und ein neues Gesetz
zu machen, ist nicht Ihre Sache. Das machen Sie nicht,
sondern Sie reden nur darüber hinweg. Es gibt lauschige
Appelle an die Bundesregierung und an die Länder, den
Tourismusstandort Deutschland zu verbessern.
({12})
Aber da, wo Sie in der Verantwortung sind, kneifen Sie.
Das geht nicht.
Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Dieses Problem ist nicht neu. Bereits im Jahre
2001 hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband einen Brandbrief an den Wirtschaftsminister Müller geschrieben. Dieser Brief vom Juni 2001 ist nun vier Jahre
alt. Dort heißt es - ich darf daraus zitieren -:
Alljährlich strömen Millionen von Gästen in die
Biergärten, Straßencafés, Restaurants und sonstige
Betriebe mit Außengastronomie. Bedauerlicherweise erleben wir aber auch Jahr für Jahr, dass die
Biergärten an warmen Sommerabenden bereits um
22 Uhr schließen und die Gäste nach Hause geschickt werden müssen. … Der Bundesgesetzgeber
kann den unbefriedigenden Zustand durch Erlass
einer eigenen Bundesimmissionsschutzverordnung
„Außengastronomie“ beseitigen.
Geschehen ist nichts. So schrieb der entsprechende Verband vor vier Jahren.
Gestern erklärte der Verbandspräsident Ernst Fischer
- ich darf wieder zitieren -:
Eine Verschiebung des Freiluft-Zapfenstreichs auf
24.00 Uhr ist in Deutschland längst überfällig. Es
ist ein unhaltbarer Zustand, dass Wirte ihre Gäste
an den wenigen schönen Tagen im Jahr trotz Sommerzeit noch bei Helligkeit nach Hause schicken
müssen. Eine Ausweitung der Öffnungszeiten wäre
ein wichtiger Impuls, der endlich wieder einen Umsatzschub für Deutschlands Gastronomen und mehr
Lebensqualität für die Bürger bringen würde …
Diese Regelung passt nicht mehr in das Jahr 2005
und nicht in ein Land, das Weltoffenheit, Lebensfreude und Gastfreundlichkeit zu seinem Markenzeichen machen möchte …
Es heißt weiter:
Nichts wäre leichter, als solch eine Verordnung am
Freitag
({13})
- also hier und heute im Bundestag zu verabschieden. Das wäre ein echtes Deregulierungsprogramm, das den Staat keinen
Cent kosten würde, den Unternehmen aber die
Möglichkeit gäbe, dann Geschäfte zu machen,
wenn sie wirklich nachgefragt würden …
Ich kann mich dem zum Abschluss nur voll und ganz
anschließen. Stimmen Sie unserem Antrag, stimmen Sie
dem FDP-Antrag zu! Das ist der sehnlichste Wunsch der
ganzen Branche.
({14})
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Brunhilde Irber, SPDFraktion.
({0})
- Verehrte Frau Kollegin, die Geschäftsordnung schlösse
das nicht aus. Ob wir das aber ernsthaft zur Beförderung
der Debatten empfehlen sollten, sollten wir noch einmal
in Ruhe bedenken. Bitte schön.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland freut sich auf die Fußballweltmeisterschaft
2006 und natürlich auch auf den Confederations Cup in
diesem Monat. Die ganze Welt wird bei uns im nächsten
Jahr zu Gast sein. Die Tourismusbranche wird ihre
Chance nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass sie bestens
präpariert ist. Ich möchte mich bei der Bundesregierung,
beim Bundesinnenminister und beim Wirtschaftsminister bedanken,
({0})
die die Rahmenbedingungen hierfür geschaffen und die
Deutsche Zentrale für Tourismus mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet haben.
({1})
Die Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen
und sportlichen Erfolg sind gegeben. Das wissen auch
die meisten und sie handeln danach. Allerdings werden
zwei Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht müde,
das Gegenteil zu behaupten. Herr Kollege Klimke, Sie
haben das eben wieder vorgetragen. Allerdings widerspricht das jeder Vernunft. Ich weiß nicht, warum wir
uns wieder mit diesen Anträgen beschäftigen müssen,
nämlich mit dem Antrag der CDU/CSU „Deutschland
für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 fit machen Längere Öffnungszeiten der Außengastronomie ermöglichen“ und dem der FDP.
Erstens ist es unbestritten, dass die Bundesregierung
enorme Anstrengungen unternimmt, die Fußball-WM zu
einem absoluten Highlight zu machen, und zweitens sind
längere Öffnungszeiten in der Außengastronomie für die
WM möglich. Wozu also dieser Antrag der CDU/CSU?
Er ist überflüssig und geht inhaltlich an den Tatsachen
vorbei. Mit dem FDP-Antrag „Sperrzeiten für Außengastronomie zur Fußballweltmeisterschaft 2006 verbraucherfreundlicher gestalten - Freigabe der Ladenöffnungszeiten ermöglichen“ verhält es sich genauso. Die
Sperrzeiten für die Außengastronomie sind verbraucherfreundlich und die Flexibilität der Ladenöffnungszeiten
zur WM ist bereits vorhanden.
({2})
Wozu also dieser Antrag der FDP? Er ist ebenfalls überflüssig und geht an den Tatsachen vorbei.
({3})
- Nein, der Dehoga spinnt nicht, aber ich nehme an, er
ist nicht gut informiert und Sie offensichtlich auch nicht.
Aber dazu komme ich noch.
Wenn es die WM im nächsten Jahr nicht gäbe, dann
müsste man sie erfinden; denn sonst, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hätten Sie keine Gelegenheit, im Deutschen Bundestag zum dritten Mal mit diesem Thema zu
kommen und uns damit zu beschäftigen. Es ist wie jedes
Jahr: viel Wirbel um nichts.
({4})
Das, was Sie veranstalten, ist der blanke Populismus.
Das wissen Sie auch genau. Deshalb stellen Sie Ihre Anträge. Im Grunde genommen ist das Zeitverschwendung.
Einmal mehr bemühen Sie den Lärmschutz als
Hauptproblem der Außengastronomie. Freiluftgaststätten sind aus dem Anwendungsbereich der TA Lärm ausgenommen. So soll es auch bleiben. Alles andere bedeutet mehr Bürokratie und dürfte darüber hinaus wenig
effizient sein. Man stelle sich nur einmal vor, wie vor Ort
ein gesondertes Messverfahren für menschlichen Kommunikationslärm aussehen würde. Ich habe das Ganze
einmal als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Lärmmessungsingenieure bezeichnet. Das erinnert mich wirklich
an die Schildbürger.
({5})
Wenn jemand lärmt und ein Anwohner die Polizei ruft,
dann muss die Polizei anrücken und den Lärm messen.
Womit bitte? Da steht noch ein Fragezeichen. Dann geht
es in ein bürokratisches Verfahren.
({6})
Es gibt wahrscheinlich eine Gerichtsverhandlung. Wenn
das Ihr Beitrag zum Bürokratieabbau ist, dann gute
Nacht Deutschland.
Aber Spaß beiseite. Kollege Klimke hat sich kürzlich
in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Frau
Staatssekretärin Wolf informieren lassen. Heute war er
nicht so charmant zu ihr.
Ich zitiere:
Für Freiluftgaststätten gelten lediglich die Grundpflichten des § 22 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes für sonstige nichtgenehmigungsbedürftige
Anlagen. Bei der Anwendung des § 22 BundesImmissionsschutzgesetz ist auf eine einzelfallbezogene Berücksichtigung aller Umstände abzustellen,
sodass flexible Lösungen für die zeitlich begrenzten
Großereignisse des Confederations Cup und der
Fußballweltmeisterschaft aus der Sicht des Bundes
möglich sind.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Bewährt hat sich Folgendes: Die Bundesländer befinden über die Regelung der Sperrzeiten. Wo die Länder
die Kompetenzen auf die Kommunen übertragen haben,
sind die Kommunen die Entscheidungsträger. Das ist
auch gut so.
({7})
Die Kommunen sind am ehesten in der Lage, sowohl das
berechtigte Ruhebedürfnis der Anwohner als auch die
sozialen Bedürfnisse der Gaststättenbesucher, aber auch
die wirtschaftlichen Interessen der Außengastronomiebetreiber in angemessener Weise zu berücksichtigen.
Dies gilt in besonderer Weise für die Fußballweltmeisterschaft, die ein herausragendes Ereignis ist.
