Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet!
Zunächst möchte ich dem Kollegen Ernst Hinsken zur
Vollendung seines 60. Geburtstages am 5. Februar und
dem Kollegen Rainer Eppelmann, der am 12. Februar
seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hauses
nachträglich herzlich gratulieren.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung für
Ganztagsschulen
2. Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu den Antworten
der Bundesregierung auf die dringliche Frage in Drucksache 15/419
3. Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen
internationalen Lage
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger,
Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze, Volker Kauder und
der Fraktion der CDU/CSU: Europa und Amerika müssen
zusammenstehen - Drucksache 15/421 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanzen dauerhaft stärken - Drucksache 15/433 6. Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Hans-Joachim Otto ({1}), Dr. Andreas Pinkwart,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Finanzplatz
Frankfurt stärken - Drucksache 15/369 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Wimmer ({2}), Walter Riester, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin Dagmar GöhringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter
bekämpfen - Internationalen Druck auf die Regierung
Simbabwes aufrechterhalten - Drucksache 15/428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Ulrich
Heinrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Gemeinsame europäisch-afrikanische
Initiative zur Lösung der Krise in Simbabwe starten - Drucksache 15/429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens ({5}) - Drucksache 15/371 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ferner sollen die Beratung des Jahreswirtschaftsberichts mit dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates
auf Freitag, 9 Uhr, verschoben werden und der Tagesordnungspunkt 10 - EU-Agrarreform - abgesetzt werden.
Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Michael
Meister, Otto Bernhardt, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU zur Aufhebung des Vermögensteuergesetzes
- Drucksache 15/196 überwiesen:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Präsident Wolfgang Thierse
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
ZP 3 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler
zur aktuellen internationalen Lage
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert
Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze,
Volker Kauder und der Fraktion der CDU/CSU
Europa und Amerika müssen zusammenstehen
- Drucksache 15/421 Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Über den Antrag
und den Entschließungsantrag werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({7})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland trägt Verantwortung, Verantwortung im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus, Verantwortung für die Durchsetzung einer bedingungslosen Abrüstung des Irak, Verantwortung für den Frieden. Deutschland trägt diese Verantwortung gemeinsam mit den
anderen Staaten der Vereinten Nationen und an dieser Verantwortung für den Frieden halten wir unbeirrt fest.
({0})
Deutschland steht zu seinen Bündnispflichten in der
NATO.
({1})
Wenn ein Partner angegriffen wird, dann werden wir ihn
verteidigen.
({2})
Das haben wir bewiesen - nicht erst, aber vor allem - als
es um die Zustimmung zur Operation Enduring Freedom ging, und das haben wir bewiesen, als wir diese Operation verlängert haben. Das wird so bleiben.
Mir kommt es darauf an, dass den Bürgerinnen und
Bürgern unseres Landes, aber auch den Partnern in der
Welt klar wird: 10 000 Frauen und Männer der Bundeswehr sind mittlerweile an internationalen Einsatzorten
- auf dem Balkan, in Afghanistan - stationiert, um Menschen dort Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Dafür
gebühren diesen Soldatinnen und Soldaten unsere Hochachtung und - mehr noch - unser tief empfundener Dank.
({3})
Aber wir tun auch unsere Pflicht für den Frieden und
für die friedliche Entwaffnung des Irak. Gemeinsam mit
Frankreich, mit Russland und mit anderen unternimmt die
Bundesregierung alle Anstrengungen, um den Konflikt im
und um den Irak auf friedlichem Wege zu lösen. Das ist
möglich und darum kämpfen wir!
({4})
Ich füge hinzu - dies sage ich klar und deutlich unseren
Bürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren amerikanischen Freunden -: Das verstehe ich unter meiner Verantwortung als Bundeskanzler.
({5})
Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen das, was man aus guten
Gründen die asymmetrische Bedrohung unserer Welt
nennt, erfordert nach wie vor die höchste Aufmerksamkeit.
Wir können und wir müssen diesen Kampf gewinnen: im
Interesse der Sicherheit der Menschen und des Friedens in
der Welt. Vor dem Hintergrund dieses Interesses wollen
wir ihn gewinnen. Wir haben ihn aber keineswegs bereits
gewonnen. Auch wenn die Auseinandersetzung gegenwärtig durch andere gewiss wichtige Themen überlagert wird,
ist zu sagen: Diese Bedrohung besteht fort und sie muss in
den Mittelpunkt der politischen Anstrengungen, die wir
miteinander auf uns nehmen, gestellt werden.
({6})
Auch das gilt es zu erwähnen: Das ist der Grund dafür,
dass unsere Special Forces, also unsere Spezialtruppen,
übrigens Seite an Seite mit den Amerikanern, in Afghanistan gegen den internationalen Terrorismus kämpfen.
({7})
Am Montag dieser Woche haben die deutschen Soldaten zusammen mit den niederländischen in Kabul das
offizielle Kommando über die ISAF-Schutztruppe der
Vereinten Nationen übernommen. Auch das muss in die
deutsche Öffentlichkeit: Bis zu 2 500 Soldaten werden
dort ihre Arbeit leisten; und sie leisten sie gut. Ohne
Deutschland würde in diesem so schwierigen Gebiet sehr
viel weniger gehen.
({8})
Weil das so ist, will ich, dass wir das unserem Volk, aber
auch unseren Partnern in der NATO und in den Vereinten
Nationen selbstbewusst sagen.
({9})
Wenige NATO-Mitglieder leisten, was wir leisten. Das
darf nicht vergessen werden!
({10})
Mit der Entsendung dieser Soldaten haben wir als Regierung, aber auch als Abgeordnete des Deutschen Bundestages gegenüber den Betroffenen und ihren Angehörigen eine große Verantwortung übernommen. Unsere
Bevölkerung und die Menschen in aller Welt haben ein
Recht darauf, zu wissen: Wir werden uns die Entscheidung über militärische Gewalt und die Entsendung von
Truppen niemals leicht machen. Das war so und das muss
so bleiben.
({11})
Wir werden niemals einen Zweifel daran lassen, dass wir
solche Entscheidungen, die für jeden von uns zu den
schwierigsten gehören, die man sich vorstellen kann, auf
der Grundlage fester Prinzipien treffen. Diese Prinzipien
sind universell; von ihnen lassen wir uns in unserem Handeln, aber auch in unseren Bündnissen leiten: Prinzipien
der Freiheit, des Friedens und des Rechts. Es wird und es
muss aber auch deutlich werden, dass wir diese Entscheidungen souverän, das heißt in unserer Verantwortung, zu
treffen haben.
({12})
Die Bundesrepublik - auch das gilt es in aller Welt klar
zu machen - hat in einem Maße internationale Verantwortung übernommen, wie es vor einigen Jahren kaum
vorstellbar gewesen wäre: Verantwortung auf dem Balkan, vor allen Dingen aber auch Verantwortung nach den
verheerenden Terroranschlägen des 11. September 2001
in New York und Washington.
Den deutschen Beitrag, um den Frieden zu erhalten,
gegen diese asymmetrische Bedrohung zu kämpfen und
die Regionen in der Welt, die besonders bedroht sind, zu
stabilisieren, haben wir seit 1998 verzehnfacht: von
200 Millionen Euro im Jahr auf 2 Milliarden Euro im
Jahr 2002. Niemand in Deutschland muss sich angesichts
dieser enormen Leistungen verstecken und niemand muss
sein Licht unter den Scheffel stellen.
({13})
Deutschland stellt heute nach den Vereinigten Staaten
von Amerika das zweitgrößte Truppenkontingent in
internationalen Einsätzen zur Sicherung und Wahrung des Friedens. Insgesamt haben seit 1998 mehr als
100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in solchen
Einsätzen ihr Leben und allemal ihre Gesundheit riskiert.
Wir haben immer gewusst, dass es zu dieser Politik der
Solidarität keine Alternative geben konnte und vor allen
Dingen keine geben durfte.
Solidarität, wie wir sie geleistet haben und nach wie
vor leisten, schafft aber auch das Recht, ja die Pflicht, zu
differenzieren.
({14})
Dass angesichts der fortbestehenden Gefahr durch den internationalen Terrorismus, etwa der al-Qaida, alle Maßnahmen und Entscheidungen auch daraufhin überprüft
werden müssen, ob sie dem Kampf gegen diesen Terrorismus nützen oder schaden, das sollte für uns alle selbstverständlich sein.
Das gilt auch bezogen auf die aktuelle Irakkrise. Wer
diese Krise mit militärischen Mitteln lösen will, muss eine
Antwort auf die Frage haben, ob das die weltweite Allianz
gegen den Terrorismus, der auch mehr als 50 überwiegend
muslimische Nationen angehören, voranbringt oder ob es
diese Allianz gefährden und vielleicht sogar sprengen
könnte; denn das hätte verheerende Folgen für den Kampf
gegen den internationalen Terrorismus.
({15})
Noch etwas anderes muss bedacht werden, wenn man
in dieser Situation verantwortungsvoll reden und entscheiden will. Ich will ein Beispiel nennen, das mich bewegt,
weil ich Schwierigkeiten habe,
({16})
die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu erklären,
nämlich Nordkorea. Kein Zweifel, in Nordkorea herrscht
ein diktatorisches Regime. Es gibt keinen Zweifel daran,
dass Nordkorea über Anlagen zur Herstellung atomarer
Sprengköpfe verfügt. Die Vereinigten Staaten sagen sogar, so jüngst ihr Sicherheitschef, dass es dort bereits atomare Sprengköpfe gibt. Es besteht kein Zweifel, dass
Nordkorea über Trägersysteme verfügt, die diese Sprengköpfe in Ziele bringen können. Die Wahrscheinlichkeit,
dass man dort in der Lage ist, atomare und biologische
Waffen herzustellen, ist groß.
Dieses Land hat die internationalen Inspektoren des
Landes verwiesen und dieses Land erhält für eine friedliche Lösung der Krise das Angebot eines Dialogs, im
Einklang mit dem internationalen Recht.
({17})
- Ich bin mit einem solchen Dialogangebot einverstanden.
({18})
Schauen wir uns jetzt den Irak an; denn da liegt mein
Problem. Der Irak wird ohne Zweifel von einem Diktator
beherrscht, den jeder von uns lieber heute als morgen loswürde, gar keine Frage.
({19})
Der Irak verfügt definitiv über keine atomaren Waffen und
definitiv über keine weit reichenden Trägersysteme, die das,
was er nicht hat, in Ziele bringen könnten. Es gibt Hinweise
darauf, dass der Irak in der Lage sein könnte, andere Massenvernichtungsmittel herzustellen. Deshalb haben wir gesagt - darin liegt die innere Begründung -: Die Inspekteure,
die dort arbeiten, müssen weiter arbeiten können. Wir müssen wissen, ob der Irak über Waffen verfügt und über welche. Wir müssen dafür sorgen, dass Waffen, wenn er über
solche verfügt, im Einklang mit der Resolution 1441 vernichtet werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben.
({20})
Wir haben immer klargemacht, dass die Politik der
Bundesregierung eine Friedenspolitik ist. Das gilt für den
Wiederaufbau in Afghanistan wie auch für unsere
Bemühungen - darin dürfen wir nicht nachlassen - um
dauerhaften Frieden und dauerhafte Sicherheit im Nahen
Osten. Die vornehmste Aufgabe internationaler Politik
ist, Kriege zu verhüten. Daran orientieren wir uns.
({21})
Keine Realpolitik und keine Sicherheitsdoktrin dürfen
dazu führen, dass wir uns gleichsam schleichend daran
gewöhnen, Krieg als normales Mittel der Politik
({22})
oder, wie es einmal gesagt worden ist, als die Fortsetzung
der Politik mit anderen Mitteln zu begreifen. Nein, wer
militärische Gewalt anordnet, der kann das nur auf der Basis ganz bestimmter Prinzipien und Möglichkeiten tun,
die in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten
sind.
({23})
Wir wissen: Auch als letztes Mittel der Konfliktlösung
unterliegt die Anwendung militärischer Gewalt strengsten
Beschränkungen. Ausnahmen bilden namentlich die
Selbstverteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff, wie es in der Charta heißt, oder
die vom Sicherheitsrat mandatierte Abwehr einer unmittelbaren schweren Gefahr für den internationalen Frieden.
In diesem Sinne hat sich das Völkerrecht in einem über
Jahrhunderte währenden Prozess herausgebildet. Die Satzung der Vereinten Nationen beruht auf diesem Grundsatz
des Gewaltverbots.
Übrigens, treibende Kraft dabei waren immer wieder
die Vereinigten Staaten von Amerika; denken wir an Namen wie Wilson oder Roosevelt. Kern dieses Prozesses ist
das Prinzip, die Stärke des Rechtes an die Stelle des
Rechts des Stärkeren zu setzen.
({24})
Ungeachtet aller aktuellen Meinungsverschiedenheiten
ist dies das gemeinsame Wertefundament, das uns fest mit
unseren amerikanischen Freunden verbindet. Die transatlantische Freundschaft war nie eine eng oder egoistisch verstandene Zweckgemeinschaft. Sie ist und sie
bleibt eine Wertegemeinschaft. Diese Wertegemeinschaft
kann auch bei gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten
in ihrer Substanz nicht berührt werden.
({25})
Deutsche und Amerikaner verbindet längst nicht mehr
nur die Dankbarkeit, die wir für die Befreiung von der
Nazidiktatur und die Chance für den demokratischen
Wiederaufbau empfinden. Nein, uns verbindet mehr. Uns
verbindet eine kulturelle Zusammengehörigkeit, die weit
in den Alltag unserer Völker hineinreicht. Und uns eint
eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt und der
Verfolgung gemeinsamer Ziele beruht und in der wir deshalb zu unterschiedlichen Meinungen kommen und dies
ertragen können.
({26})
Wir streiten heute nicht um Details der Sicherheitspolitik, nicht um vordergründigen strategischen oder ökonomischen Nutzen. Wir streiten übrigens auch nicht über
Sein oder Nichtsein der NATO. Es geht uns darum, ob
Willensbildung multilateral bleibt. Bei dieser Frage geht
es auch um die gegenwärtige, vor allem aber um die künftige Rolle Europas, und zwar des ganzen Europas. Dass
dieser Kontinent, dieses unser Europa, ohne engste Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland
seine Rolle nicht spielen kann, war immer eine gemeinsame Erkenntnis in diesem Hause.
Mir scheint, dass die Union vor dem Hintergrund der
aktuellen Probleme und Meinungen bereit ist, diese fundamentale Position aus taktischen Gründen aufzugeben.
Würde das der Fall sein, dann wäre das schlimm für Europa und schlimm für Deutschlands Interessen in Europa.
({27})
Kein Zweifel, heute stellt sich die Frage der Verantwortung, von der ich gesprochen habe, vor allen Dingen
in der Golfregion. Ebenso wenig kann ein Zweifel daran
bestehen, dass verantwortlich dafür das Regime in Bagdad ist, über dessen Natur sich niemand - aber auch wirklich niemand - Illusionen macht. Wir haben also dafür zu
sorgen, dass der Irak die Hindernisse ausräumt, die das
Regime einer friedlichen Entwicklung und der Herrschaft
des Rechts entgegenstellt. Wir unterstützen daher vorbehaltlos die Forderungen der internationalen Gemeinschaft
nach einer bedingungslosen Abrüstung des Irak und nach
seiner vollen und aktiven Kooperation mit den Waffeninspekteuren.
({28})
Der Weltsicherheitsrat hat in seiner Resolution 687 im
April 1991 als Ziel und Rahmen eine ausgewogene und
umfassende Rüstungskontrolle in der Region und die Einrichtung einer von Massenvernichtungswaffen freien
Zone im Nahen und Mittleren Osten verbindlich festgeschrieben - wohlgemerkt, in der gesamten Region. Die
dem irakischen Regime aufgegebene Abrüstung ist demnach nur ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel,
das der Sicherheitsrat definiert hat. Durch seine wiederholten Verstöße gegen UN-Resolutionen steht der Irak
bisher diesen Zielen im Wege. Das ist der Grund, warum
der Weltsicherheitsrat in seiner Resolution 1441 vom
8. November 2002 einstimmig beschlossen hat, dass der
Irak lückenlos Bericht zu erstatten und verbliebene Potenziale an Massenvernichtungswaffen vorbehaltlos und
nachprüfbar abzurüsten hat.
Diese Resolution trägt Deutschland mit. Wir haben aktiv an ihrer Umsetzung mitgewirkt. Wir haben Personal,
Ausrüstung und Informationen - und zwar vollständige Informationen - für die Waffeninspekteure bereitgestellt. Wir
unterstützen die Resolution 1441 und ihr Ziel als Mitglied
und derzeitiger Vorsitzender des Weltsicherheitsrates.
Genauso klar ist: Diese Resolution enthält keinen Automatismus zur Anwendung militärischer Gewalt - keinen Automatismus!
({29})
Wenn die Vorsitzende der CDU, wie sie das bei der Münchener Sicherheitskonferenz getan hat, das Gegenteil behauptet, dann irrt sie. Wenn sie dabei bleibt, dann führt sie
die Menschen in die Irre.
({30})
Die letzte Mission der Inspekteure in Bagdad hat, nach
allem, was wir bisher wissen, durchaus zu Fortschritten
geführt. Die Inspekteure, die morgen dem Weltsicherheitsrat erneut Bericht erstatten werden, haben nie einen
Zweifel am notwendigen Umfang ihrer Mission gelassen.
Unsere Verantwortung ist es, diese Inspekteure zu befähigen, ihre Aufgabe erfolgreich zu Ende zu bringen.
Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit Frankreich und Russland, die von China unterstützt wird und
auf der Linie weiterer Mitglieder des Sicherheitsrats liegt,
betont haben, muss es darum gehen, sämtliche Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Konfliktes auszuschöpfen.
({31})
Das bedeutet: Die Inspektionen müssen fortgesetzt und
ausgeweitet werden.
Meine Damen und Herren, wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, dass tief greifende Veränderungen oft
nur durch langfristige Prozesse erreicht werden können.
Das glückliche Ende des Kalten Krieges ist eben auch ein
Erfolgsbeweis für die Politik der Eindämmung und der
Abschreckung. Ohne dass je eine militärische Option zu
Gebote gestanden hätte, konnten am Ende die Ziele von
Freiheit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit erreicht werden.
({32})
Entscheidend war in diesem Prozess das beharrliche Eintreten für unsere Werte und Prinzipien im Rahmen des
Bündnisses.
Auch damals gab es mitunter Meinungsverschiedenheiten und vielen, die damals dabei waren, ist das auch
sehr wohl bewusst. Aber genauso wie heute stand die
prinzipielle Einigkeit im Ziel einer freiheitlichen, friedlichen Ordnung unseres Kontinents nie infrage. Auch
heute bekennen wir uns ausdrücklich zu unseren Bündnisverpflichtungen und nehmen sie auch wahr.
Das Bündnis hilft Partnern, die in Gefahr sind. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf die Türkei, die sich auf
unsere Solidarität bei einer Gefahrenabwehr jederzeit verlassen kann.
({33})
Ich möchte auch sagen: Den Forderungen innerhalb der
NATO, die in dieser Hinsicht erhoben worden sind, haben
wir tatsächlich längst entsprochen. So habe ich schon im
Dezember öffentlich zugesagt - daran darf kein Zweifel bestehen; gelegentlich ist er aus anderer Richtung geäußert
worden -, dass die deutschen AWACS-Besatzungsmitglieder für den Schutz des Bündnisgebietes, damit auch für den
Schutz der Türkei, zur Verfügung stehen. Ich habe zugleich
darauf hingewiesen, dass es keine direkte oder indirekte Beteiligung an einem Krieg geben wird, und dabei bleibt es.
({34})
Zusammen mit den Niederlanden stellen wir der Türkei das modernste Gerät zur Raketenabwehr zur Verfügung, das es in Europa zurzeit gibt, nämlich die PatriotSysteme. Übrigens: Wir haben diese Systeme auch nach
Israel geliefert. Ich denke, wir sind uns jedenfalls insoweit
einig, dass das eine notwendige und richtige Entscheidung gewesen ist.
Hinzu kommt - auch das müssen wir unseren Partnern
gelegentlich sagen -: Soldaten der Bundeswehr beschützen seit Ende Januar amerikanische Kasernen, Flugplätze und Einrichtungen. Etwa 1 000 deutsche Soldaten sind bereits für diese Aufgaben eingesetzt und es
werden deutlich mehr werden. Auch aufgrund der Tatsache, dass wir diese Leistungen erbringen, halten wir mit
unseren Freunden aus Frankreich und Belgien einen
förmlichen Beschluss darüber vor den Erörterungen des
Sicherheitsrates für nicht angemessen
({35})
und haben uns im Einklang mit unseren Partnern in Frankreich genau so verhalten.
({36})
Für uns steht die Solidarität mit der Türkei und die Solidarität in der Allianz außer Frage; doch wir halten - anders als die Opposition - die Aktionseinheit mit Frankreich gerade in der jetzigen Situation für unverzichtbar.
Wir sagen daher deutlich: In der deutschen Politik kann es
niemals darum gehen, diese Solidarität mit Frankreich
aufzukündigen.
({37})
Wir alle wollen die Entwaffnung des Irak. Unterschiedlicher Meinung sind wir hinsichtlich der Wahl der
Mittel zur Durchsetzung und der Zeitvorstellung zur Erreichung des Ziels.
Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister
hat im Weltsicherheitsrat darauf hingewiesen, dass
während der Inspektionen von 1991 bis 1998 nachweislich mehr Massenvernichtungswaffen im Besitz des Irak
abgerüstet worden sind als während des gesamten Golfkrieges. Es spricht also alles dafür, dass kontrollierte
Abrüstung und wirksame Inspektionen ein durchaus taugliches Mittel zur Beseitigung der Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, sind.
({38})
Wer angesichts dessen heute einer militärischen Option
den Vorzug gibt, muss glaubhaft machen, dass es keine
Alternative zum Krieg gibt. Die Bundesregierung - ich
sage es bewusst noch einmal - ist gemeinsam mit Frankreich, Russland, China und zahlreichen anderen Staaten
ausdrücklich nicht der Meinung, dass es keine friedliche
Alternative gibt. Es gibt eine und wir kämpfen darum, sie
zu realisieren.
({39})
Ebenso wie unsere europäischen Partner und die Vereinigten Staaten wollen wir dazu beitragen, auch im Nahen Osten eine dauerhafte und stabile Friedensordnung zu
schaffen. Dazu gehört die Sicherheit Israels ebenso wie
ein unabhängiger, lebensfähiger und demokratischer
Staat der Palästinenser.
({40})
Eine militärische Auseinandersetzung im Irak würde nach
unserer Einschätzung diesen Prozess nicht erleichtern,
sondern deutlich verlängern und deutlich erschweren.
Eine militärische Konfrontation und die Besetzung des
Irak würden im Übrigen die Reform- und Dialogbereitschaft in islamischen Ländern vermutlich weiter blockieren und die Gefahr terroristischer Anschläge deutlich erhöhen.
Wenn ich - und mit mir der Außenminister - so leidenschaftlich dafür kämpfe, dem Frieden eine Chance zu
geben
({41})
- Sie werden das heute schon noch erleben; seien Sie da
ganz sicher -,
({42})
dann geschieht das eben auch aus Sorge um die Folgen für
die Region und aus Sorge um die Folgen für Israel. Eine
neue Welle des Kamikazeterrors mit seinen entsetzlichen
Opfern unter dem israelischen Volk und als Folge der Vergeltungsschläge auch unter dem palästinensischen Volk
müssen gerade wir vermeiden helfen.
({43})
Einer der wesentlichen Gründe, warum es den Vereinigten Staaten und uns nach dem 11. September 2001 gelungen ist, eine breite Koalition gegen den Terror zu
schmieden, war die Ablehnung der Idee, es könne sich um
einen Kampf der Kulturen oder um einen Feldzug des
Westens gegen den Islam handeln.
({44})
Wenn wir jetzt den Prozess der Abrüstung des Irak und der
politischen Befriedung für gescheitert erklärten, würden
wir, befürchte ich, Fanatikern, die diese Konfrontation der
Kulturen herbeipredigen und mit ihren schändlichen Attentaten auch herbeibomben wollen, Zulauf und Bestätigung bescheren.
Dagegen beharren wir auf der Integrität einer jeden Zivilisation gegen die Gewalt von Terroristen und auf der
Überlegenheit einer Friedensordnung des Rechts. Gerade
deshalb ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, jeden Stein
wirklich zweimal umzudrehen, um eine friedliche Lösung
zu erreichen. Das ist die Position der Bundesregierung
und ihrer Partner.
({45})
Die Alternative heißt eben nicht: Krieg oder Nichtstun.
Wer den Krieg ablehnt, ist nicht zum Appeasement verdammt. Unser unmittelbares Vorgehen orientiert sich im
Wesentlichen an fünf Punkten:
Erstens. Die Resolution 1441 enthält keinen Automatismus zur Anwendung militärischer Gewalt. Vordringliche Aufgabe ist es, sämtliche Mittel zur friedlichen Konfliktlösung auszuschöpfen und in ihrer Anwendung zu
optimieren.
Zweitens. Irak muss umfassend und aktiv mit dem
Weltsicherheitsrat und den Waffeninspektoren kooperieren. Wir brauchen eindeutige Klarheit über Massenvernichtungsmittel des Irak und, so es sie gibt, über deren
endgültige Abrüstung.
Drittens. Die Entscheidungskompetenz über den Fortschritt der Inspektionen und über sämtliche Konsequenzen liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Viertens. Entscheidendes Instrument für die Beseitigung verbotener irakischer Rüstungsprogramme ist und
bleibt ein wirksames Inspektions- und Verifikationsregime. Es muss ausgebaut und den Erfordernissen entsprechend verstärkt werden.
Fünftens. Unser Ziel ist es, dauerhafte Strukturen für
die Eindämmung von vom Irak ausgehenden Gefahren
sowie für Abrüstung und Stabilität in der gesamten Region zu schaffen.
Der französische Außenminister hat am 5. Februar im
Weltsicherheitsrat Vorschläge gemacht, die auf die Schaffung eines effektiveren Inspektionsregimes abzielen.
Diese Vorschläge hat Frankreich inzwischen weiter konkretisiert. Im Kern geht es darum, die Zahl der Inspektoren zu verdoppeln oder zu verdreifachen, ihre Ausstattung
mit technischem Material, Infrastruktur und speziell qualifiziertem Personal aufzustocken und zu diversifizieren
sowie die Koordinations-, Aufklärungs- und Eingriffsmöglichkeiten der Inspektoren zu präzisieren und zu verstärken. Diese Vorschläge werden von der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt.
({46})
Parallel dazu arbeiten wir gemeinsam mit Frankreich
und anderen Partnern an Vorschlägen zur friedlichen,
vollständigen und dauerhaften Abrüstung. Diese Vorschläge beinhalten unter anderem die dauerhafte Überwachung einschlägiger Anlagen und wirksame Kontrol1878
len des Exports, aber auch des Endverbleibs kritischer
Güter unter Einbeziehung vor allem - aber durchaus nicht
nur - der Anrainerstaaten.
Inspektionen und Kontrollen sollten auch dazu führen,
dass wir Erkenntnisse über den Handel mit verbotenen
Kampfstoffen und Komponenten sowie Erkenntnisse
über die entsprechenden Vertriebswege zum weltweiten
Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln wirksam nutzen können. Vor allem die Anrainerstaaten des Irak müssen stärker als bisher eingebunden
werden. Die explosive Lage in der Region sowie die dort
vorhandenen Waffenpotenziale erfordern eine umfassende Kooperation. Wir dürfen und wollen die Nachbarstaaten des Irak und seine Partner in der Arabischen Liga
nicht aus ihrer Verantwortung für eine friedliche Lösung
entlassen.
({47})
Ich hoffe, es ist sichtbar: Wir stellen uns unserer Verantwortung für den Erhalt des Friedens. Es kann nicht verkehrt
sein, selbst für die allergeringste Friedenschance auch außergewöhnliche Anstrengungen auf sich zu nehmen.
({48})
Diese Einschätzung wird im Übrigen auch von der Mehrheit unserer europäischen Nachbarn sowie von der Mehrheit
der Sicherheitsratsmitglieder geteilt. Auch aus diesem
Grunde unterstützen wir den Vorschlag der griechischen
EU-Präsidentschaft zur Einberufung eines Sondergipfels
am kommenden Montag. Ich denke, dass wir es schaffen
müssen - wie es Anfang Februar auch die 15 europäischen
Außenminister geschafft haben -, zu einer gemeinsamen
europäischen Position zurückzukommen.
