Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich einigen Kollegen zur Vollendung
ihres 60. Lebensjahres gratulieren: Bundesminister
Dr. Peter Struck feierte am 24. Januar, Abgeordneter
Norbert Königshofen feierte am 25. Januar und Abgeordneter Wolfgang Spanier feiert heute seinen 60. Geburtstag.
Beste Glückwünsche im Namen des ganzen Hauses!
({0})
Nun gibt es eine Reihe von Mitteilungen. Die Mitgliederzahl im Ausschuss für Kultur und Medien soll auf einvernehmlichen Vorschlag aller Fraktionen von 15 auf
17 Mitglieder erhöht werden. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Sodann teile ich mit, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen in Abänderung ihres Wahlvorschlages
vom 16. Januar 2003 nunmehr Frau Ulrike Poppe für den
Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorschlägt. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Damit ist Frau Poppe, die schon bisher Mitglied im Beirat war, wieder gewählt.
Gemäß § 93 a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an
den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahl
und Zusammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht
vorgesehen und muss daher vom Plenum für die 15. Wahlperiode neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich
einvernehmlich darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die
CDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD fünf Mitglieder
und auf Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit
diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer
Steuerpolitik auf die kommunalen Finanzen
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, KarlJosef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in
der Wirtschaftspolitik statt neuer Sonderregeln - Mittelstand umfassend stärken
- Drucksache 15/349 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern, statt Förderdschungel ausweiten
- Drucksache 15/357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/Die GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Präsident Wolfgang Thierse
Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbesimmung und zur Änderung anderer Vorschriften
- Drucksache 15/350 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit
erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, dass nach der ersten Beratung des Sexualstrafrechts-Änderungsgesetzes - das ist
Zusatzpunkt 4 - die Reihenfolge der Beratungen wie folgt
geändert werden soll: Tagesordnungspunkt 8 - Transrapidprojekt -, Tagesordnungspunkt 7 - Haltung von Nutztieren - und dann Tagesordnungspunkt 6 - GraffitiBekämpfungsgesetz.
Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zusätzlich dem Finanzausschuss, dem Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit und dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden.
Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: zu derAbgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und
13. Dezember 2002
- Drucksache 15/215 überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkte 2 und 3 - Beratung mehrerer Anträge zur Mittelstandspolitik - auf:
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offensive für den Mittelstand
- Drucksache 15/351 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neuer Sonderregeln - Mittelstand
umfassend stärken
- Drucksache 15/349 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förderdschungel
ausweiten
- Drucksache 15/357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn
Bundesminister Wolfgang Clement.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus dem Jahreswirtschaftsbericht ist gestern deutlich
geworden, dass wir mehr Wachstum und mehr Beschäftigung brauchen. Aus dem Wachstum heraus müssen mehr
Jobs entstehen. Dabei kommt dem Mittelstand, also den
kleinen und mittleren Unternehmen, eine ganz besondere
Bedeutung zu. Um dieses Thema soll es heute gehen.
Warum kommt den kleinen und mittleren Betrieben
eine so große Bedeutung zu? - Etwa 70 Prozent aller ab1666
hängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in solchen
Unternehmen. Vier von fünf Jugendlichen werden im
Mittelstand auf ihr Berufsleben vorbereitet. Rund die
Hälfte der Bruttowertschöpfung, fast 50 Prozent, kommt
aus kleinen und mittleren Unternehmen. Kurz gesagt:
Wenn wir über den Mittelstand sprechen, dann sprechen
wir über die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes.
Deshalb haben wir eine Mittelstandsoffensive auf den
Weg gebracht. Damit wollen wir die Gründung von Unternehmen fördern. Wir brauchen eine Erneuerung, wir
brauchen eine Erweiterung unserer Unternehmenslandschaft, wir brauchen, um es auf den Punkt zu bringen,
mehr Unternehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung,
um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu müssen wir
Existenzgründungen fördern und gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die kleinen und mittleren Unternehmen verbessern.
Dass der Ansatz - oder, um es Ihnen leichter zu machen, die Absicht - der Mittelstandsoffensive richtig ist,
zeigt sich an außerordentlich vielen positiven Reaktionen,
die wir auf diese Aktivität hin erhalten. Ich möchte Ihnen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne die wichtigsten
Bausteine dieser Mittelstandsoffensive darstellen.
Der erste Baustein: Es geht uns um die Förderung von
Existenzgründungen und um die Förderung von kleinund kleinstgewerblichen Unternehmen. Wir wollen die
Startbedingungen für Unternehmensgründungen und
gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für das Kleingewerbe verbessern. Dazu wollen wir in den nächsten Wochen etwas auf den Weg bringen, was wir auf eine Anregung des DIHK-Präsidenten, Herrn Braun, hin einen
Small-Business-Act genannt haben. Das bedeutet, dass
es zu grundlegenden Vereinfachungen und Entlastungen
für Gründungsunternehmen und Kleinstunternehmen
kommen wird. Dabei gehen wir bewusst einen Schritt
weiter, als uns die Hartz-Kommission nahe gelegt hat. In
diese Aktivitäten beziehen wir nicht nur - wie dies bei
Hartz vorgesehen ist - die Existenzgründer, sondern auch
- wie gesagt - existierende kleine Unternehmen ein.
Das Konzept basiert auf drei Säulen:
Erstens. Kleinstunternehmen können bei der Einkommensteuer künftig einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug in der Größenordnung von 50 Prozent der Einnahmen geltend machen. Damit wird die steuerliche
Gewinnermittlung grundlegend vereinfacht.
Zweitens. Umfangreiche und komplizierte Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten der Kleinstunternehmen entfallen.
Drittens. In diesem Bereich fallen keine Umsatzsteuerpflichten mehr an, das heißt, die steuerlichen Erklärungspflichten werden auf ein Minimum reduziert.
Dieses Konzept werden wir sehr rasch umsetzen. In einem ersten Schritt profitieren rückwirkend zum 1. Januar
2003 bereits solche Kleinstunternehmen, die einen Umsatz von bis zu - diese Grenze ist allerdings sehr niedrig 17 500 Euro aufweisen. Ein Jahr später, also zum 1. Januar
2004, wollen wir - vorbehaltlich der Zustimmung durch
die Europäische Kommission - die Umsatzgrenze für
Kleinstunternehmen in einem zweiten Schritt auf
35 000 Euro anheben.
({0})
Wir wollen die Selbstständigkeit durch einen erleichterten Berufszugang im Handwerk und bei nicht handwerklichen Existenzgründungen fördern. Um dieses Ziel
zu erreichen, ist es notwendig, dass der Liberalisierungsprozess im Handwerk fortgeführt wird und dass nicht
mehr notwendige Regulierungen abgebaut werden. Darüber sind wir - wie schon mehrfach besprochen - mit dem
Handwerk im Gespräch. Herr Kollege Laumann hat mich
gestern daran erinnert, dass wir im Vermittlungsverfahren
besprochen hatten, dass wir diese Gespräche gemeinsam
fortsetzen wollen. Das werden wir gerne tun.
({1})
Im Handwerk geht es zum Beispiel um Erleichterungen
bei der Zulassung zur Meisterprüfung. Dabei stellt sich
die Frage, ob die Berufserfahrung als Zulassungsvoraussetzung für die Meisterprüfung gestrichen werden soll. Bisher müssen nach der Gesellenprüfung sieben Jahre abgewartet werden. Daneben geht es um Anreize für Gesellen,
die Meisterprüfung möglichst rasch nach der Gesellenprüfung abzulegen. Man könnte dies als Freischussregelung
- dies ist nicht martialisch gemeint - bezeichnen. Auch bei
den Juristen - diese sind schon gar nicht martialisch - existiert diese ja. Wir wollen das Bild der Meisterprüfung präzisieren und klarstellen, was ein Meister für sein Gewerbe
tatsächlich beherrschen muss. Es stellt sich die Frage, ob alles, was heute gefordert wird, vernünftig ist. Wir wollen,
dass Teile der Gesellenprüfung auf die Meisterprüfung angerechnet werden können. Andere Anrechnungsmöglichkeiten diskutieren wir ebenfalls.
Wir sind noch nicht ganz am Ziel und suchen eine einvernehmliche Lösung mit dem Handwerk. Dies soll - wie
ich zugesagt habe - nicht von oben herab geschehen. Ich
hoffe, wir kommen dabei voran.
Wir wollen Unternehmensgründer, die eine Ertragsgrenze von 25 000 Euro aufweisen, in den ersten vier Jahren von den Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern - diese sind damit einverstanden - und an
die Handwerkskammern - diese sind noch nicht ganz einverstanden - befreien.
Ein weiteres Anliegen ist eine bessere soziale Absicherung der Selbstständigen. Sie tragen nicht nur die Verantwortung für ihre Beschäftigten, sondern sie tragen auch
ein eigenes hohes finanzielles Risiko. Deshalb wollen wir
die Selbstständigen besser absichern und diskutieren wir
mit der Justizministerin - sie ist dafür federführend zuständig - eine Verbesserung des Pfändungsschutzes, beispielsweise in Bezug auf die private Altersvorsorge.
Daneben gibt es natürlich auch hier das Thema Entbürokratisierung. Dabei geht es uns zunächst einmal um
eine schnellere Eintragung ins Handelsregister. Das alles
dauert viel zu lange. Des Weiteren sollen - wenn irgendwie
möglich - die Kosten für diese Eintragung gesenkt werden.
Neben diesem so genannten Small-Business-Act
planen wir weitere Maßnahmen zur Förderung der
Selbstständigkeit. Beispielsweise wollen wir für Gründerinnen und Gründer sowie für den Mittelstand insgesamt
das Beratungs- und Gründungs-Know-how zu Serviceangeboten bündeln.
Wir wollen den unternehmerischen Generationswechsel
weiter fördern. Wir fördern ihn schon heute. Wir wollen die
Einrichtung weiterer Börsen im Internetportal zur Unternehmensnachfolge „nexxt“ ausweiten und uns verstärkt an
Existenzgründer wenden, denen wir über die Unternehmensnachfolge - das ist sehr wichtig, weil in den Unternehmen ständig Generationswechsel stattfinden, ohne die
ein existierendes Unternehmen nicht erhalten werden
kann - den Weg in die Selbstständigkeit nahe legen.
Es geht im zweiten Baustein um die Finanzierung des
Mittelstandes. Wie Sie wissen, haben wir die KfW und
die Deutsche Ausgleichsbank zusammengelegt. Bereits
bisher unterstützen sie diesen Weg faktisch. Jetzt soll dies
über die Gesetzgebung festgeschrieben werden. Damit
werden - das geschieht in der Realität schon - alle Förderprogramme unter einem Dach der Mittelstandsbank
des Bundes zusammengeführt. Die beiden Banken bündeln so ihre Kraft und ihr Wissen zu einem übersichtlichen Förderangebot als Mittelstandsbank des Bundes innerhalb der KfW-Gruppe.
Durch die Neustrukturierung der Förderprogramme
werden die Antragstellung vereinfacht und die Transparenz erhöht. Dem Mittelstand steht somit in Finanzierungsfragen ein Ansprechpartner zur Verfügung. Dazu
gehört beispielsweise auch ein Beratungs- und Betreuungsangebot, wie wir es von der Deutschen Ausgleichsbank kennen, angefangen von der Gründungsberatung
über das Thema Generationswechsel bis hin zu den Runden Tischen, die die Deutsche Ausgleichsbank in ganz
Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland durchgeführt hat.
Die Tatsache, dass es nur noch einen Ansprechpartner
gibt, bedeutet natürlich auch einfachere und kostengünstigere Verfahren für die Partner der Kreditwirtschaft. Dadurch werden sich die Chancen der mittelständischen Unternehmen auf günstige Finanzierungsmittel erhöhen. Das
ist eines der wichtigsten Themen, mit denen wir es zu tun
haben.
({2})
Die kleinen und mittleren Unternehmen haben erhebliche Kredit- und Eigenkapitalprobleme. Das sind, wie
wir alle wissen, keine politischen Probleme, sondern Probleme des Kreditgewerbes.
({3})
- Darüber mögen Sie schmunzeln. Wir können uns gerne
darüber unterhalten. Die Probleme des Kreditgewerbes
sind allerdings nicht zum Schmunzeln. Das Kreditgewerbe, insbesondere das private Bankengewerbe, hat sich
nicht rechtzeitig auf Umstrukturierungsnotwendigkeiten
eingestellt, um das klar zu sagen.
Wir haben die Programme auf den Weg gebracht. Dazu
gehört beispielsweise auch das Programm „Kapital für Arbeit“, mit dem die Beschäftigung von Arbeitslosen in einem Unternehmen mit einem Kredit bis zu 100 000 Euro
begleitet wird, davon bis zu 50 000 Euro zur Eigenkapitalbildung. Es ist gut angelaufen und läuft inzwischen immer besser. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwartet,
dass in diesem Jahr über dieses Kreditprogramm 1,2 Milliarden Euro abgerufen werden. Damit würden über dieses Kreditprogramm 12 000 Arbeitsplätze eingerichtet
und gefördert. Das ist nicht wenig. Die „Richterskala“ ist
nach oben offen. Wir hoffen in diesem Sektor natürlich
auf noch mehr Bewegung.
Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Thema ansprechen, das die mittelständischen Unternehmen zunehmend belastet, nämlich die schlechte Zahlungsmoral in
Deutschland. Die Zahlungssäumigkeit von Auftraggebern
weitet sich für die mittelständische Wirtschaft, insbesondere für das Handwerk, zu einem existenzgefährdenden
Problem aus. Leider - so muss man sagen - zeigt sich
diese Tendenz zur Zahlungssäumigkeit auch bei Aufträgen der öffentlichen Hand.
({4})
Ich trete den Kommunen nicht zu nahe, wenn ich sage,
dass dies vor allen Dingen ein Problem der Städte und Gemeinden ist.
Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen auf diese Entwicklung reagiert und verschiedene Möglichkeiten eingeführt, mit denen Gläubiger ihre
berechtigten Ansprüche schneller durchsetzen können.
Die Praxis zeigt aber leider, dass es die durchweg
schwächeren Gläubiger, beispielsweise Handwerksunternehmen, aus Sorge um das Ausbleiben von Anschlussaufträgen oft nicht wagen, die Möglichkeiten dieses Gesetzes
zu nutzen. Manchen ist das Gesetz auch nicht bekannt.
Wir werden zunächst die mittelständische Wirtschaft,
insbesondere die kleinen Betriebe, verstärkt über die
Möglichkeiten informieren, die nach derzeitiger Gesetzeslage die Durchsetzung praktischer und berechtigter
Ansprüche erleichtern und beschleunigen. Wir wollen uns
dann mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks
und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag intensiv um die Entschärfung dieses Problems kümmern.
Wir werden dazu Gespräche mit den Ländern führen und
Vorschläge erörtern, die wir dann in diesem Hohen Haus
beraten können.
Der dritte Baustein betrifft den Bürokratieabbau. Um
mehr Wachstum und Beschäftigung zu bewirken, müssen
wir bürokratische Fesseln lösen und Hindernisse beseitigen, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand
hemmen. Dieser Überzeugung haben wir bereits erste Taten folgen lassen. Gemeinsam haben wir beispielsweise
die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von bürokratischem Ballast befreit.
({5})
Diese Regelung tritt am 1. April in Kraft.
({6})
- Sie waren dabei eine wirkliche Hilfe.
({7})
Für den Fall, dass Sie es noch nicht gelesen haben sollten,
mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es am 1. April Gesetzeskraft erlangen wird.
Unsere Vorschläge zum Langzeitthema Ladenschlussgesetz liegen dem Hohen Hause ebenfalls vor. Fortsetzung folgt: Ich erwähne beispielsweise die von Frau Kollegin Zypries vorgesehene Reform des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb, bei der die bislang durch und
durch geregelten Sonderaktionen von bürokratischen Fesseln befreit werden sollen.
Des Weiteren nenne ich den Gesetzentwurf Hartz III,
der sich mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit
zu einem wirklichen Bundesunternehmen für Arbeitsvermittlung beschäftigen wird. Der Vorstand der Bundesanstalt arbeitet bereits daran. Wir werden dies gesetzlich
fundieren.
Zum Thema Bürokratieabbau liegt uns inzwischen
eine Vielzahl von Anregungen aus der Wirtschaft und von
der gewerkschaftlichen Seite vor. Diese Anregungen werden geprüft und dort umgesetzt, wo es möglich und sinnvoll ist.
An dieser Stelle weise ich zur Klarstellung und zur Vermeidung allzu hoher Erwartungen hinsichtlich des Umsetzungstempos darauf hin, dass Veröffentlichungen vom
heutigen Tage, die eine tabellarische Übersicht über alles
beim Thema Bürokratieabbau Denkbare und Wünschenswerte enthalten, lediglich eine gute Übersicht darstellen,
aber keine politische Verbindlichkeit beanspruchen können. Es handelt sich um ein Papier aus dem Wirtschaftsministerium, wie es so schön heißt, aber nicht um ein Papier des Wirtschaftsministeriums und schon gar nicht um
ein Papier des Wirtschaftsministers. Wir werden bei diesem Thema also weiterhin von Fall zu Fall miteinander
ringen und diskutieren müssen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir wollen das Ganze ohnehin nicht in Einzelpunkte aufdröseln, sondern unter der
Federführung des Bundesinnenministers in einem Masterplan zusammenführen. Ein solches Konzept zum Bürokratieabbau wird die Bundesregierung voraussichtlich
im Februar beraten; danach werden wir Ihnen unsere Vorschläge vorlegen.
Da ich mich nun mit diesem Thema intensiver beschäftigt habe, finde ich Folgendes bemerkenswert: Alle
gesellschaftlichen Gruppen haben sich mit dem Thema
Bürokratieabbau auseinander zu setzen. Wer sich beispielsweise mit den Gebührenordnungen und sonstigen
Regelungen befasst, die einzelne Berufsgruppen sich auferlegt haben oder vom Staat erwarten, wird auf interessante Dinge stoßen, die über Jahrzehnte entstanden sind.
Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern beispielsweise auch für Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte,
Steuerberater und Schornsteinfeger. Alle ehrenwerten Berufe haben sich in Deutschland mit einem Netz von Regeln und Normen umgeben und wünschen solche Normen
auch weiterhin vom Staat. Oft finde ich diejenigen, die
solche Normen vom Staat erwarten, unter denen, die relativ laut Bürokratieabbau, Deregulierung und Ähnliches
von uns fordern.
({9})
Es ist gut, wenn wir uns allesamt mit diesem Thema
beschäftigen und jeder in seinem Sprengel einmal schaut,
welche Regelungen man vielleicht schon freiwillig abschaffen kann. Das wäre bereits ein gewaltiger Beitrag zum
Bürokratieabbau und zur Deregulierung in Deutschland.
({10})
Ein vierter Baustein betrifft die Ausbildung: Die Förderung der Berufsausbildung ist in diesen Tagen zu
Recht wieder in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist dringend
notwendig, da wir mehr Ausbildungsplätze brauchen.
Auch brauchen wir eine Reform der Berufsausbildung.
({11})
Unser Versprechen muss eingehalten werden und es ist
nur einzuhalten, wenn alle mittun - an diesem Punkt hat
Peter Hartz absolut Recht -: wenn das Problem in allen
Städten und Gemeinden angegangen wird und wenn sich
diejenigen, die Verantwortung tragen, zusammentun und
darüber nachdenken, wie man mehr Ausbildungsplätze
mobilisieren kann.
Eine gute Ausbildung - das wissen wir alle - ist die Voraussetzung für einen Erfolg am Arbeitsmarkt. Um möglichst allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten
zu können, planen auch wir einige Maßnahmen: beispielsweise Erleichterungen für Betriebe und insbesondere für junge Unternehmen beim Erwerb der Ausbildungsbefugnis.
Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, wir müssen uns folgenden Sachverhalt vor Augen führen: 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern und 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern sind zurzeit nicht ausbildungsberechtigt. Das
heißt, rund die Hälfte der Betriebe haben überhaupt keine
Berechtigung, junge Menschen auszubilden. Dies ist
nicht vernünftig; so kann es nicht funktionieren. Deshalb
müssen, wollen und werden wir die Ausbildereignungsverordnung vereinfachen. Um es ganz vorsichtig zu sagen: Künftig muss es möglich sein, dass auch junge Unternehmen ausbilden können. Viele von ihnen haben Spaß
und Freude daran und wir müssen sie unterstützen. Man
kann sie auch finanziell unterstützen, beispielsweise aus
privaten Stiftungen, die noch aufzubauen wären. Aber
man muss es auch tun, indem wir die rechtlichen Bedingungen dafür verändern. Gemeinsam mit meiner Kollegin
Bulmahn setze ich mich dafür ein, die Ausbildungsordnungen weiter zu entschlacken und sie konsequenter als
bisher auf die betrieblichen Möglichkeiten und auch auf
die Belange des Mittelstandes auszurichten.
Das bedeutet auch, dass wir mehr differenzierte, mehr arbeitsmarktfähige und mehr zweijährige Ausbildungsberufe
brauchen, um allen Jugendlichen eine Erfolg versprechende Ausbildung zu ermöglichen. Nicht alle Jugendlichen sind - Gott sei Dank - über einen Leisten zu schlagen, genauso wenig wie wir. Deshalb kann man nicht alle
gleichmäßig über den Leisten einer dreieinhalbjährigen
Ausbildung schlagen. Man muss vielmehr unterschiedliche, differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten.
({12})
Übrigens hat es sich bewährt, Unternehmen zu ermutigen, Patenschaften bzw. Partnerschaften mit Schulen einzugehen. Die Unternehmen profitieren davon, weil solche
Schulen sehr viel stärker auf den Arbeitsmarkt und das
Wirtschaftsleben ausgerichtet sind. Umgekehrt können
auch die Schulen sehr davon profitieren, wenn sie mit einem Betrieb enger verbunden sind. Beispielsweise kann
sich das positiv - das zeigen Erfahrungen einer Studie, die
mit Förderung der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt
worden ist - auf die technische Ausstattung der Schulen
auswirken.
Ich möchte - das ist der fünfte Baustein - noch gerne
auf die Außenwirtschaftsinitiative hinweisen, die wir sehr
stark auf den Mittelstand ausrichten, indem wir insbesondere versuchen, den Zugang zu den Hermes-Exportbürgschaften und zu Investitionsgarantien zu erleichtern. Wir
machen ihn auch mittelstandsfreundlicher, indem wir nur
noch kleine und mittlere Unternehmen mit unserem Messeprogramm fördern. Große Unternehmen finden ja alleine den Weg ins Ausland. Ich will hier besonders darauf
hinweisen, dass es für Ostdeutschland wichtig ist, den
Prozess des EU-Beitritts der mittel- und osteuropäischen
Staaten als eine große Chance für Deutschland zu verstehen. Wir, Herr Kollege Stolpe und ich, planen deshalb
auch in Ostdeutschland Begegnungen und Konferenzen
mit Unternehmern aus den mittel- und osteuropäischen
Beitrittsländern, um den Markt für beide Seiten transparenter und damit erfolgversprechender zu machen.
({13})
Das sind die Kernthemen unserer Mittelstandsoffensive, das heißt unseres Bemühens, mehr Existenzgründungen zuwege zu bringen. Die Selbstständigenquote in
Deutschland liegt momentan bei 9 Prozent. Wir brauchen
aber eine von 14 Prozent. Wenn wir - theoretisch gesprochen - diese europäische Durchschnittsquote bei den
Selbstständigen erreichen, dann haben wir eine gute
Chance, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekommen. Wir müssen deshalb den kleinen und mittleren Unternehmen das Leben und das Arbeiten erleichtern. Das
wollen wir auch tun. Der Erfolg entscheidet über Wachstum und Beschäftigung.
Ich denke, dass wir uns über die Ziele einig sind. Über
die Wege zum Erreichen der Ziele werden wir zu diskutieren haben. Aber es kommt darauf an, aus den Zielen so
rasch wie möglich Taten und konkrete Entwicklungen zu
machen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer in diesem Haus will bestreiten, dass der Mittelstand in Deutschland die tragende Säule unserer Volkswirtschaft ist? Wer will bestreiten, dass wir gerade unser
politisches Augenmerk auf die Stärkung und Förderung
des Mittelstands richten müssen, wenn wir aus der schweren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise
unseres Landes wieder herausfinden wollen? Aber mit
kleinen Programmen lassen sich die schweren makroökonomischen Verwerfungen unserer Volkswirtschaft nicht
beseitigen. Wer nicht an den grundlegenden Voraussetzungen für Aufschwung und Beschäftigung arbeitet, der
wird auch mit noch so gut gemeinter Mittelstandsrhetorik
und mit noch so gut gemeinten Programmen für alle möglichen staatlichen Institutionen dieses Land nicht aus der
Krise führen.
({0})
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gestern
den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Wir begrüßen
ausdrücklich, dass der Bundeswirtschaftsminister wieder dafür zuständig ist. Aber Sie haben durch die Ausweitung der Zuständigkeiten Ihres Hauses nicht nur
die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik im umfassenden Sinn und die Zuständigkeit für den Jahreswirtschaftsbericht zurückbekommen, sondern auch die
Zuständigkeit für die Arbeitsmarktpolitik hinzubekommen. Dies ist eine richtige strukturelle Entscheidung,
die in der Bundesregierung getroffen worden ist. Sie
überantwortet Ihnen aber auch im umfassenden Sinne
die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik und die Arbeitsmarktpolitik.
Angesichts dessen wäre es gut gewesen, wenn Sie
heute Morgen nicht nur auf die - im Einzelnen durchaus
diskussionswürdigen - Programme der Kreditanstalt für
Wiederaufbau und auf alle möglichen Vorschläge, auch
aus Ihrem Hause, Bezug genommen hätten. Wir haben erwartet, dass Sie etwas zu den grundlegenden Problemen
unseres Landes sagen; wir haben erwartet, dass Sie etwas
zu der grundlegenden Wachstums- und Beschäftigungskrise dieses Landes sagen.
({1})
Sie werden auch mit einer noch so gut gemeinten Mittelstandsrhetorik aus diesen strukturellen Problemen nicht
herausfinden. Deutschland hat im Jahre 2002 ein Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent gehabt. Wir lagen damit wieder auf dem letzten Platz in der Europäischen
Union. Es wäre gut, wenn Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, und noch mehr Sie, Herr Bundeskanzler, endlich
aufhören würden, das Problem der Wachstumsschwäche
in Deutschland damit zu erklären, dass es Unsicherheiten
in der Weltkonjunktur gibt. Das Problem, das wir in
Deutschland haben, hat mit der Weltkonjunktur praktisch
nichts zu tun.
({2})
Die Weltwirtschaft ist im Jahre 2002 um 3,7 Prozent
gewachsen. Der Export aus Deutschland hat damit zwar
nicht Schritt gehalten; aber er ist immerhin stärker als die
Binnenwirtschaft gewachsen. Dass wir überhaupt noch
ein geringfügiges Wirtschaftswachstum - es lag knapp
oberhalb der Nachweisgrenze - gehabt haben, ist dem Export zu verdanken und nicht der Binnenkonjunktur. Mittlerweile sprechen viele europäische Länder - wie ich
finde, zu Recht - von der „deutschen Krankheit“. Das eigentliche Problem ist die Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung seit vier Jahren.
({3})
Herr Bundeskanzler, Sie verantworten 37 000 Konkurse im Jahre 2002. Die meisten zusammengebrochenen
Unternehmen waren kleine und mittelständische Betriebe, also Unternehmen der mittelständischen Wirtschaft, und nur wenige große. Sie haben vor Jahr und Tag
das Ziel formuliert, die Anzahl der Arbeitslosen in
Deutschland auf 3,5 Millionen zu senken. Daran wollten
Sie sich über den gesamten Verlauf der letzten Wahlperiode messen lassen.
({4})
Zu Beginn dieser Wahlperiode, in der Sie leider immer
noch regieren, haben wir 4,5 Millionen Arbeitslose. Herr
Bundeskanzler, das ist mindestens 1 Million zu viel. Es
sind Ihre Arbeitslosen, weil es Ihre Wirtschaftspolitik und
Ihre Arbeitsmarktpolitik ist, die in der Zahl der Arbeitslosen zum Ausdruck kommt.
({5})
Bedauerlicherweise sagt der Bundeswirtschaftsminister weder in seinem Jahreswirtschaftsbericht vom gestrigen Tag noch in seiner Rede zur Mittelstandspolitik am
heutigen Tag etwas zu den langfristigen Entwicklungen
der zentralen Rahmendaten unserer Volkswirtschaft. Dazu gehört - ob Sie es nun hören wollen oder nicht - die
Entwicklung der Staatsquote. Wir können in diesem
Haus - wir tun das seit langer Zeit - über Mittelstand, über
Wirtschaft sowie über Beschäftigung lange streiten und
diskutieren und dabei viele einzelne Schritte gehen. Wenn
die Staatsquote dieses Landes nicht langfristig zurückgeführt wird, wenn die Freiräume für Wirtschaft und Beschäftigung nicht vergrößert werden, dann werden alle
Bemühungen vergebens sein. Ein Land, das eine Staatsquote von fast 50 Prozent hat, bzw. eine Volkswirtschaft,
in der fast die Hälfte des Sozialprodukts durch Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge absorbiert wird, weil die
staatlichen Institutionen dieses Geld brauchen, ist in
Wahrheit keine soziale Marktwirtschaft mehr; sie ist eine
Staatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor.
({6})
Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist eine
abnehmende Staatsquote, also ein geringerer Anteil des
Staatsverbrauchs am Sozialprodukt, die Existenzbedingung schlechthin.
({7})
Kleine und mittlere Unternehmen werden in diesem
Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn sie
weniger Steuern und weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen. Im Klartext: Kleinere und mittlere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn der Staat weniger von
dem Sozialprodukt verbraucht, das die Unternehmen erwirtschaften.
({8})
Wenn Sie diese Zusammenhänge in einer so wichtigen
Debatte über die Zukunft des Mittelstandes noch nicht
einmal erwähnen, meine Damen und Herren von der rotgrünen Koalition, dann befürchte ich, dass es auch im
Jahre 2003 mit der Volkswirtschaft in Deutschland nicht
besser laufen wird als im Jahre 2002.
Wir haben nun in wenigen Stunden den ersten Monat
des Jahres 2003 hinter uns. Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, reden zu Recht von Bürokratieabbau. Ich habe
Ihnen das vor einiger Zeit von dieser Stelle aus schon einmal gesagt: Der Bund hat in der letzten Wahlperiode, der
14., insgesamt 391 neue Gesetze und 973 neue Rechtsverordnungen erlassen. Das war sozusagen das Programm
für Bürokratieabbau in der letzten Wahlperiode. Jetzt
sprechen Sie wiederum von Bürokratieabbau. Wenn wir
morgen in das Wochenende gehen und die ersten 100 Tage
der neuen rot-grünen Bundesregierung, die fast die alte
ist, vorbei sind, dann werden in diesem Land erneut
22 neue Gesetze und fast 100 Rechtsverordnungen in
Kraft getreten sein. Ein Land, in dem der Staat sich in einer solchen Überregulierung verfängt und in dem die Gesellschaft daran glaubt, dass das Leben nur noch durch
Gesetze und Verordnungen und nicht mehr durch Unternehmen und Arbeitnehmer, die auch frei etwas entscheiden können, geregelt werden kann, wird aus der Beschäftigungskrise nicht herausfinden.
({9})
Zu den besonders schwer wiegenden Fehlentscheidungen der rot-grünen Koalition gehört die Steuerpolitik.
({10})
Wir haben gegen Ende des letzten Jahres den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Der Sachverständigenrat hat
20 Vorschläge gemacht, wie man aus der Wachstums- und
Beschäftigungskrise herausfinden kann. Herr Bundesfinanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, Steuererhöhungen sind in der Liste dieser 20 Vorschläge des
Sachverständigenrates nicht enthalten gewesen. Sie haben
zum 1. Januar 2003 eine hohe Zahl neuer Steuererhöhungen in Kraft treten lassen und Sie muten uns jetzt allen
Ernstes im Zusammenhang mit dieser Mittelstandsdebatte
zu, dass wir in wenigen Tagen nach Ihrem Willen erneut
über mehr als 40 weitere neue Steuererhöhungen beschließen sollen.
Glaubt denn irgendjemand in diesem Haus im Ernst,
dass der Mittelstand in Deutschland so wieder auf die
Füße kommt? Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Sie mit
noch höheren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen
und noch mehr Belastungen in diesem Lande wieder mehr
Beschäftigung in den kleinen und mittleren Betrieben erreichen können? Das glatte Gegenteil wird eintreten:
Wenn Sie so weitermachen, stehen wir zu Beginn des Jahres 2003 wahrscheinlich am Anfang des Jahres mit der
schwersten Wirtschaftskrise, die dieses Land in seiner Geschichte erlebt haben wird, weil Sie immer noch nicht verstanden haben, was die Grundbedingungen für eine gesunde Volkswirtschaft sind, und immer noch nicht
eingesehen haben, welche gravierenden Fehler Sie gemacht haben.
({11})
Ich will das anhand eines ganz konkreten Beispiels,
Herr Bundeswirtschaftsminister, zu belegen versuchen.
Dieses Steuersubventionsabbaugesetz, was Ihr Nachbar
zur Linken jetzt vorgelegt hat, ist ein Gesetz, mit dem Sie
einen Marketingerfolg erzielt haben. So glauben aufgrund
der Überschrift immer noch einige Journalisten, es handele sich um einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen. In Wahrheit ist es ein Steuererhöhungsgesetz, dessen
Volumen in den nächsten vier Jahren mindestens 20, möglicherweise 30 Milliarden Euro an Belastungen für Wirtschaft und Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Sie
verkünden hier vor diesem Hintergrund voller Stolz, dass
Sie steuerliche Entlastungen für den Mittelstand zwischen
35 und 60 Millionen Euro mit Ihrem Mittelstandsförderungsprogramm auf den Weg bringen.
Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn in diesen Tagen
jemand seine Bilanz für das letzte Jahr erstellt, wird er
darin kaum noch Gewinne ausweisen können. Wenn er
dann unter Einbeziehung der Vorschläge des Bundeskabinetts und der Steuererhöhungen, die jetzt bevorstehen, in
das Jahr 2003 hineinblickt, muss es ihm wie Hohn vorkommen, dass Sie jetzt eine steuerliche Entlastung vorschlagen, der auf der anderen Seite höhere Belastungen,
({12})
die auf die Volkswirtschaft und damit auf die mittelständischen Betriebe zukommen, gegenüberstehen.
({13})
Ich will in dem Zusammenhang nur der Vollständigkeit
halber sagen: Der Bundesfinanzminister konnte natürlich
leichter Hand zustimmen, bis zu einem Umsatz von
17 500 Euro im Jahr einen pauschalen Betriebsausgabenabzug zuzulassen. Zeigen Sie mir einmal ein Unternehmen, ein ganz kleines, ein kleines, ein mittleres oder ein
großes, das 50 Prozent Umsatzrendite macht, Herr Bundeswirtschaftsminister.
Das ist doch geradezu lächerlich. Da können Sie auch
175 000 Euro hinschreiben; es gibt kein Unternehmen,
das allen Ernstes von einem pauschalen Betriebsausgabenabzug in der Größenordnung von 50 Prozent profitiert.
Das ist ein Popanz, den Sie hier mit schönen Worten aufbauen und der mit der wirtschaftlichen Realität in
Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
({14})
Sie haben uns schon im Oktober des letzten Jahres
voller Stolz ein Programm mit dem Namen „Kapital für
Arbeit“ vorgestellt, das bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau eingerichtet worden ist, einer Bank, die jetzt den
schönen Namen Mittelstandsbank tragen soll; das ist also
keine neue Institution, sie bekommt nur ein neues Türschild. Die Bilanz dieses Programms „Kapital für Arbeit“
sieht nach zweieinhalb Monaten wie folgt aus: Bis Mitte
Januar sind in zweieinhalb Monaten, zehn Wochen, insgesamt 121 Anträge bewilligt worden
({15})
mit einer Fördersumme von 32,5 Millionen Euro. Damit
sind rund 860 Arbeitsplätze in Deutschland gefördert
worden.
Herr Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland machen jeden Werktag 200 Unternehmen Pleite. Wenn man
unterstellt, dass dadurch „nur“ - in Anführungsstrichen zehn Arbeitsplätze pro Unternehmen damit verloren gehen, dann gehen durch die Wirtschaftspolitik dieser rotgrünen Bundesregierung jeden Tag mehr als doppelt so
viel Arbeitsplätze verloren, wie Sie in zweieinhalb Monaten mit dem so aufwendig verkauften Programm „Kapital
für Arbeit“ in Deutschland neu geschaffen haben. Sehen
Sie nicht die Relationen zwischen dem, was Sie auf der einen Seite tun, und dem, was Sie auf der anderen Seite
durch die für unsere Volkswirtschaft schwer wiegenden
Verwerfungen und diesen Nachkriegsrekord an Unternehmenskonkursen in Deutschland zulassen?
({16})
Ich weise auf eine Kostenbelastung hin, die in den letzten Wochen und Monaten praktisch außerhalb des Fokus
der deutschen Öffentlichkeit und außerhalb der Betrachtung der politischen Diskussion geblieben ist - bedauerlicherweise, wie ich finde -: die Entwicklung der Energiekosten in Deutschland. Meine Damen und Herren, in
vier Jahren Rot-Grün hat sich die Steuer auf Strom von
ungefähr 2 Milliarden Euro im Jahr auf jetzt über 12 Milliarden Euro pro Jahr fast versechsfacht. Sie haben die
Steuerbelastung auf Energie, auf Strom - damit sind alle
Unternehmen unmittelbar betroffen - in den vier Jahren
Ihrer Amtszeit fast versechsfacht.
({17})
Das heißt im Klartext, Sie haben durch diese steuerliche Belastung auf den Faktor Energie - Energiekosten sind ein
wichtiger Bestandteil jedes Unternehmens, auch mit Blick
auf den unternehmerischen Erfolg - praktisch den gesamten
Rationalisierungs- und Liberalisierungsgewinn abgeschöpft
({18})
und auf diese Weise dafür gesorgt, dass trotz des Wettbewerbs und sinkender Preise in Deutschland im Ergebnis
mittlerweile mit die höchsten Energiepreise in der gesamten Europäischen Union bestehen.
Was nützt Ihr Mittelstandsprogramm, wenn zu demselben Zeitpunkt diejenigen, die hier wettbewerbsfähige Betriebe aufbauen sollen, immer höhere Steuern und immer
höhere Energiekosten zu tragen haben?
({19})
Es nützt nichts! Sie müssen diese Kostenbelastung senken, sonst wird das beste Programm nichts nützen.
({20})
Meine Damen und Herren, für den Zwischenruf, den
ich gerade gehört habe, bin ich außergewöhnlich dankbar.
Sie sagen, dafür seien aber die Lohnzusatzkosten gesenkt worden.
({21})
Das hätten Sie nun besser nicht gesagt. Wir befinden uns
am Anfang des Jahres 2003 bei einer Belastung mit Lohnzusatzkosten, allein durch Sozialabgaben, von jetzt wieder über 42 Prozent. Die Wahrheit ist doch, dass beides
dramatisch ansteigt:
({22})
einerseits die Steuerbelastung und die Kostenbelastung
durch Energie und andererseits die Sozialversicherungsbeiträge. Sie sind doch am Ende mit Ihrer Politik der Hinund Herschieberei zwischen den einzelnen Haushaltstiteln dieses Landes!
({23})
Sie von der SPD brauchen sich im Übrigen doch nicht
darüber zu beklagen, dass die Spielräume in den öffentlichen Haushalten für eine vernünftige Steuerpolitik mit
Abgabensenkungen nicht mehr vorhanden sind. Ich will
in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen - ich muss
immer wieder feststellen, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande sie fast nicht kennen -, die verdeutlicht, wie der Bundeshaushalt mittlerweile durch die
Zuschüsse zur Rentenversicherung belastet wird. Das
Gesamtvolumen des Bundeshaushalts beträgt knapp
250 Milliarden Euro. Der laufende Zuschuss aus diesem
Haushalt an die Rentenversicherung und Knappschaftsversicherung beläuft sich auf über 77 Milliarden Euro.
({24})
Das heißt, fast ein Drittel der Ausgaben des Bundes entfallen auf die Zuschüsse an die Rentenversicherung.
({25})
Im Klartext heißt das: Sie haben nicht ein einziges Problem gelöst. Sie haben nur die Finanzierung hin und her
geschoben.
({26})
Sie haben dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte in
diesem Lande praktisch handlungsunfähig geworden sind,
weil Sie es nicht geschafft haben, die Probleme zu lösen.
({27})
Wir sollten gemeinsam handeln. Ich betone das, weil
ich meine, dass die Zeiten der kleinkarierten parteipolitischen Auseinandersetzungen nun wahrlich vorbei sind.
({28})
- Was die Wählerinnen und Wähler von der Art und Weise
halten, wie Sie die Auseinandersetzung führen, werden
wir uns gemeinsam am Sonntagabend anschauen.
({29})
Wir werden ja sehen, wie am Montagmorgen die Lage in
Deutschland ist. Trotz aller christlichen Demut bin ich schon
heute voller Schadenfreude auf Ihre Gesichter gespannt.
({30})
Die Zeiten des Klein-Kleins sind vorbei. Ich will zwei
Punkte ansprechen, die wichtig sind, um aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise herauszukommen.
Der erste Punkt. Sie müssen gerade kleinen und mittleren Unternehmen das Recht verschaffen, von bestehenden Regelungen der Flächentarifverträge abzuweichen,
({31})
wenn die Betriebsparteien dies wollen und darin übereinstimmen.
({32})
Ich sage Ihnen: Dies ist eine der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen, vor der wir stehen. Sie
müssen sich in der SPD aus der Umklammerung der
DGB-Gewerkschaften lösen
({33})
und bereit sein, hier ein Stück Freiheit für kleine und mittlere Unternehmen zu ermöglichen, damit sie nicht nur in
der Krise eine Chance haben, zu überleben, sondern damit sie auch eine Chance haben, in Zeiten, in denen es den
Unternehmen relativ gut geht, neue Investitionen zu tätigen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
({34})
Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das besonders für den
Mittelstand gilt. Gerade im Mittelstand ist eines der größten
Probleme, dass das Lohnabstandsgebot nicht eingehalten
wird und die Konkurrenz durch ABM-Gesellschaften,
({35})
insbesondere im Osten, das Entstehen von mittelständischen Unternehmen praktisch unmöglich macht.
({36})
Herr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht können Sie
und andere Mitglieder der Bundesregierung nach dem kommendem Sonntag über dieses Thema etwas unbefangener
mit uns sprechen. In diesem Land muss der Grundsatz wieder gelten, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient
als derjenige, der nicht arbeitet und soziale Leistungen bezieht. Wenn Sie aber diesen Grundsatz dauerhaft verletzten,
dann wird weder Beschäftigung entstehen noch haben mittlere und kleine Unternehmen in diesem Lande eine Chance.
Herzlichen Dank.
({37})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Merz, die Lebenserfahrung lehrt, dass die
Welt nicht so einfach ist, wie Sie sie gerade dargestellt
haben.
({0})
Ihre Rede hatte ja eine einfache Grundaussage: Für alles
Positive in Deutschland ist die Union zuständig und für alles Negative in Deutschland ist die Regierung zuständig.
Wenn Sie mit diesem einfachen Weltbild leben wollen,
wünsche ich viel Vergnügen.
Sie haben gesagt: Wir kommen nur weiter, wenn wir
mit kleinkariertem Parteiengezänk und Hickhack aufhören. Ihre Rede war aber nichts anderes.
({1})
Ich will dies ganz konkret an den Punkten, die Sie genannt
haben, darstellen. Es weiß doch nun inzwischen jeder, der
über Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit diskutiert,
dass die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die wir
bekämpfen müssen, zwei Ursachen hat und nicht eine,
wie Sie es darstellen.
Die eine ist tatsächlich die Entwicklung der Weltkonjunktur mit dem Börsencrash, den wir erlebt haben.
Damit das Gerede, Außenfaktoren hätten keine Wirkung,
aufhört, will ich eine Zahl nennen: Der Börsencrash seit
August 2000 hat allein in der Euro-Zone Börsenwerte in
Höhe von 2 900 Milliarden Euro vernichtet. Dass dies
Auswirkungen auf die Investitionen, auf das Konsumklima, auf die allgemeine Stimmung und auf die Arbeitslosigkeit hat, ist doch vollkommen logisch. Wenn Sie das
bestreiten, indem Sie sagen, an allem sei die Bundesregierung schuld, dann zeigen Sie damit, dass Sie makroökonomisch - das war ja Ihr Anspruch - keine Ahnung haben und Ihre Betrachtung der Wirklichkeit falsch ist.
({2})
Am zweiten Punkt, Herr Merz, treffen wir uns. Die derzeitige Situation hat natürlich auch hausgemachte Ursachen. Es gibt Strukturprobleme am Standort Deutschland, die wir zusammen bekämpfen müssen. Ich will die
wichtigsten nennen.
({3})
Wir haben die deutsche Einheit falsch finanziert, darunter
leiden die Sozialversicherungssysteme. Dazu haben Sie
nichts gesagt.
({4})
30 Milliarden Euro jährlich fehlen uns, weil wir die deutsche Einheit aus Kassen finanzieren, die dafür nicht vorgesehen sind.
({5})
Auch aus diesem Grund steigen die Lohnnebenkosten und
die Arbeitslosen sind diejenigen, die darunter zu leiden
haben.
({6})
Wir finanzieren die sozialen Sicherungssysteme nach
wie vor falsch, wir koppeln die Beiträge zu stark an die
Löhne.
({7})
Hier müssen wir gründliche Veränderungen schaffen, und
zwar zunächst aus demographischen Gründen, aber auch
deshalb, weil in einer sozialen Marktwirtschaft, die die sozialen Transferleistungen in den Bereichen Gesundheit,
Rente und Pflegeversicherung ausschließlich aus Beiträgen
finanziert, die Arbeitslosen die Verlierer sein werden. Soziale Sicherung zulasten der Arbeitslosen ist in der sozialen Marktwirtschaft nicht wirklich eine soziale Sicherung.
Deswegen werden wir da umbauen müssen. Das sagen wir
gerade in Bezug auf den Mittelstand, der unter den hohen
Lohnnebenkosten ja viel mehr leidet als die Großbetriebe,
die mit Produktivitätssteigerungen hohe Lohnnebenkosten
in mittlere Lohnstückkosten verwandeln können, was vielen kleinen Handwerksbetrieben nicht möglich ist.
({8})
Deswegen ist das Jahr 2003 das Jahr der Reformen. Die
Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme müssen bis
zum Ende dieses Jahres reformiert werden.
Wir haben Probleme mit den Banken. Es ist wahr, dass
sich vor allem die Großbanken und die privaten Banken,
anders als die öffentlich-rechtlichen Banken und die Genossenschaftsbanken, aus dem Kreditgeschäft für den
Mittelstand verabschiedet haben.
({9})
Das muss sich ändern, weil in der sozialen Marktwirtschaft auch hier Verantwortung übernommen werden
muss.
Herr Merz, ein weiteres Problem ist die Bürokratie,
über die wir im Zusammenhang mit der Entbürokratisierungsoffensive der Regierung ausführlich zu sprechen
haben werden. Ich komme in meiner Rede auf diesen
Punkt noch zurück.
({10})
Ich sehe noch ein Problem, das Sie angehen müssen,
Herr Merz. Die Opposition in Deutschland redet die Qualität des Standortes und die Qualität der Wirtschaft in
Deutschland schlecht, weil Sie daraus politischen Nutzen
ziehen will.
({11})
Dieses Jammern, dieses Schlechtreden und dieses Miesmachen ist ein Teil der deutschen Krankheit, die Sie beklagt haben. Wenn das nicht aufhört, wird genau das eintreten, was Sie bejammern, aber das hilft den Menschen
nicht.
({12})
Sie sagen, Sie wollen mitarbeiten und als Opposition helfen, dass es besser wird. Voraussetzung dafür ist, dass dieses Mobbing des Standorts Deutschland, das die Union
systematisch als Parteistrategie betreibt, unterbleibt.
({13})
- Aber was machen Sie denn anderes, als Deutschland
schlechtzureden, Herr Glos? Das ist alles, was Sie in den
vergangenen Monaten in politischer Hinsicht angepackt
haben. Das müssen Sie sich einmal anhören, auch wenn
es wehtut. Ich kann allerdings verstehen, dass es wehtut.
({14})
Eines war auffällig, Herr Merz. Da wir uns in einer
Konjunkturkrise befinden, können Sie nicht in Abrede
stellen, dass zum Beispiel im Jahr 2003 - in diesem
Fall durch den Bund - 18 Milliarden Euro für die Sanierung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werden
müssen.
Sie haben zum wiederholten Male festgestellt, was Sie
nicht wollen. Sie wollen keine Steuererhöhungen, wobei
Sie übrigens wieder den kleinen logischen Fehler begangen haben, den Abbau von Steuervergünstigungen als
Steuererhöhung zu bezeichnen. Das ist aber nicht richtig;
dabei handelt es sich um verschiedene Maßnahmen.
({15})
Sie sind gegen die Sparvorschläge, die die Regierung
zum Beispiel bei der Eigenheimzulage unterbreitet hat.
Sie sind auch gegen eine Neuverschuldung, zumindest betreiben Sie eine heftige Polemik dagegen.
({16})
Ist also alles wunderbar? Führt Herr Merz in seiner
Rede alle Möglichkeiten aus, wie der Haushalt mit
18 Milliarden Euro saniert werden kann? Nein, und das ist
die große Katastrophe! Nach Monaten der öffentlichen
Diskussion macht er noch immer keine einzige Aussage
dazu, wie er die Krise meistern will.
({17})
Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Konjunkturkrise,
aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland zu tun
ist. Stattdessen delektiert er sich fröhlich daran, der Regierung die Schuld zuzuweisen.
Sie versteigen sich in die absolute Staatsgläubigkeit,
wenn Sie die Auffassung vertreten, der Kanzler sei an den
Konkursen schuld. Soweit kommt es noch, dass an jedem
einzelnen Konkurs in der freien sozialen Marktwirtschaft
der Bundeskanzler persönlich schuld sein soll! Die Staatsgläubigkeit, die Sie hier vertreten, ist doch absurd!
({18})
Deswegen wird in den nächsten Wochen und Monaten
im Bundesrat die Stunde der Wahrheit kommen, Herr
Merz. Da muss sich die Union - für die FDP gilt im
Grunde das Gleiche - dazu äußern, was sie konkret tun
will. Sie müssen zum Beispiel dazu Stellung nehmen, ob
Ihre Aussage vom Sommer, die Körperschaftsteuer müsse
verstetigt und Einnahme des Staates werden, noch gilt.
Sie müssen der Öffentlichkeit klar machen, ob Sie dafür
sind, dass die Steuerguthaben der Betriebe, die noch aus
Ihrer Regierungszeit stammen, anders verrechnet werden,
und ob Sie die von uns vorgeschlagene Mindestbesteuerung befürworten. Ich will an dieser Stelle - weil wir gerade
über den Mittelstand reden - betonen, dass die Mindestbesteuerung in Deutschland nur mit einem vernünftigen
Sockelbetrag erfolgen kann. Nur so werden Investitionen
der kleinen und mittleren Betriebe möglich und diese sind
die Grundlage für das Wachstum in unserem Land.
({19})
Für meine Fraktion möchte ich eines klarstellen: Nur
wenn in Deutschland Reformen angepackt werden - und
zwar nicht nur hier und dort ein Progrämmchen, sondern
auch elementare Reformen zum Beispiel bei den sozialen
Sicherungssystemen -,
({20})
können wir in Deutschland die Krise überwinden. Ich
sage das auch an die Adresse unseres Koalitionspartners
gerichtet, Herr Stiegler. Wir haben uns zwar nicht an der
Diskussion zu beteiligen, welche Rolle Oskar Lafontaine
spielen wird,
({21})
aber ich möchte eines festhalten: Die Vorstellung, die
Reichen sollten mehr zahlen, dann würde in Deutschland
strukturell alles besser werden, die Oskar Lafontaine in
der „Bild-Zeitung“ verbreitet hat, bildet nicht die Basis
unserer Koalition.
({22})
Richtig ist - damit wende ich mich an Sie, Herr Merz -,
dass zwar überall Reformen notwendig sind,
({23})
trotzdem möchte ich auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen,
der nicht richtig ist. Wir haben in Deutschland nicht irgendeine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Marktwirtschaft. Das, was Sie getan haben - zum Beispiel die
Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe durchzuwinken, die
den Empfängern von Arbeitslosenhilfe wehtun,
({24})
aber im Hinblick auf Maßnahmen, die die Besserverdienenden bzw. den Mittelstand unserer Gesellschaft treffen,
zu erklären, damit hätten Sie nichts zu tun -, entspricht
nicht der sozialen Gerechtigkeit, wie wir sie uns vorstellen und wie wir sie in Deutschland brauchen.
({25})
Ich möchte zum Abschluss auf einige Punkte der Mittelstandsoffensive unseres Wirtschaftsministers eingehen.
Herr Minister, wir Grüne sind Teil der von Ihnen vorgestellten Reformallianz für den Mittelstand. Einen zentralen Punkt stellt die Entbürokratisierung dar. Im Gespräch
mit mittelständischen Betrieben ist festzustellen, dass vor
allem die mangelnde Motivation aufgrund zu vieler bürokratischer Auflagen eines der Hauptprobleme der Betriebe darstellt.
Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Für einen Betrieb mit 400 Beschäftigten sind die Auflagen kein großes
Problem, weil er viele staatliche Auflagen mit eigenem
Personal bearbeiten kann. In einem Betrieb mit sechs oder
acht Angestellten ist es aber Chefsache, diese Bürokratie
zu übernehmen. Dies hindert die Betreiber der Betriebe
daran, das eigentliche Geschäft voranzutreiben. Deswegen brauchen wir die Entbürokratisierung.
Ich glaube nicht, dass wir dies schaffen, wenn wir
sagen: Wir sammeln einmal ein paar Vorschläge. Wir
müssen unser Staatsverständnis überdenken. Nur
wenn wir als Staat bereit sind, im Rahmen einer Aufgabenkritik wirklich zu überlegen, was wir permanent kontrollieren müssen und was dokumentiert werden muss,
und bereit sind, die eine oder andere Kontrollaufgabe
zu verringern, haben wir die Chance, dass die Entbürokratisierung ein wirklich breites Programm wird und
nicht einfach eine Forderung, die man in den Raum
stellt. Wer die Politik im Bund und in den Ländern
kennt, der weiß, dass es seit vielen Jahren überall große
Entbürokratisierungskommissionen gibt, die wenig umgesetzt haben.
Ich will es noch einmal sagen: Unser Staatsverständnis
und die Frage, ob vom Staat alles Gute, das es bei uns gibt,
permanent überwacht und kontrolliert werden muss und
ob die damit verbundenen Dokumentationspflichten, zum
Beispiel beim Handwerk, aufrechterhalten werden müssen, gehören auf den Prüfstand, wenn wir die Entbürokratisierung in Deutschland wirklich ernst nehmen.
Ein weiteres Problem für viele Betriebe ist die Liquidität. Den Rückzug der Privatbanken aus der Verantwortung habe ich angesprochen. Es kommt darauf an, was genau die neue Mittelstandsbank tun wird. Ich glaube, dass
ein wesentliches Element sein muss, die vielen Förderprogramme in Deutschland zu vereinfachen. Hier muss
eine Interaktion, eine Zusammenarbeit mit den Landesbanken und deren Programmen stattfinden; sonst kann
das nicht funktionieren. Wir müssen uns vor allem fragen
- das halte ich für einen wichtigen Punkt -, ob die neue
Mittelstandsbank auch Innovationen des Mittelstands finanzieren kann, soweit sie von Hausbanken nicht übernommen werden können.
Ich komme zum Schluss und will für meine Fraktion
feststellen: Wir glauben, dass man in Deutschland sehr
viel für den Mittelstand tun kann.
({26})
Strukturreformen sind dabei entscheidend. Ich fordere Sie
auf, dabei nicht die Haltung, die Bundesregierung sei
schuld, an den Tag zu legen, sondern in den nächsten Monaten mit eigenen machbaren Vorschlägen, zum Beispiel
in Bezug auf die Steuerpolitik und die Haushaltskonsolidierung,
({27})
in Erscheinung zu treten. Dies sind Sie nämlich bisher
nicht.
Wir Grüne haben Lust, diesen Reformprozess mitzubetreiben.
({28})
Wir gehören zu der Allianz, die Sie, Herr Minister, eingefordert haben. Ich kann nur betonen: Alle Menschen in
Deutschland, die etwas unternehmen, die Risiken eingehen wollen, haben in meiner Partei bzw. in meiner Fraktion einen Bündnispartner. Denn wir wollen einen Prozess
in Gang setzen, der dazu führt, dass in Deutschland Reformen stattfinden und wir nicht den Status quo verteidigen oder uns einfach in Wolkenkuckucksheimdiskussionen, wie das Herr Merz getan hat, vergnügen. Ihre Rede,
Herr Merz, war zwar vergnüglich; aber Vorschläge der
Union sind nicht auf den Tisch gelegt worden. Diese hätten heute kommen müssen, damit man sieht, was Sie vorhaben.
Ich danke Ihnen.
({29})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kuhn, Sie haben heute eine Wutrede gehalten. Ich erlaube mir den Hinweis: Wir können nichts dafür, dass Sie
nicht mehr Vorsitzender der Grünen sind und jetzt Herrn
Schulz, einen geschätzten Kollegen, aus der Wirtschaftspolitik verdrängen.
({0})
Ihre permanenten Hinweise auf die Weltwirtschaft
als Ursache der aktuellen Situation sind unerträglich. Es
gibt nicht zwei Typen von Weltwirtschaft: eine, die eine
böse Verschwörung gegen uns Deutsche ist und in der
wir arbeiten müssen, und eine wohl gesonnene Weltwirtschaft, in der die Engländer, die Holländer, die
Schweden und die Amerikaner arbeiten. Es gibt nur eine
Weltwirtschaft. Wenn wir in dieser einen Weltwirtschaft, wie sie sich heute darstellt, schlechter dastehen
als alle anderen, dann ist dies hausgemacht und dann
liegt dies an den Problemen in Deutschland und nicht
am Ausland.
({1})
Ihre Ausflüchte, die Opposition rede, wenn sie ihre
Aufgabe wahrnimmt, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und Alternativen aufzuzeigen, das Land schlecht, sind
eine Unverschämtheit.
({2})
Noch dürfen wir hier frei reden und unsere Meinung
äußern. Sie sollten nicht mit einer Attitüde auftreten, als
ob dieses Land Ihr Eigentum wäre. Verwechseln Sie nicht
Ihre Aufgabe; dieser Staat ist nicht das Eigentum von
Grün-Rot, sondern des ganzen Landes.
({3})
Nach fünf Jahren Regierungszeit wird es allmählich
unerträglich, dass Sie ständig auf die Vergangenheit verweisen. Wirtschaftsgeschichte ist zwar ein interessantes
Thema, aber wer beim Autofahren ständig in den Rückspiegel schaut, Herr Kollege Kuhn, fährt an die Wand.
Schauen Sie einmal durch die Frontscheibe! Dann sehen
Sie die reale Lage in der Republik.
({4})
Ich erlaube mir auch folgenden Hinweis, Herr Kuhn:
Wir haben keine Konjunkturkrise, wie Sie sagten, sondern
eine Strukturkrise, weil die Struktur in diesem Land nicht
stimmt, weil wir falsch aufgestellt sind. Deshalb wirken
sich die Veränderungen in der Welt in Deutschland ungleich stärker als in benachbarten europäischen Ländern
aus. Dafür sind Sie verantwortlich,
({5})
weil Sie seit fünf Jahren die falsche Politik machen. Die
größte Fessel für den Mittelstand in Deutschland ist diese
grün-rote Regierung.
({6})
Jetzt, kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, entdeckt Grün-Rot den Mittelstand. Ich habe heute etwas
über den Masterplan und den Small-Business-Act gelernt;
jeden Tag gibt es einen neuen bunten Luftballon, Herr
Clement, aber entscheidend sind Taten, nicht das Design
von Worten und ein Wortgeklingel. Reden Sie nicht nur
vom Kündigungsschutz, sondern verändern Sie etwas.
Geben Sie denen, die draußen stehen, eine Chance; weichen Sie nicht zurück, wenn Ihre Betonfraktion nicht bereit ist, über neue Ansätze nachzudenken.
({7})
Ein Bundeswirtschaftsministerium muss ein ordnungspolitisches Gewissen sein. Es muss von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen und darf keine Propagandamaschine sein, die jeden Tag einen neuen Spruch erfindet,
neue Offensiven verkündet und Nebelkerzen wie den Jahreswirtschaftsbericht wirft. Der Minister hat bis vor wenigen Tagen noch von 1,5 Prozent Wachstum und 4 Millionen
Arbeitslosen gesprochen. Jetzt wird das zurückgenommen;
mit einem voraussichtlichen Wachstum von 1 Prozent liegen Sie immer noch am oberen Rand sämtlicher Prognosen
aller Wirtschaftsforscher und aller Bankinstitute, die sich
mit Wirtschaftsentwicklung beschäftigen. Sie können
glücklich sein, wenn dies eintritt, aber auch das werden Sie
nicht schaffen. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Der Zusammenhang ist ganz klar: Die Steuern und Abgaben steigen, die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachstum sinkt. Es gibt einen Sektor in Deutschland, der zulegt:
Das ist die Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist die Ausweichreaktion vieler, weil Sie ihnen mit unerträglichen
Belastungen, mit Abgaben und Steuern die Chance nehmen, durch anständige, tüchtige Arbeit das zu verdienen,
was möglich wäre, wenn man entsprechende Rahmenbedingungen gewährleistete.
({8})
Das, was Sie im Jahreswirtschaftsbericht ansprechen,
nennen Sie Allianz für Erneuerung. Das ist schon ein
dreister Begriff. Diese grün-rote Regierung ist keine Allianz der Erneuerung, sondern eine Allianz der Verteuerung und der Verschlechterung der Bedingungen für den
Mittelstand in Deutschland.
({9})
Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist - es bringt 17 Milliarden Euro Zusatzbelastungen -, zeigt doch, dass es in die falsche Richtung
geht. Ich frage mich immer wieder: Was hat der deutsche
Mittelstand dieser grün-roten Regierung getan, weswegen
er so mies behandelt wird? Irgendwo müssen Sie doch
eine psychologische Sperre haben; anderenfalls würden
Sie nicht permanent in die falsche Richtung gehen.