Die Länder können - und wollen es im Übrigen
auch - die Sperrzeiten eigenverantwortlich regeln. Alles
andere ist auch Unsinn. Es gibt keinen Vorschlag zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzrechtes, der unbürokratisch, verbraucherfreundlich und gleichzeitig
praxistauglich wäre. Gerade Sie von der FDP predigen ja
gebetsmühlenartig den Bürokratieabbau.
({8})
Hier aber würden Sie eine Monsterbürokratie aufbauen.
Auch Ihre Jahr für Jahr wiederkehrende Argumentation zum gewandelten Konsumentenverhalten und zur
Sommerzeitregelung ändert nichts an der bewährten Praxis.
({9})
Ihre Argumentation wird auch nicht dadurch schlüssiger,
dass Sie die entsprechenden Passagen wechselseitig
- zum Teil wortgleich - voneinander abschreiben. Das
ist der einzige Beitrag zum Bürokratieabbau, den ich in
Ihren Anträgen erkennen kann.
Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass sich die
Länder in eigener Kompetenz anstrengen, ihre touristischen Metropolen für die Besucher von nah und fern so
attraktiv wie möglich zu machen.
({10})
Das liegt in deren eigenem Interesse - sie sind auch zuständig - und alles andere ist abwegig. Beleg dafür, dass
die Länder das auch tun, sind die neuesten statistischen
Zahlen zum Inlandstourismus. So stieg die Anzahl der
Übernachtungen im ersten Quartal 2004 zum Beispiel in
Berlin um 17 Prozent, in Hamburg um 5 Prozent. Dieser
Trend zeichnet sich auch in München, Köln, Leipzig und
vielen anderen Städten ab.
({11})
Also sind die vorgelegten Konzepte richtig.
Übrigens: Baden-Württemberg, Hamburg und Niedersachsen machen es uns bereits vor. Die CDU-Männer
Oettinger, Wulff und von Beust nutzen den gegebenen
Rahmen zur Verlängerung der Sperrzeiten aus. Die drei
haben am wenigsten auf Ihre Initiativen hier aus dem
Deutschen Bundestag gewartet.
({12})
Nun kommen wir zu den Ladenöffnungszeiten. Es
ist verständlich, dass sich die FDP gerne als Liberalisierungspartei profilieren will. Das kennen wir und das ist
auch in Ordnung.
({13})
- Ja. - Aber mit dem Confederations Cup und der Fußball-WM führt die politische Debatte ins Nirwana. Man
braucht nämlich nicht zu fordern, was ohnehin schon
umgesetzt wird.
Am 2. März 2005 - jetzt hören Sie gut zu - hat der
Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik einen Beschluss gefasst, um für die beiden Fußballgroßereignisse die Voraussetzungen für längere Ladenöffnungszeiten zu schaffen. Der beschlossene Rahmen
sieht vor, dass die Länder Allgemeinverfügungen erlassen. Bei einer Allgemeinverfügung handelt es sich um
eine Einzelfallregelung, die sich an viele Adressaten, in
diesem Fall an die Einzelhändler, richtet. Die Öffnungszeiten könnten dann jeweils am Spielort und in dessen
Einzugsbereich zum Beispiel wie folgt aussehen: von
Montag bis Samstag von 6 bis 24 Uhr und am Sonntag
von 14 bis 20 Uhr. Ich denke, das ist genug.
({14})
- Nein, dazu brauchen wir keine Kontrollbehörde. Das
ist eine einfache Regelung, die auch mit dem Ladenschlussgesetz konform geht.
Diese Ausnahmeregelungen stehen - das habe ich gerade gesagt - in Einklang mit § 23 Abs. 1 Ladenschlussgesetz. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist nicht zwingend gefordert, festzulegen, in welcher
Weise die beiden Großereignisse im öffentlichen Interesse stehen. Denn solange keine weitere Regelung erfolgt, legen die Länder das selber fest. Das ist die einfachste Lösung.
Was wollen Sie denn eigentlich? Es ist alles im Lot.
Die Gäste können kommen. Deutschland ist gut vorbereitet. Hotellerie und Gastronomie werden zu den Gewinnern zählen.
Damit ist klar: Bei den Sperrzeiten in der Außengastronomie und den Ladenöffnungszeiten ist es am effektivsten, wenn die vorhandenen Möglichkeiten zur
Flexibilität sinnvoll umgesetzt werden. Genau das geschieht derzeit.
Deshalb hätten Sie sich - das muss ich an dieser
Stelle wiederholen - Ihre Anträge sparen können. Wir
haben derzeit in Deutschland wahrlich Wichtigeres zu
tun, als im Deutschen Bundestag die Abseitsfalle zu
üben.
Kurzum: Schließen Sie sich unserem Antrag an!
Dann steht es 2:0 für Deutschland.
Danke schön.
({15})
Zur Verbesserung des Spielergebnisses erhält jetzt der
Kollege Burgbacher für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
- Im Gegenteil.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob
alles im Lot ist, wie die Frau Kollegin festgestellt hat,
entscheidet nicht die SPD-Bundestagsfraktion, sondern
niemand anders als die Verbraucher und die vor Ort tätigen Gastronomen.
({0})
Liebe Kollegin Irber, es ist schon richtig, dass wir in
der 14. und 15. Legislaturperiode entsprechende Gesetzentwürfe eingebracht haben. Dass die Union unsere Gesetzentwürfe, selbst in der Begründung, weitgehend abgeschrieben hat, ehrt uns und erleichtert uns die
Zustimmung. Die Begründung ist weitgehend wortgleich, teilweise stimmt der Text sogar mit meiner Rede
überein.
({1})
Das freut mich und bestätigt mich darin, dass wir einigermaßen richtig liegen.
({2})
Es gibt doch ein Problem. Es ist zwar richtig, dass in
drei Ländern Pilotversuche - in Baden-Württemberg übrigens auf massiven Druck der FDP; auch das hat unser
Gesetzentwurf bewirkt - durchgeführt werden, Tatsache
bleibt aber, dass die Länder und Gemeinden, die Sperrzeiten festlegen wollen, Probleme haben. Wir sind uns
doch völlig einig - das sollten wir auch nicht wegdiskutieren -, dass die Entscheidungen über Sperrzeiten von
den Gemeinden vor Ort getroffen werden sollen, weil
diese es am besten können.
({3})
Wie wir wissen, gilt die TA Lärm nicht für die Außengastronomie. Aber die Rechtspraxis zeigt: Sobald geklagt wird, greifen Städte und Gemeinden wie auch die
Gerichte auf die TA Lärm zurück. Wenn sich aber die
Rechtspraxis völlig von dem entfernt, was wir ursprünglich wollten, dann ist der Gesetzgeber gefragt, der entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen muss, damit die Rechtspraxis in die von uns beabsichtigte
Richtung geht.
Deshalb halten wir die Änderung der TA Lärm für
richtig. Menschlicher Lärm ist anders zu behandeln als
Sägen, Hämmern und Bohren.
({4})
Das ist doch selbstverständlich.
Das Ausgehverhalten hat sich völlig verändert, seit
die Sommerzeit eingeführt wurde. Das können Sie nicht
bestreiten. Deshalb müssen wir eine andere Lösung finden. Erinnern Sie sich an den vergangenen Sommer. Es
ist doch ein Ärgernis: Die Menschen sitzen froh draußen
und genießen das, bis sie um 22 Uhr zum Gehen aufgefordert werden. Das verärgert beide Seiten und hat den
Effekt, dass die Gäste, statt sich in das Lokal hineinzusetzen, nach Hause gehen. Das bedeutet einen erheblichen Umsatzausfall für die Gastronomie. Wer davor die
Augen verschließt, sieht die Realität in Deutschland
nicht.
({5})
Ich komme jetzt zu dem Argument, hier werde Bürokratie geschaffen. Man sollte mit seinen Argumenten
schon auf dem Teppich bleiben. An dem bisherigen Verfahren wird nichts geändert. Die einzige Ausnahme ist,
dass andere Grenzwerte gelten sollen. Ob sie in jedem
Fall gemessen werden müssen, ist nicht unser Problem.
Es geht allein um die Festlegung anderer Grenzwerte.
Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung zum Ladenschluss. Auf der Tagesordnung steht auch die Beratung
unseres Gesetzentwurfs, in dem wir mit der Forderung,
die Zuständigkeit für die Festlegung der Ladenöffnungszeiten den Ländern zu übertragen, den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts folgen. Leider haben Sie in
der Föderalismuskommission nicht mitgemacht. Deshalb ist es noch nicht dazu gekommen.