({49})
Deutschland ist bereit, alle Mittel, die wir für ein nachhaltiges, verschärftes Inspektionsregime zur lückenlosen
Abrüstungskontrolle mobilisieren können, zur Verfügung
zu stellen.
Welches die besten Mittel sind, werden wir in enger
Absprache mit den Inspekteuren und mit unseren Partnern im Sicherheitsrat beraten. Dabei sind wir fest davon
überzeugt: Es gibt noch Alternativen; es ist nicht zu spät,
die Entwaffnung des irakischen Regimes friedlich zu erreichen. Nicht nur im Sicherheitsrat, nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch im Bundestag, hier im
Hohen Hause, werden wir uns weiter um eine breite
Mehrheit für eine gemeinsame Position in dieser Hinsicht einsetzen.
({50})
Darüber hinaus, meine Damen und Herren, haben auch
die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Freunde
und Verbündeten nach wie vor einen Anspruch darauf,
von uns eine Antwort darauf zu erhalten, ob wir uns an einer Militäraktion beteiligen oder nicht. Diese Bundesregierung hat diese Frage mit Nein beantwortet und dabei
bleibt es.
({51})
Vor allem aber wollen die Bürgerinnen und Bürger
- sie müssen darauf vertrauen und sie können darauf vertrauen -, dass wir alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um den Frieden auch in jener Region stabiler zu
machen, um eine friedliche Lösung des Konfliktes zu erreichen. Ich will nicht akzeptieren, dass es nur darum
geht, Krieg zu führen mit den Freunden oder dem Frieden
eine Chance zu geben ohne sie. Wir können den Irak entwaffnen ohne Krieg.
({52})
Diese Chance zu nutzen verstehe ich als Inhalt meiner
Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({53})
Gewiss - ich weiß darum -, es gibt auch in unserem
Land eine Koalition der Willigen für einen Krieg. Nach
den Erklärungen aus jüngster Zeit gehört die CDU/CSU
dazu.
({54})
- Das haben Sie doch gesagt. - Denen, die die Chancen,
die ich erläutert habe, nicht nutzen wollen, setzen wir mit
der Mehrheit in unserem Volk den Mut zum Frieden entgegen.
({55})
Dieser Mut zum Frieden ist das Mandat von Rot-Grün,
das uns am 22. September 2002 gewährt worden ist. Und
exakt an dieses Mandat werden wir uns halten, meine Damen und Herren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({56})
Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute
schauen Millionen Menschen in Deutschland auf uns und
hören dieser Debatte zu. Sie machen sich Sorgen, ob wir,
die Politiker - egal ob Regierung oder Opposition -, unser Land durch eine schwierige Zeit, insbesondere durch
den Irakkonflikt und durch den Kampf gegen den Terrorismus mit Klugheit und Weisheit führen können.
Die Menschen in diesem Lande wollen keinen Krieg.
({0})
Diejenigen, die in diesem Saale sitzen, wollen auch keinen Krieg.
({1})
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wie sehr Sie innerlich unter Druck stehen, hat man schon an der Lautstärke
Ihrer Stimme gemerkt.
({2})
Dass Sie es aber nötig haben, die Opposition dieses Hauses als Kriegstreiber zu verleumden,
({3})
zeigt, in welcher Ecke Sie stehen. Aus dieser Ecke werden
Sie nicht herauskommen können.
({4})
Wer als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland den Eindruck erweckt, irgendjemand würde sich die
Entscheidung über Krieg und Frieden leicht machen und
die letzte Chance aus der Hand geben, der, sehr geehrter
Herr Bundeskanzler, hat nicht erfasst, worum es geht.
({5})
Ich sage Ihnen: Sie sind seit Wochen auf einem Irrweg.
Das Schlimmste ist - das sage ich mit großem Ernst; das
ist meine feste Überzeugung -, dass insbesondere Ihr Verhalten auf dem Marktplatz von Goslar den Krieg im Irak
leider nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht hat; denn Sie haben den Druck auf Saddam
Hussein verringert.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen war ich in München und weiß, was
ich gesagt habe. Niemand hat behauptet, dass es aufgrund
der Resolution 1441 einen Automatismus der Gewalt
gibt.
({7})
Sie haben es auf dem Marktplatz von Goslar aber für notwendig erachtet, der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, dass
Sie unter gar keinen Umständen - Ihnen ist es also egal,
was die Inspekteure herausfinden und worum sie bitten bereit sind, dafür zu sorgen, dass die Resolution 1441 mit
letzter Konsequenz umgesetzt werden kann.
({8})
Das ist der Dissens und um den drücken Sie sich herum.
({9})
Nun versuchen Sie mit zum Teil abenteuerlichen, dilettantischen Mitteln, über größere deutsche Zeitungen
aus dieser Ecke wieder herauszukommen.
({10})
Sie müssen sich einmal vorstellen, was in München abgelaufen ist. Dort standen ein Außenminister, der von
nichts wusste, und ein Verteidigungsminister, der gesagt
hat, dass wir durch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers am heutigen Donnerstag über die Blauhelme informiert werden. Fehlanzeige, Herr Bundeskanzler! Davon habe ich nichts gehört.
({11})
Des Weiteren waren dort eine Verteidigungsministerin aus
Frankreich, die erstaunt geguckt hat, ein portugiesischer
Verteidigungsminister und ein amerikanischer Verteidigungsminister, mit denen natürlich auch niemand gesprochen hat, anwesend. Das ist das, was wir kritisieren. Herr
Bundeskanzler, ich glaube, wir tun dies zu Recht.
({12})
Krieg zu vermeiden ist ein richtiger Wunsch. Die Politik ist ihm verpflichtet. Ich sage aber auch: Sie vermengen
die Dinge. Sie selber stehen angeblich dazu, dass die
NATO eine Wertegemeinschaft ist.
({13})
Sie selber wollen die Position der UNO stärken. Es ist
doch ganz natürlich, dass es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten gibt. Ich kann Ihnen im Übrigen sagen,
dass ich mit den Amerikanern viele Verhandlungen über
Klimaschutzabkommen geführt habe.
({14})
- Entschuldigung, wenn Sie vor lauter Selbstverliebtheit
nicht mehr außer Landes kommen, wird man doch noch
davon berichten dürfen, wie man mit den Amerikanern
verhandelt hat.
({15})
Herr Bundeskanzler, wir streiten hier über die Frage:
Wie kann ich in einer Gemeinschaft von Freunden, denen
ich mich durch gemeinsame Werte verpflichtet fühle, einen möglichst großen Teil meiner eigenen Vorstellungen
umsetzen? Das kann ich nicht dadurch, dass ich Dinge
verkünde, ohne mich abzusprechen, und Teilbündnisse
schließe, ohne andere zu informieren.
({16})
Damit schwäche ich die Europäische Union, die NATO,
die UNO, den Sicherheitsrat und die Arbeit der Inspekteure.
({17})
Weil Sie sich so verhalten haben, wie Sie sich verhalten haben, haben Sie außenpolitischen Schaden angerichtet. Wenn ich von Schaden spreche, können Sie sicher
sein, dass ich mir das gut überlegt habe. Ich erinnere an
eine Gemeinsamkeit von Konrad Adenauer über Willy
Brandt und Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, die sich
jenseits aller innenpolitischen Auseinandersetzungen immer einem Ziel verpflichtet gefühlt haben: Nie wieder
Krieg! Das heißt in der Umsetzung: Nie wieder ein deutscher Sonderweg!
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie versuchen den Eindruck zu
erwecken, Sie seien mit Frankreich und anderen Ländern
einer Meinung.
({19})
Der große Unterschied ist, dass sich der Präsident der
Französischen Republik seinen diplomatischen Handlungsspielraum erhalten hat. Sie haben Ihren aufgegeben
und damit Deutschland in eine gewichtslose Klasse hineingeführt, die nicht mehr das bewegen kann, was sie eigentlich bewegen müsste.
({20})
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb gestern:
({21})
Deutschland ist in einer Sackgasse angekommen und
hat, anders als Frankreich oder Russland, keine Hintertüren offen. Solange Schröder in Berlin regiert,
({22})
wird Washington ihn als Gegner sehen, in Paris und
London gilt er als überambitionierter Amateur.
({23})
Herr Bundeskanzler, Sie können die „Süddeutsche Zeitung“ in Ihrer Parteitagsdiktion nicht als Helfershelfer der
Opposition bezeichnen. Deshalb rate ich Ihnen: Nehmen
Sie diese Worte ernst! Wenn es nicht um so viel ginge,
dann wäre die Sache mit dem „überambitionierten Amateur“ sogar zum Lachen. Aber es geht hier nicht um eine
ganz normale Auseinandersetzung, sondern um das Verhalten Deutschlands in der Zukunft und damit um weit
mehr als nur um einen Konflikt.
Ich sage Ihnen sehr persönlich: 1990, als wir in Frieden
und Freiheit die deutsche Einheit in Übereinstimmung mit
Frankreich, Russland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien erhalten haben, als ein Kollege aus Ihren Reihen, Markus Meckel, genauso in die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen wie viele andere eingebunden war, haben wir
uns nicht träumen lassen, dass Deutschland heute einen
Beitrag dazu leistet, dass Bündnisse geschwächt werden und die transatlantische Partnerschaft gegen die
deutsch-französische Freundschaft ausgespielt wird.
({24})
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich mache bei diesem Spiel nicht mit.
({25})
- Das ist allerdings sehr ernst. Ich war bisher gegenüber
dem Bundeskanzler sehr freundlich.
Dass es der Bundeskanzler wagt, zu behaupten, dass
wir das Verhältnis zu Frankreich infrage stellen, um die
transatlantische Partnerschaft zu pflegen, ist eine Ungeheuerlichkeit. Ich kann es Ihnen auch auf diese Art und
Weise sagen.
({26})
Herr Bundeskanzler, seit dem Bundestagswahlkampf
schüren Sie sehr subtil einen bestimmten Antiamerikanismus.
({27})
Sie haben im Wahlkampf festgestellt: Mit mir sind Abenteuer nicht zu machen. Was soll das bedeuten? Mit wem
auf dieser Welt sind Abenteuer zu machen?
({28})
Der Senator McCain hat auf der Sicherheitskonferenz
in München - die Sie vielleicht besser auch besucht hätten, Herr Bundeskanzler - sehr deutlich darauf hingewiesen, dass er es ernst nimmt, wie eine große Zahl von Menschen in Deutschland denkt.
({29})
- Auch in Europa. - Derselbe Senator hat uns eindringlich
gebeten, unsererseits ernst zu nehmen, in welcher psychologischen Situation sich die Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika befinden.
({30})
Sie befinden sich nach dem 11. September in einer Phase,
in der sie bedroht und angegriffen werden. Ich rate uns
allen dringend, gemeinsam - ich betone: gemeinsam - im
Bündnis nach Lösungen zu suchen, statt Sonderwege zu
beschreiten.
({31})
Herr Bundeskanzler, wer entscheidet eigentlich über
die Legitimität von Wünschen? Sie sind dem Wunsch
der Amerikaner umgehend nachgekommen - ich unterstütze das -, deutsch-amerikanische Einrichtungen in
Deutschland zu schützen. Warum kommen Sie dem
Wunsch der türkischen Regierung, ihr Land bzw. Ihren
Bündnispartner zu schützen, nicht nach, und zwar an
dem Tage - ({32})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständlichen Erregung bei diesem uns sehr bewegenden
Präsident Wolfgang Thierse
Thema bitte ich Sie doch sehr darum, der Rednerin zuzuhören und die Zwischenrufe auf ein Minimum zu beschränken.
Die amerikanische Regierung hat die deutsche Regierung gebeten, ab Ende Januar amerikanische Einrichtungen in Deutschland zu schützen. Die türkische Regierung
hat ihre NATO-Partner gebeten, umgehend Patriot-Raketen zum Schutz der Türkei zu senden. Warum kommen
Sie diesem Wunsch nicht nach,
({0})
sondern meinen, selbst den Zeitpunkt bestimmen zu müssen, zu dem die Türkei ein Recht auf diese Unterstützung
hat? Das ist die Frage, auf die Sie keine Antwort gegeben
haben.
({1})
Ich zitiere:
Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und
Solidarität unserer amerikanischen ... Freunde und
Partner die Folgen zweier Weltkriege überwinden
konnten, um zu Freiheit und Selbstbestimmung zu
finden, haben nun auch eine Verpflichtung, unserer
neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden.
Das schließt - und das sage ich ganz unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen
Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein.
({2})
Herr Bundeskanzler, das waren Ihre Worte nach dem
11. September.
({3})
Aber heute weigern Sie sich, die Legitimation der UNO
anzuerkennen,
({4})
Resolutionen, die sie selbst verabschiedet hat, im Ernstfall auch wirklich durchsetzen zu können. In diesem
Punkt widersprechen wir Ihnen energisch, Herr Bundeskanzler.
({5})
Die Geschichte des Irak - auch das vermisse ich ({6})
ist die Geschichte eines immerwährenden Verstoßes gegen die Resolutionen der Weltgemeinschaft. Sie haben heute nur über die Anteile gesprochen, die Ihnen in
den Kram passen, Herr Bundeskanzler. Der Angriff des
Irak auf Kuwait ist von der UN mit einer Resolution beantwortet worden, die zum Schluss mit militärischen
Mitteln durchgesetzt wurde. Damals haben Sie Plakate
mit der Aufschrift „Kein Krieg für Öl“ geklebt. So haben Sie damals die UN-Resolution missachtet. Deshalb
stelle ich fest: Sie haben an dieser Stelle nichts dazugelernt.
({7})
Es ist doch nicht so, dass die Weltgemeinschaft aus heiterem Himmel dazu kommt, darüber nachzudenken, eventuell, im allerletzten Fall, militärische Mittel einzusetzen.
Der ersten Resolution sind 16 weitere gefolgt. Es ist zum
Teil gelungen, den Irak zu entwaffnen, aber nach der
festen Überzeugung auch von Chefinspekteur Blix ist es
auch heute noch so, dass sich der Irak weigert, einem umfassenden Abrüstungskonzept entgegenzukommen.
({8})
Herr Bundeskanzler, es gab 16 Resolutionen, der Chefinspekteur Butler hat gesagt, das mache weiter keinen
Sinn, und es gab einen erneuten Anlauf. Ich unterstütze
alles, was den Druck auf den Irak erhöht, und bin für alle
Versuche, kriegerische oder militärische Aktionen zu
vermeiden. Aber ich sage: Wir dürfen diese militärischen
Aktionen als letztes Mittel nicht ausschließen, weil sich
Saddam Hussein keinen Millimeter bewegen wird, wenn
er weiß, dass er alles tun und lassen kann und wir die Konsequenzen letztendlich nicht ziehen.
({9})
Sie haben heute nur gesagt, worin keine Bedrohung
durch den Irak besteht. Ich erinnere daran, dass der Irak
seinerzeit Israel mit Scud-Raketen angegriffen hat. Was ist
eigentlich mit unserer Verantwortung vor dem Hintergrund
der deutschen Geschichte gegenüber dem Staat Israel? Und
warum haben Sie eigentlich 80 Millionen Dosen zur
Pockenimpfung gekauft, wenn Sie glauben, dass es keinerlei Bedrohung gibt?
({10})
Was sagen Sie denn zu diesen Fragen? Sie müssen die
Menschen doch vollständig informieren, Herr Bundeskanzler.
Jeder hier in diesem Haus hat ein hohes Interesse daran, dass der Druck auf den Irak erhöht wird. Wir sagen,
dass man deshalb die UN nicht schwächen darf - für uns
geht es um die Auseinandersetzung in der UNO -, indem
man schon vorher festlegt, wie man abstimmt. Das war Ihr
großer Fehler.
({11})
Herr Bundeskanzler, wenn wir über die Sicherheit und
über Partnerschaften sprechen, dann geht es auch darum,
dass der Stil und die Art und Weise, wie in diesen Partnerschaften Konflikte ausgetragen werden,
({12})
in einem Geist bestehen, der die gegenseitigen Partner anerkennt. Sie von der SPD und von den Grünen suchen sich
im Augenblick die Partner so aus - und vereinnahmen sie
auch noch -, dass Sie andere Partnerschaften spalten.
({13})
Ich sage Ihnen: Mittel- und langfristig ist Deutschland genauso wie andere Länder auf Partnerschaften und auf einen starken Sicherheitsverbund angewiesen. Wir sind aus
eigener Kraft nicht in der Lage, die Sicherheit unseres
Landes und die Sicherheit Europas zu schützen. Deshalb
ist es unablässig erforderlich, bei allem Eintreten für den
Frieden alles daran zu setzen, die Zukunft dieser Partnerschaften durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu stärken.
({14})
- Jetzt kommt Herr Volmer wieder und sagt: „Sie meinen
Vasallentum.“ Ich kann nur sagen: Ich rate uns allen, mit
diesem Wort verdammt vorsichtig zu sein.
({15})
Wer auf den Marktplatz von Goslar gehen muss, weil
er nicht die Kraft hat, die Auseinandersetzung im Bündnis zu führen,
({16})
der versündigt sich an der Gemeinschaft, der wir uns verpflichtet fühlen. Deshalb sagen wir: Meinungsverschiedenheiten müssen im Bündnis ausgetragen werden.
({17})
Oberste Priorität hat das Ziel, zum Schluss im Bündnis
eine gemeinsame Entscheidung gegen die Diktatoren dieser Welt zustande zu bringen. Das ist die Aufgabe, vor der
wir stehen.
({18})
Deshalb sage ich ganz ausdrücklich: Wir werden alles
unterstützen, was zwischen den Partnern möglich ist, um
einen Krieg zu verhindern. Wir werden vor allen Dingen
aber auch auf das hören, was die Inspekteure wünschen.
Wenn Herr Blix zum Beispiel sagt, dass es nicht darum
geht, die Zahl der Inspekteure beliebig zu vergrößern,
dann ist ein solches Wort für mich mindestens so wichtig
wie jede zehnte Titelgeschichte des „Spiegel“, Herr Bundeskanzler.
({19})
Deshalb ist und bleibt es eben falsch, dass Sie sich festgelegt haben zu Zeitpunkten, an denen es nichts zum Festlegen gab. Ich frage mich: Warum haben Sie das getan?
({20})
Warum haben Sie sich als einziger mir bekannter Staatsund Regierungschef bereits zu einem Zeitpunkt festgelegt, als der UNO noch nicht einmal der erste Bericht vorlag?
({21})
Warum sagen Sie, obwohl Sie doch auch der UN-Charta
verpflichtet sind - die UN-Charta enthält ganz ausdrücklich die Möglichkeit, die eigenen Resolutionen auch mit
militärischen Aktionen durchzusetzen -, Deutschland
werde dabei nicht mitmachen?
({22})
Herr Bundeskanzler, ich sage - ich habe lange darüber
nachgedacht -: Es hat rein innenpolitische Gründe.
({23})
Sie, Herr Bundeskanzler, haben nicht das, was ein souveräner Bundeskanzler haben müsste: die innere Freiheit, in
Bezug auf die internationale Staatengemeinschaft auch
frei und verantwortlich und in Partnerschaft zu entscheiden.
({24})
Sie haben hier und heute von den Abstimmungen über
den Einsatz in Afghanistan gesprochen. Wir erinnern uns
genau. Damals, unter der ganz vehementen und für alle
noch fühlbaren Bedrohung des 11. September, haben Sie
es nicht geschafft, eine Mehrheit in Ihren Reihen zusammen zu bekommen,
({25})
ohne diese Abstimmung gleichzeitig mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Herr Bundeskanzler, ich sage es ganz
ruhig und es ist ja auch vollkommen klar: Sie wissen, dass
Sie bei Entscheidungen für einen Einsatz deutscher Soldaten - in welcher Form auch immer; schon bei der Zurverfügungstellung von Patriot-Raketen für die Türkei keine eigene Mehrheit in diesem Hause haben.
({26})
Sie wissen, dass Ihre Stellung als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland eine zweite Vertrauensfrage
nicht durchhalten würde und dass deshalb Ihr eigener
Machtanspruch beendet wäre.
({27})
Herr Bundeskanzler, wer es nicht einmal schafft, in den
eigenen Reihen eine Zustimmung zur Änderung des Kündigungsschutzes hier im Lande zu bekommen,
({28})
der steht dann eben vor der Notwendigkeit, in der Außenpolitik Verlässlichkeit und Freundschaft mit Deutschland
aufzukündigen.
({29})
Die Wahrheit ist - und das nimmt Ihnen die Souveränität -,
dass Sie sich auf Ihre eigene Truppe nicht verlassen können. Deshalb werfe ich Ihnen einen Mangel an Autorität
vor. Dieser Mangel an Autorität zeigt sich in außenpolitischer Unverlässlichkeit und diese außenpolitische Unverlässlichkeit werden wir bitter bezahlen müssen, weil sie
die Autorität der Europäischen Union, der NATO und der
UNO aufs Spiel setzt. Dabei werden wir nicht mitmachen,
Herr Bundeskanzler.
Herzlichen Dank.
({30})
Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat soeben
Parlamentspräsident Halilow aus Usbekistan mit seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie sehr
herzlich.
({0})
Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt heute in unserem Hause und in den nächsten Tagen in Deutschland sowie für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken alles Gute.
Ich erteile nun das Wort Bundesminister Joseph
Fischer.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute auf der Grundlage der Regierungserklärung
des Bundeskanzlers über eine der gefährlichsten Krisen der
vergangenen Jahre. Sie, Frau Merkel - das hat Ihre Landung beim Kündigungsschutz klar gemacht -, haben dagegen eine ausschließlich innenpolitische Rede gehalten.
({0})
Bei allem Respekt: Hätte ich nicht nachgelesen, was Sie
bislang gesagt haben und was beim Abendessen in München Herr Stoiber gesagt hat, wäre mir die Haltung der Unionsfraktion nicht bewusst. Ehrlich gesagt, sie ist mir nach
Ihrer heutigen Rede nicht klarer geworden. Mich erstaunt
schon, dass Sie nichts dazu gesagt haben, dass sowohl Sie
als auch - beim Abendessen in München - Herr Stoiber erklärt haben, Sie seien, wenn es nicht anders gehe und eine
militärische Aktion notwendig sei, für eine militärische Beteiligung Deutschlands. Das, Frau Merkel, hätten Sie heute
vor dem Deutschen Bundestag sagen sollen.
({1})
Exakt darauf hat sich der Bundeskanzler bezogen. Ich
kann Ihnen nur sagen: Hier ist der Unterschied völlig klar.
Ihr Kollege Pflüger war ja in München von herzerfrischender Deutlichkeit. Denn dort hat er gesagt: Wenn wir
gewonnen hätten - Konjunktiv! -, dann hätten wir den
Brief der Acht unterschrieben. Nun sage ich Ihnen: Sie
haben nicht gewonnen. Wenn Sie aber diese Position offen im Bundestagswahlkampf vertreten hätten, dann hätten Sie noch ganz anders verloren. Denn eines müssen Sie
wissen: Für diese Position gibt es in Deutschland keine
Mehrheit.
({2})
Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Sie haben fast die ganze Zeit nur über Stilfragen geredet. Wir
müssen aber über die Frage reden, wie wir die Krise lösen
können, und zwar so, dass es nach Möglichkeit nicht zu
einer weiteren Destabilisierung kommt. Das ist die entscheidende Frage. Wir müssen Alternativen zum Krieg
finden und eine Politik machen, die diese Alternativen gemeinsam mit unseren internationalen Partnern durch- und
umsetzen will.
({3})
Wir haben nichts gegen innenpolitische Kontroversen. Ich weiß, dass Sie und eine große Anzahl von Kollegen sich Sorgen machen. Schließlich rede auch ich im
Ausschuss mit den Kollegen, und zwar nicht nur konfrontativ, sondern auch vertrauensvoll unter vier, sechs
oder acht Augen. Die Sorge ist, dass wir langfristige Entscheidungen treffen, wenn es zum Krieg kommt. Ich
möchte Ihre Gegenargumente gerne ernst nehmen - das
ist nicht der entscheidende Punkt -, zumal sie auch „valable“ sind. Nur, lassen Sie uns nicht auf der Ebene diskutieren, die Sie vorgegeben haben. Lassen Sie uns vielmehr ringen um eine Reduktion der Risiken und um einen
Weg zum Frieden. Darum geht es doch.
({4})
Für mich ist entscheidend: Wir sind dem Frieden verpflichtet, Frau Merkel. Dazu haben Sie leider nichts Konkretes gesagt. Sie haben sich lediglich abstrakt dazu bekannt. Aber wo ist das Angebot der Unionsfraktion, alles
zu tun - ich werde Ihnen nachher unsere Alternativen im
Einzelnen darstellen -, damit die nicht kriegerischen Mittel ausgeschöpft werden können? Wenn die Opposition
ein entsprechendes Angebot machen würde, wäre ihre Position wesentlich glaubwürdiger. Ich weiß, dass viele von
Ihnen und vor allen Dingen auch Ihre Wählerinnen und
Wähler dies teilen; denn anders ist es nicht zu erklären,
dass 71 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Krieg
ablehnen. Eine solch eindeutige ablehnende Haltung gibt
es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien und in Frankreich, wo die Zahlen genauso hoch sind.
Als wir gestern in Spanien waren, habe ich gelesen, dass
91 Prozent der dortigen Bevölkerung einen Krieg ablehnen. Es ist doch nicht wahr, dass die europäischen Bevölkerungen plötzlich antiamerikanisch geworden sind. Das
sind keine antiamerikanischen Mehrheiten!
({5})
Man muss begreifen, dass vielen Menschen nicht klar
ist, wie wir nach dem 11. September, wie wir nach der tief
empfundenen Solidarität mit unseren angegriffenen amerikanischen Partnern zu einer friedlichen Entscheidung
im Fall des Irak kommen können. Das ist durch Ihre Rede
nicht klar geworden. Es ist auch den meisten Europäern
nicht klar. Wenn es darauf keine Antwort gibt, werden Sie
die Ablehnung nicht überwinden können. Bis heute habe
ich darauf keine wirklich überzeugende Antwort gehört.
({6})
Schauen wir uns die Risiken an! Wir sind durch das
Grundgesetz verpflichtet, alles zu tun, um Krieg zu vermeiden, auch wegen der schlimmen humanitären Folgen.
Wir wissen doch: Wenn es zu einer bewaffneten Aktion im
Irak kommt, müssen viele unschuldige Menschen sterben.
Genau das muss uns doch verpflichten, alles zu tun, um
Alternativen zu finden.
({7})
Das Zweite ist die regionale Stabilität. Dazu kann ich
Ihnen versichern: Diese Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder wird alles tun und tut alles, um das Existenzrecht und die Sicherheit Israels und seiner Menschen
zu schützen. Darüber gibt es mit uns überhaupt keine Diskussion.
({8})
Deswegen haben wir auch die Patriot-Raketen geliefert,
und zwar nicht erst, nachdem der Ernstfall eingetreten ist.
Für uns war und ist es eine Selbstverständlichkeit, dass
wir solidarisch zu Israel stehen.
({9})
- Auf die Türkei komme ich noch zu sprechen.
Die Frage der regionalen Stabilität ist eine sehr ernste.
Dazu kann ich nur noch einmal sagen: In der Welt nach
dem 11. September hätte ich mir - das war der erste Dissenspunkt - eine andere Prioritätensetzung gewünscht.
Im Fall von Afghanistan gab es keine Alternative, weil
Afghanistan die staatliche Basis des Terrors von al-Qaida
war. Insofern war völlig klar, dass wir eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen haben würden, und wir
haben sie getroffen. Unsere Soldaten leisten dort eine
unverzichtbare, eine riskante, aber für den Frieden zwingende Arbeit. Es gilt, ihnen dafür zu danken.
({10})
Ich will Ihnen in dem Zusammenhang einmal etwas
sagen, Frau Merkel. Es gab den Hubschrauberabsturz, bei
dem sieben unserer Soldaten das Leben verloren haben.
Es war eine bewegende Trauerfeier. Dort waren wir mit
den Angehörigen zusammen. Ich habe mit der Ehefrau
von einem der tödlich verunglückten Soldaten gesprochen. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte im privaten
Gespräch zu finden, was Sie verstehen werden. Ich habe
ihr unter dem Eindruck meines Besuchs dort 14 Tage vorher gesagt, dass die Präsenz unserer Soldaten im Rahmen
der friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen in Kabul unverzichtbar ist. Die Ehefrau hat mir unter
Tränen gesagt: Herr Fischer, auch wenn es bitter für mich
ist: Wir alle am Standort wissen dies. Aber bitte, bitte
nicht in den Irak! - Ich kann Ihnen versichern: Das war
eine eher konservativ denkende Frau.
Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass es eine
tiefe Sorge der Menschen in diesem Land gibt. Eine Regierung kann sich davon nicht abkoppeln. Das ist allerdings nicht der alleinige und zwingende Grund. Aber,
Frau Merkel, Sie müssen dann schon sehr überzeugende
Gründe für einen Einsatz haben, das heißt, alle friedlichen
Mittel müssen wirklich ausgereizt sein. Der Bundeskanzler hat Ihnen heute dargestellt, dass dies mitnichten der
Fall ist.
({11})
In der Welt nach dem 11. September müssen wir uns
mit der Frage des Terrors beschäftigen. Wenn es nach mir
gegangen wäre, dann würden wir diese Frage an die
Spitze der Prioritätenliste setzen und dort festhalten. Das
ist der entscheidende, der erste Punkt. Die Lösung regionaler Krisen ist für mich der zweite Punkt. Wenn Sie sich
die Genesis des Konflikts anschauen, dann werden Sie
feststellen, dass die Ursache für den 11. September mit
seiner ganzen menschenverachtenden Brutalität letztlich
zusammengebrochene Strukturen in Afghanistan, ein vergessener Konflikt, verbunden mit dem Terror waren. Die
Lösung regionaler Krisen hätte für mich also die zweite
Priorität.
({12})
Damit komme ich zum Dritten, nämlich zur Verbindung mit Massenvernichtungswaffen. Das nehmen wir
sehr, sehr ernst. Nur, wenn es so ist, dass Massenvernichtungswaffen heute ganz anders zugeordnet werden als
noch zu Zeiten des Kalten Krieges, als es sozusagen eine
Stabilität des Schreckens gegeben hat, dann brauchen wir
doch - der Bundeskanzler hat es mit dem Beispiel Nordkorea klar gemacht - international ein wirksames und
nicht nur in einem Einzelfall wirkendes Nichtverbreitungsregime und Kontrollregime. Exakt das ist die Herausforderung. In einer Welt wachsender Instabilität können wir doch nicht allen Ernstes Kriege zum Zweck der
Abrüstung von Massenvernichtungswaffen zur Strategie
erheben.
({13})
Exakt das ist der Punkt. Da nützt jegliche Warnung vor
„Isolierung“ und „Sonderweg“ nichts.
Herr Perle erzählt fünfmal die Woche, wir seien irrelevant. Ich frage mich: Warum erzählt er das so oft, wenn
wir tatsächlich so irrelevant sind?
({14})
Es ist mindestens viermal zu viel. Sie wissen genauso gut
wie ich, dass wir nicht irrelevant sind. Schauen Sie sich
die Leistungen, die wir im Bündnis erbringen, an!
Schauen Sie sich an, welche Handlungsmöglichkeiten das
Bündnis ohne Deutschland hat! Sie wissen ganz genau,
dass wir essenzielle Beiträge zur regionalen Stabilisierung, zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zur Friedenserhaltung leisten und auch in Zukunft im Bündnis
leisten werden, Frau Merkel.
({15})
Für uns ist ganz entscheidend, dass wir um den Frieden
wirklich kämpfen und nicht kriegerische Alternativen so
weit wie möglich ausreizen. Lesen Sie die deutsch-französisch-russische Erklärung! Der darin formulierten Position fühlen wir uns verpflichtet. Für diese Politik steht
diese Bundesregierung und für diese Politik hat sie eine
Mehrheit bekommen. Die Bundesregierung wird ihr
Mandat erfüllen. Auch das kann ich Ihnen von dieser
Stelle aus versichern.
({16})
Ich sage das, damit bei Ihnen keine falschen Hoffnungen
aufkommen.
Wenn wir mit einer Alternative zum Krieg Ernst machen wollen, dann müssen wir drei Elemente umsetzen
- der Bundeskanzler hat sie vorhin dargestellt -:
Erstens. Der Irak darf keine Massenvernichtungswaffen haben. Dazu muss er entsprechend den UN-Resolutionen 1284 und 1441 voll kooperieren. Das ist der entscheidende Punkt.
({17})
- Jetzt frage ich einmal umgekehrt: Haben wir heute
tatsächlich einen weiter gehenden Material Breach - die
Herren Pflüger und Schäuble haben diese Auffassung im
Ausschuss schon vertreten - und sollen deswegen Serious
Consequences, das heißt kriegerische Mittel, eingesetzt
werden? Wenn Sie dieser Meinung sind, dann hat das
deutsche Volk, die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf, das heute von Ihnen zu erfahren.
({18})
Wir sind nicht dieser Meinung.
Wir sind vielmehr der Meinung, dass Saddam Hussein
seinen Verpflichtungen voll und ganz nachkommen muss,
was er noch nicht getan hat, und dass der Druck aufrechterhalten werden muss. Das Instrument dazu darf jetzt aber
nicht der Abbruch der Inspektionen sein, sondern - das ist
das zweite Element; das erste Element ist die volle Kooperation Husseins - die Schärfung der Inspektionen.
Das steht jetzt an. Die Arbeit von Blix, al-Baradei und
ihren Teams bietet eine wirkliche Alternative zum Krieg.
Unsere Risikoanalyse beruht auf der Beantwortung
folgender Frage: Ist der Irak heute gefährlicher als noch
vor einem Jahr oder gar in Zeiten des Golfkrieges? Wir
wissen heute doch, dass wir es aufgrund der Inspektionen
bereits mit einer erheblichen Risikominimierung zu tun
haben. Können Sie der Bevölkerung erklären, warum wir
bei fortschreitender Risikominimierung und einem kleiner werdenden Kooperationsdefizit des Irak die Inspektionen abbrechen und einen Krieg beginnen sollen? Können Sie das begründen? Ich kann es nicht begründen.
({19})
Das dritte Element steht im Zusammenhang mit der
UN-Resolution 1284. Vor allen Dingen bei Biowaffen gibt
es ein großes Problem. Wenn Sie sich die Details der Biowaffenproduktion einmal genau anschauen, dann werden
Sie feststellen: niedrige Drücke, niedrige Temperaturen,
kleine Technologie. Das heißt, wir bewegen uns nahezu
ausschließlich im Bereich der Dual-Use-Güter, also im Bereich derjenigen Güter, die in hohem Maße zivil, in der
Pharmazie, in der Medizin oder wo auch immer, genutzt
werden. Eine Kontrolle, ob im Irak tatsächlich Biowaffen
hergestellt werden, wird ohne ein langfristiges Verifikations- und Kontrollregime nicht möglich sein.
({20})
Ohne ein solches Regime nützt jegliche Ausfuhrkontrolle
nichts.
Ich habe mir das einmal im Detail angeschaut. Man
müsste dort im Grunde genommen den ganzen Pharmazie-, den ganzen Chemie- und vor allen Dingen den ganzen
medizinischen Sektor lahm legen, was für die Menschen in
diesem Land fatale Konsequenzen hätte. Wer tatsächlich
Alternativen zum Krieg will, der kommt um ein langfristiges Verifikations- und Kontrollregime nicht herum.
({21})
Frau Merkel, ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Alternative zum Krieg ist, diese drei Elemente umzusetzen.
Wir machen dahin gehend Druck, dass der Irak voll kooperiert.
({22})
- Ich kann Ihnen gern sagen, wie. Etwa bei meinem Besuch am Heiligen Stuhl in Rom habe ich mehr Bereitschaft gefunden - ({23})
- Sehen Sie: Ihre Reaktion spricht wirklich für sich.
({24})
Ich will Ihnen einmal sagen, welche große Befürchtung
man am Heiligen Stuhl hatte. Die große Befürchtung ist,
dass es zu einem Krieg der Zivilisationen und auf mittlere
Sicht zu einer Islamisierung der arabisch-muslimischen
Welt mit fatalen Konsequenzen unter dem Gesichtspunkt
Terror kommt.
({25})
Deswegen hat der Heilige Stuhl einen Sonderbotschafter
mit der klaren Botschaft nach Bagdad geschickt, dass es
überhaupt keinen Spielraum mehr - das ist die Botschaft
der Nachbarn, das ist auch unsere Botschaft - für etwas
anderes als eine volle Kooperation mit Blix gibt.
Sie dürfen sich die Frage stellen, warum Blix noch einmal eingeladen wurde und wie das im Zusammenhang mit
einer Schärfung der Instrumente steht, wie sie unsere
französischen Partner vorgeschlagen haben. Wenn wir
hier noch die Mittel der langfristigen Kontrolle und der
Verifikation hinzufügen, dann haben wir meines Erachtens in der Tat einen systematischen Ansatz, der eine Alternative zum Krieg darstellt und auch an anderen Orten
als im Irak zum Einsatz kommen kann.
({26})
Bezogen auf die NATO gebe ich Ihnen hier Folgendes
zu bedenken: Wissen Sie, was der Unterschied zwischen
Ihnen und uns ist? Wir haben von Anfang an - der Bundeskanzler hat es dargestellt - erklärt, was wir für den
Schutz der Türkei im Rahmen des Bündnisses zu leisten
bereit sind, nicht bezogen auf eine Aktion gegen den Irak,
sondern strikt defensiv im Rahmen des Bündnisses. Wir
leisten mehr als viele, die uns heute kritisieren. Auch das
muss man hinzufügen.
({27})
Ich konnte ja in München Erfahrungen im Umgang mit
dem Verteidigungsminister eines befreundeten Landes
sammeln, in der Tat mehr als andere. Ich könnte Ihnen Geschichten von der weltlichen Seite von Rom erzählen. Da
würden Sie sich wundern. Aber das will ich nicht tun. Aus
meiner Sicht, Frau Merkel, ist der entscheidende Punkt:
Wir müssen in der NATO zusammenbleiben.
({28})
- Ja, jetzt passen Sie gut auf. - Ich war gestern bei Präsident Chirac und habe ihm erzählt, wie viel die Union auf
den Brief der Acht gibt. Das liegt hier ja heute in Form Ihres Antrags vor. Unser Ziel ist es, Frankreich, so weit es
geht, in der NATO mitzunehmen und für Zusammenhalt
zu sorgen. Daran habe ich die vergangenen Tage hart gearbeitet.
({29})
Mit Ihrem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben und der
den Brief der Acht unterstützt, betreiben Sie, wenn Sie das
ernst meinen, nichts anderes als die Isolation Frankreichs.
Das wissen Sie so gut wie ich. Genauso wird das auch dort
gesehen.
({30})
Für uns ist von entscheidender Bedeutung: Wir werden
im Rahmen des transatlantischen Bündnisses und der Europäischen Union unsere Politik, wirkliche Alternativen
zum Krieg zu suchen und sie mit unseren Partnern auch
umzusetzen, fortsetzen. Ein Bündnis freier Demokratien
und freier Völker wird auf Dauer nicht ohne Schaden bleiben, wenn man auf übergroße Mehrheiten in der Bevölkerung keine Rücksicht nimmt.
({31})
Demokratien sind oft eigenwillig, in Demokratien muss
man Überzeugungsarbeit leisten und für eine Sache wirklich überzeugend eintreten. Ich kann da nur unterstreichen, was der Bundeskanzler gesagt hat, nämlich dass wir
uns vor dem Hintergrund unserer Geschichte die Entscheidung von Krieg und Frieden schwer und bisweilen
sogar extrem schwer machen. Darin sehe ich keinen Nachteil, sondern eine Konsequenz, die sich aus unserer Geschichte ergibt. Trotzdem sind wir in der Lage, unsere
Verantwortung wahrzunehmen.
({32})
Unsere Politik ist deswegen Friedenspolitik in einer instabilen Welt. Wir wollen unseren Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus weiter leisten, und da, wo es keine anderen Alternativen zum Zerbrechen dieser Strukturen gibt,
auch unter dem Einsatz militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Gewalt. Wir wollen regionale Konflikte
lösen. Ich halte das für unverzichtbar. Das betrifft nicht nur
den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der gefährlichste besteht zwischen den beiden Nuklearmächten
Pakistan und Indien um Kaschmir. Aber auch der Kaukasus
bereitet uns große Sorgen. Das alles sind regionale Konflikte, die morgen unsere Sicherheit bedrohen können. Wir
müssen verhindern, dass Gruppen, die heute noch nicht
kooperieren, in Zukunft kooperieren, weil wir Fehlentscheidungen treffen. Wir müssen dem Terrorismus den
Nährboden entziehen, indem wir mehr und mehr Menschen
Perspektiven geben, indem wir Demokratie und Beteiligung an der Globalisierung nicht nur in Sonntagsreden beschwören, sondern Menschenrechte tatsächlich ernst nehmen. Das heißt also, wir müssen gerade in dieser uns direkt
benachbarten Region einen langfristigen Ansatz verfolgen.
Gleichzeitig müssen wir eine echte Abrüstung bei Massenvernichtungswaffen durchsetzen und verhindern, dass sich
Gewaltherrscher in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen. Dazu brauchen wir ein international wirksames Kontroll- und Abrüstungsregime, das auch Zähne
zeigen und zubeißen kann.
Frankreich hat dazu Vorschläge gemacht, die wir voll unterstützen, und auch wir machen Vorschläge, dies als konkrete Alternative zum Krieg im Irak umzusetzen. Das ist
unsere Aufgabe im Sicherheitsrat. Wenn Sie Ihre Worte
ernst meinen, dann müssen Sie uns unterstützen und dürfen uns nicht angreifen.
Ich danke Ihnen.
({33})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle haben nach dem 11. September 2001 schon
manche wichtige Debatte in diesem Hause geführt, gerade
zur Außenpolitik. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in
dieser gesamten Zeit in Fragen der Außenpolitik im
Grunde genommen immer mehr auf die Opposition als
auf Ihre eigenen Fraktionen verlassen können.
({0})
Das Problem, das wir heute haben, ist ein Bundeskanzler,
der der Opposition in diesem Hohen Hause vorwirft, sie
sei - so wörtlich - „eine Allianz der Willigen zum Krieg“.
Ein solcher Bundeskanzler hat den Tiefpunkt der Kultur
in diesem Hause erreicht, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
({1})
Genau das ist es, was Sie beide mit Ihren Reden heute
hier beabsichtigt haben: Sie wollen in diesem Lande eine
Arbeitsteilung beginnen, bei der Sie als Friedensfreunde
und wir von der Opposition als Kriegstreiber fungieren. In
Wahrheit ist es genau umgekehrt:
({2})
Sie machen den Krieg wahrscheinlicher und wir sind
mehr für den Frieden, als Sie es mit dieser Politik jemals
erreichen können.
({3})
Sie haben hier von der Stärke des Rechts gesprochen;
es gehe darum, dass nicht das Recht des Stärkeren siege.
Das ist völlig richtig. Nur, wenn wir das Recht des Stärkeren verhindern wollen, dann - das hätten Sie gemäß der
Tradition unseres Völkerrechts hinzufügen müssen brauchen wir ein Gewaltmonopol der Vereinten Nationen;
denn dann muss es jemanden geben, der das Recht durchsetzen kann. Ein Diktator lässt sich nicht mit guten Worten entwaffnen. Sie haben nicht nur eine Verantwortung
für den Frieden in Deutschland, Sie haben auch eine Verantwortung für die Sicherheit in Deutschland.
({4})
Sie haben hier darauf hingewiesen, Herr Bundesaußenminister, dass die große Mehrheit der Bevölkerung
in Europa im Grunde genommen Ihrer Politik zustimmt.
Das ist bemerkenswert. Wir alle wissen, wie solche Meinungsumfragen zustande kommen. Wenn Sie bei einer
Meinungsumfrage die Frage stellen: „Sind Sie für den
Frieden?“, dann wird es dafür mit Sicherheit eine große
Zustimmung in diesem Lande geben. Auch jeder in diesem Saal würde zustimmen. Aber wenn Sie weiterfragen:
„Sind Sie der Meinung, dass Druck auf den Diktator ausgeübt werden muss, um ihn entwaffnen zu können?“, erhalten Sie ein sehr viel differenzierteres Bild. Politik ist
eben nicht so einfach.
Sie behaupten, Sie hätten die Mehrheit auf Ihrer Seite.
Dabei haben Sie doch vor kurzem in Hessen und Niedersachsen für Ihre Politik - Friedenspolitik, wie Sie behaupten - plakatiert und die Menschen haben sich gegen
Sie entschieden, weil Friedenspolitik differenzierter und
nicht mit solch einfachen Worten betrieben werden kann.
({5})
Manch einer in meiner Generation und diejenigen, die
älter sind, werden sich noch an eine Diskussion Anfang
der 80er-Jahre erinnern. Wir haben noch sehr genau in Erinnerung, wie damals für den NATO-Doppelbeschluss
gestritten wurde, zunächst von Bundeskanzler Helmut
Schmidt, der anschließend von den Sozialdemokraten im
Stich gelassen wurde, und von Herrn Genscher und in
Fortsetzung nach dem Regierungswechsel 1982/83 unter
der Bundeskanzlerschaft von Helmut Kohl. Gegen diesen
NATO-Doppelbeschluss, gegen die damalige Regierung
hat es eine große Zahl von Demonstrationen gegeben. Es
gab Sitzblockaden und Sie waren fleißig bei denjenigen,
die Transparente getragen und mit Sitzblockierern zusammengearbeitet haben. Einige von Ihnen sind damals
weggetragen worden.
Die Geschichte hat etwas anderes gezeigt. Sie hat gezeigt, dass die Standhaftigkeit der damaligen Regierung,
im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses das durchzusetzen, was international richtig war, erstens den Frieden
sicherer gemacht, zweitens die Vereinigung Deutschlands
überhaupt erst ermöglicht und drittens den europäischen
Prozess vorangebracht hat.
({6})
Sie haben damals Unrecht gehabt und in Wahrheit betreiben Sie diese falsche Politik von den Regierungsbänken
weiter.
Sie haben sich mit dem Hinweis auf Meinungsumfragen entlarvt, Herr Bundesaußenminister. Ihnen geht es
nicht um die Außenpolitik, sondern darum, dass eine ins
Schwanken geratene Regierung noch einmal einen Anker
erwischt. Aber das geht schief.
({7})
Die Innenpolitik ist ein falsches Motiv für die Außenpolitik. Dementsprechend kann es nicht so weitergehen.
Im Übrigen ist es spannend zu beobachten, mit welch
unterschiedlichen Maßstäben Sie argumentieren. Zunächst
einmal hat Ihr Bundeskanzler darauf hingewiesen, dass bei
der Bewertung der Situation im Irak und bei der Bewertung von Nordkorea unterschiedliche Maßstäbe angelegt
werden. Das, was Sie sagen, ist in der Tat richtig. Genau
darin liegt das Problem. Wenn nämlich die Völkergemeinschaft zulässt, dass Nordkorea in den Besitz von Massenvernichtungswaffen, in diesem Falle von Atomwaffen,
kommt, und sie nicht mehr in der Lage ist, ein solches Regime zu entwaffnen, dann entsteht eine Bedrohung der
Weltsicherheit und des Weltfriedens.
Wir als Oppositionsabgeordnete wollen nicht, dass ein
Diktator in unserer unmittelbaren Nachbarschaft jemals
in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, die
er auch hier in Mitteleuropa zum Einsatz bringen kann.
Das ist die entscheidende Aufgabe wehrhafter Demokraten: Wer Hussein entwaffnen will, muss die Vereinten Nationen stärken. Er darf sie nicht durch einen nationalen Alleingang - weder einen amerikanischen noch einen
deutschen - schwächen.
({8})
Mit welcher Festigkeit Sie, Herr Bundeskanzler, hier
vorgetragen haben, der Irak verfüge über keine entsprechenden Trägersysteme, ist bemerkenswert. Hier gibt es
eine Zahl von Abgeordneten, die Ende des letzten Jahres
vom Bundesnachrichtendienst informiert worden sind.
Sie haben bis heute nicht gestattet, dass diese Erkenntnisse veröffentlicht werden. Geben Sie dem Bundesnachrichtendienst doch endlich die Erlaubnis, auch der deutschen Öffentlichkeit seine Erkenntnisse zur Verfügung zu
stellen! Ich bin sicher, das Meinungsbild wird dann anders
sein.
Weil Sie hiermit Politik machen, will ich es an dieser
Stelle auch tun; denn ich kann nicht zulassen, dass die
deutsche Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt wird. Es
ist eine konkrete Bedrohung, wenn ein irakischer Diktator in unserer unmittelbaren Nähe an Trägersystemen arbeitet, mit denen die Waffen auch uns in Mitteleuropa erreichen können. Jeder, der Verantwortung für unser Land
trägt, darf das nicht zulassen; er muss die Vereinten Nationen stärken. Denn dieser Diktator lässt sich nur über
Druck entwaffnen. Sie rühmen sich der Waffeninspekteure im Irak. Heute wäre kein einziger Inspekteur im
Irak, wenn es nach Ihrer Politik gegangen wäre.
({9})
Das Allerschlimmste, was wir jetzt erleben, ist Ihre Behandlung unseres NATO-Mitgliedes Türkei. Sie haben
hier eine babylonische Sprachverwirrung eingeführt. Allein die Lieferung von Patriot-Raketen ist eine Realsatire.
({10})
Weil Sie sie aus Rücksichtnahme auf Ihren grünen pazifistischen Koalitionspartner nicht liefern wollen, liefern Sie
sie an die Niederlande, die sie dann liefern dürfen. Das ist
in der Tat eine Windung in der Außenpolitik, die man erwähnen sollte.
Das Allerschlimmste aber ist: Gibt es eigentlich in der
Außen- und Sicherheitspolitik noch irgendeine Linie? Einerseits wollen Sie die Türkei in die Europäische Union
hineinholen. Aber wenn das NATO-Mitglied Türkei um
Schutz bittet, sind Sie nicht in der Lage, richtig zu entscheiden. Das ist ein Widerspruch in sich.
({11})
Ihre Außenpolitik ist nur noch Innenpolitik. Das hat man
den Amerikanern früher zu Recht vorgeworfen.
Wir erinnern uns daran, als auf Grenada eine Intervention der Amerikaner stattgefunden hat. Viele von denen, die heute auf den Oppositionsbänken sitzen, haben
damals, in jüngeren Jahren, das Verhalten der Amerikaner
kritisiert. Viele von uns haben den amerikanischen Verbündeten gesagt, dass das nicht der richtige Weg ist. Viele
haben damals auch in Deutschland gesagt: Es kann nicht
richtig sein, wenn Außenpolitik nur noch Instrument der
Innenpolitik, Instrument von Wahlkämpfen wird. Das war
richtig. Es war die deutsche Tradition, dass wir die Außenpolitik nicht zum Instrument der Innenpolitik, zum
Instrument von Wahlkämpfen gemacht haben.
Sie haben eine weitere Tradition gebrochen. Große sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Bundeskanzler
Willy Brandt und Helmut Schmidt sind in die deutsche Geschichte eingegangen, weil sie die Einbettung Deutschlands in die Völkergemeinschaft vorangebracht haben.
Sie werden als Bundeskanzler der Sozialdemokratie in die
Geschichte eingehen als jemand, der Deutschland aus der
Völkergemeinschaft herausgeführt hat.
({12})
Es ist schäbig, Herr Bundeskanzler, dass Sie sich nicht ein
wenig besser und geschichtsbewusster verhalten. Ihre Politik ist unhistorisch. Sie ignoriert die gesamte Linie der
deutschen Außenpolitik der Kanzler, der Außenminister
Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel.
Ich frage mich nach der heutigen Rede, was eigentlich
schlimmer ist: ein Bundeskanzler, der falsch redet, oder
ein Bundesaußenminister, der es besser weiß und trotzdem falsch redet, weil er fürchtet, dass seine Grünen näher
an der radikal-fundamentalistischen Position des Bundeskanzlers sind?
({13})
Das ist genau die Frage, über die wir zu entscheiden haben. Sie sind Getriebene, Sie handeln nicht mehr. Diese
Bundesregierung hat Deutschland wirtschaftspolitisch
ruiniert und ist jetzt dabei, dieses Land auch noch außenpolitisch zu isolieren. Das Beste für dieses Land wären zügige Neuwahlen. Dafür sollten Sie Ihren Platz frei machen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gernot Erler, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundeskanzler hat eine sehr persönliche Regierungserklärung abgegeben. Er hat erklärt, warum er kämpft und
wofür er kämpft. Da war ein Satz, der könnte das Motto
für all diese schwierigen Wochen sein. Er lautet: Es kann
nicht verkehrt sein, selbst für die allergeringste Friedenschance noch außergewöhnliche Anstrengungen auf sich
zu nehmen.
({0})
Herr Bundeskanzler, für die SPD-Bundestagsfraktion
erkläre ich: Wir sehen diese außergewöhnlichen Anstrengungen. Wir sind froh, dass sie jetzt Früchte tragen. Wir
schauen aber nicht nur zu, sondern unterstützen diese
außergewöhnlichen Anstrengungen von Ihnen, vom Bundesaußenminister, vom ganzen Bundeskabinett mit aller
Kraft und mit tiefer Überzeugung.
({1})
Wir sind da nicht allein. Eine sehr große Mehrheit der
Menschen in diesem Land unterstützt diesen Kampf und
wünscht sich sehnlich, dass er Erfolg hat - eine sehr große
Mehrheit, aber nicht alle. Zu den Unterstützern dieser Politik gehört nicht die Opposition im Bundestag mit
CDU/CSU und FDP. Man hört zwar von ihnen, dass sie
den Krieg auch nicht möchten, aber man hört überhaupt
nicht - Frau Merkel hat dazu keinen einzigen Satz gesagt -, was sie dafür eigentlich tun.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, auch
bei Ihnen gibt es außergewöhnliche Anstrengungen, in der
Tat - aber in eine ganz andere Richtung. Sie strengen sich
wirklich an, die Bemühungen des Bundeskanzlers und des
Außenministers verächtlich zu machen, sie herabzusetzen.
Besonders gerne tun Sie das, wenn ausländische Gäste dabei sind.
({3})
Sie diffamieren unsere Nein-Entscheidung zu diesem
Krieg als bloßes innenpolitisches Taktieren.
({4})
Das war die Hauptbotschaft der Reden von Frau Merkel
und auch von Herrn Westerwelle. Sie sprechen uns damit
die Ernsthaftigkeit unserer Sorgen und den Überzeugungshintergrund unserer Entscheidung ab.
Sie flüchten sich auf Seitenbühnen und toben sich dort
in Ihrer Kritikwut an der Bundesregierung aus, ohne die
tatsächliche politische Entwicklung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gestern gab es auf Ihren Antrag eine
Aktuelle Stunde. Ich hätte mir gewünscht, dass ganz
Deutschland diese Aktuelle Stunde verfolgt hätte. Sie haben sich eine geschlagene Stunde lang ausschließlich mit
einer Presseveröffentlichung vom Wochenende beschäftigt.
({5})
Aber Sie sind nicht mit einem Satz darauf eingegangen
- Sie hätten mit uns zusammen darüber nachdenken können -, ob die deutsch-französisch-russische Initiative
nicht doch noch eine Chance bietet, den Irak ohne Krieg
zu entwaffnen.
({6})
Wie soll man Ihnen glauben, dass Sie wirklich das Ziel
verfolgen, diesen Krieg zu vermeiden? Das fällt schwer.
Darüber wollen Sie nämlich nicht diskutieren, weil Sie
dann mit Ihren wilden Angriffen auf die Bundesregierung
eine Bauchlandung erleben würden und jeder merken
würde, dass Ihre Behauptung von der deutschen Isolierung schlicht und einfach nicht stimmt. Dann würde auch
Ihre These, das kategorische Nein der Bundesregierung
zu einem Krieg mache Deutschland handlungsunfähig,
widerlegt werden. Die letzten Tage haben exakt das Gegenteil bewiesen, aber Sie wollen das nicht wahrhaben.
({7})
Nein, wenn Sie es mit dem Willen, den Krieg zu verhindern, ernst meinen, dann müssen Sie jetzt aus Ihrer
Ecke herauskommen und über den Schatten Ihrer Fundamentalopposition springen. Dann müssen Sie wenigstens
in diesem einen Punkt die Politik des Bundeskanzlers und
des Außenministers und damit auch die Ziele der deutschfranzösisch-russischen Initiative unterstützen. Wenn Sie
das nicht können oder nicht wollen, sollten Sie wenigstens
eines anerkennen: die ernsten Sorgen hinter unseren Entscheidungen.