Die selbst ernannte Mittelstandsexpertin Frau Scheel
spricht von Mehrwertsteuererhöhung; anschließend wird
es weich dementiert. Ein anderer fordert die Vermögensteuer bzw. die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Ihr wichtigster Koalitionspartner, der DGB, fordert in Person von
Herrn Sommer eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um
2 Prozentpunkte. Sie schaffen ein Klima, in dem die Menschen verzweifeln müssen und als Konsumenten ihr Geld
in einem Eichhörncheneffekt zurückhalten, weil sie nicht
wissen, ob sie ihren Job behalten oder, wenn sie ihn verlieren, wieder einen bekommen. Diejenigen, die investieren würden und auch müssten, sagen: Wir warten einmal
ab, was denen noch Neues einfällt, welche weitere Sau
durchs Dorf getrieben wird, welche neuen Belastungen
nach den beiden Landtagswahlen von der Regierung
kommen. - Ich ahne da nichts Gutes. Wahrscheinlich betreiben Sie schon die Vorbereitungen für eine Mehrwertsteuererhöhung.
({10})
Unter dem Stichwort Mittelstandinitiative kündigen
Sie an, für Betriebe mit einem Umsatz von bis zu
17 000 Euro Steuererleichterungen zu gewähren.
({11})
- 17 500. - Selbst wenn man Umsatz mit Gewinn verwechselt - Umsatz gleich Gewinn ist absurd -, käme man
auf monatlich nur etwas mehr als 1 000 Euro.
({12})
Wo ist da der Appeal, der Anreiz, in die Existenzgründung
zu gehen, zumal ständig neue Verschlechterungen eintreten?
Die Kammerbeiträge sollen für die kleinen Betriebe
abgeschafft werden. Die Realität ist, dass die meisten
Kammern in Deutschland das schon längst getan haben,
ohne dass es dazu einen Appell der Bundesregierung gegeben hätte.
({13})
Zum Thema Ladenschluss. Sie kündigen an, die Ladenöffnungszeit am Samstag um vier Stunden zu verlängern. Geben Sie den Ladenschluss doch in der Woche frei!
({14})
Auch das geschieht nicht. Seien Sie doch konsequent!
Sie betreiben folgende Politik: Sie verschlechtern die
Bedingungen. Sie verschärfen den Kündigungsschutz. Sie
verstärken die Mitbestimmung. Sie erhöhen die Sozialabgaben. Dann nehmen Sie die Mehrbelastung um ein kleines Stückchen zurück und sagen, das sei eine Großtat, mit
der Sie die Bedingungen in Deutschland verbesserten.
Das ist ungeheuerlich! Machen Sie es doch gleich richtig!
({15})
Im Kern macht die Bundesregierung zwei Dinge
falsch. Sie hat erstens nicht verstanden, dass die soziale
Marktwirtschaft ein ganzheitliches System ist. Man muss
wissen, dass jede einzelne Maßnahme Auswirkungen hat.
Schon die Gründungsväter haben vor punktuellem Handeln und vor Interventionismus - das ist die alte industriepolitische Denke - gewarnt. Sie müssen klare Rahmenbedingungen schaffen. Die Politik muss berechenbar
sein und Vertrauen auslösen. In der Wirtschaft geht es
immer um das Rechnen. Wenn die Entwicklung nicht berechenbar ist, kann man keine Entscheidung treffen. Wenn
man dennoch entscheidet, trifft man die falsche Entscheidung. Deshalb muss eine klare Linie erkennbar sein. Das
ist nicht der Fall, weil Sie durch hektischen Aktionismus
nur von eigenen Fehlentscheidungen ablenken wollen.
({16})
Zweitens. Im Kern verweigern Sie dem deutschen Mittelstand Freiheit. Das Steuerthema ist im Kern ein Freiheitsthema; denn entscheidend ist: In welchem Umfang
können die Menschen, seien es Handwerksmeister oder
auch Arbeitnehmer, selbst über die Verwendung dessen
entscheiden, was sie sich hart erarbeitet haben? Bei einer
Staatsquote von fast 50 Prozent nehmen Sie ihnen die
Freiheit. In der Tat ist die Frage: Ist es noch eine soziale
Marktwirtschaft, wenn die Hälfte dessen, was erwirtschaftet wird, über den Staat gelenkt wird? Ludwig Erhard
würde aus dem Grab steigen, wenn er so einen Quatsch
hörte wie den, bei einer sozialen Marktwirtschaft könnte
man einen Staatsanteil von 50 Prozent haben.
({17})
Bürokratieabbau - ein wunderschöner Ladenhüter;
davon reden wir alle schon lange. Weshalb geben Sie
Kommunen und Ländern nicht über Experimentierklauseln die Möglichkeit, Gesetze befristet außer Kraft zu setzen?
({18})
Wir haben es beim Planungsbeschleunigungsgesetz ja gehabt, und zwar mit großem Erfolg. Geben Sie ihnen doch
diese Möglichkeit! Viele werden gar nicht merken, wenn
Gesetze sozusagen verschwinden, weil sie eh Unsinn sind
und weil sie nur diejenigen, die damit arbeiten müssen,
zusätzlich verunsichern.
Weshalb gehen Sie nicht konsequent an die Reform der
sozialen Sicherung heran? Die Riester-Rente ist im Kern
ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist zu kompliziert und reicht nicht aus. Sie müssen die Lohnnebenkosten senken. Sie reden im Jahreswirtschaftsbericht davon, dass sie auf 40 Prozent gesenkt werden. Das wären
13 Milliarden Euro weniger. Machen Sie es! Ich sehe nirgends einen Ansatzpunkt dafür, dass Sie bei den Sozialbeiträgen eine konkrete Entlastung in Höhe von 13 Milliarden Euro, sprich: 26 Milliarden DM, vornehmen; im
Gegenteil: Die Sozialbeiträge steigen weiter. Die Quote
liegt bei dicken 42 Prozent.
Das Tarifkartell ist überholt. Sie wissen wie wir, dass
im Osten Deutschlands, aus der Not heraus, fast 70 Prozent aller Arbeitsplätze außerhalb des geltenden Tarif1678
vertragsrechts sind. Die alle sind, wenn Sie so wollen,
rechtswidrig. Niemand geht daran - aus gutem Grund. Jeder, der darangehen würde, würde die Arbeitslosigkeit im
Osten verdoppeln oder verdreifachen. Weshalb lernen Sie
daraus nicht, dass wir mehr Spielräume in den Betrieben
und auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten der betroffenen Arbeitnehmer brauchen? Es ist ihr Job. Es ist ihre Lebensperspektive. Geben Sie ihnen doch die Freiheit, über
ihr Schicksal ein Stück weit zu entscheiden, statt einer
Funktionärsfremdbestimmung unterworfen zu sein!
({19})
Zu vieles ist noch in Beton gegossen. Was wir brauchen,
sind Luft und Freiheit, damit wir uns entfalten können.
({20})
Der Mittelstand ist viel besser, als Sie denken. Lassen Sie
die Leute doch endlich arbeiten, damit sie Erfolg haben
können, und legen Sie nicht ständig Handschellen an! Wir
müssen in Deutschland tausend Handschellen abnehmen.
Die Lösung heißt Freiheit und die verweigern Sie.
({21})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Bei dem Auftritt von Herrn Brüderle
gerade musste man Sorge haben, dass er genügend Luft
bekommt. Bei der Dröhnung, mit der Sie hier vorgetragen
haben, Herr Brüderle, haben viele vermutet, dass Ihnen
die Luft ausgeht; denn es war viel heiße Luft und Sie haben damit sicherlich keinen Beitrag dazu geleistet, dem
Mittelstand und den Menschen, die im Mittelstand beschäftigt sind, tatsächlich zu helfen. Ich finde, das war
kein konstruktiver Beitrag, der uns nach vorne bringt.
({0})
Es ist schon vieles in Aussicht gestellt worden, was die
Bundesregierung heute angesprochen hat. Der Wirtschaftsminister hat - meines Erachtens zu Recht - darauf
hingewiesen, dass die Stimmung in der Wirtschaft
- auch im Mittelstand - deutlich schlechter ist als die
tatsächliche Lage. Ich will das alles nicht wiederholen. All
diejenigen, die in den vergangenen Wochen und Monaten
das Bild der Wirtschaft geradezu lustvoll grau in grau gemalt haben, sollten sich fragen, ob sie ihrer Verantwortung
für das Land und für die Menschen in diesem Land gerecht geworden sind.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind
bei den Miesmachern in unserem Land an vorderster
Front. Man braucht sich nur den Wortlaut Ihres Antrages
für die heutige Debatte anzuschauen: von einer objektiven
Analyse der Lage keine Spur. Stattdessen unentwegt Vorwürfe, Anklagen, Schlechtreden, Ängste Verbreiten: Das
ist Ihr Programm. Sie haben das Mittelstandsrhetorik genannt. Damit helfen Sie den Menschen in diesem Land
nicht einen Millimeter weiter.
({1})
Sie tun so, als ob die deutsche Volkswirtschaft, umgeben
von blühenden Volkswirtschaften, wegen der Politik der
rot-grünen Bundesregierung von einer Krise in die andere
schlittert.
({2})
Sie verlieren in Ihrem Antrag kein Wort zu der nun schon
mehr als zwei Jahre andauernden weltweiten Wirtschaftsflaute. Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht seriös. Was Sie da behaupten, hilft in der Tat nicht weiter,
Wirtschaftswachstum in diesem Land zu beflügeln.
({3})
Richtig ist vielmehr: Wir haben mit der Wiedervereinigung finanzielle Belastungen zu tragen, die unvermeidlich sind.
({4})
- Sicher, Herr Schauerte. Sie sollten einmal zuhören, Sie
können hier viel lernen.
({5})
Natürlich hat jeder vernünftige Mensch in diesem Lande
die Belastungen mitzutragen. Er trägt sie auch gern; das
muss immer wieder gesagt werden. Die wirtschaftliche
Entwicklung in diesem Land wird aber durch diese Belastungen beeinflusst - und das schon seit über zwölf Jahren.
Was haben Sie uns übergeben? Wir haben heute große
Worte von Ihnen gehört. Herr Merz hat vergessen, dass
Sie uns 1998 1,5 Billionen DM Schulden übergeben haben, dass Sie höchste Steuerbelastungen übergeben haben
und dass die höchsten Sozialversicherungsbeiträge von
Ihnen übergeben worden sind.
({6})
Wir haben die Schulden gesenkt, wir haben die Steuern
zurückgeführt und wir haben die Sozialversicherungen
konsolidiert.
({7})
Von gesunder Volkswirtschaft brauchen Sie uns nichts zu
erzählen, davon haben Sie nämlich keine Ahnung.
Lassen Sie mich klar sagen: Circa 70 Milliarden Euro
an Nettotransfers gehen auch jetzt noch Jahr für Jahr in die
neuen Bundesländer. Davon werden drei Viertel für den
privaten und öffentlichen Konsum verwandt. Die Europäische Kommission hat im letzten Jahr ausgerechnet, dass
zwei Drittel der Wachstumsschwäche Deutschlands im
Vergleich zu den anderen EU-Ländern den direkten und indirekten Auswirkungen der Belastungen aus dem Prozess
der Wiedervereinigung geschuldet sind. Das ist keine
Ausrede. Vielmehr muss es uns ein Ansporn sein, das
Reformtempo in Deutschland aufrechtzuerhalten, ja zu
beschleunigen. Die Wiedervereinigung zwingt uns, ein
gegenüber unseren europäischen Partnern höheres Reformtempo anzuschlagen. Wir haben einen höheren Reformbedarf. Diesen Reformbedarf haben Sie in den
90er-Jahren nicht erkannt. Sie sind Ihren Ansprüchen
nicht gerecht geworden.
({8})
- Sie sind langsam, das geben Sie zu. Sehr schön, Herr
Schauerte, das ist ja schon ein Stück weit Einsicht. Es
klingt in der Tat überzeugend, wenn das ein Signal ist und
Sie sagen: Wir geben unsere Fehler zu. - Von dieser Basis aus können wir gemeinsam etwas nach vorne entwickeln. Ich finde, das ist ein positives Zeichen.
({9})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu
den angeblich extrem hohen Abgabenbelastungen in
Deutschland sagen. Wir wissen, über die Abgabenbelastungen kursieren viele, auch bewusst missverständliche
Zahlen. Für den internationalen Vergleich gebräuchlich ist
die Gesamtabgabenquote an Steuern und Sozialabgaben.
Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlichte
in seinem Heft 2002 „Deutschland in Zahlen“ für
Deutschland eine Abgabenquote in Höhe von 37,8 Prozent. Damit liegen wir zum Beispiel weit hinter Finnland
mit einer Abgabenquote in Höhe von 46,5 Prozent, Dänemark mit 45,5 Prozent, den Niederlanden mit 41,8 Prozent, Schweden mit 53,3 Prozent und liegen praktisch
gleichauf mit Großbritannien mit 37,7 Prozent. Soweit die
Fakten.
Betrachtet man allein die steuerliche Entwicklung,
muss auch das Institut der deutschen Wirtschaft - dies ist
nun in der Tat kein Institut der sozialdemokratischen Partei - feststellen, dass wir die Weichen für eine konsequente Steuersenkung in kalkulierbaren Stufen bis zum
Jahre 2005 gestellt haben. Beim Grundfreibetrag, also
dem Einkommen, für das keine Einkommensteuer gezahlt
werden muss, verbessert Deutschland seine internationale
Position auf eine Spitzenposition. Es nimmt Platz vier im
internationalen Vergleich ein.
Unabhängig davon bleibt es für uns auch in Zukunft ein
zentrales politisches Thema, weiter auf eine allmähliche
Abgabensenkung hinzuwirken.
({10})
- Wäre ich in Ihrer Situation, Herr Schauerte, würde ich
nicht solche lockeren Sprüche machen. Was Sie vorzulegen haben, bewirkt genau das Gegenteil.
({11})
Hier ist auch die Steuerpolitik der Bundesregierung
nach der Bundestagswahl angesprochen worden. Eines
muss klar sein: Die Bundesregierung und der Gesetzgeber
haben ein Problem zu lösen, und zwar hier und heute. Die
Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind unterfinanziert. Es besteht vordringlicher Handlungsbedarf;
wir wissen das. Hier kann man sich nicht wegmogeln.
Hier müssen Vorschläge auf den Tisch und hier müssen
Entscheidungen für unsere Bürgerinnen und Bürger getroffen werden, schmerzliche Entscheidungen, wie jeder
in diesem Hause weiß.
Es ist mehr Ehrlichkeit angesagt. Es darf nicht auf der
einen Seite Subventionsabbau gefordert werden und auf
der anderen Seite dann, wenn es konkret wird, „Haltet den
Dieb!“ gerufen werden, von Zusatzbelastungen geredet,
aber nicht Ross und Reiter genannt werden. Dies ist keine
faire, solide Politik.
Ich denke an die Einnahmeverbesserungen der Länder.
Das Land Hessen beispielsweise hat eine Einnahmeverbesserung aufgrund des Steuerreformpakets in Höhe von
140 Millionen Euro in seinen Haushalt eingestellt, obwohl
das Bundesfinanzministerium für das Land Hessen eine
Verbesserung der Steuereinnahmesituation in Höhe von nur
122 Millionen Euro errechnet hat. Dies zeigt nur zu gut, wie
unsozial und unsolide der hessische Haushalt finanziert ist.
Dies spricht nicht dafür, wie die Opposition hier antritt,
nämlich mehr Solidität in der Steuerpolitik zu verlangen.
({12})
Wir haben einen Mix von Ausgabenkürzungen, die im
Übrigen alle Gruppen unserer Gesellschaft betreffen, zusätzlicher Neuverschuldung und Abbau von Steuervergünstigungen vorgeschlagen. Man kann darüber diskutieren. Wenn man aber solche Vorschläge verwirft, haben der
Bundesfinanzminister und auch die Länderfinanzminister
sowie die Gemeindekämmerer ein Recht darauf, zu wissen, wie das Loch in ihrer Kasse gestopft werden soll.
({13})
Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz werden wir
im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu Änderungen kommen.
({14})
Das ist völlig klar. Aus wirtschaftspolitischer Sicht will
ich hier nur einige Stichworte nennen. Wir wollen sicherstellen, dass die überwiegende Mehrheit der Unternehmen ihre Verluste auch weiter verrechnen kann. Von der
Mindestgewinnbesteuerung sollen daher im Wesentlichen
nur die großen Kapitalgesellschaften betroffen sein. Wir
wollen dafür sorgen, dass die Abzugsfähigkeit von Werbegeschenken voll erhalten bleibt. Über den abzugsfähigen Betrag wird noch zu reden sein.
Ein weiteres Stichwort ist das Lifo-Verfahren. Wir sind
auch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Kombiprodukte sowie für gartenbauliche Erzeugnisse.
({15})
Dies sind aus meiner Sicht diskussionswürdige Punkte,
über die wir reden müssen.
Wir machen mit unserem Antrag der mittelständischen
Wirtschaft ein Angebot, über das wir gemeinsam reden
sollten, weil wir damit dem Mittelstand und den Menschen in diesem Land einen guten Dienst erweisen. Der
Small-Business-Act wird zügig auf den Weg gebracht
werden, ohne den die Ich-AGs nicht vernünftig ans Laufen kommen können. Entscheidend dabei sind die Novellierung der Umsatz- und Einkommensteuergesetze und
die Flexibilisierung der Handwerksordnung. Dabei,
meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie
kräftig mithelfen, damit genau dies möglichst bald in
Form von Gesetzen umgesetzt werden kann.
Wir wissen, die Finanzierungssituation kleinerer und
mittlerer Unternehmen ist dramatisch. Banken befinden
sich aufgrund ihrer eigenen Probleme selbst in einer sehr
schwierigen Lage. Die Frage, ob fremd verschuldet oder
selbst verschuldet, ist ein weites Feld. Entscheidend ist
vielmehr: Der Staat muss mit seiner Förderpolitik, insbesondere der Steuerpolitik, helfen, die Eigenkapitalausstattung zu verbessern. Hierzu müssen Möglichkeiten entwickelt werden, wie privates Beteiligungskapital für den
Mittelstand stärker als bisher mobilisiert werden kann.
Mit dem Masterplan Bürokratieabbau muss ein
flächendeckender Ansatz für den Abbau von Bürokratie
und bürokratischen Belastungen der Wirtschaft insgesamt
und insbesondere des Mittelstandes so schnell wie möglich
auf den Weg gebracht werden. Dabei müssen Effizienz und
Kostensenkung die beiden zentralen Maßstäbe sein. Bürokratieabbau darf aber nicht zum puren Sozialabbau durch
die Hintertür missbraucht werden. Auch das muss in diesem Zusammenhang einmal deutlich gesagt werden.
({16})
Das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die wir erarbeitet haben,
werden, Herr Hinsken, zu mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt führen, die insbesondere dem Mittelstand zugute
kommen wird.
({17})
Das wird dem Mittelstand deshalb nutzen, weil er im Unterschied zu Großunternehmen gerade keine eigenen Personalabteilungen vorhält. Eine gute Arbeitsvermittlung
spart dem typischen Mittelstand deshalb eine enorme
Menge Geld und auch Zeit.
({18})
Deshalb ist es wichtig, dass wir das Netz der PersonalService-Agenturen ganz schnell leistungsfähig ausbauen, weil genau diese Agenturen helfen, aus dem Dilemma beim Kündigungsschutz herauszukommen. Auf
der einen Seite gibt es für das mittelständische Unternehmen, also für den Entleiher, volle Flexibilität, auf der anderen Seite besteht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei einer Personal-Service-Agentur beschäftigt sind, ein sozialer Schutz.
({19})
Das ist ein intelligenter Ansatz auch für Entbürokratisierung und für die notwendige Flexibilisierung, die die mittelständische Wirtschaft zu Recht einfordert.
In diesem Zusammenhang will ich ein Wort zu Herrn
Merz sagen, der hier das Jobfloater-Modell angesprochen hat. Seine Rede ist wieder ein Beispiel dafür, dass er
nicht auf der Höhe der Zeit ist. Insgesamt liegen nämlich
nicht nur 121, sondern über 300 Anträge vor.
({20})
Über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind ein Beispiel
dafür, dass dieses Modell funktioniert. Wir sollten es deshalb besser „bekanntreden“ und nicht schlechtreden.
({21})
Das, was Herr Merz hier vorgetragen hat, ist ein Beispiel
für schlechtreden. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, das hier noch sagen zu können.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({22})
Fest steht: Mit Wahlkampfreden ist dem Mittelstand nicht
geholfen. In einer Zeit, in der Menschen Zuversicht, Mut
und Ideen erwarten, agitieren Sie das Land, verunsichern
Sie und reden klein. So helfen Sie dem Mittelstand und
den Beschäftigten dort nicht. Sie haben mit Ihrer Debatte
dem Mittelstand und den Menschen in diesem Lande
einen Bärendienst erwiesen.
({23})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Clement, Sie fordern Mutmacher statt Miesmacher.
({0})
Wenn ich mir aber Ihren Jahreswirtschaftsbericht oder
Ihre so genannte Mittelstandsoffensive anschaue, muss
ich feststellen, dass Sie keines von beiden sind. Sie sind
ein Schönredner par excellence.
({1})
Diese Regierung ist doch nicht gewählt worden, um
schöne Worte zu machen oder nur über die Krise zu reden;
sie ist gewählt worden, damit sie diese Krise überwindet.
Worte allein werden nicht helfen. Sie müssen Taten folgen
lassen. Doch was diese Taten sind, das steht bis jetzt noch
immer in den Sternen.
({2})
Im Jahreswirtschaftsbericht steht - ich zitiere -:
Die Rahmenbedingungen für eine Festigung von
Vertrauen der Konsumenten und Investoren sind
günstig.
Ich frage mich: In welchem Bereich sind die Rahmenbedingungen denn günstig? Wo gibt es denn Vertrauen? Die
Menschen sind verunsichert. Sie trauen Ihnen nicht mehr
zu, dass Sie durch Ihre Politik die Arbeitsmarktprobleme
angehen oder die Sozialversicherungssysteme reformieren. Warum gehen denn die Menschen von Flensburg bis
Passau gegen Ihre Politik auf die Straße? Das müssen Sie
sich fragen.
({3})
Weiter lese ich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht - ich
bitte Sie aufzupassen -:
Die Bundesregierung setzt ihre wachstums- und beschäftigungsfreundliche Steuersenkungspolitik fort.
Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Sie sagen, Ihre Politik sei beschäftigungsfreundlich sowie
wachstums- und steuersenkend.
({4})
Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, dass das
Wachstum im letzten Jahr nur 0,2 Prozent betrug? Das ist
Stagnation und kein Wachstum. Auch in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mussten Sie die Zahlen nach unten revidieren. Wir alle wissen ganz genau, dass nur die Exportzahl von fast 3 Prozent eine Rezession verhindert hat.
Ich muss Ihnen sagen: Hören Sie endlich mit Ihrem Ammenmärchen auf, wonach allein die Weltkonjunktur
Schuld sei! Ohne den Außenhandel wäre in unserem Land
schon längst das Licht ausgegangen.
({5})
Das war es zum Thema Wachstum.
Jetzt komme ich zu dem Thema „beschäftigungsfreundliche Politik“. Fakt ist - es ist für uns wenigstens
ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Sie das inzwischen
selbst erkannt haben -, dass es in diesem Jahr 140 000 Arbeitslose mehr geben wird. Im Durchschnitt werden es
4,2 Millionen sein. Wo ist hier die Perspektive? Für Millionen von Arbeitslosen wird auch das Jahr 2003 ein Jahr
der Hoffnungslosigkeit bleiben.
({6})
Wie sieht es mit der Steuersenkung aus? In den kommenden Jahren wird es - dies ist so beschlossen - zu einer Mehrbelastung kommen. Allein in diesem Jahr werden es 27 Milliarden Euro sein. Wo soll hier ein Zuwachs
des privaten Konsums herkommen? Wie sollen die Menschen die Binnenkonjunktur anregen, wenn sie netto immer weniger Geld in der Tasche haben? Die Menschen
werden es am Ende des Monats merken: Sie werden wieder weniger Geld in der Tasche haben.
Lassen Sie uns das zusammenfassen: Was haben wir?
Beim Wachstum haben wir einen Stillstand, bei der Beschäftigung haben wir einen Rückschritt und bei den Steuern haben wir Mehrbelastungen. Es bleiben die Sozialausgaben. An die gehen Sie nicht heran, weil Sie sich
nicht an sie herantrauen. Das heißt, auch zukünftig werden die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Aufgrund Ihrer
Politik müssen wir auch weiterhin mit steigenden Lohnnebenkosten rechnen.
({7})
Das ist fatal für den Mittelstand, weil gerade der Mittelstand personalintensiv ist. Er leidet am meisten unter den
hohen Lohnnebenkosten.
Drei Viertel aller mittelständischen Betriebe wollen in
diesem Jahr noch weniger investieren als letztes Jahr, wobei auch letztes Jahr schon fast nichts mehr investiert
wurde. Nur noch 17 Prozent sprechen von Personaleinstellungen und nur 15 Prozent sprechen von steigenden Erträgen. Das Handwerk hat im letzten Jahr über
300 000 Menschen entlassen.
({8})
Eine Pleite jagt die nächste.
Alle, die wir hier sitzen, dürfen eines nicht vergessen:
Die Arbeitslosigkeit werden wir nur mit dem Mittelstand
bekämpfen können, sie wird im Mittelstand entschieden.
({9})
Herr Clement, der Mittelstand braucht keinen GuteLaune-Minister, sondern er braucht einen Minister, der
anpackt,
({10})
der eine echte Mittelstandspolitik betreibt und sich gegen
die Besitzstandswahrer sowie Gewerkschaftsfunktionäre
durchsetzt. Herr Minister, wenn Sie eine echte Mittelstandspolitik auf den Weg bringen, haben Sie uns auf Ihrer Seite.
({11})
Dann können Sie damit rechnen, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.
({12})
Wenn ich mir Ihre bis jetzt vorgelegten Papiere ansehe,
frage ich mich: Wo ist das Anpacken? Wo ist das Zugreifen? Wo sind wegweisende Reformen, die uns nach vorne
bringen?
({13})
Sie machen nur eine Ankündigung nach der anderen:
Kleinststeuern, Masterplan, Änderung des Kündigungsschutzes, Sonderwirtschaftszonen.
Erst gab es jede Woche eine neue Idee, inzwischen
wird uns jeden Tag eine neue Idee auf den Tisch gelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich kann
Ihnen nur einen guten Rat geben: Holen Sie einmal Luft
und setzen Sie die Ideen um. Am besten setzen Sie erst
einmal eine Idee richtig um, sodass es wenigstens ein wenig nach vorne geht.
({14})
Sie loben den so genannten Small-Business-Act. Die
Grenze liegt bei einem Jahresumsatz von 17 500 Euro.
Wer ist denn zukünftig davon betroffen?
({15})
Nicht einmal 10 Prozent aller kleineren und mittleren Betriebe werden eine kleine Entlastung erfahren. Das Gros
des Mittelstandes bleibt außen vor. Daneben sprechen Sie
davon, Betriebsübergänge zu erleichtern. Wie das gehen
soll und was Sie vorhaben, sagen Sie aber nicht. Sie sprechen davon, dass die Bürokratie abgebaut werden muss.
Das ist vollkommen richtig; hier besteht ein eindeutiger
Konsens. Aber wie das gehen soll und was Sie vorhaben,
haben Sie nicht aufgeführt. Sie sprechen von Bürokratieabbau; das ist vollkommen richtig. Darüber herrscht
bei uns Konsens. Aber sagen Sie doch bitte einmal, wie
Sie das machen und wann Sie endlich damit anfangen
wollen.
({16})
Sie haben die Verbesserung der Zahlungsmoral angesprochen, Herr Minister. Das Einzige, was Ihnen dazu einfällt, ist, eine neue Arbeitsgruppe von Bund und Ländern
einzusetzen. Damit hat es sich. Aus. Ende.
Ein anderes wichtiges Thema ist die Mittelstandsfinanzierung. Das ist momentan das ganz große Problem
des Mittelstands. Er bekommt keine Kredite mehr, weil
seine Eigenkapitalquote so gering ist. 42 von 100 Unternehmen in Deutschland haben eine Eigenkapitalquote
von unter 100 Prozent. Das muss angegangen werden.
({17})
- Unter 10 Prozent. Wenn Sie der Deutschen Ausgleichsbank nur einen neuen Namen geben, nämlich den einer
Mittelstandsbank, bekommt kein einziger Mittelständler
zusätzlich einen Kredit; das sage ich Ihnen.
({18})
Ich muss sagen: Es ist immerhin eine tolle Leistung,
dass der Mittelstand um 35 bis 60 Millionen Euro entlastet werden soll. Auf der anderen Seite werden in Anwesenheit unseres Wirtschaftsministers am Kabinettstisch
allein für dieses Jahr neue Belastungen in Höhe von
27 Milliarden Euro beschlossen.
Bei Ihnen erfolgt eine Ankündigung nach der anderen.
Was ist denn jetzt mit dem Kündigungsschutz? In dem
Antrag steht nichts mehr davon. Was ist denn mit den
Sonderwirtschaftszonen? Auch davon höre ich nichts
mehr. Aber in den Zeitungen wurde das riesengroß und
plakativ angekündigt.
Jetzt wird ein neues Bündnis für Arbeit vorbereitet.
Hilft das dem Mittelstand? Der Mittelstand braucht keinen neuen Debattierklub. Der Mittelstand braucht Entlastungen, kein neues Bündnis für Arbeit. Er braucht weniger Bürokratie, weniger Lohnnebenkosten und geringere
Steuern.
({19})
Die Lohnnebenkosten zu senken ist eine sehr schwierige Aufgabe. Wir wissen, dass im Bereich der Krankenkassen und der Rente wirklich große Reformen anstehen.
Das ist uns allen in diesem Haus klar. Auch wissen wir,
dass diese großen Reformen Zeit brauchen werden.
Ebenso wie die Entlastungen können diese Reformen
nicht von heute auf morgen kommen. Deswegen müssen
wir nach einer Maßnahme suchen, mit der wir die Lohnnebenkosten schnell senken können. Hier bieten sich die
Arbeitslosenversicherungsbeiträge an.
Es ist notwendig, dass man die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von versicherungsfremden Leistungen entlastet. Mit der Idee, diese Beiträge um 1 Prozentpunkt abzusenken, stehen wir nicht alleine. Das steht sogar in einem
Papier der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Absenkung um
1 Prozentpunkt bringt 8 Milliarden Euro. Herr Gerster geht
davon aus, dass sich die versicherungsfremden Leistungen
auf gut 6 Milliarden Euro beziffern. Das Karl-Bräuer-Institut geht sogar von 15 Milliarden Euro aus.
Zudem muss ich fragen: Wollen wir das JUMP-Programm wirklich so lassen, wie es ist? Anscheinend hat es
keinen Erfolg. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt permanent an. Dafür müssen andere Maßnahmen durchforstet
werden, um zu überprüfen, welche versicherungsfremden
Leistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen
wirklich noch bezahlt werden müssen.
Thema Bürokratieabbau. Schauen Sie sich einmal an,
was die Länder auf diesem Gebiet machen. Hessen, Saarland und Bayern machen es Ihnen doch vor.
({20})
Dort werden Vorschriften und Rechtsverordnungen abgebaut. Warum erlassen Sie kein Gesetz, wonach in dieser
Wahlperiode jeden Monat mindestens zehn Verordnungen
abgeschafft werden müssen? Das ist nicht viel, aber Sie
machen damit Vorgaben.
({21})
Danach müssen für eine neue Verordnung zehn Verordnungen abgeschafft werden. Das wäre endlich ein Zeichen dafür, dass die Verwaltung Ernst macht und nicht
einfach nur daherredet. Lösen Sie Verkrustungen des Arbeitsmarktes auf. Betriebliche Bündnisse und das Günstigkeitsprinzip sind angesprochen worden, um nur einige
Stichworte zu nennen.
Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur sagen wir haben es bei den Minijobs und dem Gesetz gegen
Scheinselbstständigkeit gezeigt -: Wenn Sie vernünftige
Reformen auf den Weg bringen, die dem Mittelstand und
den Menschen in unserem Land helfen, wenn wir wissen,
dass sich wirklich etwas in die richtige Richtung bewegt,
werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben, Herr Minister.
({22})
Wir alle machen Ihnen dieses Angebot. Aber diese Reformen müssen in der Zukunft wirklich etwas bewirken und
dürfen keine Schaumschlägerei sein.
Vielen Dank.
({23})
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin
Wöhrl, Sie haben über das Lichtausgehen in unserem
Lande gesprochen. Aber nur dann, wenn man die Augen
vor allem verschließt, wird es richtig dunkel. Es scheint
eine beliebte Oppositionsmethode zu sein, Finsternis und
Unsicherheit zu verbreiten. In Ihrer Partei hieß das,
glaube ich, Sonthofen-Strategie.
({0})
Es handelt sich um ein allgemeines Schwarzmalen, damit
man selbst als Lichtgestalt erscheinen kann. Dieses Herunterreden hat Methode.
Ich mache mir die Dinge nicht einfach, weil die wirtschaftliche Lage wirklich schwierig ist.
({1})
Die Staatsfinanzen sind angespannt, die Arbeitslosigkeit
steigt, die Wirtschaftsprognosen sind unter einem starken
Vorbehalt zu sehen, weil wir nicht wissen, wie sich die Situation im Golfgebiet entwickeln wird. Wir stehen also
vor einer durchaus problematischen Situation.
An unseren Reformbemühungen waren Sie ja beteiligt;
ich weiß gar nicht, warum Sie hier keinen eigenen Stolz
entwickeln. Das Hartz-Konzept entfaltet auch erst mit
der Zeit Wirkung. Sie können hier keine Sofortlösung,
keine Instantwirkung erwarten. Aber im Jahreswirtschaftsbericht - das sollten Sie anerkennen - wurde ein
durchaus reelles Bild gezeichnet; es ist eine kritische
Würdigung der Situation. Vor allen Dingen beschreibt die
Bundesregierung, wie sie die Modernisierung und den
Strukturwandel fortsetzen will.
An dieser Stelle empfinde ich es als merkwürdig, dass
ausgerechnet diejenigen, die permanent einschneidende
Reformen fordern und nicht müde werden, Blut-,
Schweiß- und Tränenreden zu halten, also die neuen Fans
von „Blood, Sweat and Tears“, diese Flüssigkeiten nicht
in ihrem Gesicht sehen möchten.
({2})
Das „Handelsblatt“ schrieb richtigerweise, dass es in unserem Land eine gut organisierte Verantwortungsschizophrenie der Eliten gebe.
({3})
Diesen Punkt müssen wir beleuchten.
Wir reden heute über eine Mittelstandsoffensive als einen Teil der Wirtschaftspolitik. Es ist unredlich, wenn Sie
darauf herumhacken, noch dazu angesichts der dürftigen
Anträge, die Sie selbst vorgelegt haben. Darin finden sich
Versatzstücke und alte Programmbausteine, die an Dürftigkeit nicht zu unterbieten sind. Ihre Anträge enthalten
nur wenige konstruktive Punkte, über die man sich überhaupt streiten könnte. Das ist wirklich „Gute Nacht,
Deutschland“, Frau Wöhrl.
({4})
Reden wir also über das akute Problem der Mittelstandsfinanzierung. Hier ist die Regierung tätig geworden und hat eine Mittelstandsbank ins Leben gerufen. Ich
frage mich, wo denn die großen Verfechter der Privatisierung, die Kritiker der Staatswirtschaft, geblieben sind, als
die privaten Banken aus diesem Geschäft ausstiegen.
({5})
- Herr Meyer, wo ist denn Ihr Aufschrei über diese Frechheit der privaten Banken geblieben,
({6})
die Zinssenkungen der EZB nicht weitergeben zu wollen? Wo ist Ihr Aufschrei geblieben, wo ist der Anwalt der
Mittelständler?
({7})
Hier springt der Staat in die Bresche und leistet Mittelstandsfinanzierung aus einer Hand, weil es andere nicht
tun. Das ist doch die Wahrheit.
Sie sollten bitte auch nicht vergessen, dass wir bei
Basel II einen großen Erfolg errungen haben
({8})
und dass sich 95 Prozent der Mittelständler künftig besser
stellen werden, weil die geringe Eigenkapitalausstattung
gewährleistet ist und akzeptiert wird.
({9})
- Ja, aber die Bundesregierung hat es erreicht. Sie jedoch
haben es noch nicht einmal erwähnt.
({10})
- Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter.
Wir wollen natürlich nicht nur Existenzgründern den
Start erleichtern; denn Bürokratieabbau, Innovationsschübe, Technologietransfer und Verbesserung der Zahlungsmoral helfen vor allen Dingen bestehenden Unternehmen. Es ist uns doch klar, dass es wesentlich
kostengünstiger ist, bestehende Betriebe zu erhalten, als
neue aufzubauen und zu finanzieren. Niemand will Insolvenzen und wir steuern dagegen, so weit es geht. Aber Sie
müssen sich immer auch die Bilanz von Neugründungen
und Insolvenzen anschauen.
In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen die
Außenwirtschaftsinitiative hervorzuheben. Wir wollen
den Erfolg exportieren, den wir bei den erneuerbaren
Energien erreicht haben, und einen Beitrag zum globalen
Klimaschutz leisten. Den Unternehmen, die im Zuge des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes entstanden sind, wollen
wir eine Erweiterung ihres Marktes ermöglichen.
({11})
Professor Siebert, der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, hat in der gestrigen Ausgabe der „Welt“
einen offenen Brief mit der Frage „Was tun gegen die Arbeitslosigkeit?“ an uns geschrieben. Er verweist auf die
Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit schubweise immer
weiter gestiegen sei, dass die Zahl der Arbeitslosen seit
den 70er-Jahren in jeder Rezession um etwa 1 Million ansteige und in den guten Jahren der Konjunktur nicht gesenkt werde, dass hier also eine Fehlprogrammierung vorliege. Ich finde es in diesem Zusammenhang nun wirklich
abenteuerlich, wenn der Kollege Merz uns nach wie vor
die Chimäre erzählt, dass die Ökosteuer falsch sei. Im Gegenteil: Genau das ist das Instrument, mit dem wir umsteuern, um endlich die Belastung vom Faktor Arbeit auf
den Faktor Energie zu verlagern.
({12})
Die eigentliche Fehlsteuerung ist doch: Arbeit ist unverschämt teuer und wird durch jede Rationalisierung eingespart. 40 Prozent der Kosten in den Betrieben sind Arbeitskosten. Nur 5 Prozent sind Energiekosten. Diese
Diskrepanz müssen wir überwinden. Obwohl die Energie
ein wesentlich intensiverer Produktionsfaktor ist, belasten
Steuern und Sozialabgaben nur den Faktor Arbeit. Denjenigen, die immer auf Steuersenkungen drängen, sei gesagt: Die Auflistung der OECD zeigt doch ganz deutlich,
dass Deutschland ein Niedrigsteuerland ist, in dem die Sozialabgaben zu hoch sind. An dieser Stelle müssen wir ansetzen; das ist der eigentliche neuralgische Punkt.
Wir haben das mit der Ökosteuerreform getan. Sie ist
der erste mutige Schritt in die richtige Richtung; denn wir
haben Energie verteuert, um die Lohnnebenkosten um
1,2 Prozentpunkte zu senken. Das sollten gerade Sie nicht
gering schätzen; denn Sie haben es geschafft, von 1990
bis 1998 die Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent
- das sind 7 Prozentpunkte; das muss man sich einmal
vorstellen - zu erhöhen.
({13})
Wir haben dagegen, wie gesagt, die Lohnnebenkosten um
1,2 Prozentpunkte gesenkt. Das ist sicherlich - das gebe
ich gerne zu - noch zu wenig. Aber im Vergleich zu Ihnen
sind wir diametral vorangekommen.
({14})
Sie sind im Moment im Hochgefühl des zu erwartenden Wahlsiegs am kommenden Sonntag eigentlich nicht
mehr zu erreichen. Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf ich nehme an, nicht zum Wahlergebnis, sondern zu meinen Worten.
({15})
Ich komme Ihnen entgegen, weil ich glaube, dass Sie die
mit dem Wahlsieg verbundene größere Verantwortung
wahrnehmen möchten nach dem Motto - so kennen wir
Sie -: keine Blockade, sondern konstruktive Zusammenarbeit im Bundesrat! Sie wollen sich an der Lösung aller
Probleme beteiligen. Sie werden nach dem Jubel am
Wahlabend schnell feststellen, dass die Probleme in
Deutschland noch immer dieselben sind. Ich schlage Ihnen deshalb vor, sich zumindest an der Lösung eines Problems zu beteiligen, das Sie selbst mit verursacht haben:
Etwa 3 Prozentpunkte der Lohnnebenkosten sind noch
heute durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit
bedingt, also dadurch, dass wir die Sozialkosten in Ostdeutschland durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten finanziert haben. Bitte schön, beteiligen Sie sich an einer
Allianz für Erneuerung in Deutschland, damit wir die
Lohnnebenkosten um 3 Prozentpunkte senken können!
Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass es möglich ist, sich zu einigen. Wir sollten damit beim Faktor Arbeit beginnen. Das hätte auch Signalwirkung für das Bündnis für Arbeit; denn eine Senkung
der Lohnnebenkosten entlastet sowohl Arbeitnehmer als
auch Arbeitgeber, führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
und möglicherweise zur Mäßigung in den Tarifverhandlungen. Das ist der Beitrag der Union, den ich ab kommenden Sonntag erwarte. Ich bin sehr gespannt darauf.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Schulz, ich mag nicht glauben, dass Sie
Werner Schulz ({0})
wirklich nicht verstanden haben sollen, welche Probleme
die Firmen und die Menschen am Standort Deutschland
haben.
({1})
Sie haben ein weiteres Mal die schwache Ausstattung der
Unternehmen mit Eigenkapital beklagt. Lieber Herr Kollege Schulz, daran kann auch eine neue Mittelstandsbank
nichts ändern;
({2})
denn eine solche Bank kann die vielen Firmen, die größte
Not leiden, gar nicht auffangen. Es fehlt an einer konsequenten Umsteuerung in der deutschen Politik. Sie sollten
zum Beispiel keine Politik betreiben, die die kleinen Gewinnmargen der Unternehmen, die hier und da vorhanden
sind, wegbesteuert, sondern mehr Freiraum schaffen.
({3})
Herr Minister Clement, ich hoffe, Sie erkennen, dass
wir in Deutschland inzwischen ein weiteres riesiges Problem haben: Die Menschen in diesem Land haben das Vertrauen in die Kraft der politischen Entscheidungen verloren. Ich wiederhole: Es ist ein riesiges Problem, dass der
Politik, insbesondere der rot-grünen, nichts mehr zugetraut
wird. Die Menschen wenden sich enttäuscht ab. Es gab
82 000 private und Firmeninsolvenzen. Im Vergleich zum
Vorjahr ist das ein Plus von 66 Prozent. Das muss man sich
einmal vorstellen! Diese Zahlen müssen in verschiedenen
Köpfen hier doch eigentlich ein Umdenken hervorrufen.
({4})
Herr Minister Clement, ich möchte noch eine Zahl hinzufügen, Stichwort Bürokratielasten. Sie haben von einem Masterplan Bürokratieabbau gesprochen. Sie haben leider nicht erwähnt, dass die bürokratische Belastung
gerade kleiner Unternehmen laut Gutachten - es ist inzwischen schon sieben Jahre alt - bei 3 600 Euro pro Arbeitsplatz pro Jahr liegt. Die bürokratische Belastung
großer Firmen liegt bei gerade einmal 150 Euro. Die rotgrüne Bundesregierung sollte sich diesbezüglich einmal
einen Überblick verschaffen; die aktuellen Zahlen sind
nämlich mit Sicherheit noch viel grauenvoller. Sie sollten
nicht mehr nur ankündigen, sondern tatsächlich - fernab
von ideologischen Überzeugungen - zu Potte kommen,
wie man so schön sagt.
({5})
Ich fordere Sie sehr konkret auf: Schaffen Sie durch
wirklich durchgreifende Maßnahmen Vertrauen! Verzichten Sie zum Beispiel auf das Gesetz, mit dem das Recht
auf Teilzeitarbeit festgeschrieben wird!
({6})
Ich habe in einer Debatte im Wirtschaftsausschuss darauf
verwiesen, dass dieses Recht einen Eingriff in unternehmerische Freiheiten darstellt. Ich habe darauf verwiesen,
dass die einseitige Möglichkeit, einen Vertrag nach sechsmonatiger Beschäftigung zu kündigen, zulasten von
Frauen gehen wird, weil immer weniger Frauen eingestellt werden; schließlich sind sie es, die meistens Teilzeitarbeit nachfragen. Also: Schaffen Sie dieses Gesetz
ab! Die rot-grüne Bundesregierung hat ursprünglich darauf gehofft, dass man bei einem Streit innerhalb eines
Unternehmens vor dem Arbeitsgericht klagen werde. Es
ist mir ein großes Anliegen, in diesem Bereich für weniger Bürokratie zu sorgen.
Stichwort Lockerung des Kündigungsschutzes: Wenn
Sie das täten, was wir, die FDP-Bundestagsfraktion, vorgeschlagen haben,
({7})
zum Beispiel die Schwellengrenze von fünf auf 20 zu erhöhen, dann entstünden - das sagt der Präsident des Großund Einzelhandelverbandes - allein im Handel 175 000
neue Arbeitsplätze. Diesen Gedanken kann man doch
nicht einfach außen vor lassen.
({8})
Thema Ladenschluss: Herr Clement, es ist inzwischen
wirklich lächerlich, dass Sie sich intern, wahrscheinlich
auch fraktionsintern, darüber streiten, ob Sie eine weitere
Lockerung um zwei, drei, vier oder fünf Stunden zulassen
sollen. Gleichzeitig kündigen die Gewerkschaften Demonstrationen an. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenn
die rot-grüne Regierung im Hinblick auf Kostenentlastung und Entbürokratisierung des Standorts Deutschland
überhaupt noch etwas zustande bringen will, dann klären
Sie endlich Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaftsfunktionären. Lösen Sie sich von diesem Diktat!
({9})
Ich rege ganz ausdrücklich an, dass Sie sich für eine
konsequente Stärkung des Wettbewerbs einsetzen. Wir
haben im Rahmen der Haushaltsberatungen erfahren, dass
100 Millionen Euro Mehreinnahmen durch Bußgelder zu
verzeichnen sind, die dem Bundeskartellamt zugeflossen
sind. Mit diesem Geld könnte das Bundeskartellamt mehr
Wettbewerb und gesunden Wettbewerbsstrukturen den
Weg bereiten. Warum stärken Sie mit diesem Geld nicht
das Bundeskartellamt personell, das zum Beispiel im Bereich des Energierechts - dort tut sich eine Menge - mittlerweile viel mehr Aufgaben hat? Ein solches Vorgehen
würde den Wettbewerbsstandort Deutschland stärken.
Wir haben es nötig. Eine Politik des Klein-Klein, die darin
besteht, jegliche Mehreinnahme zur Entschuldung zu verwenden, ist wirklich nicht zukunftsträchtig.
({10})
Ich bitte Sie, auch da tätig zu werden.
Letzter Punkt: Sonderwirtschaftszonen. Wenn Sie
wirklich planen, Verwaltungsabläufe zu optimieren und
Verfahren zu verkürzen, dann ist das hervorragend. Einige
wenige Menschen draußen, die noch den Glauben an die
wirkliche Kraft der Politik haben, fragen auf den Ämtern:
Wann ist es denn so weit? Kann ich jetzt auf bestimmte
Fristverkürzungen und kürzere Antragsverfahren bauen?
Diese müssen enttäuscht feststellen: Sie haben noch nicht
einmal irgendeine gesetzliche Initiative zum Abbau der
Regulierungen, die derzeit noch am Markt gelten, gestartet. Das heißt, Gesamtdeutschland müsste eigentlich zur
Sonderwirtschaftszone erklärt werden und nicht einzelne
Regionen zu Modellregionen.
({11})
Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.
({0})
Letzter Satz. - Ehe wir aber gar nichts haben, würden
wir natürlich, damit Sie probieren können, dem Vorschlag
zustimmen, das in einer Modellregion zu versuchen.
Schaffen Sie Vertrauen, setzen Sie sich durch und tun
Sie nicht das, was ideologisch geboten ist, sondern endlich das, was den Menschen dieses Landes gut tut.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
- Es ist gut, dass Sie das wissen, das sollen aber auch die
Gäste wissen.
„Der Osten steht auf der Kippe“, erklärte Herr Thierse
kurz vor der Wahl. Dafür wurde er vom Kanzler gerügt.
Seitdem ist es ruhig um sein Engagement für den Osten
geworden. Der Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90erJahre ins Stocken geraten; der Abstand zwischen Ost und
West ist wieder größer geworden. Da bin ich auch schon
bei einem wesentlichen Problem des Antrags der Regierungsfraktionen zur Mittelstandsoffensive: Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Mittelstandes in den neuen Ländern erfordern meiner
Meinung nach auch entsprechend differenzierte gesetzliche Regelungen. In Ostdeutschland haben 52 Prozent
der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter. 1997 betrug die
durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent. Diese liegt im Vergleich zu westdeutschen Unternehmen fast doppelt so hoch und sagt viel
über die Wirtschaftskraft dieser Unternehmen aus.
Ich denke, dass die Bundesregierung diesen unterschiedlichen Rahmenbedingungen stärker Rechnung tragen muss. Schon der Begriff Mittelstand ist verwaschen.
Man braucht sich nur die Spannbreite der Unternehmen
vor Augen zu führen, die unter den Begriff kleine und
mittlere Unternehmen gefasst werden. Man kann eben
nicht ein etabliertes bayerisches Unternehmen mit mehreren 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem ostdeutschen Unternehmen mit fünf Mitarbeitern und faktisch keinem Eigenkapital in einen Topf werfen und
vergleichen. Hier muss eine entsprechende Initiative ergriffen werden, damit stärker differenziert wird und die
Besonderheiten Ostdeutschlands berücksichtigt werden.
({1})
Jetzt schon wissen wir, dass die Vorhaben der Bundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Senkung
der Lohnkosten nicht zu dem gewünschten Erfolg führen
werden. Das, was ich hier vortrage, ist keine Weissagung,
sondern eine in Ostdeutschland gemachte Erfahrung. Hier
kann man nämlich vom Osten lernen, wie man es im Westen nicht machen soll. In den 90er-Jahren wurde im Osten
auf den Standortvorteil Lohnkosten gesetzt. Auf dem
ostdeutschen Arbeitsmarkt herrscht so seit Jahren in der
Realität eine hohe Flexibilität vor: niedrige Tarifbindung,
ein hoher Anteil an betrieblichen Regelungen, untertarifliche Bezahlung, hoher Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen usw. Doch die gewünschten Arbeitsplatzeffekte wurden dadurch eben nicht erzielt. Auch mit
Großinvestitionen haben wir im Osten nicht unbedingt
gute Erfahrungen gemacht. Herr Stolpe, der hier nicht anwesend ist, es aber trotzdem weiß, kann davon ein Lied
singen. Ich erinnere nur an Lausitzring, Flughafen BerlinSchönefeld, Chipfabrik, Cargo-Lifter, Filmpark Babelsberg. Da wurden Milliarden versenkt, ohne entsprechende
Arbeitsplatzeffekte zu zeitigen.
Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, meine Damen und
Herren, gilt der Entbürokratisierung. Das ist richtig und
klingt immer gut. Aber das eigentliche Problem liegt doch
viel tiefer. Die Bundesrepublik ist mit der großen Industrie,
mit Kohle, Stahl, Schiffbau usw., groß geworden. Viele Verfahren und Gesetze orientieren sich an diesen alten Industrien, die heute eben nicht mehr Arbeit schaffen, sondern
eher Arbeitsplätze im Mittelstand bedrohen. Doch gerade
Miniunternehmen, die in den letzten Jahren Arbeitsplätze in
beachtlichen Größenordnungen geschaffen haben, werden
von den Verwaltungen als lästig angesehen. Natürlich ist es
für eine Verwaltung immer angenehmer und zeitsparender,
den Inhalt eines Fördertopfes auf zwei oder drei Großunternehmen zu verteilen, als mit mehreren 100 oder gar
1 000 Miniunternehmen zu kommunizieren. Abgesehen davon entspricht es der Mentalität von Politikern, gerade vor
Wahlen, sich über die Generierung von Großprojekten einen
Ruf zu erwerben. Das ist einfacher und schöner, als sich mit
Miniunternehmen herumzuschlagen.
Meine Damen und Herren, ich denke, es geht nicht einfach nur um Entbürokratisierung, sondern es geht um
nicht mehr und nicht weniger als eine Neudefinition der
Aufgaben des Staates.
Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes
unter anderem Folgendes vor:
({2})
erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregierung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Gemeinden stärkt, so wie es Herr Stolpe bereits aufgegriffen
hat und jetzt praktisch umsetzen muss; zweitens einen
neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, der den Länderanteil von 50 auf 25 Prozent senkt. In
meiner Heimatstadt Berlin ist es schon jetzt nicht mehr
möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land in einer
Haushaltsnotlage steckt, wodurch die Kofinanzierung
nicht mehr möglich ist.
Ich denke, die vorgeschlagenen Maßnahmen würden
Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen bringen
und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern beflügeln.
Wir brauchen eine Mittelstandsoffensive, die sehr spezifische Vorschläge für Ostdeutschland enthält. Dann hätten
Sie, Herr Minister Clement, auch unsere Unterstützung,
aber nur dann.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin froh darüber, dass in die Wirtschaftspolitik
der Bundesrepublik Deutschland wieder Realismus,
Schwung und Dynamik statt Schwarzmalerei und oller
Kamellen eingezogen sind.
({0})
Warum sage ich „Realismus“? Frau Kollegin Wöhrl,
wenn Sie sich hier hinstellen und in Ihrer Rede behaupten,
in Deutschland gebe es kein Wachstum, dann sind Sie bereits einer Lüge aufgesessen. Wenn Sie wenigstens so ehrlich gewesen wären, zu sagen, wir hätten zu wenig Wachstum, dann hätten wir eine realistische Debatte haben
können. Aber wenn Sie noch nicht einmal dazu bereit
sind, sondern behaupten, wir hätten kein Wachstum, obwohl alle - Sachverständigenrat, Ifo, HWWA, IfW usw. uns ein positives, wenn auch zu geringes Wachstum zugestehen, dann macht dies deutlich, dass Ihnen nicht an einer realistischen Debatte, sondern nur an Schwarzmalerei
und Polemik gelegen ist. Das brauchen der Standort
Deutschland und der Mittelstand am wenigsten, meine
Damen und Herren.
({1})
Wenn wir dann von Ihrem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden hören müssen, dass die Bundesregierung allein die Weltwirtschaft für die wirtschaftliche Lage verantwortlich mache, obwohl der Minister kein einziges
Wort dazu gesagt hat, dann finde ich das mehr als bemerkenswert. Und wenn zugleich Ihre Kollegen das hohe Reformtempo des Ministers kritisieren, dann muss ich Sie
fragen: Was meinen Sie jetzt eigentlich?
({2})
Ist allein die Weltwirtschaft verantwortlich oder spielen
nicht doch auch die Probleme in Deutschland eine Rolle?
Wir würden uns in der Tat treffen und über eine realistische Wirtschaftspolitik sprechen können, wenn wir gemeinsam die Weltwirtschaft auf der einen Seite und die
Strukturprobleme in Deutschland auf der anderen Seite
als Verantwortliche sehen würden.
Genau aus diesem Grunde kommt die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt.
Gerade in Zeiten tief greifenden Strukturwandels kann
und wird Deutschland von einer mittelständisch geprägten Wirtschaftsstruktur profitieren; denn es waren schon
immer die mittelständischen Unternehmen, die in ökonomischen Umbruchsituationen die Richtung vorgegeben
und das Tempo bestimmt haben. Unsere Aufgabe ist es,
dieses Tempo zu befördern und dafür zu sorgen, dass der
Mittelstand Jobmotor Nummer eins in Deutschland ist
und bleibt.
Deshalb - da komme ich wieder zum Realismus Ihrer
Wirtschaftspolitik zurück - finde ich es bemerkenswert,
dass Sie die Steuerquoten in Deutschland kritisieren.
Mein Kollege Brandner hat bereits auf die Zahlen des
DIW hingewiesen. Ich will Ihnen nun die Zahlen der
OECD vorhalten. Wenn Sie die gesamtwirtschaftliche
Steuerquote der OECD im internationalen Vergleich 2001
heranziehen, dann liegen wir mit 21,7 Prozent mehr als
ordentlich, sogar ganz hervorragend. Schweiz, Spanien,
USA, Irland, Portugal, Niederlande, Frankreich, Griechenland, Italien, Kanada, Österreich, Luxemburg, Großbritannien, Belgien, Finnland, Norwegen, Schweden und
Dänemark haben wesentlich höhere Quoten. Nehmen Sie
das bitte schön endlich einmal zur Kenntnis und betreiben
Sie keine Schwarzmalerei!
({3})
In Bezug auf den anderen Teil unseres Problems, nämlich die Abgabenquote, muss ich in der Tat sagen: Hier
gilt es weiterzuarbeiten. Da hat die Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht. Die Steuer- und Abgabenquote
im internationalen Vergleich rechtfertigt keinesfalls
Schwarzmalerei, wie Sie es behaupten. Wir liegen hier auf
einem ordentlichen Platz. Aber ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir uns verbessern müssen. Es hat jedoch etwas mit Realismus zu tun und nichts mit Schwarzmalerei, wenn wir etwa die Steuer- und Abgabenquote von
36,4 Prozent im internationalen Vergleich der OECD-Zahlen sehen und zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien,
Niederlande, Griechenland usw. bis hin zu Schweden wesentlich höhere Steuer- und Abgabenquoten aufweisen.
Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern und wir müssen die Strukturreformen voranbringen. Deshalb wurde die Rürup-Kommission eingesetzt.
Deshalb gehen wir die Reformen im Gesundheitswesen
an. Deshalb machen wir bei der Riester-Rente weiter. All
das werden wir tun. Aber es darf bitte schön keine
Schwarz-Weiß-Malerei geben, als ob Deutschland am
Ende und diese Bundesregierung dafür verantwortlich
wäre. Diese hätte nichts mit der Wirklichkeit und mit der
Situation des Mittelstandes in Deutschland zu tun.
({4})
Ein wichtiger Bestandteil der Mittelstandsoffensive ist
der Small-Business-Act - das will ich ausdrücklich unterstreichen -, in dem alle Maßnahmen zusammengefasst
werden, die der Verbesserung der Startbedingungen für
Existenzgründer und Kleinstunternehmen dienen. Wir
wollen eine Minimalbesteuerung und einfachste Buchführungspflichten sowie bessere Finanzierungskonditionen und Erleichterungen des unternehmerischen Generationswechsels herbeiführen.
Zur Erleichterung des unternehmerischen Generationswechsels werden wir die Unternehmensnachfolgeinitiative weiter ausbauen und ergänzen, die es bereits gibt. Ein
Kollege hat behauptet, sie gebe es gar nicht. Sie kennen ja
noch nicht einmal die Programme, die die Bundesregierung bereits in der vergangenen Legislaturperiode aufgelegt hat. Auch das sollten Sie endlich einmal nachlesen.
({5})
Alle Existenzgründer, also nicht nur die Ich-AGs, müssen von diesen Vereinfachungen profitieren. Dafür wurde
eine sinnvolle Regelung gefunden. Bis zu einer Umsatzgröße von 17 500 Euro wird umgehend eine Betriebsausgabenpauschale von 50 Prozent für Existenzgründer
eingeführt. Damit sind die Unternehmen nicht nur von der
Umsatz- und Gewerbesteuerpflicht, sondern auch - sofern sie keine sonstigen Einnahmen haben - von der Einkommensteuer befreit. Ab dem 1. Januar 2004 gilt diese
Befreiung vorbehaltlich der notwendigen Zustimmung
vonseiten der Europäischen Kommission bis zu einer
Umsatzhöhe von 35 000 Euro.
Wir wollen junge Existenzgründer in den ersten vier
Jahren von Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern ausnehmen.
Herr Kollege Brüderle, es ist eben nicht so, dass dies bereits heute Realität ist. Ich gestehe Ihnen zu, dass bei den
Industrie- und Handelskammern in der Vergangenheit ein
sehr guter Fortschritt erreicht wurde. Dort gibt es sehr
günstige Einstiegstarife und beitragsfreie Mitgliedschaften. Aber im Bereich der Handwerkskammern muss noch
nachgelegt werden. Der Minister hat schon angekündigt,
dass wir dies gemeinsam mit dem Zentralverband des
Deutschen Handwerks erreichen wollen. Deshalb bitte ich
Sie, uns in diesem Punkt zu unterstützen und nicht nur zu
kritisieren. Auch das hat etwas mit Realismus und Ehrlichkeit in der Politik zu tun.
Ein genauso wichtiger Beitrag für Existenzgründer ist
die Verbesserung der sozialen Absicherung von Kleinstunternehmern, angefangen bei der Einführung eines Pfändungsschutzes für die private Altersvorsorge von Selbstständigen. Ebenso soll die Handelsregistereintragung
beschleunigt werden.
({6})
Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den handwerklichen Tätigkeiten und zur Handwerksordnung sagen.
Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode
mit den Leipziger Beschlüssen einen ersten Schritt in die
Richtung von mehr Flexibilität getan. Wir werden in dieser Richtung weitergehen. Ich freue mich, dass das Handwerk grundsätzlich erklärt hat, es sei bereit dazu. Wenn wir
im Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr erreichen
wollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese
Menschen, die sich selbstständig machen wollen, nicht
Biotechunternehmer werden, sondern dass sie ganz einfache Tätigkeiten ausüben werden. Sie werden beispielsweise im Gärtnereibereich oder im Malerbereich tätig werden. Wir brauchen flexiblere Lösungen. Die Punkte, die
der Minister hier angedeutet hat - Anrechnungsfragen,
Freischussregelungen, die Verkürzung der siebenjährigen
Praxiszeit für Gesellen -, gehen in die Richtung, Vereinfachungen zu erreichen. Ich freue mich darauf, dass wir in
diesem Punkt Ihre Unterstützung haben. Aber seien Sie
bitte schön an dieser Stelle auch so fair, diese Maßnahmen
zu begrüßen und nicht nur zu kritisieren! Auch das hat etwas mit Realismus in der Politik zu tun.
({7})
Wir brauchen darüber hinaus eine Initiative zur Modernisierung der Ausbildung. Auch hier ist die Bundesregierung auf dem richtigen Weg.
Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung zunehmend
auch bei innovativen mittelständischen Unternehmen, zum
Beispiel in der Bio- und Informationstechnologie. Durch
eine gezielte Ausrichtung der Förderprogramme und deutliche Vereinfachung bei den Antragsverfahren konnte der
Anteil von kleinen und mittleren Unternehmen an der Forschungsförderung des Bundes in den letzten Jahren um
über 50 Prozent erhöht werden. Mit einer Initiative „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ soll dieser Trend weiter verstärkt werden. Es gilt, dies insbesondere in den neuen Ländern und in den benachteiligten
Regionen zu forcieren.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der Offensive für den Mittelstand zusätzliche Wachstumsimpulse
für Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand auslösen
werden. Gleichzeitig werden wir mit der Umsetzung der
Steuer- und Arbeitsmarktreformen Freiraum für mehr Eigenverantwortung, Kreativität und Experimentierfreude
schaffen. Die Wachstumskräfte unserer mittelständischen
Wirtschaft werden wir aktivieren. Der Arbeitsmarkt erhält
neuen Schwung.