Wir fordern: Setzt den Ladenschluss für die Fußballweltmeisterschaft aus! „Die Welt zu Gast bei Freunden“ - wir wollen alles tun, dass die Fußballweltmeisterschaft zu dem Werbeevent für Deutschland wird. Dafür
müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen. Wenn
Sie heute nicht dazu bereit sind, dann werden wir es im
kommenden Herbst tun. Das sage ich Ihnen fest zu.
Herzlichen Dank.
({6})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen, Sie alle haben sicherlich
mitbekommen, dass wir heute im Deutschen Bundestag
über das politisch wichtige Thema der Öffnungszeiten
von Biergärten reden, also darüber, wie lange sie geöffnet haben dürfen. Nicht, dass ich meinen würde, dass das
kein wichtiges Thema ist! Ganz im Gegenteil: Das kann
über vieles an einem Abend entscheiden. Trotz allem
glaube ich, dass es schon reichlich Anträge zu diesem
Thema gegeben hat. Die Argumente sind auf vielfältige
Weise ausgetauscht worden. Vor allem wissen wir alle,
dass die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung
gar nicht so unflexibel ist, wie es immer dargestellt wird.
Herr Klimke, wenn Sie schon nicht wissen, wie fröhlich es auf Veranstaltung der Grünen zugehen kann, und
meinen, dass wir immer nur Müsli picken,
({0})
dann sollten Sie zumindest wissen, dass die in Deutschland geltenden Sperrfristen vor Ort individuell angepasst
werden können. Darüber entscheiden die Länder. Diese
geben ihre Kompetenz oft - wie ich finde: zu Recht - an
die Kommunen ab, da diese in der Regel am besten wissen, was vor Ort verträglich ist oder nicht.
({1})
- Sogar Herr Burgbacher sagt, dass wir uns darin einig
sind. - Das verwundert mich nun wieder sehr, wenn ich
an die zurückliegende Debatte über eine Föderalismusreform denke. Dort wurde ständig herausgestellt, dass sich
der Bund bei Regelungen betreffend den Sport- und
Freizeitlärm völlig herauszuhalten habe, weil das ausschließlich in der Zuständigkeit der Länder verbleiben
solle. Nun sind wir der Meinung, das dort zu belassen.
({2})
Ausnahmen sind bereits getroffen worden. Die Freie
und Hansestadt Hamburg, die sich auch entsprechend
frei benimmt, hat rechtzeitig zur Sommersaison 2005 als
erste Metropole Öffnungszeiten im gastronomischen
Außenbereich bis 24 Uhr erlaubt, und zwar ganz ohne
Zutun des Bundes. Die anderen Beispiele sind bereits
genannt worden. Wie gesagt, all das ist im Einklang mit
den geltenden Gesetzen möglich.
Dass wir kein gastfreundliches Land seien, ist, glaube
ich, eine etwas abenteuerliche Behauptung. Sonst hätte
der Tourismus in Deutschland nicht so gute Ergebnisse
und Wachstumsraten zu verzeichnen. Ich glaube daher,
dass Sie es völlig falsch anpacken. Wo Wettkämpfe stattfinden, wird es natürlich Sieger und Verlierer geben.
Diejenigen, die sich über einen Sieg freuen, werden sich
vor Glück im Biergarten aufhalten, diejenigen, die eine
Niederlage zu beklagen haben, vielleicht aus Trauer. Es
sei allen gegönnt. Ich glaube nicht, dass wir erleben
müssen, dass die Feierfreudigen zum Schluss an der
Tankstelle enden. Seien Sie also ganz unbesorgt. Es gibt
erste gute Anzeichen.
Eines darf man bei der Debatte aber auch nicht vergessen: Es gibt nicht nur diejenigen, die ihr Spaßbedürfnis befriedigen wollen, sondern auch Menschen, die
nicht ausschlafen können, weil sie arbeiten müssen. Deren Bedürfnisse müssen bei Entscheidungen mit berücksichtigt werden, wer wie lange öffnen darf. Deshalb ist
es richtig, dass vor Ort alle Beteiligten sorgfältig darüber
nachdenken, was möglich ist, und dann entscheiden.
Wir sind mit den bestehenden Regelungen sehr gut
bedient; denn sie führen zu vernünftigen Ergebnissen.
Ich möchte alle ermutigen, weiterhin vernünftige Absprachen zu treffen. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass wir Ihre Anträge nicht ganz so großartig finden
und eher der Meinung sind, dass der Koalitionsantrag,
wenn schon ein Antrag notwendig ist, richtig ist.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5452 - Tagesordnungpunkt 25 a -,
15/5581 - Tagesordnungspunkt 25 b - und 15/5585 Zusatzpunkt 6 - an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Ich
stelle Einvernehmen fest. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes ({0})
- Drucksache 15/4493 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 15/5606 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Silke Stokar von Neuforn
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5610 16950
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Alexander Bonde
Otto Fricke
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist hierzu
eine halbstündige Debatte vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Große Ereignisse finden manchmal am 3. Juni statt. Als
Mitglied der CDU/CSU-Fraktion würde ich wahrscheinlich sagen: Dies ist ein guter Tag für Deutschland. Als
Berliner würde ich sagen: Europäer, schaut auf dieses
Land! Als bescheidener Schleswig-Holsteiner sage ich
persönlich nur: Ich freue mich, dass der Bundestag die
zweite und dritte Lesung des Informationsfreiheitsgesetzes auf meinen Geburtstag gelegt hat.
({0})
Das ist für mich ein besonderes Zeichen.
({1})
- Nicht dafür, Herr Kollege.
({2})
Das heute beratene Informationsfreiheitsgesetz orientiert sich an der Leitidee „Demokratie braucht Transparenz“. Unsere Demokratie lebt davon, dass Bürgerinnen
und Bürger die Entscheidungen in Politik und Verwaltung verstehen und nachvollziehen können. Das ist ein
Postulat der Bürgergesellschaft. Unsere Demokratie ist
nur dann lebendig, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert sind, wenn sie einen Einblick haben, was in der
Verwaltung geschieht.
({3})
Es ist nachvollziehbar, dass sich viele von der Politik
abwenden. Sie beklagen Bürokratie und wiehernde
Amtsschimmel zu Recht, wenn sie außen vor gelassen
werden, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht Bescheid wissen und dass das auch so sein soll.
Bei uns in Deutschland herrscht im Grunde genommen noch immer die eherne Überzeugung vor: Es gilt
das Prinzip der Amtsverschwiegenheit; die Wahrung des
Amtsgeheimnisses ist so hoch zu halten, dass daran auch
in 100 Jahren keiner rüttelt. Ich glaube, dass das kein Paradigma für das 21. Jahrhundert ist. Viele Industrieländer haben uns vorgemacht, dass es auch anders geht. Bekanntlich gibt es nur noch drei sehr kleine Länder
- eines davon ist Malta -, die kein Informationsfreiheitsgesetz haben. Wenn nun endlich auch wir ein solches
Gesetz verabschieden, dann schlagen wir den Weg der
Modernisierung ein.
Das neue Bürgerrecht auf Information wird auch dazu
beitragen, dass die öffentliche Verwaltung weniger korruptionsanfällig ist. Wenn sich die Bürger zu jeder Zeit
über alle Vorgänge in der Verwaltung informieren können, wenn es also zu mehr Transparenz kommt, dann
wird das zu weniger Kungelei und zu weniger Korruption führen. Davon bin ich überzeugt.
Auch wenn wir heute dieses Gesetz verabschieden,
das das neue Bürgerrecht auf Information regelt, handeln
wir verantwortungsbewusst; wir stellen natürlich sicher,
dass wichtige Geheimnisse der öffentlichen Verwaltung
nicht preisgegeben werden. Manche Kritiker befürchten,
der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung sei nicht mehr sichergestellt. Andere haben
schon das Schreckensbild des Zusammenbruchs der öffentlichen Verwaltung an die Wand gemalt. Ich kann allen Zweiflern, Skeptikern und Kritikern versichern: In
diesem Gesetz sind genug Sicherheit gewährleistende
Regelungen enthalten; wir haben in diesem Gesetz genügend vertrauensbildende Maßnahmen verankert, damit
auch in Zukunft sichergestellt sein wird, dass Amtsgeheimnisse, die nicht verraten werden dürfen oder über
die nicht informiert werden soll, der Öffentlichkeit nicht
zugänglich sind.
Der Kollege Klaeden möchte Ihre knappe Redezeit
durch eine Zwischenfrage verlängern.
Herr Kollege, ich nehme natürlich jede Gelegenheit
wahr, auf Fragen zu diesem Gesetz jede Antwort zu geben, die Sie brauchen.
Herr Kollege Bürsch, zunächst einmal herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag!