Kann es denn sein, dass das bisherige Regelwerk der
Weltgemeinschaft nach den Anschlägen vom 11. September auf genau diese Regeln und Werte - als Antwort darauf
hat das mächtigste Land der Erde im Alleingang und gegen
die Regeln des bisher geltenden Völkerrechts eine neue
strategische Doktrin beschlossen - aus den Angeln gehoben wird? Dürfen wir überhaupt zulassen, frage ich Sie,
dass beim Kernstück des Völkerrechts, dem Gewalt- und
Kriegsverbot, jetzt die Beweislast umgekehrt werden soll?
Noch immer gilt, dass Krieg nur als letztes Mittel, wenn
eine unmittelbare Bedrohung besteht und alle anderen Mittel zur Abwendung dieser Bedrohung angewandt wurden,
aber versagt haben, zulässig ist. Die Initiative von Deutschland, Frankreich und Russland nimmt dieses Kernstück des
Völkerrechts ernst. Der wichtigste Satz der gemeinsamen
Erklärung lautet: „Es gibt noch eine Alternative zum
Krieg.“ Nach dem geltenden Völkerrecht ist es aber nicht
in unser Belieben gestellt, dieser Alternative eine Chance
zu geben, sondern wir sind verpflichtet, das zu tun.
({8})
Wer die Arbeit der Waffeninspektoren jetzt abbrechen
und durch eine militärische Intervention ersetzen will, hat
die Beweislast. Er muss zeigen, dass eine unmittelbare
und tatsächliche - nicht eine potenzielle - Gefahr für einen Nachbarstaat oder die ganze Welt anders nicht abwendbar ist. Wir weigern uns, diese Regeln der internationalen zivilisierten Gesellschaft außer Kraft setzen zu
lassen. Wir tun das aus Sorge darum, in was für eine Welt
uns das führen wird. Wir spüren - dabei bekommen wir
gelegentlich eine Gänsehaut -, an welcher Weggabelung
wir im Augenblick stehen.
Lange Zeit gab es auf der Grundlage internationaler
Verträge, an die sich auch die Hauptwaffenbesitzer zu halten haben, einen Konsens über Abrüstung als Prinzip für
den Frieden in der internationalen Politik. Die Entscheidung über den Irakkrieg führt aus diesem Konsens heraus
in eine neue, dichotomische Welt. Da soll zwischen Gut
und Böse unterschieden werden. Die guten Länder dürfen
alle Sorten von Waffen haben, die bösen aber nicht. Wenn
diese an entsprechenden Programmen arbeiten, müssen
sie notfalls durch Krieg entwaffnet werden. Alle Entscheidungen darüber trifft nicht die zuständige Weltorganisation, sondern - das notfalls auch ganz allein - die
stärkste und einzige Weltmacht. Der Irakkrieg wäre in diesem Kontext ein Präzedenzfall; das ist unsere tiefste
Überzeugung. Er würde das Tor in eine neue Weltordnung
aufstoßen, die nicht auf Vertrag oder Konsens, sondern allein auf der Macht beruht, sie so durchzusetzen.
({9})
Wir haben kein Vertrauen in eine Weltordnung, in der als
böse deklarierte Länder damit rechnen müssen, dass sie
durch Krieg an verbotenen Waffenprogrammen gehindert
werden, wirklich böse Länder aber - wie heute Nordkorea -, die schon über einsatzfähige Massenvernichtungswaffen verfügen, keine Bestrafung fürchten müssen.
Wir sagen voraus: In einer solchen Welt wird es nicht nur
eine Serie von Entwaffnungskriegen geben; darin wird auch
Nichtverbreitung keine Chance mehr haben. Es wird logischerweise einen heimlichen Wettlauf um den Besitz dieser
Waffen geben, damit man nicht mehr sanktioniert werden
kann, damit das eigene Handeln sakrosankt wird. Das ist
keine Weltordnung, in der wir leben wollen.
({10})
Nein, wir bestehen auf der Rückkehr zu dem politischen Ziel umfassender Abrüstung und Rüstungskontrolle
aller Länder auf der Basis internationaler Verträge. Die
Waffen selber sind die Gefahr, auch wenn sie in Händen
der guten Länder sind. Man kann sie nicht garantiert gegen verbotenen Zugriff und Missbrauch schützen. Wo
sind denn Anthrax-Briefe verschickt worden mit der
Folge, dass Regierungsgebäude und Parlamentsgebäude
für mehrere Wochen geschlossen werden mussten? Wo
gelangte denn Plutonium auf den freien Markt? Das war
nicht in irgendwelchen Schurkenstaaten, sondern in der
zivilisierten Welt, mitten unter uns. Dies zeigt doch: Es
geht um die Waffen selber. Es geht um ein Regime mit der
Sicherheit der gemeinsamen Abrüstung. Ein Irakkrieg
führt zu einer Bewegung davon weg hin zu einer neuen
Weltordnung, in der auf diese Gefahren überhaupt keine
Antwort gefunden werden kann.
({11})
Der Bundeskanzler hat unser Nein zu einer Abkehr von
den bisherigen Regeln der Weltgemeinschaft noch einmal
bekräftigt. Unser Nein ist kein Nein des Trotzes, des Taktierens oder gar der fahrlässigen Infragestellung der westlichen Wertegemeinschaft. Dieses Nein ist - im Gegenteil ein Nein zu einer Veränderung der Werte und Regeln dieser Gemeinschaft, die ohne jeden Verständigungsprozess
durchgesetzt werden soll.
Hier stehen wir auf der Seite von Ex-Bundespräsident
Richard von Weizsäcker, der uns geraten hat, diese Diskussion mit unserem amerikanischen Partner zu führen,
aber in Form einer Freundschaft des offenen Wortes und
nicht „in blinder Unterwerfung“.
({12})
Wir sind heute dem Kern unseres Mandates, das uns
von den Wählern verliehen worden ist, in besonderer
Weise sehr nah. Es geht um die Verantwortung über den
Tag hinaus. Wir stehen an einer Weggabelung. Dies ist der
Hintergrund unserer Entscheidung und unserer Position.
Wir haben das Gefühl, die vielen Menschen, die vielen
Wähler, die uns unterstützen, folgen nicht einer Stimmungslage, sondern teilen diese Grundüberzeugung. Dies
macht uns stark und fest.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich greife Ihre Worte von der Verantwortung über den Tag hinaus auf. Ich bin seit mehr als
25 Jahren Mitglied dieses Hauses. Aber was in den letzten Wochen an außenpolitischem Vertrauen und Porzellan
zerschlagen worden ist, macht mich fassungslos.
({0})
Trotz der aktuellen Kriegsangst, die natürlich herrscht,
wenn Truppen aufmarschieren und sich ein Diktator bis
jetzt unbeugsam zeigt, müssen wir doch immer schauen,
dass wir die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik, die
feste Nachkriegsarchitektur, auf die unser Land aufgebaut
ist, auch für die Zukunft bewahren können. Vertrauen ist
ein ungeheuer zerbrechliches Gut; das war auf der Sicherheitskonferenz in München deutlich zu spüren. Es ist
sehr schnell zerstört und es dauert sehr lange, bis es wieder aufgebaut ist.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tragen
Verantwortung für unser Land, jetzt und weit über den Tag
hinaus. In den 57 Jahren, die seit der totalen Niederlage
im Zweiten Weltkrieg vergangen sind, hat sich Deutschland dank der Politik kluger Staatsmänner zu einem
gleichberechtigten, geschätzten Partner entwickelt. Wir
gehören zur westlichen Wertegemeinschaft. Das ist für ein
Volk, von dem der Holocaust ausgegangen ist, weil es
dem Diktator nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt hat,
nicht selbstverständlich.
Wir sind stolz darauf, dass wir über eine gefestigte Demokratie verfügen, dass wir geschätztes Mitglied eines
Bündnisses sind, dass wir eine marktwirtschaftliche Ordnung haben, dass wir uns den Prinzipien der freien Welt
verpflichtet fühlen und dass wir uns ein einmalig hohes
Niveau an Wohlstand und sozialer Sicherheit erarbeitet
haben. Maßgeblich dafür war das Vertrauen, das uns die
anderen entgegengebracht haben. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht verletzen.
({2})
Zu diesem Wiederaufstieg Deutschlands haben die auf
gegenseitiges Vertrauen aufbauende transatlantische Partnerschaft, der Schutz durch die NATO in den Jahren des
Kalten Krieges, die irreversible Einbindung in die Europäische Union und die Einbettung in eine liberale Weltwirtschaftsordnung in besonderem Maße beigetragen.
Angesichts des Dilettantismus der letzten Wochen spüre
ich, dass dies alles für die Zukunft beschädigt ist.
Es stimmt schon eigenartig, Herr Bundeskanzler, was
große deutsche Zeitungen schreiben; ich habe einige
dabei. So ist zum Beispiel zu lesen, Wilhelm II. feiere
wieder fröhliche Urstände. Die „Süddeutsche Zeitung“
schreibt von „Gerhard II.“. Wenn man das liest, dann spürt
man, dass etwas zerbricht und dass etwas entsteht, von
dem wir in Deutschland geglaubt haben, dass wir es überwunden haben.
({3})
Das ist auch zu spüren, wenn man sich im Fernsehen
die aktuellen Nachrichten ansieht. Die NATO befindet
sich in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Das von Ihnen mitgetragene Veto hinsichtlich der Planung für den
Bündnisfall für die Türkei ist konzeptionslos. Es wird vieler diplomatischer Künste bedürfen, um all das zu reparieren, was an Porzellan zerschlagen worden ist.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere
NATO-Partner wissen doch noch: Sie waren diejenigen,
auf die die Deutschen angewiesen waren. Die NATO war
die entscheidende Basis für die Sicherung des Friedens in
den Jahren des Kalten Krieges. Davon haben wir profitiert.
Deutschland war das potenzielle Aufmarschgebiet des
Warschauer Paktes. Ohne die NATO hätten wir unsere Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit niemals erreicht.
({5})
Die NATO ist für uns nicht überflüssig geworden, seitdem uns an unserer östlichen Flanke keine Panzerarmeen
mehr feindlich gegenüberstehen. Die NATO ist für uns
notwendig, damit wir uns gegen die neuen terroristischen
Bedrohungen, die es auf der Welt gibt und die zunehmen,
verteidigen können; denn nur das gemeinsame Bündnis
verfügt über die entsprechenden Mittel.
({6})
Es geht hinsichtlich der Außenpolitik ein Riss durch
Europa.
({7})
- Das steht alles in dem Antrag. Machen Sie sich keine
Sorgen, Frau Göring-Eckardt! Hören Sie zu! Sie können
nur lernen.
({8})
Der Aufruf der acht EU-Regierungschefs zur transatlantischen Solidarität - jetzt komme ich auf den Antrag zu
sprechen - ist Ausdruck der abnehmenden Gemeinsamkeit
der Europäer. Warum sind denn die Deutschen nicht gefragt
worden, ob sie diesen Antrag mit unterschreiben? Vielleicht
wären wir zu einem gemeinsamen Antrag gekommen, Herr
Bundeskanzler. Es gab aber nie den Versuch, eine gemeinsame Position in Europa herzustellen. Wenn man sich von
vorneherein von seinen Partnern distanziert und ihnen zu
verstehen gibt, egal was sie beschließen, man mache nicht
mit und, egal was die Weltgemeinschaft vorsieht, man gehe
einen Sonderweg, dann muss man sich nicht wundern,
wenn man am Ende alleine dasteht.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fassungslosigkeit bei unseren amerikanischen Freunden gibt
es nicht nur bei George Bush, bei Rumsfeld und den Republikanern. Vielmehr ist diese Sorge auch auf der anderen politischen Seite sehr verbreitet.
Ich war nach der Sicherheitskonferenz abends in der
Residenz Nachbar von Senator Lieberman. Er war bekanntlich der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten. Als ich ihm gesagt habe, dass wir nur wegen etwas
mehr als 6 000 Stimmen den ersten Platz bei der Bundestagswahl verfehlt hatten, entgegnete er, die Demokraten
in den USA hätten den ersten Platz nicht wegen der Stimmenzahl, sondern wegen des Wahlsystems verfehlt, sonst
wäre er heute Vizepräsident. Aber trotz dieser Wahlauseinandersetzung ist man sich heute einig, dass man gemeinsam den Terrorismus bekämpfen muss, dass man gemeinsam gegen Schurkenstaaten vorgehen muss,
({10})
dass man gemeinsam Saddam Hussein in die Schranken
weisen muss. Es ist auch hier gesagt worden: Ohne amerikanische Soldaten dort wären heute keine Waffeninspekteure im Irak.
({11})
Was mir mindestens so viel Sorgen macht wie der möglicherweise bevorstehende Krieg, ist die Tatsache, dass
wir heute eine Art Sprachlosigkeit in den deutsch-amerikanischen Beziehungen haben. Herr Bundeskanzler,
wenn Sie zum Telefon greifen und den amerikanischen
Präsidenten anrufen wollen, hebt auf der anderen Seite
niemand den Telefonhörer ab.
({12})
Das ist etwas, was uns keine Schadenfreude bereitet, sondern es macht uns zutiefst besorgt. Ich darf einen Demokraten zitieren. Tom Lantos, ein hochrangiges Mitglied
des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses,
hat gesagt:
Hätte es die heldenhaften Anstrengungen des amerikanischen Militärs nicht gegeben, wären Frankreich,
Deutschland und Belgien heute sozialistische Sowjetrepubliken.
Ich frage den Herrn Bundeskanzler: Sind Sie denn eigentlich von allen guten Geistern verlassen, wenn Sie eine
Außenpolitik, zum Teil an Ihrem eigenen Außenministerium vorbei, machen, nach dem Motto: „Den Herren Bush
und Blair werden wir es zeigen!“? Wer das als Deutscher
glaubt machen zu können, der leidet unter Großmannssucht und vor Großmannssucht sollten wir uns hüten.
({13})
Heute wird die Achse Moskau-Berlin-Paris beschworen.
Ganz davon abgesehen, dass das Wort „Achsenmächte“ in
Deutschland und in Europa keinen guten Klang hat, muss
man erst einmal abwarten, ob diese Achse am Schluss hält.
Tatsache ist zum Beispiel, dass unser Partner Frankreich
zwar immer bei internationalen Krisen zunächst einen eigenen Kurs verfolgt hat, aber am Ende doch auf der Seite
der westlichen Gemeinschaft gestanden ist. Es ist auch
Tatsache, dass sich der russische Präsident Putin alle
Türen offen gelassen hat.
({14})
Die Frage ist doch: Worum geht es in diesen Tagen und
Wochen? Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat
es wie folgt auf den Punkt gebracht:
Als erster Diktator seit Hitler vereint Saddam Hussein
in seiner Politik Elemente des europäischen Faschismus und Stalinismus, blutigen Terror gegen die eigene
Bevölkerung, Aggressivität gegenüber anderen Staaten, Antizionismus und Antisemitismus, den eindeutigen Wunsch, die Kontrolle über bedeutende Teile der
weltweiten Ölversorgung zu erlangen, sowie eine unbeirrbare Entschlossenheit, sich chemische, biologische und atomare Waffen zu beschaffen.
Deswegen war doch die Antwort der Völkerfamilie klar
und unmissverständlich: glaubwürdige Kooperation mit
der UNO, ungehinderte Arbeit der Inspektoren, nachprüfbare Entwaffnung und definitiver Verzicht auf Massenvernichtungswaffen. Der Bericht von Chefinspektor Blix
und die Analyse von US-Außenminister Powell lassen jedoch erhebliche und begründete Zweifel am Irak aufkommen und diesen Zweifeln muss man nachgehen. Die
politische Führung des Irak hält sich nicht an die Abmachungen. Sie täuscht, vertuscht, sie trickst und taktiert.
Wenn Saddam an dieser Strategie festhält, bleibt - das befürchte ich - als Ultima Ratio, als allerletztes Mittel,
nichts anderes übrig als der Einsatz militärischer Gewalt.
Ich befürchte, dass dieses Regime keine anderen Hoffnungen zulässt.
Ich glaube, hier ist niemand, dem es nicht lieb wäre,
wenn sich das auf andere Art und Weise erledigen würde.
({15})
Niemand - vor allem die westliche Völkerfamilie nicht will Krieg. Wir kennen die Lehren aus der Geschichte der
Weltkriege. Wir wissen aber eines: Mit den Mitteln der
Friedensbewegung werden wir den Diktator in Bagdad
nicht zum Einlenken bewegen. Von der Bergpredigt lassen sich Christen und Nichtchristen, aber keineswegs
Saddam Hussein und Diktatoren seines Schlages beeindrucken.
({16})
Wir wissen auch - lassen Sie mich das in diesen ernsten Zeiten sagen -: Der gesinnungsethische Pazifismus
mag als Haltung des Einzelnen akzeptabel und durchaus
ehrenwert sein, zur Sicherung des weltweiten Friedens
und zur Eindämmung von Diktatoren taugt er allerdings
nicht. Hier ist Verantwortungsethik gefragt. Wer Saddam Hussein gewähren lässt, wird früher oder später für
die Folgen des Wegsehens aufkommen müssen. Um welche Folgen es sich dabei handelt, war in ZDF-Sendungen
an den letzten Abenden oder bei „Boulevard Bio“ deutlich
zu sehen. Wohin eine falsch verstandene AppeasementPolitik führt, konnte die Welt im vergangenen Jahrhundert
in der Auseinandersetzung mit dem rechten und linken
Totalitarismus erleben.
Ich habe Verständnis für die theologischen und humanitären Argumente unserer Volkskirchen. Ich freue mich
auch, wenn Fischer den Papst besucht; ich habe überhaupt
nichts dagegen. Ich bin Mitglied in meiner Kirche und
zahle im Gegensatz zu vielen Leuten auf der Regierungsbank Kirchensteuer.
({17})
Zu allen Zeiten habe ich mich zu dieser Kirche bekannt.
({18})
Ich kann die ablehnende Mehrheit, die gegenwärtig Angst
hat, irgendwo verstehen. Ich habe auch Verständnis für
eine Minderheit in meiner Fraktion, die gegen einen möglichen Militärschlag gegen den Irak ist. Wir müssen aber
auch die Folgen des Pazifismus im letzten Jahrhundert sehen. Hätte die Gemeinschaft der freien Völker Hitler damals rechtzeitig durch politische und - als Ultima Ratio militärische Mittel in die Schranken verwiesen, wäre
Deutschland und der Welt sehr viel erspart geblieben.
({19})
Ich glaube, all das gilt es zu bedenken. Die pazifistische Haltung der rot-grünen Bundesregierung ist wenig
glaubwürdig. Als es darum ging, den serbischen Diktator
Milosevic in die Schranken zu verweisen, hat sich Bundeskanzler Schröder zu einer deutschen Beteiligung bereit
erklärt; dies erfolgte im Übrigen bemerkenswerterweise
ohne ein Mandat der UNO. Das möchte ich hier auch noch
einmal feststellen. Ich halte es trotzdem für richtig. Heute
sieht es so aus, als ob die Bundesregierung den irakischen
Diktator für weniger brutal hält als den serbischen Diktator. Man weigert sich nämlich, selbst wenn die UNO dies
so fordern sollte - damit ist zu rechnen -, das zumindest
politisch zu unterstützen. Die Strategie des Bundeskanzlers im Irakkonflikt bestand und besteht bis jetzt in einem
sehr schwer erklärbaren Chaos-Schlingerkurs.
Ich möchte noch von einem weiteren Erlebnis auf der
Sicherheitskonferenz erzählen. Ein ehemaliger amerikanischer Botschafter hat mir am Samstagmittag beim Hinausgehen gesagt - zu diesem Zeitpunkt waren die Pläne,
massiv mit Blauhelmen dort hineinzugehen, durch den
„Spiegel“ bekannt gemacht worden -, er habe gedacht,
wir hätten in Deutschland keine Soldaten mehr. Er glaubte, unsere Kapazitäten seien bis an den Rand beansprucht.
({20})
Ich habe gesagt: Sie sehen das falsch, Herr Botschafter.
Wir haben nur einen Mangel an grünen Helmen. Offensichtlich sind genügend blaue Helme vorhanden.
({21})
- Was wollen Sie? Man kann auf so etwas nur halb scherzhaft antworten. Die anderen amüsieren sich nämlich in
hohem Maße über uns.
Diese diplomatischen Bocksprünge sind für unser
Land schlecht, weil sie das Vertrauen in die deutsche
Politik unterminieren. Daran können noch nicht einmal
wir als Opposition Vergnügen haben.
({22})
Was das auch für unsere Wirtschaft bedeutet, was es
für Folgen haben wird, wenn wir uns von Amerika, der
Lokomotive der Weltwirtschaft, weiter entfernen, wenn
amerikanische Investitionen ausbleiben und unsere Produkte in den USA nicht mehr gekauft werden - worauf
wir angewiesen sind -, all das müssen wir bedenken,
wenn wir in diesen Tagen über das Verhältnis zu den USA
reden.
Die Außenpolitik und vor allen Dingen unsere Bündnisfähigkeit und Solidarität sind zu wertvoll, um in Wahlkämpfen missbraucht zu werden. Herr Bundeskanzler,
Sie haben das im Bundestagswahlkampf getan. Schon damals war ich fassungslos, weil ich geglaubt habe, die
Staatsräson würde dies einem verantwortlichen Bundeskanzler verbieten. Sie haben dieses Verhalten im niedersächsischen und hessischen Wahlkampf wiederholt. Das
hat allerdings keine Auswirkungen mehr gehabt. Das
zeigt, wie reif die Wähler in Deutschland in dieser Hinsicht geworden sind.
({23})
Ich meine, wir sollten bei all unseren Entscheidungen
immer auch unsere Bündnisfähigkeit und Glaubwürdigkeit im Auge haben. Wir wissen: Wir können Diktatoren
nicht besiegen, wenn wir in unserer Haltung schwanken
und als freie Welt nicht entschlossen handeln. Hussein
setzt auf die Zerstrittenheit des Westens und hofft bis zuletzt, dass er an der Macht bleiben kann. Er versteht die
Sprache des Pazifismus nicht. Er versteht offensichtlich
nur die Sprache der Waffen, weil das seine Sprache ist.
Ich hoffe, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung im
letzten Moment abgewendet werden kann. Aber im Zweifelsfall muss ganz klar sein, dass wir an der Seite unserer
Freunde aus der freien Welt, unserer Freunde im Sicherheitsrat und unserer amerikanischen Freunde stehen, was
die politische Unterstützung anbelangt.
Herr Bundeskanzler, ein letzter Punkt. Sie scheuen Abstimmungen im Bundestag für eine notwendige Unterstützung offensichtlich wie der Teufel das Weihwasser.
Wenn Sie eine Zustimmung für den Einsatz von PatriotRaketen - meinetwegen auch mit deutschem Bedienungspersonal - brauchen, wenn Sie eine Unterstützung für den
Einsatz deutscher Soldaten in den AWACS-Maschinen
benötigen, sich aber auf Ihre Reihen im Bundestag nicht
verlassen können, dann sage ich Ihnen: Auf uns ist Verlass, wenn es um die Sicherheit unseres Landes für die Zukunft geht.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Peter Struck.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden über die aktuelle internationale Lage. Ich
möchte zunächst ein Wort zur Situation in Afghanistan
sagen.
Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Krisen und Konflikten und nicht zuletzt im Kampf gegen den Terrorismus als ein sehr zuverlässiger Verbündeter erwiesen. Das zeigt sich vor allen Dingen auch in
Afghanistan. Sie wissen, dass wir dort zu Beginn dieser
Woche zusammen mit den Niederländern eine noch
größere Verantwortung übernommen haben. Lassen Sie
mich meine persönlichen Eindrücke von dieser Übernahmezeremonie schildern.
Das Land ist absolut nicht sicher. Das haben auch die
Anschläge gezeigt, die anlässlich meines Besuches und
des Besuches des niederländischen Kollegen verübt worden sind. Diejenigen, die die Raketen abgeschossen haben, wollten uns signalisieren: Seid euch nicht zu sicher!
Wir können auch anders, wenn wir wollen! - Es bestand
nie eine persönliche Gefahr für mich oder meine Begleitung. Aber es ist ein politisches Signal gewesen, das wir
nicht unterschätzen sollten.
Die Fortschritte in Kabul sind jedoch unverkennbar.
Afghanistan erholt sich von den Wunden, die das Talibanregime geschlagen hat. Ich war das erste Mal im
Juli 2002 in Kabul. Damals konnte man die Schreckensstarre der Menschen wegen der Talibanterroristen noch
mit den Händen greifen. Ein halbes Jahr später hat sich
dieses Land zu einem Lächeln geöffnet, insbesondere
wenn man mit Kindern spricht. Diese Entwicklung wäre
ohne den Einsatz der Bundeswehr nicht vorstellbar.
({0})
Wir dürfen auf den Einsatz unserer Soldaten für den
Frieden in diesem geschundenen Land stolz sein. Die
Menschen wenden sich vor allen Dingen den Bundeswehrsoldaten geradezu mit Liebe zu. Sie wissen, dass sie
uns bzw. den Bundeswehrsoldaten die Schritte zur Normalität verdanken. Auch die Taliban wissen das. Die Taliban wie auch die Hekmatyar-Rebellen und al-Qaida-Reste wollen den ISAF-Soldaten das Handwerk legen. Uns
liegen entsprechende Informationen unserer Dienste und
unserer Partnerdienste vor. Sie rächen sich mit Selbstmordanschlägen und Raketenangriffen. Unsere Soldaten
sind in ihrem Auftrag der Weltgemeinschaft, ein demokratisches Afghanistan aufzubauen, höchst gefährdet.
Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler dazu ausgeführt hat. Auch angesichts der persönlichen Gefährdung für
ihr Leben, der die Soldaten vor allem in Afghanistan ausgesetzt sind, verdienen sie unseren höchsten Respekt und
unsere höchste Anerkennung für ihren Einsatz. Diese Auffassung teilt sicherlich der gesamte Deutsche Bundestag.
({1})
Ich spreche das deshalb an, weil ich Ihnen meine Auffassung zu den Äußerungen meines amerikanischen Kol1894
legen Donald Rumsfeld im amerikanischen Kongress
verdeutlichen möchte. Ich habe das übrigens auch dem
Kollegen Rumsfeld in einem Vieraugengespräch mitgeteilt.
({2})
Das deutsche Engagement im Kampf gegen den Terrorismus hat die USA spürbar entlastet. Daran kann wohl
kein Zweifel bestehen. Angesichts der Tatsache, dass sich
abgesehen von dem Kommando Spezialkräfte der deutschen Bundeswehr keine anderen Special Forces mehr im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan aufhalten - alle anderen sind schon verschwunden -, meine ich, dass wir uns nichts vorwerfen zu lassen
haben, schon gar nicht von den Vereinigten Staaten von
Amerika.
({3})
Wir vergessen nie, dass wir durch die amerikanische
politische und wirtschaftliche Unterstützung in einem stabilen demokratischen Land leben dürfen. Auch ich vergesse das nie. Das heißt aber nicht, dass ich es akzeptiere,
dass Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Deutschland in einem Atemzug mit Kuba und Libyen nennt. Das
ist inakzeptabel, unfair und mehr als ungehörig.
({4})
Das habe ich ihm auch persönlich gesagt. Ich will Ihnen
auch erläutern, warum ich das für absolut unfair und unamerikanisch halte. Das Gebot der Fairness ist schließlich
fast eine amerikanische Grundtugend.
Wir haben die Überflugrechte und die Nutzung der
US-Basen beschlossen. Wir haben beschlossen, dass
Truppenverlegungen über deutsches Territorium möglich
sind. Wir bewachen seit dem 24. Januar US-Einrichtungen. Gestern waren für diese Aufgabe 999 Soldaten an
18 Standorten in 17 Objekten im Einsatz. Maximal können 7 000 Soldaten abgestellt werden. Ich habe Rumsfeld
darauf angesprochen, was wohl unsere Soldaten, die in
der Winterkälte solche Einrichtungen schützen, darüber
denken, wenn ihr Land mit Libyen und Kuba gleichgesetzt wird. Das geht nicht an und das kann man ihm nicht
durchgehen lassen.
({5})
Er ist ein Mann, der eine klare Sprache spricht. Das bin
ich aber auch und ich meine, das geht nicht.
({6})
- Melden Sie sich doch bitte lauter zu Zwischenfragen!