In diesem Sinne: mehr Realismus und weniger Schwarzmalerei, meine Damen und Herren der Opposition!
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Laurenz Meyer zu seiner ersten Rede hier im Plenum, wie ich mit Erstaunen gehört habe.
({0})
Christian Lange ({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man diese Debatte verfolgt - das sage ich insbesondere an
die Adresse der Kollegen aus der SPD-Fraktion -, kommt
sie einem ein bisschen gespenstisch vor; das muss ich Ihnen offen sagen. Haben Sie eigentlich seit Beginn der Legislaturperiode nicht einmal mit irgendeinem Mittelständler vor Ort über das, worüber Sie hier reden, gesprochen?
({0})
Die Stimmung draußen hat mit dem, was Sie hier vortragen, nicht das Geringste zu tun. Das hätten Sie spätestens im Dezember zumindest an den Zahlen erkennen
können. Das Ifo-Institut hat im Dezember 1100 Unternehmen befragt und dabei festgestellt, dass 28,9 Prozent
der Unternehmen überlegen, ihren Standort ganz oder
teilweise ins Ausland zu verlagern.
({1})
77,2 Prozent werden Investitionen einschränken oder aufschieben oder wollen im Ausland investieren.
({2})
- Haben Sie das nicht zur Kenntnis genommen? Herr
Brandner, wenn mich in Zukunft draußen ein Mittelständler
anspricht und mir seine Sorgen vorträgt, werde ich ihm sagen: In der SPD-Fraktion sind so wichtige Leute wie Herr
Brandner und Herr Lange dafür zuständig und Herr Kuhn
hat diese Aufgabe bei den Grünen übernommen. Ihr braucht
euch überhaupt keine Sorgen zu machen. Die haben das unheimlich gut im Griff, die wissen, wohin es gehen soll.
({3})
Der Wirtschaftsminister, der draußen große Töne spuckt,
hat den ganzen Quatsch, die Steuer- und Abgabenerhöhungen und die Belastungen, die hier beschlossen werden sollen und teilweise schon beschlossen worden sind,
mitgetragen.
({4})
Bei der Vorbereitung auf diese Debatte ist mir etwas
aufgefallen - und ich bitte Sie, Herr Wirtschaftsminister,
in Ihrem eigenen Laden noch einmal nachzusehen -: Anfang der Woche hat mir ein Mittelständler, ein Modellbauunternehmer, eine neue Verordnung aus Ihrem Hause
zugeschickt, in der auf dreieinhalb Seiten nur Gebührenerhöhungen für mittelständische Unternehmen aufgelistet
sind. Gucken Sie sich diese Verordnung einmal an! Sie
stand am 23. Dezember letzten Jahres im Bundesgesetzblatt, von Ihnen unterschrieben.
({5})
Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: weniger
Bürokratie, weniger Abgaben für den Mittelstand. Wo ist
denn da die Glaubwürdigkeit?
({6})
Wer soll Ihnen das noch abnehmen?
({7})
Draußen im Scheinwerferlicht reden Sie von Mittelstandsoffensive, während Sie in Wirklichkeit immer nur
die Hand aufhalten und abkassieren. Das ist, leider Gottes,
die ganze Wahrheit, Herr Clement. Das wird hier im Bund
schneller auffallen als in Nordrhein-Westfalen, das Sie
rechtzeitig verlassen haben. Das war gut für das Land,
aber schlecht für die Bundesrepublik Deutschland.
({8})
Meine Damen und Herren, 80 Prozent der Unternehmen beklagen, dass sie heute nur noch ein halbes Jahr
Planungssicherheit für Investitionen haben. Wie soll
das denn gehen? Der Zeitraum von einem halben Jahr
reicht nicht aus. Die Unternehmen sollten für wenigstens
zwölf Monate Planungssicherheit haben. Das war schon
wenig genug in der früheren Zeit.
Wir müssen sehen, was die SPD-Fraktion mit den Grünen zusammen macht. Herr Schulz, ich sage es Ihnen ganz
offen: Ich weiß ja, dass Sie untereinander Streit hatten wegen dieses Antrags, dass der eine oder andere bei Ihnen
weitergehen wollte. Ich wundere mich, dass Sie sich dann
wirklich darauf verständigt haben, gestern einen Antrag
einzubringen, der im Text und in den Überschriften der
Internetseite des Wirtschaftsministeriums entspricht, die
seit dem 5. Januar als Public-Relations-Maßnahme für jedermann zugänglich ist. Sie trauen sich allen Ernstes, das
als Mittelstandsoffensive von SPD und Grünen hier im
Plenum einzubringen. Schämen Sie sich dabei wirklich
nicht? Tun Sie sich bei den Sorgen, die der Mittelstand
hat, nicht wenigstens schwer, wenn Sie so etwas machen?
({9})
- Herr Brandner, dass Sie dabei nervös werden, kann ich
verstehen.
({10})
Das ist wirklich eine geistige Glanzleistung, die Sie vollbracht haben.
Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist, die Reihenfolge der Kapitel Ausbildung und Innovationsoffensive
für den Mittelstand zu vertauschen; es sei dahingestellt,
ob bei der Arbeit geschlampt worden ist oder ob das beabsichtigt war.
({11})
Außerdem haben Sie aus dem alten Absatz „Verbesserung
der Zahlungsmoral“ in Clements Mittelstandsoffensive
ein neues Kapitel gemacht und fertig ist die Laube. Das ist
alles an geistiger Arbeit, was Sie als Offensive für den
Mittelstand eingebracht haben!
Sagen Sie einmal ehrlich, Herr Kuhn: Muss man sich
nicht schlecht fühlen, wenn man so etwas vertreten soll?
Ihrer Rede hat man das auch angemerkt und noch deutlicher wurde es bei Ihrem Kollegen, der die Opposition für
alles verantwortlich gemacht hat.
({12})
Gestern fand eine Tagung des Bundes der Selbstständigen statt, an der auch einige von Ihnen teilgenommen
haben. Wir - der Kollege Schauerte war auch anwesend haben bei dieser Gelegenheit gefragt,
({13})
wer von dem Vorhaben der Bundesregierung betroffen ist,
für Unternehmen bis zu einer Umsatzgröße von 17 500 Euro
bzw. 35 000 Euro eine hälftige Betriebsausgabenpauschale einzuführen.
({14})
Wir erhielten darauf zur Antwort, dass von dem, was Sie
als Großoffensive für den Mittelstand ankündigen, zwar
eine Avon-Beraterin betroffen wäre,
({15})
dass aber niemand davon betroffen wäre, der in Deutschland Arbeitsplätze schafft. Das ist aber angesichts der
Situation in Deutschland zu wenig.
({16})
Das Thema Kündigungsschutz - der einzige Punkt, mit
dem Herr Clement in den vergangenen Wochen positiv
bei den Wirtschaftsverbänden aufgefallen ist - ist in dem
Antrag zu der Offensive für den Mittelstand mit keinem
Wort erwähnt.
({17})
Das macht deutlich, in welche Richtung der Weg führt.
Deswegen glaube ich persönlich nicht daran, dass mit dieser Bundesregierung auch nur eine einzige Offensive bzw.
eine einzige ernsthafte Maßnahme für den Mittelstand auf
den Weg gebracht werden kann. Bei Ihrem Vorhaben handelt es sich um weiße Salbe. Weniger als 10 Prozent der
Unternehmen im Mittelstand - die Kollegin Wöhrl hat darauf hingewiesen - sind davon betroffen.
Es wird keinen einzigen zusätzlichen Existenzgründer
geben, wenn die Rahmenbedingungen für den Mittelstand
nicht geändert werden. Wie sollen angesichts von 38 000 Firmenpleiten - in diesem Jahr soll die Zahl noch zunehmen Existenzgründer überleben, wenn unter den Rahmenbedingungen, die Sie zu verantworten haben, schon bestehende Betriebe Pleite gehen?
Ich habe kürzlich davon gesprochen - das hat mir hinterher Leid getan -, dass die Bundesregierung handwerklich schlechte Arbeit leistet. Die Handwerker haben dagegen protestiert und mir verboten, in dieser Debatte im
Zusammenhang mit dieser Bundesregierung weiterhin
das Wort „handwerklich“ zu erwähnen, weil sie sich dadurch beleidigt fühlen.
({18})
Ich kann das nachvollziehen.
({19})
Sie brauchen sich nur die Zahlen vor Augen zu halten.
Herr Müntefering, Sie haben angekündigt, es müsse weniger Geld für den Konsum und mehr für den Staat ausgegeben werden. In Zukunft können Sie den Menschen
vorrechnen, was Sie darunter verstehen. Sie haben es
nämlich in nur zwei Jahren geschafft, dass die Menschen
neun Tage länger für den Staat arbeiten müssen, als es
noch im Jahr 2001 der Fall war. Sie müssen neun Tage
mehr für Steuern und Abgaben arbeiten. Sie haben den
Menschen innerhalb von zwei Jahren neun Tage geklaut,
die sie zuvor für Familie, Urlaub, Kleidung und ihre Kinder zur Verfügung hatten.
({20})
Das haben Sie zu verantworten und das werden wir nicht
unerwähnt lassen.
({21})
Ein Punkt hat mich bei der Vorbereitung dieser Debatte
besonders nachdenklich gemacht. Vor zwei Tagen hat der
DGB seine Ausbildungsbilanz vorgelegt. Das haben Sie
gar nicht mitbekommen, weil Sie die Sorgen der Jungen
nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Niemand von der SPD
hat darauf reagiert,
({22})
dass die Zahl der Ausbildungsplätze um 7,1 Prozent gesunken ist. Im vergangenen Jahr sind 43 000 Ausbildungsverträge weniger zustande gekommen. Niemand
von Ihnen hat darauf reagiert. Das ist die soziale Haltung,
die Sie an den Tag legen!
({23})
186 von Ihren 251 Abgeordneten sind Gewerkschaftsmitglied, aber niemand hat zu dieser desaströsen Bilanz des
DGB Stellung genommen.
Sie wollen die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnis
nehmen. Das ist soziale Kälte, die heute in Deutschland
herrscht. Diese soziale Kälte nehmen die Menschen wahr.
Das werden Sie am kommenden Sonntag merken.
({24})
Sie diskutieren immer wieder - die Grünen sollten noch
einmal ernsthaft darüber nachdenken - über den großen
Befähigungsnachweis.
({25})
Dazu sage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Ausbildung: Wer im Handwerk soll eigentlich in Zukunft noch
die Ausbildung gewährleisten und die damit verbundenen
großen Leistungen erbringen, wenn Sie auch den Meisterbrief, der eine Grundlage für das Handwerk ist, infrage
stellen? Lassen Sie die Finger davon, wenn Sie nicht noch
mehr Ausbildungsplätze gefährden wollen!
({26})
Es ist wirklich Zeit, dass Sie einen Kurswechsel einleiten. Dazu sollten Sie aber zumindest zugeben, dass Sie
die ersten 100 Tage Ihrer Regierungszeit in den Sand gesetzt haben. Dafür sollten Sie nicht die Opposition und das
Ausland verantwortlich machen, sondern sich ernsthaft
Laurenz Meyer ({27})
Laurenz Meyer ({28})
fragen, was bei Ihnen falsch gelaufen ist. Dies ist notwendig, damit die Menschen wieder Zutrauen zu dem,
was in diesem Parlament geschieht, bekommen und
Deutschland zumindest wieder in die erste Reihe der
Wirtschaftsnationen gelangt. Wir wollen nicht unbedingt
die Ersten sein, aber nach vorne kommen, anstatt das
Schlusslicht zu sein. So wie Sie bisher vorgegangen sind,
werden Sie dies nicht schaffen.
({29})
Herr Kollege Meyer, den Sitten des Hauses entsprechend gratuliere ich auch Ihnen zur Ihrer Rede, die man
aber nicht so recht als Jungfernrede bezeichnen kann. Sie
sind ja ein geübter Redner.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sigrid SkarpelisSperk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
gespannt auf die Rede des Kollegen Meyer.
({0})
Ich habe mir gedacht: Vielleicht wird er ja mit seiner
Jungfernrede einen realistischen, vernünftigen Debattenbeitrag liefern.
({1})
Aber er ist seinem Ruf als Wadenbeißer gerecht geworden.
({2})
Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihn Kampfhund nennen soll. Aber ehrlich gesagt, dafür waren seine Bisse nicht
wirksam genug. Er hat gekläfft wie ein Wadenbeißer.
Ich muss feststellen: Die bisherige Debatte enthielt
nichts anderes als - entschuldigen Sie - olle Kamellen.
({3})
Das sollte nicht der Ton sein, in dem wir in diesem Hause
über eine schwierige Wirtschaftssituation und die keineswegs einfache Lage der mittelständischen Unternehmen
diskutieren.
Herr Merz, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie die Feier in
Versailles in der vergangenen Woche nur dazu genutzt haben sollten, Fotos zu machen und gut zu essen, anstatt mit
den französischen Kollegen über deren Besorgnisse im
Hinblick auf die Verschlechterung der Wirtschaftslage in
Frankreich zu sprechen, dann hat der Ausflug nach Versailles ein bisschen zu wenig gebracht.
({4})
Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Im gesamten
Euroraum hat sich die Wirtschaftslage deutlich verschlechtert. Die Länder, die immerhin 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone produzieren - Deutschland, Frankreich und Italien -, stehen vor den gleichen
Problemen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die unterschiedlichen Regierungen das gleiche wirtschaftspolitische
Instrumentarium verwenden. Dazu haben vielmehr die
weltwirtschaftliche Lage und die Verschlechterung im
Euroraum beigetragen. Wenn Sie jede Woche einen apokalyptischen Reiter durch das Land jagen, dann werden
Sie damit keine Verbesserung des Vertrauens erzielen, wie
Sie dies soeben verlangt haben.
({5})
Uns dagegen geht es um etwas anderes, nämlich darum,
in einer keineswegs einfachen Situation zu fragen: Wie
können wir dem Mittelstand wirklich helfen? In diesem
Zusammenhang möchte ich über etwas sprechen, was
Minister Clement und auch mein Kollege von den Grünen
kurz angesprochen haben: die Finanzierungsbedingungen
und die größer gewordenen Finanzierungsprobleme der
deutschen Wirtschaft schlechthin, aber vor allem die der
mittelständischen Unternehmen. Es ist keine Frage: Viele
Wirtschaftsunternehmen haben erhebliche Schwierigkeiten, schon ihre normale Wirtschaftstätigkeit zu finanzieren. Viele kleine und mittlere Unternehmen, selbst recht
solide Unternehmen mit guter Absatzlage und Expansionsaussichten haben Probleme, von ihren Hausbanken
eine Verlängerung ihrer bisherigen Kreditlinie zu erhalten,
geschweige denn frisches Geld für neue Investitionen.
({6})
Viele, vor allem kleine Existenzgründer, stehen vor geschlossenen Banktüren.
({7})
Dabei ist es besonders beunruhigend, dass nicht nur die
privaten Großbanken kleine Unternehmen zurückweisen
- das ist nichts Neues -, sondern zunehmend auch Sparkassen, Raiffeisenbanken und Genossenschaftsbanken.
Zwar sprechen die Deutsche Bundesbank und auch der
Sachverständigenrat davon, dass es keine Kreditklemme
gebe, aber die im vergangenen Jahr durchgeführten Umfragen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei den Unternehmen zeigen sehr deutlich eine andere Situation: Ein
Drittel der Unternehmen klagt über erhebliche Finanzierungsprobleme und darüber, dass sie abgewiesen würden,
ein Drittel sagt, es habe sich nichts geändert, und ein Drittel hat zum Teil sogar verbesserte Konditionen bekommen.
Das ist aber nur die Crème de la Crème des Mittelstandes.
Die Ursachen für dieses Besorgnis erregende Vorgehen
der deutschen Banken und Kreditinstitute sind schlicht
folgende - dass Herr Merz darauf mit keinem Wort eingegangen ist,
({8})
erscheint mir, entschuldigen Sie bitte, schlicht provinziell,
Herr Hinsken -: Der internationale Wettbewerb im Bankensektor hat stark zugenommen, wobei insbesondere die
Privatbanken von der Globalisierung und den Risiken der
internationalen Kapitalmärkte betroffen sind. Sie sind von
den weltweiten Rückgängen an den Aktienbörsen angeschlagen. Es ist einfach eine Tatsache, dass das, was in
den letzten zwei Jahren passiert ist, die größte Kapitalvernichtung seit der großen Weltwirtschaftskrise im vergangenen Jahrhundert gewesen ist. Das hat riesige Verluste bei den Banken und bei vielen Pensionsfonds gebracht,
aber auch bei den Immobiliengeschäften in Deutschland
und weltweit.
Die Banken stehen inmitten gewaltiger Wertberichtigungen bei den Unternehmenskrediten, vom Neuen Markt
zur E-Commerce-Blase, von der Kirch-Pleite in Bayern bis
zu den Auswirkungen der Bilanzfälschungen in den USA.
Die deutschen Banken rationalisieren in scharfem Tempo
und bauen massiv Beschäftigte und Filialen ab, um ihre
Renditen wieder zu erhöhen und diese Verluste wenigstens
teilweise auszugleichen. Aber, verdammt noch einmal, das
ist doch nicht die Schuld dieser Bundesregierung,
({9})
wenn einige auf internationaler Ebene an den Börsen gespielt haben und die Renditen zurückgehen! Sie tun so, als
wären wir dafür verantwortlich, wenn hier gezockt worden ist.
({10})
Übrigens sprechen Sie die Probleme nie an, die im Unternehmenssektor entstanden sind und die international
anstehen, weil es zu unbequem ist, sich damit auseinander
zu setzen und zu fragen, wie man Lösungen für diese
schwierigen Fragen findet.
Die Sparkassen, die typischerweise die kleinen und
mittleren Unternehmen bedienen, sind durch den von der
EU-Kommission erzwungenen Wegfall der Gewährträgerhaftung getroffen und schränken die Kreditvergabe an
ihre traditionellen Kunden ein. Es war übrigens ein konservativer Kommissar der EU-Kommission, der uns diese
Schwierigkeiten eingebrockt hat.
({11})
Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinien,
kurz Basel II, sind für das Vorgehen von Banken und
Sparkassen mehr Ausrede als wahrer Grund; denn richtig
ist, dass die Banken neue, computergestützte Ratingverfahren entwickeln und anwenden, damit sie ihre Risiken
und Kosten besser überschauen können. Dabei sortieren
sie jetzt alles aus, was ihnen keinen Mindestprofit mehr
bringt. Es wäre wichtig, danach zu fragen.
Definitiv falsch ist, wenn die Banken ihr restriktives
Verhalten in der Kreditvergabe im Allgemeinen und gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen im Besonderen mit Basel II begründen. Bei der ersten Vorlage der
neuen Richtlinien waren diese Befürchtungen berechtigt,
aber mittlerweile hat die deutsche Verhandlungsführung
in Basel gewaltige und auch dringend notwendige Zugeständnisse herausgeholt. Der Deutsche Bundestag hat
zweimal mit einstimmig verabschiedeten Resolutionen
wichtige Verbesserungen gefordert und damit der Bundesregierung und der deutschen Delegation sichtbar und
nachhaltig den Rücken gestärkt.
({12})
Das internationale Finanzkapital hat durch diese
Bemühungen übrigens gelernt, neben den deutschen Wörtern Kindergarten und Heimweh nun auch noch das Wort
Mittelstand zu buchstabieren, und das ist gut so.
Trotzdem sollten wir die Ergebnisse der QuantitativeImpact-Study 3, QIS 3, das heißt die Simulationen zu der
Frage, wie sich die neuen Regeln auf die Banken und damit auf die Unternehmen tatsächlich auswirken, abwarten, bevor wir grünes Licht für ein Ja in Basel geben. Das
sind wir dem Mittelstand und den vielen Hunderttausend
Selbstständigen, Freiberuflern, Handwerkern und Existenzgründern und Bauern schuldig.
Ein weiterer Punkt sind - wenn ich das offen sagen
darf - die hohen Realzinsen, die wir in Deutschland zahlen.
Die Zinsen für den Euroraum werden mittlerweile zentral
festgelegt. Unsere Preissteigerungsraten sind deutlich
niedriger. Damit muss Deutschland und müssen deutsche
Unternehmen ein Stabilitätsopfer bringen, das heißt
höhere Realzinsen bezahlen.
Deswegen brauchen wir mehrere Schritte, um die
Finanzierungsbedingungen zu verbessern:
Erstens brauchen wir eine weitere Senkung der Zinsen
durch die Europäische Zentralbank, um die hohen Realzinsen zu senken und so die Unternehmen von der Kostenseite her zu entlasten. - Da könnten Sie von der rechten Seite auch einmal klatschen.
({13})
Das ist eine Forderung an eine andere Organisation, nicht
an die Bundesregierung.
({14})
Also überwinden Sie sich doch einmal!
Zweitens - ich bin gespannt, ob Sie imstande sind, da
zu klatschen - brauchen wir die zügige Weitergabe der
Zinssenkungen durch die Banken an kleine und mittlere
Unternehmen.
({15})
- Auch hier fehlt natürlich der Beifall von der rechten
Seite; denn damit würden Sie sich bei einigen Vorständen
unbeliebt machen. - Es geht nicht an, dass die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank nicht unverzüglich an die Kunden weitergegeben werden. Wir kritisieren hart, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats der
Deutschen Bank, Herr Breuer, die Banken auch noch dazu
aufgefordert hat, die Zinssenkungen nicht weiterzugeben.
({16})
Zu Recht ermittelt das Bundeskartellamt in dieser Frage
und auch das Parlament wird sich mit diesem Vorgang
ernsthaft befassen und gegebenenfalls als Gesetzgeber
handeln müssen.
Wir appellieren an die deutschen Banken, auch in dieser Situation ihrer Verantwortung gerecht zu werden und
den deutschen Mittelstand angemessen zu finanzieren,
wie dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Existenzgründer sind künftige Kunden; viele von ihnen sind
erfolgversprechend und werden den Banken auch Profite
einbringen.
({17})
Die Bundesregierung hat mit den vorgeschlagenen
Finanzierungsbedingungen, der Schaffung einer Mittelstandsbank, dem Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau „Kapital für Arbeit“ und dem Programm der Deutschen Ausgleichsbank für Mikrodarlehen entscheidende
Schritte gemacht, bringt wirkliche Hilfen und - entschuldigen Sie bitte - nicht nur die ollen Kamellen, die Sie hier
anbieten. Wir haben den Mittelstand in den vergangenen
Jahren massiv entlastet.
({18})
Wir müssen jetzt darüber sprechen, konkrete Hilfestellungen über die neue Mittelstandsbank zu geben, und
überlegen, wie wir mit neuen Instrumenten die Eigenkapitalbasis stärken.
({19})
Darüber werden wir noch konkret reden. Ich hoffe, dass
das, wenn wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit sprechen, auch einmal konstruktiv und vernünftig geht. In der
Verantwortung für den Mittelstand sollte uns das gelegentlich gelingen. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf.
({20})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Skarpelis-Sperk, Ihre Kolleginnen
und Kollegen sowie meine Kolleginnen und Kollegen
werden, denke ich, Verständnis dafür haben, dass ich
Ihren Beitrag jetzt nicht kommentiere.
({0})
Ich möchte mich zur Sache äußern und zunächst eine
kleine Vorbemerkung machen.
Herr Minister Clement, wir haben kein Problem mit
„Mangel an Ideen“ oder „Mangel an Vorschlägen“,
({1})
sondern wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und ein
Umsetzungsproblem.
({2})
Damit Sie das begreifen, möchte ich mich ein bisschen
mit den beiden Problemen beschäftigen.
Warum sollen die Menschen in Deutschland bei der Vielzahl von Vorschlägen glauben, dass jetzt etwas passiert? Bei
der Vielzahl von Vorschlägen müsste eigentlich Freude im
Lande sein, nämlich darüber, dass etwas passiert. Aber wie
wir alle wissen - Sie wissen es auch; die Wahlen am Sonntag werden das vermutlich zeigen -, hält sich die Freude
durchaus in Grenzen. Zurzeit - der Befund ist wohl richtig - wachsen die Enttäuschung und die Verunsicherung.
({3})
Herr Clement, ich will noch einen Punkt benennen. Ich
zitiere:
Moderne Mittelstandspolitik ist für uns weniger
Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang
zu den neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten.
Wissen Sie, woher das Zitat stammt? - Aus einer Regierungserklärung. Wissen Sie, von wann? - Von 1998. Wissen Sie, von wem? - Von der SPD.
({4})
Das könnten Sie abgeschrieben haben. Sie kommen mit
genau den gleichen Vorschlägen, fast in der gleichen Reihenfolge, heute wieder
({5})
und wundern sich, dass die Menschen - nachdem sie festgestellt haben, dass vier Jahre lang nichts passiert ist, sondern dass es im Gegenteil eher Rückschritt gab - jetzt
nicht fröhlich erregt sagen: Toll, jetzt geht es los.
({6})
Herr Clement, jetzt wieder zu Ihnen. Das ist ja auch immer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Sie haben in Nordrhein-Westfalen ebenfalls eine Menge vernünftiger Dinge angekündigt.
({7})
Ich will Sie einmal an ein paar erinnern. In Ihrer Regierungserklärung vom 30. August 2000 haben Sie gesagt:
Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommenden
fünf Jahren deutlich herunterbringen.
Es gibt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 100 000 Arbeitslose mehr als zu dem Zeitpunkt, als Sie das gesagt
haben.
({8})
Sie haben gesagt:
Jugendarbeitslosigkeit muss in unserem Land ein
Fremdwort werden.
In keinem Land ist die Jugendarbeitslosigkeit so
gestiegen wie in Nordrhein-Westfalen.
({9})
Sie haben gesagt:
Wir können unser Land in die Spitzengruppe der europäischen Regionen führen.
Nordrhein-Westfalen ist das Schlusslicht in Deutschland
und Deutschland ist das Schlusslicht in Europa.
({10})
Das ist das Fazit nach zwei Jahren Regierungsankündigungen von Ihnen.
Ich zitiere noch eine letzte Aussage, die das ganz besonders deutlich macht. Herr Clement, Sie haben in dieser Regierungserklärung gesagt:
Nordrhein-Westfalen ist mehr als meine Heimat, es
ist meine Lebensaufgabe.
Zwei Jahre hat die Lebensaufgabe gedauert. Woraus soll
das Vertrauen erwachsen, dass Ihre Aussagen und Ankündigungen ernst gemeint sind, dass sie sich wirklich niederschlagen?
Wir brauchen uns über den größten Teil Ihrer Vorschläge inhaltlich nicht zu streiten. Nein, sehr viele Dinge
davon sind zielgerichtet, richtig auf die Bahn gestellt.
({11})
Sie müssen aber umgesetzt werden. Das Vertrauen, dass
Sie es diesmal schaffen und dass es nicht wieder bei
Ankündigungen bleibt, ist eben unter null. Das ist Ihr Problem, Herr Clement.
({12})
Wir wünschen Ihnen wirklich endlich einmal die Kraft, das,
was Sie ankündigen, auch durchzusetzen. Sie haben in
Nordrhein-Westfalen sehr viele Baustellen errichtet und
kaum eine zu Ende geführt. Das ist wirklich problematisch.
({13})
- Vielleicht sind wir bei den Schneekanonen im Sauerland
vorangekommen; darüber können wir uns unterhalten.
({14})
Das war ein Masterplan. Herzlichen Glückwunsch! Das
ist aber auch das Einzige. Das ist nur deshalb gelungen,
weil wir mitgemacht haben; sonst wäre auch das wieder
schief gegangen. Sie weisen also eine „glänzende“ Bilanz
vor. Wo soll das Vertrauen herkommen?
Lassen Sie mich zu ein paar Dingen kommen, die hier
in der Debatte angesprochen worden sind. Ich fange einmal mit den Banken an. Entweder ist das Ausland schuld
oder es sind die Banken. Die Banken sind Teil des Standortes Deutschland und auch denen geht es keineswegs so
gut, wie es ihnen gehen sollte.
({15})
Wir alle wissen, wovon wir da reden. Es werden bei
den Banken durchaus Fehler gemacht, zum Beispiel bei
den Großbanken und den Privatbanken; wie sie sich vom
Mittelstand verabschiedet haben, war nicht die feine englische Art.
Die Banken zeichnen bei ihrer Kreditvergabe die Konjunkturverläufe nach,
({16})
und zwar nicht übersteigert, sondern in einer sanfteren
Kurve. Die vorgenommenen Investitionen sind in Deutschland deutlich stärker gesunken als die Kredite. Wenn Sie
das zu Ende denken, dann müssen Sie daraus schließen,
dass wir mehr Betriebsmittelkredite geben mussten - absolut ungesichert -, weil die Wirtschaft weggebrochen ist.
({17})
Nun den Banken zu sagen, sie sollten endlich großzügig
Kredite geben, ist eine gefährliche Operation - Japan lässt
grüßen. In Japan haben die Banken Kredite gegeben auf
Teufel komm raus. Seit zehn Jahren sitzen sie in der Rezession.
({18})
- Ich warne Neugierige vor solch einem populistischen
Unsinn, Frau Skarpelis-Sperk.
({19})
Das, was Sie dazu vortragen, ist populistischer Unsinn.
Ich finde das schon schlimm.
Der nächste Punkt sind die EZB-Zinssätze. Sie wissen
nicht, wovon Sie da reden. Die EZB hat die Zinssätze um
einen halben Prozentpunkt gesenkt. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass das Refinanzierungsvolumen der deutschen Banken nicht einmal zu 10 Prozent
EZB-gesteuert ist. Es besteht zu 90 Prozent aus dem Geld
der Sparer. Wenn wir wollen, dass die Banken die EZBZinssenkung an ihre Kunden weiterreichen, müssen sie
auch die Einlagezinsen für die Sparer senken können. Davon habe ich bei Ihnen nichts gehört. Sie möchten doch
nur, dass die Zinssenkung der EZB an die Kreditnehmer
weitergereicht wird. Sie haben überhaupt keine Ahnung.
({20})
Machen Sie sich schlau, bevor Sie hier populistischen Unsinn verkünden.
({21})
Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen, der mir wirklich aufstößt, und zwar diese
17 500-Euro-Regelung, von mir aus eines Tages die
35 000-Euro-Regelung, wenn Sie diese denn durchsetzen
können. Bis zu einem jährlichen Umsatz in Höhe von
17 500 Euro besteht für Existenzgründer und Kleinunternehmen keine Aufzeichnungspflicht und es gilt eine Betriebsausgabenpauschale in Höhe von 50 Prozent. Was
aber passiert, wenn ein Betreiber eines solchen Mini-Unternehmens über diese Grenze kommt? Wir hoffen ja, dass
diese Unternehmen möglichst schnell und möglichst häufig über diese Grenze kommen. Das geschieht aber nicht
geplant, sondern plötzlich, im September oder Oktober.
Bis dahin haben diese Unternehmen keine Aufzeichnungen gemacht und damit ein Problem. Denn das Finanzamt
wird im Januar nach den Aufzeichnungen fragen.
Sie werden erleben, dass die Möglichkeit, die Aufzeichnung zu unterlassen, gegen null läuft.
({22})
Auch die kleinen Unternehmen werden ihre normale
Buchhaltung machen müssen, weil alles andere mit einem
erheblichen Risiko verbunden ist.
({23})
Dieses Risiko werden Sie dann vollstrecken. Sie wissen
an dieser Stelle nicht, worauf es ankommt und was wirklich helfen würde.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, nämlich die
Energie- und Arbeitskosten in Deutschland. Wir haben
in diesem Bereich wirklich Erfahrungen gesammelt. Sie
haben gesagt, die Arbeit sei zu teuer, die Energie sei zu
billig. Jetzt ist beides teuer. Das ist das Ergebnis.
({24})
Energiekosten sind anders als sonstige Belastungen
immer kalkulatorische Kosten, die das Produkt belasten.
Sie belasten das Produkt, das wir um die ganze Welt
schicken, und machen es im Wettbewerb teuer. Sie belasten aber nicht die Produkte, die aus der ganzen Welt nach
Deutschland kommen.
({25})
Die Energiesteuer auf die Produkte umzulegen und zu meinen, damit Probleme zu lösen, ist für ein Exportland wie die
Bundesrepublik Deutschland ein absoluter Irrweg. Wir verschlechtern unsere Wettbewerbssituation auf den Märkten
der Welt und erleichtern den Import von Produkten. Dies ist
schlecht für die Arbeitsmarktsituation in Deutschland und
unsere Position beim Export. Dies ist ein schwerer Fehler.
({26})
Wer die Löhne hoch halten will - die Nettolöhne sind
in Deutschland eher zu niedrig als zu hoch; unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer könnten durchaus
ein bisschen mehr gebrauchen -, darf nicht auch noch die
Energie verteuern, sonst kommen wir nicht weiter.
({27})
Das, was Sie immer wieder theoretisch vortragen, zeigt,
dass Sie einen Sprung in der Schüssel haben.
({28})
Lohnzusatzkosten und Steuern: Zum einen stellen
Sie sich hier hin und sagen, die Steuerbelastung in
Deutschland sei im internationalen Vergleich durchaus
niedrig.
({29})
Sie ist es nicht und sie ist vor allem falsch verteilt; aber lassen wir dies einmal. Gleichzeitig sagen Sie, die Lohnnebenkosten - mittlerweile muss man dazu Lohnhauptkosten
sagen - seien wegen der Wiedervereinigung um 3 Prozent
zu hoch. Wenn Sie die Strukturreform angehen und diese
Kosten aus den Versicherungssystemen herausnehmen,
({30})
ergibt sich die Frage, ob Sie diese 3 Prozent nicht bei den
Steuern hinzufügen. Es gibt keinen anderen Vorschlag.
Entweder machen Sie diese Reform und verbilligen die
Systeme oder Sie schichten um. Ich sage Ihnen: Für den
Standort Deutschland ist auch die Umschichtung verkehrt.
Herr Kollege Schauerte, denken Sie an die Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Herr Clement, ich habe den Eindruck, dass Sie an der
einen oder anderen Ecke des Tunnels, in Randbereichen,
eine Kerze anzünden wollen. Und wenn es ganz dunkel
ist, bringt eine Kerze schon viel Licht. Aber in Ihrer Regierung gibt es noch sehr viele, die am anderen Ende des
Tunnels Baumaßnahmen unternehmen, um den Tunnel zu
verlängern. Deswegen geht Ihnen die Kerze aus, bevor
Sie am Ende des Tunnels ankommen.
Lafontaine steht vor der Tür, er umkreist schon die
Burg. Warten wir es einmal ab! Stiegler ist schon drin,
Lafontaine will noch rein. Sehen Sie zu, wie Sie dann die
Widerstände brechen wollen. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr beachtlich, wenn der mittelstandspolitische Sprecher der
Union, der gleichzeitig den Raiffeisenbanken sehr verbunden ist, dem interessierten Publikum erklärt, warum es aus
Sicht der Banken nicht möglich ist, mehr für den Mittelstand zu tun. Die Vereinigung dieser Rollen in einer Person war schon ein beachtlicher intellektueller Klimmzug,
den keiner verpassen sollte. Wir werden ihn deswegen
weiter verbreiten und immer wieder aus der Rede zitieren.
({0})
Es ist keine Frage, dass es neben den weltwirtschaftlichen Problemen und neben der Zurückhaltung bei Investitionen und Konsum, die im Zusammenhang mit den
Ängsten vor Terrorismus und Krieg steht, eine Reihe von
Faktoren in Deutschland gibt, die dazu beitragen, dass
sich die Strukturen nicht verändern oder dass Veränderungsprozesse nur sehr verlangsamt ablaufen. Dazu
gehören natürlich die zu hohen Kosten für den FaktorArbeit. An der Senkung dieser Kosten haben wir in der letzten Legislaturperiode gearbeitet und wir arbeiten daran
auch bei der Strukturreform der sozialen Systeme.
Zu den wichtigen Faktoren, die strukturbremsend wirken, gehört darüber hinaus leider auch die Platzhaltermentalität der Akteure, die bestimmte berufsständische
Organisationen und Verbände vertreten. Archetypischer
Vertreter ist Herr Schauerte. Diese Akteure reden über alles, zum Beispiel über Entbürokratisierung oder über
Wettbewerb. Aber wenn sie selber betroffen sind,
({1})
wenn Wettbewerb angesagt ist, weil man die Grenzen eines bestimmten Berufsstandes etwas aufbohren will, dann
wird der Markt dicht gemacht, weil man den Wettbewerb
fürchtet.
({2})
- Sie, Herr Schauerte, sind ein typischer Vertreter dafür.
Das gilt aber leider auch für die Akteure der Organisationen, die Arbeitnehmer vertreten. Sie denken zunächst
nur an diejenigen, die in den Betrieben in ihrem Verband
organisiert sind, und erst in zweiter Linie an diejenigen,
die vor den Betriebstoren stehen. Dieses Problem muss
angegangen werden. Den Dialog, den Wolfgang Clement
mit den Akteuren, mit den Vertretern der alten Strukturen
auf allen Seiten aufgenommen hat, und das, was er an Reformvorstößen vorgelegt hat, finde ich in hohem Maße
beachtlich. Er legt dabei ein tolles Tempo vor.
({3})
Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Deutschland
viel zu wenig Bewusstsein gibt, Leute aufzufordern, ihr
Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Menschen
sollten, anstatt arbeitslos zu sein, drei Jahre zu überwintern und darauf zu warten, bis das gnädige Schicksal sie
ereilt und sie in der Großorganisation der Wirtschaft oder
im öffentlichen Dienst irgendwann einen Job bekommen,
ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nehmen und sich
selbstständig machen. Darauf zielt die Mittelstandsoffensive. Sie soll sowohl diejenigen, die aufgrund ihres
hohen Know-hows durch eine Universitätsausbildung
oder andere Qualifikationen fähig sind, Produkte und
Dienstleistungen auf höchstem Niveau zu entwickeln, anregen, sich selbstständig zu machen, ebenso wie diejenigen, die in der Lage sind, kleinere Dienstleistungen zu erbringen und all die Dinge zu verrichten, zu denen andere
aufgrund der extremen Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft selber zu Hause in ihren Familien und ihren Betrieben nicht mehr in der Lage sind. Neue Selbstständigkeit ist sowohl in High-Tech-Berufen als auch im
Dienstleistungsbereich gefordert. Das gilt auch im handwerksnahen Dienstleistungsbereich.
Sie kritisieren, dass die Schwelle für eine vereinfachte
Besteuerung von kleinen Unternehmen und Existenzgründern mit 17 500 Euro zu niedrig angesetzt ist. Da bin
ich Ihrer Meinung. Das muss sich weiter entwickeln; das
ist keine Frage. Zielgruppe sind aber in erster Linie diejenigen, die bestimmte handwerkliche Fähigkeiten haben
und sich aus einer Situation ohne Job in die Selbstständigkeit bewegen wollen. Ihr einziges Kapital sind im Wesentlichen sie selbst und die Dienstleistung, die sie verkaufen wollen. Umsatz und das, was übrig bleibt, liegen
in diesem Falle sehr nah beieinander. Das ist die Wirklichkeit.
({4})
Diese Regelung zielt nicht auf einen Handwerksbetrieb,
der 20 oder 25 Mitarbeiter beschäftigt. Wer Existenzgründungsoffensiven aus der Arbeitslosigkeit heraus fördern will, der muss so vorgehen und die steuerlichen und
bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich halten, zumindest zu Beginn der Existenzgründung.
Sie, Herr Schauerte, wollen aber gleich eine neue
Hürde aufbauen,
({5})
weil Sie sich nicht vorstellen können, wie die Abgrenzung
zwischen dem, der weniger als 17 500 Euro umgesetzt
hat, und demjenigen, der 1 Euro mehr umgesetzt hat, aussehen soll. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren
schon hinkriegen. Regelungen, ob wir das Jahr, in dem
dieser Betrag überschritten wird, der Grundsituation
gleichstellen und erst im darauf folgenden Jahr die Buchführungspflicht einführen, sind doch problemlos zu treffen. Wer jetzt, nachdem wir ein großes Entbürokratisierungsprogramm gestartet haben, bereits ankommt und
eine neue Bürokratenfrage stellt, ist meines Erachtens als
Mittelstandsvertreter ausdrücklich fehl am Platz.
({6})
Wir machen das ja auch nicht erst seit jetzt. In der letzten Wahlperiode haben wir sowohl bei der Altersversorgung als auch im Bereich des Steuerrechts angefangen,
ordentlich aufzuräumen. Laut OECD haben wir mit die
niedrigste Steuerquote aller Industrieländer, weil diese
Regierung diese Steuerpolitik gemacht hat und nicht, weil
sie sozusagen als Geschenk vom Himmel gefallen ist. Es
war ein riesengroßes Reformvorhaben.
Dass das angesichts der krisenhaften Entwicklung insgesamt von den Menschen nicht so honoriert worden ist,
wie wir es uns selbst wünschen, ist gar keine Frage. Das
ändert aber nichts daran, dass in den letzten vier Jahren
Reinhard Schultz ({7})
Reinhard Schultz ({8})
zumindest die steuerpolitischen Grundlagen für die Arbeitnehmer, die Selbstständigen und die Mittelständler
deutlich besser geworden sind, als sie es in den 16 Jahren
vorher waren.
({9})
Wir haben dafür gesorgt, dass sich Unternehmen umstrukturieren können, ohne dabei steuerlich diskriminiert
zu werden. Man kann Beteiligungen und alle Formen, die
das Kapital haben kann - ob es sich um eine Beteiligung
an einem Anlagegut oder um etwas anderes handelt -, innerhalb von Kapitalgesellschaften so tauschen, wie man
es wirtschaftlich für richtig hält, ohne dabei diskriminiert
zu werden. Durch die Einführung der Reinvestitionsrücklage haben wir bei den Personenunternehmen Ähnliches geschaffen. Durch die volle Anrechnungsmöglichkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei
Personenunternehmen haben wir eine weitgehende Waffengleichheit hergestellt. Das sind fast revolutionäre Vorgänge im Steuerrecht, die dem Mittelstand helfen und Unternehmensgründungen im Mittelstand ermöglichen.
({10})
In dieser Richtung werden wir weitermachen. Wir werden das Steuervergünstigungsabbaugesetz abklopfen.
Es darf nichts beschlossen werden, was die Mobilität des
Kapitals und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanieren
und umstrukturieren, behindert. Wir befinden uns mitten
im Verfahren. Im Ergebnis wird es mehr Möglichkeiten
der Sanierung und Beteiligung geben als jetzt. Das ist für
uns Sozialdemokraten, die den Mittelstand fördern wollen, überhaupt keine Frage.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir haben
Riesenprobleme bei der Finanzierung von mittelständischen Unternehmen. Das stand zum Teil auch im Mittelpunkt der Redebeiträge vonseiten der Opposition und
vonseiten der Regierung. Das liegt an der Eigenkapitalquote. Sie ist im Wesentlichen bei Personenunternehmen
extrem niedrig. Das ist fast naturgesetzlich so. Sowohl in
der privaten Lebenssphäre als auch in der Lebenssphäre
der Personenunternehmen ist es nicht möglich, Eigenkapital in der Größenordnung zu haben wie in einer Kapitalgesellschaft. Bei der Reform der Unternehmensteuer
- insbesondere der Gewerbesteuer - werden wir darauf
achten müssen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die
die Eigenkapitalbildung steuerlich deutlich erleichtern.
Das wird einer der nächsten Schritte sein müssen.
Natürlich haben wir auch Probleme mit den Banken.
Ich bin ausdrücklich dafür, dass Banken den Kreditnehmer - auch den Unternehmer - zwingen, die Hosen herunterzulassen und zu zeigen, welche Sicherheiten er hat
und wie sein Schulden- und Vermögensstand aussieht.
Das dient auch dem Selbstschutz des Kreditnehmers. Die
andere Frage ist aber, welches Risiko die Bank selber einzugehen bereit ist.
({12})
Ich erwarte von ihr dasselbe Risikobewusstsein, wie es
dem mittelständischen Unternehmer in dieser Gesellschaft zugemutet wird. Dies gilt natürlich erst recht für die
Unternehmen, die aus dem Mittelstand entstanden sind,
wie die Raiffeisen- und Volksbanken, und für die öffentlich-rechtlichen Sparkassen.
Wer als öffentlich-rechtliches Kreditinstitut nicht bereit ist, den Mittelstand zu fördern, verliert im Grunde genommen den Anspruch auf seine Existenz.
({13})
Die Begründung von Sparkassen beruht darauf, ihr Auftrag sei es, die regionale Geldversorgung für den Einzelnen und für die regionale Wirtschaft sicherzustellen. Gemeinsam mit den Ländern werden wir gesetzgeberisch
einiges tun müssen, um diese Verpflichtung, die die einzige Begründung für die Existenz öffentlicher Banken ist,
aufrechtzuerhalten, so wie wir es bezüglich der bundeseigenen Bankinstitute und Förderbanken mit Erfolg handhaben.
Wir haben eine Entwicklung, in der der Mittelstand die
Finanzierung des Anlagevermögens zunehmend nicht
mehr mit Krediten, sondern über das Leasing sicherstellt.
Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. In einer solchen Situation, in der bereits fast der gesamte Fahrzeugpark des Mittelstandes über Leasing finanziert wird - das
Gleiche gilt zunehmend für Geräte, Aggregate und Gebäude -, muss man sich auch überlegen, ob die Leasingraten im Vergleich zu Dauerschuldzinsen auf die Gewerbesteuer angerechnet werden.
Es muss zumindest Waffengleichheit hergestellt werden. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen. Das ist
ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion über das Steuervergünstigungsabbaugesetz. Ein alternatives Finanzierungsinstrument für den Mittelstand darf nicht ins Rutschen geraten.
Ich bin davon überzeugt, dass diese Debatte um die Zukunft des Mittelstandes, die heute ihren Anfang nimmt,
wirklich nur ein Anfang ist. Wir werden im Laufe dieser
Wahlperiode mit Wolfgang Clement und der Bundesregierung eine Reihe von Bremsklötzen beseitigen, Fesseln sprengen - um im Bild von Herrn Brüderle zu bleiben -, Hindernisse ausräumen, die unternehmerisches
Denken und Handeln in Verantwortung für sich selbst, die
Beschäftigten, aber auch das Gemeinwesen behindern.
Unternehmerische Freiheit bedeutet gleichzeitig unternehmerische Verantwortung für das Ganze. Diese Sichtweise muss man sich gerade als rot-grüne Koalition erhalten. Wir werden sie uns erhalten. Aber sie hindert uns
nicht daran, Bremsklötze zu beseitigen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Märchen immer wieder Hochkonjunktur haben, möchte ich
gerne mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ beginnen.
Wie einigen von Ihnen sicherlich bekannt, findet sich
Gulliver auf seinen Reisen plötzlich gefesselt auf einer Insel
wieder, vertaut mit allerlei Seilen und Schnüren. Geknebelt
auf dem Boden liegend, musste Gulliver feststellen, dass er
vollkommen bewegungs- und handlungsunfähig war.
({0})
Nicht genug dieses Zustandes wurde Gulliver von vielen
Liliputanern, die ihn in diese Lage gebracht hatten, ohne
dass er dies sofort bemerkte, mit Hunderten winziger Lanzen und Speere bedroht, die jede für sich genommen vielleicht nur ein wenig schmerzhaft wären, aber in der Summe
durchaus in der Lage waren, sein Leben zu bedrohen.
({1})
Ähnlich wie Gulliver in dieser Geschichte geht es
heute dem Mittelstand in Deutschland. Während sich dieser um seine Unternehmungen bemühte, Arbeitsplätze
schuf, sich in besonderem Maße um die Ausbildung unserer Jugend kümmerte und sich, ganz offensichtlich vom
Gerede über die Neue Mitte geblendet, auf die Schaffenskraft der rot-grünen Bundesregierung verließ, wurde der
Mittelstand durch immer mehr bürokratische Hindernisse, durch Gesetze und Verordnungen, durch Steuerund Abgabenerhöhungen Zug um Zug gefesselt und letztlich bewegungs- und handlungsunfähig gemacht.
({2})
Märchen finden meist ein gutes Ende. Doch wie schaut
die Realität in Deutschland aus? „Die Stimmung im deutschen Mittelstand ist zu Jahresbeginn 2003 dramatisch
eingebrochen“, so berichtet die „Süddeutsche Zeitung“.
Die Vereinigung Mittelständischer Unternehmer resümiert,
dass auch in den vergangenen Jahren die Lage für den
Mittelstand nicht besonders gut war - ich zitiere -, „aber
die Stimmung war noch nie so schlecht“.
Anstatt in dieser bedrohlichen Lage endlich Entlastungen für die Vielzahl kleiner Firmen und Selbstständigen
anzugehen, versetzt die Bundesregierung den Unternehmern erst einmal eine ganze Reihe von Tiefschlägen:
Massive Steuererhöhungen werden angekündigt, die
Lohnnebenkosten drastisch erhöht. Die Einschränkung
des Verlustvortrags wird erklärt. Die Eigentumsförderung
wird als Zeichen der Familienfreundlichkeit gekürzt,
ohne dabei die Auswirkungen auf die Bauwirtschaft zu
berücksichtigen.
Obwohl Sie, Herr Minister, gestern bei der Vorstellung
des Jahreswirtschaftsberichts feststellten, dass die Lage
genauso wie die Stimmung in unserem Land ist, nämlich
geprägt von Verzweiflung und Frustration, bleiben Sie
Ihrem von mir ehrlich bewunderten Optimismus treu und
prognostizieren für 2003 ein Wirtschaftswachstum von
1 Prozent, obwohl das DIW und der BGA ihre Wachstumsprognosen schon lange weit unter 1 Prozent korrigiert haben.
Die Arbeitslosenzahlen, die diesen Monat wieder drastisch gestiegen sind und bei 4,5 Millionen liegen, werden
im Jahresdurchschnitt auf jetzt 4,2 Millionen festgelegt.
An alte Versprechen von 3,5 Millionen Arbeitslosen will
man bei der Regierungskoalition in diesem Zusammenhang ohnehin nicht mehr erinnert werden. Sie wurden im
Vertrauen darauf gegeben, dass die Konjunktur in der
zweiten Hälfte des Jahres 2003 wieder anzieht. Ich erinnere an die gleiche Ankündigung vor genau einem Jahr,
die wir noch sehr gut im Gedächtnis haben.
Minister Clement hat gestern sehr richtig gesagt: „Für die
Rückgewinnung des Vertrauens muss Politik verlässlich
sein.“ Ich wünschte mir, dass diese Verlässlichkeit erkennbar wäre. Dem ist aber leider nicht so. Mit einer Vielzahl von
Ankündigungen werden die Menschen und Unternehmen in
unserem Land täglich verunsichert: Besteuerung von
Dienstfahrzeugen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Mindeststeuer, Kündigungsschutz und vieles mehr. Meine Damen
und Herren, diese Art verlässlicher Politik von Rot-Grün hat
der Mittelstand in Deutschland nicht verdient.
({3})
Herr Minister Clement, Sie müssen Obacht geben, dass
aus Ihrem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht das
Ministerium für Ankündigung und Rücknahme wird;
diese Gefahr besteht.
Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind
in mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Wenn Sie
es sich zum Ziel setzen würden, dass nur jeder fünfte Mittelständler einen Arbeitslosen beschäftigt, könnten Sie die
Arbeitslosenzahl in Deutschland um 600 000 senken. Momentan sieht es leider ganz anders aus: Fast jeder zweite
Mittelständler überlegt sich heute, Personal abzubauen.
Ihnen von der Regierungskoalition fällt dazu nur die so
genannte Offensive für den Mittelstand ein, die mit einer
überschaubaren Zahl von Einzelmaßnahmen ausgestattet
ist, die - das gestehe ich Ihnen durchaus zu - in Teilen
dazu beitragen mögen, die eine oder andere Fesselung des
Mittelstandes zu lockern. Aber sie ist unter keinen Umständen der große Wurf, der endlich die lähmenden Fesseln von Bürokratie, Steuerlast und Depressionsangst
durchtrennen könnte. Der Small-Business-Act zur Förderung von Existenzgründern im vorliegenden Antrag der
Regierungskoalition greift beim Mittelstand vollkommen
ins Leere. Wenn Sie Existenzgründer wirklich fördern
wollen, dann sorgen Sie dafür, dass in den ersten Jahren
nach der Gründung deutliche Steuererleichterungen möglich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Um langfristig den Mittelstand wieder zum Beschäftigungsmotor in Deutschland zu machen, ist es notwendig,
die Ausstattung mit Eigenkapital zu verbessern. Der Mittelstand in Deutschland hat offenbar eine zu geringe Kapitaldecke. Ich erlebe es - wie viele von Ihnen mit Sicherheit auch - in meinem Wahlkreis, wie traditionsreiche
Unternehmen inzwischen daran scheitern, dass sie nicht
über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Darum ist
es dringend notwendig, neue steuerliche Regelungen für
Beteiligungs- und Chancenkapital vorzulegen. Machen
Sie einen mutigen Schritt und sorgen Sie dafür, dass Personen, die Geld in mittelständische Unternehmen investieren, für ihre Erträge aus diesen Beteiligungen von
höheren Steuerfreibeträgen bei den Kapitaleinkünften
profitieren können! Damit leisteten Sie einen ernsthaften
Beitrag dazu, die Kapitalausstattung beim Mittelstand zu
verbessern. Sorgen Sie ferner dafür, dass Betriebsübernahmen durch Familienangehörige von der Erbschaftsteuer
freigestellt werden, wenn der Betrieb weiterläuft und
Arbeitsplätze sichert! Diese Maßnahmen sorgen konkret
für eine bessere finanzielle Ausstattung des Mittelstandes.
Ich bin gespannt, ob ich diese und weitere Vorschläge
bei Ihnen wiederfinden werde oder ob nicht eher, wie das
„Handelsblatt“ gestern geschrieben hat, die Bundesregierung Pläne hat, bei Leasinggeschäften die Raten des Leasingnehmers mit einer Steuer zu belegen. Damit nähmen
Sie dem Mittelstand eine seiner letzten wichtigen Finanzierungsmöglichkeiten.
Begrüßen kann ich nur Ihre Willenserklärung zum
Bürokratieabbau;
({4})
denn wer - wie ich selbst - in seinem Unternehmen mit
einer Vielzahl von statistischen Meldungen befasst ist und
bei den statistischen Ämtern lediglich die Auskunft bekommt, er solle froh sein, wenn es nicht noch mehr Meldepflichten würden, der kann Sie in diesem Ansinnen nur
unterstützen. Ich weise allerdings darauf hin, dass bereits
Wirtschaftsminister Müller den Abbau der Bürokratie
versprochen hat. Aber Sie, Herr Minister Clement, haben
angekündigt: „Wir sind schlichtweg in einer Situation, in
der wir alles, was wir bisher getan haben, überprüfen müssen.“ Ich empfehle dieses Vorgehen auch für die vorliegende Offensive für den Mittelstand.
Danke schön.
({5})
Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Wir sind damit am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/351, 15/349 und 15/357 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/351 soll zusätzlich an den
Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie
an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen
({1})
- Drucksache 15/273 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern
arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfebezieher ({3})
- Drucksache 15/309 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Daniel Bahr ({5}), Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Sozialhilferecht gerechter gestalten - Hilfebedürftige Bürger effizienter fördern und fordern
- Drucksache 15/358 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die
hessische Sozialministerin, Frau Silke Lautenschläger.
({7})
Silke Lautenschläger, Staatsministerin ({8}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
könnten schon viel weiter sein.
({9})
Als ich heute Morgen die Diskussion genau verfolgt habe,
habe ich mich - das gebe ich zu - ein bisschen in den Teil
meines Ressorts versetzt gefühlt, der sich mit Gesundheitspolitik und Psychologie beschäftigt. Es gibt eine
Krankheit namens Schizophrenie, das heißt gespaltene
Wirklichkeitswahrnehmung. Genau an dieser Stelle, liebe
Kollegen von der SPD-Fraktion, scheinen wir uns wiederzufinden. Die Sozialhilfereform ist bereits vor gut einem Jahr mit dem OFFENSIV-Gesetz auf den Weg gebracht worden. Tausende Sozialhilfeempfänger könnten
schon heute wieder in Arbeit sein,
({10})
wenn die rot-grüne Koalition im Bundestag nicht blockieren und taktieren würde.
({11})
Genau an dieser Stelle heißt es, schneller zu handeln.
Sie haben die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.
({12})
Fast 4,5 Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Genau
derjenigen, die besonders betroffen sind, also der Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, muss man sich
wieder besonders annehmen. Es sind sich doch längst alle
einig darin, dass wir hier eine Reform brauchen. Sie muss
aber auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen auch
hier nicht ständig einen neuen Luftballon, der zerplatzt,
und können nicht auf Hartz III, IV oder V warten, falls Sie
die Vorschläge dieser Kommission überhaupt noch umsetzen wollen.
({13})
Wir brauchen vielmehr eine Sozialhilfereform,
({14})
die tatsächlich Fördern und Fordern möglich macht.
({15})
Eine solche Reform ist dringend notwendig.
({16})
- Ich werde Ihnen sehr gerne erklären, was in Hessen bereits alles passiert ist.
({17})
Rufen Sie bitte nicht ständig dazwischen. Lassen Sie
der Rednerin ein bisschen Luft.
Silke Lautenschläger, Staatsministerin ({0}):
Wir haben erstens ein Gesetz vorgelegt und zweitens
schon viele Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Nur, mit
Pilotprojekten kann man zwar einiges in Gang setzen.
Aber Sie müssen endlich auch die entsprechenden bundesrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen,
({1})
die uns die Möglichkeiten geben, besser und schneller in
den Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Im Übrigen sprechen Sie immer so gerne - dieses
Stichwort findet man auch in einigen Ihrer Gesetze - von
Fördern und Fordern. Wenn man aber nicht fordern
kann, weil die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten in
Ihren Gesetzen fehlen, wenn der Datenaustausch zwischen den verschiedenen Stellen noch immer nicht richtig
geregelt ist und wenn man keine Möglichkeiten hat, die
Beweislast umzukehren, damit Fördern und Fordern auch
im Bereich der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslosenhilfeempfänger möglich ist, dann kann ich nur sagen:
Auch Sie im Bund müssen Ihre Hausaufgaben machen
und mit den Bundesländern endlich zusammenarbeiten;
denn wir haben natürlich das allergrößte Interesse daran,
dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas tut, und zwar vor allem für diejenigen, die besonders schwer zu integrieren
sind. Deshalb brauchen wir Jobcenter, die Betreuung,
Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung an
einer Stelle zusammenführen.
({2})
Das versuchen wir bereits in vielen Pilotprojekten umzusetzen. Nur, Sie müssen natürlich weitere gesetzliche Möglichkeiten schaffen, wenn wir eine verbindliche Eingliederungsvereinbarung haben wollen, die für beide Seiten
verpflichtend ist. Das haben Sie bisher noch nicht gemacht.
({3})
Die Überprüfung der Verfügbarkeit sowie Trainingsmöglichkeiten und Fortbildungsmaßnahmen sollten erst nach
dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung kommen. Eine solche Vereinbarung, die dazu dient, die Betroffenen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss am Anfang stehen.
Ich verstehe ja, dass Sie sich auch an dieser Stelle ein
wenig aufregen und dass Sie ein wenig unruhig werden;
({4})
denn der 2. Februar steht kurz bevor. Danach haben Sie
endlich die Möglichkeit, es nicht bei Ankündigungen und
dem Aneinanderhängen immer neuer Reförmchen zu belassen, sondern endlich umzusteuern, auch für die schwer
Vermittelbaren Chancen zu eröffnen und den Ländern eigene Möglichkeiten einzuräumen. Der Kollege Clement
hat angekündigt - dafür bin ich sehr dankbar; das sage ich
sehr deutlich -, dass er zu Experimentiermöglichkeiten
bereit ist. Diese brauchen wir.
({5})
- Genau, die sind angekündigt. Das ist der große Unterschied.
Ich erwarte, dass sowohl der Herr Bundeskanzler, der
gleichzeitig der Bundesvorsitzende der SPD ist, als auch
Staatsministerin Silke Lautenschläger
Staatsministerin Silke Lautenschläger
der Fraktionsvorsitzende der SPD am 3. Februar endlich
auf diesen Kurs einschwenken.
({6})
Es ist ein Fehler, dass das bis heute nicht geschehen ist.
Ich will Ihnen einige Punkte nennen, deren Beachtung
für die Gestaltung von Experimentiermöglichkeiten auf
Länderebene vonnöten ist. Die Länder brauchen dazu
Änderungen im SGB III. Ich denke dabei an Folgendes:
Teilnahme an Hilfsmaßnahmen, Zumutbarkeit, Bereitschaft zu gemeinnütziger Arbeit, den verbindlichen Abschluss der Eingliederungsvereinbarung auch im SGB III.
Auch was das BSHG angeht, sieht es nicht besser aus;
denn die entsprechenden Regelungen sind noch nicht getroffen worden. Noch immer ist es uns nicht möglich, das
mit Landesrecht umzusetzen. Wir brauchen die Länderöffnungsklauseln, damit es möglich sein wird, dass die
Arbeitsvermittlung eine Pflichtaufgabe der örtlichen Sozialhilfeträger ist.
Sie sollten sich an dieser Stelle vielleicht einmal mit
dem auseinander setzen, was der Deutsche Landkreistag
längst beschlossen hat. Es geht darum, dass der gesamte
Sachverstand der auf der kommunalen Ebene Tätigen
nicht einfach ausgeschlossen wird. Sie sollten nicht meinen, alles auf die Bundesanstalt verlagern zu müssen. Damit bilden Sie einen neuen Moloch. Wir wollen die Zusammenarbeit der auf der kommunalen Ebene Tätigen,
der Sozialhilfeträger und der Arbeitsämter, um besser und
schneller vermitteln zu können.
({7})
Ich gebe zu: Ich verstehe natürlich auch Ihre Angst an
dieser Stelle. Wir könnten schon seit einem Jahr Erfolge
aufweisen, wir könnten schon wesentlich mehr Menschen
vermittelt haben,
({8})
wenn Sie uns an dieser Stelle Experimentiermöglichkeiten gegeben hätten. Sie können dafür sorgen, dass nur die
Hessen das ausprobieren.
({9})
Wenn es nicht funktioniert, dann können Sie sich ins
Fäustchen lachen. Wir sind noch nicht von dem Ziel abgekommen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, indem
wir einen Wettbewerb um diejenigen, die außen vor sind,
starten.
Sie reden von verriegelten Arbeitsmärkten. Wir hören
viel von Bürokratieabbau. Darüber wurde heute Morgen
diskutiert.