({0})
Nachdem Sie hier im Plenum so sehr für Informationsfreiheit eingetreten sind, frage ich Sie: Warum
haben eigentlich die Mitglieder der Koalition im Untersuchungsausschuss sogar Presseartikel als „Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft?
Ich kann mir die Antwort leicht machen: weil es das
Informationsfreiheitsgesetz noch nicht gab.
({0})
Sonst hätten wir das Datum Ihres Geburtstags wahrscheinlich nie erfahren, Herr Kollege Bürsch.
Ich merke schon: Es wird eine eher fröhliche Sitzung;
der Anlass unserer heutigen Beratung ist aber ernst.
Jeder hat an seinem Geburtstag einen Wunsch frei.
Der Wunsch geht in folgende Richtung: Das Informationsfreiheitsgesetz hat im Gesetzgebungsverfahren Kritik aus zwei Richtungen erfahren. Die einen haben sich
darüber beschwert, dass das Informationsfreiheitsgesetz
viel zu kurz greife. Die Einschränkungen des Informationsanspruches in bestimmten Bereichen, zum Beispiel
in § 3, seien inakzeptabel. Von der ganz anderen Seite
wurde uns dagegen vorgeworfen, wir würden das
Abendland und die traditionelle deutsche Verwaltungskultur abschaffen, zu der nun einmal das Amtsgeheimnis
als zentraler Glaubenssatz auch für die nächsten
100 Jahre gehöre.
Die Kritik von beiden Seiten ist - ganz ohne Emotionen und leidenschaftslos gesagt - noch nicht von Erfahrung geprägt. Denn wir stehen mit dem Informationsfreiheitsgesetz noch am Anfang. Allerdings gibt es in vielen
anderen Ländern Erfahrungen. Es gibt auch in vier Bundesländern Erfahrungen. Diese sprechen genau dafür,
dass die Verwaltungen nicht lahm gelegt werden, dass es
keine Prozessfluten gibt und dass Amtsgeheimnisse
nicht ohne Not verraten werden. Dieses Informationsfreiheitsgesetz ist ein erster Versuch, ein Bürgerrecht
auf Information einzuführen, damit dem Bürgerengagement und der Bürgergesellschaft in Deutschland eine
Gasse zu schaffen
({0})
und dadurch die öffentliche Verwaltung auf diesem Gebiet zu modernisieren und eine Verwaltungskultur einzuführen.
Wir werden die Erfolge und die Nachteile, die Risiken und die Nebenwirkungen nach fünf Jahren ganz genau analysieren. Aus dieser Bewertung werden wir die
nötigen Konsequenzen ziehen und entscheiden, ob das
Gesetz geändert werden muss und, wenn ja, an welcher
Stelle.
Nun wende ich mich ganz persönlich an die verehrte
Kollegin Philipp. Wir haben über das Gesetz schon sieben Jahre beraten, verehrte Frau Kollegin. Alles, was zu
diesem Gesetz gesagt und geschrieben werden musste,
ist getan worden. Ich selbst habe an einer Stelle ironisch
gesagt: Der Grundsatz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“
ist hier nun wirklich unterlegt worden.
({1})
Frau Philipp, wenn Sie nun nach sieben Jahren - einschließlich der Beratung im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages - immer noch sagen, Sie hätten nicht genug Zeit gehabt, um dieses Gesetz zu lesen,
dann frage ich mich: Wie haben Sie es eigentlich bewerkstelligt, die Gesetze zur Gesundheitsreform oder
zur Rentenreform mit zu tragen, die von Ihrer Fraktion
unterstützt wurden? Wie sind Sie mit diesen Gesetzen
umgegangen, wenn Sie innerhalb eines halben Jahres
nicht in der Lage sind, zu verinnerlichen, was in diesem
kurzen Gesetz von 15 Paragraphen steht?
({2})
Lesen Sie einfach. Sie haben jetzt noch eine halbe
Stunde Zeit und können anschließend zustimmen.
Ich bitte um breite Zustimmung im Hause.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Beatrix Philipp,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Dr. Bürsch, selbstverständlich und gern
gratuliere auch ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag. Ich mache aber sogleich zwei Bemerkungen außerhalb meiner
Ausführungen zu Ihrem Beitrag:
Wie ernst Sie das Informationsfreiheitsgesetz wirklich nehmen, macht nicht nur die Antwort auf die Frage
von Herrn von Klaeden deutlich, so witzig sie auch formuliert war. Auch der Ausnahmekatalog, den Sie im Gesetzentwurf festschreiben mussten - ich habe das schon
in der ersten Lesung gesagt -, und die Beratungsdauer
geben zu denken. Wenn Sie hier schon dem staunenden
oder auch nicht staunenden Publikum erklären, dass Sie
sechseinhalb Jahre gebraucht haben, dann sollten Sie dazusagen, dass dies Ihre interne Beratungszeit war. So
lange haben Sie gegackert, bis Sie das Ei gelegt haben.
Von uns können Sie dann nicht ernsthaft erwarten, dass
wir das im Hauruckverfahren machen.
Zum Schluss Ihrer Rede hin haben Sie, Herr
Dr. Bürsch, von Nachteilen und Risiken gesprochen und
gesagt: Dann müssen wir in fünf Jahren einmal nachsehen, wie es bis dann gelaufen ist. Wissen Sie, eigentlich
ist die Bevölkerung - das kann man an den letzten Wahlergebnissen sehen - diese Probeläufe Ihrer Gesetzesvorhaben, wie auch immer Sie sie zu Mehrheiten gebracht
haben, leid. Dieses hier vorliegende Gesetz ist wieder
einmal ein solcher Probelauf. Deswegen werde ich
gleich ausführen, warum wir diesem Gesetz nicht zustimmen können.
Wir haben Ihnen angeboten - ich habe das ernst gemeint; Sie kennen mich lange genug: wenn ich etwas
nicht ernst meine, dann würde ich es nicht so sagen -,
diesen Gesetzentwurf ergebnisoffen zu prüfen und uns
ernsthaft damit auseinander zu setzen.
Ich habe immer erklärt, dass es erheblichen Beratungsbedarf gibt. Von Ihrem innenpolitischen Sprecher,
Herrn Wiefelspütz, ist mir auch zugesagt worden, dass
meine Fraktion die dafür notwendige Zeit bekommt.
Dass es sich um eine äußerst schwierige Materie handelt, macht nicht zuletzt die Tatsache deutlich, dass Sie,
wie ich eben schon gesagt habe, sechs Jahre gebraucht
haben, um diesen Entwurf auf den Tisch zu legen. Ich
will der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass wir gesagt haben: Es gibt einen Entwurf der CDU NordrheinWestfalen, auf dessen Basis wir möglicherweise zu einem Kompromiss finden können, der als Basis für Gespräche dienen kann. Aber Sie haben uns die notwendige
Zeit nicht eingeräumt.
Die Krönung der nicht eingehaltenen Zusagen, Herr
Dr. Bürsch, und auch des künstlich aufgebauten Zeitdrucks ist die Tatsache, dass erst am Dienstag, zum Teil
erst am Mittwoch mitgeteilt wurde, dass heute die abschließende Beratung stattfindet. Das entspricht jedoch
dem Verfahren, in dem Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben. Sie haben erst zwei Tage vorher gesagt,
dass es so weit ist. Hier so zu tun, als ob reichlich Zeit
gewesen ist, ist einfach nicht in Ordnung. Das sollten Sie
nicht tun. Das entspricht eigentlich auch nicht unserem
Verhältnis.
({0})
Wir teilen die angestrebten Ziele, Herr
Dr. Bürsch. - Ich weiß nicht, ob es Sie überhaupt interessiert, was wir dazu sagen.
({1})
Vielleicht sagen Sie sich: „Wir haben eine Mehrheit; uns
das jetzt noch die letzten Monate von der Opposition anzuhören, haben wir nicht nötig“ oder so.
({2})
Ich meine schon, dass es sich um eine ganz ernste Sache
handelt. Deshalb wäre es nett, wenn Sie wenigstens zuhören, wenn ich darlege, warum wir dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen können und wo wir zweifellos Gemeinsamkeiten haben.
({3})
Dazu gehört, dass wir die angestrebten Ziele unterstützen. Ich weiß auch nicht, wer gegen Transparenz
stimmen kann, wer gegen Korruptionsbekämpfung sein
will.
({4})
- Herr Tauss, wenn Sie meine letzten Reden hier im Protokoll nachgelesen haben,
({5})
werden Sie wissen, dass ich großes Verständnis für Zwischenrufe habe. Am besten ist es, wenn sie witzig sind.