Ich habe nichts dagegen, Herr Präsident.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben das Recht zu einer
Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Bundesverteidigungsminister, könnte in Ihren
Ausführungen, dass die Bundeswehr und die Bundesrepublik Deutschland eine Menge leisten und dass im
Übrigen von amerikanischer Seite nicht mehr Unterstützung seitens der Bundeswehr nachgefragt worden ist,
nicht in Wahrheit die Beschreibung des Problems liegen,
nämlich dass durch die unverantwortlichen Äußerungen
des Bundeskanzlers die deutsch-amerikanischen Beziehungen so geschädigt worden sind, obwohl der Dissens in
der Sache, was die Unterstützung selbst anbetrifft, nicht
so groß ist?
Nein, das sehe ich völlig anders, Herr Kollege
Schäuble. In den Debatten über eine mögliche Beteiligung Deutschlands oder anderer Länder am Irakkrieg,
die im Sommer begannen, war völlig klar, dass sich die
Bundesrepublik Deutschland - das hat der Bundeskanzler
im Sommer wie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt erklärt - nicht an militärischen Maßnahmen beteiligen wird
und dass wir eine andere politische Zielrichtung verfolgen. Der Kanzler hat das ja dargelegt.
Das haben die Amerikaner auch akzeptiert. Sie haben
akzeptiert, dass wir nicht mit Bodentruppen oder sonst etwas im Irak sind. Aber sie haben natürlich auch andere
Wünsche geäußert. Ich habe eben die Erfüllung einiger
Wünsche dargestellt.
Mein Punkt ist: Wenn ich zum Beispiel darauf hinweise, dass wir natürlich die Transporte von RheinlandPfalz nach Bremerhaven absichern werden, wenn sie notwendig werden, dass wir die Straße von Gibraltar und die
Einfahrt in den Suezkanal im Zusammenhang mit der
Operation „Active Endeavour“ im Kampf gegen den internationalen Terrorismus schützen, dass unsere Marine
am Horn von Afrika ist, dass wir dem AWACS-Einsatz
zustimmen werden - das alles wissen Sie doch -, dann
kann ich nicht verstehen, dass ein amerikanischer Verteidigungsminister so tut, als sei das alles gar nichts und wir
seien genauso wie Fidel Castro oder Muammar al-Gaddafi.
Das kann ich nicht verstehen. Das muss man auch sagen.
({0})
Ich bin in dem Gespräch mit Donald Rumsfeld in dieser Frage natürlich letztlich nicht einig geworden. Er - das
will ich der Fairness halber auch erwähnen - hat mir gesagt, ich möge dem Bundestag mitteilen, diese Bemerkung über Libyen, Kuba und Deutschland habe sich nur
auf die Frage bezogen, die ihm ein Congressman gestellt
hat, wer sich alles am Krieg nicht beteiligen wolle. Das ist
schon eine eigenartige Begründung von Donald Rumsfeld.
Nachdem das geklärt war, haben wir noch einen Punkt
besprochen, den ich dem Deutschen Bundestag auch nicht
vorenthalten möchte. Es gibt Meldungen - sie sind auf der
Sicherheitskonferenz kolportiert worden -, amerikanische Einheiten, die für andere Zwecke schon abgezogen
sind - ich sage jetzt nicht, für welche -, kämen nie wieder
nach Deutschland und US-Standorte in Deutschland würden geschlossen und nach Polen verlagert werden. Ich
habe ihn auf diese Meldungen angesprochen. Er hat mir
klar erklärt - ich sage das hier auch dem Parlament -:
Diese Meldungen sind falsch.
Ich finde das sehr wichtig, denn es wird plötzlich eine
Situation hervorgerufen, als würden wir von den Vereinigten Staaten von Amerika für unbotmäßiges Verhalten
abgestraft werden. Das ist nicht so. Diese Klarstellung
begrüße ich.
Unterschiedliche Auffassungen gibt es in dieser einen
Frage. Man muss auch klar sagen, welche Positionen man
hat.
Ich möchte etwas zu den Themen Patriot und AWACS
sagen. Seit dem vergangenen Freitag liegt eine Anfrage
meines niederländischen Kollegen, der mit mir zusammen in Afghanistan, in Kabul, war, zur Überlassung einer
gewissen Zahl von Patriot-Lenkflugkörpern in leistungsgesteigerter Version vor. Die leistungsgesteigerte Version
haben nur wir und nicht die Holländer. Es geht also um
Missiles, nicht um Abschussbatterien. Wir haben dieser
Bitte entsprochen.
({1})
Wir werden diese Patriot-Missiles zusammen mit den niederländischen Batterien ab morgen oder übermorgen auf
dem Seeweg in die Türkei bringen. Dazu haben wir auch
entsprechende Vereinbarungen geschlossen.
({2})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann will ich das noch
einmal beantworten. Sie sind ja sachkundig. Machen Sie
das!
({3})
- Nein, Sie dürfen nicht einfach nur so einen Unsinn dazwischenrufen. Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann
werde ich Ihnen das erklären.
({4})
Herr Minister, Sie haben gerade in einer etwas geheimnisvollen Sprachregelung versucht, uns zu erklären,
dass uns die Holländer gebeten haben, Material zur Verfügung zu stellen, damit die Niederländer es in die Türkei
bringen können. Können Sie mir erklären, warum es nicht
einen direkten Weg von Deutschland in die Türkei gibt,
warum der vielmehr über die Niederlande organisiert werden muss?
Ich versuche das. Es gibt - da haben Sie nicht zugehört - keine Bitte der Türkei an Deutschland, Patriot-Raketen zu liefern.
({0})
Es gibt eine Bitte der Türkei an die Niederlande, PatriotBatterien und -Raketen zu liefern.
({1})
- Da müssen Sie nicht lachen, Herr Kollege. Wenn die
Türkei die Niederlande bittet, Patriot-Raketen - ({2})
- Entschuldigung, natürlich haben die Holländer die. Ich
muss Ihnen das erklären. Sie sind kein Verteidigungspolitiker. Sie können das nicht so wissen.
({3})
Es gibt Abschussrampen, die Holland, Deutschland und
die USA haben. Daneben gibt es bestimmte Missiles, Bewaffnungen dafür. Die Bewaffnungen, die die Holländer
auf ihren Batterien haben, werden von der Türkei als nicht
so effizient angesehen wie die, die wir haben, die punktgenauer angreifende Raketen bekämpfen können.
Es gibt also eine Anfrage der Türkei an die Niederlande. Die Niederlande hat gesagt: Wir liefern die Batterien. Wenn gewünscht wird - so war es -, dass zielgenauere Raketen mitgeliefert werden sollen, dann tun wir
das. - Sie können sich gern wieder setzen, Herr Schauerte.
Wir tun das auch deshalb, weil wir, wie Sie wissen, Patriot-Batterien einschließlich Raketen nach Israel liefern.
Ich denke, das ist auch im Sinne des Deutschen Bundestages; wir haben darüber ja im Zusammenhang mit Israel
diskutiert. Das war eine vernünftige und richtige Entscheidung.
({4})
Ich möchte Ihnen noch etwas vorhalten. Ich habe an
der Münchener Sicherheitskonferenz teilgenommen. Der
Bundeskanzler hat eben von der „coalition of the willing“
für den Krieg gesprochen, an der sich auch die Union
beteiligen will. Da haben Sie empört reagiert. Herr
Westerwelle hat die Union verteidigt und gesagt, sie sei
keine Kriegspartei.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nolting?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Nolting.
Herr Minister, ich hatte Sie gestern im Verteidigungsausschuss schon darauf angesprochen, dass es die Idee
gibt, Blauhelme im Irak einzusetzen. Der Kollege
Dr. Hoyer hatte Sie auf der Sicherheitskonferenz in München danach gefragt und Sie haben darauf verwiesen, der
Herr Bundeskanzler würde dazu heute Stellung nehmen.
Sie haben mir gestern erklärt, auch Sie würden heute dazu
Stellung nehmen. Können Sie uns sagen, wie dieser Ein1896
satz organisiert werden soll, welche Truppen von wem zur
Verfügung stehen und in welcher Größenordnung Blauhelme eingesetzt werden sollen?
({0})
Das ist eine Frage, die die Öffentlichkeit beschäftigt. Ich
denke, Sie sollten hier eine Information dazu geben.
({1})
Ich möchte zunächst noch einmal klarstellen, dass die
Antwort auf die Frage des Kollegen Hoyer anlässlich meines Referats bei der Sicherheitskonferenz, ob ich zu dem
Thema Blauhelme und deutsch-französischer Geheimplan etwas sagen wolle, war: Ich kann dazu nichts sagen.
Die Antwort hieß nicht: Ich will dazu nichts sagen. Ich
wollte zu dem Vorgang zu dem Zeitpunkt auch nichts sagen, was natürlich richtig war. Der Kanzler hat jetzt darüber gesprochen, welche Gespräche mit Frankreich laufen.
Die Bemerkung, es sei ein Geheimplan, ist absoluter Unsinn; das haben wir auch klargestellt. Das betrifft auch die
Frage der Blauhelme.
Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Eine solche Situation ist im Augenblick nicht ersichtlich. Wir werden sehen, wie sich die Situation weiter entwickelt, was im Sicherheitsrat beraten wird, welche Erfolge die Initiative
Deutschlands, Frankreichs und Russlands haben wird.
Nehmen Sie gern Platz, Herr Nolting. Es dauert ein
bisschen länger.
Ich sage Ihnen nur: Jeder deutsche Politiker, der auf die
Frage „Können Sie sich vorstellen, dass irgendwann im
Irak auch Blauhelme zum Einsatz kommen?“ Nein sagt,
hat nun wirklich sein Amt verfehlt. Natürlich kann das
einmal passieren. Wir sehen das im Augenblick nicht,
aber wir wollen es nicht theoretisch für alle Zeiten und
ewig ausschließen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Nolting?
Also gut, noch eine kurze Zusatzfrage.
Herr Minister, hat es denn in dieser wichtigen Frage
eine Abstimmung zwischen dem Bundeskanzleramt, dem
Bundeskanzler und Ihnen sowie den Fachleuten im Verteidigungsministerium gegeben? Man bringt so etwas ja
nicht in die Öffentlichkeit, ohne dass es vorher entsprechende Planungen gibt. Ich gehe davon aus, dass Sie genau wie der Herr Bundesaußenminister auch darüber informiert waren. Oder war das nicht der Fall und konnten
Sie deshalb nicht Stellung nehmen?
Diese Frage ist nach meinen Informationen gestern in
der Aktuellen Stunde und in der Fragestunde erörtert worden. Staatsminister Schwanitz hat darauf geantwortet. Ich
habe seiner Antwort überhaupt nichts hinzuzufügen.
({0})
- Herr Schwanitz hat Informationen gegeben. Warum soll
ich das hier noch einmal bestätigen?
({1})
Jetzt noch einmal zur Position der Union: Wir diskutieren über eine unterschiedliche politische Bewertung einer Frage. Ich muss Ihnen das jedoch noch einmal vorhalten, denn Herr Kollege Glos hat leider nicht darüber
gesprochen. Vielleicht kann das ja Herr Schäuble, der irgendwann hier auch noch reden wird, klarstellen. Es geht
um die Frage: Was passiert, wenn im Irak tatsächlich militärische Maßnahmen erfolgen, von wem auch immer initiert? Die Position der Bundesregierung ist eindeutig.
Wenn Sie das nicht als Pathos abtun - darum bitte ich -,
dann möchte ich Ihnen auch einen persönlichen Eindruck
schildern - Joschka Fischer hat schon darüber gesprochen -: Ich habe am ersten Weihnachtstag in Köln-Wahn
zusammen mit den Angehörigen die sterblichen Überreste der sieben abgestürzten Soldaten empfangen. Das damit verbundene Zeremoniell und die anderthalb Stunden
Vorgespräche, die ich mit den Angehörigen geführt habe
und die mir Fragen wie „Habt ihr auch den richtigen Hubschrauber zur Verfügung gestellt?“ gestellt haben - Sie
können sich sicherlich vorstellen, wie diese Gespräche
aussahen -, haben jedenfalls mich zu einer ganz persönlichen Erkenntnis gebracht: Ich möchte als Verteidigungsminister niemals wieder - das wünsche ich auch keiner
meiner Nachfolgerinnen bzw. keinem meiner Nachfolger - in die Lage kommen, tote deutsche Soldaten in der
Heimat zu empfangen. Das kann man eigentlich niemandem zumuten.
({2})
Jeder sollte wissen, was in einer solchen Situation auf ihn
zukommt.
Jetzt zur Position der Union: Über sie muss Klarheit
herrschen. Frau Merkel hat in München gesagt: Diktatoren verstehen - das ist sicherlich richtig - nur die Sprache
der Bedrohung.
({3})
Wenn die friedliche Entwaffnung sich am Ende als Fehlschlag erweist, befürworten wir auch im Interesse der internationalen Sicherheit und der Autorität des UN-Sicherheitsrates ein militärisches Vorgehen.
({4})
Deutschland solle sich in diesem Fall nach seinem eigenen Vermögen beteiligen. Stoiber - ich saß bei seinem ersten Auftritt neben ihm; er hat mich überrascht; denn am
Samstagmorgen hat er auf die Rede von Rumsfeld mit Bedenken reagiert - hat gesagt: Die Gefahren durch den Irak
würden hier „so nicht in der Breite gesehen“. Er hat des
Weiteren mehr Zeit für die Inspektionen gefordert. Abends
beim Essen für die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz
- ich war wieder dabei - hat er Folgendes gesagt: Sollte es
nicht gelingen, mit friedlichen Mitteln die Gefahren aus
dem Irak zu bannen, muss Deutschland auch bei einer militärischen Auseinandersetzung an der Seite der USA stehen. Das bedeutet, das, was der Bundeskanzler vorhin gesagt hat - Stichwort „coalition of the willing“ -, ist richtig.
Sie wollen in dem Fall, über den wir reden, militärisch an
der Seite der USA stehen. Dazu sage ich Ihnen: Das ist
falsch. Das muss man im Deutschen Bundestag deutlich
herausarbeiten.
({5})
Die Position der Bundesregierung ist völlig eindeutig.
Wir werden nach den Beratungen im UN-Sicherheitsrat
am Freitag, spätestens am Samstag im NATO-Rat eine
Entscheidung treffen, die den Interessen der Türkei absolut gerecht werden wird; denn wir haben niemals einen
Zweifel daran gelassen - auch jetzt werde ich daran keinen lassen -, dass die Türkei ein Bündnispartner der
NATO ist und den Schutz bekommt, den sie braucht,
wenn unmittelbare Gefahren drohen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
beiden wird in geeigneter Form mitgeteilt werden, dass es
besser wäre, wenn sie hier wären.
({0})
Ich möchte nur ein paar Anmerkungen machen. Der
Außenminister hat wortreich eine internationale Lageanalyse über die schwierigen Regionen dieser Welt ausgeführt. Das alles ist zwar richtig gewesen. Aber leider
will sich die Welt nicht immer so entwickeln, wie es guten
Deutschen richtig erscheint. Sie entwickelt sich oft anders
und stellt uns vor andere Fragen als diejenigen, die von einem Planungsstab nach einer klugen Lageanalyse vorgetragen werden könnten. Die jetzige Lage, in der wir uns
befinden, ist ganz einfach: Die internationale Öffentlichkeit hat versucht, Druck aufzubauen, damit das Regime
von Saddam Hussein wieder Inspektoren ins Land lässt,
um so im Irak Sachen auf die Spur zu kommen, die erkennbar noch vorhanden sein müssen und die andere
Menschen bedrohen.
Als sich die internationale Völkergemeinschaft darangemacht hat, hat der deutsche Bundeskanzler im Bundestagswahlkampf gesagt: Wir nicht. Wir sind am Ende nicht
dabei. Keine deutschen Soldaten in den Irak. - Es hatte
ihn im Übrigen auch niemand gebeten, deutsche Soldaten
in den Irak zu entsenden. - Der erste große strategische
Fehler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist mit
dieser Aussage gemacht worden.
({1})
Wer erklärt, wie dies der Herr Bundeskanzler und der
Bundesaußenminister hier getan haben, dass er in strikter
Bindung an das Völkerrecht vorgehen will, dass er das
Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen halten will,
dass er unilaterales Vorgehen nicht akzeptiert, der muss
eine Außen- und Sicherheitspolitik betreiben, die die Autorität des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stärkt
und nicht schwächt. - Das ist der erste Punkt.
({2})
Damit hat die Bundesrepublik Deutschland einem Diktator angezeigt, er könne entkommen und seine Politik
weiterführen, ohne mit dem Letzten rechnen zu müssen.
Sie hat Frieden gesinnungsethisch definiert, aber nicht
verantwortungsethisch. Ich verwahre mich dagegen, dass
alle die, die Frieden und Sicherheitspolitik auch verantwortungsethisch definieren, wie dies die Fraktion der
Freien Demokratischen Partei hier tut, so dargestellt werden wie vorhin auch die Union, als seien sie leichtfertig
eher bereit, Krieg als Mittel einzusetzen. Mit Vaclav Havel lasse ich mich gern in eine Reihe stellen.
({3})
Das Zweite sage ich jetzt einmal bewusst an die Reihen der Grünen gerichtet. Völkerrecht setzt sich, wie auch
Sie erfahren mussten, nicht von selbst durch. Sie haben es
beim Kosovo erfahren - sogar ohne Entscheidung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Sie mussten in der
damaligen Situation auch in Ihren Reihen dafür werben,
sich militärisch zu engagieren, weil Sie den Menschen im
Kosovo sonst nicht hätten helfen können.
Die Bundesregierung hat der Sicherheitsratsresolution 1441 zugestimmt. Diese Sicherheitsratsresolution
hat alle Komponenten zum Erreichen der Entwaffnung
des Irak - alle. Frankreich hat sich die letzte Option nicht
verschlossen, Russland nicht und China auch nicht. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden das in diesem Parlament
noch einmal diskutieren. Ich kann nicht ausschließen,
dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
und der Bundesaußenminister sowie die gesamte Regierung am Ende ganz allein dastehen. Ich sage Ihnen, dass
Sie es nicht verantworten können, diese Linie heute dem
Deutschen Bundestag vorzutragen, weil Sie im Grunde
gegen Ihre eigene Position schon heute sagen, Sie wüssten
genau, was die Inspektoren vortragen würden. Ihr Bundeskanzler hat in Goslar gesagt: Selbst wenn wir den Inspektoren noch vier Wochen mehr Zeit geben: Auch das
Ergebnis, das sie in vier Wochen vortragen werden, inte1898
ressiert uns nicht; auch wenn der Mann seine Waffen nicht
abräumt, werden wir ihn nicht mit militärischen Mitteln
dazu zwingen. - Ich finde, dass eine Weltgemeinschaft,
auch vertreten durch die Regierung der Bundesrepublik
Deutschland, die Wert darauf legt, dass sie aus der Geschichte gelernt hat, die ein Gewaltmonopol beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hält, diesem Gewaltmonopol auch Autorität und Durchsetzungsfähigkeit
verschaffen muss; denn sonst trägt es nicht.
({4})
Ich will damit sagen, dass Deutschland eine außerordentlich große Möglichkeit strategischer Außen- und Sicherheitspolitik vergeben hat - aus Wahlkampfgründen in einem Moment, in dem dieses Land nach einer langen
Nachkriegsgeschichte den Vorsitz im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen hat und eigentlich alles hätte tun müssen, um zusammenzuführen. Ein solcher nicht nur handwerklicher, sondern auch politisch-strategischer Fehler ist
in der Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik
Deutschland ohne Beispiel.
({5})
Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zum Bundesverteidigungsminister. Herr Bundesverteidigungsminister,
Sie haben ruhig vorgetragen, Sie engagieren sich, Sie haben hier wortreich dargestellt, wie der Verlauf der Verhandlungen über die Patriot-Raketen gewesen ist, aber Sie
werden sich noch gewaltig anstrengen müssen. Sie können weder der ganzen Weltöffentlichkeit noch einem
Bündnispartner erklären, selbst wenn Sie noch eine
Stunde Redezeit bekämen, wieso die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die im NATO-Bündnis übrigens stärker integriert ist als Frankreich, dem Bündnispartner Türkei Lieferungen verweigert
({6})
oder jedenfalls nicht politisch verständlich auf eine entsprechende Anfrage antwortet. Die Türkei ist unser Bündnispartner und definiert ihre Sicherheit selbst; wir können
dies nicht für sie tun.
({7})
Die oberlehrerhafte Art in Deutschland, darzustellen, wie
die Sicherheitsempfindungen der Türkei aussehen, steht
im krassen Widerspruch dazu, die türkische Bevölkerung
immer wieder dazu einzuladen, zu uns nach Europa zu
kommen.
Dieses Bündnis hat uns jahrzehntelang geschützt. Wir
haben wie selbstverständlich erwartet, dass das Bündnis
sofort reagiert, wenn sich die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet fühlt. Warum um alles in
der Welt sind Sie nicht in der Lage, einer anderen Bevölkerung die gleiche Sicherheit zu geben, die andere uns
jahrzehntelang gegeben haben? Das versteht niemand
mehr. Dass Sie dazu nicht in der Lage sind, ist der Grund
dafür, dass andere an uns zweifeln, dass andere fragen:
„Was denken die sich denn?“, und dass die Bundesregierung allmählich jeden internationalen Kredit verspielt, im
Übrigen auch emotional.
Herr Kollege Gerhardt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das war es eigentlich schon.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ludger Volmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute hauptsächlich darüber, wie die UNResolution 1441 umgesetzt werden kann. Wir reden darüber, wie Saddam Hussein dazu bewegt und genötigt
werden kann, endgültig abzurüsten. An dem Ziel, ihn dazu
zu bewegen, arbeiten wir alle gemeinsam. Diese Zielsetzung verbindet uns alle.
Dennoch möchte ich einige Fragen aufwerfen. Ich
möchte zum Beispiel die Frage aufwerfen, wie der Irak
überhaupt ins Visier geraten ist. Damit verbunden ist die
Frage: Warum ausgerechnet der Irak? Nach dem 11. September 2001 waren wir alle - einheitlich, ohne Zweifel,
ohne Zögern - solidarisch mit den Vereinigten Staaten.
Wir alle wussten - manchen Pazifisten fiel es schwer -,
dass man auch militärische Mittel braucht, um den internationalen Terrorismus einzudämmen und niederzukämpfen. Es ging kein Weg daran vorbei, solche Mittel auch gegen das Taliban-beherrschte Afghanistan einzusetzen.
Bis dahin gab es keinen Dissens.
Aber dann begann die Diskussion über die Phase zwei
der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Dann
wurden neue Ziele Gegenstand der Diskussion und eines
dieser Ziele war plötzlich der Irak. Wir haben schon damals die Fragen gestellt: Warum der Irak? Wo ist eigentlich der Zusammenhang zwischen dem Irak und dem internationalen Terrorismus? Dieser Zusammenhang ist nie
nachgewiesen worden.
Ich wundere mich wirklich, dass diejenigen, die meinen, dass der Irak ein Ziel bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sein muss, nicht auf das vor
kurzem bekannt gewordene Tonband eingegangen sind,
das angeblich einen Aufruf von Bin Laden enthält. Warum
wird das in dieser Diskussion verschwiegen? Das geschieht doch wohl deshalb, weil dieses Tonband eher eines beweist: Es gab keine Unterstützung von al-Qaida für
den Irak; vielmehr hatten der arabische Nationalismus, für
den der Irak steht, und der islamische Fundamentalismus,
für den Bin Laden steht, in der Vergangenheit nichts miteinander zu tun. Ich halte jede Sicherheitspolitik für verfehlt, die diese beiden - gleichermaßen problematischen
- Stränge in Verbindung bringt und sie geradezu veranlasst, sich gegen uns zu verbünden. Eine solche Sicherheitspolitik ist nicht in unserem Interesse, sie ist nicht im
europäischen Interesse und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie im amerikanischen Interesse ist.
({0})
Wir müssen doch alles daransetzen, dass die arabische
Welt und der islamische Fundamentalismus auseinander
gehalten werden. Deshalb frage ich mich, ob diese Sicherheitspolitik - sie begründet den geplanten Angriff auf
den Irak mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus - eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in
Gang bringt: die Zusammenarbeit - es hat sie vorher nicht
gegeben - von Bin Laden und Saddam Hussein. Eine solche verhängnisvolle Entwicklung müssen wir verhindern.
({1})
Es wird die für manche Pazifisten durchaus unbequeme
Auffassung vertreten, dass man auch ein militärisches Bedrohungsszenario braucht, um einen Despoten wie Saddam Hussein in die Knie zu zwingen bzw. zu veranlassen,
die ihm in internationalen Resolutionen aufgetragenen
Verpflichtungen zu erfüllen. Man kann darüber streiten.
({2})
Aber der Aufbau einer Drohkulisse impliziert auf jeden
Fall zweierlei:
Erstens muss man selber bereit und willens sein, die
Drohung auch umzusetzen. Wenn man sich dazu bekennt,
kann man schlecht sagen: Wir selbst halten uns heraus und
lassen andere kämpfen. Von daher muss man sich vorher
Gedanken darüber machen, ob man den Weg einer Drohpolitik einschlägt. Wir waren von Anfang an skeptisch.
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang: Wenn die
an Saddam Hussein gerichtete Drohung in dem Sinne effektiv sein soll, dass er wirklich abrüstet, dann muss ihm
auch das Gefühl vermittelt werden, dass die Drohkulissen irgendwann wieder abgebaut werden. Wenn Saddam Hussein
aber glauben kann, dass er auf jeden Fall angegriffen wird,
stellt sich doch die Frage, wo für ihn der Anreiz zur Abrüstung liegt. Das ist vielmehr ein Anreiz zur Aufrüstung.
({3})
Ich denke, dies gehört zu den Unklarheiten einer solchen
Drohpolitik.
Der Inhalt der UN-Resolution 1441, auf die wir uns beziehen, ist klar: Sie hat die Abrüstung des Iraks zum Ziel.
Es gibt aber viele kompetente Sprecher in und rund um die
Administration in Washington, die andere Ziele verfolgen
und auch nach außen hin propagieren. Sie propagieren
nicht die Abrüstung des Iraks, sondern den Sturz des Diktators. Nun hat keiner von uns irgendwelche Sympathien
für diesen Diktator; alle wären froh, wenn er weg wäre.
Unter sicherheitspolitischen Aspekten braucht man aber
klare politische Zielsetzungen, weil man sonst zu einer
antagonistischen und widersprüchlichen eigenen Haltung
kommt. Wenn Saddam Hussein den Glauben haben kann,
dass es um seinen Kopf und nicht um die Abrüstung des
Iraks geht, warum sollte er dann abrüsten? Wenn es um
seinen Kopf geht, wird er die Waffen behalten und aufrüsten. Das ist eine der Unklarheiten, die sich bei einer Analyse dieser Drohkulisse ergibt.
Meine Damen und Herren, einige der Kollegen haben
argumentiert, wie richtig es damals war, mit dem NATODoppelbeschluss den damals noch gegnerischen Block
durch Hochrüstung in die Knie zu zwingen.
({4})
Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob diese konservative Sicht der Dinge nicht auch etwas für sich hat.
({5})
Aber dass es dann zur Abrüstung in beiden Blöcken kam,
hing damit zusammen, dass die Drohpolitik, die mit atomarer Aufrüstung verbunden war, massiv an Rückhalt in
der eigenen Bevölkerung verloren hatte. Der Ausdruck
hiervon waren massenhafte Friedensdemonstrationen.
({6})
Diese wiederum waren in der Wahrnehmung der sowjetischen Seite mit ein Grund dafür, dass Gorbatschow zu dem
Schluss kam, er könne abrüsten, ohne Gefahr zu laufen, gegenüber dem Westen in eine sicherheitspolitisch nachteilige
Lage zu geraten. Auch Perzeption und Fehlperzeptionen
sind Realitäten. Mit ähnlichen Fehlperzeptionen muss man
bei Saddam Hussein und in der arabischen Welt rechnen.
({7})
Wir sind deshalb so froh, dass der Heilige Stuhl, der
Papst, die katholischen Bischöfe und die EKD-Synode ein
so klares Bekenntnis gegen den Krieg abgegeben haben.
({8})
Das sind keine kleinen Gruppen schwärmerischer Friedensfreunde, das sind die wesentlichen Instanzen der
christlichen Welt. Sie haben ihre Verantwortung in zweierlei Hinsicht wahrgenommen. Ich frage mich, warum die
Partei, die das große C in ihrem Namen führt und sich
christlich nennt, nicht zumindest aufmerksam wird, wenn
der Heilige Stuhl so dramatische Mahnungen formuliert.