({10})
Gerade die Bundesländer wollen mithelfen, die Bürokratie
abzubauen. Bei den Verhandlungen über die Hartz-Gesetze konnten wir wenigstens in dem Bereich Scheinselbstständigkeit etwas erreichen. Es ging dabei um Dinge,
die Sie wieder eingeführt hatten. Jetzt helfen wir Ihnen,
Bürokratie abzubauen, die Sie in den vergangenen vier
Jahren aufgebaut haben.
Es ist schön und gut, über Erfolge zu reden. Wir nehmen
Sie gern an die Hand. Nur: Geben Sie uns doch die Möglichkeiten zu experimentieren! Geben Sie uns die Möglichkeiten, die es in anderen Staaten schon längst gibt! Dort haben Länder die Möglichkeit bekommen, den Arbeitsmarkt
selbst zu gestalten. Wir müssen dahin kommen, dass es auf
dem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wettbewerb gibt, zum
Beispiel dadurch, dass Jobcenter versuchen, schneller zu
vermitteln und freie Träger einzuschalten.
Ich fordere Sie dazu auf mitzumachen. Ich verweise
auf einen Kollegen aus der SPD-Fraktion, der bei unseren
Pilotprojekten mitmacht. Er reist im Moment durch die
Gegend und sagt: Das, was die Bundesregierung an dieser Stelle macht, ist falsch. Ich fordere Sie auch dazu auf,
sich einmal freie Träger anzuschauen, die wir in die Arbeit der Jobcenter einbinden. Sie bringen dort beispielsweise ihre Erfahrungen aus der Drogen- und Suchthilfe
ein. Sie tragen dazu bei, dass Menschen schneller wieder
in Arbeit gebracht werden. Auch im Bereich Drogen- und
Suchthilfe ist Arbeit das Entscheidende.
Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Sie können
auch hoffen, dass wir auf die Nase fallen. Sie sollten es
aber im Interesse derjenigen, die wieder Arbeit haben
wollen, nicht bei Ankündigungen, Experimentiermöglichkeiten zu schaffen, belassen. Sie haben die Chance,
zum ersten Mal Experimentiermöglichkeiten der Länder
zu schaffen.
Meine Damen und Herren, wir haben an dieser Stelle
die Tür aufgemacht. In unserem Sinne ist es nicht, im
Bundesrat Blockade à la Lafontaine zu üben. Uns geht es
vielmehr darum, zusammenzuarbeiten und Reformen auf
den Weg zu bringen. Aber was hilft es uns, wenn die Regierung die Reformen ankündigt, der Nächste das wieder
zurücknimmt und die SPD-Fraktion hier im Bundestag
sagt, man habe es überhaupt nicht nötig, an dieser Stelle
etwas zu tun? Lassen Sie uns doch auch im Bereich der
Sozialhilfe endlich die Chancen nutzen, wie wir es bei
Hartz mit der 400-Euro-Regelung, die vorher schon so im
CDU/CSU-Programm stand, getan haben!
({11})
Ein letzter Punkt. Sie kündigen die Sozialhilfereform
für 2004, vielleicht auch 2005 an. Wir können sofort anfangen. Das kann parallel laufen, wenn Sie den Ländern
Experimentiermöglichkeiten geben, wenn Sie an dieser
Stelle mit uns zusammenarbeiten. Da ist tatsächlich die
Chance gegeben, dass wir uns endlich wieder richtig um
die benachteiligten Gruppen kümmern. Wir haben in
Hessen gute Erfolge vorzuweisen, gerade bei der Vermittlung von Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen in
den Arbeitsmarkt. Aber wir wollen noch besser werden.
Wir stecken unsere Ziele hoch. Wir haben immer noch
den Anspruch, mit diesen Reformen die Zahl der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zu halbieren, indem
wir sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Sie
das aufgegeben haben, würde mir persönlich das sehr
Leid tun. Denn ich denke, man muss sich darum
bemühen, genau diese Gruppen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
({12})
Ich lade Sie herzlich dazu ein, mit uns über dieses Gesetz, über die Experimentiermöglichkeiten endlich einmal
wirklich nachzudenken. Die Tür im Bundesrat ist offen
und sie wird am 2. Februar mit Sicherheit noch ein Stück
größer werden. Ich hoffe, dass Ihre Seite sich bewegt und
dass wir dazu kommen, einen verriegelten Arbeitsmarkt
endlich zu öffnen und zu entbürokratisieren und auch eine
Sozialhilfereform, die ihren Namen verdient, auf den Weg
zu bringen.
({13})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! OFFENSIVGesetz zum Dritten! Das vom Bundesrat im November
auf Initiative der Länder Hessen und Bayern beschlossene
OFFENSIV-Gesetz
({0})
liegt uns nun zum dritten Mal hier vor. Das ist natürlich
kein Zufall; denn am Wochenende sind Wahlen.
({1})
Ich bin sehr versucht, Ihnen, sehr verehrte Kollegin
Lautenschläger, ein bisschen Nachhilfeunterricht zu geben. Das schenke ich mir. Viele der Dinge, die Sie hier behauptet haben, stimmen hinten und vorne nicht.
({2})
Sie können experimentieren, so viel Sie wollen. Wir haben dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Wir
sind längst dabei, entsprechende Modellversuche durchzuführen, zum Beispiel die MoZArT-Projekte. Das können Sie alles machen; daran werden Sie überhaupt nicht
gehindert. Das läuft auch in Hessen. Vieles von dem, was
Sie hier geschildert haben, ist also einfach dummes Zeug.
Es tut mir sehr Leid, Ihnen das so sagen zu müssen.
({3})
„Zum Dritten“ sage ich, weil wir schon im Sommer darüber geredet haben und Sie das Ganze im Bundestagswahlkampf als Aufguss noch einmal eingebracht haben.
Nun diskutieren wir zum dritten Mal darüber.
Beide Gesetzentwürfe des Bundesrates zielen darauf
ab, Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfänger schneller in Arbeit zu bringen. Da kann ich nur sagen:
Recht so! Damit wir uns richtig verstehen: Das will auch
die Bundesregierung. Ich stimme mit den Zielen der beiden Gesetzentwürfe durchaus überein, die Strukturen der
Arbeitsvermittlung effizienter zu machen, die Beschäftigungssituation für Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfänger zu verbessern und deren Arbeitslosigkeit
nachhaltig abzubauen.
Die Gesetzentwürfe gehen dazu aber trotz erwägenswerter Vorschläge im Detail grundsätzlich den falschen
Weg. Der wird auch beim dritten Aufguss nicht besser. Ich
will das begründen.
Im August vergangenen Jahres hat die Kommission
„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einen bemerkenswerten Bericht vorgelegt, den Ihr Kandidat ja öffentlich richtig abqualifiziert hat, wie ich meine, völlig zu
Unrecht. Wir haben in der Zwischenzeit zwei Gesetze auf
den Weg gebracht und umgesetzt - ich will ausdrücklich
hinzufügen: auch mit Ihrer Hilfe, was den zustimmungspflichtigen Teil angeht.
Nun arbeiten wir konsequent an der weiteren Umsetzung der Hartz-Vorschläge. Die beiden Gesetzentwürfe
des Bundesrates setzen im Wesentlichen lediglich an den
bestehenden Systemen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe an und würden damit das dauerhafte Nebeneinander von zwei Hilfesystemen für einen vergleichbaren
Personenkreis verfestigen. Deswegen greifen Sie mit diesen Vorschlägen zu kurz.
Die Bundesregierung hingegen wird als dritte Stufe der
Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der nach unserer
Vorstellung am 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft
treten kann.
Demgegenüber könnte aufgrund des OFFENSIV-Gesetzentwurfes eine Reform der Hilfesysteme frühestens
2008 beginnen, weil die vorgeschlagene Experimentierklausel, die Sie eben so heftig gelobt haben, zur modellhaften Erprobung von Vermittlungsagenturen bis Ende
2007 gelten soll. So steht es in Ihrem Entwurf; wenn Sie
dort nachlesen, werden Sie das feststellen.
Ein Großteil der von beiden Gesetzentwürfen vorgesehenen Änderungen sind zudem bereits geltende Rechtspraxis bzw. wurden im Rahmen des Ersten und des Zweiten
Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
geregelt.
Der Gesetzentwurf zum Fördern und Fordern ist insbesondere bei den Änderungen im Bundessozialhilfegesetz inhaltlich nicht schlüssig. Er ist letztlich nur ein unvollständiger Vorgriff auf die für diese Legislaturperiode
von der Koalition vorgesehene umfassende BSHGReform.
Der Grundsatz des Förderns und Forderns steht übrigens
bereits sowohl im geltenden Arbeitsförderungsrecht als
auch im Sozialhilferecht. Es gibt kein Wahlrecht zwischen
Arbeitsaufnahme und Leistungsbezug. Erwerbsfähige
Hilfebedürftige müssen schon nach geltendem Recht zur
Bestreitung ihres Lebensunterhalts in erster Linie ihre Arbeitskraft einsetzen.
Staatsministerin Silke Lautenschläger
Nehmen wir das konkrete Beispiel der Jobcenter. Wir
brauchen solche integrierten Anlaufstellen für alle erwerbslosen und erwerbsfähigen Personen, um Verwaltungsabläufe effizienter zu gestalten und Verschiebebahnhöfe zu vermeiden. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf
aber würde das genaue Gegenteil erreicht: Indem den
Ländern überlassen werden soll, zu entscheiden, ob die
Arbeitsvermittlung durch die Sozialämter oder die Arbeitsämter durchgeführt wird, würde eine unübersichtliche Doppelbürokratie für die Vermittlung von Arbeitslosen geschaffen.
({4})
Auch die Einführung von regelmäßigen Meldekontrollen
- von Ihnen eben noch einmal stark betont - führt, wie die
Vergangenheit gezeigt hat, nicht zu besseren Vermittlungsergebnissen.
Im Gegensatz dazu stellt das geltende Arbeitsförderungsrecht bereits die passgenaue Arbeitsvermittlung zum
Beispiel durch Profiling, Eingliederungsvereinbarung und
Beteiligung Dritter im Vermittlungsprozess für alle Arbeitslosen in den Mittelpunkt. Im Übrigen können wir dann
- ich habe das eingangs schon gesagt - auf Experimentierklauseln in diesem Zusammenhang wirklich verzichten.
Einzelne Vorschläge der Gesetzentwürfe des Bundesrates sind auch verfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Das wissen Sie sehr genau, Frau Lautenschläger.
Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit, über
Sperrzeiten und über Leistungskürzungen müssen zur
Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
nach Auffassung der Bundesregierung bundeseinheitlich
geregelt bleiben und dürfen nicht von Land zu Land unterschiedlichen Maßstäben unterworfen sein.
Besonders fragwürdig sind für mich aber die in dem
OFFENSIV-Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge zur
Organisation und Finanzierung der Vermittlungsagenturen. Das ist wirklich ein Geniestreich Ihrerseits.
({5})
Die Jobcenter sollen zwar im Sinne einer Bundesauftragsverwaltung Landesbehörden sein, das Personal und
die Sachmittel aber sollen anteilig von der Bundesanstalt
für Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe gestellt werden.
Das zuständige Bundesministerium soll kein Weisungsrecht gegenüber den Jobcentern haben, obwohl der Bund
die Arbeitslosenhilfe finanziert, die die Bundesanstalt für
Arbeit ja nur im Auftrag des Bundes erbringt.
({6})
Bei der Finanzierung ist es dagegen genau umgekehrt.
Der im Gesetzentwurf vorgesehene finanzielle Beitrag
der Länder wird gar nicht erst konkretisiert; dazu sagen
Sie überhaupt nichts. Die Bundesanstalt für Arbeit soll
aber über die Landesarbeitsämter 30 Prozent der Mittel
für aktive Arbeitsförderung für die nach Landesrecht errichteten Vermittlungsagenturen bereitstellen
({7})
und der Bund soll sogar die bewilligte Arbeitslosenhilfe
an die Vermittlungsagenturen erstatten, ohne irgendwelche Steuerungsmöglichkeiten bei der Erbringung der Leistung zu haben. Dazu sage ich Ihnen, Frau Lautenschläger:
Auch wenn Sie das noch fünfmal hier einbringen, so geht
es nicht; Sie werden hier auch keine Mehrheit dafür
finden.
({8})
Ein derartiges Auseinanderklaffen von Organisationsund Finanzhoheit halte ich verfassungsrechtlich für
äußerst problematisch. Wie soll eine vernünftige Steuerung eines solchen Systems überhaupt gewährleistet werden?
Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, hat die Bundesregierung mit den ersten zwei Gesetzen für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits bewiesen, dass
wir die Arbeitsmarktpolitik durchgreifend reformieren
wollen und können. Wir werden dafür sorgen, dass der
Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister richtig Fahrt aufnimmt. Wir werden auch
dafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen von Bürokratie entlastet werden. Insgesamt wird es uns gelingen,
mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts die dringend notwendigen Impulse zur Belebung des Arbeitsmarktes zu
setzen, was durch die beiden von der Opposition vorgelegten Gesetzentwürfe nicht geleistet wird.
Frau Lautenschläger, ich will noch etwas zu Ihrer Forderung sagen, dass gehandelt werden muss. Ich kann
diese Forderung - Stichwort: Wisconsin - ein bisschen
nachvollziehen.
({9})
Sie sind dorthin gefahren und haben sich die Situation vor
Ort angesehen. Es hat lange gedauert, bis Sie den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben. Nach meiner Wahrnehmung kreißte der Berg und gebar eine Maus.
({10})
Was Sie an gesetzlichen Konstruktionen vorgelegt haben,
ist absolut untauglich. Sie sind doch darüber informiert,
dass wir in der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen und in deren Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/
Sozialhilfe“ längst viel weiter sind.
({11})
- Ich kann Ihnen sagen, dass die Arbeitsgruppe schon
viermal getagt hat.
({12})
Was die Rechenmodelle und bestimmte Kriterien angeht,
sind wir uns dort weitgehend einig. Die hessische Sozialministerin hat bei der Vorstellung Ihres tollen Modells
vom Landkreistag gesprochen. Interessant ist, dass der
Landkreistag die einzige kommunale Spitzenorganisation
ist, die eine andere Position einnimmt.
({13})
Ich bin sehr gespannt, Frau Kollegin aus Hessen, was
Sie mit den beiden Gesetzentwürfen machen, die Sie erneut eingebracht haben; denn Sie müssen uns die Hand
reichen, damit eine Reform auf diesem Gebiet zustande
kommen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang eine
Bitte: Ersparen Sie uns, dass wir darüber zum vierten oder
zum fünften Mal diskutieren müssen. Glauben Sie mir: Es
wird nicht besser.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwortung,
({0})
weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen
ihren Lebensunterhalt durch ihrer eigenen Hände Arbeit
erwirtschaften können. Deshalb ist es notwendig, dass wir
gerade für diejenigen, die sich am wenigsten helfen können, erst einmal die organisatorischen Möglichkeiten
schaffen, dass sie die Chance bekommen, im Arbeitsmarktprozess integriert zu werden.
({1})
Selbstverständlich brauchen wir nicht nur die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe,
sondern wir brauchen mittel- und langfristig auch die Zusammenführung der beiden Behörden, die diese Hilfen zu
erbringen haben. Wir brauchen One-Stop-Career-Center,
also etwas Weitergehendes als das, was Sie mit den Jobcentern im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts
erreichen werden. Wir benötigen eine Anlaufstelle, wo
die Menschen ein umfassendes Dienstleistungsangebot
erhalten.
An dieser einen Stelle muss es sowohl die Arbeitsvermittlung als auch - nach der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird es nur noch ein Ansprechpartner sein - die Leistungsgewährung durch den
jeweils zuständigen Träger geben. Die Menschen müssen
die Möglichkeit haben, an einer Stelle Bildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen zu können, Zeitarbeitsverträge
abschließen zu können oder die notwendigen sozialen
Maßnahmen von der Schuldnerberatung bis hin zur Drogentherapie oder zu Alkoholentziehungskuren beantragen
zu können. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass
dieses Gesetz wieder eingebracht wurde. Es geht in die
richtige Richtung, aber einige wichtige Punkte fehlen.
Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt.
({2})
Auch hier gilt - der Herr Staatssekretär hat es schon angesprochen -: Zu viel Koch verdirbt den Brei.
({3})
Deswegen müssen wir das Ganze noch etwas nachwürzen. Wir brauchen eine flächendeckende Regelung für
ebendiese Maßnahmen und keine Experimentierklauseln.
Wir müssen endlich dazu kommen, dass die Reform der
Organisationsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit
greift, dass sie also umgesetzt und nicht immer nur angekündigt wird. Dass die Landesarbeitsämter und die
Selbstverwaltung abgeschafft werden, ist eine Marginalie, die man nur am Rande erwähnen muss.
({4})
Die Bundesregierung kündigt an, all das, was noch
nicht geregelt ist, werde mit Hartz III und Hartz IV behandelt. Angesichts von Hartz I und Hartz II würde ich
empfehlen, nicht darauf zu warten. Was gibt es denn außer
vielen Ankündigungen? Wenn ich Walter Riester wäre,
der leider nicht anwesend ist, würde ich heulend durch
den Plenarsaal laufen. Denn alles, was hier an Reformschritten angekündigt wird, ist doch nichts anderes als die
nicht ausreichende Rücknahme der arbeitsmarktpolitischen „Großereignisse“ der letzten Legislaturperiode.
Das ist nichts anderes als der Beweis, dass Sie vier Jahre
lang arbeitsmarktpolitisch die Weichen in die falsche
Richtung gestellt haben.
Wenn Sie schon bereit sind, einen Teil davon zu korrigieren, dann machen Sie es auch noch hasenfüßig, halbherzig und teilweise handwerklich falsch, sodass man mit
großer Freude in der heutigen „Welt“ die Liste des Bundeswirtschaftsministeriums sieht, in der die nächsten Reformschritte angekündigt werden.
Ich möchte die erforderlichen Maßnahmen einmal Revue passieren lassen, denn um die Menschen, die Hilfe
brauchen, in Arbeit vermitteln zu können, brauchen wir
auch einen Arbeitsmarkt, der Arbeitsplätze überhaupt generieren kann. Der erste Schritt wäre eine umfassende und
vereinfachende Steuerreform, die Sie strikt verweigern,
im Gegenteil: Sie gehen in die andere Richtung und erhöhen die Steuern. Der zweite Schritt wäre eine umfassende Deregulierung des Arbeitsrechts. Hier kündigt
Herr Clement einiges an und nimmt es wieder zurück.
Frau Lautenschläger war wie ich Mitglied der Arbeitsgruppe im Vermittlungsausschuss zur Umsetzung der
Hartz-Vorschläge. In der ersten Sitzung hat Herr Clement
angekündigt: Das Scheinselbstständigengesetz, das Sie
perfiderweise Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit
genannt haben, wird abgeschafft. - In der zweiten Runde
haben Sie ihn zurückgepfiffen. Jetzt entfällt nur die Vermutungsregelung, der ganze andere Schrott steht immer
noch im Gesetz.
({5})
So geht es Schritt für Schritt weiter. Herr Clement kündigt
die Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über den
Ladenschluss an, das liegt gerade bei Verdi im Genehmigungsverfahren fest.
({6})
Er kündigt in der Arbeitsmarktpolitik eine Reform pro
Monat an.
({7})
Zu der für den Monat Januar geplanten Reform des Kündigungsschutzes hat er, wie wir der gestrigen Regierungsbefragung entnehmen konnten, versprochen, dass sie
Ende Februar abgeschlossen sei. Das werden wir uns anschauen.
Jetzt kündigt er an oder lässt sein Ministerium zwei
Tage vor der Wahl an die Presse lancieren, man müsse
über das Teilzeitpflichtgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz reden. Richtig, sage ich Ihnen. Ich bin ja froh,
wenn Sie auf den richtigen Weg kommen. Aber machen
Sie es und machen Sie es vernünftig, denn die Menschen
in unserem Land haben das, was Sie mit ihnen tun, nicht
verdient. Man muss sich ja wirklich dafür schämen, wie
schlecht es den Leuten in diesem Land geht. Es geht ihnen so schlecht, dass der Bauer, dem Sie die Sau vom Hof
klauen und dem Sie hinterher drei Schnitzel zurückbringen, damit auch noch zufrieden sein muss. Es ist unglaublich, was Sie mit den Menschen in Deutschland anzustellen versuchen. Deswegen sage ich Ihnen offen und
ehrlich: Ihre Arbeitsmarktpolitik wird den Menschen
nicht die Möglichkeit geben, in den Arbeitsprozess
zurückzukehren.
Ihr Staatsverständnis - wir haben es vorhin in der Debatte von Herrn Kuhn, dem grünen Chefarbeitsmarktpolitiker, der auch nicht mehr da ist, gehört -, wonach man
Deutschland schlechtredet, wenn man als Opposition die
Regierungspolitik kritisiert, ist hochherrschaftliches
Staatsverständnis. Wenn Sie sich als Deutschland empfinden, dann ist mir angst und bange um dieses Land und
dann kann man wirklich nicht mehr ruhig schlafen.
Nein, Sie sind einfach nur eine schlechte Regierung.
Das Land ist gut und mit einer guten, verantwortungsvollen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik bekommen die
Menschen auch wieder Chancen, selbst dabei zu sein.
Deswegen unterstützen wir vom Ansatz her die vorgelegten Gesetze, verbessern sie mit unseren eigenen Vorschlägen und hoffen auf ein gutes Ergebnis am 2. Februar in
Niedersachsen und Hessen - für Deutschland.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren!
Lassen Sie mich eine Bemerkung vorab machen. Frau
Lautenschläger, wir haben uns in der Arbeitsgruppe des
Vermittlungsausschusses kennen gelernt, als es um die
Umsetzung der Hartz-Vorschläge ging. Da habe ich
durchaus Ihre konstruktive Mitdiskussion schätzen gelernt.
Ich habe allerdings gehofft, dass Sie im Zuge dieser
Auseinandersetzung endlich bemerken, dass das, was Sie
in Ihrem OFFENSIV-Gesetz zusammengeschrieben haben, an vielen Stellen schon Gesetz ist oder dass wir in der
Umsetzung sind, dass es also schlichtweg vollständig
überholt ist. Ich habe auch gedacht, Sie hätten in der Vergangenheit die Chance wahrgenommen, zu begreifen, dass
die Experimentiermöglichkeiten für Ihr Land, für Hessen,
die Sie hier einklagen, längst bestehen. Wir haben ein
MoZArT-Projekt; wir brauchen kein Köchelverzeichnis.
({0})
Wir haben ein MoZArT-Projekt, in dem nicht nur in
Hessen, sondern in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und an
anderer Stelle
({1})
- genau, auch in Berlin; danke, Herr Kollege -, die Zusammenführung der Arbeitsämter und der Sozialämter
gerade bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen
längst Realität ist. Dort werden unterschiedliche Erfahrungen gesammelt, die in das eingehen werden, was wir
mit Hartz III geplant haben.
Wie gesagt, was Sie hier einbringen, ist wirklich alles
überholt.
({2})
Ich glaube, Sie wissen alle, wen Wilhelm Busch meinte,
als er schrieb: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es
wieder aufgewärmt. Die Köchin, die von Wilhelm Busch
beschrieben wird, ist Witwe Bolte.
({3})
Ich glaube, dass sich Ihr Koch von der CDU an der Witwe
Bolte orientiert, weil er uns das OFFENSIV-Gesetz zum
dritten Mal aufgekocht lancieren lässt. Aber leider ist es
nur beim Sauerkraut so, dass es durch Aufwärmen besser
wird,
({4})
in der Arbeitsmarktpolitik ist das jedoch nicht der Fall. In
der Arbeitsmarktpolitik muss man mit dem, was man in
Angriff nimmt, auf der Höhe der Zeit sein. Ihr OFFENSIV-Gesetz aber ist bereits verköchelt.
Schauen wir uns das Gesetz noch einmal an. Herr
Andres hat das bereits getan, deshalb muss ich es nicht im
Detail erläutern. Wir beraten es schließlich schon zum
dritten Mal.
Sie fordern die Einführung einer privaten Arbeitsvermittlung. Dabei ist bereits zum 1. Januar 2002 das JobAQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Wir haben damit den
Weg für die private Arbeitsvermittlung geebnet und im
vergangenen Jahr mit Vermittlungsgutscheinen nachgelegt.
({5})
Ich sage in aller grünen Bescheidenheit: Das hat auch viel
mit dem zu tun, was wir in diesem Zusammenhang eingebracht haben.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie fordern verschärfte
Sanktionen. Das scheint Ihnen in Hessen besonders
wichtig zu sein, Frau Lautenschläger. Ist Ihnen entgangen,
dass wir im Zuge der Hartz-Gesetzgebung und der neuen
Arbeitsmarktgesetze, die inzwischen Realität geworden
sind, die Zumutbarkeit nicht einfach undifferenziert verschärft haben, wie Sie es immer wieder gefordert haben?
Vielmehr haben wir differenzierte Lösungen gefunden,
mit den Arbeitslosen so umzugehen, wie es ihren Möglichkeiten entspricht. Zum Beispiel müssen junge Menschen eine höhere Mobilität aufbringen, wenn sie in den
Arbeitsmarkt einsteigen wollen.
Des Weiteren haben Sie die Schaffung von Jobcentern
gefordert. Als Oldenburgerin kann ich verkünden, dass
wir vor zwei Wochen das erste niedersächsische Jobcenter ins Leben gerufen haben. Sie fordern für Hessen etwas,
das wir für Niedersachsen längst auf den Weg gebracht
haben, Frau Lautenschläger.
({7})
Natürlich bestehen Unterschiede zwischen dem, was
wir verfolgen und was bereits verwirklicht worden ist,
und dem, was Sie fordern. Es wurde bereits deutlich gemacht, woran Sie sich orientieren. Sie orientieren sich an
einem Reisebericht aus Wisconsin, an einem Modell, das
Sie dort kennen gelernt haben. Wenn man sich damit aber
stärker befasst, wird deutlich, dass Sie einen Pferdefuß
des Wisconsin-Modells verschweigen, nämlich dass diejenigen, die in diese Förderung hineingekommen sind,
dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise wieder herausfallen, den Anspruch auf Sozialhilfe
auf einem vernünftigen Niveau verwirkt haben. Sie haben
diesen Anspruch verwirkt, weil die Förderung befristet
ist. Ich meine, dass Sie die Idee, das Fördern und Fordern
zu kappen und den kruden Sozialabbau an das Ende dieser Kette zu stellen, letztlich immer im Hinterkopf haben
und sie nur deshalb nicht deutlich formulieren, weil Sie
nicht den Mut dazu haben.
Herr Merz geht etwas anders damit um. Er äußert sich
zu diesem Thema erfrischend deutlich. Er hat im April vor
zwei Jahren an dieser Stelle deutlich gemacht, dass es jemandem, der die Arbeit verweigert, zwar ein Dach über
dem Kopf und Essen zu garantieren gilt, dass er aber den
Anspruch auf Sozialhilfe verwirkt hat. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Herr Merz
gestern auf einer Podiumsdiskussion über die Notwendigkeit von Einschnitten durch Reformen der sozialen Sicherungssysteme ein verräterisches Bild benutzt hat. Er
hat festgestellt: Wer ein Feuchtbiotop austrocknen will,
darf nicht die Frösche fragen.
({8})
Was für ein soziales Verständnis verbirgt sich hinter
diesem Bild? Ich meine, dass Sie, wenn Sie über die Idee
des Förderns und Forderns reden, die wir gesetzlich verankert haben und in vielen Schritten verfolgen, letztlich
sehr stark den Sozialabbau angehen wollen.
Wir wollen und werden mit dem Arbeitslosengeld II
die Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe bewerkstelligen. Wir werden diese Schritte gehen
und bestreiten nicht, dass es dadurch zu sozialen Einschnitten in einzelnen Bereichen, auch bei der Arbeitslosenhilfe, kommen wird. Das ist ganz sicherlich so.
Hierbei kommt es aber auf Folgendes an: Wir werden
erstens der Idee - sie wird immer wieder in die Welt gesetzt -, einen zeitlichen Schnitt zu machen, das heißt, die
betroffenen Personen letzten Endes irgendwann aus der
sozialen Grundsicherung hinauszuwerfen, nicht folgen.
Uns ist zweitens wichtig, dass mit der Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Angebot an die
Langzeitarbeitslosen, an die Sozialhilfeempfänger verbunden ist. Mit der heutigen Situation, die schon während Ihrer langjährigen Regierungsverantwortung bestand und an der Sie nichts geändert haben, nämlich dass
Arbeitslosenhilfeempfängern, die arbeitsfähig sind, der
Zugang zu den aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik verwehrt wird, werden wir Schluss machen.
Frau Lautenschläger, es wird genau das passieren, was
Sie einklagen: Langzeitarbeitslose und auch die heutigen
Sozialhilfeempfänger werden in die Beratung zum Beispiel über Eingliederungspläne integriert. Deswegen
sage ich noch einmal: Ihr OFFENSIV-Gesetz ist Schnee
von gestern, der mit einem Hauch sozialer Kälte versehen ist.
({9})
Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen
über den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Die wirtschaftliche Situation ist natürlich in vielerlei Weise ausschlaggebend für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt;
das ist völlig klar.
({10})
Eine Folgerung, die man aus diesem Jahreswirtschaftsbericht ziehen muss, ist: Es macht keinen Sinn, nur auf die
zukünftigen Wachstumserwartungen zu starren, wenn
man die Langzeitarbeitslosigkeit und die Probleme auf
dem Arbeitsmarkt beseitigen will.
({11})
- Das scheinen Sie nicht gelernt zu haben. Ich erinnere an
Herrn Wulff. Vor zwei Tagen hat er in den Nachrichten
behauptet, dass es mit der Wirtschaft und dem Wachstum
allein dadurch besser werden würde, dass die CDU gewählt würde.
({12})
Das entblößt Ihre gesamte Konzeptlosigkeit und die
Überzogenheit Ihrer Personen.
({13})
In Wirklichkeit geht es um Folgendes: Wenn wir, wie
in diesem Jahr, mit einem Wachstum zu rechnen haben,
das, wenn auch immerhin positiv, unterhalb der Beschäftigungsschwelle - sie beträgt 2 Prozent - liegt, dann müssen wir es auf die Hörner nehmen, alle Anstrengungen zu
unternehmen, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent
herunterzudrücken. Wir müssen noch etwas tun: Wir müssen die Dauer der Arbeitslosigkeit, die bei uns heute im
Durchschnitt 32 Wochen beträgt, senken und wir müssen
die Schwarzarbeit zurückdrängen.
Das sind die Hebel, die Ansatzpunkte, die wir mit dem
Hartz-Konzept in Angriff genommen haben. Aber das
reicht nicht aus. Wir brauchen „Hartz plus“; wir müssen
in vielen Punkten weitergehen. Ein Beispiel: Die Zeitarbeit ist auf den Weg gebracht; wir Grüne haben uns sehr
dafür eingesetzt. Aber natürlich geht es jetzt darum, umzusetzen, dass im Rahmen der Zeitarbeit vernünftige Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose festgelegt werden.
Auch ich bin der Auffassung, dass die Einstiegstarife 30
Prozent niedriger sein sollten als die Normaltarife. Aber
im Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren von
der FDP, wollen wir das nicht staatsdirigistisch vorgeben.
({14})
Vielmehr wollen wir den Gewerkschaften und den Arbeitgebern das Vertrauen entgegenbringen, vernünftige
und verantwortungsvolle Bedingungen auszuhandeln.
({15})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau
Dückert.
Frau Dückert, Sie haben uns als FDP in dieser Frage
Staatsdirigismus vorgeworfen. Würden Sie sich erinnern
und mir das dann gegebenenfalls auch bestätigen, dass es
die Bundesregierung, die von der Fraktion der Grünen
und der Fraktion der SPD getragen wird, war, die in der
Hartz-Gesetzgebung festgeschrieben hat, dass entgegen
Art. 9 Grundgesetz der Tarif eines anderen, also der eines
Kunden, den man nicht selbst ausgehandelt hat, per Gesetz für die Zeitarbeitsbranche gilt, wenn man keinen anderen Tarifvertrag aushandelt? Würden Sie mir weiter
darin zustimmen, dass in Art. 9 Grundgesetz, in dem die
Koalitionsfreiheit geregelt wird, nicht nur dafür gesorgt
wird, dass man das Recht hat, Tarifverträge abzuschließen,
sondern auch, dass man das Recht hat, keine Tarifverträge
abzuschließen, und dass Sie als Bundesregierung dagegen
staatsdirigistisch verstoßen haben?
({0})
Herr Niebel, ich gebe Ihnen erstens darin Recht, dass
die rot-grüne Regierung die in diesem Hause mit Mehrheit verabschiedeten Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht
hat, wenn auch nicht mit Ihrer Hilfe, aber doch mit der der
CDU.
({0})
Zweitens möchte ich Sie angesichts dessen, was Sie
hier vorgetragen haben, an Folgendes erinnern: Die rotgrüne Regierung hat auf den Weg gebracht, dass die bürokratischen Verkrustungen, die Sie in den letzten Jahren
wie Ihren Augapfel gehütet haben - ich denke hier an die
Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im
Verbund mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben -,
im nächsten Jahr in zentralen Punkten aufgebrochen
werden.
({1})
Wenn wir über mehr Dynamik am Arbeitsmarkt reden,
Herr Niebel, dann wird nur im Zusammenhang aller Maßnahmen ein Schuh daraus. Ich halte es für gut, dass wir
überflüssige Regulierungen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung abgeschafft haben.
({2})
Wir machen mehr und wir gehen weiter, zum Beispiel
bei der Unterstützung von Selbstständigen im Rahmen
der - ich gebe zu, es war ein Unwort des letzten Jahres Ich-AG. Es ist ein guter Einstieg, wenn den Leuten in einer solchen Situation zu kleinen Einkommen verholfen
wird; denn ansonsten werden solche Leistungen schwarz
erbracht. Das ist unabhängig von einem Wachstumspfad.
Hiermit können wir Menschen helfen, aus der Schwarzarbeit herauszukommen.
Außerdem haben wir wesentliche Schritte bei der Entbürokratisierung der geringfügigen Beschäftigung und
mit der Einführung von Gleitzonen gemacht. Sie alle
wissen, dass die Grünen immer vorgeschlagen haben, die
Teilzeitmauer aufzubrechen, die am Arbeitsmarkt durch
plötzlich einsetzende Sozialabgaben besteht. Wir werden
das tun, aber wir sind nicht so blauäugig wie zum Beispiel
Ihr Kandidat Wulff in Niedersachsen, der nunmehr wei1708
tere Versprechungen macht und Einkommensgrenzen
oberhalb von 800 Euro - bis zu 1 500 Euro - in den Blick
nimmt, und zwar ohne einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung.
({3})
Aber das ist ja ohnehin das beliebteste Spiel bei der CDU:
Vorschläge zur Subventionierung der Sozialabgaben zu
machen.
Nein, meine Damen und Herren, unsere Modelle sind
realistisch. Wir haben uns vorgenommen, die hohen Lohnnebenkosten gerade im Bereich der kleinen Einkommen
zu senken. Wir haben bereits erste Reformen vorgenommen und werden bei den Reformen der Sozialsysteme weiter vorangehen - wir Grüne haben das sehr hartnäckig verfolgt -, um insbesondere einen Beitrag dazu zu leisten,
dass die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden.
Das wird noch ein weiter Weg werden, weil wir uns Reformen der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen haben, die in den 90er-Jahren verschlafen worden sind, und
weil wir es gleichzeitig mit einer hohen Staatsverschuldung zu tun haben, die wir nicht weiter aufstocken können.
({4})
Wir wollen nämlich eine Politik machen, die nicht nur Beschäftigung bringt, sondern auch nachhaltig ist und im Interesse der künftigen Generationen nicht das Kapital verspielt, das man morgen braucht.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
geht darum, „Erwerbsarbeit ... zu fördern und nicht ... Arbeitslosigkeit zu finanzieren.“ So heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht?
Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, PDS, hat
in dieser Woche die ersten drei regionalen Jobcenter vorgestellt. Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schneller
in Arbeit zu vermitteln - und das ist auch gut so, um ein
geflügeltes Berliner Wort zu verwenden.
Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfekosten fallen
in den Kommunen an. Wir alle wissen - nicht erst seit den
jüngsten Stellungnahmen des Städte- und Gemeindetages -,
dass über allzu vielen Dörfern und Städten der Pleitegeier
kreist. Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeit
kommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Gemeindekassen eine willkommene Entlastung.
Die Frage ist nur: Welche Besserung bietet der nun vorliegende Gesetzentwurf? Der Bundesrat will, dass die
Zwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundenen Zumutungen und die angedrohten Sanktionen noch größer werden, als sie es ohnehin schon sind. Das ist der Kern der
vorliegenden Gesetze.
Man geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängern
aus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist,
({0})
nicht zuletzt deshalb, weil das bestehende Arbeitslosenhilfesystem zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige.
({1})
- Auch wenn es Ihnen längst aus den Ohren quillt, Herr
Kollege, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vom
Osten dieses Landes überhaupt keine Ahnung. - Das ist
der erste Grund dafür, dass wir diese Gesetzentwürfe ablehnen.
({2})
Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen,
dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen. Wie
wäre es denn einmal mit einer Umkehrung der Beweislast - ich weiß, es ist polemisch -, also damit, dass Regierung, Banken und Unternehmen verpflichtet wären,
nachzuweisen, dass sie sich ausreichend um die Schaffung von Arbeitsplätzen bemühen?
({3})
Wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen für den Fall,
dass sie den dafür notwendigen Eifer nicht aufbringen?
({4})
Damit es nicht nur polemisch bleibt, will ich es Ihnen an
einem Beispiel illustrieren, Kollege Niebel. Am Beginn der
Arbeitslosigkeit und vor einer so genannten Sozialhilfekarriere steht inzwischen allzu häufig die schlichte Tatsache,
dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz bekommen, weil es an Angeboten mangelt. Auch deshalb fordert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung. Mit ihr
würden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unternehmen zur Kasse gebeten, die sich verweigern.
({5})
Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und beschwören stattdessen das freiwillige Engagement der Unternehmer. Das beschreibt die Scheinmoral in dieser
ganzen Debatte: Zwang bei den Betroffenen und Freibriefe
für die Zuständigen. - Das ist der zweite Grund dafür, dass
wir die vorliegenden Gesetzentwürfe ablehnen.
Nun ein dritter Grund. Nahezu alles, was CDU/CSU
hier via Bundesrat anstrebt, ist längst geregelt. SPD und
Grüne haben es gerade noch einmal bestätigt, und zwar
- wenn ich die Redebeiträge richtig verstanden habe nicht ohne Stolz.
({6})
Der vierte Grund dafür, dass wir Nein sagen, ist ganz
simpel. Sozialhilfe gilt als Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben. Wer diesen Mindeststandard zur
Disposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen.
Sie tun das mit diesen Gesetzentwürfen.
Wir können gern einmal darüber reden, dass es Menschen gibt, die sich am Sozialstaat bereichern - ich kenne
da ebenfalls Beispiele -,
({7})
und zuweilen sollen auch Sozialhilfeempfänger darunter
sein. Aber: Den großen Reibach machen in dieser Gesellschaft andere. Deshalb mein Angebot: Wenn der Bundesrat hier einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der
Vermögensteuer vorlegt, wird die PDS im Bundestag zustimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich auch immer etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun. Im Berliner Abgeordnetenhaus haben die SPD, die PDS und Bündnis 90/
Die Grünen gemeinsam für die Wiedereinführung der
Vermögensteuer gestimmt. Warum soll das nicht auch hier
im zuständigen Bundestag geschehen? Das würde der
PDS im Bundestag einmal die Möglichkeit geben, aus
vollem Herzen Ja zu sagen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes
Singhammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Redner der Bundesregierung, Herr Staatssekretär
Andres, und Frau Dr. Dückert haben kritisiert, dass diese
Debatte hier stattfindet, und gesagt, das alles sei ein Wiederholungseffekt, die vorgelegten Gesetzentwürfe seien
unnötig und im Übrigen sei die Problematik bereits geregelt. Ich sage Ihnen Folgendes: Wir werden nach exakt
viereinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung am Ende
dieses Monats exakt 4,5 Millionen Arbeitslose haben.
({0})
Deshalb halte ich diese Problematik nicht für geregelt. Es
geht um die Schicksalsfrage für Deutschland. Wir müssen
uns Gedanken darüber machen, wie es besser wird.
({1})
Die Debatte ist Ihnen unangenehm, weil alle Ihre Rezepte erkennbar gescheitert sind. Wäre es anders, hätten
wir nicht das ständige Wachsen der Arbeitslosenzahlen.
Auch der Jahreswirtschaftsbericht von gestern war alles
andere als hoffnungweckend. Der Bundeswirtschaftsminister hat die Wachstumsprognosen korrigiert. Prognostiziert wird nun ein Wachstum von 1 Prozent.
Ich möchte an dieser Stelle erinnern: Noch vor wenigen Wochen, nämlich am 5. Dezember, hat der gleiche
Bundeswirtschaftsminister an dieser Stelle an die Opposition gewandt erklärt:
Nicht einmal 1,5 Prozent Wachstum, wie Sie es,
meine Damen und Herren von der Opposition, im
Schnitt zwischen 1995 und 1998 trotz boomender
US-Konjunktur eingefahren haben - das ist einfach
zu wenig.
Meine Damen und Herren, das erwartete Wachstum von
1 Prozent ist auch zu wenig. Es wird wahrscheinlich noch
weniger werden. Allein bei einem um ein halbes Prozent
geringeren Wachstum sind 3 Milliarden Euro an Steuerausfällen und eine gesamtstaatliche Belastung von fast 5 Milliarden Euro zu erwarten. Das bedeutet: mehr Arbeitslose,
noch weniger Beschäftigung, mehr Steuerausfälle und
mehr Finanzprobleme. Die Arbeitsmarktkatastrophe und
die Wirtschaftsmisere dulden keinen Aufschub mehr.
Wir haben in Deutschland kein Analyseproblem, sondern wir haben ein Umsetzungsproblem. Deshalb bringen
wir heute diese zwei Gesetzentwürfe in den Bundestag
ein: das Gesetz zum optimalen Fördern und Fordern in
Vermittlungsagenturen und das Gesetz zum Fördern und
Fordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfebezieher. Dahinter steckt eine klare Konzeption: Wer arbeitet, soll immer mehr in der Tasche haben
als derjenige, der nicht arbeitet. Wer die Ärmel aufkrempelt und mitmacht, der soll besser leben als jemand, der
von staatlichen Transferleistungen lebt.
({2})
Das ist ein geschlossenes Konzept. Deshalb bitten wir Sie
eindringlich, nicht bei halben Sachen zu bleiben.
Sie haben immerhin zwei Säulen unseres vorgeschlagenen Drei-Säulen-Modells akzeptiert, und zwar die Steuerbefreiung bei Mini-Jobs bis 400 Euro und das so genannte Einschleifmodell, das heißt, mit geringeren
Lohnnebenkosten zu beginnen, um den Einstieg in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu erleichtern. Das ist gut so. Ich
bitte Sie jetzt aber, auch die dritte Säule - darum geht es in
diesem Gesetzespaket -, nämlich das Lohnabstandsgebot zu regeln. Ohne die dritte Säule werden die beiden
anderen nicht die gewünschte Wirkung haben. Deshalb ist
das so entscheidend und deshalb legen wir so viel Wert darauf, dass heute auch diese dritte Säule auf den Weg gebracht wird.
Im Übrigen brauchen Sie nicht allzu weit zurückzublicken. Sie haben unsere Anträge zu dem früheren 630DM-Gesetz und zur Scheinselbstständigkeit zunächst
auch immer abgelehnt, sie für überflüssig erachtet, sie als
Teufelszeug bezeichnet, und dann haben Sie zugestimmt.
Ich zitiere noch einmal den Kollegen Peter Dreßen; er hat
am 12. November 1999 gesagt:
Der Gipfel Ihrer Alternativvorschläge ist ... , dass ...
wir das 630-DM-Gesetz zurückziehen sollen.
Sie haben weitere drei Jahre gebraucht und unermesslicher Schaden ist in Deutschland eingetreten, dann haben
Sie es zurückgezogen. Warten Sie bei der dritten Säule
nicht so lange, sondern schließen Sie sich unserem Programm an, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({3})
Die Ziele unserer Entwürfe sind klar:
Erstens. Statt eines Daueraufenthalts im zweiten Arbeitsmarkt - bei ABM und bei ständiger Fort- und Weiterbildung - wollen wir einen Wiedereintritt in den ersten
Arbeitsmarkt fördern.
Zweitens. Wir wollen die Arbeitsaufnahme finanzieren, anstatt die Arbeitslosigkeit zu subventionieren.
Drittens. Eigeninitiative soll belohnt, eigene Leistung
und staatliche Gegenleistung sollen stärker miteinander
verknüpft werden.
Viertens. Mit einer sinnvollen Verzahnung von Löhnen
und Zuschuss - so genannten Kombilöhnen - wollen wir
die Bereitschaft arbeitsfähiger Hilfeempfänger stärken,
selbst aktiv zu werden, selbst mitzumachen.
Wir erheben keinen Anspruch auf das politische Copyright. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wenn Sie unsere
Entwürfe Punkt für Komma so übernehmen, wie wir sie
vorschlagen, dann wird sich die Situation in Deutschland
bessern. Darüber würden wir uns freuen.
Es ist aber auch klar, dass Deutschland nicht allein
durch die Umsetzung dieser Pläne wieder eine blühende
Landschaft wird. Zuallererst ist es deshalb nötig, dafür
Sorge zu tragen, dass uns nicht weitere falsche Entscheidungen in eine wirtschaftspolitisch falsche Richtung
führen. Vor kurzem ist vom Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes öffentlich eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden. Diese werden von der Bundesregierung
immer sehr ernst genommen, denn viele Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehören dem DGB
an. Der DGB-Chef Sommer hat vor kurzem erklärt: „Arbeitnehmer, die es sich leisten können, sollten weniger arbeiten.“ Dies stellt man sich wie folgt vor: Zwischen
1 und 1,5 Millionen Arbeitnehmer verzichten für einige
Zeit auf 20 Prozent ihres Einkommens. Mit den so gesparten Personalkosten schaffen die Unternehmer neue Jobs.
Diesem Unsinn und der dahinter stehenden Philosophie
müssen Sie ernsthaft und deutlich wiedersprechen!
Deutschland braucht nicht die Stückelung der Arbeit,
nicht die Mangelverwaltung bei Jobs, nicht weniger Arbeit,
sondern ausschließlich und allein mehr Wachstum. Dies ist
die richtige Weichenstellung für eine bessere Zukunft.
({4})
Dass in Deutschland genügend Arbeit vorhanden ist,
zeigt die Schwarzarbeit. Von 350 Milliarden Euro
({5})
- ja, bis 370 Milliarden Euro - Umsatz und einem Wachstum von 6 Prozent im Jahr ist die Rede. Schwarzarbeit ist
also eine boomende Branche. Die dort geleisteten Arbeitsstunden entsprechen umgerechnet mittlerweile mehr
als 9 Millionen Vollzeitjobs. Wenn die Rechnung erlaubt
wäre, könnte man sagen: Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen
könnte man jedem Arbeitslosen zwei Jobs zur Auswahl
geben, wenn die Schwarzarbeit entsprechend zurückgeführt werden könnte. Genau hier liegt das Problem, nämlich bei den hohen Lohnnebenkosten. Deshalb müssen Sie
diese drei Säulen in einem Zusammenhang sehen.
Der Bundeswirtschaftsminister ist heute exakt 100 Tage
im Amt und hat sich einen Ruf als Medienstar erworben.
Er gibt sich als politischer Pferdeflüsterer.
({6})
Er erzählt, was er alles tun will, wie nett er ist und wie
leicht all diese Probleme anzupacken seien.
({7})
Herr Clement - das gestehe ich ihm zu - muss einen Großteil des Riestererbes abtragen. Aber wenn es Ihnen wirklich ernst ist, dann räumen Sie nicht nur das fehlgeleitete
Scheinselbstständigkeitsgesetz und das unselige 630Mark-Gesetz weg, sondern machen mit mindestens drei
ganz konkreten Maßnahmen weiter: Das als Wundermittel gepriesene Job-AQTIV-Gesetz, welches Sie noch vor
wenigen Monaten als das Heilmittel für den Arbeitsmarkt
gepriesen haben, hat die Erwartungen nicht erfüllt. Von
den 180 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wurden bis Ende 2002 gerade einmal 11 000 bei privaten Vermittlern eingelöst. Die Hilfen und Wirkungen, die Sie sich
versprochen haben, sind nicht eingetreten.
Auch die Bilanz Ihres nächsten Vorzeigeprojektes, des
Mainzer Modells, könnte nicht dürftiger sein: In gerade
einmal 7 000 Fällen ist dieses Fördermodell umgesetzt
worden. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit bescheinigt
dem rot-grünen Vorzeigemodell offiziell das Versagen.
Kurz und bündig wird festgestellt, „ ... die in dieses Programm gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt“.
Das JUMP-Programm war ebenfalls ein Flop. Hier ist
nirgends gesprungen worden.
({8})
Vielmehr gab es mit diesem Programm eine harte Bauchlandung. Wie immer, wenn man auf englische Bezeichnungen ausweicht, zeigt sich, dass mehr vernebelt als
Klarheit in der Sache geschaffen werden soll.
({9})
Wenn Sie wirklich effizient und wirksam eine Verringerung der Arbeitslosenzahlen erreichen wollen, müssen
Sie all die Gesetze, die Sie in den vergangen vier Jahren
beschlossen haben, die aber wirkungslos geblieben sind,
korrigieren und zurücknehmen.
({10})
Die Zeit läuft uns davon. Viel Zeit bleibt nicht mehr
und die Menschen in Deutschland spüren dies. Sie, meine
Damen und Herren, werden dies bei den Wahlen am
Sonntag zu spüren bekommen. Im Jahre 2004 werden sich
die Grenzen der EU für 75 Millionen Osteuropäer öffnen.
In Deutschland wird es eine wachsende Niedriglohnkonkurrenz geben. Kapital wird in die Niedriglohngebiete
des Ostens abwandern. Die Herausforderungen werden
wachsen und nicht geringer.
Wir sind der Meinung, dass Deutschland die Kraft für einen neuen Aufbruch hat. Die Arbeitnehmer in unserem Land
sind fleißig und hervorragend ausgebildet. Die Unternehmer sind kenntnisreich und brauchen den internationalen
Wettbewerb nicht zu scheuen. Deutschlands Substanz ist
intakt. Aber sie darf nicht Tag für Tag durch die falschen
Rahmenbedingungen dieser Regierung aufgezehrt werden. Wir brauchen einen anderen wirtschaftlichen Rahmen. Dann geht es mit Deutschland auch wieder aufwärts.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Sauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn hier zu Recht bemerkt wurde, dass
wir heute Gesetzentwürfe diskutieren, die schon öfter auf
der Tagesordnung standen, muss ich sagen: Ich bin froh
darüber, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit haben,
über einen wichtigen Politikbereich zu sprechen.
({0})
Wenn ich Ihre Vorschläge Revue passieren lasse und
unsere Initiativen, die wir in den letzten Jahren unternommen haben und die wir in den kommenden Jahren unternehmen werden, gegenüberstelle, dann schneiden wir
gut ab und brauchen eine Diskussion nicht zu scheuen.
({1})
Dass die Union bis heute kein wirklichkeitstaugliches
Konzept hat, das zeigen die Gesetzentwürfe, die wir diskutieren und die Sie, wie schon gesagt wurde, zum dritten
Mal in die Beratungen des Bundestages einbringen. Die
Opposition musste in der Öffentlichkeit einen Nachweis
für Aktivitäten auch in Bezug auf Reformen des Arbeitsmarktes abliefern; das verstehe ich. Sie sollte aber
dennoch in der Lage sein, den aktuellen Stand der Regierungspolitik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Auch da
hapert es. Sie kann - Frau Lautenschläger ist nicht mehr
da und nimmt an der Debatte nicht mehr teil
({2})
- alle möglichen Dinge nutzen; sie sollte aber angesichts
ihrer eigenen Untätigkeit nicht mit dem Finger auf die
Bundesregierung zeigen.
Offensichtlich ist die Opposition bei dem Reformtempo, das wir vorlegen, leider überfordert.
({3})
Sonst würde sie kaum einen Entwurf erneut diskutieren,
der nur abgestandene Vorschläge aufwärmt und in der
Substanz nichts Neues zu bieten hat.
({4})
In Wahrheit ist es noch viel schlimmer; Herr Andres hat
das vorgestellt. Denn wenn wir Ihren Vorschlägen tatsächlich folgen würden, dann würden wir das Reformtempo
bei einer an den Interessen der Arbeitslosen orientierten
Reform des Arbeitsmarktes, die so dringend notwendig
ist, drosseln und Gefahr laufen, in die Stagnation zurückfallen, wie wir sie aus der letzten Zeit der Kohl-Ära noch
in schlechter Erinnerung haben. Die Zeiten des Aussitzens
und der halbherzigen Experimente ist vorbei. Zumindest
sind wir Sozialdemokraten nicht bereit, neue Verzögerungen hinzunehmen, wie Sie sie uns heute vorschlagen. Wir
halten an einer seriösen und zügigen Umsetzung der Reformen am Arbeitsmarkt fest.
({5})
Im Kern wollen wir die Beschäftigungschancen von
Arbeitslosenhilfe- und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern weiter verbessern und damit die Arbeitslosigkeit abbauen. Die schnelle und effiziente Integration von arbeitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern war
das Ziel unserer Politik in der vergangenen Legislaturperiode und sie ist es auch in der jetzigen. Von dieser Kraftanstrengung werden wir nicht abrücken. Das haben die
Beratungen und Gesetze für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt gezeigt, die wir in den vergangenen Monaten verabschiedet haben. Das werden auch unsere Initiativen zeigen, die wir noch in diesem Jahr auf den Weg
bringen werden.
({6})
Dabei fällt allerdings ein wirklich wichtiger Unterschied zwischen Regierung und Opposition ins Auge
- Frau Dückert hat das dankenswerterweise schon angesprochen -: Wir wollen zusammen mit den Akteuren in
erster Linie Anreize und Förderungen schaffen, um Anstrengungen zu generieren, die Arbeitslose zurück ins Erwerbsleben bringen. Wir wollen alle Akteure motivieren,
die Anforderungen zu meistern. Das wollen wir aber nicht
gegen die betroffenen Menschen tun. Auch Arbeitslose
und Sozialhilfeempfänger müssen - das ist richtig - Anreize und Förderung erfahren, um wieder in Arbeit zu
kommen. Das ist Gegenstand unserer Politik. Aber es sind
in erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen und die verkrusteten Strukturen, die es zu modernisieren gilt und die
schuld sind an der viel zu hohen und zu langen Arbeitslosigkeit. Es sind nicht die Arbeitslosen selber, wie es immer wieder aus den Papieren von Union und FDP herauszulesen ist.
({7})
Es ist einigermaßen frech, wenn die Union und die
FDP vorgeben, sie wollten mit ihrer Politik die Akzeptanz
der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerung
stärken. Sie provozieren doch durch Ihre Politik einen Generalverdacht gegenüber den Leistungsbeziehern. Frau
Lautenschläger, Sie haben im Bundesrat das böse Wort
„soziale Hängematte“ gebraucht.
({8})
Ich glaube, das macht deutlich, dass Sie in erster Linie ein
Schwergewicht auf die Sanktion von Arbeitslosen und
Leistungsbeziehern legen wollen.
({9})
Wir brauchen eine ausgewogene Politik des Förderns
und Forderns, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
({10})
Wir wollen alle erwerbsfähigen Menschen fördern und
die Brocken wegräumen, die einer erfolgreichen Integration in das Erwerbsleben im Weg stehen. Deshalb können
wir zielführende Eigenbemühungen erwarten und diese
mit Instrumenten einfordern.
Nach dem Vorschlag der Union sollen die Sozialhilfebezieher, die ein Anrecht auf Arbeitslosengeld erworben
haben, zukünftig keine Ansprüche mehr auf erneutes Arbeitslosengeld erwerben können. Das geht nicht. Man
kann vieles diskutieren. Man kann aber keine Vorschläge
ernsthaft in die Diskussion einbringen, die eine Bevölkerungsgruppe so eklatant vom Gleichheitsgrundsatz ausschließt, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag tun.
({11})
Im Gegenteil: Ich denke, wir müssen in diesem Bereich
darauf achten, dass die kommunalen Beschäftigungsstrukturen und die kommunale Beschäftigungspolitik erhalten bleiben, um Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren.
Eine wichtige Reform für eine bessere und schnellere Vermittlung sehen wir in der Schaffung von Jobcentern als
integrierten Anlaufstellen für alle erwerbsfähigen und erwerbslosen Personen. Das wurde im Hartz-Konzept vorgeschlagen; wir setzen dies um. Auf diese Art und Weise
können und sollen schlanke Verwaltungsstrukturen geschaffen und Verschiebebahnhöfe vermieden werden sowie eine effiziente Vermittlung, orientiert am ersten Arbeitsmarkt, erfolgen.
Die Vermittlungsorientierung ist durch die Entbürokratisierung von uns bereits gestärkt worden. Aus meiner
Sicht besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass durch
die einheitliche Verantwortung eine bessere und schnellere Vermittlung möglich wird. Ihr Offensivgesetz stellt
dies nicht sicher.
Die Vermittlung wird zukünftig einsetzen, sobald die
Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers ausgesprochen wurde, und nicht mehr erst Monate später, wenn die
Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Wir setzen auf eine höhere Mobilität derjenigen, die mobil sein können, um die
regionalen Arbeitsmarktdifferenzen für die Vermittlung
zu nutzen. Wir stärken die Qualifizierung und Weiterbildung und setzen den Akzent deutlich auf die Vermittlung
in den ersten Arbeitsmarkt und nicht auf die Verwaltung
von Arbeitslosigkeit.
Sie haben die Idee ins Spiel gebracht, Meldekontrollen
wieder einzuführen. Das zeigt mir, dass Sie den Weg in
die erneute Bürokratie gehen wollen. Mit Ihrer Idee, die
Meldekontrollen wieder einzuführen, zeigen Sie, dass
Ihnen bürokratische Verwaltungsvorgänge wichtiger
sind als die Arbeitsvermittlung. Die Erfahrung hat uns
doch gezeigt, dass dieses Verfahren nicht zu mehr Vermittlungen führt. Es belastet die Arbeitsämter nur mit
neuen Aufgaben und lenkt sie von ihrer Kernfunktion,
nämlich auf unbürokratische Art und Weise Arbeit zu
vermitteln, ab.
Der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Herr
Gerster, hat im Wirtschaftsausschuss sehr interessante
Ausführungen gemacht.
({12})
Er hat gesagt, er sei dem Gesetzgeber dankbar dafür, dass
er ihm und seiner Bundesanstalt die Arbeit erleichtert hat;
er beabsichtige, in den kommenden Jahren 5 000 Mitarbeiter durch Umschichtung von der Verwaltung in die
Vermittlung zu bringen.
({13})
Diesen Weg müssen wir gehen: weniger Bürokratie und
mehr Vermittlung und nicht umgekehrt, wie es in Ihrem
Offensivgesetz vorgeschlagen wird.
({14})
Mir läuft komischerweise die Zeit davon.
({15})
Meine Damen und Herren, die Union schlägt vor, die
Finanzierungslasten der Arbeitsmarktpolitik länderfreundlich auszugestalten und einseitig auf den Haushalt der
Bundesanstalt und auf den Bundeshaushalt zu verschieben. Gleichzeitig sollen dem Bund Steuerungskompetenzen entzogen werden. Das mag aus der Sicht eines
Wettbewerbsföderalismus folgerichtig sein. Es zeigt vielleicht aber auch nur, dass Sie in erster Linie an Länderinteressen denken, solange Sie im Bund keine Verantwortung tragen. Ich glaube, wir müssen dieses Lagerdenken
im Interesse der betroffenen Menschen und des sozialen
Zusammenhalts überwinden.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Regierung
und die sie tragenden Parteien wissen, dass die Probleme
auf dem Arbeitsmarkt nur mit einem Bündel von Maßnahmen beseitigt werden können.
({16})
Hinter den nackten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik verbergen sich Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen.
Die kommenden Jahre werden auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik zu weiteren wesentlichen Neuerungen führen. Wir haben diesen Reformprozess produktiv eingeleitet
und wir werden ihn im Sinne der Arbeitslosen fortsetzen.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
Beginn ihrer Regierungszeit 1998 kündigt die rot-grüne
Koalition immer wieder eine Reform der Sozialhilfe an.
Aber außer der Verlängerung von Fristen bei Modellversuchen ist Ihnen bisher leider nichts eingefallen, Herr
Brandner.
({0})
- Sie brauchen gar nicht zu lachen. - Deswegen ist es
wichtig und richtig, Herr Staatssekretär Andres, dass wir
heute die Gelegenheit nutzen, auf die Notwendigkeit, jetzt
zu handeln, hinzuweisen. Sie haben im Rahmen dieser
Gesetzesinitiativen die Möglichkeit, auf den Reformzug
aufzuspringen.
Wir lassen uns auch nicht madig dafür machen, Frau
Dückert, dass wir Dinge angeblich zum dritten Mal diskutieren. Ich erinnere daran, wie lange es bei geringfügiger Beschäftigung, Kündigungsschutz, Scheinselbstständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und privater
Arbeitsvermittlung gedauert hat, wie viele Anträge wir
einbringen und diskutieren mussten, bis es am Schluss so
weit war. Das Problem ist, Frau Dückert: Der eine kapiert
schneller, der andere braucht ein bisschen länger. Offensichtlich gibt es in der rot-grünen Koalition viele, die etwas mehr Zeit brauchen.
({1})
- Herr Brandner, es ist nun einmal so: Die Zeit drängt. Wir
befinden uns in einer Notlage. Die Finanzen der Kommunen sind desaströs.
({2})
Das ist auch das Ergebnis der rot-grünen Steuerreform.
Das muss man einmal sagen. Sie lassen die Kommunen
nachhaltig im Stich. Das haben die Kommunen nicht verdient.
({3})
Deswegen muss die angekündigte Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schnell passieren.
Der Presse ist zu entnehmen, dass Sie das frühestens
Ende 2004 realisieren wollen. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil Sie die dann vielleicht einzusparenden
Mittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bereits für das
Jahr 2004 für die Förderung der Betreuung von Kindern
unter drei Jahren eingeplant haben. Auch daher müssten
Sie ein Interesse daran haben, schnell etwas zu tun.
({4})
- Wir müssen das schnell, aber sorgfältig machen. Das
schließt sich nicht aus. Bei Ihnen war es allerdings bisher
oft so, dass Sie im Schweinsgalopp Gesetze mit der
heißen Nadel gestrickt haben. Hinterher mussten wir dann
nachbessern. Wenn wir diese Sache gemeinsam anpacken
und wenn Sie als Vorlage das nehmen, was die FDP diesem Hause in fünf Punkten klar vorlegt, dann bekommen
wir eine gute Reform zustande und erreichen trotzdem
schnell Ergebnisse.