Aber was Sie seinerzeit während meiner Rede veranstaltet haben, hatte mit Zwischenrufen nichts zu tun; es waren ungeheuerliche Störungen. Ich bitte Sie jetzt am Anfang wirklich, damit nicht schon wieder zu beginnen. Es
stört einfach. Gegen Zwischenrufe habe ich nichts - darauf könnte ich auch eingehen -, aber solche ständigen
Störungen von ein und derselben Seite finde ich nicht in
Ordnung.
({6})
Ich meine das ganz ernst.
Also: Wer kann etwas gegen Transparenz und Korruptionsbekämpfung haben? Wer kann etwas gegen
mehr Teilhabe der Menschen an politischen Prozessen
haben? Aber es gibt grundsätzliche und rechtliche Bedenken und ganz massive Bedenken gegen die Umsetzung des Gesetzes in der Praxis.
Dass Sie sich nicht an interne Vereinbarungen halten,
Herr Dr. Bürsch, mag Ihre Sache oder Sache der SPD
sein - daran haben wir uns schließlich schon gewöhnen
müssen -, aber dass Sie dann auch noch einen so
schlechten Entwurf vorlegen, ist nicht mehr nur Ihre Sache. So versuchen Sie unter der Überschrift Informationsfreiheitsgesetz den Eindruck zu erwecken, es gehe
um ein bisschen mehr Freiheit, um einen offenen Umgang mit Informationen. Aber gerade dann, wenn ein
Gesetzentwurf, wie in diesem Fall, weit reichende Folgen für unser Rechtssystem und damit eigentlich für uns
alle hat, gehört es sich, den Menschen das auch zu sagen
und darüber ausgiebig und intensiv zu beraten. Es hilft
auch nicht, darauf hinzuweisen, dass andere Staaten
positive Erfahrungen mit einem solchen Gesetz gemacht
haben, wenn sich deren Verwaltungsaufbau und auch deren Rechtssystem dezidiert von unserem unterscheiden.
Die wesentlichen Gründe für unsere Ablehnung sind
folgende:
Erstens: zur angeblichen Verbesserung der Aufsicht
über den Staat durch das Informationsfreiheitsgesetz.
Die Behauptung, dass Informationszugangsrechte die
Kontrolle staatlichen Handelns wesentlich verbessern,
gehört eigentlich in den Bereich der Volksverdummung.
Wir leben in einem Rechtsstaat, dessen Struktur, demokratische Legitimation und Kontrolle über jeden Zweifel
erhaben sind. Die Rechtssicherheit in Deutschland wird
von vielen ausländischen Experten immer wieder als positiver Standortvorteil aufgeführt. Diese zusätzliche
punktuelle willkürliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit durch irgendwen - durch irgendwen! -, wie das Gesetz es vorsieht, verbessert weder die gleichmäßige noch
die kontinuierliche Aufsicht über den Staat. Diese Umkehr des Rechts, Herr Dr. Bürsch, haben Sie in der Anhörung als einen Kulturwandel bezeichnet.
({7})
Damit das völlig klar ist: Genau diesen Kulturwandel
wollen wir nicht.
({8})
Zweitens: Angriff auf den Datenschutz. Man glaubt
es kaum. Meine Fraktion hat im Bereich der KriminaliBeatrix Philipp
tätsbekämpfung immer wieder Schwierigkeiten, die berechtigten Interessen von Ermittlern und Sicherheitsbehörden gegen überzogene Datenschutzbedenken
durchzusetzen. Der Datenschutz wird in vielen dieser
Fälle - da gibt es einige Beispiele, die nachzulesen sind fast wie eine Monstranz durch den Deutschen Bundestag
getragen. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein.
({9})
- Fluggastdaten beispielsweise oder großer Lauschangriff.
Ich habe schon beim Stasi-Unterlagen-Gesetz - ich
darf das noch einmal in Erinnerung rufen - erfahren
müssen, dass die Mehrheit dieses Hauses, für mich völlig unverständlich, vom Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung zugunsten des öffentlichen Interesses
Abschied genommen hat. Nun soll im vorliegenden Gesetzentwurf auch noch die verfassungsrechtlich gebotene
Zweckbindung der Datenfreigabe selbst bei Daten Dritter wegfallen. Damit ist der bisherige quasi automatische
Schutz von Daten nicht mehr gegeben. Vielmehr hat nun
der zuständige Bearbeiter in der jeweiligen Behörde die
Daten aktiv zu schützen. Dieser Beamte, sofern es noch
einer ist, muss darüber entscheiden, ob er die gewünschten Informationen dem Antragsteller zugänglich macht
oder nicht. Er muss bei Ablehnung des Antrags nachweisen und begründen, warum er dies tut. Da wundert mich
schon sehr das Schweigen unseres Datenschutzbeauftragten; das ist fast beängstigend.
({10})
Drittens: der völlig voraussetzungslose Zugang zur
Information. Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz ist
über mehrere Prüfungsinstanzen gestaffelt und bietet
dem Bürger einen Rechtsschutz, wie er im internationalen Vergleich kaum erreicht wird. Der Prüfungsaufwand,
der damit verbunden ist, ist im Interesse der Bürger
enorm, aber er ist durchschaubar und kalkulierbar. Damit
dieser Aufwand nicht ins Uferlose wächst, ist Grundvoraussetzung der Klagebefugnis, dass die Verletzung
eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend gemacht
wird. Mit anderen Worten: Es kann eben nicht jeder gegen alles klagen, sondern er muss schon konkret in seinen eigenen Rechten betroffen sein. Dieser Filter hat
sich bewährt und sichert auch die Arbeitsfähigkeit der
Verwaltungsgerichte.
({11})
Wenn nun das IFG keinerlei berechtigtes Interesse für einen Informationsanspruch mehr verlangt, wird dies Auswirkungen auf unser Verwaltungsrechtsschutzsystem haben, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Meine
Fraktion hat eigentlich keine Lust, erst in fünf Jahren zu
überprüfen, wie es nun gelaufen ist. Das kann man vorher absehen. Das Bemühen, nach einer differenzierten
Lösung für dieses Problem zu suchen, haben wir sehr
vermisst.
({12})
Viertens: der Informationsanspruch für jedermann. Kern der Gesetzesbegründung ist, dass das Verwaltungshandeln transparenter werden soll. So steht in
der Begründung:
Das Informationsfreiheitsgesetz dient damit vor allem der demokratischen Meinungs- und Willensbildung.
Bisher konnte mir niemand erklären - vielleicht können
Sie das ja, Herr Tauss -, wieso alle Menschen nach diesem Gesetz einen Informationsanspruch haben sollen. Es
gibt auf dieser Erde - das lehrt die Lebenserfahrung nicht nur wohlmeinende Staaten und Menschen. Deshalb
geht es einen großen Teil der Menschheit überhaupt
nichts an, was in deutschen Verwaltungsakten steht. Gerade unter Zugrundelegung der oben zitierten Begründung sollte sich das Informationsfreiheitsgesetz unserer
Meinung nach an die Mitglieder unseres demokratischen
Gemeinwesens richten, also an alle deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Im Rahmen der europäischen
Vereinigung spricht natürlich einiges dafür, dieses Recht
auf alle EU-Bürger auszuweiten, aber eben nicht auf jedermann, egal, in welchem Teil unserer Erde er lebt.
({13})
Meine Damen und Herren, über diese grundsätzlichen
Bedenken hinaus gibt es zahlreiche offene Fragen bezüglich der praktischen Umsetzung des Gesetzes, die ich
nur anreißen kann:
Die Vermutung, demnächst gebe es eine doppelte Aktenführung, ist nicht von der Hand zu weisen.
({14})
- Das wissen Sie doch genauso gut wie ich.
({15})
Die Frage, wie mit auf Bundesebene vorhandenen
Landesakten zu verfahren ist, ist ungeklärt. Den Konflikt, Herr Dr. Bürsch, wenn, wie vorgesehen, eine Person gleichzeitig für den Datenschutz und für die Informationsfreiheit zuständig ist,
({16})
müssen Sie auflösen. Herr Dr. Eigen hat nach der Anhörung, als ich ihn darauf angesprochen habe - während
der Anhörung ging es nicht, weil meine Fragezeit begrenzt war -, gesagt, damit habe er auch ein Problem.
Als Vorsitzender von Transparency International ist er ja
eigentlich ein Befürworter des Gesetzes.
({17})
Und last but not least, meine Damen und Herren: der
völlig unzureichende Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Da eine klare Definition fehlt, was
darunter zu verstehen ist, werden die Gerichte zukünftig
klären müssen, was ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis ist. Dass dies von erheblicher Bedeutung für die
Betriebe ist, brauche ich sicherlich nicht besonders zu
betonen.