Es gibt zum einen das moralische und das ethische Argument, dass ein Angriff auf den Irak ein massenweises
Sterben der Zivilbevölkerung nach sich ziehen wird.
Schon deshalb verbietet sich aus ethischen Gründen ein
Angriff auf den Irak.
({9})
Wir wissen, dass der Diktator, indem er seine Waffen in zivile Gebiete disloziert, mit dazu beiträgt, dieses Elend herbeizuführen. Aber da wir dieses wissen, können wir nicht
mehr arglos so tun, als ginge es nur um militärische Ziele.
Wir wissen heute, dass es Zehntausende von Toten und
Millionen von Flüchtlingen geben wird. Das ist ethisch
einfach nicht vertretbar.
({10})
Zum anderen hat der Heilige Stuhl deutlich gemacht,
dass wir alles vermeiden müssen, was den Eindruck erweckt, es ginge hier um den fundamentalen Kampf
der westlich-christlichen Welt gegen die arabischislamische Welt. Auch vor diesem Hintergrund - das ist
die Rückmeldung aus allen arabischen Staaten - war es
sinnvoll, notwendig und ein mutiger Akt, dessen Berechtigung sich jetzt wieder erweist, dass Frankreich
und Deutschland von Anfang an gesagt haben: Wir beharren auf einer friedlichen Lösung; denn alles andere
wäre in der Wahrnehmung - und sei es eine Fehlwahrnehmung, denn auch diese wäre Realität - der arabischen Welt so erschienen, als würde sich die gesamte
westlich-christliche Welt gegen die arabisch-islamische
Welt verbünden. Dann hätten wir den Kampf der Kulturen, den wir unbedingt vermeiden müssen. Auch auf
diese Mahnung des Vatikans reagieren wir mit unserer
Politik.
({11})
Wenn nun immer wieder die Blocklogik der 80erJahre zitiert wird, dann frage ich diejenigen, die so diskutieren, als ginge es hier um eine symmetrische Auseinandersetzung, um den Krieg zwischen Staaten, Blöcken
oder Regionen: Wo ist denn heute der eine und wo der andere Block? Laufen Sie damit nicht in die Falle, indirekt
den Kampf der Kulturen zu propagieren? Tun Sie dies
nicht, wenn Sie sagen: Jeder, der nicht für uns ist, ist gegen uns; alle westlich-christlichen Staaten müssen zu einem bestimmten Fähnlein eilen? Besteht nicht genau
dann die Gefahr, dass die anderen zu einem anderen
Fähnlein eilen?
({12})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Volmer.
Deshalb frage ich mich: Wenn diese Blocklogik heute
nicht mehr bedeutsam ist und nicht mehr wirkt, wenn wir
heute völlig andere, asymmetrische Konfliktstrukturen
haben, wenn es die erste Aufgabe ist, den internationalen
Terrorismus zu bekämpfen, der durch Asymmetrie gekennzeichnet ist, warum dann dieser Rückfall in einen
symmetrischen Staatenkrieg? Das ist Atavismus, ein
Rückfall in eine längst überwundene Historie. Wir brauchen eine neue Sicherheitspolitik und eine friedliche Lösung für den Irak. Deshalb unterstützen wir mit Nachdruck die Politik der Bundesregierung.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das Merkwürdige an dieser Debatte ist der Widerspruch zwischen dem, was wir in den Ausschüssen des
Bundestags diskutieren, was in Kreisen der sich beruflich
mit diesem Thema beschäftigenden Diplomaten und Sicherheitspolitiker in der internationalen Gemeinschaft, in
der EU, in der NATO, in der UNO, sowie der Diplomaten
im Auswärtigen Dienst diskutiert wird, dem, was die Journalisten, die sich kontinuierlich mit Außenpolitik beschäftigen, schreiben und kommentieren, und der Stimmung in der Bevölkerung.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
- das hat er übrigens auch vorher in der SPD-Fraktion angekündigt - gesagt, er setze nicht darauf, was andere
Staatsmänner denken und reden, sondern auf die Stimmung in der Bevölkerung. Damit ist die Sache in einer
Demokratie noch nicht abgeschlossen. Aber der Bundeskanzler ist daraufhin in mehreren großen deutschen Tageszeitungen mit Wilhelm II. verglichen worden,
({0})
und zwar, weil auch dieser damals viel Zustimmung in der
Bevölkerung hatte, bis weit in das Elend des Ersten Weltkriegs hinein. Es war nur leider die falsche Politik.
({1})
Verantwortliche politische Führung hat - gerade in einer Frage, in der die Menschen in besonderer Weise betroffen sind, die man deshalb ernst nehmen und für die
man Verständnis aufbringen muss - die Aufgabe, den
Menschen zu erklären, welcher Weg nach sorgfältiger
Prüfung wahrscheinlich der sicherere in eine Zukunft von
Frieden und Freiheit ist.
({2})
Nun möchte ich Ihnen sagen: Für die Bundesrepublik
Deutschland ist es seit 50 Jahren ganz sicher der bessere
Weg, wenn wir in die zwei folgenden Elemente deutscher
Außenpolitik fest eingebunden sind: in die europäische
Einigung und in die atlantische Partnerschaft. Das ist das
Grundaxiom deutscher Außenpolitik.
({3})
Wer als Regierungschef - ob im Handeln oder nur im Reden - dagegen verstößt, gefährdet die Zukunftsinteressen
unseres wiedervereinten Deutschlands.
Durch die Ausführungen des Bundesverteidigungsministers - Herr Bundesverteidigungsminister, ich wünsche Ihnen gute Besserung; es war anstrengend für Sie;
ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gesundheitlich bald wieder gut geht, und bedanke mich für Ihre Antwort auf
meine Zwischenfrage - ist deutlich geworden, dass niemand in den letzten Monaten von der Bundesrepublik
Deutschland eine weitergehende militärische Beteiligung
an etwa notwendig werdenden Maßnahmen zur Durchsetzung der Resolution des Weltsicherheitsrates gefordert
hat, als die Bundesregierung im Wesentlichen zu geben
bereit ist. Das ist der Punkt. Das betrifft zum Beispiel
AWACS.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag, den wir
anlässlich dieser Debatte vorgelegt haben, darauf hingewiesen. Ich empfehle ihn Ihrer Aufmerksamkeit. Darin
steht, was Sie von der Fraktionsvorsitzenden gerne gehört
hätten; sie hat es übrigens gesagt. In dem Abschnitt „Vor
diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung auf“ steht unter dem letzten Spiegelstrich:
Für den Fall, dass eine Erzwingung der Resolution 1441 des Sicherheitsrats mit militärischen Mitteln unausweichlich werden sollte, gemeinsam mit
unseren Partnern in der EU diese Maßnahmen im
Rahmen unserer Möglichkeiten
- dann erfolgt eine Aufzählung - wie mit AWACS-Flugzeugen, MEDEVAC-Kräften, ABC-Spürpanzern, Patriot-Abwehr-Systemen,
der Gewährung von Überflugrechten, dem Schutz
der amerikanischen Basen in Deutschland und mit
Schiffen im Persischen Golf - zu unterstützen und
dabei die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestags zu wahren.
Auf Letzteres komme ich gleich zu sprechen.
({4})
Mehr ist von uns nicht gefordert worden. Warum haben
Sie also Anfang August diese Debatte begonnen, in der
Sie Kriegsängste und antiamerikanische Ressentiments
züchten und schüren? Völlig umsonst, ohne jede Not und
ohne Verantwortung des Regierungschefs!
({5})
Allerdings sind wir unseren Partnern - das haben Ihnen
wahrscheinlich Herr Rumsfeld, den auch ich in München
erlebt habe, Herr Lieberman und auch andere gesagt - die
politische Solidarität schuldig geblieben,
({6})
und dies auch in der heutigen Regierungserklärung und in
der Rede des Außenministers.
Herr Außenminister, auch auf Sie komme ich noch zu
sprechen. Es ist schön, dass wir zumindest amtlich einen
Außenminister haben. In der Sache merkt man nichts von
Ihnen. Die außenpolitischen Interessen werden mit Füßen
getreten.
({7})
Sie erwecken in jeder Rede den Eindruck, als sei die eigentliche Gefahr für den Frieden die amerikanische Regierung. Das empört unsere amerikanischen Verbündeten;
da haben sie Recht.
({8})
Dass wir 50 Jahre lang in gesichertem Frieden leben
konnten, verdanken wir mehr der amerikanischen Verlässlichkeit als den Reden der rot-grünen Friedensbewegung.
Das muss einmal gesagt werden.
({9})
Was die richtige Politik ist, darüber kann man lange
diskutieren. Darüber diskutiert man auch in Amerika.
Herr Bundesaußenminister, ich habe Sie vor zwei Wochen
im Auswärtigen Ausschuss gefragt: Gibt es nicht auch
Überlegungen hinsichtlich eines langfristigen Überwachungsregimes, das in jedem Fall im Irak sicherstellen
muss, dass dort, wenn die biologischen Waffen etc. beseitigt worden sind, nicht wieder neue erworben werden? In
unserem Antrag steht der Grundgedanke:
Jeder Versuch, nachhaltig und kontrolliert sicherzustellen, dass der Irak sein Streben nach Massenvernichtungswaffen dauerhaft aufgibt, verdient grundsätzlich Unterstützung.
Mit der angeblichen deutsch-französischen Initiative, die vom Kanzler in ein Nachrichtenmagazin
lanciert wurde, ist das Gegenteil erreicht worden,
weil damit nicht die Bereitschaft des Irak zur Kooperation gefördert, sondern offenbar der unter
Führung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgebaute Druck auf den Irak gemindert werden sollte.
Wenn man eine solche Lösung anstrebt, muss man sie
mit den Amerikanern an der Spitze machen und nicht
gegen die Amerikaner. Weil Sie jede Initiative gegen die
Amerikaner anstatt gegen Saddam Hussein richten,
schwächen Sie die Vereinten Nationen, schwächen Sie
die NATO und zerstören Sie die europäische Einigung.
({10})
Um die Sache geht es dabei gar nicht; Sie brauchen uns
wirklich nicht zu unterstellen, wir seien weniger für den
Frieden als Sie und würden die Ängste der Menschen weniger ernst nehmen als Sie. Ich habe immer gesagt: Ich bin
evangelischer Christ, aber wenn der Papst sagt,
({11})
dass die Anwendung militärischer Mittel immer nur das
allerletzte Mittel sein dürfe, und wenn der Papst sagt,
dass Krieg immer ein Versagen der Menschheit ist, dann
hat er wohl Recht. Nur, leider kommt, weil wir Menschen
eben Menschen sind, Versagen häufig vor. Deswegen
müssen wir alles dafür tun, dass es nicht zum Krieg
kommt. Ich bin den beiden Kirchen dankbar, dass sie zum
Frieden mahnen. Wir müssen das ernst nehmen.
({12})
Ich habe dieser Tage jemanden getroffen, der gesagt
hat: Am kommenden Samstag gibt es wieder eine große
Friedensdemonstration. Der Herr Bundestagspräsident
hat schon angekündigt, dass er dabei mitmarschieren wird.
Ich hoffe, Sie beten für den Frieden, dass Saddam Hussein
einlenkt - dann bin ich sehr dafür. Appellieren Sie an Saddam Hussein, einzulenken und sich dem Völkerrecht zu
unterwerfen! Wenn er das tut, dann ist der Friede gesichert.
({13})
Dann hat dieser Gesprächspartner, dem ich begegnet bin,
aber gesagt: Das wird eine Demonstration wie damals
beim NATO-Doppelbeschluss. Da habe ich zu ihm gesagt: Sagen Sie einmal, haben Sie eigentlich heute nicht
das Gefühl, dass alle Befürchtungen der vielen Hundert1902
tausenden, die damals gegen den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses demonstriert haben, nicht eingetreten sind,
sondern dass im Gegenteil - trotz aller Sorgen, die man
auch damals ernst nehmen musste - diejenigen Recht gehabt haben, die gesagt haben, dass Festigkeit, Verlässlichkeit und Partnerschaft der bessere Weg sind, um den
Frieden für die Zukunft zu sichern? Darauf hat mein Gesprächspartner gesagt: Da haben Sie Recht; das habe ich
inzwischen eingesehen, wir hatten damals Unrecht. Darauf sagte ich: Dann seien Sie doch dieses Mal nicht so sicher, möglicherweise werden Sie wieder Unrecht haben!
Sie können doch nicht bestreiten, dass der Vollzug des
NATO-Doppelbeschlusses die große atomare Bedrohung
durch sowjetische Raketen, die auf unserem Land gelegen
hat, beseitigt hat, und zwar nicht durch Ihre Reden, sondern durch unser Handeln.
({14})
Es wird immer wieder die Frage gestellt: Warum Irak,
ist nicht Nordkorea gefährlicher? - Das mag sein. Wenn
Nordkorea so gefährlich ist, Herr Bundesaußenminister,
dann sollten Sie bald einmal im Sicherheitsrat die Initiative ergreifen, damit er sich damit beschäftigt.
({15})
Aber warum Irak? - Weil der Irak seit mehr als zehn Jahren durch Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen, die völkerrechtlich bindende Qualität haben
- wir reden doch von der Durchsetzung des Völkerrechts -,
verpflichtet ist - ich kann Ihnen die Resolution 1441 noch
einmal vorlesen; es gibt seit 1991 ein ganzes Bündel von
Resolutionen -, sicherzustellen - das kann nur der Irak -,
dass er keine Massenvernichtungswaffen hat und auch
nicht den Besitz von Massenvernichtungswaffen anstrebt.
Dazu muss er die notwendigen Auskünfte liefern und
dazu müssen die Waffen, die er hat, unter der Kontrolle
der UNO-Inspektionen vernichtet werden. Das ist das Ziel
der Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Die Bedrohung, die sich aus der Verknüpfung von internationalem Terrorismus und asymmetrischer Kriegsführung - und was es in der neuen Unordnung in dieser
globalen Welt sonst noch alles an Bedrohungen gibt - mit
Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien ergibt, ist durch den 11. September für die meisten Menschen - auch in unserem Lande - noch aktueller sichtbar
geworden. Deswegen finde ich es richtig und nicht falsch,
wenn die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen aus
dem 11. September unter anderem die Konsequenz zieht,
die Durchsetzung dessen, was das Völkerrecht, was die
Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur
Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen im Irak seit
zehn Jahren fordert, ernster zu nehmen, als es uns bisher
gelungen ist. Seit zehn Jahren haben diplomatischer
Druck, Bemühungen und Wirtschaftssanktionen Saddam
Hussein nicht zum Einlenken bewegt. Es wären jetzt
keine Inspektoren im Irak, wenn die Vereinigten Staaten
von Amerika nicht militärischen Druck aufgebaut hätten. Auch das ist die Wahrheit.
({16})
Ich hoffe noch immer, dass es eine Chance gibt und
man das allerletzte Mittel nicht anwenden muss. Ich bin
aber ganz sicher, dass es diese Chance nur dann gibt, wenn
die Europäer geschlossen und gemeinsam mit unseren atlantischen, unseren amerikanischen Verbündeten und
möglichst gemeinsam in den Vereinten Nationen alle miteinander Druck auf Saddam Hussein ausüben. Er ist der
Verantwortliche. An ihm liegt es, ob der Frieden gewahrt
werden kann.
({17})
Wer darüber täuscht, schwächt die Chancen für eine
friedliche Lösung. Sie machen durch Ihre Politik den Frieden nicht sicherer, sondern den Krieg wahrscheinlicher.
Das ist der Kern der Vorwürfe, die wir gegen Ihre Politik
erheben.
({18})
Sie haben schweren Schaden in das deutsch-amerikanische Verhältnis gebracht und die atlantische Partnerschaft
als Grundlage unserer eigenen Sicherheit diskreditiert.
Herr Struck, mit Verlaub, es tut einem weh, wenn ein
Bundesverteidigungsminister so argumentieren muss, wie
Sie es im Zusammenhang mit der Türkei und den Niederlanden gemacht haben: Die Türkei hat in den Niederlanden wegen der Patriot-Systeme angefragt, über die die
Niederländer gar nicht verfügen. Bei uns hat sie nicht angefragt.
({19})
Deswegen stellen wir den Niederlanden auf die Bitte der
Türkei die Patriot-Systeme zur Verfügung. Machen Sie
sich nicht lächerlich!
({20})
Es gibt nur einen einzigen Grund: Sie haben der Türkei
gesagt, fragt nicht uns, fragt die Niederlande. Die Situation wurde doch von Ihnen eingeleitet. Sie wollen im
Bundestag nicht die notwendige Zustimmung dafür herbeiführen. Ich sage Ihnen: Sie haben sie, wir stimmen zu.
Michael Glos hat doch schon erklärt, dass wir das tun werden. Es wird keinerlei Probleme geben. Lassen Sie diese
Mätzchen, denn sie untergraben das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.
Was denken die Menschen in der Türkei, in den Niederlanden, in Amerika und sonst wo auf der Welt über uns
als Partner? 50 Jahre lang haben wir gesagt, die Amerikaner werden verlässliche Partner sein, sie werden uns doch
nicht im Stich lassen, wenn wir bedroht werden. Jetzt
führen wir ein solches Affentheater auf. Das ist eine
Schande für unser Land! Das sollten Sie korrigieren.
({21})
Ich will auf ein anderes schwieriges Thema eingehen.
Es war die Aufgabe deutscher Außenpolitik in der Nachkriegszeit, die deutsch-französischen Beziehungen als
ein Kernelement der europäischen Einigung dauerhaft und
eng mit der atlantischen Partnerschaft zu verbinden. Auch
bei der Diskussion über die Präambel des Élysée-Vertrags,
dessen 40-jähriges Jubiläum wir vor ein paar Wochen feierlich begangen haben, ist ein Stück weit der Konflikt zwischen Atlantikern und Gaullisten sichtbar geworden.
Es war immer unsere Politik, nicht zwischen Paris und
Washington wählen zu müssen, sondern darauf zu achten,
sie miteinander zu verbinden. Sie haben in den letzten
Wochen ohne Sinn und Verstand genau diese Balance aufgegeben.
({22})
Das ist eine große Gefahr, es schwächt Europa.
Frankreich ist klug und in der Diplomatie erfahren genug, um nicht in diese Falle zu treten.
Wir werden erst am Schluss darüber befinden, wie wir uns entscheiden werden.
Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir das als Koalitionspartner nicht gefallen lassen. Sie haben im Sicherheitsrat zum ersten Mal den Vorsitz wahrgenommen und
es wurde angekündigt, dass der amerikanische Außenminister in einer langen Rede zusätzliche Beweise, Hinweise
oder sonstige Belege vorlegt. Bevor Sie die Sitzung eröffnet hatten, erklärte der Regierungssprecher in Berlin, dass
sich, was auch immer der amerikanische Außenminister
vortragen und vorlegen werde, an der Haltung der Bundesregierung nichts ändern werde. Das ist ein solcher Affront gegen den Sicherheitsrat und gegen Sie, dass Sie das
einfach nicht akzeptieren dürfen.
({0})
Auch die Tonart der Regierungserklärung ist ganz
wichtig. Die Tonart und die Entschlossenheit des Kanzlers heute morgen waren fest gegen unsere Verbündeten
gerichtet.
({1})
- Ich möchte Sie geradezu beschwören und an Sie appellieren: Erwecken Sie nicht länger den Eindruck, als würde
Deutschland unter dieser Regierung wieder einen Sonderweg gehen. Der deutsche Weg, der Weg, den Sie einschlagen wollen, führt in die Irre. Er führt uns nicht
zurück zu Wilhelm II., aber er führt uns in eine Zukunft,
in der Sicherheit und Frieden weniger gesichert sind, als
es bisher der Fall ist.
({2})
Wir müssen auf dem Weg verlässlicher Partnerschaft
bleiben. Wir müssen europäische Einigung und atlantische Partnerschaft zusammenhalten. Je mehr eigene
Beiträge wir übrigens auch zur atlantischen Partnerschaft
leisten und je weniger Kritik wir üben und je weniger Ratschläge wir unseren amerikanischen Verbündeten erteilen, umso eher werden wir mit unseren Argumenten im
transatlantischen Dialog Gehör finden können. Wer selber
außer Rat und Nörgelei nichts zu bieten hat,
({3})
sondern nur solche Mätzchen macht, wie Patriots über die
Niederlande in die Türkei zu schicken,
({4})
der muss sich nicht wundern, wenn er in Amerika nicht
mehr als relevant angesehen werden wird.
({5})
Dies liegt nicht im deutschen Interesse und dies dient
auch nicht der atlantischen Partnerschaft. Wir schwächen
damit die Vereinten Nationen und machen den Frieden
nicht sicherer.
Herr Bundeskanzler, wo immer Sie im Augenblick sitzen mögen, aber der Vizekanzler vertritt Sie
({6})
- schön -, ich wollte Sie nur ansprechen, denn mein letztes Wort in dieser Rede sollte ein Appell, eine Bitte an Sie
sein: Es geht um zu wichtige Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes, als dass Sie der Versuchung nachgeben sollten, Stimmungen in der Bevölkerung einfach
nur für kurzfristige Zwecke zu nutzen. Setzen Sie die Prioritäten im Sinne verantwortlicher Regierungspolitik
({7})
im Interesse der Zukunft unseres Landes und klären Sie
die Menschen entsprechend auf und informieren Sie sie.
Auch in der Demokratie besteht eine Führungsverantwortung. Es kann nicht sein, dass wir jeder Stimmung
nachgeben.
({8})
Herr Kollege Schäuble, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Sie schüren am Ende nur die Ängste der Menschen,
statt dass Sie den Menschen mehr Vertrauen und mehr Zuversicht dahin gehend vermitteln, dass wir mit einer Politik der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auch in der
Zukunft in der Lage sein werden, Frieden, Sicherheit und
Freiheit für unser Land zu garantieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schäuble, hören Sie bitte kurz zu, damit ich
aufnehmen kann, was Sie gesagt haben. Sie sind es, der
hier gesagt hat, diese Bundesregierung verfolge einen
Sonderweg.
Das sagen Sie gerade in diesem Saal, in dem es Sozialdemokraten gegeben hat, die den Sonderweg verurteilt
haben, den die Konservativen nach rechts zu den Deutschnationalen gegangen sind. Das war ein Teil Ihrer Partei
und das ist Ihre Vergangenheit. Dorthin gehören Sie.
({0})
Das sagen Sie der Sozialdemokratie.
({1})
Herr Dr. Schäuble, Sie haben zu Beginn vom Antiamerikanismus gesprochen. Ich frage Sie: Wer war denn
in der Weimarer Republik derjenige,
({2})
der nach Wilson die Verbindung zu den USA
({3})
- hören Sie genau zu - gehalten hat, der dafür gesorgt hat,
dass in der Weimarer Republik wenigstens die Chance auf
eine Demokratie aufrecht erhalten worden ist? Diese Verbindungslinie gehört zur Sozialdemokratie und nicht zur
rechten Seite dieses Parlamentes! Das will ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen.
({4})
Zur Außenpolitik. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern - vielleicht erinnern auch Sie sich, Herr
Dr. Schäuble -, als es darum ging, den KSZE-Prozess zu
erfinden, der mit dafür gesorgt hat, dass die Mauern in
Europa eingestürzt sind. Wo war denn da die Union?
({5})
Wo war sie, als diese Alternative entwickelt wurde? Nein,
so einfach können Sie es sich nicht machen, lieber Kollege Dr. Schäuble.
Ich komme zu einem zweiten Punkt, der von Ihnen angesprochen wurde und der mich sehr verwundert hat. Sie
haben der Bundesregierung in der Debatte Pazifismus
vorgeworfen. Wer hat denn schon 1998, also noch in
Bonn, versucht, den Weg zu ebnen - das war für uns ungeheuer schmerzhaft; wir haben es zum Teil miterlebt und
mit erlitten -, dass der Einsatz des Militärs, eingebettet in
einen politischen Prozess, zulässig und vielleicht sogar
notwendig ist, um Diktatoren zu Fall zu bringen? - Es war
diese Regierung, die dafür gesorgt hat, dass diese Chance
genutzt wurde!
({6})
Pazifismus kann man uns nicht vorwerfen und Antiamerikanismus genauso wenig.
Erinnern Sie sich daran, was vor zwei Tagen zum Beispiel Dustin Hoffman hier in Berlin gesagt hat.
({7})
Ist das etwa auch antiamerikanisch?
({8})
Ist es antiamerikanisch, wenn zum Beispiel der ehemalige Präsident Jimmy Carter in diesen Tagen genau die
Alternative beschreibt, die die Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich und anderen Ländern im Weltsicherheitsrat endlich zur Geltung zu bringen versucht? Ist das
etwa antiamerikanisch? - Nein!
({9})
- Lieber Genosse!
({10})
- Pardon, entschuldigen Sie bitte diesen Fehler, lieber
Herr Schmidt.
({11})
Sie haben vielleicht gelesen, woher der Ursprungsgedanke stammt, der nun auch von der Bundesregierung
verfolgt wird. Die Idee stammt aus dem Carnegie
Endowment for International Peace. Im August des
Jahres 2002 wurde dies als eine denkbare Alternative vorgeschlagen, um die bisherigen Inspektorenregimes zu
verändern und zu verbessern, damit Saddam Hussein die
Chance auf Massenvernichtungswaffen verliert. Das ist
die Alternative, die auch in den USA längst bekannt ist.
In der „Washington Post“ war vor zwei Tagen von
Jessica Mathews, der Präsidentin von Carnegie Endowment, zu lesen. Sie beschreibt dort Punkt für Punkt - es ist
in vielen Teilen also identisch -, was im Weltsicherheitsrat von Paris und Berlin gemeinsam formuliert wird. Was
ist denn daran antiamerikanisch, wenn wir eine Debatte,
die es in den USA gibt, aufnehmen und zu einer wirklichen Alternative entwickeln? Ich kann keinen Antiamerikanismus erkennen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen an einer
wirklichen Weggabelung. Wir sollten wenigstens noch
eine Sekunde darüber nachdenken, ob das, was morgen
Hans Blix und Mohammed al-Baradei vor dem Weltsicherheitsrat berichten werden - nämlich dass sich durch
die Inspekteure eine Chance abgezeichnet hat -, genutzt
werden kann. Wir wissen natürlich nicht im Detail, was
die Inspekteure morgen berichten werden. Soweit wir bisher gehört haben, sagen auch sie, dass der Irak begonnen
hat, sich an die Forderungen, an die Vorschläge, an den
Willen und an die Erfüllung dessen, was Resolution 1441
verlangt, anzunähern. Das ist noch lange nicht genug, das
wissen wir doch auch. Deswegen kommt es darauf an, die
Frage nach der Alternative zu stellen: Heißt die Alternative
Krieg oder Fortsetzung einer robusten Inspektorenrolle?
Gert Weisskirchen ({13})
Gert Weisskirchen ({14})
Die Alternative heißt für uns ganz eindeutig und klar: Alle
Instrumente, die es innerhalb dieses Rahmens gibt, müssen voll ausgenutzt werden, damit die Alternative Krieg
vermieden werden kann. Das ist der entscheidende Punkt,
um den es jetzt geht.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Ihnen das, was
Karol Wojtyla dazu gesagt hat, nicht reicht, nämlich dass
der Krieg in der Tat eine Niederlage der Menschlichkeit und der Menschheit wäre - ich finde gut, Herr
Dr. Schäuble, dass Sie das bestätigt haben -, nehmen Sie
doch die Debatte, die gegenwärtig im amerikanischen
Kongress läuft, wo in einem Hearing die Frage beantwortet werden soll: Was geschieht eigentlich danach, falls
es zu einem Krieg käme? Man liest und hört von manchen
Kollegen, wenn der Irak falle, werde ein Dominostein fallen, alle anderen Dominosteine in der Region würden
dann auch fallen, dann werde es Demokratie und Harmonie in der Region geben, die Region werde befriedet sein.
Das ist in der Tat auch gesagt worden; aber, entschuldigen
Sie, das löst doch die Probleme nicht. Besteht nicht eher
die Gefahr, dass, wenn es einen Krieg gegen den Irak
gäbe, danach eine Fülle zusätzlicher Probleme auftreten
könnte, viel gefährlichere als die, auf die wir jetzt durch
Eindämmungspolitik eine andere Antwort zu finden versuchen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mister Christoph hat
in der „Herald Tribune“ vor einigen Tagen die Frage gestellt, ob es denn einen besseren Weg gebe als den Krieg.