({5})
Die FDP ist der Ansicht - das steht auch in unserem
Antrag -, dass die Sozialhilfe so ausgestaltet werden
muss, dass sie einerseits den wirklich Bedürftigen ein Leben in Würde ermöglicht, aber andererseits die Selbstständigkeit aller Sozialhilfeempfänger stetig stärkt und
Leistungsmissbrauch vermeidet.
({6})
Subsidiäre Hilfegewährung - das sage ich hier deutlich darf keine Kultur der Unselbstständigkeit hervorbringen.
({7})
Deswegen ist es wichtig - das ist für uns Leitlinie einer
Sozialhilfereform -, dass derjenige, der arbeitet, deutlich
mehr in der Tasche hat als derjenige, der von Leistungen
der Gesellschaft lebt.
({8})
Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode mehrere Anträge eingebracht, um die verschiedenen steuerfinanzierten Systeme der existenziellen Sicherung neu zu
ordnen. Wir müssen also nicht bei null anfangen, um das
noch einmal deutlich hervorzuheben. Ich will ergänzend
zu dem, was der Kollege Niebel gesagt hat, drei Punkte
nennen.
Erstens. Von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern sind mindestens 800 000 grundsätzlich arbeitsfähig. Aber warum lohnt es sich für diese 800 000 arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nicht, Arbeit anzunehmen?
Zum einen weil bei niedriger Qualifikation, die mit dem
Empfang von Sozialhilfe regelmäßig einhergeht, und damit einem niedrigen Einkommen der Lohnabstand einfach zu gering ist. Zum anderen kann ein arbeitswilliger
Sozialhilfeempfänger im Monat nur bis zur Hälfte seines
Regelsatzes etwas hinzuverdienen. Alles, was er darüber
hinaus verdient, wird ihm zu 100 Prozent angerechnet.
Das ist schlicht und einfach demotivierend.
({9})
Wir haben dazu präzise Vorschläge: Freibeträge erhöhen, Anrechnungssätze langsamer steigen lassen, und
zwar temporär, um diejenigen, die auf Dauer ohne Arbeitslosen- oder Sozialhilfe zu arbeiten bereit sind, zu motivieren. Zudem wollen wir, dass der Eingangssteuersatz
auf 15 Prozent gesenkt wird.
({10})
All das wird nicht ohne Gegenfinanzierung möglich sein.
Darin sind wir vollkommen Ihrer Meinung. Deswegen
brauchen wir einen neuen dauerhaften föderalen Finanzausgleich. Aber das Thema ist ohnehin auf der Agenda.
Daran kommen wir nicht vorbei.
Zweitens. Wir wollen bessere Kinderbetreuungsangebote - ich betone: Angebote - in Kooperation mit
den Ländern. Gemeint ist die ganze Palette von Krippen
über Kindergärten und Horte bis hin zur Tagespflege. Verlässliche Schulzeiten sind zum Beispiel in Hessen mitt1714
lerweile vorbildlich realisiert. Auch muss es Ganztagsschulen in unterschiedlicher Trägerschaft geben, sowohl
privater, staatlicher als auch freier. Schauen wir einmal,
was die sozialliberale Regierung in Rheinland-Pfalz
macht. Auch das ist durchaus vorbildlich.
Wir wollen drittens keine Leistung ohne grundsätzliche Bereitschaft zur Gegenleistung. Hier wird es nach
unserer Auffassung allerdings nicht ohne eine Umkehr der
Beweislast gehen. Der Sozialhilfeempfänger wird, wenn
er vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe erhalten
möchte, künftig darlegen müssen, dass er seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann.
({11})
Bisher scheuen sich die Kommunen davor, Frau Kollegin
Barnett, weil der Prüfungsaufwand hoch und auch das
Prozessrisiko nicht unerheblich ist.
Alles in allem brauchen wir weniger Streuverluste. Wir
müssen Leistungsmissbräuche bekämpfen.
({12})
- Wenn die einzige Boombranche in diesem Land die
Schwarzarbeit mit einem Umsatz von 370 Milliarden Euro
und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von
16 Prozent ist, Frau Kollegin Barnett, dann stimmt einfach etwas nicht.
Herr Kollege Kolb, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr
am Rednerpult. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
({0})
Noch wenige Sätze: Wir brauchen mehr Eigenverantwortung und müssen das Solidaritätsprinzip stärken. Für
uns ist Solidarität keine Einbahnstraße. Deswegen bitte
ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Er zeigt den Weg
in eine gute Zukunft der Sozialhilfe.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kolb, mit einer Aussage haben Sie in der Tat
Recht: Die Zeit drängt. Deswegen sollten wir sie auch
nicht mit völlig überflüssigen, nutzlosen und ineffizienten
Diskussionen vergeuden.
({0})
Wenn man sich den Hintergrund anschaut, vor dem wir
heute diese Diskussion führen - der Staatssekretär hat es
vorhin schon sehr vorsichtig und diplomatisch angedeutet -, dann kristallisiert sich heraus, dass der hessische Ministerpräsident zum Jahreswechsel 2001/2002 in einem
Bundesstaat der USA war, sich dort die Arbeitsmarktpolitik angeguckt hat, mit leuchtenden Augen zurückkam und
erklärte, dieses Modell sollten wir nicht nur in Hessen,
sondern in der ganzen Bundesrepublik umsetzen. Die Betroffenen vor Ort waren alle sichtlich erstaunt und haben
deutlich gemacht, dass man zum Beispiel in Kassel, in
Hanau, in Marburg, in Hofheim und in Darmstadt viel
weiter sei; überall gebe es Modellversuche, bei denen die
Integration von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozialhilfeempfängern zum Teil gut funktioniere,
({1})
nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Förderkonditionen des Bundes. Keiner der Betroffenen und der handelnden Akteure hat verstanden, warum man nach Amerika
fahren muss, um dann ein Modell, das in einer völlig anderen wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickelt
worden ist, auf die in Deutschland vorhandenen Bedingungen zu übertragen.
({2})
Meine Damen, meine Herren, ich sage es jetzt zum
fünften Mal, mache es aber sehr kurz und werde meine
Redezeit nicht ausschöpfen. Seit dem Jahre 2001 - vielleicht hat die Diskussion damals noch Sinn gemacht; in
diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht ({3})
hat sich eine Menge verändert. Nehmen wir nur das JobAQTIV-Gesetz: Herr Singhammer, im Hinblick auf dessen Instrumente finden Sie fast wortgleiche Formulierungen im Job-AQTIV-Gesetz und im Entwurf des
Fördern-und-Fordern-Gesetzes. Wir haben in diesem Bereich also kein Theorie- oder Beschlussproblem, sondern
wir haben ein operatives Problem, ein Umsetzungsproblem. Jetzt benötigen wir eine Phase, in der das, was wir
beschlossen haben, sinnvoll und effektiv in die Praxis umgesetzt werden kann. Das Hartz-Konzept stellt doch auch
eine große Chance dar. Teile davon werden erst im Laufe
des Jahres in Kraft treten.
Gehen wir einmal theoretisch davon aus, wir würden
diesen Gesetzentwurf beschließen - Frau Lautenschläger,
die in meinem Bundestagswahlkreis wohnt, ist jetzt nicht
mehr anwesend; Herr Kolb, auch Sie kennen die regionalen Bedingungen - und die Länder verfügten dann über
eine Experimentierklausel. Ich komme aus Südhessen.
Südhessen wird von drei Bundesländern eingerahmt. Hier
treffen also vier Bundesländer aufeinander. Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich einmal vor, in allen vier Bundesländern gäbe
es unterschiedliche Regelungen bei den Sperrzeiten, bei
der Zumutbarkeit und möglicherweise sogar bei der Kürzung von Leistungen. Jetzt will ich gar nicht mit dem
Walter Hoffmann ({4})
Argument der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
kommen - gegen dieses Gebot würde klar verstoßen -,
sondern nur darauf hinweisen, dass es in der Praxis für die
Betroffenen einen völlig unzumutbaren Zustand bedeuten
würde. Auch aus solchen Erwägungen der Praktikabilität
heraus gibt es kein sinnvolles Argument, diesem Gesetz
zuzustimmen.
Da dieser Gesetzentwurf ein hessisches Baby ist,
möchte ich ein paar Worte zur Situation in Hessen sagen,
und zwar in der Hoffnung, dass dies am Sonntag positive
Wirkungen zeitigen wird.
({5})
Ich kenne die Arbeitsmarktpolitik, die in Hessen betrieben
wird, relativ gut. Ich finde es unredlich, in Hessen die
Landesmittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik konsequent zu kürzen
({6})
- es gibt ein einziges Programm in Hessen, dessen Mittel
vorsichtig aufgestockt wurden; die Mittel für alle anderen
Programme, auch diejenigen für das Programm „Arbeit
statt Sozialhilfe“, wurden konsequent gekürzt -, dann einen Forderungskatalog aufzustellen, nach Berlin zu fahren und zu sagen: Bitte schön, Bundesgesetzgeber, setz
das doch um! Ich denke, die hessischen Kolleginnen und
Kollegen sollten erst einmal ihre Hausaufgaben vor Ort
machen. Diese bestehen schlicht und ergreifend darin, die
mit viel Fantasie und Kreativität entwickelte Arbeitsmarktpolitik in den Regionen durch ein entsprechendes
Landesgesetz zu vereinheitlichen - warum macht man das
nicht? - und Gelder für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
zur Verfügung zu stellen. Ich sage es noch einmal: Die jetzige hessische Arbeitsmarktpolitik ist ein einziger Steinbruch. Man hat, seitdem man an der Regierung ist, fast
alle Programme konsequent zurückgefahren, was sich
verheerend für die Personen auswirkt, die eigentlich dringend unserer Unterstützung bedürfen.
({7})
- Herr Kolb, es stimmt zwar, dass Hessen im bundesweiten Vergleich relativ gut dasteht, wenn man sich die Zahlen anschaut. Trotzdem gibt es Zuwächse bei denjenigen
Personengruppen, die ich gerade angesprochen habe.
Deshalb sage ich ganz bewusst noch einmal: Diese brauchen auch die Unterstützung des Landes Hessen. Es ist
nicht in Ordnung, Forderungen an den Bund zu richten
und selber vor Ort kaum etwas zu tun.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Natürlich.
Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege
Hoffmann. - Mich drängt es, Sie zu fragen - das liegt mir
auf dem Herzen -: Wenn es in Hessen tatsächlich so
schlimm ist - Sie haben zum Beispiel behauptet, dass die
Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik stark heruntergefahren worden seien -, wie erklären Sie sich dann die
Erfolge, die Hessen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorzuweisen hat? Die Arbeitslosigkeit ist doch in
Hessen am stärksten zurückgegangen. Die Konzepte der
hessischen Landesregierung scheinen also nicht so falsch
zu sein.
Herr Kolb, die jetzige hessische Landesregierung hat ja
nicht beim Punkt null begonnen, sondern eine relativ gute
Situation vorgefunden.
({0})
Schon damals war Hessen in dem angesprochenen Sektor
nach meinen Informationen an der dritten Stelle in der
Rangliste der Bundesländer. Das ist der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Es ist ja bekannt, dass gerade Südhessen - Sie kennen sich in diesem Bereich mindestens genauso gut aus wie ich - eine hervorragende Mischstruktur
im industriellen Sektor, beim Handel und im Handwerk
aufzuweisen hat. Diese gute Situation in Verbindung mit
einer stark exportorientierten Wirtschaft bedeutet automatisch Standortvorteile gegenüber vielen anderen Bundesländern. Daher sage ich noch einmal: Das sind nicht
die Erfolge der hessischen Landesregierung, sondern die
aller Akteure in diesem Bundesland, die im Grunde genommen versucht haben, etwas Produktives zu machen.
Ich denke, das ist ihnen auch ein Stück weit gelungen.
({1})
- Das würde ich an diesem Punkt nicht so sagen.
Die hessische Landesregierung - ich sage das noch einmal - hat die Mittel für alle wichtigen Programme im Bereich der Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Sie hat wichtige
Hausaufgaben - ich habe bereits das Landesgesetz zur
Einführung von Jobcentern erwähnt - nicht gemacht. Sie
hat in der Kinderbetreuung - diese ist wichtig für Sozialhilfeempfängerinnen, damit sie arbeiten können - Millionen gestrichen. Das weiß man vor Ort auch; das ist allgemein bekannt. Daher ist sie kein guter Ratgeber bei der
Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs.
In der Tat steckt viel heiße Luft in dem Gesetzentwurf.
Mich persönlich stört aber am meisten das Menschenbild,
das hinter dem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt;
denn wenn man diesen Entwurf liest, hat man den Eindruck, dass die überwiegende Mehrheit der 900 000 arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher in der Bundesrepublik
- 70 000 gibt es wohl in Hessen - schlicht und ergreifend
nicht arbeitswillig ist. Ich denke, bei aller Kritik und bei
allen Problemen im Einzelfall darf dies kein Menschenbild für den Gesetzgeber sein. Der Schwerpunkt des
Gesetzentwurfs liegt eigentlich auf Kürzen und Fordern.
So müsste Ihr Motto korrekt lauten. Ich vermisse hier eigentlich einen Akzent im Bereich der Förderung.
Wir alle wissen, dass es viele Gründe gibt, warum
Menschen nicht arbeiten können. Diese Gründe können in
der Betreuung, in der Qualifizierung und in der mangelnden Bereitschaft vieler Betriebe liegen, gerade diese
Personengruppe zu beschäftigen. Die schwierige konjunkturelle Situation - viele Vorredner haben sie angesprochen - ist in der Tat ein Problem und es gibt auch viele
individuelle Probleme, die man in einer freien Gesellschaft klar benennen muss. Das alles spielt in der Philosophie dieses Gesetzes überhaupt keine Rolle. Von daher
werden wir an unserer Haltung nichts ändern können. Ich
sage klar und deutlich: Unsere Fraktion kann nicht nur,
aber auch aus diesem Grund hier nicht zustimmen.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hoffmann, Sie haben in einem Teil
Ihrer Rede gesagt, Sie hofften noch auf Auswirkungen auf
die Hessenwahl. Eine von mir soeben durchgeführte Blitzumfrage hat aber ergeben: Das war nichts. Die Politik in
Hessen ist schon besser geworden. Dass Sie auf Herrn
Eichel verwiesen haben, zeigt, dass Sie nicht realistisch
sind. Ich sage ganz deutlich: Ich finde, es ist dringend notwendig, dass wir - unabhängig von der bevorstehenden
Wahl in Hessen - heute im Bundestag über das Thema
„Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe“ reden.
({0})
Nach der Wahl 1998 haben wir Ihren ersten Fehlstart
erlebt. Mittlerweile haben Sie Ihren zweiten Fehlstart hingelegt. Zwischen den beiden Fehlstarts gibt es einen Unterschied: Beim zweiten Fehlstart haben Sie sich geradezu
ins Zeug gelegt, ein Stückchen Erfahrung mit Fehlstarts
einzubringen. Sie haben für ein so großes Durcheinander
gesorgt, dass die Bürger verunsichert sind. Täglich neue
Vorschläge, täglich neue Rückzieher - ein Konzept, das
Ihrer Politik zugrunde liegt, ist nicht erkennbar.
({1})
Ich wiederhole: Das Ergebnis des zweiten Fehlstarts ist,
dass die Bürger verunsichert sind.
({2})
- Das glaube ich.
Diese Verunsicherung kann man an den Stellen erkennen, wo der Bürger sie zum Ausdruck bringt: bei der
Kaufzurückhaltung und bei der Scheu vor Investitionen.
Damit Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen Käufe
getätigt und muss Handel betrieben werden. Die Verunsicherung hat dazu geführt, dass Investitionen zurückgehalten werden.
({3})
Auch die insgesamt fehlenden Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass manche Dinge, die wir auf den Weg
gebracht haben, nicht funktionieren können.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, unser Hauptvorwurf an Sie bleibt: Sie leben von der Hand in den
Mund, Sie haben wirklich kein Konzept und keine Zukunftsvision.
({4})
Die Erfahrung der letzten vier Jahre - ich bin nicht neu
hier - lässt mich befürchten, dass die nächsten vier Jahre
ähnlich ablaufen wie die letzten vier.
({5})
Deswegen ist es notwendig, hier über die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu reden. Wir
machen über Anträge und Gesetzentwürfe im Bundesrat
und über Anträge und Gesetzentwürfe der Unionsfraktion
im Bundestag Druck auf Rot-Grün.
Das Hauptproblem scheint mir wirklich darin zu liegen, dass die Reformfähigkeit von Rot-Grün im Hinblick
auf strukturelle Fragen sehr blockiert ist. Ich denke an die
Rentenreform. Was ist da nicht alles hin- und hergeschoben worden? Eine wirkliche Reform war es am Ende
nicht. Ich denke an die Sozialhilfereform in der letzten Legislaturperiode. Herr Brandner, Sie haben daran mitgewirkt. Diese Reform ist zweimal verschoben worden und
zweimal ist ein Übergangsmodell verlängert worden.
Strukturell haben Sie nichts zustande gebracht.
({6})
Die Reform der Arbeitsförderung wurde während
der letzten Legislaturperiode zwar mehrfach angekündigt;
am Schluss kam aber lediglich das schlappe so genannte
Job-AQTIV-Gesetz zustande. Dass es nicht wirkt, können
Sie an den Zahlen ablesen. Herr Schröder hat die Senkung
der Anzahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen versprochen; 4,5 Millionen Arbeitslose werden es in diesem Januar sein.
({7})
Alles, was Sie auf den Weg gebracht haben, hat nicht
funktioniert.
Sie sind - auch das muss man vielleicht in Erinnerung
rufen - in Hektik geraten. Die Hartz-Kommission ist nicht
eingesetzt worden, weil Sie erkannt haben: Wir müssen in
diesem Bereich etwas tun.
({8})
Walter Hoffmann ({9})
Vielmehr haben Sie, als Sie zu Beginn des letzten Jahres
merkten, dass sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr viel
bewegen wird, aus der Not eine Tugend gemacht und die
Krise der Bundesanstalt für Arbeit genutzt, um eine große
Kommission einzusetzen. Dann sind plötzlich Themen
und am Ende an vielen Stellen auch Reformvorschläge
diskutiert worden, die wir hier in den letzten vier Jahren
praktisch Monat für Monat eingefordert hatten, die Sie
aber über vier Jahre blockiert hatten. Wir wären vier Jahre
weiter, wenn Sie jeweils vier Jahre früher die Erkenntnis
gehabt hätten.
({10})
Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe ist eines dieser Themen. Lesen Sie doch einmal nach, wie häufig wir darüber debattiert haben und wie
häufig Sie das auf die lange Bank geschoben haben.
({11})
Wir können fast froh sein, dass dieses Thema in der HartzKommission vorkam und Sie sich gezwungen fühlten,
sich damit auseinander zu setzen.
Was ist das Ziel der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe? Das Ziel ist es - ich sage das
noch einmal deutlich, weil eben missverständlicherweise immer Teilbereiche als Hauptziel herausgestellt
wurden -, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit
auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ihnen ein Stück
Selbstständigkeit, nein, eigentlich die entscheidende Voraussetzung für selbstständige Lebensführung zurückzugeben,
({12})
nämlich aus eigener Arbeit - das muss man deutlich genug sagen, weil das das Ziel ist und nicht das, was hier
dauernd vorgeführt wird - ein eigenes Einkommen zu erzielen, das die Basis für die eigene Lebensgestaltung ist.
({13})
Was ist dazu notwendig? Erstens. Die Politik muss
Rahmenbedingungen schaffen, unter denen in der Wirtschaft Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheiden wir uns
wirklich.
({14})
Sie können noch so viel Hartz-Vorschläge aufgreifen und
Job-AQTIV-Gesetzgebung machen, Sie können noch so
viel fördern: Wenn Sie keine Arbeitsplätze haben, wird es
schwierig. Das ist das Hauptproblem, unter dem Deutschland leidet. Die Hauptverantwortung für diesen Bereich
tragen wirklich Sie. Es ist nicht zu erkennen, dass Sie an
dieser Stelle viel täten. Das ist das eigentliche Problem.
({15})P
Ich nenne ein Beispiel: Eine Steuerpolitik, die Bürger
und Wirtschaft nicht entlastet, sondern belastet, ist eine
falsche Politik. Eine Politik, die kein Wirtschaftswachstum bringt - Sie haben gerade gestern im Jahreswirtschaftsbericht das Wirtschaftswachstum auf 1 Prozent
korrigieren müssen, nachdem es im letzten Jahr 0,2 Prozent waren -,
({16})
ist eine falsche Politik. Bei den Sozialversicherungen sind
Entlastungen statt neuer Belastungen erforderlich. Fragen
Sie doch einmal die Bürger, die gerade ihre Gehaltszettel
bekommen! Sie bekommen die Mehrbelastungen doch
gerade schriftlich.
({17})
Dann sagen Sie hier, die Bürger nähmen das nicht wahr.
Das ist der wichtigste Punkt: Die Rahmenbedingungen
an dieser Stelle müssen sich wirklich ändern, damit sich
auf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente funktionieren können.
({18})
Davon sind Sie weit entfernt.
Wir müssen zweitens ganz klar sagen: Es entspricht
nicht unserer gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben,
in Abhängigkeit von Sozialsystemen zu bleiben. Unsere
Vorstellung ist vielmehr, dass Sozialhilfe eine Hilfe zur
Überbrückung, zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt
ist, aber keine Einrichtung, in deren Abhängigkeit man
verharrt. Deswegen nenne ich einmal ein paar Zahlen, die
eine deutliche Sprache sprechen.
Es gab im Jahr 2000 rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfänger. Davon sind 60 Prozent in erwerbsfähigem Alter. Wir können uns doch nicht erlauben, so zu tun, als
wenn wir die 60 Prozent - das sind 1,6 Millionen - auf
Dauer in Sozialhilfe lassen wollten. Genau das ist der
Handlungsbereich.
Die Dauer des Sozialhilfebezuges ist gestiegen. 1997
lag die durchschnittliche Bezugsdauer - man spricht inzwischen von Sozialhilfekarriere - bei 25,4 Monate; das
sind über zwei Jahre. Innerhalb von drei Jahren, bis 2000
- das ist die jüngste Zahl, die ich gefunden habe -, ist die
Dauer auf 31 Monate gestiegen. Meine Damen und Herren, wollen Sie sagen, das sei kein Problem?
Wenn wir feststellen, dass 60 Prozent der Sozialhilfeempfänger in erwerbsfähigem Alter sind, müssen wir alles tun, um diese Menschen wirklich in Arbeit zu bringen
und ihnen ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeit
vom Sozialsystem zurückzugeben. Das muss unser gemeinsames Ziel sein.
({19})
- Genau das ist das Problem, Herr Brandner. Wir als Unionsfraktion haben die Problembeschreibung in den letzten Jahren dauernd per Antrag eingebracht.
({20})
Sie haben das verschoben.
Jetzt haben wir gehört, dass es möglicherweise Mitte
des Jahres endlich eine Vorlage der Bundesregierung geben wird, mit der wir uns beschäftigen können und die
verwertbar ist, um Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzubringen. Das hat lange gedauert, aber sie soll
jetzt endlich kommen.
Ich habe die Befürchtung, Herr Staatssekretär, dass es
dabei ähnlich läuft wie bei allen großen Projekten: Wir bekommen relativ schnell etwas auf den Tisch gelegt und
müssen es innerhalb von zwei Wochen im Ausschuss beraten.
({21})
- Ich möchte, dass wir Zeit zur Beratung haben. Die Internkommission, die sich im November und Dezember
erst einmal vertagt hatte, hat inzwischen möglicherweise
im Schnellverfahren fünfmal getagt. Es freut mich, wenn
das so ist. Aber ich erwarte, dass wir die Vorlagen rechtzeitig bekommen, damit wir das Problem und seine Lösungsvorschläge gründlich beraten können, statt das, wie
bisher, im Zwei-Wochen-Schweinsgalopp durchzujubeln.
Da haben Sie völlig Recht: Das ist mir zu wenig Zeit;
dafür haben wir zu lange Vordiskussionen geführt.
({22})
Es kommt auch darauf an - das ist der dritte Punkt -,
Anreize zu schaffen. Die beiden Bundesratsgesetzentwürfe geben Hilfestellung, hier noch etwas zu unternehmen.
Viertens müssen wir die Kostenfrage näher beleuchten. Denn bei den Sozialhilfeausgaben liegen wir inzwischen - das ist ebenfalls eine Zahl aus dem Jahr 2000 bei 20,9 Milliarden Euro.
({23})
- Wenn Sie neuere Zahlen haben, nennen Sie diese; ich
vermute, dass sie nicht darunter liegen. Aber die Zahlen
von 2000 sind die letzten, die ich gefunden habe.
Wir hatten in diesem Bereich in 2001 - ich sehe hier
gerade eine weitere Zahl - einen Anstieg um 2,7 Prozent.
Im ersten Halbjahr 2002 waren es 4,4 Prozent. Es ist also
mehr geworden.
Deswegen ist es notwendig, sich mit den beiden Gesetzentwürfen des Bundesrates zu beschäftigen. Dass einiges davon bereits erledigt ist - darauf ist hingewiesen
worden -, hat auch damit zu tun, dass diese beiden Gesetzentwürfe Anfang bzw. Ende November im Bundesrat
eingebracht worden sind. In der Zwischenzeit hat es im
Bundestag eine Hartz-Gesetzgebung gegeben - übrigens
ebenfalls im Schweinsgalopp, innerhalb von zwei Wochen -, zu der es im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss, dem ich angehöre, Vereinbarungen gegeben hat,
in denen Teile der hier vorliegenden Gesetzentwürfe übernommen worden sind.
Ich erwähne das in dieser Debatte deswegen so ausführlich, weil ich glaube, dass wir ab Montag, ab dem 3. Februar, in Deutschland in einer neuen politischen Welt sind.
({24})
Wir werden stärker aufeinander zugehen müssen, wenn
wir Reformen auf den Weg bringen wollen. Friedrich
Merz hat heute Morgen ein entsprechendes Angebot gemacht.
({25})
Das bedeutet aber nicht, dass wir als Opposition nicht
weiterhin ständig kritisch das anmahnen, was uns an dieser Stelle fehlt. Was uns bis jetzt fehlt, ist eine Vorlage der
Bundesregierung für die Zusammenfügung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
({26})
Deswegen habe ich die Bitte, dass wir diese Bundesratsinitiativen heute an den zuständigen Ausschuss überweisen, mit dem Ziel - angesichts der neuen Welt ab
nächster Woche - einer gemeinsamen Beratung aller
Fraktionen, und dass Sie die bisherige Blockadepolitik an
dieser Stelle aufgeben. Es gab kein Expertentreffen in den
letzten Jahren, bei dem nicht alle gesagt hätten, dass etwas
passieren muss; es dauert nur zu lange. Wir haben in der
Tat ein Umsetzungsproblem. Das liegt aber daran, dass
Sie von Rot-Grün nicht schnell genug aus dem Quark
kommen. Das ist das Problem.
Jetzt muss Schluss sein mit dem verbalen Behandeln
des Problems. Wir brauchen endlich eine Vorlage. Ich
bitte Sie, Herr Staatssekretär, alles daranzusetzen, dass
wir im Ausschuss so rechtzeitig wie möglich mit der Diskussion über die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe beginnen können. Da können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten, was die Gemeinsamkeit aller
Fraktionen angeht.
Schönen Dank.
({27})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin
Roth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Meckelburg, Sie haben in Ihren Ausführungen vergessen, dass wir im Jahre 1997 fast 5 Millionen Arbeitslose in diesem Land hatten und dass Sie bis dahin durchaus die Möglichkeit hatten, die Arbeitslosenhilfe und die
Sozialhilfe zusammenzulegen. Wir haben das in unser
Programm aufgenommen,
({0})
Karin Roth ({1})
weil wir wussten und wissen, dass diese Reform notwendig ist. Wir wissen aber auch, dass es sehr kompliziert ist - es handelt sich nämlich um einen Finanzausgleich -, einen fairen Interessenausgleich zwischen
Kommunen, Ländern und Bund zu organisieren. Daran
arbeiten wir.
Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf,
der von Hessen in den Bundesrat eingebracht worden ist.
Die Frage ist: Sind die Vorschläge neu? Dazu kann ich Ihnen sagen - das ist schon von meinen Vorrednerinnen und
Vorrednern gesagt worden -, dass dieser Gesetzentwurf
schon vor einem Jahr in diesem Hohen Hause ausführlich
diskutiert wurde.
({2})
Jetzt wurde er wieder wortgleich eingebracht.
({3})
Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen bei diesem Thema
nicht um die Sache, sondern darum geht, uns kurz vor den
Wahlen in Hessen und Niedersachsen weismachen zu
wollen, dass Sie einen besseren Weg gefunden hätten.
({4})
Die Wahrheit ist: Die Ministerin aus Hessen interessiert dieses Thema, zu dem sie gesprochen hat, so sehr,
({5})
dass sie nach der Hälfte der Debatte den Saal verlassen
hat, nach dem Motto: Was interessiert uns das Gerede im
Bundestag? Wir machen unsere Politik ohnehin!
({6})
Ich komme nachher noch auf die Ministerin zu sprechen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Warum glauben Sie, dass dieses Gesetz, das wir
damals abgelehnt haben, so neu und so wichtig ist, dass
wir ihm nun zustimmen sollten? Das machen wir natürlich nicht. Damals war es nicht richtig und auch heute
nicht.
({7})
Hier wurde ein verstaubter Ladenhüter aus dem Hut
gezaubert. Dabei vergessen Sie - das hat Herr Brandner
eben deutlich gesagt -, dass wir schon vieles auf den Weg
gebracht haben. Sie geben alte Antworten auf schon beantwortete Fragen. Wir haben die Probleme gelöst. Ich
denke, bei Ihrem Gesetzentwurf handelt es sich nicht um
alten Wein in neuen Schläuchen, sondern um alten Wein
in alten Schläuchen.
({8})
Man sollte diesen Entwurf zu den Akten legen. Wir jedenfalls werden neue Projekte starten.
({9})
Herr Meckelburg, es geht Ihnen in Wahrheit nicht darum, Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Auf der einen Seite soll zwar die Vermittlungstätigkeit beschleunigt
werden, auf der anderen Seite führen Ihre Maßnahmen
aber zur Diffamierung von Sozialhilfeempfängern.
({10})
Das lassen wir nicht zu, weil wir wissen, wo das endet.
({11})
Wenn man sich die Mühe macht, den Gesetzentwurf
genauer zu prüfen, dann stellt man zwei Dinge fest:
({12})
Erstens. Ihr Vorschlag bezüglich der Instrumente ist überholt, weil es die Jobcenter bereits gibt. Zweitens. Ihre gesamten Vorschläge sind überflüssig, weil wir all das im
Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts schon auf
den Weg gebracht haben. Wir blockieren nicht, sondern
wir haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt entwickelt.
Wir werden in diesem Jahr in diesem Hohen Hause die
Reform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe diskutieren. Ich
bin nicht nur auf die Haltung der Länder und Kommunen
sehr gespannt, sondern auch darauf, ob Sie bereit sind,
diesen Weg mitzugehen.
({13})
Ich sage Ihnen - es ist schade, dass Frau Lautenschläger
nicht mehr anwesend ist -, dass es aufseiten der Länder
interessante Möglichkeiten gibt. Auch die Länder können
auf dem Gebiet der Sozialhilfe die Hilfe zur Arbeit unterstützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was
Hessen in den letzten Jahren gemacht hat.
({14})
Die Koalition aus CDU und FDP in Hessen hat in diesem
Jahr - man höre und staune - die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik deutlich reduziert. Der Landesanteil an
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Sozialhilfeempfänger beträgt noch nicht einmal 3 Prozent.
({15})
Ich glaube, diese Zahl spricht für sich. Man kann daran
erkennen, wie wichtig das Thema „Arbeit statt Sozialhilfe“ für Frau Lautenschläger ist. Nach meiner Meinung
ist das ein Offenbarungseid und zeigt die fehlende
Glaubwürdigkeit. Es handelt sich um heiße Luft und
Wahlkampfgetöse.
Anstatt Ihre Hausaufgaben zu machen, legen Sie diesen Gesetzentwurf noch einmal vor. Letztendlich soll mit
der Experimentierklausel versucht werden - Frau Dückert
hat das schon gesagt -, bis 2007 das zu organisieren, was
wir schon ab 2004 dringend brauchen. Wir brauchen keine
Experimentierklausel. Erstens gibt es sie
(Klaus Brandner [SPD]: Das ist lange genug gemacht worden! Wir haben ja die Projekte gehabt!
und zweitens wollen wir ab 2004 flächendeckend die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammenführen. Von
daher ist das, was wir hier planen und organisieren, wichtig und notwendig. Ich hoffe auch, dass wir zu diesem
Thema zu einer Einigung im Bundesrat und im Bundestag kommen.
Lassen Sie mich noch zu drei oder vier Punkten, die aus
unserer Sicht wichtig sind, etwas sagen. Wir haben die
Rahmenbedingungen geschaffen. Wir haben die Einrichtung von Jobcentern organisiert. Diejenigen Bundesländer, die das noch nicht umgesetzt haben, sollten nicht beiseite stehen, sondern die Möglichkeiten nutzen.
Gleichzeitig haben wir das Job-AQTIV-Gesetz auf den
Weg gebracht und Instrumente zur passgenauen Arbeit
entwickelt.
({16})
Auch die individuellen Eingliederungsbeihilfen und Eingliederungsmöglichkeiten können genutzt werden.
({17})
Deshalb sage ich Ihnen: Unser Projekt „Fördern und Fordern“ muss umgesetzt werden. Es gibt eine gemeinsame
Verantwortung von Bund und Ländern, das liegt nicht nur
in der Verantwortung des Bundes.
Die wichtigsten Schritte wurden also gemacht. Die
Umsetzung der Hartz-Vorschläge wird erfolgen. Ich
bin sicher, dass die Menschen in unserem Land begreifen und wissen, dass es nicht darum gehen kann und gehen darf, die Menschen, die keine Arbeit haben, zu diffamieren,
({18})
sie auszugrenzen. Es geht darum, die Menschen durch
Qualifizierung in Arbeit zu bringen.
({19})
Wir müssen den Menschen Mut machen. Schließlich
geht es darum, dass Arbeit auch dazu beiträgt, die Persönlichkeit zu fördern, das Selbstbewusstsein zu unterstützen
({20})
und die Teilnahme an der Gesellschaft zu realisieren. Es
geht hier um Menschen und nicht nur um Statistik.
({21})
Wir haben die Menschen im Blick und wir erwarten, dass
durch unsere Maßnahmen ihre Integration möglich ist. Wir
machen eine Politik für die Menschen und nicht gegen sie.
({22})
- Nicht „alte Leier“. Nach Ihrem Freiheitsbegriff gibt es
diese Freiheit nur für diejenigen, die besitzen, aber nicht
für diejenigen, die nichts haben.
({23})
Die Menschen in unserem Land wissen, dass sie sich auf
Rot-Grün verlassen können.
({24})
Wir verlieren nicht die soziale Balance, wir stehen für
Modernisierung und soziale Gerechtigkeit. Das ist unser
Programm.
({25})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/273, 15/309 und 15/358 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/358 soll abweichend von
der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss lediglich
zur Mitberatung überwiesen werden.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 - es handelt sich um
eine Überweisunge im vereinfachten Verfahren - auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Daniel Bahr ({0}), Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Westsaharakonflikt beilegen - UN-Friedensplan durchsetzen
- Drucksache 15/316 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/316 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
({2})
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Karin Roth ({3})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 13 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Tschechischen Republik über den Bau einer
Grenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenze
in Anbindung an die Bundesstraße B 20 und die
Staatsstraße I/26
- Drucksache 15/12 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({5})
- Drucksache 15/272 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/272, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 8 zu Petitionen
- Drucksache 15/320 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 8 ist mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 9 zu Petitionen
- Drucksache 15/321 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 9 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 10 zu Petitionen
- Drucksache 15/322 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 10 mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 e:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Erneute Überweisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden
- Drucksache 15/345 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und
der FDP für die vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Beirats bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und
Post gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommunikationsgesetzes
- Drucksache 15/356 Ergänzend schlägt die Fraktion der SPD vor, den Abgeordneten Gerhard Rübenkönig als Stellvertreter für
Petra Bierwirth und Eike Hovermann als Stellvertreter für
Klaus Barthel zu wählen. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften über die Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung
anderer Vorschriften
- Drucksache 15/350 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Abgeordneten. Es ist kein Zufall, dass ich gestern
zwei Pressekonferenzen durchgeführt habe: eine zu dem
Gesetzentwurf, den wir zurzeit beraten, und die andere
mit meiner Kollegin Renate Schmidt zu dem Aktionsplan
der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Denn
die Bundesregierung weiß, dass die Verhütung von sexueller Gewalt nicht durch das Strafrecht allein gelingt. Gerade weil die Dunkelziffer so hoch ist, sind Aufklärung
und niedrigschwellige Angebote für Kinder notwendig.
Hinschauen, nicht wegschauen - dieses Prinzip ist einer der wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt. Es ist auch
das Motto einer bundesweiten Aufklärungskampagne, die
wir starten werden.
Damit bin ich schon zu Beginn meiner Rede bei dem
zentralen Ziel, das wir mit der Änderung des Sexualstrafrechts verfolgen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind abscheulich und verachtenswürdig. Jeder
sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Deshalb wollen wir
diese Straftaten nicht nur angemessen bestrafen, sondern
wir wollen sie vor allem verhindern.
Menschen im Umfeld von Missbrauchsopfern haben
oftmals Kenntnis von den Vorgängen oder zumindest eine
Ahnung. Trotzdem unternehmen viele nichts dagegen.
Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Verwandte, Nachbarn und Betreuungspersonen mit in die
Verantwortung nehmen. Wir erwarten, dass sie sich einmischen und Missbrauch verhindern.
({0})
Denn wirksamen Schutz für Kinder erreichen wir nur,
wenn sich alle verantwortlich fühlen. Nach unseren Vorstellungen wird sich deshalb in Zukunft derjenige strafbar
machen, der von einem geplanten sexuellen Missbrauch
weiß und nichts dagegen tut.
Wir erweitern § 138 StGB um den sexuellen Missbrauch von Kindern, die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung und den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, also vor allem behinderter Menschen.
Wir sind uns - das will ich auch nicht verhehlen - dabei durchaus bewusst, dass wir uns in einem sehr sensiblen Bereich bewegen: Es gibt Fälle - gerade bei Missbrauch im familiären Umfeld -, in denen sich das Opfer
nicht nur vor dem Missbrauch fürchtet, sondern auch zu
dem Täter, zum Beispiel dem Stiefvater, der die Familie
finanziell unterstützt, eine persönliche Beziehung hat.
Deshalb will das Kind in der Regel nicht, dass der Stiefvater ins Gefängnis kommt; es will aber natürlich, dass
der Missbrauch aufhört. Das heißt, das Kind will sich jemandem anvertrauen, der nicht sofort zur Polizei gehen
soll.
Um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden, haben
wir die Anzeigepflicht eingeschränkt. Diejenigen, die
häufig Ansprechpartner sind, zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen, Psychologen und Ähnliche, haben wir von
der Anzeigepflicht ausgenommen, wenn sie sich ernsthaft
um die Verhinderung weiterer Taten bemühen. Aber, sie
müssen es auch ernsthaft tun. So einen Fall, wie er mir
letztes Wochenende geschildert wurde, dass Mitarbeiter
eines Jugendamtes fünf Jahre lang vom Missbrauch eines
Kindes in einer Familie wussten, aber nichts unternommen haben, darf es künftig nicht mehr geben.
({1})
Wir haben eine weitere Einschränkung vorgenommen.
Natürlich wollen wir nicht, dass die ersten sexuellen Kontakte junger Menschen untereinander zur Anzeige kommen. Deshalb ist der Personenkreis derjenigen, die anzeigeverpflichtet sind, auf die über 18-Jährigen beschränkt
und wir erfassen auch nur die Fälle, in denen der Täter die
sexuelle Unerfahrenheit seines Opfers ausnützt. Natürlich
wollen wir nicht, dass das Knutschen des 15-Jährigen mit
der 13-Jährigen angezeigt werden muss.
Ein zweiter Punkt des Entwurfs ist die Erhöhung der
Strafrahmen zahlreicher Vorschriften. Wie Sie wissen,
habe ich mich im vergangenen Jahr an dieser Stelle dafür
ausgesprochen, den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs vom Vergehen zum Verbrechen heraufzustufen. Herr Kollege, Sie sollten jetzt zuhören, damit Sie das später auch bearbeiten können.
({2})
Mein Ziel war es, auch diejenigen schweren Fälle des
sexuellen Missbrauchs als Verbrechen ahnden zu können,
die, weil kein Eindringen in den Körper vorliegt, als einfacher sexueller Missbrauch qualifiziert werden und deshalb mit einem Strafmaß belegt sind, das unseres Erachtens deutlich zu niedrig ist. Die Folge der Qualifikation
zum Verbrechen wäre aber die Einführung eines minderschweren Falles. Denn darin sind wir uns auch mit der
Opposition einig: Nicht jeder sexuelle Missbrauch ist als
Verbrechen zu qualifizieren.
Die Praktiker haben mich in unseren Diskussionen davon überzeugt, dass der jetzt von uns gewählte Weg rechtstechnisch gesehen der bessere ist. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird der Grundtatbestand des sexuellen
Missbrauchs mit einem Strafrahmen von sechs Monaten
bis zu zehn Jahren beibehalten. Künftig wird es aber keine
minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs mehr
geben; diese Regelung streichen wir.
Neu eingeführt wurde dagegen in § 176 Abs. 3 Strafgesetzbuch der besonders schwere Fall des sexuellen
Missbrauchs mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr.
({3})
Damit erfassen wir vor allem die Fälle, die sich deutlich
vom Grundtatbestand des einfachen sexuellen Missbrauchs abheben, ohne dass aber schon die Voraussetzungen des schweren Missbrauchs nach § 176 a Strafgesetzbuch erfüllt werden. Gemeint sind also diejenigen Fälle,
bei denen es nach unserer Ansicht eine Regelungslücke
gab. Dabei geht es darum, dass beischlafähnliche Handlungen stattfinden, ohne dass es zum Eindringen in den
Körper kommt. Entsprechend erhöhen wir beim schweren
sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176 a, die heutige
Mindeststrafe von einem Jahr auf zwei Jahre.
({4})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röttgen?
Nein.
Der Vorteil dieser Regelung ist, dass die Ahndung von
Taten an der unteren Grenze der Strafbarkeit auch weiterhin flexibel gehandhabt werden kann. Es wird deshalb
- für Einzelfälle - die Einstellung des Verfahrens ebenso
zulässig bleiben wie der Strafbefehl, der dem Opfer das
Auftreten in der Hauptverhandlung erspart.
Für diese Lösung spricht ein Argument der Praktiker:
In den Fällen, in denen die Strafe zwischen sechs Monaten und einem Jahr tat- und schuldangemessen ist, müssen
die Gerichte auch in Zukunft nicht wegen eines minderschweren Falles verurteilen, wie es, würde sich Ihre Vorstellung durchsetzen, der Fall wäre. Dies - so sagen die
Praktiker - legitimiert die Täter, nach dem Motto: Es war
ja gar nicht so schlimm; es ist ja nur ein minderschwerer
Fall. Dieses Argument sollten wir berücksichtigen.
({0})
Zu einem weiteren Punkt, zu § 179 Strafgesetzbuch,
wo wir wie bei § 176 den Strafrahmen erhöhen: Der Beischlaf mit einem widerstandsunfähigen behinderten
Menschen ist künftig ebenso sanktioniert wie eine Vergewaltigung, nämlich mit zwei Jahren Mindeststrafe. Damit
wird einem seit vielen Jahren bestehenden Begehr der Behindertenverbände endlich Rechnung getragen.
({1})
Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs nimmt die
technische Entwicklung auf. Es geht um die Strafbarkeit
von Kinderpornographie im Internet. Dass dies nötig ist, zeigen die Fallzahlen. Im Jahr 1996 waren es
663 Fälle, im Jahr 2001 bereits 2 745. Deshalb erhöhen
wir die Höchststrafe für den Besitz und die Besitzverschaffung von Kinderpornographie auf zwei Jahre statt
bisher einem Jahr.
({2})
Die Zahl der Computerbesitzer und derjenigen, die
über einen Internetzugang verfügen, nimmt stetig zu; dies
begünstigt den Handel mit kinderpornographischen Abbildungen. Ich spreche hier insbesondere die Weitergabe
von Kinderpornographie in den so genannten geschlossenen Benutzerräumen des Internets an. In diesen Fällen
werden die Gerichte künftig nicht mehr lediglich auf den
Besitz abstellen müssen und damit zu einem geringeren
Strafrahmen kommen; vielmehr können sie die Verbreitung zugrunde legen. Insoweit haben wir den Tatbestand
erweitert. Damit kommen wir auch zu einem höheren
Strafmaß, denn bei der Weitergabe in geschlossenen Benutzerräumen handelt es sich um nichts anderes als um
eine Verbreitung. Wir versprechen uns davon auch, dass
es durch eine Reduzierung der Nachfrage zu einem Rückgang der Produktion kommt, denn man muss sich immer
klarmachen: Jedem kinderpornographischen Foto ist ein
sexueller Missbrauch vorausgegangen. An dieser Stelle
müssen wir auch über solche Regelungen eingreifen.
Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass unser Entwurf die Frage der Sicherungsverwahrung für Heranwachsende nicht behandelt.
({3})
Wir haben hierüber intensiv diskutiert. Ich will mit meiner Einstellung dazu nicht hinter dem Berg halten: Wenn
das Gericht bei einem heranwachsenden Sexualtäter, der
nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, eine besondere Gefährlichkeit für die Zukunft feststellt, dann sollte
es auch die Sicherungsverwahrung anordnen können.
Aber man muss eines im Auge behalten: Wir reden von
einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen. 80 Prozent der Heranwachsenden, die Taten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung oder das Leben begehen, werden nach
Jugendstrafrecht verurteilt; also sprechen wir von 15 bis
20 Prozent. Diese müssen weitere Voraussetzungen erfüllen, denn sie müssen erhebliche Vortaten begangen haben
und in Zukunft, auch über die Strafverbüßung hinaus, gefährlich sein. Es betrifft also nur eine ausgesprochen geringe Zahl von Menschen. Allerdings sollten wir uns dieser Option nicht begeben und uns bemühen, zu einer
vernünftigen Lösung zu kommen. Ich rege an, dass wir
diesen Punkt in der Sachverständigenanhörung besonders
intensiv diskutieren werden; darüber waren wir uns einig.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser
Stelle ganz herzlich bei den Abgeordneten Stünker und
Montag bedanken, mit denen wir intensive Gespräche geführt haben, ebenso wie mit den anderen Mitgliedern der
Arbeitsgruppe, denen gleichfalls mein Dank gilt. Die Herren werden sicherlich zu den von mir jetzt aus Zeitgründen nicht erwähnten Punkten dieses Gesetzes weitere
Ausführungen machen.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen zu
einer Kurzintervention.
Es wird eine kurze Kurzintervention sein. - Es ist Ihr
gutes Recht, Frau Ministerin, Zwischenfragen nicht zuzulassen, wenngleich ich das immer bedaure, weil die Debatte ja auch vom Dialog und davon lebt, dass man auf Argumente eingeht.
Ich habe mich an der Stelle gemeldet, an der Sie sich
zu der Frage äußerten, ob sexueller Missbrauch von Kindern Vergehen oder Verbrechen sein soll, was mit unterschiedlichen strafrechtlichen Konsequenzen verbunden
wäre. Ich wollte eine Frage vor dem Hintergrund eines
Interviews stellen, das Sie erst im letzten Monat, im Dezember 2002, im „Focus“ gegeben haben. Dort wurden
Sie nach bestehenden Lücken in der Verfolgung von Taten gefragt; solche Lücken haben Sie festgestellt und gesagt, darum müsse es zu Änderungen kommen. Dann sind
Sie nach Beispielen für Änderungen und für nicht erfasste Tatbestände gefragt worden. Ich zitiere jetzt:
Zypries: Dazu gehören die versuchte Anstiftung zu
sexuellen Handlungen mit Kindern und die Verabredung von entsprechenden Taten. Wenn man das
strafbar machen will, muss man den sexuellen Missbrauch von Kindern im Gesetz grundsätzlich vom
Vergehen zum Verbrechen hochstufen.
Gerade dies ist mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf nicht erfolgt. Der Grundfall des sexuellen Missbrauchs bleibt
Vergehen. Darum meine Frage an Sie: Haben Sie innerhalb dieser kurzen Zeit Ihre Meinung geändert oder konnten Sie sich mit Ihrer Meinung nicht durchsetzen?
Frau Ministerin, Sie können auf diese Kurzintervention
antworten.
Herr Abgeordneter, ich habe dargestellt, dass ich meine
Auffassung geändert habe. Ich habe in meiner Rede ausdrücklich erwähnt, dass ich das getan habe. Ich habe
außerdem gesagt, dass wir dasselbe Regelungsziel erreichen, das ich erreichen wollte.
Ich habe nicht erwähnt - das liegt an der Kürze der verfügbaren Zeit; es kann noch ergänzt werden -, dass wir die
beiden Punkte, die sich daraus ergeben, dass wir die Tat
zum Verbrechen hochstufen, gesondert als Straftatbestand
geregelt haben.
({0})
Herr Kollege Götzer, nun haben Sie das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt ist der mit Spannung erwartete Entwurf der Regierungskoalition zum Sexualstrafrecht also endlich da. Man
ist versucht zu sagen: Allein schon die Tatsache, dass sich
jetzt endlich etwas tut, ist ein Fortschritt, nachdem sich
Rot-Grün bisher zu keinen nennenswerten Maßnahmen
durchringen konnte und beispielsweise den Gesetzentwurf des Bundesrats dazu in der 14. Wahlperiode abgelehnt hatte. Aber jetzt hat man es sehr eilig. Erst vor zwei
Tagen wurde der Entwurf vorgestellt und heute behandeln
wir ihn bereits in erster Lesung.
Zum wesentlichen Inhalt des rot-grünen Gesetzentwurfs: Wenn man die Übersicht auf den ersten Seiten ansieht, gewinnt man den Eindruck: Hier tut sich wirklich etwas. In der Tat fallen die Strafverschärfungen im Bereich
des Sexualstrafrechts, die der Entwurf der Koalition vorsieht, grundsätzlich positiv auf. Hier nähert sich Rot-Grün
zumindest in Teilen den Positionen der Union an bzw.
übernimmt sie sogar.
So folgt der Koalitionsentwurf dem Vorschlag der
Union, einen spezifischen Tatbestand „Anbieten von
Kindern für sexuelle Handlungen“ zu schaffen. Denselben
Vorschlag hatte bereits ein bayerischer Gesetzentwurf im
Jahr 1998 enthalten.
Dass die Kinderpornographie ein eigener Straftatbestand mit höheren Strafen wird, findet unsere Zustimmung.
Wir begrüßen auch grundsätzlich, dass nach dem Koalitionsentwurf gemäß dem neu gefassten § 81 g Abs. 1
Nr. 2 StPO die DNA-Analyse künftig bei allen Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung erlaubt werden soll.
Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber das wird
leider nicht konsequent zu Ende geführt, sodass es kaum
Wirkung zeigen wird. Zum einen nimmt der Koalitionsentwurf bei den Anlasstaten lediglich die in den §§ 174 ff.
StGB festgelegten Tatbestände auf. Andere Delikte, die
ebenfalls einen sexuellen Hintergrund haben können, zum
Beispiel tätliche Sexualbeleidigungen und andere sexuelle
Belästigungen, werden damit immer noch nicht erfasst.
({0})
Zum anderen darf nach dem Koalitionsentwurf eine
DNA-Analyse nur dann erfolgen, wenn die Sozialprognose ergibt, dass von dem Straftäter künftig Straftaten
von erheblicher Bedeutung zu erwarten sind.
({1})
Damit fällt der Grundtatbestand des Kindesmissbrauchs,
der nach dem Koalitionsentwurf weiterhin lediglich als
Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird, aus
diesem Raster heraus.
({2})
Rot-Grün weigert sich damit nach wie vor, die DNA-Analyse im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern konsequent einzusetzen.
({3})
Unser Entwurf war insofern wesentlich umfassender und
erfasste alle Formen von sexuellen Vergehen.
Positiv festzustellen ist zunächst auch, dass der Koalitionsentwurf - Frau Ministerin, Sie haben es ausführlich
dargestellt - die Nichtanzeige von bestimmten Sexualdelikten unter Strafe stellt.
({4})
Diese an sich begrüßenswerte Neuerung wird aber durch
die ebenfalls geplante Änderung des § 139 StGB wieder
so weit eingeschränkt, dass sie praktisch kaum Wirkung
zeigen wird.
({5})
- Ich glaube, die Verfasser haben das nicht verstanden oder
nicht gewollt. - Die von Rot-Grün geplante Änderung des
§ 139 StGB sieht nämlich vor, die Nichtanzeige von
Straftaten für eine Vielzahl von Personen- oder Berufsgruppen wie Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater straflos zu stellen. Das sind aber gerade die Gruppen, die etwas wissen können und damit zur Aufklärung
von Sexualdelikten beitragen können und müssten.
Ein ganz schwerer Mangel des Koalitionsentwurfs ist,
dass der Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kindern, also der Kinderschändung, weiterhin lediglich als
Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein,
dass der Kindesmissbrauch rechtlich auf dieselbe Stufe
wie etwa Hausfriedensbruch oder Beleidigung gestellt
wird! Der derzeitige Strafrahmen für sexuellen Missbrauch von Kindern entspricht lediglich dem für Wohnungseinbruchdiebstahl.
({6})
Die im Koalitionsentwurf vorgesehene Schaffung eines schweren Falls des Kindesmissbrauchs genügt hierbei
nicht. Zwar führt dies zu einer Strafverschärfung - das ist
unbestritten -, aber gemäß § 12 Abs. 3 StGB führt das
eben nicht zur Einstufung als Verbrechen mit den entsprechenden Konsequenzen. Der Entwurf der Unionsfraktion vermeidet diese Falschgewichtungen, indem er
die Grundfälle des Kindesmissbrauchs konsequent als
Verbrechen ausgestaltet.
Verehrte Frau Justizministerin, Sie hatten sich erfreulicherweise im Vorfeld mehrfach dafür ausgesprochen,
den Kindesmissbrauch als Verbrechen auszugestalten. Es
ist sehr bedauerlich, dass Sie sich damit in der Koalition
offensichtlich nicht durchsetzen konnten.
Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf, der von Rot-Grün
in der Hoffnung auf Wirkung in der Öffentlichkeit als Verschärfung des Sexualstrafrechts präsentiert wird, ist völlig unverständlich.
({7})
- Herr Kollege Ströbele, Sie sagen selber, dass das verkehrt ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das ist
auch unsere Einschätzung. Wenn man das als eine Verschärfung des Sexualstrafrechts verkauft, dann ist das
eine Mogelpackung.
({8})
Ich nenne ein Beispiel: § 176 a Abs. 1 Nr. 4 StGB soll
gestrichen werden. Damit würde der Täter, der wiederholt
Kinder schändet, künftig nicht mehr als Verbrecher, sondern nur noch wegen eines Vergehens bestraft werden.
({9})
Bei einem so zentralen Punkt des Vorhabens schwächt
Rot-Grün den Strafrechtsschutz von Kindern also sogar
noch ab.
({10})
- Ich habe den Entwurf sehr genau gelesen, Herr Kollege.
Lesen Sie es nach: Sie haben den Kindesmissbrauch nicht
hochgestuft. Das ist ein schwerer Mangel in diesem Entwurf.
Leider unterlässt es der Entwurf der Regierung auch, die
Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO
auf alle Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern auszudehnen. Wir wissen, besonders bei der Anbahnung von
Kindesmissbrauch werden immer häufiger Telekommunikationsmittel eingesetzt. Auf die Verabredung im Internet
folgt in der Regel ein Telefonat. Wir brauchen also die
Überwachung der Telekommunikation, weil sie sich als effizientes Mittel im Kampf gegen Straftaten erwiesen hat.
Wir dürfen sie gerade in diesem Bereich nicht einschränken.
Dass Rot-Grün weiterhin auf der bisherigen Regelung
beharrt, zeigt, dass der Täterschutz offensichtlich noch
immer Vorrang vor dem Opferschutz hat.
({11})
- Das ist leider die Wahrheit.
({12})
Besonders deutlich zeigt sich dies vor allem aber daran, dass im Gesetzentwurf der Regierungskoalition die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
wieder nicht enthalten ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch weiterhin hält die Regierung also an der von ihr
in der letzten Wahlperiode halbherzig beschlossenen Vorbehaltslösung fest. Damit wird es nach dem Willen dieser
Regierung auch künftig kein wirksames Mittel geben, einen Täter, dessen Gefährlichkeit erst im Strafvollzug zutage tritt, in Sicherungsverwahrung zu nehmen.
({13})
Verehrte Frau Ministerin, Sie haben gesagt, das beträfe
nur wenige Fälle. Das ist doch ein etwas befremdendes
Argument, wenn es um Menschenleben geht. In der Tat
hätten Menschenleben gerettet werden können, wenn es
wirksame Regelungen zur Wegschließung von solchen
hochgefährlichen Straftätern gegeben hätte.
({14})
Es ist hoch an der Zeit, dass diese Lücke endlich beseitigt
wird.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt
zeigt also der heute in erster Lesung diskutierte Entwurf,
dass sich die Koalition in einigen Fragen unserer Position
angenähert hat. In vielen und wesentlichen Punkten aber
verweigert sie sich - wohl auf Druck der Grünen - weiterhin den zum Schutz der Kinder vor Sexualverbrechen notwendigen Maßnahmen. Wir geben aber die Hoffnung
nicht auf, dass Sie, verehrte Frau Ministerin, sich im Verlauf der Beratungen doch noch gegen die Bremser in Ihrer Koalition durchsetzen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
stimmen Sie dem Gesetzentwurf der CDU/CSU zu - im
Interesse eines bestmöglichen Schutzes der Bevölkerung
und vor allem unserer Kinder vor Sexualverbrechen.
Ich bedanke mich.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Götzer, auch wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir bei der Debatte über das Sexualstrafrecht, also bei den weiteren Beratungen dieses Ge1726
setzeswerks, zu einer rationalen und an den Interessen der
Opfer ausgerichteten Diskussion kommen werden, und
zwar - ich sage das ganz klar und deutlich - auch mit der
Opposition und mit Ihnen.
Es gab erstaunlich wenig Polemik, wenn Sie sich auch
nicht jede verkneifen konnten. Wenn ich mir diese wegdenke, glaube ich aufgrund vieler Punkte - dies ist ein
gutes Zeichen für die Arbeit im Rechtssauschuss und für
den weiteren Gesetzgebungsgang -, dass wir uns vielleicht doch auf ein gemeinsames Gesetz werden verständigen können, insbesondere dann, wenn Sie es sich in
Zukunft verkneifen, populistischen Neigungen nachzugeben,
({0})
also zum Beispiel zu glauben, Sie könnten durch Strafverschärfungen in Einzelfällen mögliche Opfer tatsächlich
davor schützen, Opfer zu werden. So simpel und einfach
läuft Strafgesetzgebung nicht. Man kann Opferschutz
nicht ausschließlich über höhere Strafen betreiben.
({1})
- Das sagen Sie, indem Sie an erster Stelle und sich nur
darauf beziehend an den Vorschlägen der Koalition
geißeln, dass wir mit den Strafverschärfungen nicht weit
genug gehen würden. Ich werde Ihnen dies anhand des
§ 176 des Strafgesetzbuches und den guten Gründen,
warum wir hier nicht zu einem Verbrechenstatbestand gekommen sind, noch zu beweisen versuchen.
Ich freue mich ganz besonders - die Frau Ministerin
Zypries hat darauf hingewiesen -, dass wir heute nicht nur
über den Gesetzentwurf der Koalition reden, sondern dass
wir auch den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutung
mitdiskutieren können. Ich danke dafür ganz ausdrücklich. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Koalition beim
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt eben nicht ausschließlich ans Strafrecht denkt,
sondern auch an viel wirksamere Mittel, die Kinder und
Jugendliche tatsächlich schützen können.
({2})
Aufklärung, Sensibilisierung der Gesellschaft, Arbeit
mit Jugendlichen, Schaffen von Anlaufstellen, von Beratungsstellen und - das sage ich ganz bewusst - auch eine
gesellschaftliche Ächtung des sexuellen Missbrauchs sind
mindestens genauso gute Elemente wie das Mittel des
Strafrechts, wobei ich nicht sage, dass das Strafrecht keine
Rolle spielt. Es muss aber eingebettet werden. Es muss
auf Rationalität abgeklopft werden. Das haben wir mit
diesem Gesetzentwurf versucht.
Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von
der Opposition, ist rational. Er sieht Strafverschärfungen
nur da vor, wo sie wirklich erforderlich sind, und auch hier
nur in einem angemessenen Umfang. Er ist durchdacht
und schließt Strafbarkeitslücken, er beseitigt bestehende
Widersprüche zwischen den Strafnormen. Der Gesetzentwurf ist verantwortungsbewusst, denn er berücksichtigt
die berechtigten Interessen der Opfer.
Ich will an dieser Stelle nicht eine fruchtlose und endlose Debatte über die generalpräventive Wirkung des
Strafrechts führen. Es ist klar, dass einzelfallbezogen die
generalpräventive Wirkung gering ist. Trotzdem hat das
Strafgesetz generalpräventive Wirkungen und im Sinne
einer Normsetzung, die fragt, was wir unter Strafe stellen
wollen und welches Verhalten wir für strafwürdig halten,
durchaus eine Bedeutung. Deswegen unterstützen wir
auch die Gedanken, die dahin gehen, dass sich die Verwerflichkeit der Tat auch im Strafmaß ausdrücken muss.
Aus diesen Gründen haben wir auch zugestimmt, dass
man beim sexuellen Missbrauch von Kindern und anderen
vergleichbaren Vorschriften dieses Abschnittes die Geldstrafe gestrichen hat. Denn die Geldstrafe ist ein Signal
für eine etwaige Bagatelltat.
({3})
Diese Abschaffung halten wir für richtig und haben wir
unterstützt. In Richtung FDP sage ich: Dies ist keine heiße
Luft, sondern hier geht es wirklich um die Frage, ob wir
in der Öffentlichkeit und gegenüber der Gesellschaft sagen: Kindesmissbrauch ist eine Straftat, die man auch mit
einer Geldstrafe aus der Welt schaffen kann. - Wir halten
dies für nicht richtig. Darüber hinaus geht es uns auch darum, zu zeigen, dass die Herstellung und Verbreitung von
Kinderpornographie - gerade durch das Internet geschieht
das in hohem Maße - keine Bagatelle ist.