Offen ist auch die Frage, wie es mit Informationen
aus Genehmigungs- oder Überwachungsmaßnahmen
aussieht. Auch hier wird alles in das Ermessen der Behörde gestellt. Hier bahnt sich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte und für Gerichte an; wer den
Zeitfaktor für Gerichtsverfahren kennt, dürfte als betroffener Unternehmer schnell einen weiteren Standortnachteil ausgemacht haben.
({18})
Davor können Sie doch nicht einfach die Augen verschließen. Gerade im Bereich hochsensibler Daten sollten wir keine Experimente auf dem Rücken derer machen, die eigentlich Arbeitsplätze hier in Deutschland
schaffen und sich hier ansiedeln sollten. Es gibt keine
Missbrauchsklausel.
Und schließlich: Inhalt und Verfahren erinnern
zwangsläufig an das Antidiskriminierungsgesetz; ich
meine, Sie hätten daraus lernen können. Uns drängt sich
die Vermutung auf, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bevölkerung unter dem populären Titel „Informationsfreiheitsgesetz“ ein ähnliches Schicksal ins
Haus steht wie mit dem Antidiskriminierungsgesetz.
Beide Gesetze - auch das können Sie nicht von der Hand
weisen - bringen einen ungeheuren Bürokratiezuwachs
mit sich.
({19})
Das Gebot aber ist Bürokratieabbau. Daran sollten Sie
arbeiten.
Danke schön.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein zentrales Reformvorhaben von Rot-Grün wird heute im
Bundestag zum Abschluss gebracht. Nach sechs, fast
sieben Jahren Diskussionen und Verhandlungen
({0})
ist es gelungen, die Widerstände zu überwinden.
Deutschland bekommt ein Informationsfreiheitsgesetz.
({1})
Meine Damen und Herren, gemeinsam mit meiner
Kollegin Grietje Bettin habe ich für die grüne Fraktion
dieses Gesetz in unendlicher Geduld verhandelt. Weil
das ein Erfolg im Team ist, teilen wir uns die kurze Redezeit von fünf Minuten.
({2})
Ich bitte deswegen die Opposition um Verständnis, dass
ich auf die vielen einzelnen Bedenken und Einwände
jetzt nicht mehr eingehen kann.
Nur so viel zur CDU: Sie hatten nicht nur eine lange
Diskussionsphase, Sie hatten hier auch eine lange Redezeit. Ihre Einwände gegen das Informationsfreiheitsgesetz und Ihre Position dazu sind hier trotzdem nicht deutlich geworden. Das ist Ihr Problem.
({3})
Ich sage auch etwas zur FDP, weil ich Ihre Einwände
kenne: Ja, dieses Gesetz ist ein Kompromiss. Grüne Politik geht weiter als rot-grüne Kompromisse. Auch wir
haben uns mehr gewünscht, aber wir stehen hier heute zu
dem gemeinsam errungenen Kompromiss. Sie haben in
Ihrer Zeit der Regierungsbeteiligung in diesem Bereich
überhaupt nichts zustande gebracht. Wir müssen nur
nach Niedersachsen sehen: Der Datenschutzbeauftragte
tritt resigniert zurück, weil er die schwarz-gelbe Politik
nicht mehr ertragen kann.
({4})
Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein Beispiel für
die erfolgreiche und auch vertrauensvolle Zusammenarbeit der rot-grünen Koalitionsfraktionen - ich würde sie
gerne mit Ihnen fortsetzen. Das Ergebnis ist mehr
Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger und eine
Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Es liegt
jetzt am Bundesrat, dieses tolle Gesetz nicht zu blockieren.
({5})
Ich möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion,
aber auch bei all den Verbänden, die unser Vorhaben
konstruktiv unterstützt haben, bedanken. Ermuntern
möchte ich die Verwaltung, Informationsfreiheit als
Chance zu begreifen. Machen Sie von den Ausnahmeregelungen des Gesetzes zurückhaltend und bürgerfreundlich Gebrauch! Übernehmen Sie den Grundsatz der
Transparenz als Leitbild für eine moderne Verwaltung!
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir
das hier zum Abschluss gebracht haben. Ich denke, wir
feiern nachher auch noch ein bisschen. Ich richte noch
einen Dank an die Arbeitsebene; die Beteiligten sitzen
hier irgendwo auf der Tribüne. Ich bedanke mich bei allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. Es ist gut
für die Bürgerrechte in Deutschland, dass wir jetzt ein
Informationsfreiheitsgesetz bekommen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesem Plädoyer der Kollegin Stokar für ein
Informationsfreiheitsgesetz
({0})
möchte ich Sie fragen, ob wir denn die internen Protokolle der von Ihnen geduldig geführten Verhandlungen
über das Zustandekommen einmal nachlesen dürfen;
denn dann bekämen wir vielleicht Aufschluss darüber,
warum Sie bis heute gebraucht haben, Ihr Versprechen
aus der Zeit der Regierungsbildung 1998 endlich zu erfüllen.
({1})
Wir haben ja gesehen, wo die Diskussionsfronten verlaufen sind: auf der einen Seite die Parlamentarier, auf
der anderen Seite die natürlichen Feinde jeder Transparenz von Behördenhandeln, die Ministerien.
({2})
Die Bundesgesundheitsministerin, Ulla Schmidt, hat die
Verabschiedung dieses Gesetzes noch vor wenigen Wochen persönlich blockiert, wie wir lesen konnten,
({3})
weil sie Bedenken von Krankenkassen aufgegriffen hat.
Diese sind vom Bundesdatenschutzbeauftragten, von
Herrn Bürsch und von Frau Stokar als unberechtigt zurückgewiesen worden.
({4})
Aber das war die Problematik in Ihren Reihen.
({5})
In der Sache sagen wir als FDP: Wir unterstützen ein
Informationsfreiheitsgesetz. Dies ist eine alte bürgerrechtliche Forderung, die zu einem Zugewinn an
Demokratie führt.
({6})
Frau Kollegin Philipp von der CDU/CSU-Fraktion,
die Einwände, die Sie heute vorgetragen haben, könnten
sich hören lassen, wenn dies das erste Gesetz dieser Art
auf der ganzen Welt wäre.
({7})
Aber es gibt längst eine praktische Erprobung. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier Schlusslicht in der internationalen Entwicklung.
({8})
Es gibt eine Tradition im angelsächsischen Raum. Die
amerikanische Bürgerrechtsbewegung hat ein solches
Gesetz erkämpft.
({9})
Auch die Regelungen in Kanada hätten wir uns zum Vorbild nehmen können usw.
({10})
Die praktische Erfahrung zeigt, dass das funktioniert.
Sie haben einen bedenkenswerten prinzipiellen Einwand erhoben. Sie haben gesagt: Wer vor einem Verwaltungsgericht klagen will, muss nach unserem System
von dem Verwaltungshandeln, gegen das er vorgeht, selber betroffen sein. Das ist aber etwas anderes als die Information über Verwaltungshandeln allgemein.
({11})
Diese steht in einer Demokratie jedermann zu. Das ist
der Unterschied. Deswegen teilen wir als Liberale Ihren
Einwand nicht.
({12})
Allerdings hätten wir uns ein großzügigeres und bürgerfreundlicheres Gesetz gewünscht. Die Debatte in
Deutschland ist nach jahrelangem Stillstand doch überhaupt nur vom Fleck gekommen, weil
({13})
die Humanistische Union und andere Bürgerrechtsorganisationen einen eigenen Entwurf vorgelegt haben,
({14})
nachdem Sie nicht zu einer Einigung gekommen sind.
Dieser Entwurf, den Sie natürlich kennen, war großzügiger und hätte mehr an wirklicher Information geboten als
der Minimalkompromiss, auf den Sie sich bei SPD und
Grünen geeinigt haben.
({15})
Der Ausnahmetatbestand in § 3 ist viel zu weit gefasst.
Ungünstig ist auch, dass es bereichsspezifische Regelungen in anderen Gesetzen und daneben jetzt ein Informationsfreiheitsgesetz gibt. Das führt nur zu Unklarheit
und Verwirrung. Die Regelung eines einheitlichen Anspruches auf Information wäre richtig gewesen.
({16})
Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, sagen wir: Sie gehen einen Schritt in die richtige Richtung.
Was Sie machen, ist aber nicht liberal und bürgerfreundlich genug. Wir wollen den Gesetzentwurf nicht ablehnen, weil das Grundanliegen von uns geteilt wird; aber
wir können auch nicht zustimmen, weil es wirklich nur
eine Minimalregelung ist.