Die Antwort hat er selber in der Überschrift gegeben: Ja,
Containment, Eindämmung, ist die bessere Alternative,
und darum geht es. Diese Alternative zur Geltung kommen zu lassen, darum müssen wir uns bemühen. Dafür
setzen wir uns ein, und deswegen sagen wir: Das, was die
Bundesregierung tut, ist genau das, was nicht nur die
Menschen, die in Deutschland, ja in Europa leben, sondern auch die Fraktionen des Deutschen Bundestages, die
die Regierung tragen, wünschen. Wir fordern es und wir
setzen die gesamte politische Kraft, über die wir verfügen,
ein, damit die Regierung Erfolg hat und der Krieg am
Ende vermieden wird. Das ist die zentrale Botschaft, die
heute hier im Deutschen Bundestag von uns ausgeht.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum reden wir eigentlich nicht Klartext? Denjenigen,
die meinen, jetzt sei Krieg angesagt, geht es nicht um
Menschenrechte. Es geht ihnen auch nicht um einen Diktator namens Hussein. Es geht um eine militärische Neuordnung der Welt, wieder einmal.
Ich stimme allen zu, die sagen: Die Welt muss neu und
besser geordnet werden. Ich stimme auch allen zu, die sagen: Menschenrechte sind ein unteilbares Gut. Und ich
stimme allen zu, die sagen: Gerechtigkeit, allemal soziale,
ist ein hoher, aber durch Diktatoren wie Saddam Hussein
unterdrückter Wert.
Aber all das steht nicht auf der Tagesordnung, auch
nicht in der Debatte, die wir heute Vormittag hier führen.
Der Streit geht darum, ob Deutschland den Vorhaben und
den Vorgaben der US-Administration folgen soll oder
nicht. Die CDU/CSU will dabei sein, an der Seite von
Bush und Rumsfeld, notfalls gegen die UNO. Die PDS
will das nicht. Soweit ich es beurteilen kann, will es RotGrün auch nicht. Aber viel wichtiger ist: Dreiviertel aller
Deutschen wollen das nicht.
Ich komme gleich direkt zur Irakfrage. Vorher will ich
allerdings noch auf Vorwürfe eingehen, die offensichtlich
aus der Propagandazentrale der CDU stammen. Es ist
wirklich absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
Sie erneut die antiamerikanische Keule gegen alle
schwingen, die einem Kriegskurs nicht folgen wollen.
({0})
Nach demselben Denkmuster wären Sie antifranzösisch.
Frau Merkel, Ihr Stiefvater, Herr Adenauer, würde Sie
enterben, wenn er das, was Sie heute hier aufführen, noch
erleben müsste.
({1})
Genauso gefährlich ist der Versuch, Europa in ein altes
und ein neues Europa, je nachdem, welcher Staat den Befehlswünschen der USA folgt oder nicht, einzuteilen. Ich
finde, ein altes Europa mit einem neuen Denken ist besser
als eine neue Welt mit einem alten Denken. Deutlicher gesagt: Krieg löst keine Probleme. Kriege potenzieren Probleme. Das gilt auch in Bezug auf den Irak. Deshalb sollte
der Bundestag heute einen einzigen klaren Satz beschließen: Deutschland wird sich weder direkt noch indirekt an einem Krieg im Irak beteiligen. Mit einem klaren
Ja zu diesem schlichten, aber sehr wichtigen Satz wären
Sie übrigens auch wieder auf dem Boden des Grundgesetzes. Den verlassen Sie nämlich, wenn Sie über eine
Kriegsbeteiligung jenseits des Völkerrechts reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie haben sich vorhin sehr aufgeregt. Wer aber über
Präventivkriege schwadroniert, wie Sie es tun, der bewegt sich jenseits des Völkerrechts und des Grundgesetzes. Deshalb ist der Vorwurf, Sie befänden sich auf
Kriegspfaden, so unbegründet nicht. Sie selbst bieten
doch die Argumente für solche Vorwürfe.
({2})
Wir reden hier übrigens nicht nur über einen möglichen
Krieg gegen den Irak. Wir debattieren auch über die Zukunft der UNO. Die US-Führung hat unmissverständlich
erklärt: Ist die UNO mit uns, dann ist das okay, ist die
UNO nicht mit uns, dann ist das egal. Wer vor diesem
Hintergrund wie Sie von der Opposition zur Rechten die
bedingungslose Solidarität einfordert, der startet zugleich
einen Angriff auf die Vereinten Nationen.
Die PDS ist grundsätzlich gegen einen Krieg; das ist
bekannt. Ich bin fest davon überzeugt, dass am nächsten
Samstag Millionen Menschen - unter anderem auch in
Berlin ab 12 Uhr - erneut ihr Nein zum Krieg demonstrieren werden. Ich fände es gut, wenn sich viele von uns
dort wiederfinden würden, um gemeinsam mit den vielen
Menschen, die sagen, dass Krieg kein Mittel ist, auf die
Straße zu gehen, um das sehr deutlich zu unterstreichen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Zöpel von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Uns alle hier und auch alle, die in anderen Ländern des westlichen Bündnisses - also selbstverständlich
auch in den USA - derzeit darum ringen, dass der Westen
in der Welt weiter prägend sein kann, leiten beste Motive.
Jenseits mancher parteipolitischer Kontroversen geht es
darum.
Ich glaube nur, wenn wir im Westen darüber reden, was
der Westen ist, dann sollten wir als erstes feststellen, dass
er kein regionaler Ausschnitt dieser Welt, sondern eine
universelle Geisteshaltung ist. Im Westen herrscht vor
allem die Überzeugung, dass das Lebensrecht und die
Würde jedes Menschen, sei er Amerikaner, Deutscher,
Iraker, Israeli oder Palästinenser, überall gilt.
({0})
Der Westen wird nur Erfolg haben, wenn er das vermitteln
kann.
Zum Westen gehört auch unsere Geistesgeschichte,
zum Beispiel die französische Revolution, die Erklärung
der Menschenrechte und der Gedanke des permanenten
Friedens, der zuerst in Frankreich - bereits im Jahre 1713 durch Saint Pierre und später durch Kant formuliert
wurde. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Demokratien miteinander reden. Wenn das die Werte sind, um
die wir hier ringen, kommen wir weiter. Zu diesem Ringen gehört auch, zu erkennen, wo die Gefährdungen des
Westens liegen. Es ist unstreitig, dass es die Gefährdung
durch den Terrorismus gibt. Es gibt aber auch andere Gefährdungen. Sie liegen dann vor, wenn wir die Universalität des Westens nicht praktizieren.
Die „Süddeutsche Zeitung“ ist heute mehrmals genannt worden. Sie hat weise und weniger weise Autoren.
Ich zitiere einen sehr weisen Autor, Heiner Geißler:
Heute steht der Westen vor dem psychologischen
und politischen Problem, dass die Zahl der Menschen, die den westlichen Regierungen, vor allem
der amerikanischen, mit Argwohn begegnen und ihnen von der Folter bis zum Angriffskrieg jedes Unrecht zutrauen, weltweit rapide zunimmt - auch in
Europa und den USA. Das Misstrauen geht so weit,
dass viele inzwischen davon überzeugt sind, dass die
USA ihre Kriegsdrohung gegen den Irak auch dann
wahrnehmen, wenn gar keine Massenvernichtungswaffen gefunden werden.
Das ist so exzellent formuliert, dass ich Heiner Geißler zitieren wollte, weil ich jedem Satz zustimme.
In dieser Situation ist es für den Westen eine Herausforderung, zu erreichen, dass wir die Basis dessen, was
wir leben wollen, der Welt nicht doppelbödig, sondern
eindeutig vermitteln. Dazu sollten wir alle einen Beitrag
leisten.
({1})
Dazu gehört, dass ein Militärschlag - ich gehe weiter -,
ein Krieg, der Zehntausende von Ziviltoten fordern
könnte, wirklich nur die Ultima Ratio sein kann, wenn alles, aber auch alles versucht wurde, um ihn zu verhindern.
Das ist die Position, die die Mehrheit dieses Hauses hoffentlich teilt.
({2})
Der Weg, das zu erreichen - auch da nehme ich Heiner
Geißler auf -, hat für Europa zwei Elemente. Das eine
Element ist, dass Europa weiß, was Krieg gegen die Zivilbevölkerung bedeutet. Kein Land hat ihn mehr als
Deutschland verschuldet und Millionen Europäer haben
ihn gemeinsam erfahren.
Heiner Geißler nennt als zweites Element, das man
auch schon bei Kant findet, die Vernunft, die Basis für
Menschenrechte. Sie lässt sich nur durch den öffentlichen Dialog durchsetzen. Sie werden nun lächeln:
Heiner Geißler empfiehlt dazu den Gebrauch der Medien.
Alles, was im „Spiegel“ stand, war für mich ein Beitrag
zur Vernunft. Ich will das sehr deutlich sagen. Alles, was
ansonsten dazu angemerkt wird, bringt nichts.
({3})
In der Debatte, die wir hier führen, hat mich der Satz
überrascht, die Fragen internationaler Politik und von
Krieg und Frieden hätten niemals Wahlkämpfe berührt.
Herr Kollege Westerwelle, Sie sind deutlich jünger als
ich. Daher kann ich Ihnen nicht anrechnen, dass Sie die
50er-Jahre nicht kennen. Aber auch die Geschichtsbücher
können Sie nicht gelesen haben. Die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war durch Debatten und Wahlkämpfe über Außenpolitik geprägt.
({4})
Stunden dieses Parlaments, die in Erinnerung geblieben
sind, waren davon bestimmt. Sie beinhalteten auch immer
die Möglichkeit - sie ist oft eingetreten -, dass derjenige,
der Anklage erhoben hat, irrte, oder auch derjenige, der
sich verteidigt hat.
Ein Sozialdemokrat, den viele Konservative heute für
sich in Anspruch nehmen möchten, Kurt Schumacher, hat
zu Konrad Adenauer „Kanzler der Alliierten“ gerufen,
weil er Angst hatte, deutsche Politik könne zu einseitig an
die Amerikas geklammert sein. Er hat wahrscheinlich geirrt; denn entgegen den Annahmen der Sozialdemokraten
ist es Adenauer gelungen, diplomatische Beziehungen zu
Russland aufzunehmen und die Kriegsgefangenen
zurückzubringen.
({5})
Aber die Debatte war notwendig.
Es gab die Debatte über den Élysée-Vertrag. Sie war
hauptsächlich von Ihnen von CDU und CSU initiiert.
De Gaulle war über das verzweifelt, was die Hälfte von
CDU/CSU über den Élysée-Vertrag gesagt hat. De Gaulle
selber hat erklärt, dass die Präambel den Vertrag aufhebe.
Es ist nicht unrichtig, an dieser Stelle darüber nachzudenken, ob Europa im Bündnis nicht teilweise andere Interessen als die Vereinigten Staaten hat. Das hat de Gaulle
zusammen mit denjenigen in Deutschland, die für ihn waren, besser erkannt, als es anderen gelungen ist.
({6})
- Es geht mir um Debatten. Sie sind sehr wichtig. Entschieden wird nach der demokratischen Mehrheit.
Wir haben eine Debatte darüber gehabt, ob der KSZEVertrag Europa weiterbringen würde. Eine der beiden Parteien, die hier eine Fraktionsgemeinschaft führen, hat ihn
bis zuletzt für eine Gefährdung des Bündnisses gehalten.
Wie man heute sieht, haben sie offensichtlich Unrecht gehabt. Diese Debatten gab es immer.
({7})
Um die Ratifizierung der Verträge, die die Regierung
Brandt mit Osteuropa abgeschlossen hat, hat es nach Auflösung des Bundestages einen heftigen Wahlkampf gegeben. Herr Kollege Westerwelle, man muss also schon
ziemlich daneben sein, um zu behaupten, es habe nie
außenpolitische Wahlkampfdebatten gegeben.
({8})
In der aktuellen Debatte gibt es historische Vergleiche,
die durchaus zutreffen können, und falsche Feuilletonisten dürfen schreiben, was sie wollen; Politiker hingegen
sollten vorsichtiger sein. Es ist schon abwegig, wenn auch
nur zitiert wird, dass eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die Agadir mit dem Panzer erreichen wollte und
Fregatten in die Welt schickte, mit Gerhard Schröder zu
vergleichen sei. Es ist ganz abwegig! Hier geht es um den
Frieden.
({9})
Wer das deutsche Bemühen um Frieden, das in der Welt
auffällt, mit einer deutschen Politik vergleicht, die Panzer
und Fregatten in die Welt schickte, sollte ein wenig in sich
gehen, um es vorsichtig zu formulieren.
({10})
Worum geht es in der sicherheitspolitischen Auseinandersetzung im Kern? Im Kern geht es um die Logik des
Kalten Krieges. Der Kalte Krieg ist aus einer sicherheitspolitischen Logik entstanden: Wenn ein Gegner uns
gegenüber das Schlimmste unternimmt, dann erfolgt ein
Militärschlag. Diese Logik kann aber nur dann funktionieren, wenn auch die Option besteht, dass der Militärschlag vermeidbar ist. Es gab und gibt in der amerikanischen Debatte zu viele Stimmen - auch Geißler sieht das
so -, die den Präventivschlag als einzige, unvermeidbare
Möglichkeit formuliert haben. Deshalb war und ist es notwendig, dass die zwingende Alternative zum vernichtenden Schlag bzw. die Möglichkeit, ihm zu entgehen, auch
gegenüber Saddam Hussein zum Ausdruck gebracht wird.
Das tut diese Regierung und das tut Frankreich.
Über den Satz, Deutschland isoliere sich in der Völkergemeinschaft, würde ich einmal nachdenken, Herr
Kollege Westerwelle.
({11})
Wörtlich genommen bedeutet er, dass mehr als 1 Milliarde Chinesen, Russland, Frankreich und derzeit weitere
Mitglieder des Sicherheitsrats nicht zur Weltgemeinschaft
gehören. Diese Logik steht dahinter.
({12})
- Dass die Chinesen zur Weltgemeinschaft gehören, werden doch nicht einmal Sie bestreiten.
({13})
Jetzt zu Europa: Es ist nicht schön, dass es derzeit
keine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt. Aber
bleiben wir doch bei den Fakten. Zehn Regierungschefs
quer durch die politischen Lager haben nicht unterschrieben, als eine amerikanische Zeitung - die übrigens kein
diplomatischer Akteur ist - dazu aufgefordert hat. Fünf
Regierungschefs haben unterschrieben. Wir sind glücklich und zufrieden, dass wir der Mehrheit der zehn angehören statt der Minderheit der fünf, zu denen zu
gehören Ihnen von CDU und CSU ein echtes Anliegen ist.
So viel zur Europäischen Union.
({14})
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung, die ich sehr
ernst meine. Es geht um das europäische Sicherheitsinteresse. Die Vereinigten Staaten und Europa befinden
sich in geohistorischer und geopolitischer Hinsicht in einer unterschiedlichen Situation. Wenn sich in den Ländern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung der Eindruck durchsetzte, es ginge um einen Krieg des Westens
gegen den Islam, dann sind die Antworten nicht mit den
traditionellen militärischen, sondern mit polizeilichen
Mitteln zu geben. Wir sind wesentlich gefährdeter als die
Vereinigten Staaten. Zwischen den Vereinigten Staaten
und dem Kern der islamischen Länder liegt der Atlantische Ozean. Zwischen uns und den islamischen Ländern
hingegen liegt eine nicht kontrollierbare Grenze.
({15})
- Die gibt es in mehr Staaten als dem Irak. Auch wenn sie
dort entfernt würden, wäre die Gefahr nicht gebannt. Un1908
sere Hauptgefährdung besteht darin, dass handlungsunfähige islamische Staaten nicht mehr in der Lage sind, bei
der Kontrolle von Menschenströmen, von normaler Kriminalität, von Gewaltkriminalität und der Kontrolle von
mit Migration verbundener terroristischer Aktionen mit
uns zu kooperieren. Darin besteht die eigentliche Gefährdung, vor der die Menschen Angst haben.
Meine Wertschätzung der Experten in München, die oft
zitiert wurden, hat sehr gelitten. Kein einziger dieser Experten ist auf die wirkliche Gefährdung Europas durch eine
auf den Missbrauch einer Religion gestützte, mit Gewalt
und möglicherweise mit Terrorismus verbundene Migration eingegangen. Das aber ist die Sicherheitsanalyse, die
wir brauchen. Die entsprechende Sicherheit werden wir nur
bekommen, wenn die islamische Welt uns glaubt. Jeder tote
Moslem ist genauso ein unersetzliches Opfer wie jeder tote
Christ und jeder tote Agnostiker. Ich meine, das sollte die
Basis der notwendigen Verständigung sein.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Druck-
sache 15/434. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt na-
mentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die
Plätze eingenommen? Können Sie mir ein Zeichen ge-
ben? - Gut. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Hat noch ein Mitglied des Hauses seine Stimme nicht
abgegeben? - Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? - Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort: Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/421 mit dem Titel „Europa und Amerika müssen zu-
sammenstehen“. Auch hier ist namentliche Abstimmung
vorgesehen.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind noch an
ihren Plätzen. Ich eröffne die Abstimmung.
Wir befinden uns in der zweiten namentlichen Abstim-
mung. Anschließend wird der nächste Tagesordnungs-
punkt aufgerufen. Eine dritte namentliche Abstimmung
erfolgt erst zu späterer Zeit.
Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre
Stimme abgegeben? - Das scheint der Fall zu sein. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch
das Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
3. - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen ({0})
- Drucksache 15/30 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen ({2})
- Drucksache 15/109 ({3})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 15/384 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Heinz Seiffert
b) Berichte des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 15/385, 15/386 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Walter Schöler
Antje Hermenau
Dr. Günter Rexrodt
Steffen Kampeter
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gemeindefinanzen dauerhaft stärken
- Drucksache 15/433 -
Über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU
sowie über den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen werden wir später namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen
Kolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht bei-
wohnen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die Red-
ner Gehör finden können. Diejenigen Kollegen, die der Aus-
sprache folgen wollen, bitte ich, ihre Plätze einzunehmen.
Ich gebe Ihnen noch das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der nament-
lichen Abstimmung über den Entschließungsantrag zu
der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bun-
deskanzler zur aktuellen internationalen Lage bekannt.
Antragsteller war die CDU/CSU-Fraktion. Abgegebene
Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 268, mit Nein ha-
ben gestimmt 301 bei drei Enthaltungen. Der Entschlie-
ßungsantrag ist damit abgelehnt.
1) Seite 1909 D
2) Seite 1914 D
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 572;
davon
ja: 269
nein: 300
enhalten: 3
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({6})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({7})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({8})
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({9})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({10})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({11})
Dirk Fischer ({12})
Axel E. Fischer
({13})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({14})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Siegfried Kauder
({15})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({16})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({17})
Dr. Karl A. Lamers
({18})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({19})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({20})
Stephan Mayer ({21})
Dr. Martin Mayer
({22})
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({23})
Doris Meyer ({24})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Stefan Müller ({25})
Bernward Müller ({26})
Bernd Neumann ({27})
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({28})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({29})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({30})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({31})
Andreas Schmidt ({32})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Heinz Seiffert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({33})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Peter Weiß ({34})
Gerald Weiß ({35})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({36})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({37})
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
({38})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ina Lenke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({39})
Eberhard Otto ({40})
Cornelia Pieper
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Nein
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Bauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({41})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({42})
Klaus Barthel ({43})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({44})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({45})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({46})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({47})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({48})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großbaum
Karl Hermann Haack
({49})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({50})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({51})
Walter Hoffmann
({52})
Iris Hoffmann ({53})
Frank Hofmann ({54})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({55})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({56})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({57})
Christian Müller ({58})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({59})
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({60})
Michael Roth ({61})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({62})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({63})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({64})
Ulla Schmidt ({65})
Silvia Schmidt ({66})
Dagmar Schmidt ({67})
Wilhelm Schmidt ({68})
Heinz Schmitt ({69})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({70})
Reinhard Schultz
({71})
Swen Schulz ({72})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({73})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({74})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({75})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({76})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({77})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({78})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne jetzt die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 3 sowie zum Zusatzpunkt 5. Es geht um die Gemeindefinanzreform. Als erster Redner hat das Wort der
Kollege Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den acht Staatskanzleien der von CDU und CSU
regierten Länder in München, Stuttgart, Wiesbaden, Saarbrücken, Hamburg, Magdeburg, Dresden und Erfurt und
möglicherweise auch in einem Wohnzimmer in Hannover
sitzen jetzt die Ministerpräsidenten und die Chefs der
Staatskanzleien vor dem Fernseher und verfolgen die Debatte über diesen Punkt im Deutschen Bundestag. Die
Frage ist: Warum tun Teufel, Koch, Stoiber und die anderen das?
({0})
- Ich glaube nicht, Herr Michelbach, dass die Ministerpräsidenten und die Chefs der Staatskanzleien Sie hören
wollen. Herr Stoiber wird Sie gut kennen und wird sicherlich nicht Ihretwegen vor dem Fernseher hocken.
({1})
Es geht um Senkung der Gewerbesteuerumlage. Die
Sorge, die die Ministerpräsidenten umtreibt, ist, dass wir
Ihrem Antrag zustimmen könnten; denn das wäre der Super-GAU, und zwar sowohl für Sie als auch für die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder.
({2})
Deswegen setzen die Ministerpräsidenten ihre ganze
Hoffnung in die Koalition aus SPD und Grünen und wünschen sich, dass der von Ihnen eingebrachte Gesetzentwurf heute keine Mehrheit findet. Ich kann diejenigen, die
vor dem Fernseher sitzen, beruhigen. Sie können die
Fernseher wieder ausschalten und im Interesse ihrer Länder weiterarbeiten; denn wir werden Ihrem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.
({3})
Sollten wir Ihnen signalisieren, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, würden Sie sehr wahrscheinlich
sofort eine Sitzungsunterbrechung beantragen und diesen
Gesetzentwurf zurückziehen; denn Sie haben ihn ja nur
gestellt, weil Ablehnung gesichert ist. Was Sie der Öffentlichkeit nicht sagen, ist, dass dieser Gesetzentwurf
nicht nur den Bund Geld kostet, sondern auch die Länder,
und zwar zu gleichen Teilen. Was Sie wollen, ist die
Zurückführung der Gewerbesteuerumlage in diesem Jahr
in einer Größenordnung von 1,1 Milliarden Euro für die
Länder und in der gleichen Größenordnung für den Bund,
aufwachsend auf 1,3 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Das sind Größenordnungen, die sich die Länder - das
wissen Sie ganz genau, meine Damen und Herren - überhaupt nicht leisten können.
Das Maastricht-Kriterium ist im vorigen Jahr ja nicht
nur infolge der Neuverschuldung des Bundes überschritten worden, sondern im Wesentlichen infolge der Neuverschuldung der Länder. Die haben den deutlich
größeren Anteil daran. Sollten wir durch einen Beschluss,
wie Sie ihn heute - angeblich - herbeiführen wollen, die
Einnahmebasis der Länder noch verschmälern, dann
würde das in diesem Jahr einen zusätzlichen Beitrag dazu
leisten, an diesem 3-Prozent-Kriterium zu schrappen.
({4})
- Aber Sie, Herr Michelbach, wollen ja, dass das noch
weiter überschritten wird;
({5})
sonst würden Sie einen solchen Gesetzentwurf nicht einbringen.
Wie ernst Sie und die Länder, die mit ihrer Mehrheit im
Bundesrat den Gesetzentwurf auch eingebracht haben,
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Henry Nitzsche
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({6})
Volker Beck ({7})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({8})
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Undine Kurth ({9})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({10})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({11})
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({12})
Fraktionslos
Dr. Gesine Lötzsch
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Carstens ({13})
FDP
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dr. Max Stadler
aber auch nur deswegen, weil sie sicher sein können, dass
er hier und heute keine Mehrheit findet, es mit diesem Gesetzentwurf meinen, zeigt Folgendes: Die Länder haben in
ihren Haushalten für das kommende Jahr eine solche Ausgabenposition nicht eingestellt. Daran sieht man, wie ernst
Sie das meinen. Es ist sogar umgekehrt: Länder wie Hessen haben Einnahmepositionen infolge des Steuervergünstigungsabbaugesetzes, das Sie vehement bekämpfen, in
ihren Haushalt eingestellt. Sie sagen ja überall, Sie machten das nicht mit. Aber um Ihre Haushalte wenigstens optisch einigermaßen in Schuss zu bringen, rechnen Sie die
Einnahmen aus diesem Gesetz, das Sie ablehnen, schon
mit ein. Das zeigt sehr deutlich, wie doppelzüngig und
pharisäerhaft in dieser Frage von Ihnen argumentiert wird.
Ihr Ziel ist, den Bürgern und der Öffentlichkeit mit diesem Gesetzentwurf zu suggerieren, dass an dem schlechten Zustand der Gemeindefinanzen der Bund schuld ist.
Jedes Mal, wenn ein Schwimmbad geschlossen wird,
wenn Straßen nicht repariert werden können, wenn es
durch die Frostaufbrüche Schlaglöcher gibt, wollen Sie
und Ihre Oberbürgermeister und Bürgermeister sich hinstellen und sagen: Das hat der Bund verursacht.
({14})
Dieses Manöver ist außergewöhnlich durchsichtig; denn
Sie könnten ja, wenn Sie wollten, zeigen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Sie könnten uns damit in Zugzwang
bringen. Sie könnten nämlich in den Ländern, in denen
Sie regieren - ich habe die Länder vorhin aufgezählt -,
das, was die Gewerbsteuerumlage Ihnen vermeintlich zu
viel in die Kassen bringt, in eigener Machtvollkommenheit an die Gemeinden zurückgeben. Das tun Sie aber
nicht.
({15})
Beweis: Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag, die Bayerische Staatsregierung möge doch, da sie das
vor einem Jahr schon einmal gefordert hat, die Mittel, die
Bayern von den Gemeinden bekommen hat, an diese
zurückgeben. Den Antrag haben Sie abgelehnt. Auch das
zeigt wieder, wie doppelzüngig, pharisäerhaft und verlogen Ihre Argumentation in dieser Frage ist.
Was ist der Hintergrund dieses Gesetzentwurfs? Das ist
nach Meinung der Opposition die Steuerreform 2000.
Darin war vereinbart, dass Senkungen bei solchen Steuern, die den Bund und die Länder betreffen, zum Beispiel
bei der Körperschaftsteuer, auch von den Gemeinden mitgetragen werden, die sonst an den Ausfällen zum Beispiel
der Körperschaftsteuer nicht partizipieren. Deswegen
wurde als Stellmechanismus die Gewerbesteuerumlage in
Stufen angehoben. Wenn man Maßnahmen zur Gegenfinanzierung nicht gleich mit beschlossen hätte, wären die
Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer so groß gewesen, dass keine Ebene diese hätte tragen können. Bei
den Ausfällen sind die Gemeinden also nicht beteiligt,
aber bei den Maßnahmen zur Gegenfinanzierung.
({16})
Vor diesem Hintergrund hatte man sich geeinigt, die
Gewerbesteuerumlage in Stufen anzuheben und sie ab
dem Jahr 2006 wieder zu senken. Das ist übrigens mit Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände und auch
der Gemeinden erfolgt.
Das Problem ist, dass die Konjunktur genau in dem
Jahr, in dem die größte Steuerentlastung in der Geschichte
dieser Republik stattgefunden hat, eingebrochen ist und
dass dieser Konjunkturabschwung dazu geführt hat, dass
alle staatlichen Ebenen weniger Steuereinnahmen haben.
Die Gemeinden haben vor allem unter geringeren Gewerbesteuereinnahmen zu leiden.
Jetzt wird deutlich, dass der Scherbenhaufen, den Sie
uns 1998 hinterlassen haben - das gilt auch für die Steuerpolitik -, beseitigt werden muss, und zwar insbesondere in
der Weise, dass man dafür sorgt, dass die Gewerbesteuer
nicht mehr eine rein ertragsabhängige Steuer ist. In den
16 Jahren der Kohl-Regierung wurden alle ertragsunabhängigen Bestandteile aus dieser Steuer herausgenommen.
({17})
Mittlerweile ist offensichtlich, dass diese Steuer nur noch
von wenigen Großen gezahlt wird. Sie haben auf diesem
Gebiet eine sehr kurzsichtige Politik betrieben.
Genauso kurzsichtig wie die Aushöhlung der Gewerbesteuer, die Sie zu verantworten haben, ist jetzt die Forderung, die Gewerbesteuerumlagenerhöhung zurückzunehmen. Wenn das Geld, um das es geht, wirklich da
ankäme, wo es hingehört, dann könnte man darüber reden.