Wir sind dafür, auch die Zahl der minderschweren
Fälle, wenn es um sexuellen Missbrauch geht, zu reduzieren,
({4})
weil das Opferschutz bedeutet. Wir haben die minderschweren Fälle aus einigen Grundtatbeständen herausgenommen, und zwar ganz bewusst, weil wir der Meinung
sind, dass sich die Opfer, wenn sie mit den Straftaten, die
ihnen angetan werden, schon in der Öffentlichkeit stehen,
nicht auch noch damit auseinander setzen müssen, dass
das, was ihnen geschehen ist, nur ein minderschwerer Fall
und folglich nicht so schlimm sei. Die Opfer empfinden
es als eine ganz besonders schlimme Tat gegen sie selbst.
Wir fordern Strafen, die, ganz besonders bei Straftaten
im sozialen Nahraum, in der Konsequenz die Opfer nicht
verängstigen und zum Schweigen bringen. Das ist dann
der Fall - das übersehen Sie von der Opposition -, wenn
Sie schon den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren. Daraus ergibt sich nämlich als Folge, dass keine flexible Antwort
der Justiz auf bestimmte Straftaten möglich ist.
({5})
- Das habe ich verstanden. Aber auch durch Ihre Einwürfe
wird Ihre Argumentation nicht besser. Nehmen Sie zur
Kenntnis, Herr Götzer: Das, was Sie in Ihrem Beitrag als einen Fall der „Kinderschändung“, als sexuellen Missbrauch
von Kindern bezeichnet haben, umfasst im Straftatbestand viel mehr als das, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollen und was ich mit Ihnen teile. Es gibt Fälle mit
großem Altersunterschied, bei denen Erwachsene, meistens Männer, kleine Kinder sexuell in einem Ausmaß missbrauchen, ohne dass es zu einer Vergewaltigung kommt,
ohne ein Eindringen in den Körper, das in hohem Maße
strafwürdig ist. Der sexuelle Missbrauch von Kindern
nach § 176 StGB umfasst allerdings auch das Petting einer 15-Jährigen mit einem 13-Jährigen. Wir halten es für
falsch, einen solchen Sachverhalt, nämlich die Sexualerfahrung von Jugendlichen diesseits und jenseits der
Schwelle des 14. Lebensjahres, pauschal zu einem Verbrechen zu stigmatisieren.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie sich von Ihren
Vorbehalten lösen und versuchen, den Text vernünftig zu
lesen, dann werden Sie merken, dass das, was Sie haben
wollen, in der Lösung, die wir gefunden haben, enthalten
und in dem Entwurf der Koalition weitestgehend erfüllt
ist. Wir werden darüber im Einzelnen noch im Ausschuss
zu sprechen haben. Sie werden feststellen: Wir liegen in
der Sache nicht so weit auseinander, wenn Sie nur den
Versuch aufgeben, in der Öffentlichkeit mit solchen Forderungen nach Verbrechenstatbeständen und mit Begriffen wie „Kinderschändung“ Punkte machen zu wollen.
Das ist der Punkt.
({7})
Diskutieren Sie mit uns über die Sache. Dann werden Sie
mit uns zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen können.
Ich komme zum § 138 StGB und zur Nichtanzeige geplanter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Dies wird jetzt von uns unter Strafe gestellt. Wir wollen
- Frau Ministerin hat darauf hingewiesen -, dass diejenigen zum Beispiel aus der Nachbarschaft, die auf die eine
oder andere Weise von einem sexuellen Missbrauch von
Kindern erfahren und einfach wegschauen wollen, dies
nicht können. Sie werden nicht mehr sagen können: Was
interessiert mich das? Das bringt mir mit der Justiz nur
Ärger ein. Damit will ich nichts zu tun haben. - Diese Änderung ist ein Signal, das ich für richtig halte. Dem können wir, wie ich glaube, folgen.
Wir haben, damit das Gesetz vernünftig und rational
ist, aber auch die entsprechenden Schranken eingesetzt.
Wenn Sie das Gesetz genau lesen, dann werden Sie nichts
dagegen sagen können, dass wir bestimmte Berufsgruppen von einer strafbewehrten Anzeigepflicht ausgenommen haben. Wir haben diese Gruppen aber nicht von einer
Beistandspflicht ausgenommen. Sie bleiben verpflichtet,
sich aus ihrem Arbeitsfeld heraus darum zu bemühen, und
zwar effektvoll, weiteren sexuellen Missbrauch zu verhindern. Sie sollen dazu beitragen, dass sich solche
Straftaten nicht fortsetzen. Wir haben sie mit gutem
Grund aus der strafbewährten Anzeigepflicht herausgenommen, weil wir der Meinung sind, dass wir damit mehr
Gutes als Schlechtes tun. Damit erreichen wir nämlich,
dass sich die Opfer, Kinder, an diese Gruppen wenden
können und dass ein Vertrauensverhältnis geschaffen
wird. Wir wollen einen Raum dafür schaffen, dass Opferschutz auch tatsächlich ausgeübt werden kann.
In der Redezeit, die mir verbleibt, möchte ich noch
einen weiteren Punkt ansprechen. Es geht um den Opferschutz für behinderte und widerstandsunfähige Personen. Nach jahrelangen Diskussionen, in denen das offensichtlich nicht gelungen ist, haben wir jetzt endlich einen
Gesetzentwurf vorlegen können, in dem der Unterschied
zwischen der Vergewaltigung auf der einen Seite und den
Beischlafhandlungen mit widerstandsunfähigen Personen
auf der anderen Seite vom Strafgesetz auf die gleiche
Ebene gestellt wird.
Es gibt Unterschiede: Bei der Vergewaltigung gibt es die
Gewaltfrage, die es bei den Beischlafhandlungen mit widerstandsunfähigen Personen nicht gibt. Auf der anderen
Seite gibt es dafür ein höheres Maß an Verwerflichkeit, weil
eine entsprechende Situation ausgenutzt wird. Das Strafgesetzbuch kennt so etwas zum Beispiel in § 243 Abs. 1
Nr. 6, wonach der Diebstahl bei widerstandsunfähigen,
hilflosen Personen sehr wohl straferschwerend wirkt.
({8})
Auf der einen Seite steht also die Gewaltfrage und auf der
anderen Seite steht die Verwerflichkeit der Ausnutzung einer hilflosen Lage als ein straferschwerendes Moment.
Deswegen sagen wir, dass die Vergewaltigung nach § 177
Strafgesetzbuch und der Beischlaf mit widerstandsunfähigen Personen gleich behandelt werden sollen. Hier
soll der gleiche Strafrahmen gelten.
Die DNA-Analyse ist schon angesprochen worden.
Dazu möchte ich nur ein Wort sagen: Es ist nicht so, dass
sich die Anlasstat bei einer negativen Prognose auf der gleichen Ebene wiederholen kann. Die Anlasstat kann jedes
Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein. Bei
der Frage der Negativprognose muss es sich um erhebliche
Straftaten handeln. Sie gehen fehl, wenn Sie sagen, dass ein
sexueller Missbrauch von Kindern keine schwerwiegende
Straftat ist. Natürlich ist sie das im Sinne des § 81 g Strafprozessordnung. Daran haben wir nichts geändert.
Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist schon deutlich
überschritten.
Ich will nur ein Letztes sagen: Über die Frage der
Sicherungsverwahrung von Heranwachsenden werden
wir uns im Rechtsausschuss im Einzelnen noch unterhalten müssen. Wir werden Ihnen unsere Bedenken dazu vortragen. Im Übrigen denke ich, dass der Gesetzentwurf der
Koalition die richtige Antwort auf die Probleme, die im
Sexualstrafrecht bestehen, ist. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserem Entwurf.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Montag, wir führen ja die erste Lesung
durch, weshalb es nicht um die Frage der Zustimmung
zum Gesetzentwurf, sondern um eine erste Bewertung
dessen, was Sie vorgelegt haben, geht.
Vor einigen Wochen konnten wir in einem Hamburger
Nachrichtenmagazin die Geschichte lesen, dass ein
Kunsterzieher in einer niedersächsischen Stadt offensichtlich über 30 Jahre hinweg männliche Jugendliche sexuell missbraucht hatte, ohne dass diese Tatsache in den
30 Jahren irgendwann einmal zur Sprache gekommen und
diesem Täter das Handwerk gelegt worden ist. Erst vor
wenigen Monaten ist es durch Jugendliche, die missbraucht worden sind, zur Anzeige gekommen.
Das macht Folgendes deutlich: Der Schwerpunkt der
Überlegungen bezüglich der notwendigen Verhinderung
von sexuellem Missbrauch muss darin liegen, Kinder und
Jugendliche, die Opfer sind, in ihrer Bereitschaft zu stärken, diese Taten anzuzeigen und sich dagegen zu wehren.
({0})
Ich habe bereits in einer Debatte, die wir dazu vor einigen
Monaten geführt haben, erklärt, dass für uns Liberale eindeutig dort der Schwerpunkt liegt.
Es hat mich gefreut, dass Sie, Frau Ministerin, aber
auch einige meiner Vorredner dies heute angesprochen
haben. Ich habe es bedauert, dass der Aspekt, Kinder stärker zu machen, beim Kollegen Götzer von der CDU/CSU
leider überhaupt keine Rolle gespielt hat.
({1})
Ich bin aber sicher - das habe ich auch Ihrem Beifall entnommen -, dass wir in diesem Punkt nicht auseinander
sind.
({2})
Deshalb sollten wir das praktizieren, was wir in diesen
Fragen in der Vergangenheit aus gutem Grunde praktiziert
haben: sachlich und fair zu prüfen und das umzusetzen,
was wirklich zu einem Fortschritt führt.
({3})
Ich will für die FDP deutlich signalisieren, dass es auch
unser Interesse ist, dies zu tun. Sie werden unsere Unterstützung für alle Maßnahmen bekommen, bei denen es
wirklich einen Fortschritt in unserem Bemühen gibt, sexuellen Missbrauch von Kindern so weit wie möglich zu
verhindern.
Ich weiß, dass wir die Fragen, die auch heute wieder
zur Diskussion stehen, in den vergangenen Jahren sehr
häufig diskutiert haben. Trotzdem sage ich: Wir sind in
der Verpflichtung, alle aufgeworfenen Fragen immer wieder neu zu prüfen. Wenn neue vernünftige Argumente vorgetragen werden, dann müssen wir möglicherweise zu einer anderen Antwort kommen, als das vor zwei oder drei
Jahren der Fall war.
Dazu tragen natürlich auch technische Entwicklungen
bei. Sie, Frau Ministerin, haben vorhin ein Beispiel genannt. Dadurch, dass immer mehr Menschen Zugang zum
Internet haben, ergibt sich ganz automatisch, dass zum
Beispiel Kinderpornographie im Internet einen völlig anderen Stellenwert hat, als das noch vor mehreren Jahren der
Fall war. Darauf gehört eine strafrechtliche Antwort. Wenn
wir sehen, dass zu diesem Punkt im Strafrecht Lücken sind,
muss selbstverständlich dafür gesorgt werden, dass diese
Lücken geschlossen werden. Wir sind dazu bereit.
Im Übrigen erleben wir, dass in einem Bereich große
technische Fortschritte gemacht werden, nämlich bei der
Auswertung von Gendaten. Immer wieder können wir lesen, dass beispielsweise Morde, die vor vielen Jahren geschehen sind, durch die Fortschritte in der Gentechnik
aufgeklärt werden. Das ist gut so. Deshalb sind wir auch
im Bereich der stärkeren Nutzung von Gentechnik offen
für Gespräche.
Ich will mich nicht zum Anwalt von Tätern machen.
Wer weiß, dass ich von Haus aus Oberstaatsanwalt bin,
dem ist klar, dass ich meinen Beruf verfehlt hätte, wenn
das so wäre.
({4})
Trotzdem will ich in dieser ersten Debatte ein paar Fragen
in die Diskussion stellen. Der Strafrahmen soll erweitert
werden. Einen Punkt, den Sie angesprochen haben, halte
ich tatsächlich für nachdenkenswert, Herr Montag, nämlich dass eine Geldstrafe kleinere und mittlere Kriminalität signalisiert. Wir besitzen durchaus das Instrumentarium, auch kleineren Fällen gerecht zu werden. Deshalb
finde ich es nachdenkenswert, in diesem Bereich auf
Geldstrafe zu verzichten, weil das ein falsches Signal
wäre.
Wenn wir aber den Strafrahmen erweitern, wenn wir
schärfere Strafen, so wie sie in der Bevölkerung nach
Sexualstraftaten immer gefordert werden, in das Gesetz
hineinschreiben, dann müssen wir dazu sagen, dass wir
als Gesetzgeber keinerlei Möglichkeiten haben, dafür zu
sorgen, dass diese schärferen Strafen verhängt werden.
Das ist eine Entscheidung des Richters. Wir sollten nicht
den Eindruck erwecken, dass wir für schärfere Strafen
sorgen könnten. Wofür wir sorgen und wofür wir das Bewusstsein schärfen können, ist, dass Richter diese Angelegenheit nicht als Bagatelle ansehen. Ein Beispiel dafür
habe ich gerade genannt. Herr Montag hat es ausgeführt.
Ich brauche es nicht noch einmal zu tun.
Ich habe aber das Gefühl - auch das will ich in dieser
Debatte ansprechen -, dass im Regelfall Gott sei Dank im
Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern harte
Strafen verhängt werden. Aus diesem Grunde werden wir
sorgfältig prüfen, ob wir tatsächlich zu einer Verbesserung
der Situation kommen.
Ich möchte noch einen anderen Punkt mit einem Fragezeichen versehen. Ich möchte wie die Ministerin, die
Koalition und die gesamte Opposition, dass Menschen
Straftaten früher anzeigen. Ich möchte sie dazu ermutigen, dies zu tun. Ob wir das allerdings mit einem Straftatbestand erreichen, möchte ich als fraglich ansehen. Die
Menschen sind natürlich in einer Zwickmühle. Sagen sie
zu früh etwas, wird möglicherweise der strafrechtliche
Vorwurf der falschen Verdächtigung erhoben. Auf der
anderen Seite besteht die Gefahr, dass sie etwas nicht anzeigen. Ob hier aber das Schwert des Strafrechts richtig
ist, erscheint mir fraglich.
Wir sind für die Argumente offen, die in der Diskussion
vorgebracht werden. Der bisherigen Debatte habe ich entnommen, dass wir alle den Wunsch haben, auf dem Weg,
Kinder besser zu schützen, ein Stück voranzukommen.
Wir werden dabei helfen.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Der Umgang mit Sexualität stellt jede Gesellschaft auf die
Probe. Umgang mit Sexualstraftaten ist die Zerreißprobe.
„Wegschließen, und zwar für immer“ lautet ein Zitat eines Juristen: von keinem Geringerem als dem Bundeskanzler Schröder. Eine umstrittene Äußerung - unsachlich, aber medienwirksam.
Was wollen wir eigentlich? - Wir wollen eine von Humanität und christlichen Werten geprägte Gesellschaft,
die den Straftäter menschlich behandelt. Insoweit muss
sie zwingend auch den Sexualstraftäter menschlich behandeln. Wir haben aber alle die Erfahrung machen müssen, dass gerade Sexualstraftäter immer wieder rückfällig
wurden und neue Opfer schufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Bis vorgestern tat sich gar nichts. Aber das hat sich buchstäblich
über Nacht geändert.
({0})
Der Entwurf der Koalitionsfraktionen liegt nun vor. In
einzelnen Vorschlägen finden wir von der Union uns wieder. Das gibt Hoffnung.
Die Vorgehensweise allerdings spricht nicht dafür, dass
Sie tatsächlich an einer konstruktiven Zusammenarbeit
mit der Union interessiert sind. Wie lässt es sich sonst erklären, dass der Gesetzentwurf erst dpa vorgelegt wurde?
({1})
Nahe liegend wäre es, zu vermuten, dass es Ihnen auch
hier nicht um die Sache, sondern nur um den Applaus in
der Öffentlichkeit geht. Ist vielleicht der 2. Februar der
Grund? Das ist kein guter parlamentarischer Stil, generell
nicht und schon gar nicht in diesen speziellen Fragen.
({2})
Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs in sämtlichen Formen ist uns doch allen ein gemeinsames Anliegen. Daher ist ein sachlicher Austausch im Interesse eines
breiten politischen und gesellschaftlichen Konsenses zu
empfehlen.
Der Entwurf ist in zu vielen Punkten täterorientiert und
zu wenig opferorientiert.
({3})
Warum fällt es Ihnen so schwer, die Grundtatbestände des
sexuellen Missbrauchs nach § 176 Abs. 1 und 2 StGB von
Kindern als Verbrechen einzustufen? Durch diese Strafschärfung würde zugleich erreicht, dass für diese Form
des Kindesmissbrauchs bereits die Verabredung und der
Anstiftungsversuch unter Strafe gestellt werden könnten.
Ihre Erklärungsversuche, sehr geehrter Herr Montag, können wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Der vorliegende Entwurf stellt in diesem Punkt nur einen Kompromiss dar. Auf die generelle Anhebung wurde verzichtet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der wichtigsten
Instrumente in unserem Strafrecht ist die Sicherungsverwahrung.
({4})
Warum hat die Ministerin in der Plenardebatte am 14. November 2002 erklärt, dass sie es für richtig halte, die Sicherungsverwahrung auch für Heranwachsende vorzusehen? Frau Ministerin, Sie haben doch erklärt, dass es
besonders gefährliche frühkriminelle Haupttäter gebe und
dass wir für solche Fälle eine Sicherungsverwahrung
für Heranwachsende vorsehen sollten. Was tun Sie denn
mit diesen tickenden Zeitbomben? Das wird im vorliegenden Entwurf mit keinem Wort mehr erwähnt. Wie sieht
es denn nun aus? Was ist denn Ihre Meinung dazu? Steht
die SPD nach wie vor auf dem Standpunkt, die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende sei notwendig?
Liegt es nicht nahe, dass dieser Punkt um des Koalitionsfriedens willen geopfert wurde?
({5})
Frau Ministerin, in Ihrem Interview in der „Bild am
Sonntag“ haben Sie betont, Ihnen sei es ein besonderes
Anliegen, sexuellen Missbrauch an Frauen, Kindern und
Behinderten zu bekämpfen.
({6})
Dem können wir nur zustimmen. Aber wir sollten nicht
vergessen, dass die frühere CDU/CSU-geführte Bundesregierung bereits 1998 ein umfassendes Strafrechtsänderungsgesetz verabschiedet hat.
({7})
Darin ging es uns um zwei zentrale Punkte: Der eine betraf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, der
andere die Erweiterung der Sicherungsverwahrung. Das
heißt, wir haben kontinuierlich für den Schutz der
Schwächeren in unserer Gesellschaft gearbeitet.
Was wollen Sie mit der Erweiterung der Ausnahmeregelung des § 139 Abs. 3 Satz 2 StGB wirklich schützen?
Warum reicht Ihnen ein „ernsthaftes Bemühen“, die Tat abzuwenden, aus, um von einer Anzeigepflicht abzusehen?
({8})
Warum wollen Sie einen so großen Personenkreis aus der
Verantwortung entlassen? Wollen Sie tatsächlich den Eltern eines Opfers erklären: Der Psychotherapeut hat sich
zwar bemüht, aber leider ist es dennoch zu der grauenvollen Tat gekommen? Erwarten Sie für eine solche Erklärung bitte kein Verständnis. Sie werden es nicht bekommen.
({9})
Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, inwieweit Sie dem Vertrauensverhältnis zum Täter einen
höheren Stellenwert beimessen als der Verbrechensverhütung. Das, was Sie in ihrem Gesetzentwurf vorsehen, führt
zu einer ausgesprochenen Täterorientierung. Die Opferorientierung kommt dagegen zu kurz.
Leider ist auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf
festzustellen, dass die jährlich Tausenden sexuellen Übergriffe auf Kinder und Frauen, die direkt hinter der Haustür
geschehen, nicht wahrgenommen werden. Oftmals geschehen sie im so genannten sozialen Umfeld, im Nahfeld
der Familie, im Verwandten- oder Bekanntenkreis.
({10})
Im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und
Jugendlichen kommen rund 94 Prozent der Täter aus der
Familie und ihrer Umgebung und nur 6 Prozent der Täter
sind Fremde. Auch noch heute werden diese Formen der
sexuellen Übergriffe in unserer Gesellschaft nicht wahrgenommen und tabuisiert. Diese Erkenntnis versucht die
Bundesjustizministerin jetzt umzusetzen, indem sie einen
wirksameren Schutz der Kinder dadurch erreichen
möchte, dass sich alle in der Gesellschaft verantwortlich
fühlen und kümmern. Der Altbundespräsident Roman
Herzog, der Vorsitzende der Stiftung „Bündnis für Kinder - gegen Gewalt“, hat sich in der gleichen Art und
Weise geäußert. Er sagte:
Wenn jeder mit wachem Auge auf seine Umgebung
schaute, wäre es eher möglich, solche Verbrechen zu
verhindern.
Dem stimmen wir uneingeschränkt zu.
({11})
Opferschutz vor Täterschutz, das muss besonders in
den Fällen gelten, in denen der Täter aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Kindes stammt. Das, was ich
an diesem Punkt bei Ihnen vermisse, ist, dass auf den Gedanken der Vorbeugung oder der Prävention eingegangen wird. Dabei ist gerade hier der Aspekt, Kinder stark
zu machen, von grundlegender Bedeutung. Wir sind hier
auf Ihrer Seite, Herr Kollege van Essen. Es ist wichtig,
dass sich Kinder wehren, sich offenbaren und bereits bei
den ersten Versuchen offensiv damit umgehen, also selbst
aktiv werden, um sich zu schützen. Jeder Kriminalbeamte
und Psychologe kann Ihnen bestätigen, dass es wichtig ist,
einem potenziellen Täter gegenüber Selbstbewusstsein
und Sicherheit auszustrahlen. Täter suchen keine Gegner.
Täter suchen Opfer.
({12})
Kinder müssen auch ihren nahen Angehörigen Grenzen
aufzeigen und den Mut haben, Nein zu sagen.
Wir müssen im Bereich der Erziehung sowohl die Kinder als auch die Eltern stärken. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist die Grundlage für eine erfolgreiche Prävention.
({13})
Aber diese wichtige Erkenntnis ist in Ihrem Entwurf vollständig unter den Tisch gefallen. Sie haben in der Debatte
über unseren Gesetzentwurf am 14. November einen verbesserten Opferschutz angekündigt. Ihr Gesetzentwurf
lässt aber die Belange der Opfer nach meinem Dafürhalten außer Acht.
Abschließend möchte ich feststellen: Ihr Gesetzentwurf enthält zwar einige diskussionswürdige Punkte.
Aber dem eigentlichen Ziel sind wir nur einen kleinen
Schritt näher gekommen. Fazit: Ihr Koalitionsentwurf ist
zwar umfangreich, aber nicht aufschlussreich. Mit Ihrem
Gesetzentwurf haben Sie nicht alles getan, was Sie tun
können. Handeln Sie endlich! Es ist höchste Zeit.
Danke.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat
mich in meiner tiefen Überzeugung bestätigt, dass der Gesetzgeber mehrfach und gründlich nachdenken muss, bevor er Änderungen im Strafrecht vornimmt; denn das
Strafrecht ist - daran sollten wir uns immer erinnern - die
Ultima Ratio des Staates, auf Fehlverhalten seiner Bürgerinnen und Bürger zu reagieren. Dabei gilt es, immer die
Balance zwischen den Freiheitsrechten jedes Einzelnen
und seinem berechtigten Anspruch auf persönliche Sicherheit und Unversehrtheit zu halten.
Dabei müssen wir wiederum das verfassungsrechtliche
Gebot der Verhältnismäßigkeit beachten. Ich gehe einmal davon aus, dass Sie diese Abwägung in den 16 Jahren,
in denen Sie regiert haben, immer vorgenommen haben;
denn Sie haben entsprechende Verschärfungen des Sexualstrafrechts - Stichwort Kindesmissbrauch - in dieser
Zeit nicht vorgenommen. Um es einmal ganz deutlich zu
sagen: Kindesmissbrauch gibt es nicht erst seit 1998, seitdem wir regieren.
({0})
Ich möchte auch sehr deutlich sagen - der Kollegin, die
vor mir gesprochen hat, muss ich da widersprechen -: Wir
begrüßen es sehr, dass die Bundesregierung gestern - parallel zu den strafrechtlichen Regelungen, die wir Ihnen
vorschlagen - den Aktionsplan zum besseren Schutz von
Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgelegt
hat; denn die Frau Justizministerin und die Kollegin
Schmidt werden mit diesem Aktionsplan der von Ihnen
eingeforderten Prävention voll und ganz gerecht. Ich darf
Ihnen sagen, Herr van Essen: Wir unterstützen diese gesamtgesellschaftliche Offensive zum Opferschutz, zum
besseren Schutz von Kindern, von Schutzbefohlenen und
von widerstandsunfähigen Menschen. Es handelt sich sozusagen um eine konzertierte Aktion in dem sehr sensiblen Bereich des Sexualstrafrechts.
Im Rahmen dieser konzertierten Aktion sind die Bestimmungen des Strafrechts, über die wir heute reden, nur
ein Mosaikstein von vielen. Wir bemühen uns um eine angemessene Strafandrohung und insbesondere um eine
verstärkte Kriminalprävention.
({1})
Die Überschrift des Paketes, das wir Ihnen hier vorlegen,
lautet - darin stimme ich Herrn van Essen zu -: Opferschutz.
Lassen Sie mich nun etwas zu einem Ihrer Hauptkritikpunkte sagen. Wir haben festgestellt, dass wir in vielen Bereichen Gemeinsamkeiten haben. Während Sie in
Ihrem Entwurf dem § 176 StGB dogmatisch einen Verbrechenstatbestand zugrunde gelegt haben, liegt ihm in
unserem Gesetzentwurf im Ergebnis weiterhin ein Vergehenstatbestand zugrunde. Man kann darüber sicherlich
weidlich streiten.
Was haben wir gemacht? Was schlagen wir Ihnen hier
für die weitere Diskussion und auch für die Sachverständigenanhörung vor? Wir haben die Strafrahmen bei Missbrauch heraufgesetzt. Zukünftig gibt es in Bezug auf die
von mir genannten Personengruppen keinen minder
schweren Fall des sexuellen Missbrauchs mehr. Das heißt,
Täter kommen nicht mehr mit einer Geldstrafe davon. Ich
denke, davon geht ein wichtiges Signal aus. Ihr Entwurf
enthält eine solche Regelung nicht.
({2})
- Nein, das ist nicht falsch.
Des Weiteren wird in unserem Gesetzentwurf der einfache sexuelle Missbrauch von Kindern als besonders
schwerwiegender Tatbestand bewertet. Dadurch sollen
die Handlungen derjenigen erfasst werden, die bisher die
Schwelle des Eindringens in den Körper nicht überschritten haben. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang von allgemeinem Tatbestand gesprochen. Mit
dieser Neuregelung werden die angesprochenen Fälle erfasst. Die Täter werden zukünftig mit einer Freiheitsstrafe
von - mindestens - einem Jahr bis zu 15 Jahren bestraft.
Um genau diesen Tatbestand geht es Ihnen; allerdings
wird dafür nicht die Bezeichnung Verbrechen verwendet.
Dennoch erzielen wir dieselbe Wirkung.
({3})
- Natürlich.
Unser Gesetzentwurf enthält zusätzlich den Straftatbestand des Einwirkens auf ein Kind durch Schriften, um
es zu sexuellen Handlungen zu bringen. Darüber hinaus
wird sich künftig jemand strafbar machen, der ein Kind
für einen Missbrauch anbietet, nachzuweisen verspricht
oder sich mit anderen zu einer solchen Tat verabredet. Wir
erreichen damit im Ergebnis diejenigen Fälle, um die es in
der Praxis eigentlich geht, ohne dass wir damit den Tatbestand strafrechtlich dogmatisch zum Verbrechen heraufgestuft haben.
Warum ist es sinnvoll, diesen Tatbestand nicht zum
Verbrechen zu erklären? Ich will versuchen, Ihnen auch
das darzulegen. Es ist deshalb sinnvoll, weil es gerade bei
sexuellem Missbrauch Fälle gibt - wir alle wissen, dass
die überwiegende Zahl dieser Taten im familiären Umfeld,
im nahen persönlichen Umfeld der Opfer geschehen -, in
denen es notwendig ist, dass man mit den Mitteln der
§§ 153 ff. StPO - Täter-Opfer-Ausgleich und Ähnliches - reagieren kann. Entsprechend reagieren kann man
nicht mehr, wenn ein Verbrechenstatbestand vorliegt.
Wenn Sie das uns schon nicht glauben wollen, weil für Sie
alles das, was von Rot-Grün kommt, irgendwie Teufelszeug ist, dann glauben Sie Ihren eigenen Sachverständigen. Wir haben zu Ihrem Gesetzentwurf, der ja nicht neu
ist, in der letzten Legislaturperiode, der 14., schon einmal
eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Da haben
Ihre Sachverständigen, zum Beispiel Professor Krey aus
Trier, der ja nun nicht verdächtig ist, Sozialdemokraten
sehr nahe zu stehen, genau darauf hingewiesen und gesagt: Seid vorsichtig und begebt euch nicht der Möglichkeiten von Mediation und Täter-Opfer-Ausgleich. Wenn
ihr einen Verbrechenstatbestand schafft, habt ihr sie hinterher nicht mehr. Genau das ist der Hintergrund.
({4})
- Lesen Sie das doch nach, Herr Kollege Kauder, dann
werden Sie es feststellen. Wir können es ja in der Sachverständigenanhörung diskutieren. Es verhält sich genauso, wie ich es gesagt habe.
({5})
- Doch.
Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen: Wir sagen, dass sich in Zukunft jemand, der einen sexuellen
Missbrauch, von dem er Kenntnis hat, nicht anzeigt, möglicherweise strafbar macht. Das ist übrigens ein neuer
Vorschlag von unserer Seite, der in Ihrem Entwurf nicht
enthalten ist. Sie werfen uns nun vor, wir würden von diesem möglichen Straftatbestand, den Sie gar nicht vorgesehen haben, zu viele Personen ausnehmen. Das ist ja der
Vorwurf, den Sie, Herr Götzer, heute Mittag hier erhoben
haben. Wenn Sie in unseren Entwurf hineinschauen, werden Sie feststellen, dass wir genau den Personenkreis, der
nach der Strafprozessordnung ein Zeugnisverweigerungsrecht hätte, von der möglichen Strafbarkeit ausnehmen. Das ist auch sinnvoll. Sie können doch nicht sagen:
Du machst dich zwar auf der einen Seite strafbar, wenn du
das nicht anzeigst, auf der anderen Seite hättest du aber als
Zeuge vor Gericht die Möglichkeit, das Zeugnis zu verweigern. Man muss die Zusammenhänge sehen, wenn
man das Gesetz analysiert. Ich halte auch das für eine sehr
sinnvolle Regelung und hoffe, dass wir uns darüber in der
Diskussion noch verständigen.
({6})
Dann lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Kritik an
dem Punkt DNA-Analyse sagen. Wir machen meiner
Meinung nach einen sehr sinnvollen Vorschlag, indem wir
sagen, dass alle Straftaten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen gerichtet sind, zukünftig zum
Anlass für eine DNA-Analyse genommen werden können, wenn der Richter aufgrund konkreter Tatsachen in
seiner Prognose zu dem Ergebnis kommt, dieser Täter
könne zukünftig schwere andere Straftaten begehen. Das
ist in sich schlüssig. Was Sie wollen, wäre schwierig mit
dem von mir vorhin schon genannten Gebot, dass Strafen
oder in diesem Fall Eingriffe immer auch verhältnismäßig
sein müssen, zu vereinbaren.
({7})
Nach Ihrer Konstruktion wäre der Diebstahl von Damenunterwäsche ein Grund, eine DNA-Analyse durchzuführen. Ich denke, unser Vorschlag ist sehr wohl verfassungsrechtlich ausgewogen. Ich bin gespannt, was die
Sachverständigen zu unseren Vorschlägen sagen werden.
Ich bin sehr sicher, dass wir hier auf einem guten Weg
sind.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Anmerkungen zu
Themen machen, die Sie auch heute wieder vorgetragen
haben.
Erstens. Ausweitung der Telefonüberwachung, § 100 a
Strafprozessordnung, auf Fälle des sexuellen Missbrauchs.
Zunächst ist es für mich schwer vorstellbar, wenn man
meint, auf diese Weise Verabredungen oder Ähnliches am
Telefon aufdecken zu können. Das erschließt sich mir
schon vom Praktischen her nicht so ganz; rechtlich betrachtet sage ich Ihnen, wir sollten hier sehr vorsichtig
sein. Auch Sie kennen wohl das Gutachten, das in Bielefeld zum § 100 a der Strafprozessordnung vorgelegt worden ist, also wie in der Praxis mit diesem hohen Schutzgut umgegangen wird. Wir sollten also sehr vorsichtig
sein, ehe wir da Änderungen vornehmen. Darum bleiben
wir dabei, dass wir, bevor nicht eine Gesamtschau der
Auswirkungen des § 100 a StPO vorliegt, auch mithilfe
des Gutachtens des Max-Planck-Instituts, hier keinerlei
Veränderungen vornehmen werden.
Zweitens zur Sicherungsverwahrung. Wir führen, wie
ich glaube, heute die fünfte, sechste oder siebte Debatte
zum Thema Sicherungsverwahrung. Sie bringen dieses
Thema gebetsmühlenartig immer wieder auf den Tisch.
({8})
Nochmals: Die Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung haben wir für uns endgültig mit dem Gesetz, das
wir hier im letzten Sommer beschlossen haben, abgeschlossen. Da haben wir die vorbehaltene Sicherungsverwahrung neu geregelt und ins Strafgesetzbuch aufgenommen.
({9})
Wenn Sie da mehr wollen, müssen Sie sich an die Länder
wenden, die für den Personenkreis, der von dieser Regelung nicht mehr erfasst wird, zuständig sind.
({10})
- Wieso? Was heißt „Verantwortung“? Es gibt verfassungsrechtliche Zuständigkeiten. Die Länder sind ja auch
sonst immer sehr darauf bedacht, dass wir nicht in ihre
Zuständigkeiten eingreifen. Das Problem ist nur - deshalb
sind Sie so nervös -, dass Baden-Württemberg und Bayern Gesetze verabschiedet haben, die schlecht sind und
gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht überprüft
werden. Deshalb möchten Sie Regelungen vom Bundesgesetzgeber haben.
Einen Satz noch, Frau Präsidentin.
Aber nur einen kurzen Satz, Herr Kollege Stünker.
Was die Frage der Sicherungsverwahrung von Heranwachsenden, die von den Gerichten nach allgemeinem
Strafrecht beurteilt werden, angeht, sind wir der Meinung - damit gehen wir auch in die Sachverständigenanhörung -, dass hier das von uns geschaffene Instrument
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung genau die richtige Lösung ist.
Schönen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die richtige Botschaft zu diesem Thema kam von
Siegfried Kauder ({0})
einem Sozialdemokraten, allerdings nicht von einem, der
heute unter uns sitzt, Herr Stünker. Es war Ihr Generalsekretär, der gefordert hat, der Staat solle die Lufthoheit
über Kinderbetten haben.
({1})
- Doch, meine Damen und Herren, das war die richtige
Botschaft, nur zum falschen Thema. Wir wollen keine
Lufthoheit über das Erziehungsrecht der Eltern, aber Lufthoheit über Kinderbetten, soweit es um die richtige sexuelle Entfaltung und Entwicklung sowie den Schutz von
Kindern unter 14 Jahren geht.
Wir müssen erst einmal festhalten, welche Gesetzeslage wir im Augenblick haben. Damit kommen wir zu der
juristischen Argumentation, die uns offensichtlich etwas
schwerer fällt als die politische. Wir haben § 176 StGB,
den sexuellen Missbrauch von Kindern, als Vergehen ausgestaltet und damit qualitativ nicht anders als Diebstahl
bewertet.
({2})
Ich weiß, wo das Herz der Frau Bundesjustizministerin
schlägt, denn sie gehört der gleichen Opferschutzorganisation an wie ich. Wir wissen: Sexueller Missbrauch von
Kindern ist Mord an einer kindlichen Seele und Mord ist
ein Verbrechen. Deswegen muss auch sexueller Missbrauch von Kindern ein Verbrechen werden.
({3})
- Das war ein Opfer schützendes Argument; ich werde
dazu noch etwas sagen.
({4})
- Manchmal muss man sich, wenn es um kindliche Opfer
geht, auch ereifern; vielleicht tun Sie das zu wenig.
({5})
Wir haben § 176 a StGB, in dem als selbstständiger
Qualifikationstatbestand besonders schwere Fälle mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedacht
werden.
({6})
Das ist die Gesetzeslage. Jetzt passen Sie bitte genau
auf: Was Sie nach Ihrem Entwurf machen wollen, ist
rechtstechnisch ein furchtbarer, nicht korrigierbarer
Fehler. Sie brechen aus § 176 a StGB einen Verbrechenstatbestand, die Wiederholungstat, heraus und integrieren ihn in § 176 als besonders schweren Fall. Wir haben darüber in unserer Fraktion diskutiert. Wer die
Gesetzessystematik kennt, weiß, dass dieser besonders
schwere Fall damit vom Verbrechen zum Vergehen wird.
Jeder Jurist im ersten Semester weiß, dass das so in § 12
Abs. 3 StGB steht.
({7})
- Ich werde es Ihnen noch erklären, Herr Kollege Montag.
Das hat zur Folge, dass der Wiederholungstäter gegenüber denjenigen Tätern, die gemeinschaftlich über ein
Kind herfallen, privilegiert ist. Es bleibt zwar bei der einjährigen Freiheitsstrafe, aber es ist kein Verbrechen mehr.
Wissen Sie, welche inakzeptable Konsequenz das für das
kindliche Tatopfer hat? - Die Folge ist, dass dieses Vergehen im Falle eines Wiederholungstäters beim Amtsgericht
angeklagt werden kann und dass Staatsanwälte und Richter
dieses Verfahren nach § 153 a StPO wie bei einem Kaufhausdiebstahl gegen eine Geldbuße einstellen können. Das
wollen wir nicht und das dürfen wir nicht zulassen, weil es
hier um Kinder geht, die sexuell missbraucht werden.
({8})
- Das tut ein Staatsanwalt, wenn die Beweislage schlecht
ist.
({9})
Bei einem Verbrechen kann er das Verfahren nicht nach
§ 153 a StPO einstellen.
({10})
- Hören Sie doch bitte einfach erst einmal zu! Sie waren
doch schon dran mit Ihrem Redebeitrag!
Sie wollen den minderschweren Fall abschaffen.
Nennen Sie mir bitte einen Verbrechenstatbestand im
StGB, der den minderschweren Fall nicht kennt.
({11})
Wir schlagen in unserem Entwurf keine Geldstrafe für einen minderschweren Fall vor. Wir denken nämlich nach,
bevor wir Gesetzesänderungen anregen. Wir fordern vielmehr, dass der minderschwere Fall mit mindestens drei
Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt werden
muss. Das ist der Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf.
({12})
Die Beibehaltung des minderschweren Falles ist notwendig. Damit erhält der Täter einen Anreiz, ein Geständnis abzulegen. Ein minderschwerer Fall kann nach
der Rechtsprechung nämlich schon dann angenommen
werden, wenn der Täter dem Tatopfer das Erscheinen in
der Hauptverhandlung erspart. Ein Kind muss also nicht
als Zeuge vernommen werden. Diese Möglichkeit schaffen wir, indem wir die Einstufung als minderschweren
Fall erhalten und so dem Täter einen Anreiz geben, ein
Geständnis abzulegen.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich verstehe
Sie nicht. Warum fürchten Sie wie der Teufel das Weihwasser, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu einem
Verbrechenstatbestand zu erheben?
({13})
Es gibt genügend Milderungsgründe. Einen wichtigen haben Sie übersehen, Herr Kollege. Den Täter-Opfer-Ausgleich gibt es auch bei Verbrechen. Das ist unsere Philosophie: Ein Täter, der sich an einem Kind vergangen hat,
muss laufen; er muss sich bemühen und Punkte sammeln.
Er soll ein Geständnis ablegen
({14})
und sich um den Täter-Opfer-Ausgleich kümmern. Dann
gibt es Milderungsgründe, die ihm die Chance eröffnen,
dass seine Strafe unter der Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die nach Ihrem Entwurf verhängt werden muss,
liegt. In einem minderschweren Fall kann der Täter mit
Täter-Opfer-Ausgleich und beim Vorliegen einer besonderen Fallkonstellation sogar mit einer Freiheitsstrafe von
unter drei Monaten davonkommen.
Ich verstehe Sie auch in einem anderen Punkt nicht;
auch da scheuen Sie eine Gesetzesänderung wie der
Teufel das Weihwasser. Was spricht eigentlich gegen die
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung?
({15})
Was spricht dagegen, die Sicherungsverwahrung auf Heranwachsende anzuwenden, wenn sie nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden?
({16})
Wir haben schon jetzt einen Anknüpfungspunkt. Bei der
Frage der Sicherungsverwahrung darf nämlich auch eine
verhängte Jugendstrafe berücksichtigt werden. Gehen wir
also den nächsten Schritt und sagen, dass die Sicherungsverwahrung gegen Heranwachsende bei Anwendung des
Erwachsenenstrafrechts zulässig ist.
Ich gebe der Frau Bundesjustizministerin Recht: Es
sind nur ganz wenige Fälle, die dafür in Betracht kommen,
weil ein Heranwachsender im Alter von 18 bis 21 Jahren
kaum die Gelegenheit zu einer kriminellen Karriere hatte,
die notwendig ist, um eine Sicherungsverwahrung zu verhängen. Prüfen Sie einmal die in der Presse hochgekommenen spektakulären Fälle, in denen Kinder nach sexuellem Missbrauch zu Tode gekommen sind. In drei von fünf
dieser Fälle wäre die Straftat nicht geschehen, wenn die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende möglich gewesen wäre. Sie sind also auf dem falschen Weg.
({17})
Wir wägen in unserem Gesetzesvorschlag sehr detailliert Täterrechte und Opferrechte gegeneinander ab. Die
Opfersicht geht bei Ihrem Gesetzentwurf völlig verloren.
Wir wünschen, dass der Grundtatbestand des § 176 StGB
als Verbrechen ausgelegt wird.
Aus Opfersicht gibt es dafür einen weiteren wichtigen
Grund. Die Staatsanwälte neigen dazu, sexuellen Missbrauch von Kindern beim Amtsgericht anzuklagen, was
zulässig ist. § 24 des Gerichtsverfassungsgesetzes gibt
aber die Möglichkeit - das sollte bei Verbrechen mit
sexuellem Hintergrund ohnehin die Regel werden -, in
erster Instanz beim Landgericht anzuklagen. Über dem
Landgericht gibt es keine weitere Tatsacheninstanz. Man
vermeidet damit eine sekundäre Viktimisierung des Tatopfers, indem man ihm eine weitere Vernehmung erspart.
Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, es
gebe jetzt schon die Videografie. Frau Justizministerin,
ich möchte Sie in diesem Punkt um Mithilfe bitten. Wir
wissen aus unserer praktischen Erfahrung, dass die
Richter die Videografie nicht so anwenden, wie wir uns
das als Gesetzgeber gewünscht haben.
({18})
Ich freue mich, dass diese Diskussion angefangen
wurde. Ich freue mich auch auf eine konstruktive Zusammenarbeit. Aber erlauben Sie mir bitte, dass ich rechtstechnische Fehler in Ihrem Gesetzentwurf aufgreife und
Ihnen sage: Wenn Sie den ersten Schritt tun, müssen Sie
im Interesse von Tatopfern auch den zweiten Schritt tun.
Sexueller Missbrauch ist Mord an der Seele von kleinen
Kindern. Unsere Kinder müssen es uns wert sein, darüber
im Rechtsausschuss sachlich zu diskutieren.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
({19})
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Haus im Namen des ganzen
Hauses gratulieren.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/350 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({1}), Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Transrapid-Projekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen
- Drucksache 15/300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Siegfried Kauder ({3})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Hocherfreut habe ich die Äußerung von Minister Stolpe
im NDR-Info-Radio vernommen, die Transrapidstrecke
Hamburg-Berlin sei auch seine Traumstrecke, er halte
den Bau einer Transrapidstrecke zwischen Hamburg und
Berlin weiterhin für denkbar. Wann hat es das seit
Matthias Wissmann schon gegeben, dass ich in dieser
Frage mit dem Verkehrsminister einer Meinung bin?
({0})
Nach vier Jahren Rot-Grün und vier Verkehrsminister
später endlich einmal wieder eine vernünftige Aussage
zum Transrapid zwischen Haupt- und Hansestadt.
({1})
Dabei sagte noch am 10. August 2002 die Parlamentarische Staatssekretärin Mertens in der „taz Hamburg“, der
Transrapid sei auf der Strecke Berlin-Hamburg verkehrspolitisch nicht zu begründen und zu teuer. Es besteht also
ein tief greifender Meinungskonflikt in der Spitze des zuständigen Ministeriums.
({2})
Ich vertraue nun aber auf das Ministerwort und fordere
ein, dass den Liebesschwüren seit der Jungfernfahrt in
Schanghai nun endlich auch Taten in der Bundesrepublik
Deutschland selbst folgen.
({3})
Die negative Entscheidung zum Bau der Transrapidverbindung Hamburg-Berlin am 5. Februar 2000 war
falsch. Der Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutschland hat großen Schaden genommen. Dass Bahnvorstand
Mehdorn mit Billigung der Bundesregierung durch Rücknahme sämtlicher Anträge auf Planfeststellung 350 Millionen DM Planungsaufwand von Industrie und Bund
quasi in den Ascheimer geworfen hat,
({4})
statt für zehn Jahre die Baurechte zu sichern, ist eigentlich
eines eigenen parlamentarischen Untersuchungsausschusses würdig.
({5})
Nach knapp 1,3 Milliarden Euro Entwicklungskosten
von Bund und Industrie in Deutschland und nochmals rund
100 Millionen Euro Entwicklungshilfe an China existiert
bislang nur eine Anwendungsstrecke im Ausland. Hätte
die rot-grüne Bundesregierung nicht die Referenzstrecke
Hamburg-Berlin bösartig zerstört, hätten Bundeskanzler
Schröder und Verkehrsminister Stolpe die Anwendung
dieses deutschen Hightechproduktes nicht im fernen
China bewundern müssen; sie hätten stattdessen nur einmal zum Lehrter Bahnhof hinüberlaufen müssen.
({6})
Anscheinend hat aber wenigstens die Eröffnungsfahrt
in China die Bundesregierung von diesem deutschen Spitzenprodukt überzeugt. Ich zitiere aus der Neujahrsansprache von
Am heutigen Silverstertag haben wir in Schanghai
den Transrapid eingeweiht - eine bei uns in Deutschland entwickelte Zukunftstechnologie, die eine vorzügliche Lösung der Mobilitätsprobleme bietet.
Auch das zeigt deutlich: Wir in Deutschland haben
alles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihn
aber auch tatsächlich wollen. Niemand darf blockieren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglichkeiten vorangehen, damit das Ganze vorankommt.
So Schröder.
({0})
Hamburg-Berlin ist unverändert das einzige durchgeplante und bewertete Fernverkehrsprojekt des Transrapid.
Hamburg-Berlin könnte auch die Kernstrecke anderer öffentlich diskutierter Verbindungen, zum Beispiel eines
Eurorapid, sein.
({1})
Ich denke auch an Strecken wie Hamburg-GroningenAmsterdam, Hamburg-Kopenhagen-Stockholm oder an
ostgängige Strecken von Berlin aus nach Warschau oder
über Dresden, Prag und Wien nach Budapest.
({2})
Die Strecke bietet die einmalige Attraktivität, zwischen
den Ballungsräumen Hamburg und Berlin einen Nahverkehrstakt mit halbierter Fahrzeit einzurichten. Herr Kollege
Königshofen, wie unterscheidet sich ein solches Projekt
von dem Metrorapid, bei dem diese Technologie bei einer
durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern - also knapp oberhalb der einer Postkutsche zur Anwendung gebracht wird? Das ist doch lächerlich.
({3})
Dieses Projekt würde auch die Option einer späteren
Anbindung des Berliner Zentralflughafens Schönefeld
beinhalten und Entwicklungsperspektiven und Chancen
für neue hochwertige Arbeitsplätze, davon allein 400 im
Betriebswerk Perleberg in Brandenburg, bieten. Bau und
Betrieb des Transrapids hätten zudem direkte Beschäftigungswirkungen. Der Transrapid hätte auf der Strecke einen Konkurrenzvorsprung gegenüber der Rad-Schiene1736
Technik, dem Auto und Luftverkehr und würde eine echte
Alternative zu Kurzstreckenflügen darstellen. Nur die
Langstreckenverbindung Hamburg-Berlin von 292 km
kann die Systemvorteile dieser Highspeed-Technologie
voll zur Geltung bringen. Außerdem gäbe es wenigstens
auf dieser Strecke keinen Parallelverkehr, wie er derzeit
auf anderen Strecken geplant ist.
({4})
Mit dem Transrapid wären zudem eine geringere Lärmemission und eine vermehrte Energieeinsparung verbunden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nicht
nur Minister Stolpe, sondern auch Ministerpräsident
Ringstorff hat mittlerweile seine Liebe zur Strecke Hamburg-Berlin entdeckt;
({5})
denn nur so würde seine Hauptstadt, die derzeit völlig abgekoppelt ist, an den Highspeed-Personenverkehr angebunden werden.
In seiner Rede im mecklenburg-vorpommerischen Landtag am 24. April 2002 hat Ministerpräsident Ringstorff
ausgeführt:
Der Transrapid ist eine faszinierende Technik. Die
Idee, die Strecke Hamburg-Berlin im Rahmen eines
europäischen Transrapidnetzes zu realisieren, finde
ich höchst interessant.
({6})
Wir in Mecklenburg-Vorpommern haben unsere
Hausaufgaben gemacht - das Planfeststellungsverfahren ist abgeschlossen. Von mir aus könnte morgen
der erste Spatenstich erfolgen ...
({7})
Das sind wahrlich späte Einsichten.
Mehdorn stellte am 3. Februar 2000 - zwei Tage, bevor das Projekt zerstört wurde - im „Stern“ fest:
({8})
Innerhalb von eineinhalb Jahren können wir die
Fahrzeit von zweieinhalb auf gut eineinhalb Stunden
verkürzen. Der Ausbau würde 350 Millionen DM
kosten.
Demnach müsste dieser Zustand bereits seit Mitte 2001
herrschen. Insofern gilt für alle drei Behauptungen: Wortbruch, Wortbruch, Wortbruch! Das ist skandalös, weil das
Projekt durch Dumpingzusagen kaputtgemacht worden
ist, die später nicht eingelöst worden sind.
Am 26. Januar 2000 stellte Mehdorn im Verkehrsausschuss fest:
Ich will diese Technologie in meinem System nicht
haben.
Damit hat er doch die Maske vollständig fallen gelassen.
Auf der ICE-Ausbaustrecke Hamburg-Berlin ist bisher
wenig geschehen. Nun soll bis 2004 eine Ausbaustrecke
mit einer Fahrzeit von 90 Minuten bei Tempo 230 km/h
durch geschlossene Ortschaften befahren werden. Ich
gehe davon aus - das ist überprüfbar -, dass diese Zusagen erneut gebrochen werden. Das ist die Realität.
Man kann aber die Leute nicht für dumm verkaufen.
Für die Strecke Hamburg-Berlin wurden 6,1 Milliarden DM gewährt und kein Pfennig mehr. Die Preisgleitklausel im Konzept wurde von Rot-Grün gestrichen. Die
Qualitätsverbesserung durch eine Aufständerung aus
Stahl anstelle von Beton sollte nach den Erfahrungen auf
der Teststrecke im Emsland ebenso wie die in dem Projekt
unterstellte Inflationsrate zurückverdient werden. Dagegen eilen Bund und Industrie beim Metrorapid nach Bekanntwerden einer Finanzierungslücke wie selbstverständlich mit weiteren Fördermitteln in Höhe von
250 Millionen Euro bzw. 200 Millionen Euro der Industrie herbei. Dort wird völlig anders gehandelt. Dort wird
zugelegt, während für das andere Projekt kein Pfennig
mehr gewährt wird.
({9})
Hartherziger und bösartiger als in diesem Fall kann ein
Projekt nicht kaputtgemacht werden.
({10})
Lassen Sie mich kurz Vergleiche mit dem RadSchiene-Projekt Köln-Rhein/Main anstellen. Schätzkosten für die politische Entscheidung: 1991 3,4 Milliarden DM, Vergabepreis 1995 7,8 Milliarden DM,
Abrechnungspreis beträgt 11,8 Milliarden DM. RadSchiene-Technik Hannover-Fulda-Würzburg: geplante
Gesamtkosten 1973 4,2 Milliarden DM, Abrechnungspreis 11,2 Milliarden DM.
({11})
Kilometerkosten: Transrapid Hamburg-Berlin
20,9 Millionen DM pro Kilometer, Metrorapid 79 Millionen DM pro Kilometer, Transrapid München 85 Millionen DM pro Kilometer. Rad-Schiene-Technik KölnRhein/Main: Schätzkosten kilometerbezogen 19,2 Millionen DM, Vergabepreis 43,8 Millionen DM pro Kilometer, Abrechnungspreis 66,5 Millionen DM pro Kilometer.
({12})
Ich könnte nun noch die Zahlen für die Strecke Hannover-Fulda-Würzburg anführen; dort ist es genauso.
Das heißt also: Es wird zwar überall gebaut, aber
Mehrkosten haben nie eine Rolle gespielt.
({13})
Ausgerechnet beim Erstlingsanwendungsfall Transrapid
sollte, was es noch nie in der Vergangenheit gegeben hat,
exakt zum Schätzkostenpreis abgerechnet werden. Das ist
ein Skandal.
({14})
Dirk Fischer ({15})
Dirk Fischer ({16})
Ich komme zum Ende.
({17})
Das Transrapidprojekt Berlin-Hamburg ist nicht nur das
einzige, sondern verglichen mit anderen unverändert das
verkehrlich und betriebswirtschaftlich beste Fernverkehrsprojekt, das es überhaupt gibt. Es besteht eine volle
Entscheidungsoption. Deswegen sollte heute im Rahmen
der Abstimmung über unseren Antrag der Lackmustest im
Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Worte von Schröder
und Stolpe stattfinden, darüber also, ob sie bereit sind,
ihre Ankündigungen umzusetzen.
({18})
Stolpe im „Focus“ am 30. Dezember 2002:
Das hat ausgereicht, zum Transrapidfan für Berlin-Hamburg zu werden. Ich wollte die Strecke
bauen. Denn wir hatten in rasanter Zeit alle Verfahren bis zur Baureife durchgezogen.
Es muss also Wort gehalten werden; sonst ist das ein
neuer Fall nach dem Motto: Versprochen und dann wieder
gebrochen! Ich kann Minister Stolpe nur auffordern: Erfüllen Sie sich Ihren Traum! Ich fordere die Koalitionsfraktionen auf:
Herr Kollege, Sie sind jetzt zwei Minuten über der Zeit.
- Helfen Sie mit, dass Stolpes Träume und Schröders
Wünsche erfüllt werden!
Herr Kollege!
Lassen Sie uns das Projekt wieder aufgreifen! Stimmen
Sie für unseren Antrag!
({0})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über
30 Jahren fördern die verschiedenen Bundesregierungen
die Entwicklung und Erprobung der Magnetschwebetechnik, und zwar ideell und finanziell. Die staatliche Unterstützung beginnt im Jahre 1969 mit der Studie über ein
Hochleistungsschnellverkehrssystem, die so genannte
HSB-Studie, die vom damaligen Verkehrsminister Georg
Leber initiiert wurde.
({0})
Zur Internationalen Verkehrsausstellung im Jahre 1979
in Hamburg fährt die weltweit erste für den Personenverkehr zugelassene Magnetschwebebahn auf einer Strecke
von 900 Metern. 1981 wird eine Versuchs- und Planungsgesellschaft für Magnetschwebebahnsysteme gegründet.
Die Gesellschafter sind die Deutsche Bundesbahn und die
Deutsche Lufthansa.
Von 1984 bis 1987 wird die Transrapidversuchsanlage
im Emsland gebaut. 1989 gibt die damalige Bundesregierung grünes Licht für die Strecke zwischen den Flughäfen
Düsseldorf und Köln/Bonn, die bekanntlich nicht realisiert wurde. 1994 beschließt die damalige Bundesregierung die Realisierung der Strecke Hamburg-Berlin und
im Februar 2000 stellen der Bund, die DB AG und die Industrie, damals Daimler-Chrysler mit Adtranz, Siemens
und Thyssen, gemeinsam, Herr Fischer, fest, die Strecke
nicht zu realisieren.
({1})
- Ich würde Ihnen anraten: Lesen Sie einfach einmal
meine Pressemitteilung dazu nach! Sie sammeln ja solche
Pressemitteilungen.
Das führt zu drei weiteren Beschlüssen. Aus den veranschlagten Haushaltsmitteln für das Transrapidprojekt
werden 1 Milliarde DM für den Ausbau der schnellen
Schienenverbindung Hamburg-Büchen-Berlin reserviert. Die zweite Verabredung lautet: Mit der DB AG und
der Industrie werden Vereinbarungen für den Weiterbetrieb der Versuchsanlage Lathen getroffen. Es wird weiter
die Vereinbarung getroffen, zügig eine neue Anwendungsstrecke zu finden und im Rahmen eines Technologiesicherungsprogramms Ressourcen vorzuhalten. Diese
dritte Entscheidung lautet, im Zusammenhang mit den
Ländern neue Anwendungsstrecken zu finden. Das Ergebnis kennen Sie: die Transrapidstrecke München-München/Flughafen und der Metrorapid.
Ich denke, dass dieser kurze Rückblick zeigt, dass die
Union die Diskussion nicht redlich führt. Nämlich egal ob
sozialdemokratisch oder unionsgeführte Regierungen, sie
alle haben sich bemüht, dieses Projekt in Deutschland auf
die Spur zu bringen. Zumindest ist es uns gelungen, es
schon einmal in China zu realisieren.
Ich werfe Ihnen übrigens keine Technikfeindlichkeit
vor, obwohl Sie es in 16 Jahren nicht geschafft haben,
diese oder irgendeine andere Anwendungsstrecke Realität
werden zu lassen. Der Wunsch allein reicht eben nicht; er
genügt bei keinem Verkehrsprojekt.
Sie hätten das Eckpunktepapier für die Strecke Hamburg-Berlin vor der Wahl 1998 zu einer Finanzierungsvereinbarung machen können. Sie haben es nicht getan.
Sie haben auch keinen der sonst üblichen und beliebten
Spatenstiche gemacht. Dafür muss ich Sie fast loben,
denn Sie haben damit wirklich sehr verantwortungsvoll
gehandelt. Sie verschweigen nämlich, dass in diesem
Eckpunktepapier einige Sachverhalte stehen, die Sie jetzt
nicht mehr wahrhaben wollen. Die dort vorgesehene Risikoaufteilung war abenteuerlich. Wir haben damals versucht, das Projekt zu retten und sind Klinken putzen gegangen. Ich war damals verkehrspolitische Sprecherin der
Fraktion. Mir ist besonders die Hamburger Handelskammer im Gedächtnis geblieben. Mit so viel heißer Luft hätte
ich mir auch die Haare föhnen können.
({2})
Ich finde das umso bedauerlicher, als es gerade in Hamburg eine Menge Vorzeigeunternehmer gibt.
Um die Jahreswende flammte dann mit den üblichen
Verdächtigen das Thema Transrapid Hamburg-Berlin
wieder auf. Der erste Höhepunkt war ein Interview mit
dem verkehrspolitischen Sprecher Dirk Fischer, der gleichzeitig Landesvorsitzender der CDU Hamburg ist. Er behauptete in diesem Interview zum Beispiel, der Unterhalt
für die Schienenwege werde aus dem Staatshaushalt bezahlt.
({3})
- Große Frage: Wofür erhebt dann die DB AG Trassenpreise? Es ist auch egal.
Das Interview hat den Bürgermeister jedenfalls unter
Druck gesetzt.
({4})
Es gab dann im Senat eine große Debatte darüber und
einen Beschluss. Ich zitiere das „Hamburger Abendblatt“
vom 8. Januar, das unter der Überschrift „Transrapid Beust gibt nicht auf“ schreibt:
Bürgermeister Ole von Beust ({5}), CDU, will einen
Brief an das Transrapidkonsortium schreiben. Darin
erfragt er die Bedingungen, zu denen die bereits verworfene Strecke Hamburg-Berlin doch noch gebaut
werden könnte.
Ich hatte eine Nachmeldung zum Bundesverkehrswegeplan erwartet, aber der Berg kreißte nur. Es geht aber
insofern noch weiter, als es einen Bericht über eine Fahrt
des Bürgermeisters mit dem ICE 3 von Hamburg nach
Berlin gibt - ich zitiere -:
Wenn die Fahrzeit der Eisenbahn von Hamburg nach
Berlin wesentlich verkürzt wird, dann hat die Transrapidverbindung zwischen den beiden größten Städten Deutschlands für den Hamburger Senat nicht
mehr Priorität.
({6})
- Was denn nun, Herr Fischer? Mit welcher Seriosität Sie
dieses Thema behandeln, haben Sie vorhin schon vorgeführt. Ich habe es gar nicht für möglich gehalten, dass Sie
das, was Sie im Interview gesagt haben und was ich mir
noch einmal herausgesucht habe, auch noch wiederholen
würden.
({7})
Ich rufe es noch einmal ins Gedächtnis. Sie haben gesagt: Im gleichen Moment bauen wir die Strecke
Köln-Rhein/Main; bei der Grundsatzentscheidung habe
der Schätzpreise 3,35 Milliarden DM betragen, der Vergabepreis habe 7,71 Milliarden DM betragen und abgerechnet würden jetzt über 10 Milliarden DM. Deswegen
sagen Sie: Hätte man den Transrapid gleich behandelt,
hätte die Strecke über 18 Milliarden DM kosten können.
Das wäre Gleichbehandlung gewesen.
Genau das ist Ihr Problem. Die Verbindung
Köln-Rhein/Main ist übrigens nicht unser, sondern Ihr
Projekt. Das war Ihre Verantwortung. Wir haben damals
nicht regiert.