({17})
Daher enthalten wir als FDP uns hier im Bundestag
heute der Stimme.
({18})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Meine lieben Kollegen! Auch von meiner Seite natürlich herzlichen Glückwunsch. Dass mit Ausnahme des zwangsverpflichteten Geschäftsführers der Unionsfraktion, Herrn
Klaeden, niemand den Ausführungen von Frau Philipp
zuhören wollte, ist im Nachhinein verständlich; ich kann
es nachvollziehen. Denn, liebe Frau Kollegin Philipp,
durch Ihre Rede hat sich deutlich gezeigt, dass das Verständnis der Union von einem modernen Staat hinter
das Schwedens im Jahr 1766 zurückfällt, als sich die
schwedische Gesellschaft bereits ein Informationsfreiheitsgesetz gegeben hat. Lieber Herr Stadler, ich würde
mir mit Blick auf den nächsten Herbst gut überlegen, ob
Sie mit der Union koalieren wollen. Allein der heutige
Tag hat gezeigt: Mit diesem Verständnis eines modernen
Staates ist die Union nicht regierungsfähig. Man sollte es
ihr ersparen.
({0})
Frau Kollegin Philipp, eine herzliche Bitte hätte ich,
nämlich dass Sie in den Argumentationen ein bisschen
ehrlicher sind. Es gab mehrere Angebote von Kolleginnen und Kollegen - mich können Sie nicht leiden, das
sei dahingestellt; aber es gab auch Angebote von anderen, zum Beispiel vom Kollegen Bürsch -, mit Ihnen ins
Gespräch zu kommen. Ich habe also an Sie die herzliche
Bitte, hier keinen Popanz aufzubauen.
({1})
Sie hätten die Chance gehabt. Aber Sie haben sie nicht
genutzt.
({2})
Das hängt damit zusammen, dass in Ihren Reihen keine
Einigung über ein Informationsfreiheitsgesetz erzielbar
war. Die Widersprüche bei Ihnen sind viel zu groß.
Diese Tatsache wollen Sie mit Ihrem Verhalten übertünchen.
({3})
Liebe Frau Philipp, es wurde siebeneinhalb Jahre lang
diskutiert, und da reden Sie von internen Diskussionen.
Offensichtlich gehen an Ihnen alle gesellschaftspolitischen Debatten vorbei. Lesen Sie es einfach einmal
nach! Dazu bedarf es keiner Informationsfreiheit, sondern eines kurzen Besuchs etwa in der Bibliothek des
Deutschen Bundestages.
({4})
Es gab die Debatten der Bertelsmann-Stiftung, es gab
Konferenzen, es gab Anhörungen und Podiumsdiskussionen. Richtig ist allerdings: An all diesen Veranstaltungen haben Sie nicht teilgenommen. Das muss einmal
festgestellt werden.
Ihre Kritik beruht im Wesentlichen auf der Ablehnung
eines vernünftigen und modernen Informationsfreiheitsgesetzes. Was Sie hier zum Datenschutz gesagt haben,
ist völlig falsch. Der Datenschutz ist mit diesem Informationsfreiheitsgesetz nicht aufgehoben. Ganz im Gegenteil: Datenschutz und Informationsfreiheit sind zwei
Seiten einer Medaille. Im Grunde ist auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, wie dies in den Ländern
der Fall ist, gleichzeitig zuständig für das Recht auf Zugang zu Akten und Informationen. Die vernünftige und
gute Lösung, die wir gefunden haben, trägt dem Datenschutz und gleichzeitig dem Anspruch der Bürgerinnen
und Bürger auf Informationsfreiheit insgesamt Rechnung.
Liebe Kollegin Philipp, angesichts einer globalisierten Welt zu sagen, man solle den Informationszugang
bitte schön auf irgendwelche deutschtümelnden Menschen reduzieren,
({5})
zeugt nicht von einem großen Verständnis für eine globalisierte und moderne Welt, sondern von einer veralteten Auffassung, der Ihre Politik entspricht.
({6})
In den USA gehört die deutsche Wirtschaft zu denen, die
am intensivsten den Rechtsanspruch im US-amerikanischen Informationsfreiheitsgesetz in Anspruch nehmen.
Man muss sich das einmal vorstellen: In den USA nehmen die Deutschen diesen Anspruch wahr, aber die CDU
will, dass in Deutschland ein Amerikaner das entsprechende Recht nicht in Anspruch nehmen darf. Absurder
geht es nicht mehr. Sie haben damit deutlich gezeigt, wie
weltfremd Sie sind.
({7})
Lieber Kollege Stadler, ich freue mich, dass nach
25 Jahren die FDP entdeckt hat, dass sie einmal eine
Rechtsstaatspartei war. Ich würde mich freuen, wenn Sie
an diese Tradition eines Karl-Hermann Flach und anderer anknüpfen könnten. Darüber würden wir uns alle
freuen. Aber eines ist auch klar: Schwarz-gelbe Länder
sind bis jetzt nicht aufgefallen, als es um die Informationsfreiheit ging.
({8})
In Baden-Württemberg würde für Sie eine gute Gelegenheit bestehen, aktiv zu werden.
Sie haben heute in der Presse optimistisch dargestellt
- das finde ich gut -, dass Sie, die FDP, die Union dazu
bewegen wollen, im Bundesrat die Dauerblockade der
schwarz-gelben Länder an dieser Stelle zu durchbrechen. Das wird Ihnen positive Überschriften in den morgen erscheinenden Zeitungen einbringen. Sie haben allerdings ein bisschen zurückhaltender gesagt - das geht
nicht so deutlich aus der Pressemeldung hervor -, dass
Sie versuchen wollen, Ihre fünf Länder zu einer Enthaltung zu bewegen. Angesichts der Tatsache, dass Sie
heute hier sagen, Sie hätten sich viel Weitergehendes
vorgestellt, habe ich die herzliche Bitte an Sie: Tun Sie
alles, damit das Gesetz, das wir großartig finden, durch
die fünf Länder im Bundesrat, in denen Sie politische
Verantwortung mittragen, nicht blockiert wird. Das ist
Ihre persönliche Verantwortung. Wir werden die Neuentdeckung des Rechtsstaats und der Bürgerrechte durch
die FDP an Ihrem Verhalten in diesem Punkt messen.
({9})
- Wir haben sogar einige Ihrer Punkte aufgenommen.
Nicht alles, was Sie vorschlagen, ist schlecht. - Sie haben die Chance an dieser Stelle, sich aus der babylonischen Gefangenschaft Ihrer schwarz-gelben Oppositionszeit zu befreien. Wir werden Sie daran messen, ob
Ihnen das gelingt.
Ich will die letzten Sekunden meiner Redezeit nutzen
- mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident -, den beteiligten Büros recht herzlich zu danken. Es ist ein Gesetz aus
der Mitte des Parlaments. Die Beamtinnen und Beamten
haben entgegen der Legende durchaus positiv mitgewirkt. Wir sind stolz darauf, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages in einer entscheidenden Situation so
lange bereit waren, sich jeden Morgen um 7 Uhr für eine
Stunde zu einer Sitzung zu treffen, bis der Gesetzentwurf
fertig war. Das haben wir getan; die Beamten haben dabei mitgeholfen. Unsere Büros haben Tag und Nacht gearbeitet. Ich denke, diese Arbeit ziert das Parlament.
Dazu gehört auch der neue Ansatz, liebe Frau Kollegin
Stokar, dass dieses Parlament ein Gesetz, das es sich
selbst gegeben hat, auch selbst evaluiert. Wo man hier
kritische Ansatzpunkte sehen will, wird Ihr Geheimnis
bleiben.
Herr Kollege Tauss, Sie hatten vorhin den Schluss Ihrer Rede in Aussicht gestellt.
Ich komme zum Schluss.
Lieber Kollege Wiefelspütz, lieber Kollege Bürsch,
liebe Kollegin Stokar und liebe Kollegin Bettin - ich
habe fast alle Namen erwähnt, die ich erwähnen wollte,
wenn es auch nicht die korrekte Reihenfolge war, was
die Höflichkeit gegenüber Damen angeht -: Es ist ein
gutes Gesetz, es ist ein guter Tag für Deutschland. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie sich von der Miesmacherei der Union nicht irritieren. Das gilt vor allem
für die FDP, lieber Herr Stadler.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten abschließend das Informationsfreiheitsgesetz.
Die Bürgerinnen und Bürger sollen ein grundsätzliches
Recht auf Information durch die Verwaltung und weitere
Einrichtungen erhalten. Die Informationen werden also
nicht mehr von Amts wegen zugeteilt. Es geht also um
nicht mehr und nicht weniger als einen Paradigmenwechsel.
In Europa gibt es zurzeit - Kollege Stadler hat es
schon gesagt - nur noch vier Staaten, die kein Informationsrecht für alle Bürgerinnen und Bürger haben. Auch
in der Bundesrepublik haben wir schon Erfahrungen mit
Informationsfreiheitsgesetzen. Die vier Bundesländer
Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben längst solche Gesetze.
Deshalb hatte die PDS im Bundestag die rot-grüne
Initiative bereits im Dezember letzten Jahres als längst
überfällig begrüßt. Wir haben sie begrüßt, weil mehr Informationen immer auch ein Mehr an Demokratie ermöglichen. Wir haben sie begrüßt, weil mehr Transparenz Korruption erschweren kann. Wir haben diese
Initiative begrüßt, weil das neue Recht die Bürgerinnen
und Bürger als Souverän stärkt.
In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich
aber auch prophezeit, dass sich SPD und Grüne werden
entscheiden müssen: entweder ein schlechtes Gesetz mit
Bundesinnenminister Schily oder ein gutes Gesetz trotz
Schily. Herausgekommen ist offenbar ein Gesetz mit
Otto Schily.
Nun haben wir wieder einmal ein Problem. Denn unterm Strich steht: vorne gut gedacht, aber hinten
schlecht. Deshalb wird sich die PDS bei der Abstimmung enthalten.
({0})
Natürlich hat sich längst herumgesprochen: Nahezu alle
Ministerien der rot-grünen Bundesregierung haben auf
die Bremse getreten und ein besseres Gesetz verhindert.
({1})
Das zeigt: Der angestrebte Mentalitätswechsel im Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern, zwischen Staat
und Demokratie, zwischen Geheimniskrämerei und
Transparenz hat sicherlich noch einen langen Weg vor
sich.
Damit wäre ich dann bei unseren drei Hauptkritikpunkten. Das Gesetz räumt den Bürgerinnen und Bürgern zwar grundsätzlich ein Recht auf alle sie interessierenden Informationen ein.
({2})
Aber die lange und auch auslegbare Liste der Ausnahmen stellt genau diesen Grundsatz wieder infrage.
({3})
Ausgenommen werden fast alle Vorgänge, die mit Geld
zu tun haben. Nun sagt ein Sprichwort: „Beim Geld hört
die Freundschaft auf.“ Aber wir wissen auch: Beim Geld
kann Korruption zugreifen.
Schließlich: Informationen haben ihre Zeit und die
vergeht bekanntlich schnell. Das Gesetz indes hält die
Bürgerinnen und Bürger ein bis zwei Monate hin, bis sie
ihre Informationen erhalten.
({4})
Auch das widerspricht dem neuen Geist.
Es gab im März eine parlamentarische Anhörung. Der
Mehrheit der angehörten Experten ging der Gesetzentwurf nicht weit genug.
({5})
Durchgesetzt haben sich allerdings die Bedenken der
Minderheit.
({6})
Fazit: Wir hätten dem Gesetzentwurf gern zugestimmt, weil wir ein solches Gesetz für wichtig und unverzichtbar für einen modernen Bürgerrechtsstaat halten.
Aber der Gesetzentwurf greift zu kurz. Deshalb werden
wir uns jetzt enthalten.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Grietje Bettin das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir verankern heute hier im Deutschen Bundestag
ein elementares Bürgerrecht:
({0})
Jeder und jede Interessierte soll zukünftig freien Zugang
zu Informationen bekommen, die sonst hinter Aktendeckeln verschlossen geblieben wären. Damit wird das
Prinzip des Amtsgeheimnisses in das Prinzip einer offenen und bürgerfreundlichen Verwaltung umgewandelt. Wir Grüne haben dafür schon sehr lange gekämpft
und nun zusammen mit den Sozialdemokraten im Bund
durchgesetzt, was sich in vielen Ländern, zum Beispiel
in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen usw., schon
sehr lange bewährt hat.
Endlich befinden wir uns auf Augenhöhe mit unseren
europäischen Nachbarn. Dort ist der Informations- und
Aktenzugang schon längst eine Selbstverständlichkeit.
({1})
Nun ein paar Worte zur Bürgerfreundlichkeit in Kombination mit dem Bürokratievorwurf, der im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf häufiger erhoben worden ist.
Unser Ziel ist: Bürger und Amtsstuben sollen zu Partnern werden, sie sollen zukünftig zusammenarbeiten und
sich nicht sozusagen gegenseitig kritisch auf die Finger
schauen. Wir haben hier nichts zu verbergen. Das sollten
die Bürgerinnen und Bürger auch so deutlich zu spüren
bekommen.
({2})
Dabei sparen wir Aufwand durch die Internetklausel, die
wir in diesem Gesetzentwurf verankert haben; sie verhindert eine unnötige Antragsflut.
({3})
Die Bürgerinnen und Bürger sollen von sich aus
schauen, was im Internet an Informationen preisgegeben
wird.
Noch ein paar Worte dazu, warum die Vorlage dieses
Gesetzentwurfes so lange gedauert hat. Es ist klar: Hier
soll eine wirkliche Philosophieumkehr in deutschen
Amtsstuben stattfinden. Viele Bedenken - teilweise zu
Recht, teilweise auch unbegründet - mussten aus dem
Weg geräumt werden.
({4})
Wir haben einige Kompromisse eingehen müssen, die
uns auch schwer gefallen sind. Gerne hätten wir beispielsweise eine Abwägungsklausel bei den Betriebsund Geschäftsgeheimnissen gehabt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - gerade auch von der FDP -, lassen Sie uns die Chance auf einen einfachen Informationszugang für die Menschen nutzen. So weit, wie wir
heute hier sind, sind Sie nicht gekommen - nicht in
Baden-Württemberg, nicht in Rheinland-Pfalz, nicht in
Sachsen-Anhalt.
({5})
Ab dem 1. Januar 2006 sollen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Chance bekommen, ein neues
Recht in Anspruch zu nehmen.
({6})
Dafür sollten wir gemeinsam die letzte Kraftanstrengung
im Bundesrat und die letzte Hürde hier nehmen.
Abschließend möchte auch ich allen Kolleginnen und
Kollegen danken, die so konstruktiv an diesem Gesetzentwurf mitgewirkt haben. Dank von meiner Seite insbesondere auch noch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Ich danke allen und wünsche diesem Gesetz viel
Erfolg.
({7})
Nach diesen geballten guten Wünschen schließen wir
nun die Aussprache und kommen zu den Abstimmungen.
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes auf Drucksache 15/4493. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5606, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer
Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der
FDP und einer fraktionslosen Kollegin angenommen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der FDP-Fraktion auf Druck-
sache 15/5625. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 15/5357 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto
Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 15/5358 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Innenausschuss Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Ladenschluss
- Drucksache 15/5370 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die
werden wir nicht benötigen, da die Kollegen Klaus
Hagemann, Dr. Günter Krings, Rainder Steenblock und
Ernst Burgbacher ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-
ben.1)
Wir können dann gleich die notwendigen Überweisungsbeschlüsse fassen. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den genannten Drucksachen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes
- Drucksache 15/5221 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 15/5618 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Klaus-Peter Flosbach
Kerstin Andreae
Carl-Ludwig Thiele
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Auch hierzu sollte eine halbstündige Debatte stattfin-
den. Die dazu gemeldeten Redner Horst Schild, Klaus-
Peter Flosbach, Kerstin Andreae und Carl-Ludwig
Thiele haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, sodass
wir auch hier gleich zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf kommen können.1)
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes auf Drucksache 15/5221. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/5618, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
diesem Beschlussvorschlag zustimmen wollen, dem Ge-
setz also in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. - Möchte jemand dagegen stimmen oder sich der
Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenom-
men.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 29:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
1) Anlage 3
Europäische Energiepolitik marktwirtschaftlich gestalten - Richtlinien entbürokratisieren
- Drucksache 15/5327 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die hierzu von den Fraktionen benannten Redner und
Rednerinnen Rolf Hempelmann, Kurt-Dieter Grill,
Michaele Hustedt und Gudrun Kopp sowie der Redner
für die Bundesregierung, der Parlamentarische Staatsse-
kretär Gerd Andres, geben ihre Reden zu Protokoll.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5327 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
Mittwoch, den 15. Juni 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen, soweit Ihre sonstigen Verpflichtungen es zulassen, ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.