({8})
Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Beim Umgang mit Steuergeldern gehen Sie nach dem Motto vor:
Darf es vielleicht ein bisschen mehr sein? Wir haben deutlich gesagt, Hamburg-Berlin werde sich nicht wiederholen. Es muss für beide jetzt anstehenden Projekte klare
Konditionierungen geben. Die Projekte werden Schritt für
Schritt abgearbeitet. Der erste Stichtag ist der 4. Februar
dieses Jahres, wenn NRW sein Finanzierungskonzept vorlegt.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe heute zum ersten Mal etwas
Probleme - das gebe ich zu -, einen Antrag, der federführend von meinem Freund Dirk Fischer formuliert worden ist, inhaltlich ausführlich zu behandeln. Man kann mit
heißem Herzen darangehen und sagen: Augen zu und
durch, volle Unterstützung.
Niemand kann der FDP und insbesondere mir vorwerfen, dieses Projekt nicht in allen Phasen der Planung unterstützt zu haben.
({0})
Man kann aber auch mit kühlem Kopf darangehen statt
mit heißer Luft, wie von Frau Staatssekretärin angeboten.
Dazu kann ich übrigens nur sagen: Was der Minister im
Zusammenhang mit dem Metrorapid derzeit an heißer
Horst Friedrich ({1})
Luft produziert, reicht mindestens aus, um sich die Haare
zu föhnen.
({2})
Bei Abwägung aller Fakten muss man realistischerweise aber einmal zur Kenntnis nehmen, wie der Sachstand ist. Der Sachstand ist: 19 von 20 Planfeststellungsabschnitten für den Transrapid Hamburg-Berlin sind
abgeschlossen. Die Planfeststellung ist aufgehoben. Das
Magnetschwebebahnbedarfsgesetz ist aufgehoben.
In die Bahnstrecke Hamburg-Berlin, das VDE-Projekt 2, sind seit 1991 1 935 Millionen Euro verbaut worden, also auch ein bisschen mehr, als bei den Anhörungen
zum Transrapid damals genannt worden ist. Das war notwendig, damit dort mit einer Geschwindigkeit von
230 Stundenkilometern gefahren werden kann. Nun sind
weitere knapp 700 Millionen Euro nötig, damit dort
tatsächlich 230 Stundenkilometer gefahren werden können. Die Finanzierungsvereinbarung geht bis ins Jahr 2004.
Dann werden wir 2,6 bis 2,7 Milliarden Euro in die Eisenbahn investiert haben und wird - hoffentlich - mit einer
Geschwindigkeit von 230 Stundenkilometern gefahren
werden können. Angesichts dessen ist zu fragen: Ist danach - die Realisierung wird sicherlich später sein - der
Transrapid noch zu finanzieren?
Vor dem Hintergrund hätte ich mir gewünscht, dass wir
als Opposition Herrn Stolpe einmal festnageln, was seine
Aussagen zu den beiden von der jetzigen Mehrheit ins
Auge gefassten Transrapidprojekten angeht. Was sich täglich aus dem Blätterwald, aus Agenturmeldungen zu Aussagen des Verkehrsministers, zu Dementis, zu widersprüchlichen Aussagen der Landesregierung NRW über
die staunende Öffentlichkeit ergießt, ist fast schon Legion.
({3})
Offensichtlich wird von Ihnen, liebe Kollegen von RotGrün, genau das vollzogen, was Sie uns bei der Strecke
Hamburg-Berlin immer vorgeworfen haben. Offensichtlich gilt das Prinzip: Augen zu und durch! Auf Teufel
komm raus, egal welche Unterlagen vorliegen, dieses
Projekt soll offensichtlich gepuscht werden. Gleichzeitig
erklärt der Verkehrsminister immer wieder, dass die Zahlen natürlich belastbar sein müssen. Nur, was belastbar ist,
definiert offensichtlich er.
Wenn man alles zusammen nimmt, ist eines sicher: Das
Land NRW wird, wenn es denn auch nur eine Chance haben will, den Metrorapid zu realisieren, zumindest eine
Bürgschaftsverpflichtung in Höhe von 600 bis 700 Millionen Euro eingehen müssen. Ohne das wird sich das Projekt - da können Sie rechnen, was Sie wollen - nicht realisieren lassen. Dazu aber gibt es Landtagsbeschlüsse in
NRW, die ganz anders aussehen. Der grüne Koalitionspartner hat es ja schon abgelehnt, dass das Land auch nur
bürgschaftsmäßig eine Verpflichtung übernimmt.
({4})
Ich wünsche viel Vergnügen bei den Diskussionen.
Ich halte das übrigens insgesamt für eine unseriöse
Diskussion. Sie führen wieder eine Diskussion, bei der
niemand weiß, wohin Sie eigentlich wollen. Ich sage Ihnen hier: Nach wie vor wollen Sie die Technik eigentlich
nicht.
({5})
Was Sie bisher betreiben, ist, um Herrn Gabriel zu
zitieren, tatsächlich Voodoo-Mathematik. Sie sagen:
2,3 Milliarden Euro stehen im Bundeshaushalt zur Verfügung, irgendwann ab dem Jahr 2006. Sie versprechen
Nordrhein-Westfalen mehr. Sie versprechen aber auch,
dass das nicht zulasten des Projekts in Bayern geht. Ich
kann der Antwort der Bundesregierung vom 24. Januar
entnehmen: Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
2,3 Milliarden Euro sind in folgenden Fälligkeiten zu zahlen: im Haushaltsjahr 2004 200 Millionen Euro, im Haushaltsjahr 2005 300 Millionen Euro, im Haushaltsjahr
2006 400 Millionen Euro. Das sind zusammen, wenn ich
richtig rechne, 900 Millionen Euro. Im Jahr 2006 aber soll
nach Aussagen der Landesregierung NRW der Metrorapid
bereits fahren, weil dann die Fußballweltmeisterschaft
dort stattfindet. Wie das funktionieren soll, nachdem Sie
noch nicht einmal mit der Planfeststellung begonnen haben, müssen Sie der schlauen Öffentlichkeit erklären.
Nein, liebe Freunde, wenn wir tatsächlich lernen wollen, dann müssen wir uns ein Beispiel an China nehmen:
Die haben es in zwei Jahren nicht nur geschafft, den
Transrapid zu planen, sie haben ihn auch noch gebaut und
inzwischen in Betrieb genommen.
({6})
Wir diskutieren in zwei Jahren - das sage ich Ihnen voraus - immer noch, ob eine Finanzierung des Metrorapid
seriös dargestellt werden kann oder nicht. Das ist unser eigentliches Problem in Deutschland. Daran sollten wir arbeiten.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Fischer, man sollte nicht versuchen, verlorene Schlachten von gestern noch einmal schlagen und im
Nachhinein gewinnen zu wollen. Sie kommen mit Ihrem Antrag und mit Ihrem Redebeitrag heute drei bis
vier Jahre zu spät.
({0})
Der Transrapid Hamburg-Berlin ist aus heutiger Sicht
eine Geisterbahn. Die Debatte darüber ist eine Geisterdebatte. An Geisterdebatten beteilige ich mich nicht.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fischer?
Ich habe noch gar nichts gesagt, insofern kann er noch
gar nichts Vernünftiges fragen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den zig Debatten, die wir zum Thema Hamburg-Berlin schon hatten
und die wir nicht um eine weitere Debatte verlängern sollten, will ich zu dem Thema reden - ({1})
- Sie lassen mich ja nicht reden.
({2})
- Herr Stolpe hat gesagt, das sei seine Traumstrecke.
Träumen darf man ja, aber hier im Plenum des Deutschen
Bundestages wollen wir hart und vernünftig miteinander
rechnen und entscheiden.
({3})
Jetzt aber zur Sache. Um was geht es? Lassen Sie mich
hier realistisch von den möglichen Anwendungsperspektiven dieser Technologie in Deutschland reden, die
hier und heute zur Diskussion stehen. Kollege Horst
Friedrich hat mit Recht angemahnt, dass man von einer
cleveren Opposition eigentlich einen ganz anderen Antrag
hätte erwarten müssen; das ist aber Ihr Problem.
Ich möchte Ihnen sagen, dass wir sehr bewusst nicht
das Verfahren „Augen zu und durch“ gewählt haben und
wählen werden.
({4})
Vielmehr haben wir bereits im Februar letzten Jahres
die prinzipielle Zusage gemacht - wir haben sie im Koalitionsvertrag zu Beginn dieser Legislaturperiode erneuert -, dass der Bund bereit ist, an der Anwendung dieser
Technologie in Deutschland mitzuwirken und sie mit bis
zu 2,3 Milliarden Euro an Bundeszuschüssen zu unterstützen.
({5})
Wir alle sollten uns hier aber, liebe Frau Kollegin
Blank, einig sein, dass wir bei Finanzierungszusagen
in einer solchen Größenordnung selbstverständlich bestimmte Grundlagen brauchen, das heißt, dass wir solide
Bedingungen definieren müssen.
({6})
Diese Bedingungen sind ein - was die Investitionen anbetrifft - belastbares Finanzierungskonzept und darauf aufsetzend Wirtschaftlichkeitsberechnungen - die im Laufe
der Planungen fortzuschreiben sind -, die auch zeigen,
dass nachher im Betrieb, nachdem eine solche Technologie in Deutschland irgendwo zur Anwendung gekommen
ist, nicht dauernd rote Zahlen eingefahren bzw. weitere
Subventionen des Steuerzahlers verlangt werden. Über
diese beiden Grundlagen sollten wir uns im ganzen Hause
einig sein. Alles andere würde in der Tat bedeuten, dass
man nach dem Motto „Augen zu und durch“ handelt. Das
wäre dann unseriös.
Im Vorfeld des für den 4. Februar angekündigten Finanzierungskonzeptes aus Nordrhein-Westfalen hatte ich nun
erwartet, dass seitens der Industrie ein klares Signal kommt,
dass man mit dem Wort von der Public Private Partnership,
also der Partnerschaft zwischen öffentlichen Investoren und
privaten Investoren, Ernst macht und wirklich einen substanziellen Beitrag einbringt. Das, was bisher zu hören und
zu lesen ist, dass es zweimal 100 Millionen Euro als Darlehen - rückzahlbar - seitens der Industrie geben soll oder geben könnte, ist enttäuschend. Im Klartext: Die Enttäuschung all derjenigen, die erwartet hatten, die privaten
Investoren würden jetzt Schlange stehen, um an dieser,
Herr Kollege Fischer, so erfolgreichen Technologie und
auch nachher an der Rendite beteiligt zu sein, ist groß. Wir
stellen stattdessen fest, dass die Wirtschaft, die Industrie
nicht mit Risikobereitschaft zur Sache geht, sondern das
Risiko auf die Steuerzahler abwälzt. Erhoffte Gewinne hingegen sollen privatisiert werden.
({7})
- Lieber Herr Kollege Fischer, das ist nicht Public Private
Partnership, sondern eine falsche Akzentsetzung. Das ist
unseres Erachtens keine gute Grundlage für ein solches
Konzept.
({8})
- Herr Kollege Fischer, regen Sie sich doch ab! Im
Grunde genommen äußere ich doch die gleiche Kritik wie
Ihre Freunde in Nordrhein-Westfalen.
Ich will darauf aufmerksam machen, dass der Bund
bereit ist, über die 2,3 Milliarden Euro hinaus nochmals
338 Millionen Euro in die so genannten Sowieso-Maßnahmen, die Infrastrukturmaßnahmen nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz, zu investieren. Wenn dennoch ein Kreditbedarf in Höhe von knapp 700 Millionen
Euro übrig bleibt, müssen schon ein paar Fragen offen und
ehrlich beantwortet werden.
Die erste Frage lautet: Wer ist eigentlich der Kreditnehmer dieser 679 Millionen Euro? Denn der Kreditnehmer ist
Albert Schmidt ({9})
nachher Rückzahlungspflichtiger und Zinsschuldner. Wer
ist das eigentlich? Das Land? Wieder der Bund? Oder ist die
Industrie vielleicht bereit, als Kreditnehmer und damit als
Risikoträger einzusteigen? Diese schlichte Frage sehe ich
bis heute nicht beantwortet. Soll diese Rückzahlungspflicht
etwa auf den möglichen Betreiber, die Deutsche Bahn AG,
verlagert werden, was bedeuten würde, dass Mindererlöse
zu einer entsprechenden Zins- und Tilgungslast gegenüber
den Investitionsvorleistungen geltend gemacht werden können? All diese Fragen werden wir in Ruhe prüfen.
Genauso müssen wir prüfen, ob sich die erneute Verkürzung der Züge von einstmals sechs Sektionen pro
Zug in der Vorstudie 2000 auf jetzt nur noch drei Sektionen pro Zug,
({10})
die für die Fahrgäste mehr Stehplätze bedeutet, auf den
Komfort, auf die Nachfrage und damit die Erlössituation
auswirkt. Diese Frage muss man rational diskutieren. Das
werden wir tun. Wir werden uns das in aller Ruhe anschauen.
({11})
Dann werden alle an dem Projekt Beteiligten eine sehr
verantwortliche Entscheidung zu treffen haben.
Lassen Sie uns die Planungen vertiefen, um eine Entscheidungsgrundlage mit präzisen Daten und realitätsnahen
Kosten- und Risikoabschätzungen herzustellen! Lassen Sie
uns dafür Sorge tragen, dass der Bund bei den Planungsmitteln mithilft, damit wir gemeinsam entscheiden können, ob
das entstehende Projekt wirklich tragfähig ist! Lassen Sie
uns auch darauf achten, dass es im Verlauf der weiteren Planungen, bei der Planfeststellung und bei der Ausschreibung,
Revisionspunkte gibt, an denen wir gemeinsam feststellen
können und sollten, ob die Grundannahmen bestätigt wurden oder die Kosten aus dem Ruder laufen. Diese Korrekturmöglichkeiten müssen wir uns im Interesse aller Beteiligten offen halten. Auch dafür werden wir uns einsetzen.
Kollege Fischer, in diesem Sinne sage ich: Nicht die
Strecke Hamburg-Berlin ist das Thema, sondern ein vernünftiger Umgang mit den anderen möglichen Anwendungsstrecken.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert
Königshofen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Einlassungen
der Vertreter der rot-grünen Koalition hört, kann man eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Sie bekämpfen
unseren Antrag und sind gleichzeitig bereit, in ein unsinniges Verkehrsprojekt in Nordrhein-Westfalen, in ein Fass
ohne Boden, 2 Milliarden Euro Bundesmittel zu stecken.
({0})
Der Metrorapid hat keine verkehrspolitischen Vorteile.
Die Fernreisenden müssen in Dortmund oder Düsseldorf
umsteigen. Die Autofahrer werden kaum genötigt umzusteigen; denn 80 Prozent aller Autofahrten im Ruhrgebiet
finden in einem Radius von 10 Kilometern statt. Zu glauben, dass die Autofahrer zwischendurch auf den Metrorapid umsteigen, ist so töricht wie das ganze Projekt.
Der Bundesrechnungshof - ich hoffe, Sie haben das gelesen; ansonsten würde ich Ihnen, vor allem der Regierung, empfehlen, das nachzulesen - kommt zu einem vernichtenden Urteil.
({1})
- Wenn Sie das gelesen haben, kann ich nicht verstehen,
warum Sie sich noch dafür einsetzen können. Obwohl der
Bundesrechnungshof noch nicht einmal die Prognose für
das Fahrgastaufkommen und das Kostenrisiko für den
Fahrweg überprüft hat, kommt er zu dem Ergebnis, dass
das Projekt nicht realisierungswürdig ist.
Die Fachkompetenz des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesminister für Verkehr wurde nicht genutzt, so
stellt der Bundesrechnungshof fest. Die Alternativlösungen modernerer Rad-Schienen-Technik sind nicht untersucht worden. Die versprochene Inbetriebnahme zur Fußballweltmeisterschaft 2006 ist unrealistisch.
({2})
Der Kosten-Nutzen-Quotient liegt bei unter 1 Prozent,
sagt der Bundesrechnungshof.
({3})
Dabei sind Kosten für Park-and-Ride-Anlagen, Schallschutz und Instandhaltung von Fahrweg und Bahn gar
nicht erst untersucht worden.
Der Bahnexperte Reimeier warnt ebenfalls vor der
Realisierung. Er sagt einen Verlust in Höhe von jährlich
90 Millionen Euro voraus.
In diesem Zusammenhang sind Fragen an die Industrie, was sie dazugeben werde, unsinnig. Eine Industrie,
die in ein Projekt investiert, das nachweislich defizitär
sein wird, wird in Deutschland nicht mehr lange Arbeitsplätze vorhalten können.
Wir haben es also mit Dauerinvestitionen in riesiger
Höhe zu tun, die angesichts geringer Verkehrswirkungen
nicht zu verantworten sind, so das Urteil der Fachleute.
Das sagt auch Herr Mehdorn, der im Übrigen als Betreiber auftreten soll. Er war es übrigens, der die Strecke Hamburg-Berlin kaputtgemacht hat, nicht die Industrie. Es war
die Bahn AG, die mithilfe des Bundes das Projekt kaputtgemacht hat. Das will ich festhalten, Frau Staatssekretärin.
({4})
Herr Mehdorn sagt jetzt, das Projekt Metrorapid sei mit
erheblichem finanziellen Risiko verbunden und er glaube
nicht, dass der Bund mit den Mitteln für die Infrastrukturmaßnahmen auskommen werde. Wir sind uns dabei si1742
cher; in diesem Punkt hat er Recht. Es stehen mittlerweile
3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Jetzt soll gekürzt
werden; Kollege Schmidt hat das angesprochen. Es soll
deswegen nur noch drei Sektionen geben. Laut „WAZ“
müssen die meisten Fahrgäste stehen. Es wird sehr anschaulich sein, wenn die ausländischen Gäste kommen
und sehen, dass wir die modernste Technik in Deutschland haben, die Leute aber über 78 km stehen müssen.
Die interessanteste Haltung in dieser Sache nehmen aber
die Grünen ein. Kollege Schmidt sagt beispielsweise,
80 Millionen Euro für Planung und Berechnung könnten
wir noch zahlen. Das sei zu verkraften, wenn am Ende Subventionen in Milliardenhöhe verhindert werden könnten.
({5})
Erst einmal sollen also 80 Millionen Euro ausgegeben
werden. Dabei haben Sie gesagt - ich zitiere Sie wörtlich -:
Ich bin überzeugt, dass mit jedem konkreten Planungsschritt die Unwirtschaftlichkeit bewiesen wird.
Wenn Sie davon überzeugt sind, Herr Schmidt, dann weiß
ich nicht, wie Sie überhaupt noch einen Eurocent für das
Projekt Metrorapid ausgeben können.
Meine Damen und Herren, machen Sie Schluss mit
diesen unsinnigen Projekten und stimmen Sie unserem
Antrag zu! Wir haben eine Strecke ins Auge gefasst, die
sinnvoll ist. Im Ruhrgebiet würde der Metrorapid die Situation nur verschlechtern.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Dirk Fischer, dass du dir deine schönen Träume
von der kalten Realität nicht zerstören lässt, ehrt dich.
({0})
Mir scheint der von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Antrag „Transrapid-Projekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen“ dem Geist der Kinotraumwelt und
der Erwartung auf das Happy End entsprungen zu sein.
({1})
Wenigstens im Kino ist immer ein Happy End zu sehen,
auch wenn dafür Fakten, Logik und die Realität noch so
sehr strapaziert werden müssen. Wir hier im Deutschen
Bundestag sind von Ihnen schon zigmal zu den Vorführungen Ihres Lieblingsfilms Transrapid Hamburg-Berlin
eingeladen worden: Transrapid Hamburg-Berlin die Erste;
Transrapid Hamburg-Berlin die Zweite; heute sind wir, wie
ich glaube, bei Transrapid Hamburg-Berlin die 25. Das
mag Sie, Kollege Fischer, vielleicht dazu veranlasst haben,
jetzt alles auf den Anfang zurückdrehen zu wollen.
Für die beiden aussichtsreichen Landesprojekte Metrorapid in Nordrhein-Westfalen und die Flughafenanbindung in München ist Ihr Antrag als Störfeuer zu betrachten. Die Rede, die Norbert Königshofen hier gehalten hat,
bestätigt dies. Deshalb scheint mir, Kollege Fischer: Sie
sind ein schlechter Verlierer.
({2})
Wenn schon das Projekt Hamburg-Berlin nicht realisiert
werden kann, dann soll wohl auch kein anderes Projekt in
Deutschland realisiert werden. Anders kann man Ihren
Antrag und den Beitrag, den wir eben von Norbert
Königshofen gehört haben, nicht verstehen.
({3})
Die Vorstellung in Ihrem Antrag, man könne jetzt sofort an die Planungen vom Februar 2000 anknüpfen, ist so
absurd, dass man nur mit dem Kopf schütteln kann. Sie
wissen doch sehr genau, warum das Magnetschwebebahnprojekt Hamburg-Berlin, das ursprünglich mit circa
3 Milliarden Euro veranschlagt wurde, gescheitert ist.
({4})
Es beruhte auf einer Finanzierungsvereinbarung, die sowohl dem Bund als auch der DB AG unkalkulierbare Risiken zuschob.
({5})
Hingegen wollte die Wirtschaft nur minimale Risiken bei
maximaler Sicherheit für die Refinanzierung und die Gewinne eingehen. So kann man kein Public-Private-Partnership-Projekt durchführen.
({6})
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für
Verkehr hat 1994, also zur Zeit Ihrer Regierungsverantwortung, festgestellt - und an dem Finanzierungskonzept bemängelt -, dass man von der Industrie, wenn sie
von der Weltmarktfähigkeit des Magnetbahnprodukts
überzeugt ist, eine höhere Risikobereitschaft erwarten
darf.
({7})
Dieser Satz ist wahrhaftig von hoher Aktualität.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Bitte schön.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass durch das Konzept Public Private Partnership die Aufgabenteilung so
gestaltet wurde, dass die öffentliche Hand in der Vorfinanzierung der Strecke und die Industrie in der Finanzierung der Betriebseinrichtungen ihre Pflichten hatten
({0})
und dass sich diese Bemerkung nicht auf Streckeninvestitionen, sondern nur auf die Betriebseinrichtungen bezog,
wohingegen später von der Industrie verlangt wurde, in
den Verantwortungsbereich der öffentlichen Hand einzutreten und sich auch an der Strecke zu beteiligen? Können
Sie mir darin zustimmen?
Das kann ich so nicht anerkennen, lieber Kollege
Fischer,
({0})
da wir den Bau einer Strecke nicht von dem Betrieb, der
später auf ihr stattfinden soll, trennen können. Ich werde
in meinem Beitrag später noch einmal darauf hinweisen,
wie die unsichere Kalkulationsbasis für den Betrieb und
die Finanzierungsbedingungen für die Strecke miteinander verwoben sind.
({1})
Auch der Bundesrechnungshof hat zu der übermäßigen Risikobelastung der DB AG - jetzt bin ich bei dem
Thema - und des Bundes sehr kritisch Stellung genommen. Die Systemhersteller hatten von der DB AG seinerzeit ein garantiertes Nutzungsentgelt zur Refinanzierung
ihres Einsatzes verlangt. Die Zahlungen sollten unabhängig von den tatsächlichen Erlösen erfolgen und notfalls
sogar aus den DB-Mitteln an die Industrie entrichtet werden. Diese Kritik des Bundesrechnungshofes machte damals Furore. Ich verweise auch hier auf die Parallelität zur
aktuellen Debatte.
({2})
Zu einer endgültigen Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Bund, der DB AG und den privaten Herstellern
ist es im Sommer 1998, als die Beteiligten es eigentlich
erwartet hatten, übrigens nicht mehr gekommen, weil die
Industrie keine Risiken eingehen und sie beim Bund und
bei der DB AG abladen wollte.
({3})
- Ja, unter Minister Wissmann. - Die Staatssekretärin hat
darauf hingewiesen, dass Sie es in Ihrer Regierungsverantwortung in der Hand gehabt haben, die von Ihnen
heute eingeklagten Schritte einzuleiten. Sie müssen
Bundesminister Wissmann, der die Finanzierungsvereinbarung seinerzeit nicht unterschrieben hat, dankbar sein,
dass er dieses Risiko in Ihrem Namen nicht eingegangen
ist.
({4})
Interessanterweise hat er Ihren Antrag nicht unterzeichnet. Wahrscheinlich hat er sich etwas dabei gedacht.
Erneute detaillierte Überprüfungen der Wirtschaftlichkeit der Strecke Hamburg-Berlin führten im Sommer
2000 zum endgültigen Aus für das Projekt. Ich wiederhole
es: Dies geschah einvernehmlich zwischen den Partnern
der trilateralen Vereinbarung, also der Industrie, der DB
AG und dem Bund. Wir hatten uns die damalige Entscheidung nicht leicht gemacht; darüber haben wir hier im
Plenum bereits debattiert.
({5})
Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke in
Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehr
ging und geht es auch heute noch um die Technologiepolitik. Aus diesem Grunde waren unter Ihrer Verantwortung 1994 alle Bundesressorts aufgefordert, zur Finanzierung des Projektes rund 40 Prozent der Investitionsmittel
beizusteuern. Logischerweise kam der größte Anteil aus
dem Verkehrshaushalt.
Dieses Konzept der Technologiepolitik ist weiterhin
aktuell. Das ist auch die Begründung dafür, dass wir in unserer Koalitionsvereinbarung einen Bundeszuschuss in
Höhe von 2,3 Milliarden Euro vereinbart haben.
Nach der Entscheidung gegen die Strecke Hamburg-Berlin, zu der meine Fraktion nachdrücklich steht
und nach der wir konsequenterweise das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz außer Kraft gesetzt haben, war es
uns wichtig, sicherzustellen, das angesammelte Knowhow in Sachen Magnetschwebetechnik für den Industriestandort Deutschland zu erhalten. Deswegen sollten wir
heute lieber über zukunftsfähige Projekte als über begrabene Träume reden.
({6})
Von den durch die Bundesländer vorgeschlagenen kurzen Referenzstrecken erschienen die in Nordrhein-Westfalen und Bayern am aussichtsreichsten. Ende Februar fiel
deshalb die Entscheidung, die ausgewählten Landesprojekte mit den industriepolitisch begründeten Zusagen zu
bezuschussen.
Nun hat die öffentliche Diskussion über die Magnetschwebebahntechnik durch die erfolgreiche Probefahrt in
Schanghai enormen Rückenwind bekommen. Es wäre
gut, wenn beide Landesprojekte, Metrorapid und Anbindung an den Flughafen München, realisiert werden könnten. Beide Projekte sind, obwohl Nahverkehrsprojekte,
unterschiedlich strukturiert, sodass mit beiden Projekten
die Anwendungsbreite dieser Technologie demonstriert
werden könnte.
Aber es ist doch interessant, dass zurzeit aus der CSU
Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Magnetschwebebahnverbindung zum Flughafen München geäußert werden.
({7})
Wir stehen also mit unseren Bedenken nicht allein.
({8})
- Reden Sie einmal mit dem Finanzminister des Freistaates Bayern!
Das Land Bayern muss ein schlüssiges Finanzierungskonzept vorlegen.
({9})
- Weil der Zeitpunkt noch nicht reif ist - die Entwicklung
dauert noch an -, können wir heute noch nicht darüber reden.
Positiv ist der Planungsfortschritt beim Metrorapid zu
bewerten. Eigentlich hatten wir damit gerechnet, erst
2004 Barmittel in den Bundeshaushalt einstellen zu müssen.
({10})
Wir freuen uns, dass der Prozess in Fahrt gekommen ist.
Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, nötige Planungsmittel aus dem zugesagten Plafond für NordrheinWestfalen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bereits ab
2003 zur Verfügung zu stellen, sofern ein tragfähiges
Finanzierungskonzept vorgelegt wird. Wir erwarten das
offiziell am 4. Februar.
Umso unverständlicher ist die weiter zögerliche Haltung der beteiligten Industrie, bei der Realisierung des
Metrorapid echte Risiken zu übernehmen. Wir unterstützen ausdrücklich Bundesminister Stolpe, für den die Beteiligung von Thyssen-Krupp und Siemens am Risiko tragenden Kapital - im Gespräch sind 200 Millionen Euro eine unabdingbare Voraussetzung ist, um zusätzliche Mittel für das Metrorapidprojekt bereitzustellen. Für ihn ist
das eine Conditio sine qua non. In diesem Sinne lehnt es
Minister Stolpe ab, der DB AG als zukünftigem Betreiber
die Übernahme des Betriebsrisikos und die Last der Refinanzierung eines Kredites der Industrie für deren vermeintliche zusätzliche Risikobeteiligung aufzuerlegen.
Auch darin hat er unsere Unterstützung.
Die Presse bemüht sich zurzeit - das kam vorhin auch
in dieser Debatte zum Ausdruck -, einen Dissens zwischen der SPD-Bundestagsfraktion und der Regierung zu
konstruieren. Das ist Unsinn. Wir sind uns darin einig,
dass es der verbindlichen Zusage der Industrie bedarf,
wenn es eine Erhöhung des Zuschussbedarfs geben soll.
Wir sind uns auch darin einig, dass eine solche Mittelerhöhung nicht 2003, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt ansteht, nämlich dann, wenn alle relevanten Fakten
nach Durchführung des Planfeststellungsverfahrens auf
dem Tisch liegen. Wir wollen eine verantwortbare Entscheidung zur Magnetschwebetechnik. Deshalb muss
man einen Revisionspunkt bestimmen, an dem man noch
ergebnisoffen entscheiden kann, an dem man dann aber
auch entscheiden muss. Dieses Verfahren wenden wir
übrigens auch bei dem Projekt „Stuttgart 21“ an.
({11})
Wenn das erforderliche finanzielle Engagement der
Industrie verbrieft ist und das Land NRW Planung und
Finanzierung garantiert, wird die SPD-Bundestagsfraktion nicht abseits stehen. Wir werden dann die Mittel im
vereinbarten Umfang bereitstellen, aber erst dann und
nicht vorher.
({12})
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran
erinnern, dass es sich um ein Technologieprojekt für den
Standort Deutschland handelt. Der Bundesbeitrag zu diesem Projekt, der heute zur Verfügung steht, ist von allen
Ressorts gemeinsam aufgebracht worden. Das muss
selbstverständlich auch für eventuell anfallende Mehrkosten gelten.
Nordrhein-Westfalen wird in den nächsten Tagen alle
Hausaufgaben machen und sie uns vorlegen. Wir rechnen
auch mit einer verbindlichen Erklärung über die finanziellen Verpflichtungen des Landes. Bisher ist dies durch einen Landtagsbeschluss aus dem vorigen Jahr ausgeschlossen. Das kann so nicht bleiben.
({13})
So weit der Stand der beiden Landesprojekte, die wir mit
großen Hoffnungen hinsichtlich ihres verkehrstechnologischen Entwicklungspotenzials begleiten und natürlich
auch mit den unter den genannten Konditionen zugesagten Bundesmitteln unterstützen werden.
({14})
Meine Damen und Herren, hier in Berlin startet in diesen Tagen die Berlinale. Ihr Antrag, Herr Fischer, war der
erste Beitrag in der Rubrik „Play it again“.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.
({0})
Reinhard Weis ({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Weis, da Sie die Transrapidstrecke in München überhaupt
nicht erwähnt haben,
({0})
frage ich Sie: Vergessen Sie eigentlich, dass Bayern auch
zum Aufbau Ost beiträgt?
({1})
Kollege Weis, sie praktizieren hier dieselbe Verschiebetechnik wie im Jahr 2000, als Sie das Aus für die Transrapidstrecke Hamburg-Berlin beschlossen hatten. Dies war
ein unverzeihlicher Fehler; denn wie sich jetzt zeigt, ist
der Verkehrsminister plötzlich zu einem großen Fan dieser Strecke geworden.
({2})
Sie sollten Ihren Verkehrsminister ernst nehmen und
({3})
auf ihn hören, meine Damen und Herren.
Die damalige Fehlentscheidung hat auch deutlich gemacht, dass die Grünen diese zukunftsweisende Technik
in Deutschland absolut nicht haben wollen. Frau Staatssekretärin, im Jahr 2000 wollten Sie uns noch weismachen,
dass „man im Herbst nächsten Jahres“, also im Jahr 2001,
in 90 Minuten von Berlin nach Hamburg gelangen könne,
wie Sie auch sonst hier schon unqualifizierte Äußerungen
gemacht haben. Denn noch heute braucht man für die
Fahrt von Hamburg nach Berlin und umgekehrt weit über
zwei Stunden. Um dies nachzuvollziehen, braucht man
nur den Fahrplan zu lesen.
Nun kommen die Grünen in NRW, die den Transrapid
stets abgelehnt haben, ein bisschen in die Zwickmühle.
Ich weiß gar nicht, wie sie sich daraus befreien wollen.
Aber auch die Bundesregierung, deren Herz nur für die
Strecke in NRW schlägt, was sie bei der Zusammensetzung der Delegation für die Eröffnungsfahrt in Schanghai
deutlich zum Ausdruck brachte, gerät in Bedrängnis; denn
Anfang Februar wird die bayerische Staatsregierung ein
Finanzierungskonzept für den bayerischen Transrapid
beschließen, während in NRW die Finanzierung absolut
noch nicht gesichert ist.
({4})
Die nicht gesicherte Finanzierung in NRW kann aber
nicht bedeuten, dass die Bundesregierung plötzlich für
NRW bei heruntergerechneten Kosten von 3,2 Milliarden
Euro den Zuschuss von 1,75 Milliarden Euro um 250 Millionen Euro auf 2 Milliarden Euro erhöht, um Rot-Grün
aus der Patsche zu helfen. Das wäre eine eindeutige Benachteiligung Bayerns und kann nur mit rot-grünem Filz
bezeichnet werden.
({5})
Diese verfilzte Kungelei war doch schon im Gange, als
die ersten Bundeszuschüsse zugesagt wurden: für NRW fast
50 Prozent, nach der Zusage des Bundeskanzlers nun weit
über 50 Prozent, und für Bayern mit 550 Millionen Euro nur
ein Drittel der Gesamtkosten von 1,6 Milliarden Euro.
({6})
Es kann doch nicht sein, dass der Kanzler der Genossen nur noch seine Genossen kennt! Welches Demokratieverständnis in einem föderalen Staat steckt hinter der
Stirn des Kanzlers, der den Bayern schon „Steine statt
Brot“ angekündigt hat, nur weil die Bayern sowohl bei
den Landtags- als auch bei den Bundestagswahlen richtig
entscheiden.
({7})
Der Kanzler hat doch in seinem Amtseid, wenn auch ohne
Gott, geschworen, dem Wohle des ganzen Volkes zu dienen. Dies scheint er mehr und mehr zu vergessen.
Tatsache ist, dass der Transrapid in Bayern kommen
wird, denn das CSU-Kabinett hat die Weichen für eine
schnelle Verwirklichung gestellt. Dies ist allein schon daraus ersichtlich, dass die Vorfinanzierung der Planungskosten von 40 Millionen Euro übernommen worden ist.
({8})
Bayern handelt und Berlin schläft.
({9})
Bayern wird mit einer schnelleren Planung, die für den
Transrapid in München erheblich einfacher als die Planungen für den Metrorapid in NRW ist, einer sicheren
Finanzierung und, was besonders wichtig ist, einer höheren Wirtschaftlichkeit dafür sorgen, dass der Transrapid
in Bayern schneller als in Nordrhein-Westfalen auf den
Weg gebracht wird.
({10})
Ich bin davon überzeugt, dass die erste Transrapidstrecke
in Bayern in Betrieb gehen wird, da Sie unseren heutigen
Antrag zu Berlin-Hamburg ablehnen.
Es ist doch grotesk, wenn die Bundesregierung auf
meine schriftliche Frage am 17. Januar antwortet:
Nach derzeitigem Kenntnisstand des Bundes plant
das Land Nordrhein-Westfalen die Inbetriebnahme
im Jahr 2006.
Welche Leichtgläubigkeit im Verkehrsministerium offenbart sich hier! Drei Jahre für Planung und Bau sind in
Deutschland eine viel zu kurze Zeit. Dies ist nur in China
zu verwirklichen. Die Einschätzung Bayerns,
({11})
dass der Transrapid erst im Jahr 2008/09 fahren wird, ist
berechtigt. Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung bereit ist, die Transrapidstrecken in den Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen, damit sich das Parlament damit be1746
fassen kann. Wir jedenfalls haben damals den Fahrweg
Berlin-Hamburg als wichtige Strecke aufgenommen.
Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für
unser Land. Diese Technologie steht für die Innovationsund Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und ist zugleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Rot-Grün
sollte danach handeln und nicht nur die Parteischiene
fahren.
({12})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in
nationales Recht umsetzen
- Drucksache 15/226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der
Abgeordnete Hans-Michael Goldmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister Bartels aus Niedersachsen,
({0})
ich freue mich uneingeschränkt, dass Sie heute hier sind.
Dass ich mich auch freuen würde, wenn Sie nach den
Wahlen am kommenden Sonntag nicht mehr Minister in
Niedersachsen wären, werden Sie mir sicherlich nicht
übel nehmen;
({1})
denn ich gehöre einer anderen Partei an. Aber ich finde es
gut, dass Sie sich dem Thema der Tierhaltung zuwenden.
Ich weiß auch, welche Position Sie in dieser Frage haben.
Auch wenn es der eine oder andere noch nicht gemerkt
hat: Wir nähern uns jetzt dem absoluten Höhepunkt des
heutigen Plenartages; denn wir waren mit dem jetzt zur
Diskussion stehenden Thema nicht nur in der britischen
„Times“, sondern auch in vielen anderen europäischen
Medien vertreten. Die Überschriften waren ein bisschen
verwirrend. Eine lautete zum Beispiel: Müssen Schweine
Basketball spielen? - Worum geht es? Es geht um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie zur Haltung von
Nutztieren in nationales Recht. Das hätte die tierschutzorientierte rot-grüne Bundesregierung eigentlich schon
bis zum November 2001 tun müssen. Aber leider hat sie
wie so oft bei diesem Thema kläglich versagt.
({2}): Das haben wir von Euch gelernt!)
- Nein, Herr Kollege, das hat Ihre Regierung nicht von
uns gelernt. Ich hoffe, dass Sie so etwas nicht ernsthaft behaupten; denn das, was ich angesprochen habe, ist ja erschreckend.
Es ist nach unserem Verständnis absolut notwendig, die
europäische Richtlinie eins zu eins in nationales Recht
umzusetzen; denn es macht keinen Sinn, nationale Alleingänge zu machen. Solche führen nur zu Verunrechtlichung und dazu, dass eine gesetzliche Grundlage für einen vernünftigen Tierschutz in Deutschland nicht mehr
gegeben ist.
({3})
Das hat gerade das Beispiel einer Auseinandersetzung vor
einem Gericht in Minden gezeigt. Dort hat ein Schweinehalter gegen das Land Nordrhein-Westfalen prozessiert
und gewonnen. Es wurde festgestellt, dass das Land regionales Sonderrecht geschaffen hat. Solche regionalen
Sonderrechte sind häufig auch weit entfernt von jeder
Form von Fachlichkeit. Das liegt daran, dass sehr viele
Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, welchen Anspruch Tiere bei der Haltung haben. Das gilt vor
allen Dingen für die Grünen, die dieses Thema immer in
eine bestimmte ideologische Richtung schieben und die
beispielsweise suggerieren, dass sich Schweine darüber
freuten, wenn sie auf Stroh lägen. Das ist überhaupt nicht
der Fall. Schweine spielen mit Stroh, legen sich aber nicht
ins Stroh, weil sie es als störend empfinden. Es gibt auch
eine Diskussion darüber, wie viel Fläche einem Schwein
zur Verfügung zu stellen ist. Die Grünen behaupten, dass
Schweine besonders viel Fläche bräuchten. Auch das ist
falsch. Das Schwein ist nämlich kein Läufer. Es ist ein
Tier, das sich außerordentlich ungerne bewegt. Wenn es
sich bewegt, dann nur, um Nahrung zu suchen.
Deswegen muss in einer solchen Richtlinie fachlich
korrekt festgeschrieben sein - ({4})
- Lieber Kollege, ich spreche vor dem Hintergrund eines
reichen Erfahrungsschatzes; denn ich habe im Bereich
Tiermedizin geforscht und ich fand den Umgang mit diesen Tieren hochinteressant. Lieber Kollege, wir haben an
der tierärztlichen Hochschule schon zu einem Zeitpunkt
bei Schweinen Lebertransplantationen vorgenommen, als
die Humanmedizin von Lebertransplantationen noch
geträumt hat. Erzählen Sie mir also nichts über die Qualität dieser Tiere!
({5})
Akzeptieren Sie vielmehr einfach einmal, dass diese Tiere
bestimmte Ansprüche haben und dass man dafür sorgen
muss - das wäre Ihre Verpflichtung gewesen -, dass diese
Tiere - nebenbei gesagt, sie sind sehr intelligent - tiergerecht gehalten werden. Sie haben die Haltung dieser Tiere
mit Verordnungen und Bestimmungen überzogen, die weder fachlich noch sachlich sind.
({6})
- Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle lachen. Sie
scheinen diesem Thema nicht so interessiert gegenüberzustehen, wie es eigentlich nötig ist.
({7})
Soweit ich weiß, sind Sie Mitglied in dem Ausschuss, in
dem diese Dinge entschieden werden.
Sie scheinen nicht verstanden zu haben, wie dramatisch die Auswirkungen dieser EU-Richtlinie für deutsche
Tierhalter und für die Landwirtschaft sind. Lieber Kollege, ich bin dafür, dass die Regionen, in denen eine zukunftsorientierte Landwirtschaft und in denen eine zukunftsorientierte Tierhaltung betrieben wird, auf dem
Markt bleiben. Die Region Vechta - Herr Bartels kommt
dort her - hat das höchste wirtschaftliche Wachstum aller
niedersächsischen Regionen. Das ist so, weil man in diesem Bereich nach wie vor eine kluge, marktorientierte
Agrarpolitik betreibt, und daran wollen wir festhalten.
({8})
- Der Herr Minister Bartels wird Ihnen gleich sagen, dass
die FDP und er in diesem Punkt völlig einer Meinung
sind. Außerdem wird der Minister Ihnen gleich sagen,
dass er das, was die Grünen seiner Landespolitik antun,
ganz furchtbar findet. Das hat er bei jeder Veranstaltung
mit Landwirten - wir haben solche Veranstaltungen zum
Teil gemeinsam wahrgenommen - gesagt. Die Front verläuft nicht zwischen uns und ihm, sondern zwischen Ihnen und den Grünen, weil die Grünen eine rein ideologische Politik verfolgen,
({9})
die eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutschland
im Grunde genommen mit Füßen tritt. Deswegen haben
wir diesen Antrag vorgelegt.
({10})
Stimmen Sie unserem Antrag ganz einfach zu! Sorgen
Sie endlich dafür, dass - an dieser Stelle ist das sinnvoll
und klug - europäisches Recht in nationales Recht umgesetzt wird! Tun Sie endlich etwas für den Tierschutz in
diesem Bereich! Tun Sie etwas dafür, dass die deutschen
Schweinehalter und die deutschen Schweinezüchter, die
tüchtige Leute sind, Investitionssicherheit haben und dass
dieser Markt den Deutschen erhalten bleibt.
Herzlichen Dank.
({11})
Jetzt hat der niedersächsische Landwirtschaftsminister
Uwe Bartels das Wort.
Uwe Bartels, Minister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das scheint hier eine niedersächsische Veranstaltung zu werden. Ich will versuchen, die Diskussion auf die
nationale Ebene zu heben.
Klar ist - das will ich gleich unmissverständlich sagen -:
Deutschland muss handeln in Sachen Regelungen zur
Haltung von Schweinen.
({1})
Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesondere
nachdem die Schweinehaltungsverordnung im November des letzten Jahres aufgehoben worden ist. Seitdem
fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Darüber, dass
dringender Handlungsbedarf besteht, gibt es gar keinen
Streit; das haben wir alle miteinander festgestellt.
({2})
Natürlich hat die Aufhebung der Schweinehaltungsverordnung Konsequenzen gehabt, die für uns als diejenigen, die für die Durchführung vor Ort zuständig sind,
nicht immer erfreulich waren. Man muss ganz klar sagen:
Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Vertragsverletzungsverfahrens, weil die EU-Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt worden ist. Aber das ist in der Bundesrepublik ja nichts Neues. Das war ja auch bei der
Vorgängerregierung schon so.
Richtig ist natürlich, dass auf der Länderebene Umsetzungsschwierigkeiten bestanden haben. Vor allen Dingen
den Genehmigungsbehörden vor Ort fehlen derzeit verlässliche bundeseinheitliche Vorgaben insbesondere für
den Umgang mit Anträgen zum Um- oder Neubau von
Schweineställen. Das ist sicherlich ein Problem und ich
hoffe, dass es alsbald zu einer Klärung kommt.
Es nützt uns überhaupt nichts, diesen Zustand zu beklagen. Vielmehr geht es jetzt darum, was wir aus den EUVorgaben machen.
({3})
Wir, die Vertreter der Länder, mussten Abhilfe schaffen,
weil wir in der Zwischenzeit handeln mussten. Niedersachsen hat gehandelt. Herr Goldmann hat natürlich
Recht, wenn er sagt, Niedersachsen handelt immer gut
und richtig sowie wettbewerbsorientiert.
({4})
Ich brauche ja nur den Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, Herrn Sonnleitner, zu zitieren, Herr
Schirmbeck, der gesagt hat: Bartels steht für Wettbewerbsfähigkeit und Marktorientiertheit der niedersächsischen Landwirtschaft.
({5})
Das ist kein unbedeutender Mensch, keiner, der den Sozialdemokraten angehört. Dessen Urteil ist fundiert und
trifft zu. Ich kann nur wiederholen, dass ich froh darüber
bin, dass er das erkannt hat.
({6})
Sie wissen ja, dass bei Landwirten Schweigen die höchste
Form von Zustimmung ist. Wenn dann der oberste Bauernpräsident sagt, das ist gut, kann man sich darüber nur freuen.
Wir haben also die Dinge auf dem Erlasswege geregelt.
({7})
- Aber selbstverständlich. - Wir brauchen aber ganz klar
und eindeutig Vorschriften, die über die EU-Vorgaben
nicht hinausgehen.
({8})
- Nicht deutlich hinausgehen. Hören Sie genau zu. Sie
nehmen Ihre Zustimmung zurück, wenn ich das gleich
weiter ausführe.
({9})
Ich will damit nämlich nicht sagen, dass ich mit allen Details in der europäischen Richtlinie einverstanden bin. Das
muss ich hier ganz klar und deutlich sagen.
Meine fachliche Kritik bezieht sich zum Beispiel auf
die Definition eines ausreichenden Tageslichteinfalls und
auch auf die Problematik der Platzanforderung insbesondere für Mastschweine. Herr Goldmann, auch wenn Sie
Veterinär sind, Sie liegen nicht richtig. Das, was ich Ihnen
jetzt sage, beruht auf wissenschaftlichen und praktischen
Erkenntnissen in Niedersachsen. Sie liegen nicht richtig,
wenn Sie sagen, jüngere Mastschweine hätten kein Bewegungsbedürfnis.
({10})
Gerade die haben ein entsprechendes Bewegungsbedürfnis. Gerade bei denen müssen wir zusehen, dass die Platzerfordernisse angemessen berücksichtigt werden. Hier
plädiere ich also durchaus für eine Abweichung von den
EU-Vorgaben nach oben, wie sie im Übrigen in Niedersachsen in der Praxis - schauen Sie einmal in die Betriebe
hinein - gang und gäbe ist.
Meine Damen und Herren, die EU-Vorgaben stellen bereits einen erheblichen Schritt in Sachen verbindliche Vorgaben für den Tierschutz dar. Wir sollten nicht - jetzt können Sie wieder freudig klatschen - in denselben Fehler wie
bei der Legehennenhaltungsverordnung verfallen
({11})
und meinen, dass wir besondere Lorbeeren bekommen
und besonders Gutes für die Tiere tun,
({12})
wenn wir zu deutlich über eine Eins-zu-eins-Umsetzung
von EU-Recht hinausgehen.
({13})
- Nun einmal langsam. - Die Auswirkungen sehen wir
nämlich bei uns im Lande: Die professionelle Legehennenhaltung wird woandershin verlagert. Das können wir
feststellen; darüber werden wir ja auch in diesem Jahr
noch einmal im Bundesrat diskutieren.
({14})
Ich bedauere ja, Herr Goldmann - Sie haben sich hier gerade hingestellt und so getan, als hätten Sie daran nicht
mitgewirkt -, dass auch Ihre rheinland-pfälzischen Parteifreunde, die ja dort an der Regierung beteiligt sind, genauso gegen die niedersächsischen Vorschläge gestimmt
und sie abgelehnt haben.
({15})
- Aber selbstverständlich. Sehen Sie, meine Damen und
Herren, der biegt sich die Wahrheit so hin, wie er sie gerne
haben möchte. Aber das ist manchmal so bei der FDP.
({16})
- Ich sage ganz klar und eindeutig: Meine Anträge sind
von Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
abgelehnt worden.
({17})
Damit sind sozusagen die zukunftsfähigen Anträge abgelehnt worden, Herr Goldmann.
Nein, meine Damen und Herren, schon damals habe
ich für den behutsameren niedersächsischen Weg plädiert,
der die Tierhalter mitnimmt. Das ist meine Auffassung.
Wir müssen die Tierhalter bei Verbesserungen mitnehmen. Bedauerlicherweise haben, wie gesagt, die niedersächsischen Anträge keine Mehrheit im Bundesrat bekommen. Auf diese Weise hätte die Wettbewerbsfähigkeit
unserer niedersächsischen - sogar unserer deutschen Betriebe gesichert und es hätte erheblich zum Verbraucher- und Tierschutz in unserem Land und in Europa beigetragen werden können.
Ich warne jetzt nur davor - deshalb habe ich das zitiert -,
heute im Zusammenhang mit der Schweinehaltungsverordnung einen ähnlichen Fehler zu wiederholen. Denn bei
der Schweinefleischproduktion haben wir einen Selbstversorgungsgrad von 87 Prozent, das heißt, wir sind auf
Importe angewiesen. Lassen Sie uns also gemeinsam die
Gelegenheit nutzen, dafür zu sorgen, dass das wichtige
Minister Uwe Bartels
Minister Uwe Bartels
Nahrungsmittel Schweinefleisch zu einem überwiegenden Teil in deutschen Ställen produziert wird. Nur dann
können wir auf so wichtige Bereiche wie den Tierschutz,
die Lebensmittelsicherheit und den Umweltschutz wirklich umfassend Einfluss nehmen. Das erreichen wir
nicht, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe in der EU dadurch stärker beschneiden, dass wir
EU-Vorgaben - ich sage es nochmals - bedeutend verschärfen.
Wir machen in Niedersachsen sehr gute Erfahrungen
mit Haltungsanforderungen, die in Zusammenarbeit mit
den Betroffenen, das heißt Behörden, Wissenschaftlern,
Praktikern, Verbänden und Landwirten, erarbeitet werden. Wir erreichen auf diesem Wege sogar viel mehr, als
wir auf gesetzlichem Wege überhaupt erreichen können.
So haben wir zum Beispiel Vereinbarungen über die Haltung von Hähnchen und von Puten.
Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann zu?
Uwe Bartels, Minister ({0}):
Ja, aber sicher doch.
Herr Minister Bartels, stimmen Sie mit mir dahin gehend überein, dass Sie und die Freien Demokraten der
Meinung waren, dass sich bei der Legehennenhaltung etwas tun muss und dass das bis 2012 umgesetzt werden
sollte, und sind Sie wie ich der Meinung, dass das Vorziehen der rot-grünen Bundesregierung auf 2006, vor allen
Dingen durch Frau Ministerin Künast, ein dicker Fehler
ist, der dazu beitragen wird, dass die Legehennenhaltung
aus Deutschland verschwindet, wodurch wir dann überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, Einfluss darauf zu
nehmen, dass die Tiere, die die Eier legen, die wir brauchen, artgerecht gehalten werden?
({0})
Uwe Bartels, Minister ({1}):
Herr Goldmann, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass
wir in Deutschland einen solchen Alleingang in der Form,
wie er geschehen ist, nicht hätten machen sollen. Aber das
Datum 2006 ist überhaupt nicht das Entscheidende. Sie
haben noch immer nicht verstanden, worum es bei der
Auseinandersetzung ging. Es ging darum, die Kleingruppenvoliere in der Legehennenhaltung im Jahre 2003 in die
Verordnung aufnehmen zu können. Ich hätte sogar für
Übergangszeiträume bis zum Jahr 2012 gestimmt. Das
haben wir im Bundesrat gemacht. Entscheidend für mich
war erstens der Punkt, dass jedes Haltungssystem einer
Tierschutzüberprüfung standhalten muss, und zweitens,
dass die Kleingruppenvoliere ab dem Jahre 2003 tatsächlich zugelassen wird. Nur auf diesem Wege wäre sichergestellt, dass wir den hohen Selbstversorgungsanteil, den
wir in Deutschland im Bereich der Hühnerhaltung noch
haben, halten können. Auf anderem Wege ist das nicht sichergestellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu
dem, was Sie gerade hier gesagt haben.
({2})
Sie hatten einen langen Redebeitrag und haben eine
Frage gestellt. Ich glaube, dass das ausreicht.
Uwe Bartels, Minister ({0}):
Wie gesagt, meine Damen und Herren, wir agieren gemeinsam mit den Betroffenen und erreichen auf diesem
Wege viel mehr. Auch unsere derzeitige Übergangsregelung - damit komme ich auf unseren Erlass zurück - zur
Haltung von Schweinen ist mit der Wissenschaft und den
Betroffenen abgestimmt worden. Das heißt, wir ziehen in
Niedersachsen an einem Strang und haben eine hohe Akzeptanz für den derzeitigen Erlass.
Wir haben aber noch mehr erreicht. In einigen Punkten gehen wir einen Schritt weiter, und zwar betrifft
das die Details der Schweinehaltungsverordnung. Das
ist dort der Fall, wo wir es fachlich für geboten halten, zum Beispiel bei der Vorgabe zum Tageslichteinfall
in Schweineställen. Damit tragen wir in besonderer
Weise dem Tierschutzgedanken und gleichzeitig in
hohem Maße den gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung, und zwar unter Berücksichtigung der
ökonomischen Interessen der Landwirte in Niedersachsen. Dies wird mir ausdrücklich auch von Präsident
Sonnleitner bestätigt; einen besseren Kronzeugen gibt
es nicht.
({1})
Der Grundsatz des Tierschutzgesetzes besagt, dass der
Mensch aus der Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf heraus dessen Leben und dessen Wohlbefinden zu
schützen hat. Das heißt auch, dass bei der Festlegung bundeseinheitlicher Anforderungen an die Haltung von Tieren - das sage ich ganz deutlich - das Tierverhalten und
nicht das Wunschdenken der Menschen entscheidend ist.
Ich denke, dass wir an einer Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Vorschriften grundsätzlich, aber insbesondere
bei der Schweinehaltung gut tun. Über fachlich sinnvolle
Abänderungen in Detailregelungen kann und sollte man
reden, wie wir es bei uns im Lande auch getan haben und
weiter tun werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Uwe Bartels, Minister ({0}):
Wenn Herr Carstensen fragen möchte, bin ich immer
gern bereit.
Ich wollte auf jeden Fall die Gelegenheit noch einmal
nutzen, Herr Minister.
Uwe Bartels, Minister ({0}):
Wollen Sie aus dem Bundestag ausscheiden?
Nein!
({0})
Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiß ich nicht, ob
ich Sie in dieser Richtung noch einmal sehe. Das ist das
Problem.
Uwe Bartels, Minister ({1}):
Haben Sie Vertrauen!
Genau das haben wir!
({0})
Herr Minister, wenn Sie in Niedersachsen so gute Arbeit leisten - dazu möchte ich im Moment nichts sagen und von Herrn Sonnleitner so gelobt werden,
({1})
können Sie mir dann einen Grund sagen - denn das habe
ich in Ihrer Rede noch nicht gehört -, warum Sie nicht der
SPD-Fraktion und meinetwegen auch den Grünen hier im
Bundestag empfehlen, dem Antrag der FDP zuzustimmen?
({2})
Uwe Bartels, Minister ({3}):
Herr Abgeordneter, ich wollte gerade in dem Schlussteil meiner Rede deutlich machen, was der Bundestag bei
seiner Entscheidung über den FDP-Antrag insgesamt
berücksichtigen sollte. Wenn Sie nicht gefragt hätten,
wäre ich schon mit meinen Ausführungen fertig. Ihre
Frage hat uns immerhin die Gelegenheit gegeben, dass
wir beide noch einmal miteinander geredet haben. Das ist
ja auch nicht schlecht.
({4})
Über sinnvolle Änderungen bei Detailregelungen können und müssen wir miteinander reden, wie das bei uns im
Lande durch Gespräche mit den Landwirten und mit der
Wissenschaft geschehen ist. Ich habe heute den Präsidenten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn
Scholten, gesprochen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich im
Deutschen Bundestag über die Schweinehaltungsverordnung reden werde und dass ich der FDP sagen werde, dass
wir ein bisschen anders verfahren müssen, als es in der
von ihr vorgeschlagenen reinen Eins-zu-eins-Umsetzung
vorgesehen ist. Er hat mich gebeten, zu sagen, dass er das
durchführt, was in unserem Erlass enthalten ist, und dass
er mit der praktischen Umsetzung höchst zufrieden ist.
Auch er ist also ein Kronzeuge für die Richtigkeit dieses
Erlasses.
({5})
Lassen Sie mich Ihnen unseren niedersächsischen Weg
ans Herz legen.
({6})
Hiermit lässt sich eine gute Balance zwischen einem fachlich ausgewogenen Tierschutz, einem angemessenen Tierhalterschutz und dem Schutz unserer wirtschaftlichen Wettbewerbsinteressen finden. Der niedersächsische Erlass, der
auch von den Landwirten mitgetragen wird, ist dafür eine
gute Grundlage. Er ist eine gute Orientierungshilfe, um diesem hohen Anspruch und auch den gesellschaftlichen Anforderungen bei diesem Thema gerecht zu werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gitta Connemann.
Es ist ihre erste Rede.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich
komme wie Herr Bartels aus Niedersachsen. Vor 50 Jahren
zählte der Nordwesten unseres Landes zu den Armenhäusern Deutschlands. Danach setzte ein einzigartiger Aufschwung ein. Heute gelten Landkreise wie zum Beispiel das
Emsland, Cloppenburg und Vechta als Vorzeigeregionen.
Einer der Hauptmotoren für das Wachstum war und ist
die Veredlungswirtschaft, insbesondere die Geflügelund Schweinehaltung durch landwirtschaftliche Betriebe.
Denn rund um diese haben sich Dienstleister, Gewerbe
und Industrie angesiedelt. Nachdem die Kommunen auch
durch die Politik der Bundesregierung vor dem Kollaps
stehen, sind die Landwirte dort für das Bauhandwerk die
entscheidenden Investitionsträger.
Allein in einem Landkreis wie zum Beispiel dem Emsland beläuft sich die Gesamtbruttowertschöpfung der
Landwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche auf
circa 820 Millionen Euro.
({0})
Zudem hat sich in diesen Regionen ein erhebliches Knowhow in Forschung, Entwicklung und Beratung angesammelt, geballte Kompetenz, die auch dazu genutzt worden
ist, den möglichen Belastungen der Intensivtierhaltung
für Gesundheit, Umwelt und Tier entgegenzuwirken, nachweisbar und wirtschaftlich tragbar.
Die Landwirte und ihr Umfeld erbringen Leistungen,
anders als die Bundesregierung.
({1})
Deren Aufgabe wäre es gewesen, bis zum 1. Januar 2003
die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Was
ist aber passiert? Nichts. Das ist ein Novum bei einer Bundesregierung, die sonst durch Regulierungswut auffällt.
({2})
Nach Erlass der EU-Richtlinie wurde die bis dato geltende Schweinehaltungsverordnung aufgehoben, aber keine neue Rechtsverordnung erlassen. Was ist die Folge?
Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im
rechtsfreien Raum.
({3})
Die Bundesregierung hat eine Rechtsunsicherheit zu
verantworten, die dazu führt, dass Landwirte die Planung
von Bauvorhaben und damit Investitionen stoppen müssen, dass Kreisveterinäre ohne Rechtsgrundlage im Einzelfall entscheiden müssen und - schließlich - dass vier
Bundesländer die Haltungsbedingungen im Alleingang
geregelt haben.
({4})
Den Vogel hat aber das Land Nordrhein-Westfalen mit
seinem ersten Schweinehaltungserlass, dem so genannten
Kuschelerlass, abgeschossen.
({5})
Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedes
Schwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen.
Frei nach Bogart: Schau mir in die Augen, Schweinchen.
({6})
Hier gab es nur ein Urteil: ideologisch verbrämt und an
der Praxis vorbei. Deshalb ist dieser Erlass überarbeitet
worden. Er war auch rechtlich nicht haltbar. Das hat das
Verwaltungsgericht Minden am 11. Dezember 2002 entschieden. Dies ist eine richtige Entscheidung; denn die
Landwirtschaft hat es nicht mit Kuscheltieren, sondern
mit landwirtschaftlichen Nutztieren zu tun. Ein Schwein
ist und bleibt nun einmal ein Schwein.
Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für die
Bundesregierung, nicht aus ideologischen Gründen und
einseitig zu weit über die europäischen Vorgaben hinauszupreschen.
Meine Damen und Herren, einen solchen Alleingang
hatten wir bereits mit der Legehennenverordnung. Damit
ist - ich zitiere den zurzeit in Niedersachsen noch amtierenden Ministerpräsidenten - „der Sündenfall erfolgt, der
sich mit der Schweinehaltungsverordnung nicht wiederholen darf.“ Zwar haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass Aussagen von Herrn Gabriel regelmäßig nur
eine Halbwertzeit von einigen Stunden haben, aber in diesem Fall hat er ausnahmsweise einmal Recht.
Herr Minister Bartels, mich wundert es schon etwas,
wenn Sie jetzt sagen, es sollte keinen Alleingang, jedenfalls keinen deutlichen Alleingang, geben. In Ihrer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischen
Landvolk lese ich: Gerade im Bereich des Tierschutzes
- darauf kommt es mir an - muss aber auf nationale Alleingänge verzichtet werden.
({7})
Die Folge einer Verordnung wird wie bei der Legehennenverordnung sein, dass die deutsche Produktion ins
Ausland abwandern wird. Damit ist weder den Tieren
noch den Verbrauchern gedient. Denn die Eier werden
auch zukünftig aus Käfigen kommen, aber eben aus polnischen, rumänischen, wie auch immer.
Meine Damen und Herren, eine Verordnung wie die
Legehennenverordnung vernichtet aber auch Arbeitsplätze und Betriebe in Deutschland. Nationale Alleingänge sind schädlich für unsere Wirtschaft. Unsere Landwirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondern
den Würgegriff aus Berlin.
({8})
Die einseitigen Verschärfungen treiben lediglich die Kosten der Tierhaltung hierzulande hoch und führen damit
zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber ausländischen Betrieben. Das dürfen wir nicht zulassen und
das wollen wir auch nicht zulassen.
({9})
Die EU-Vorgaben sind deshalb direkt und ohne zusätzliche Auflagen in nationales Recht umzusetzen.
Mindestanforderungen an die Schweinehaltung und an
andere Nutztierhaltungen festzulegen ist sinnvoll und erforderlich. Diese Festlegung darf aber nicht nach gefühltem Tierschutz oder gefühltem Umweltschutz geschehen.
Auch sozialromantische Träumereien oder Sehnsucht
nach einer vermeintlichen landwirtschaftlichen Idylle sind
keine vernünftigen Vorgaben. Die einzige Basis für
Mindestanforderungen müssen nachvollziehbare wissenschaftliche Erkenntnisse sein, nichts anderes. Diese Erkenntnisse hatte die EU beim Erlass ihrer Richtlinie. Sie
hat sich auf ihre wissenschaftlichen Gremien gestützt, in
denen alle Länder vertreten sind.
Das war auch eine der Kernaussagen des Verwaltungsgerichts Minden. Im Urteil hieß es: Es gibt keine neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen Schweinehaltungssysteme, die diesen Forderungen nicht entsprechen, eine angemessene verhaltensgerechte Unterbringung der Tiere nicht sicherstellen können.
({10})
Deswegen hat die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben nicht nur den Vorteil, dass damit Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU vermieden werden; es ist
damit auch gewährleistet, dass der wissenschaftliche
Sachverstand in die Entscheidungen eingeflossen ist.
Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung
wissenschaftlich begründen kann, dass EU-Vorgaben
nicht oder nicht mehr ausreichend sind, dann hat sie dieses auf europäischer Ebene durchzusetzen, aber nicht einseitig in Deutschland durch nationale Vorgaben.
({11})
Abschließend weise ich darauf hin, dass mit der Festlegung von Mindestvorgaben kein Verbot freiwilliger
weiter gehender komfortabler Haltungsbedingungen verbunden ist.
({12})
Dieses sollte aber in der Tat freiwillig bleiben. Es wird
dann erfolgen, wenn sich ein Markt für die so erzeugten
Produkte findet. Aber diesen Markt, dieses Verbraucherverhalten wollen zumindest wir nicht erzwingen. Unser
Staat braucht mündige Bürger und Verbraucher. Wir wollen sie nicht bevormunden. Deshalb kann es nur eine Entscheidung geben, nämlich die EU-Richtlinie eins zu eins
in nationales Recht umzusetzen. Wir werden deshalb dem
Antrag in allen Punkten zustimmen.
Vielen Dank.
({13})
Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Friedrich Ostendorff das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Antje Vollmer! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werter Herr Goldmann, zuerst einmal: Ich bin
Schweinehalter. Meine Schweine liegen im Sommer auf
Stroh, im Winter im Stroh. Das tun Schweine so. Kommen
Sie zu mir, gucken Sie sich das an. Da können Sie eine
Menge lernen.
Ich weiß nicht, wie viele Schweine Sie zu Hause halten, Frau Connemann. Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen versichern, dass meine Schweine die saubersten Tiere
sind, die ich auf dem Hof halte. Vielleicht - weil Sie sagten: Schwein bleibt Schwein - ist das bei Ihnen anders.
Es gibt einen weiteren Punkt, zu dem ich mich äußern
möchte: Heute haben hier viele Niedersachsen gesprochen. Ich bin zwar Westfale, besuche aber häufig mit Uwe
Bartels zusammen Veranstaltungen in Niedersachsen. Wir
kennen uns gut. Ich kenne auch das Land sehr gut.
Des Weiteren wurden Gerichtsurteile zitiert. Es gab darüber hinaus aber noch andere Gerichtsurteile. So hat das
Gericht in Arnsberg - jetzt müssen Sie zuhören, Herr
Goldmann! - in seinem Urteil festgestellt, dass das Land
Nordrhein-Westfalen sehr wohl das Recht hat, eine eigene
Landesverordnung zu erlassen bzw. einen eigenen Schweinehaltungserlass zu verfügen.
({0})
Es muss schlecht um die Umfragewerte der FDP bei
den Bauern und Bäuerinnen im Lande stehen, Herr
Goldmann.
({1})
- Lassen Sie mich weiterreden! Anders ist Ihr populistischer Antrag insbesondere im Zusammenhang mit der
Schweinehaltung nicht zu verstehen. Zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bauernverband ist zwar
noch keine Liebe entflammt, aber die Grüne Woche hat
doch wohl deutlich gemacht - das haben Sie sicherlich
auch mitbekommen -, dass die Zeit der plumpen Feindbilder endgültig vorbei ist.
({2})
Ministerin Künast hat für ihren Anstoß, über den Zusammenhang von Preis, Markt und Qualität zu reden, auf
der Grünen Woche zu Recht viel Lob von DBV-Präsident Sonnleitner bekommen. Zeitgleich haben in
Westfalen Bäuerinnen und Bauern mit Aktionen auf die
Problematik von Dumpingangeboten des Handels aufmerksam gemacht.
({3})
Die Bauern und Bäuerinnen ziehen mit der Politik an einem Strang. Das scheint dem Kollegen Goldmann und der
FDP Angst zu machen. Glauben Sie aber nicht, Herr Kollege, dass die Bauern und Bäuerinnen auf Ihre Inszenierung und billige Stimmungsmache hereinfallen werden!
Sie müssen sich schon mit der eigentlichen Materie der
Tiere befassen, wenn Sie sich Anerkennung in dem Berufsstand verschaffen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in Berlin an einer neuen nationalen Verordnung für die
Schweinehaltung.
({4})
Das oberste Ziel ist eine moderne und zukunftsfähige
Schweinezucht und -mast, die wir Bäuerinnen und Bauern den Verbraucherinnen und Verbrauchern jederzeit mit
gutem Gewissen vorzeigen können. Wir setzen dabei den
Tierschutz als Überschrift.
Landwirtschaftliche Ställe, die wir besser nicht öffnen,
fallen nicht nur im Berufsstand unten durch. Sie zerstören
auch das Vertrauen der Kunden und damit unsere Märkte.
Ställe, in denen sich die Tiere wohl fühlen, sind auch eine
Investition in den Markt. Deshalb will Rot-Grün mit dem
Bundesprogramm „Artgerechte Tierhaltung“ in Zukunft
auch für Schweine tiergerechte Stallbauten fördern.
({5})
Das machen uns aber auch die führenden Akteure auf
den internationalen Schweinemärkten, die Niederländer
und Dänen, erfolgreich vor. Die Niederländer haben besonders für die Schweinemast Vorschriften erlassen, die
weit über die EU-Norm hinausgehen. Die Dänen sind in
der Schweinehaltung bzw. in der Sauen- und Ferkelhaltung weit vorangegangen. Anders als bei uns wirbt dort
die Branche offensiv damit, dass die dänische Gesetzgebung deutlich über das allgemeine europäische Niveau
hinausgeht.
({6})
Im Vergleich zu den dortigen Regeln sind selbst die des
nordrhein-westfälischen Erlasses noch sehr zurückhaltend. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass diese offensive Strategie der dänischen Fleischwirtschaft geschadet hätte. Im Gegenteil: Sie war damit auch im deutschen
Handel sehr erfolgreich.
Ich möchte hier den Vorsitzenden des Zentralverbandes
der deutschen Schweinezüchter, Helmut Ehlen, zitieren:
Kürzlich bin ich sehr nachdenklich aus Dänemark
zurückgekehrt. Unsere Kollegen expandieren dort
weiter. Sie tun dies trotz vergleichbar hoher Umweltstandards und trotz schärferer Tierschutzbestimmungen.
Dieses Zitat zeigt nicht nur, dass in Dänemark schärfere
Gesetze gelten als bei uns, sondern auch, dass diese keineswegs investitionshemmend wirken.
Reden Sie nicht immer von Investitionsstau, meine
Damen und Herren von der FDP, sondern begreifen Sie
endlich die Chancen!
({7})
Die Dänen haben im Gegensatz zu Ihnen scheinbar früher
erkannt, dass der Markt diesen Weg will. Das sollte uns
ein Vorbild sein. Nach langen und heftigen Diskussionen
haben das auch die Bauernverbände in Nordrhein-Westfalen erkannt. Sie tragen den mit Ministerin Bärbel Höhn
ausgehandelten Kompromiss inzwischen mit.
Ich selbst habe in einer Arbeitsgruppe von Praktikern,
Ministeriums-, Kammer- und Verbandsvertretern mitgearbeitet, die von dem neuen schleswig-holsteinischen
Staatssekretär Peter Knitsch geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe hat für Nordrhein-Westfalen einen Schweinehaltungserlass für Mastschweine und Sauen erarbeitet,
in dem im Wesentlichen fünf Bereiche neu geregelt wurden:
Erstens. Es gibt mehr Tageslicht in den Ställen.
Zweitens. Der Stallboden darf nicht mehr ganz aus Betonspaltenboden bestehen, das heißt, es muss befestigte
Liegeflächen oder Auslauf geben.
Drittens. Schweine sind sehr neugierige und höchst
aktive Tiere. Um diesem Bewegungsdrang etwas besser
gerecht zu werden, müssen den Schweinen Beschäftigungsmöglichkeiten, zum Beispiel Strohraufen oder Spielketten, zur Verfügung gestellt werden.
Viertens. Wer einen neuen Stall bauen will, muss nachweisen, dass eine Arbeitskraft des Betriebs nicht mehr als
1 500 Schweine versorgt und betreut. Das sichert den Tieren eine Mindestbetreuung und bietet den Bauern, die sich
ordentlich um ihre Tiere kümmern, einen gewissen Schutz
vor der agrarindustriellen Produktion.
Fünftens. Der Platzanspruch für ein Schwein wurde
von 0,65 Quadratmeter auf rund 1 Quadratmeter - je nach
Größe - angehoben. Um es mit den Worten von Ministerin Höhn zu sagen: Drei Schweine in einem Normalbett
von 2 Quadratmetern sind eines zu viel. Eines muss raus.
Zwei Schweine sind genug.
Meine Damen und Herren, das Bundesministerium hat
intensive Gespräche mit Ministerien der europäischen
Nachbarländer geführt. Es gibt also eine enge Abstimmung, die der Wettbewerbsfähigkeit unserer Schweinehalter zugute kommen wird. Die EU verordnet Mindeststandards. Es wird deshalb sicherlich keine Verordnung
geben, in der die Standards so tief wie möglich angesetzt
werden. Denn das ist auf Dauer weder zum Wohle der
Tiere noch ökonomisch sinnvoll.
Die Verbraucher bestimmen die Nachfrage. Wenn Sie
ein Schwein zeichnen würden, würden Sie es mit Sicherheit mit einem Ringelschwanz malen. Der Ringelschwanz
und die „Steckdose“ sind die Erkennungszeichen des
Schweines. Wenn alle Haltungsbedingungen so toll
wären, wie von der FDP behauptet, warum sind dann weit
mehr als 90 Prozent der Schweineschwänze abgeschnitten, Herr Goldmann? Das heißt, die Tiere werden verstümmelt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
Ich bin sofort fertig. - Sie als Tierarzt, Herr Goldmann,
müssten doch wissen, dass diese Praxis etwas mit falschen
Haltungsbedingungen zu tun hat. Umgekehrt wäre es
richtig. Bisher gehen aber leider fast nur Neuland- und
Biobetriebe den anderen Weg.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Ställe den
Tieren anpassen, nicht die Tiere den Ställen. Wir vom
Bündnis 90/Die Grünen lehnen deshalb den Antrag der
FDP ab.
({0})
Zu einer Kurzintervention, bezogen auf eine bestimmte
Äußerung, erhält der Kollege Goldmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle zunächst einmal fest, dass Herr Bartels - meiner
Auffassung nach völlig zu Recht - gesagt hat: „Wir setzen eins zu eins um“, und dass Sie, Herr Ostendorff, sagen: „Wir wollen mehr als eins zu eins.“ Deswegen haben
sie 50 Millionen Euro für alternative Haltungsformen in
den Bundeshaushalt eingebracht.
Herr Kollege Goldmann, mir ist angekündigt worden,
Sie wollten sich auf eine bestimmte Äußerung beziehen.
Herr Ostendorff, Sie haben soeben behauptet, dass die
FDP mit ihrem Antrag Wählertäuschung betreibe
({0})
und es mit der Wahrheit nicht so genau nehme.
({1})
Herr Ostendorff, ich möchte Sie auf einen Vorfall gestern
im Ausschuss ansprechen. Ist Ihnen bekannt, dass die Sozialdemokraten in Niedersachsen ein Schriftstück verteilen, das von der Aufmachung her einem Bundestagsantrag
entspricht - ich habe es hier; es ist mit „Änderungsantrag“
überschrieben, mit einer Drucksachennummer versehen
und mit „Berlin“ sowie einer Namenszeichnung, der von
Franz Müntefering, unterschrieben -, in dem steht,
({2})
der Bundestag wolle beschließen -
Herr Kollege Goldmann, ich glaube nicht, dass sich
Ihre Ausführungen auf die Richtigstellung einer Äußerung beziehen.
Doch. Das ist der Vorwurf -
Der Punkt ist folgender: Sie haben einen Redebeitrag
gemacht. Wenn Sie einen Vorgang aus dem Ausschuss ansprechen wollen, dann hätten Sie das in Ihrer Rede tun
sollen. Sie dürfen nicht einfach Ihre Redezeit verlängern.
Es handelt sich um einen Sachverhalt, der sich im Ausschuss dargestellt hat. Herr Ostendorff hat soeben behauptet, wir würden Wahlbetrug betreiben. Ich stelle fest,
dass die Sozialdemokraten und das Bündnis 90/Die Grünen Wahlbetrug betreiben, weil sie in Niedersachsen ein
Schriftstück verteilen, das so aussieht wie ein Antrag, der
zum Steuervergünstigungsabbaugesetz gestellt wird.
({0})
Dies ist ein massiver, bösartiger Wahlbetrug. Denn die
gleichen Vertreter der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben gestern im Ausschuss einen Antrag, der genau das beinhaltet, was sie in Niedersachsen verteilen, abgelehnt. Das ist eine ganz böse Sache, die auf dem Rücken
der Bauern und des grünen Bereiches ausgetragen wird.
Ich bitte Herrn Ostendorff und Vertreter der SPD, dazu
Stellung zu nehmen, sich für diesen Vorgang zu entschuldigen und klipp und klar zu erklären, dass ein solcher Antrag wahrscheinlich gefälscht worden ist.
({1})
Auch ich denke, wir sollten darüber noch einmal sprechen. Denn Ihr Geschäftsführer, Herr Goldmann, hat mir
angekündigt, dass Sie sich gegen einen für Sie ungerechtfertigten Vorwurf wenden. Deshalb habe ich Ihnen das
Rederecht gegeben. Das hat sich jetzt aber offensichtlich
anders entwickelt.
({0})
Ich gebe jetzt dem Kollegen Ostendorff die Gelegenheit, darauf zu antworten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß
nicht, ob das eine Kurzintervention war. Ich denke, das
wird das Präsidium feststellen. Ich bitte darum. Ich
glaube, dass es keine war.
Ich habe nicht von Wahlbetrug gesprochen, sondern
von Nervosität bei der FDP. Wir werden das gleich im
Protokoll nachlesen können. Ich habe in Niedersachsen
keine Flugblätter verteilt. Ich denke, da müsste jetzt jemand anderes aufzeigen. Ich kenne dieses Flugblatt nicht.
({0})
- Herr Goldmann, überlassen Sie es mir! Ich werde es mit
Interesse lesen. Ich kenne es nicht. Ich kann dazu nichts
sagen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Bartels, bei uns zu Hause würde man sagen: Das
versteht kein Schwein. - Sie sind aus Niedersachsen hierher angereist und haben Ihre kostbare Wahlkampfzeit geopfert, dann aber die ganze Zeit zum Kollegen Goldmann
gesprochen, obwohl Sie sich mit ihm in der Sache im Wesentlichen einig zu sein scheinen. Sie hätten die Leute ansprechen müssen, die Sie überzeugen müssen: Ihre rotgrünen Unterstützer und vor allem die Ministerin Künast,
die uns hier mit Abwesenheit bestraft.
({0})
Meine Damen und Herren, schon der Schweizer
Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt wusste: Ideologie ist
Ordnung auf Kosten des Weiterdenkens. In kaum einem
anderen Bereich wird dies deutlicher als in der Agrar- und
Ernährungspolitik dieser Bundesregierung.
({1})
Mittels staatlicher Vorgaben versucht Ministerin Künast,
die in den letzten Jahrzehnten gewachsenen landwirtschaftlichen Strukturen tief greifend umzuwälzen, und verhindert so die positive Weiterentwicklung des ländlichen
Raums. Anstatt auf Konsens setzt die Bundesregierung auf
Konfrontation; anstatt Vernunft herrscht Ideologie.
Herr Minister Bartels, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu, dass wir die Tierhalter, dass wir die Bauern bei der
Entwicklung der Landwirtschaft mitnehmen müssen. Die
Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft aber macht genau das Gegenteil: Anstelle einer
praxisorientierten und ausgewogenen Politik steht ökologisch verblendeter Dogmatismus.
({2})
Gekonnt ignoriert die rot-grüne Bundesregierung dabei
den Sachverstand aller Experten und Landwirte.
Seit dem Legehennenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juni 1999 ist die Schweinehaltungsverordnung
als nichtig anzusehen. Seit dreieinhalb Jahren bedarf es
daher einer bundeseinheitlichen Regelung zur Haltung
von Nutztieren, doch wegen der verantwortungslosen
Untätigkeit der Bundesregierung existieren bis heute
keine einheitlichen nationalen Rahmenbedingungen für
die Haltung von Nutztieren.
({3})
Das haben Sie eben bestätigt, Herr Minister.
Um die Rechtslücke zu füllen, sind einige SPDregierte Bundesländer durch den Erlass eigener Verordnungen vorgeprescht, mit teils katastrophalen Auswirkungen
für die betroffenen Landwirte. Eben wurde bereits die abenteuerlich anmutende nordrhein-westfälische Schweinehaltungsverordnung erwähnt: Sie ist so praxisfern und
von so tiefer Unkenntnis geprägt, dass man darüber nur
den Kopf schütteln kann.
({4})
Um den Landwirten endlich Rechtssicherheit zu geben, muss die EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren
unverzüglich in nationales Recht umgesetzt werden. Jede
weitere Verzögerung bedroht bis zu 300 000 Arbeitsplätze
in der Wertschöpfungskette Schweinefleisch. Kollege
Goldmann, Kollegin Connemann und ich, die wir das angemahnt haben, kommen aus den Regionen, in denen die
Schweinehaltung mindestens so wichtig ist wie VW in
Wolfsburg.
({5})
Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, über welches Volumen wir sprechen: Hier geht es nicht um Peanuts;
das ist eine Branche mit einem jährlichen Umsatz von
20 Milliarden Euro. Wenn aufgrund der bei uns bestehenden Rechtsunsicherheit Produktionsverlagerungen ins Ausland stattfinden, dann greift das tief in den Wohlstand dieser Regionen ein. Zynischerweise führt es dazu, dass diese
Produktionen in Länder abwandern, in denen die Tiere von
den hohen deutschen Standards nur träumen können.
({6})
Jede weitere Verzögerung führt zu nachhaltigen Wettbewerbsnachteilen und zu nicht wieder gutzumachenden
Folgen für die Landwirtschaft und die gesamte Branche.
Bereits jetzt ist durch die Untätigkeit großer Schaden entstanden. Anhand der Baugenehmigungen können wir feststellen, dass eine große Zurückhaltung herrscht: Wer investiert schon in Anlagen, Maschinen und Geräte, wenn
er nicht weiß, ob er diese morgen oder übermorgen noch
gesetzeskonform betreiben kann?
({7})
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die
rot-grüne Verblendung und Anmaßung führen nicht nur
für die Landwirte zu Verzerrungen des ökonomischen
Wettbewerbs, sondern laufen auch den Interessen der
Umwelt, der Tiergesundheit und des Tierschutzes zuwider. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil dessen, was Sie
hier vorgeben erreichen zu wollen.
Die nun von der Ministerin angekündigte Verschärfung
der Haltungsbedingungen im nationalen Alleingang geht
allerdings noch weit über den herkömmlichen rot-grünen
Unfug hinaus. Es führt dazu, dass die Zukunftschancen
unserer Landwirte in schon bösartiger Weise mit Füßen
getreten werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben und uns wehren.
({8})
Wie jeder Unternehmer brauchen unsere Landwirte klare
Perspektiven für ihre Investitionen. Das kommt dann den
Menschen im ländlichen Raum, also den Landwirten,
aber auch den Menschen, die im vor- und nachgelagerten
Bereich arbeiten, sowie den Tieren und damit dem Tierschutz zugute. Wir brauchen keine arroganten Politiker
und keine arrogante Ministerin, die den Fachleuten etwas
vorschreiben wollen, sondern wir brauchen eine sachgerechte Politik.
({9})
Noch im Koalitionsvertrag haben Sie, meine Damen
und Herren von Rot-Grün, festgehalten, dass Sie eine leis1756
tungsfähige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft und
gleichzeitig einheitlich hohe Standards für den Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutz wollen. Was Sie jetzt auf
Bundesebene angekündigt haben, geht genau in die
falsche Richtung. Wir fordern daher, dass die EU-Richtlinie unverzüglich eins zu eins umgesetzt wird. Das dient
den Landwirten, der Umwelt und auch dem Wohl der
Tiere.
Herr Minister Bartels, wir haben im Niedersächsischen
Landtag 13 Jahre lang unsere Klingen kreuzen dürfen,
wenn ich das einmal so sagen darf. Sie haben - das darf
man ruhig einmal so festhalten - an der einen oder anderen Stelle größeren Schaden von unseren Landwirten und
dem ländlichen Raum abgewendet, aber - das muss man
genauso sagen - Sie haben auch an ganz entscheidenden
Stellen gekniffen. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, dass
beispielsweise Ihr Vorgänger, der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Funke, heute für gutes Geld bei landwirtschaftlichen Veranstaltungen die rot-grüne Bundesregierung beschimpft und dass Sie da, wo Sie meinen, das
geeignete Publikum zu haben, versuchen, die katastrophale Politik der rot-grünen Bundesregierung für den
ländlichen Raum schönzureden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Die Politik, die von der Ministerin Künast betrieben
wird, ist zum Schaden des ländlichen Raums, ohne dass
man mehr Tierschutz erreicht.
({0})
Deshalb hätten Sie allen Grund gehabt, das Ihren Parteigenossen einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
({1})
Herr Kollege, ich möchte Ihnen im Namen des Hauses,
wie das so üblich ist, zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
({0})
Weil es Ihre erste Rede war, war ich auch mit der Zeit etwas großzügiger. Allgemein gilt: Wenn die rote Lampe
leuchtet, heißt das, dass Ihre Redezeit überschritten ist.
Das als Hinweis für die Zukunft.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang
Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches
- Graffiti-Bekämpfungsgesetz - Drucksache 15/302 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich meinen Redebeitrag mit der Wiedergabe zweier
Zitate beginnen:
Erstens.
Damit komme ich zu einem weiteren Zitat, diesmal
aus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, nämlich
über das Sauerkraut der Witwe Bolte, „wovon sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“.
Zweitens.
Alle Jahre wieder kommt das Graffito auf die
Menschheit nieder und belästigt sie.
Das sind nicht etwa Passagen aus einer Büttenrede, wie
man annehmen könnte,
({0})
und auch nicht aus der Jungfernrede einer Kollegin oder
eines Kollegen, die ein besonders poetisch veranlagter
wissenschaftlicher Mitarbeiter aufgeschrieben hat; nein,
es sind Passagen aus einer Rede unseres Parlamentarischen Staatssekretärs im Justizministerium zur Debatte
über Graffitischmierereien am 20. Dezember letzten Jahres. Nachzulesen ist das im Plenarprotokoll 15/17 auf den
Seiten 1 352 folgende. Die einschlägige Passage von Ihnen, Herr Hartenbach, kann man auf Seite 1 358 nachlesen.
({1})
Ich sage das vor einem bestimmten Hintergrund. Zur
gleichen Zeit, am 20. Dezember, fand dazu auch eine
Debatte im Bundesrat statt. Dort hat Ihr Kollege von der
SPD, der Minister Wolfgang Gerhards aus NordrheinWestfalen - nicht „Gerhardt“ -,
({2})
gesagt, er freue sich sehr darüber, wie sachlich die Debatte
über Graffiti geführt werde. Er hat betont, wie wichtig es
sei, dass die Vorschriften über die Sachbeschädigung
ergänzt würden. Er hat erklärt, das könne und müsse jeder
eigentlich unterstützen. Das ist der Unterschied zwischen
der Sachlichkeit einer Debatte im Bundesrat und einer
Debatte mit den Mitgliedern der rot-grünen Fraktionen
hier im Deutschen Bundestag. Da fällt mein Blick natürlich auf wen? - Auf den Obergraffitischützer, Herrn
Ströbele.
({3})
Heute Morgen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen,
dass Sie diese Debatte als PR-Gag ansehen,
({4})
der kurz vor den Landtagswahlen noch einmal richtig
platziert werden müsste. Nach dem 2. Februar wird Ihnen
die Munition ausgehen, dann können Sie nicht mehr behaupten, der „Lügenausschuss“ oder diese Initiative zum
Graffiti fänden allein wegen der Landtagswahlen statt.
({5})
Schön wäre es gewesen, wenn Sie sich mit diesem Thema
sachlich auseinander gesetzt hätten.
Bisher wird immer sehr vollmundig gesagt, man müsse
etwas gegen Graffitischmierereien tun. Herr Bachmaier,
mein Blick fällt dabei auch auf Sie;
({6})
das ist ja auch leicht angesichts der Besetzung und der
rhetorischen Feuerwerke, die heute sicherlich noch gezündet werden. Sie haben gesagt, es bestehe kein signifikantes Bedürfnis, den Graffitischmierereien mit dem materiellen Strafrecht zu begegnen, weil - das ist wörtlich
in dem Plenarbericht nachzulesen - man bei diesem Katzund-Maus-Spiel der Täter gar nicht habhaft werden
könne.
({7})
Meine Damen und Herren, wenn die Frage der materiellen Strafbewehrung davon abhängen soll, ob man im Ermittlungsverfahren oder im Vollzug der Täter habhaft
werden kann, dann könnten Sie die Hälfte der materiellen
Straftatbestände streichen, Herr Ströbele. In einigen Fällen wäre Ihnen das wahrscheinlich ganz besonders lieb.
({8})
Herr Bachmaier, wenn Sie an anderer Stelle sagen, das
Strafrecht brauche man gar nicht und man könne diesen
Dingen mit der zivilrechtlichen Haftung begegnen, dann
muss ich Sie fragen: Wer soll als Zivilgeschädigter eigentlich dieser Täter habhaft werden? Soll denn der Eigentümer hinterherlaufen?
({9})
Oder liegt es nicht vielmehr im staatlichen Justizgewährungsanspruch, dass die Staatsanwaltschaft diesem Tatbestand in einem Ermittlungsverfahren mit den Vollzugsbeamten der Polizei nachgeht?
({10})
Das ist keine Frage des Zivilrechts.
Ein weiterer Einwand, den man immer wieder hört - das
hat zum Beispiel Herr Ströbele gesagt -, ist, dass Graffiti
auch jetzt schon nach § 303 StGB bestraft werde,
({11})
etwa wenn jemand mit der Sprühflasche die Wände des
Reichstags bemalt, weil die Wand so porös ist. Was ist
denn, wenn derjenige zehn Meter weiter geht und eine
glatte Wand besprüht? Dann ist es keine Sachbeschädigung mehr.
({12})
Meine Damen und Herren, man kann doch die Beurteilung der Frage, ob Graffiti Sachbeschädigung ist und unter den § 303 StGB subsumiert werden muss, nicht von
der Tiefenwirkung der Farbe, von der Beschaffenheit des
Untergrundes, vom Lösungsmittel und vom Aufwand der
Eigentümer, die dagegen vorgehen, abhängig machen.
({13})
Sie wenden immer wieder dagegen ein - Herr Ströbele,
Sie haben das in mindestens fünfzehn Zwischenrufen behauptet -, Graffiti sei Kunst.
({14})
Was würden Sie eigentlich sagen, wenn nachts um 3 Uhr
ein Geigenvirtuose bei Ihnen ins Haus kommt und Ihnen
auf der Geige „Fiddler on the roof“ vorspielt?
({15})
Selbst unter der Hand eines Künstlers darf das Unrecht
nicht zum Recht werden. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob diese Graffitischmierereien oder -malereien
künstlerisch oder ästhetisch besonders wertvoll sind. Sie
machen ja immer den Einwand, die Strafverfahren seien
so aufwendig, weil man Sachverständige hören müsse.
Darauf kommt es nicht an. Es kommt einzig und allein darauf an, ob sich der Eigentümer unter Wahrung seines
nach Art. 14 GG und § 903 BGB geschützten Eigentums
daran stört oder nicht.
({16})
Mit der Strafanzeige und dem Strafantrag hat der Berechtigte zu erkennen gegeben, dass das Erscheinungsbild sei1758
nes Eigentums in einer Art und Weise beeinträchtigt worden ist, die ihm nicht gefällt. Das - und nur das - ist das
geschützte Rechtsgut und muss in Zukunft durch die Erweiterung des § 303 StGB einem besonderen Schutz unterworfen werden.
Deshalb, meine Damen und Herren - Sie reden ja auch
noch, Herr Staatssekretär -, kann ich nur hoffen - jetzt ist
ja Weihnachten vorbei, aber die Faschingszeit fängt an -,
dass Sie Ihre Einlassungen weniger an Wilhelm Busch
und Witwe Bolte orientieren als vielmehr an der ständigen
Rechtsprechung, der Literatur und den Gesetzen dieses
Staates.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann
Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
Herr Gehb redet, muss man immer ein wenig Sorge haben, dass ihm etwas zustößt. Das ist ein größeres Problem.
({0})
- Sie dürfen alles. Das haben Sie aber nicht getan.
({1})
Lieber Herr Gehb, um es ganz kurz zu machen: Das,
was Sie gesagt haben, hat mit Ihrem Gesetzentwurf praktisch gar nichts zu tun. Das ist das Problem, mit dem Sie
sich herumzuschlagen haben. Dies hier ist schließlich
kein Wahlkampftermin.
Mit dem Kollegen van Essen bin ich einig, wenn er
fragt, warum wir eine solche Debatte innerhalb eines kurzen Zeitraumes zum zweiten Mal führen müssen. Offensichtlich haben Sie ein Profilierungsbedürfnis.
({2})
Es gibt kaum ein rechtspolitisches Thema, über das wir
im Parlament häufiger diskutiert haben - das muss man
sich einmal überlegen -, als über das der Graffitisprüherei. Erst in der vorletzten Sitzungswoche haben wir über
einen fast gleich lautenden Entwurf der FDP-Fraktion in
erster Lesung beraten. In Kürze werden wir uns mit einem
Entwurf des Bundesrates befassen, der sich allerdings in
einem nicht unwesentlichen Punkt von den beiden uns
vorliegenden Entwürfen unterscheidet. Darin wird nämlich vernünftigerweise auf den schillernden und zensurähnlichen Begriff der Verunstaltung verzichtet.
({3})
Im vergangenen Jahrhundert war Graffiti - darüber
habe ich mich in diesen Tagen von einem kunstsinnigen
Staatssekretär aufklären lassen - eine hoch angesehene
Richtung in der italienischen Malerei.
({4})
Heute allerdings ist es ein Ärgernis, wenn - Herr Gehb,
darin sind wir uns einig - bisweilen fast flächendeckend
Häuserwände, Brücken, Busse und Bahnwaggons besprüht werden.
Alle bisherigen Versuche, diese - vorwiegend von Jugendlichen zu verantwortenden - Aktivitäten einzugrenzen und zu bekämpfen, haben keine allzu großen Erfolge
gezeitigt. Seit Jahren wird uns nunmehr suggeriert, dass
eine Ergänzung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung - in den 80er-Jahren ging es um das Ordnungswidrigkeitenrecht - Abhilfe schaffen könnte. Dabei
sind bereits die weitaus meisten Fälle - das können Sie
nicht bestreiten - mit der geltenden Fassung des § 303 des
StGB zu ahnden.
({5})
- Schauen Sie in die Rechtsprechung!
({6})
Sie sollten deshalb nicht so tun, als würde eine Ergänzung des Sachbeschädigungstatbestandes das Problem
der Graffiti aus der Welt schaffen.
({7})
Wir wissen doch alle, dass die größte Schwierigkeit darin
besteht, die Täter überhaupt zu fassen. Das bleibt das
Hauptproblem. Schauen Sie sich doch die Aufklärungsrate an! Dann werden Sie ganz schnell merken, dass daran auch ein ergänzter Straftatbestand der Sachbeschädigung nichts ändern wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
({0})
Die Zwischenfragen des Herrn Bergner sind mir aus der
letzten Beratung bekannt. Er wird nachher selbst reden.
({0})
Ich habe eigentlich keine Scheu; Zwischenfragen beleben
die Reden. Ich möchte nur nicht ständig auf andere Punkte
gebracht werden; denn sonst bekomme ich Probleme,
meine Rede in der mir vorgegebenen Zeit zu beenden.
Wir sollten nicht so tun, als würde lediglich eine Ergänzung des Straftatbestandes Abhilfe schaffen.
({1})
Ein ergänzter Tatbestand der Sachbeschädigung wird daran nicht viel ändern. Wenn man die Täter erst einmal gefasst hat, kann man sie meist auch bestrafen
({2})
und sie dazu zwingen - das ist für die Eigentümer am
wichtigsten -, den angerichteten Schaden zu beseitigen.
Wir haben bereits anlässlich der Beratung des FDPEntwurfes deutlich gemacht - das sollten Sie nicht verschweigen -, dass wir durchaus bereit sind, den § 303
StGB so zu ergänzen, dass auch die geringe Anzahl der
Fälle, bei denen es sich nicht um eine Substanzverletzung
handelt, strafrechtlich erfasst werden kann.
Wir sind allerdings nicht bereit - auch das sage ich hier
klar und deutlich - den von Ihnen wiederum vorgeschlagenen Begriff der Verunstaltung in das Strafgesetzbuch
aufzunehmen. Dieser Begriff gibt den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten Steine statt Brot.
({3})
Ein Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung würde
dazu führen, dass sich die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte mit der Frage herumschlagen müssten, ob die jeweiligen Graffiti verunstaltender Natur sind
oder nicht. Dieser Begriff hat in unserem Strafgesetzbuch
wahrlich nichts zu suchen.
({4})
- Ja, aber in einem anderen Zusammenhang. Mein Gott!
({5})
Der Entwurf des Bundesrates verzichtet aus gutem
Grund auf diesen Begriff. Allerdings kommt auch der
Bundesrat nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus,
die einer weiteren Interpretation durch die Rechtsprechung bedürfen. Wenn wir also den Straftatbestand der
Sachbeschädigung ergänzen, sollten wir alles daran setzen, die bisherige klare Formulierung dieses Straftatbestandes nicht durch unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwässern.
Aber auch dann, wenn § 303 StGB entsprechend ergänzt wird, wird kein Täter mehr gefasst werden als heute.
Das sollten wir der Bevölkerung nicht verschweigen.
({6})
Entscheidend für die Bekämpfung von Graffitisprühereien sind vernünftige Präventions- und Strafverfolgungsmaßnahmen durch die Bundesländer. Wir sollten
den Menschen also nicht vorgaukeln, dass eine Ergänzung
des materiellen Strafrechtes alle Probleme in der Praxis
beseitigen würde.
({7})
Das tun Sie mit großer Vorliebe immer kurz vor Wahlen.
({8})
Wir werden noch in diesem Jahr zusammen mit Ihnen
nach einer sachgerechten Lösung suchen. Es wird leider
trotzdem Graffitischmierereien geben, wenn die Aufklärungsmethoden nicht verbessert werden.
({9})
- Regen Sie sich bitte nur in Maßen auf, lieber Herr Gehb.
Vielen Dank.
({10})
Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie
der Kollege Bachmaier habe auch ich mich sehr darüber
gewundert, dass wir heute diese Debatte führen müssen,
und zwar nicht deshalb, weil ich mich nicht über Graffitis
und die Verunstaltung unserer unmittelbaren Umgebung,
von Fahrzeugen und vielen anderen Dingen ärgern würde
- das tue ich genauso wie die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion -, sondern weil wir in der vorletzten Sitzungswoche hier eine, wie ich finde, gute Debatte zu diesem Thema hatten, in der wir wirklich alle Argumente ausgetauscht haben.
({0})
Wir sind hier doch ein oberstes Verfassungsorgan und
kein Tourneetheater, das immer das gleiche Stück aufführt.
Ich denke, dass dieses Haus Anspruch darauf hat, dass wir
bestimmte Dinge wie beispielsweise Würde wahren.
({1})
Dazu gehört, dass Debatten, die vor kurzer Zeit stattgefunden haben und wozu es praktisch keine neuen Argumente gibt, nicht neu geführt werden. Ich ärgere mich
wirklich sehr darüber.
Ich möchte mich aber auch in der Sache äußern. Die
Debatte in der vorletzten Sitzungswoche hat gezeigt
- da gebe ich dem Kollegen Bachmaier Recht; darüber
habe ich mich gefreut -, dass die Bundesregierung bereit
ist nachzudenken. Allerdings hat sie Kritik an unserem
und Ihrem Vorschlag geübt, den Begriff des Verunstaltens zu verwenden. Ich signalisiere hier aber sehr deutlich: Wenn wir tatsächlich dazu kommen, die vorhandene
Strafbarkeitslücke - auf die hat der Präsident des Oberlandesgerichtes Brandenburg in der letzten Woche ausdrücklich hingewiesen; wir sprechen also nicht über eine
Chimäre - gemeinsam zu schließen, dann bin ich damit
zufrieden.
Ich wehre mich allerdings gegen die vom Kollegen
Bachmaier wieder vorgetragene Kritik an dem Vorschlag
der FDP und auch der CDU/CSU, den Begriff des Verunstaltens ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das ist näm1760
lich kein neuer Begriff für das deutsche Strafgesetzbuch,
wie Sie tun.
({2})
§ 134 StGB enthält diesen Begriff bereits. Jeder kann einmal nachsehen, wie lange er dort schon vorkommt. Deshalb soll niemand so tun, als ob die FDP - wir haben den
Vorschlag zuerst gemacht - und nun auch die CDU/CSU
irgendeinen Begriff in das deutsche Strafgesetzbuch einführen wollten, der Richtern und Staatsanwälten Probleme machen würde. Diese hat es bei der Einführung des
§ 134 in das Strafgesetzbuch nicht gegeben und diese
würde es auch jetzt nicht geben.
Wir wollen - das will ich ganz deutlich sagen - ein klares politisches Signal, dass wir das Ganze nicht für Kunst
halten. Dass es mit Kunst wirklich nichts zu tun hat, zeigt
sich ganz deutlich am so genannten Scratchen von Fenstern. Das hat in Gegenden angefangen, in denen es
S-Bahnen gibt. Dabei wird natürlich überhaupt keine
Kunst produziert,
({3})
sondern schlicht und einfach ein Fenster zerstört. Genau
das gleiche Ziel wird auch mit den Graffitis verfolgt. Hier
geht es um pure Zerstörungslust, um pure Beschädigungslust.
({4})
Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das politische
Signal setzen, dass wir nicht bereit sind, das hinzunehmen; denn die Leidtragenden sind häufig Menschen, die
unter großem finanziellen Aufwand - sie leben nicht
unbedingt in rosigen finanziellen Verhältnissen - beispielsweise ihr Haus neu gestrichen haben und nach kurzer Zeit erleben müssen, dass ihr Haus in einer geradezu
unerträglichen Weise von Graffitisprayern beschädigt
worden ist. Ihnen fehlt dann häufig das Geld, das wieder
zu beseitigen.
Wir als FDP sagen dazu ein klares Nein. Wir wollen,
dass die entsprechenden strafrechtlichen Lücken geschlossen werden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich gestehe, dass auch ich das Problem habe, heute wieder zu demselben Thema wie vor 14 Tagen zu reden. Dies
muss wohl deshalb schon wieder sein, weil am Wochenende in Hessen und Niedersachsen Wahlen sind. Der zeitliche Zusammenhang ist so eindeutig, dass man ihn eigentlich gar nicht mehr benennen muss.
({0})
Sie sehen ja auch, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit an diesem im wahrsten Sinne des Wortes so spritzigen Thema in Grenzen hält.
Ich habe mir einen bekannten Strafrechtskommentar
mitgebracht, um der Sache einmal auf den Grund zu gehen.
({1})
Sie tun immer so, als ob das zehntausendfache Sprayen
und die Sachbeschädigungen in U-Bahnen sowie an öffentlichen und privaten Gebäuden von der Bundesregierung, die angeblich aus einer schwachen SPD und
({2})
einer grünen Partei, die so etwas gerne erhalten möchte,
besteht, einfach hingenommen würden, und sie deshalb
nicht zu Potte komme. Deshalb gebe es auch keine Gesetze und könne es immer so weitergehen.
({3})
Das Gegenteil ist wahr:
({4})
Schon heute wird das Zerkratzen von Fensterscheiben, das man in fast allen S-Bahnen von Berlin sehen
kann und über das auch ich mich immer sehr ärgere, mit
erheblichen Strafen bedroht.
({5})
In diesem Buch steht, dass dies mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu drei Jahren geahndet werden kann.
({6})
Dasselbe gilt grundsätzlich auch für das Sprayen.
({7})
Dass das Sprayen grundsätzlich strafbar ist, wenn
die Beseitigung einen erheblichen Aufwand erfordert,
wird mit unendlich vielen Zitaten aus der Rechtsprechung
belegt.
({8})
Das Sprayen ist heute schon - um bei dem Beispiel, das
ich in der Tat beim letzten Mal gebracht habe, um den Unterschied klar zu machen, zu bleiben - nicht nur dann
strafbar,
({9})
wenn es an der porösen Fassade des Reichstags geschieht,
sondern auch dann, wenn man zum Beispiel das äußere
Erscheinungsbild einer Sache ganz erheblich anders gestaltet, als das der Eigentümer will
({10})
- es ist egal, ob das ein öffentlicher oder ein privater Eigentümer ist -, und ein erheblicher Aufwand erforderlich
ist, um das wieder zu beseitigen.
Das Problem - an diesem reden Sie vorbei - ist, dass man
die Leute in aller Regel nicht fasst. Die Aufklärungsquote
ist regional unterschiedlich und liegt zwischen 10 und
35 Prozent. Hier kommen Sie mit Ihren Strafen nicht weiter.
Sie versuchen Signale zu setzen und so zu tun, als ob Sie mit
einer solchen Gesetzesergänzung oder einer neuen Gesetzesvorschrift dagegen ankämen. Das schaffen Sie leider
nicht. Sie träufeln den Leuten Sand in die Augen und tun wie
immer so, als ob Sie mit einer Gesetzesverschärfung gegen
solche gesellschaftlichen Phänomene angehen könnten.
({11})
Die Beseitigung dieser Zerstörungen und die Wiederherstellung der besprühten Fläche sind in der Tat sehr häufig nicht nur ein Ärgernis, sondern für die betroffenen Eigentümer und die öffentliche Hand mit erheblichen
Kosten verbunden. - Es handelt sich um einen mehrstelligen Millionenbetrag.
({12})
Das kann niemand wollen. Niemand kann dem Eigentümer oder der öffentlichen Hand zumuten wollen, dass das
Geld, das man in anderen Bereichen ganz dringend
benötigt, dafür ausgegeben wird.
Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass die Kinder
in Berlin einen Teil ihrer Schulbücher selbst bezahlen
sollen. Mit dem Geld, das jetzt für die Beseitigung der
durch das Sprayen entstandenen Schäden ausgegeben
wird, könnte man den Kindern ihr Schulmaterial auch in
Zukunft gratis zur Verfügung stellen.
({13})
Das kann nicht sein. Das will auch keiner. Auch die Grünen wollen das nicht.
Trotzdem, Herr Kollege van Essen, sind einige
Sprayereien Kunst. In Berlin - ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen - gab es ein riesiges Bauwerk, das wir alle
nicht haben wollten und bei dem wir froh waren, als es weg
war, nämlich die Berliner Mauer. Sie ist unendlich viel besprayt worden. Später wurden diese Werke, die darauf zu
sehen waren, in Kunstkalendern verbreitet. Auch ich habe
einen solchen Kalender bei mir im Büro hängen. In einzelnen Fällen war dies tatsächlich Kunst. Ich will diese Graffiti
nicht verteidigen, aber wir sollten vor der Tatsache, dass
auch Kunstwerke darunter sind, die Augen nicht verschließen. Das hat auch die Rechtsprechung so entschieden.
Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen van Essen?
Ja, es ist schön, mit ihm zu diskutieren.
Herr Kollege Ströbele, Sie haben gerade über Kunst
gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Deutsche Bahn,
die in besonderer Weise unter Graffitischmierereien zu
leiden hat, Graffitikünstlern Flächen zur Verfügung gestellt hat, um sie künstlerisch zu gestalten, aber dieses Angebot nicht angenommen worden ist? Offensichtlich hatte
man etwas ganz anderes vor, nämlich Sachbeschädigung
und nicht Kunst.
Nein, das stimmt nicht. Herr Kollege van Essen, mir ist
bekannt, dass viele öffentliche Stellen, nicht nur die Deutsche Bahn, sondern beispielsweise auch viele Bezirke in
Berlin, Sprayern Wände zur Verfügung gestellt haben.
Dass das nicht angenommen worden ist, ist nicht richtig.
Leider ist aber das sonstige Sprayen nicht viel weniger geworden.
Dazu will ich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe
viele Menschen verteidigt, die wegen solcher Vorwürfe vor
Gericht standen. Daher weiß ich, dass das Strafgesetzbuch
in solchen Fällen in aller Regel zur Anwendung kommt und
Strafen ausgesprochen werden. Warum sprayen diese
Leute? - Die meisten sprayen nicht, weil sie Kunstwerke
vollbringen wollen, sondern weil sie ihr Markenzeichen in
der Öffentlichkeit sichtbar machen wollen. Ich habe das
einmal mit Hunden verglichen. So wie diese ihr Markenzeichen an Bäumen hinterlassen, so wollen viele Sprayer
ihr Markenzeichen überall in der Stadt hinterlassen. Das
müssen wir nicht gut finden und auch nicht billigen. Aber
wir dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die
Graffiti dann, wenn eine zusätzliche Vorschrift ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird, weniger werden.
Das Interessante für viele dieser Sprayer ist leider das
Räuber-und-Gendarm-Spiel. Sie reizt das Verbotene.
Wir alle wollen das verhindern. Deshalb sollten wir uns
Gedanken darüber machen - diese Idee haben auch Sie
gehabt -, den Gutwilligen unter den Sprayern Ersatzflächen zur Verfügung zu stellen. Zudem müssen wir in
der Öffentlichkeit, gerade auch bei Schülern und jungen
Leuten, die so etwas machen, möglichst drastisch klar machen, dass durch die Beseitigung von Graffiti und die damit verbundenen Kosten eine anderweitige und sinnvollere Nutzung von öffentlichen Geldern verhindert wird.
Ich glaube, viele kann man überzeugen, nicht dort zu
sprayen, wo es unmittelbar beseitigt werden muss, weil
sonst der Gebrauchswert der Gegenstände wie bei U- und
S-Bahnen ganz erheblich vermindert wird.
All das wollen wir nicht. Wir wollen andere Wege gehen. Wir wollen schädliches Sprayen verhindern, aber
nicht immer mit dem Hammer des Strafgesetzbuches und
der Kriminalisierung.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Bergner
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ströbele, Sie haben diesen Antrag als einen PR-Gag
bezeichnet.
({0})
Als jemand, der lautstark plebiszitäre Elemente im
Grundgesetz fordert, sollten Sie für eine Massenpetition
aus meinem Wahlkreis, die folgenden Wortlaut hat, besondere Aufgeschlossenheit zeigen:
Die Unterzeichner fordern den Deutschen Bundestag
auf, die Regelungen des Strafgesetzbuches so zu ändern, dass unerlaubtes Besprühen oder Bemalen von
fremdem Eigentum, so genannte Graffiti-Tags und
andere, regelmäßig als Sachbeschädigung gelten und
damit als Straftat verfolgt werden können.
({1})
Diese Massenpetition, Herr Kollege Ströbele, liegt seit
über einem Jahr im Deutschen Bundestag und hat bisher
noch keine sachgerechte Behandlung gefunden.
({2})
Dies sage ich mit Hinweis darauf, dass offenbar auch der
Petitionsausschuss den Sachverhalt als im Rechtsausschuss noch nicht ausreichend diskutiert betrachtet.
Die Unterzeichner, zu denen ich gerne noch etwas sagen möchte,
({3})
hätten für alles Mögliche Verständnis, aber nicht dafür,
dass wir das Thema einfach liegen lassen. Vielmehr muss
es immer wieder aufgegriffen werden. Zu den Unterzeichnern, um auch dies klar zu sagen, gehören ehrenwerte Bürger der Stadt, aus der ich komme - Künstler,
Vertreter von Verbänden und Vereinigungen der Stadt -,
die vor allen Dingen ein Anliegen haben: dass wir uns mit
solchen Anträgen und einer solchen Debatte der Dimension der Problematik bewusst werden.
Die Dimension hat jetzt die Größenordnung einer gesellschaftlichen Herausforderung erreicht. Die gesellschaftliche Herausforderung lautet aus der Sicht dieser
Unterzeichner: Bleibt der Anblick einer Stadt so etwas
wie das Gemeingut seiner Bürgerinnen und Bürger oder
fällt er unter das Faustrecht einer Minderheit, die sich mit
gemalten Albträumen an jeder sichtbaren Fläche verewigen möchte? Dieses Anliegen macht deutlich, dass es hier
nicht nur um die Einzelbelange eines Hauseigentümers,
sondern um die Frage geht, wie ernst wir den Umstand
nehmen, dass wir über Denkmalschutzgesetze, über Sanierungs- und Gestaltungssatzungen der Kommunen,
über bauaufsichtliche Vorgaben und über die Berufung
von Gestaltungsbeiräten gemeinschaftlich versuchen, das
Bild einer Stadt in einem Prozess konsensualer Meinungsbildung zu einer besonderen Ausprägung zu bringen, und dann eine Horde von Spraydosenvandalen
kommt und diesen Anblick in einer einzigen Nacht zunichte macht. Mit diesem Problem haben wir uns auseinander zu setzen.
({4})
Aus meiner Sicht wird die Dimension des Problems in
der Frage deutlich, ob der Staat bereit und in der Lage ist,
diese Willkürhandlung gegen die Gemeinschaft einer
städtischen Bürgerschaft mit einer zweifelsfreien Antwort des Strafrechts zu unterbinden und zu verfolgen.
({5})
Herr Ströbele, ich weiß nicht, von welchen Aufklärungsquoten Sie sprechen. Ich habe Zahlenangaben
aus der Stadt Halle, die besagen, dass polizeiliche Aufklärungsquoten in einzelnen Jahren durchaus bei 70 Prozent lagen. Aber die Erfolgsquote bei der strafrechtlichen Verfolgung ist aufgrund der Zweifelhaftigkeit der
Strafrechtsregelung so erbärmlich, dass inzwischen auch
diejenigen, die die Ermittlungen zu betreiben haben, frustriert und nicht mehr motiviert sind, diesen Dingen wirklich nachzugehen.
({6})
Strafrechtliche Verfolgung wird auch derjenige für unentbehrlich halten, der begriffen hat - auch dafür gibt es
Belege -, dass diese Graffitisprühereien oft genug Einstiegs- und Wegbereitungsdelikte für Vandalismus und
kriminelles Handeln sind.
Herr Kollege Bergner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Bitte schön, Herr Ströbele.
({0})
Herr Kollege, können Sie mir sagen, in welchen Jahren
die Aufklärungsquote in der Stadt Halle bei Graffiti oder
anderen Sachbeschädigungen 70 Prozent betragen hat
und in wie vielen Fällen Täter zweifelsfrei festgestellt
worden sind, es aber nicht zu einer Verurteilung gekommen ist, weil angeblich die Vorschriften des Strafgesetzbuches nicht ausreichen?
Herr Kollege Ströbele, ich bin gern bereit, Ihnen die
Zahlen zu liefern, die wir bei einer Anhörung im Mai 2000
in der Stadt Halle zur Kenntnis bekamen. Damals wurde
uns von der Polizei erklärt, dass wir mit einer Aufklärungsquote von bis zu 70 Prozent rechnen könnten und
dass insgesamt drei Tatverdächtige tatsächlich verurteilt
worden seien. Mit einem solchen Verhältnis haben wir es
zu tun.
Ich habe noch keinen Polizisten erlebt - die Polizisten
bemühen sich bei diesen Ermittlungen ja beträchtlich -,
der, wenn er nicht das Gefühl hat, für den Papierkorb zu
arbeiten, nicht mit demselben Nachdruck, mit dem ich es
über Jahre tue, an dieser Stelle eine Strafrechtsverschärfung fordert.
({0})
- Die Motivlage ist völlig eindeutig.
Herr Kollege Ströbele, mir macht aber Sorgen - hier
stehen wir in der Gefahr der Bagatellisierung; auch dies
haben über Jahre geführte Gespräche mit der Polizei ergeben -, dass wir es mit einem Einstiegs- und Wegbereitungsdelikt zu tun haben. Das Kratzen geschieht
dort, wo man Sorge hat, dass die Sprayereien leicht abzuwaschen sind. Nach dem Kratzen kommt das Zertrümmern und nach dem Zertrümmern kommen weiter gehende Sachbeschädigungen.
({1})
Herr Kollege Ströbele, Folgendes hat mich in den Jahren, in denen ich mich mit diesem Problem beschäftige,
nachdenklich gemacht: Inzwischen gibt es eine Szene das betrifft sicherlich nur eine Minderheit des Täterkreises -, die hoch organisiert ist. Als wir unsere Bemühungen im Internet präsentierten, sind wir durch einen Link
auf eine Seite gestoßen - die Internetadresse ist
www.halle.crime.de; inzwischen habe ich ähnliche Seiten
gefunden -, auf der Sprayer die Hauswände, auf die sie
ihre Tags gesetzt haben, wie Trophäen ausstellen. Außerdem werden in einem Vorspann die Sicherungsbemühungen der Polizei in einer solch zotigen Weise verhöhnt,
dass ich mich scheue, das in diesem Hohen Hause zu zitieren. Auch so etwas fordert aus meiner Sicht, dass der
Staat beim Strafrecht eine eindeutige Antwort nicht schuldig bleiben darf.
({2})
Zum Abschluss möchte ich noch sagen: Die Strafrechtsverschärfung ist nur ein Teil eines Handlungskonzepts. Ich selbst habe mich um die Gründung eines
Vereins bemüht, der beispielsweise versucht, eine zivilrechtliche Entscheidung über die Anerkennung der Säuberung von Denkmälern als gemeinnütziges Anliegen
herbeizuführen und darüber finanzielle Hilfe zu bekommen. Nur, wenn immer Sie so etwas tun, werden Sie feststellen: Allein mit bürgerschaftlichem Engagement lässt
sich dieses Problem nicht lösen. Der Staat ist gefordert,
mit dem Strafrecht eine zweifelsfreie Antwort zu geben.
Um eine solche Antwort sollten wir uns bemühen; denn
die Resignation der Bürger - das erlebe ich leider in den
Stadtteilen, in denen unbesprühte Wände zur Seltenheit
geworden sind - führt zu Wegzug und Verslumung ganzer
Stadtteile. Insofern stehen wir hier vor einer grundsätzlichen Entscheidung. Ich kann nur dazu auffordern, dass
wir dem Anliegen, das mir in den letzten Jahren in einer
ostdeutschen Großstadt vermittelt wurde, gerecht werden,
und zwar in seiner ganzen Dimension.
Danke schön.
({3})
Herr Kollege Dr. Bergner, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach
das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehb, ich zitiere heute einmal
nicht Wilhelm Busch, sondern beginne mit Karl Valentin,
damit ich Ihren Wissensschatz noch ein bisschen erweitere. Karl Valentin hat gesagt: „Es ist alles gesagt, aber
noch nicht von allen.“ Ich möchte zu dem Gesetzentwurf,
den Sie heute vorgelegt haben, sagen: Es ist alles gesagt,
und zwar von allen.
({0})
Wir diskutieren heute über das Gleiche wie schon in
der letzten Legislaturperiode oder wie vor fast sechs Wochen. Nun zitiere ich Goethe: „Getretener Quark wird
breit, nicht stark.“ Vor gut einem Monat haben wir alle Argumente ausgetauscht. Sie erwecken heute trotzdem wieder den Eindruck, dass mit dem Begriff der Verunstaltung das Problem in den Griff zu bekommen ist.
({1})
Sie befinden sich ein weiteres Mal auf dem Holzweg.
({2})
Beim Lesen Ihres Gesetzentwurfes bekommt man den
Eindruck, Farbschmierereien und Graffiti würden nur
selten vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst und
seien aus diesem Grunde regelmäßig straflos. Wir alle
wissen, dass das so nicht stimmt. Wenn Graffitisprayer
gefasst werden, können sie in vielen Fällen wegen Sachbeschädigung verurteilt werden. Ich weiß im Gegensatz
zu Ihnen, Kollege Bergner, als Staatsanwalt und Richter,
dass das so ist. Für eine Verurteilung reicht schon aus,
dass die Substanz der besprühten Fläche durch die Reinigung geringfügig beschädigt wird.
Ich habe die Aussage eines Berliner Malermeisters
bei einer Sachverständigenanhörung im Jahre 1999
noch sehr gut in Erinnerung. Dieser Malermeister hat
gesagt, der heute handelsübliche Außenputz sei bei
Farbschmierereien nur durch Abschleifen und damit nur
durch eine Verletzung der Substanz zu beseitigen. Damit haben wir es mit dem Tatbestand der Sachbeschädigung zu tun.
({3})
Es ist deshalb nicht redlich, wenn Sie immer wieder so
tun, als klaffte hier eine Gesetzeslücke und als genügte
ein Federstrich des Gesetzgebers, um sämtlichen Farbschmierereien bis in alle Ewigkeit ein Ende zu bereiten.
Nicht die Rechtslage ist das Problem bei der Graffitibekämpfung, sondern die Schwierigkeit, die Täter zu fassen. Wenn Täter nicht ermittelt werden können, dann können sie nicht bestraft werden. An diesem Problem werden
alle Eingriffe in das materielle Strafrecht nichts ändern.
Vorrangig ist es deshalb - gerade aus jugendpolitischer
Sicht -, eine wirksame Prävention sicherzustellen. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
Herr Gehb, ich zitiere aus der „Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen“ - Ort ist Hofgeismar, wo ich
einmal Amtsrichter war -:
„Das war ein gutes Beispiel von Zivilcourage. Darauf sind wir angewiesen, um unsere Ermittlungsarbeiten auch zum Erfolg zu führen.“ Gerhard Wöhrl,
Erster Hauptkommissar und Leiter der Polizeistation
in Hofgeismar, spricht von einer Zeugin aus Immenhausen,
- da wohne ich die der Polizei einen entscheidenden Hinweis gegeben hat.
Der Artikel schließt folgendermaßen:
Um diese Straftaten aber aufklären zu können, sollten die Bürger Mut beweisen und ihre Beobachtungen melden. Wöhrl: „Es ist nicht damit getan, die Augen zu schließen oder gleichgültig weiterzugehen,
wenn man etwas gesehen hat.“
Sicherlich kann man über eine Gesetzesänderung
nachdenken, um auch die wenigen Fälle zu erfassen, die
ausnahmsweise einmal nicht die Voraussetzungen der
Substanzverletzung erfüllen. Der Begriff des Verunstaltens ist - auch das hat bereits die Sachverständigenanhörung im Jahre 1999 ergeben - als Grundlage für eine
Ausdehnung der Sachbeschädigungsdelikte aber nicht geeignet. Er ist in diesem Zusammenhang für einen Strafrechtsbegriff zu stark an ein ästhetisches Werturteil gebunden. Der Kollege Bachmaier hat unsere Haltung dazu
ausgeführt. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen. Vor
allen Dingen möchte ich Staatsanwälten und Richtern
nicht zumuten, dass sie sich zu Kunstsachverständigen
machen müssen.
({4})
Herr van Essen, der Einwand, dass der Begriff des Verunstaltens bereits im Strafgesetzbuch existiert, greift zu
kurz.
({5})
- Hören Sie zu! § 134 StGB, der damit gemeint ist, hilft
für unseren Fall nicht weiter. Dort geht es um den Schutz
der öffentlichen Wirksamkeit amtlicher Kundmachungen.
Die Missachtung des dienstlichen Schriftstücks steht im
Vordergrund und nicht die Frage, ob die Veränderung als
ästhetisch gelungen erscheint oder nicht.
({6})
Anders wäre es bei dem Tatbestand der Sachbeschädigung. Dort würde das Moment der Ästhetik für den Begriff des Verunstaltens eben nicht von vornherein als unbeachtlich angesehen werden können.
({7})
Ich verstehe deshalb nicht, weshalb die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP am Begriff des Verunstaltens hängen.
Das eigentliche Problem ist doch nicht die Frage
({8})
- hören Sie doch einmal zu! -, ob Graffiti uns oder den
Richtern und Staatsanwälten gefallen oder nicht. Das Ärgernis für den konkreten Eigentümer oder den Berechtigten ist doch die nicht unerhebliche Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache, also der Hauswand oder
was auch immer, gegen seinen Willen. Wir sollten deshalb
darüber nachdenken, ob wir den Tatbestand der Sachbeschädigung in diese Richtung rechtsstaatlich einwandfrei
weiterentwickeln können.
Verehrter Kollege Gehb, wenn Sie das Protokoll meiner Rede vom 20. Dezember 2002 richtig gelesen hätten,
dann hätten Sie festgestellt, dass ich schon zu diesem
Zeitpunkt das Gleiche gesagt habe. Wir werden uns auf
diesen Weg begeben. Wenn das geschehen ist, sind,
meine Damen und Herren von der Union, die von der
CDU oder von der CSU regierten Länder am Zuge, ordnungsgemäße Polizeivorschriften zu finden, um Graffiti
zu verhindern.
Ich möchte zum Schluss kommen. Danach bin ich fertig und ich bedanke mich, dass mir Herr Gehb so gut zugehört hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Zu Ihrem Gesetzentwurf ist im Grunde schon in der
Bibel alles gesagt. Nun müssen Sie dem ehemaligen
Theologiestudenten auch noch gestatten, dass er die Bibel
zitiert. Im Buch Daniel, in Kapitel 5, Vers 25, wird wohl
zum ersten Mal in der Weltliteratur ein Graffiti erwähnt.
Da steht:
Mene mene tekel - gezählt, gezählt, gewogen und zu
leicht befunden.
Das gilt auch für Ihren Gesetzentwurf.
Danke schön.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/302 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 31. Januar 2003, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.