Ihrem Antrag liegt aber eine ganz andere Systematik zugrunde. Ihr Antrag folgt dem Motto: Wer hat, dem wird
gegeben, und wer nichts hat, der hat Pech gehabt. Diejenigen, die noch einigermaßen anständige Gewerbesteuereinnahmen haben, zahlen eine relativ hohe Gewerbesteuerumlage. Würden wir Ihrem Antrag folgen, dann
würden wir genau denen einen hohen Anteil zurückgeben.
Diejenigen, die aufgrund sinkender Gewerbesteuereinnahmen Schwierigkeiten haben, würden keinen Vorteil
davon haben, dass wir die in Ihrem Antrag aufgestellten
Forderungen umsetzten. Von daher macht es keinen Sinn,
Ihrem Antrag zu folgen.
({18})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele.
Die drei im Hinblick auf die Gewerbesteuerzahlung
einnahmestärksten Städte in dieser Republik - Hamburg,
München und Frankfurt am Main - haben Gewerbesteuereinnahmen in Höhe von etwa 3,4 Milliarden Euro.
In diesen Städten wohnen 4 Prozent der Bevölkerung, der
Anteil der Gewerbesteuereinnahmen dieser Städte an den
Gewerbesteuereinnahmen in der gesamten Republik liegt
aber bei 15 Prozent. Würde man die Gewerbesteuerumlage abschaffen, dann wäre der Effekt, dass genau dieser
Zustand beibehalten würde. Eine solche Politik kann nicht
sinnvoll sein. Wir werden diese Politik nicht mitmachen.
({19})
Die Situation der Gemeinden ist natürlich schwierig.
Das wissen wir. Wir haben durch die Verabschiedung verschiedener Gesetze - ich will sie hier nicht im Einzelnen
aufzählen - schon Gegenmaßnahmen ergriffen. Wir haben die Einnahmebasis der Gemeinden in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro gesichert, und zwar gegen
Ihren erbitterten Widerstand. Wir denken auch über weitere Sofortmaßnahmen nach, aber nicht in der Weise, wie
Sie das tun.
({20})
Sofortmaßnahmen in diesem Jahr müssen, erstens, finanziell deutlich spürbar sein und sie müssen, zweitens, dort
wirken, wo es nötig ist. Würden wir Ihrem Antrag folgen,
wäre das in keiner Weise gewährleistet.
({21})
Sie wissen, dass wir eine Kommission zur Reform
der Gemeindefinanzen eingesetzt haben. Diese Kommission beschäftigt sich sowohl mit der Einnahmesituation als auch mit der Ausgabensituation.
({22})
- Das bekommen Sie von der Bayerischen Staatsregierung permanent eingeimpft. Herr Michelbach, Sie dürfen
nicht alles glauben, was die Ihnen sagt. Da sind Sie auf
dem falschen Dampfer.
Diese Kommission wird in diesem Jahr einen Vorschlag vorlegen. Ich hoffe, dass Sie, die Vertreter der Opposition, Ihre Verantwortung - seit dem 2. Februar ist sie
gewachsen - wahrnehmen und dass Sie konstruktiv an einer Gemeindefinanzreform, die den Gemeinden stetige
und verlässliche Einnahmen sichert und die ihnen auch
auf der Ausgabenseite behilflich ist, mitarbeiten.
Außerdem leiden die Gemeinden heute unter Vorgängen, die im Zusammenhang mit den Zuweisungen durch
die Länder stehen. Auch die geringer werdenden Einnahmen auf der Länderseite führen dazu, dass die Verbundmasse in den Ländern geringer wird. Ihr Ansatz ist auch
in dieser Hinsicht sehr punktuell: Sie greifen nur einen
einzigen Punkt heraus; die anderen beiden Punkte haben
Sie nicht im Visier. Wir dagegen versuchen sämtliche
Punkte zu berücksichtigen.
Frau Roth, die Präsidentin des Deutschen Städtetages,
hat gefordert, diese Reform möglichst sofort und nicht
erst nächstes Jahr durchzuführen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist nichts als Wahlkampf, wahrscheinlich im
Hinblick auf Schleswig-Holstein. Der Deutsche Städtetag, deren Präsidentin Frau Roth ist, hat - wie ich finde,
zu Recht - gefordert, dass die Kommission Modellrechnungen anstellt.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf das Signal am Rednerpult.
Wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, mache ich eine
letzte Bemerkung.
Eigentlich darf ich das nicht gestatten. Sie haben Ihre
Redezeit schon um zwei Minuten überzogen.
Dann will ich nur noch sagen: Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Arbeiten Sie konstruktiv mit und ziehen Sie Ihren Antrag zurück!
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Antrag „Europa und Amerika müssen zusammenstehen“, Drucksache 15/421, bekannt. Abgegebene
Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 302, Enthaltungen 37. Der Antrag ist damit
abgelehnt.
Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Peter Götz.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 232
nein: 302
enhalten: 37
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({2})
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({3})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({4})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({5})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dirk Fischer ({6})
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Siegfried Kauder
({9})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({10})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({11})
Dr. Karl A. Lamers
({12})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({13})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({14})
Stephan Mayer ({15})
Dr. Martin Mayer
({16})
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({17})
Doris Meyer ({18})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Stefan Müller ({19})
Bernward Müller ({20})
Bernd Neumann ({21})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({22})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({23})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({24})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({25})
Andreas Schmidt ({26})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Heinz Seiffert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({27})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Peter Weiß ({28})
Gerald Weiß ({29})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({30})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Hans-Michael Goldmann
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Eberhard Otto ({31})
Nein
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({32})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({33})
Klaus Barthel ({34})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({35})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({36})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({37})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({38})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({39})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Karl Hermann Haack
({40})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({41})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({42})
Walter Hoffmann
({43})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Iris Hoffmann ({44})
Frank Hofmann ({45})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({46})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({47})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({48})
Christian Müller ({49})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({50})
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({51})
Michael Roth ({52})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({53})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({54})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({55})
Ulla Schmidt ({56})
Silvia Schmidt ({57})
Dagmar Schmidt ({58})
Wilhelm Schmidt ({59})
Heinz Schmitt ({60})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({61})
Reinhard Schultz
({62})
Swen Schulz ({63})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({64})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({65})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({66})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({67})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({68})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({69})
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Henry Nitzsche
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({70})
Volker Beck ({71})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({72})
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Markus Kurth
Undine Kurth ({73})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({74})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({75})
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({76})
FDP
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dr. Max Stadler
Fraktionslos
Dr. Gesine Lötzsch
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Carstens ({77})
FDP
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({78})
Rainer Funke
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
({79})
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({80})
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Rainer Stinner
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Scheelen, um die Sorgen der Ministerpräsidenten der CDU- und CSU-geführten Länder
brauchen Sie sich nicht zu kümmern, denn sie haben genau den gleichen Antrag über den Bundesrat eingebracht.
({0})
Die Ministerpräsidenten haben wie die Menschen in diesem Land ganz andere Sorgen, als Sie hier darzustellen
versucht haben.
In der Debatte heute Vormittag wurde sehr deutlich,
dass der Bundeskanzler die Außen- und Sicherheitspolitik
Deutschlands an die Wand gefahren hat und weltweit Vertrauen zerstört hat.
({1})
Innenpolitisch, sehr geehrter Herr Kollege Scheelen, sieht
es trotz der weißen Salbe, die Sie auszustreichen versuchen, nicht besser aus.
({2})
Die Auswirkungen der verfehlten Arbeitsmarkt-, Finanzund Wirtschaftspolitik sind katastrophal: Rekorddefizite in den staatlichen Haushalten, die Zahl der Arbeitslosen wächst in beängstigender Geschwindigkeit auf
5 Millionen zu, über 38 000 Pleiten im vergangenen Jahr
schlagen negativ in der Bilanz dieser Bundesregierung zu
Buche.
({3})
Ein Licht am Horizont ist leider nicht erkennbar.
({4})
Was tun Sie? - Nichts. Sie wurschteln weiter hilflos, konzeptionslos und ohne Hand und Fuß vor sich hin.
({5})
Ihr gestern noch schnell gezimmerter Antrag zu der heutigen Debatte bestätigt dies nur.
Versuchen Sie nicht, alle notwendigen Entscheidungen
Kommissionen zu überlassen. Auf diese hören Sie am
Ende ja doch nicht. Das heißt, Sie verstreichen auch hier
weiße Salbe. Von vollmundigen Ankündigungen haben
die Kommunen jetzt genug. Damit ist ihnen nicht geholfen. Sie wollen Entscheidungen der Verantwortlichen hier
im Deutschen Bundestag.
({6})
Die Städte und Gemeinden stehen am Rande des Ruins.
In vielen Kommunen gehen die Lichter aus. Für die meisten ist es bereits fünf nach zwölf. Sie haben es mit Ihrer
verfehlten Politik in wenigen Jahren geschafft, die Finanzen der Kommunen zu ruinieren, und haben damit auch
die Axt an die Grundstruktur der kommunalen Selbstverwaltung angelegt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund ruft in diesen Tagen zu einer Kampagne auf:
Rettet die Kommunen!
({7})
Warum wohl? Früher waren starke Städte und Gemeinden
ein Element des Erfolgsmodells deutscher Politik. Dieses
war auch ein Exportschlager, denn viele junge Demokratien in Mittel- und Osteuropa haben dieses Modell nachgeahmt.
Wie sieht es heute aus? Die Schere zwischen kommunalen Einnahmen und kommunalen Ausgaben geht, wie
die Darstellung des Deutschen Städtetages sehr deutlich
macht, seit drei Jahren immer weiter auseinander. In diesem Jahr liegt das Gesamtdefizit der kommunalen Haushalte bei 10 Milliarden Euro. Nach Ablauf der Regierungszeit von Helmut Kohl war noch ein Überschuss von
2 Milliarden Euro in den kommunalen Kassen. Damals
gab es aber auch noch eine kommunalfreundliche Politik
in diesem Haus.
({8})
Was macht Rot-Grün? Sie nehmen durch Ihre Regierungstätigkeit den Kommunen einfach die Einnahmen
weg. Ein typisches Beispiel sind die Versteigerungserlöse
für die UMTS-Lizenzen, die Sie zulasten kommunaler
Einnahmen einkassiert haben; genau das Gleiche gilt für
die Einnahmen aus der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, um die es heute geht. Das Schlimmste ist: Gleichzeitig wurden den Städten, Gemeinden und Landkreisen
ständig neue Ausgaben und Aufgaben aufs Auge gedrückt. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.
({9})
Meine Damen und Herren, es geht munter weiter mit
den Beschlüssen zulasten kommunaler Haushalte. Der
Bundeskanzler verspricht den Menschen immer mehr und
bessere öffentliche Leistungen, lässt aber andere dafür bezahlen. Ich nenne das unanständig.
({10})
Ich nenne nur zwei aktuelle Beispiele aus diesen Tagen. Denken Sie nur an die 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen, die der Bund für vier Jahre anbietet,
({11})
oder an die Verpflichtung zur Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Beide Beschlüsse stellen Trojanische
Pferde für die Städte und Gemeinden dar. Denn wieder bekommen sie eine neue Aufgabe aufs Auge gedrückt, auf
deren Finanzierung sie am Ende sitzen bleiben.
Verstehen Sie mich richtig: Auch die Union will die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern.
({12})
Wir haben dazu umfassende Konzepte vorgelegt. Aber dieses gesellschaftspolitisch wichtige Ziel auf dem Rücken
der kommunalen Haushalte durchzusetzen, das ist ein
politisches Armutszeugnis.
({13})
Die finanzielle Lage der Städte und Gemeinden verschlechtert sich dadurch weiter.
Diese Politik ist kurzsichtig, durchschaubar und führt
nicht nur die Kommunen, sondern ganz Deutschland mittel- und langfristig in den Ruin.
Die konkreten Folgen werden zunehmend sichtbar. Allein in Nordrhein-Westfalen unterliegen schon heute zwei
Drittel aller Städte und Gemeinden Haushaltssicherungskonzepten. Alle kreisfreien Städte bis auf vier Großstädte
sind dabei - Kommunalpolitik am Gängelband staatlicher
Aufsicht. Wenn die Gemeinderäte vor Ort nicht mehr
selbst über ihre örtlichen Angelegenheiten entscheiden
können, ist dies das Ende der kommunalen Finanzautonomie. Das ist die logische Konsequenz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
von der SPD, die Entwicklung macht deutlich: Sie bewegen sich mit Ihrem ständigen Griff in die kommunalen
Kassen auch am Rande der Verfassungswidrigkeit. In
Art. 28 unseres Grundgesetzes steht aus gutem Grund
klipp und klar geschrieben:
Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein,
alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im
Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu
regeln. ... Die Gewährleistung der Selbstverwaltung
umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung ...
Daran halten Sie sich in keiner Weise. Im Gegenteil: Die
ständige Übertragung neuer Aufgaben und die Wegnahme
kommunaler Steuereinnahmen zerstören die kommunale
Selbstverwaltung und führen zu mehr Zentralismus.
({14})
Das wollen wir nicht. Wir wollen keinen Zentralismus
und vom Sozialismus haben die Menschen in diesem
Land ebenfalls genug.
Herr Bundesminister Stolpe plant die Einrichtung eines Sonderfonds für finanzschwache Kommunen in
Höhe von 1 Milliarde Euro.
({15})
Er weiß zwar noch nicht genau, woher er das Geld bekommt, ob von den Flutopfern oder aus den Goldreserven; aber immerhin hat er offensichtlich erkannt, wohin
die kommunalfeindliche Politik dieser Bundesregierung
geführt hat.
({16})
Besser wäre es, Herr Kollege Grund, eine Politik zu machen, die die Gemeinden nicht erst ruiniert, sondern sie eigenverantwortlich ihre Aufgaben wahrnehmen lässt. Das
ist unser Verständnis von kommunaler Selbstverwaltung.
({17})
Die CDU/CSU will einen wirksamen Schutz der Kommunen vor weiteren Aufgaben- und Kostenverlagerungen.
Wir wollen, dass in Deutschland wieder der Grundsatz gilt:
Wer bestellt, bezahlt. Wir wollen auch, dass dieser Grundsatz in unserer Verfassung festgeschrieben wird.
Wir brauchen erstens Sofortmaßnahmen zur schnelleren Verbesserung der kommunalen Einnahmen. Die
Rücknahme der ungerechtfertigten Erhöhung der Gewerbesteuerumlage ist dafür eine Möglichkeit; damit könnten
Sie ein Zeichen setzen. Das geht schnell und verschafft
den Kommunen kurzfristig Luft zum Atmen.
Zweitens. Mittelfristig brauchen wir eine umfassende
Neuordnung der Gemeindefinanzen.
Drittens müssen wir den Mut aufbringen, nicht mehr
leistbare Aufgaben infrage zu stellen.
Dies eröffnet zusammen mit Entbürokratisierung
und dem Abbau von Vorschriften und Regulierungen eine
Fülle neuer Gestaltungschancen für die Kommunen.
Selbstverwaltung und Eigenverantwortung sind besser als
Zentralismus und Staatsdirigismus.
({18})
Meine Damen und Herren, wir wollen starke Städte
und Gemeinden. Sie sind die beste Grundlage für einen
gut funktionierenden Staat. Wir wollen, dass Deutschland
die rote Laterne in Europa endlich abgibt und wieder ein
starkes Land wird. Die Kommunen können dazu einen
wichtigen Beitrag leisten. Geben Sie ihnen die Chance
dazu!
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Andreae.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich zum Thema Gewerbesteuerumlage
komme, möchte ich Sie, Herr Götz, auf eine Sache hinweisen. Sie sagen, man müsse das Konnexitätsprinzip
umsetzen. Nehmen Sie einmal das Beispiel der bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter: Wir haben direkt
für die Kommunen für die Gewährung der bedarfsorientierten Grundsicherung 410 Millionen Euro in den
Haushalt eingestellt.
({0})
Das sind 100 Millionen Euro mehr als der ermittelte Bedarf. Weiterhin ist festgelegt worden, dass es nach zwei
Jahren eine Überprüfung dahin gehend gibt, ob diese Finanzmittel ausreichen.
So setzen wir das Konnexitätsprinzip um.
({1})
Wir setzen es nicht so um, wie es unter Kohl im Zusammenhang mit dem Kindergartengesetz geschehen ist. Der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde zwar
festgesetzt; aber die Kommunen haben keine Mittel dafür
bekommen, dies umzusetzen.
({2})
Sie sprechen von der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Dazu sage ich Ihnen: Dass wir im Koalitionsvertrag die Schaffung von Einrichtungen für die Betreuung
von Kindern unter drei Jahren festgeschrieben und die Finanzierung zugesichert haben, ist eine wahre Politik für
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu legen wir
etwas vor; da lassen wir die Kommunen nicht allein.
({3})
Zum Thema Gemeindefinanzen: Mich freut es, dass es
inzwischen oben auf der Agenda steht. In dem von uns
vorgelegten Antrag mit der Überschrift „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“ steht - das stellen Sie fest, wenn
Sie ihn bis zum Schluss durchlesen -, dass wir bis zum
Jahresbeginn 2004 ein Konzept vorlegen werden. Dies
schafft langfristig Abhilfe in Bezug auf die Misere bei den
Gemeindefinanzen.
Ich stimme ja mit Ihnen darin überein, dass es den Kommunen finanziell nicht gut geht und wir ihnen helfen müssen. Aber wir müssen ihnen vor allem mit einem langfristigen Konzept helfen. Das werden wir mit der Reform der
Gemeindefinanzen tun. Dies ist ein Konzept, in dem die
Verstetigung und die Stärkung der Gemeindefinanzen an
erster Stelle steht, ein Konzept, das die Modernisierung der
Gewerbesteuer auf den Weg bringen wird.
Wir sind nicht wie die FDP der Auffassung, dass die
Abschaffung der Gewerbesteuer der richtige Weg ist. Ich
bin mir sehr sicher: Die Abschaffung der Gewerbesteuer
verlagert die Steuern, die jetzt bei den Unternehmen anfallen, auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
auf die Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen die Gewerbesteuer als ein Band zwischen Kommune bzw. Gemeinde und örtlicher Wirtschaft. Denn diese kommunale
Steuer festigt das wichtige Band zwischen diesen beiden
Ebenen. Wir werden die Gewerbesteuer also modernisieren.
Aber Sie haben Recht: Wir brauchen eine kurzfristige
Abhilfe. Wir haben ein Konzept, ein Gesetz vorgelegt, in
dem es um eine kurzfristige Abhilfe geht. Das ist das Steuervergünstigungsabbaugesetz.
({4})
- Sie sagen, das seien Steuererhöhungen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an Ihren Herrn Müller verweisen, der gesagt hat, dass ab 2004 Steuererhöhungen
durchaus wieder denkbar sind. Da wäre ich also an Ihrer
Stelle ganz vorsichtig.
Dieses Steuervergünstigungsabbaugesetz beinhaltet
Maßnahmen, wodurch den Kommunen in 2003 Mittel an
die Hand gegeben werden können. In 2004 sind das
2,1 Milliarden Euro und in 2005 3,2 Milliarden Euro. In
diesem Gesetz stehen konkrete Maßnahmen: zum Beispiel die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften.
Zur Vorbereitung meiner Rede habe ich mir noch einmal die Debatte zur ersten Lesung unseres Gesetzentwurfes angesehen. Herr Schild und Herr Scheelen haben deutlich gesagt - dafür war ich sehr dankbar -: Natürlich wollen wir die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften. Das ist das richtige Mittel. Das ist eine
sofortige, kurzfristige Abhilfe für die Finanzmisere der
Kommunen.
Wir wollen eine Mindestbesteuerung mit einem
Sockel. Wir haben gestern lange darüber diskutiert, ob es
einen oder ob es keinen Sockel geben sollte. Wir wollen
eine Eingrenzung der Verlustverrechnung. Das sind Maßnahmen, die den Kommunen kurzfristig Geld bringen.
({5})
Sie schlagen jetzt als Abhilfe die Absenkung der Gewerbesteuerumlage vor. Die Punkte, die gegen diese Maßnahme sprechen, sind schon genannt worden. Der eine ist,
dass die Ausfälle in der Gewerbesteuer konjunkturbedingt
sind. Eine Absenkung des Körperschaftsteuertarifs durch
die Steuerreform hat das Steueraufkommen der Gemeinden unberührt gelassen. Worum es ging, war eine Beteiligung der Kommunen im Rahmen der Steuereinnahmenquote. Daran sind sie weniger beteiligt worden, als
eigentlich erforderlich gewesen wäre.
Herr Scheelen hat es vorhin gesagt: Eine 10-prozentige
Absenkung der Gewerbesteuerumlage könnten die Länder, die zwei Drittel davon bekommen, vornehmen. Aber
sie können es nicht finanzieren. Wir können nicht den
Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir brauchen ein
Gesamtkonzept. Dieses legen wir vor. Wir werden eine
langfristige Stärkung und Sicherung der Gemeindefinanzen vornehmen. Dieses Instrument bringt aber - das ist für
mich das entscheidende Argument - vor allem den finanzschwachen Kommunen nichts; es gibt ihnen nichts
an die Hand.
({6})
Wenn Sie das Steuervergünstigungsabbaugesetz im
Bundesrat ablehnen - Sie kündigen ja immer wieder an,
dass Sie außer dem Körperschaftsteueranteil sowieso
nichts durchgehen lassen -, dann schieben Sie Maßnahmen, die den Kommunen kurzfristig wirklich helfen können, auf die lange Bank. Sie schaffen eben keine kurzfristige Abhilfe für die Kommunen.
({7})
- Die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft
ist ein Element dafür.
({8})
Die großen Städteverbände - alle drei - haben mit
ihren Verunsicherungen in der Anhörung, die wir gemeinsam erlebt haben, durchaus ein bisschen den Druck genommen und sind inzwischen alle der Meinung, dass wir
die gewerbesteuerlichen Organschaften wieder abschaffen müssen. Sie wissen, dass wir Zerlegungsregelungen
schaffen können und dass wir den ostdeutschen Kommunen dabei helfen können. Wir müssen dieses Instrument
aber in die Hand nehmen. Es schafft kurzfristig Abhilfe
für die Kommunen.
({9})
Sie sagen immer: Steuer nur bei Ertrag. Ich finde, da
haben Sie Recht. Wir sagen: Bei Ertrag dann aber auch
wirklich Steuer. Deswegen wollen wir eine Mindestbesteuerung mit Sockel.
({10})
Wir wollen eine Verlustverrechnung eingrenzen und wir
wollen die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaften.
({11})
Ich bitte Sie wirklich herzlich: Verweigern Sie im Bundesrat nicht die Zustimmung zu diesen Maßnahmen! Sie
helfen den Kommunen kurzfristig. Schieben Sie diese
Maßnahmen nicht auf die lange Bank!
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Pinkwart.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bereits bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs war die Haushaltslage der Kommunen in Deutschland katastrophal. Sie hat sich seitdem noch verschärft.
Wurde im letzten Quartal des vergangenen Jahres von der
Bundesregierung noch die Hoffnung verbreitet, dass die
Wirtschaft in diesem Jahr wieder Tritt fassen würde,
musste auch sie ihre Prognosedaten nach unten korrigieren. Frau Kollegin Andreae, wenn Sie dieses Steuervergünstigungsabbaugesetz - Sie erlauben mir, es hier treffender als Nettoeinkommensenkungsgesetz bezeichnen
zu dürfen - weiterhin auf den Weg bringen wollen, dann
wird sich - das sage ich Ihnen voraus - die wirtschaftliche
Situation in Deutschland noch dramatischer entwickeln
und damit die Einnahmesituation nicht nur des Bundes,
sondern auch der Länder und der Kommunen weiter verschlechtern.
({0})
Dabei haben wir bereits dramatische Zahlen bei Städten und Gemeinden. Der Finanzierungssaldo der Gemeinden befindet sich im freien Fall. Das Defizit der gemeindlichen Haushalte wird sich gegenüber 2001 mehr
als verdoppeln und den negativen Nachkriegsrekord von
9,9 Milliarden Euro erreichen.
Um den Investitionsbedarf der Kommunen zur Erhaltung der technischen, sozialen und kulturellen Infrastrukturen zu decken, müsste das kommunale Investitionsniveau um bis zu 50 Prozent über das heutige Niveau steigen. Stattdessen sinken aber die investiven Ausgaben unaufhaltsam - mit allen negativen Auswirkungen auf
Wachstum und Beschäftigung. Allein das Handwerk bezieht mehr als 13 Prozent der Aufträge von den Kommunen und ist daher Hauptleidtragender dieser Entwicklung.
So hat sich die Investitionslücke allein in den letzten
vier Jahren um rund 40 Milliarden Euro vergrößert. Die
Folgen sind überall sichtbar und sind für unsere Bürgerinnen und Bürger spürbar. Die Schulgebäude und Sportanlagen werden nur notdürftig instand gehalten und sind
teilweise in einem inakzeptablen Zustand. Reparaturen
von Gehwegen und Straßen werden aufgeschoben, Personal in den Kindertageseinrichtungen weiter ausgedünnt.
In Nordrhein-Westfalen mussten am Jahresende 2002
105 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept beschließen. Annähernd zwei Dutzend Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen befinden sich in einer so kritischen Finanzlage, dass sie nicht einmal mehr die
Voraussetzungen für ein Haushaltssicherungskonzept erfüllen.
Frau Kollegin Scheel, ich empfehle vor diesem Hintergrund, die geplante Anhörung im Finanzausschuss, in der
wir uns mit dem internationalen Insolvenzrecht für Staaten beschäftigen wollen, zu verschieben und die Beratungen über die Gemeindefinanzreform im Finanzausschuss
vorzuziehen, damit wir eine Insolvenzwelle in den deutschen Kommunen abwenden können.
({1})
Ich fordere hiermit für die FDP-Fraktion die Bundesregierung auf, die Kommissionsarbeit zum Gemeindefinanzreformgesetz dringend zu beschleunigen und dabei
Sorge dafür zu tragen, dass sich nicht nur die Einnahmesituation verbessert, sondern dass die Städte und Gemeinden auch von der überbordenden Bürokratie und von
unnötigen Standards und Normen befreit werden, dass sie
aber auch befreit werden von zusätzlichen Lasten, die ihnen vom Gesetzgeber, aber jüngst eben auch von den Gewerkschaften auferlegt worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht
an, dass unsere Kommunen die Melkkühe der Gefälligkeitspolitiker in Bund und Land sowie der Gewerkschaften bleiben.
({2})
So rechnet der Innenminister des Landes NordrheinWestfalen - Sie wissen, er ist kein Vertreter der FDP - angesichts des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst und
des In-Kraft-Tretens des Grundsicherungsgesetzes damit,
dass sich die Haushaltsdefizite der nordrhein-westfälischen Kommunen von dem erschreckend hohen Niveau
von 2,68 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf die Rekordmarke von 4 Milliarden Euro in diesem Jahr erhöhen
werden.
Nun hat Frau Hendricks für die Bundesregierung angekündigt, dass Ihr Gemeindefinanzreformmodell ein
Nullsummenspiel auf der Einnahmeseite und bei der Leistungsverteilung werden soll. Ich darf Ihnen hierzu Herrn
Behrens, den Innenminister Nordrhein-Westfalens - Mitglied in der SPD -, mit Blick auf den Bundesfinanzminister zitieren:
Nach seinen Plänen
- damit meint er Herrn Eichel kommt das Geld zu spät und es ist deutlich zu wenig.
Diesem Zitat können wir uns sehr gern anschließen.
({3})
Ich darf Sie deshalb - die Kolleginnen und Kollegen
der SPD in diesem Hohen Hause werden zustimmen doch bitten, vor dem Hintergrund dieser katastrophalen
Lage unserer Kommunen in Deutschland und der Bewertung, die ich auch aus SPD-Ländern vortragen durfte, dieser Gesetzesvorlage zuzustimmen.
Das Gegenargument, das Sie noch im vergangenen
Jahr bei der ersten Lesung vorgebracht haben, nämlich die
Länder würden dieser Gesetzesänderung nicht zustimmen, ist Ihnen aus der Hand geschlagen worden. Die Länder haben diesem Gesetzentwurf im Bundesrat zugestimmt. Sie sind bereit, anders als es von Herrn Scheelen
vorgetragen worden ist, die Gewerbesteuerumlage abzusenken. Es steht also nichts mehr im Wege.
Wenn Sie allerdings - das sage ich ganz deutlich gleich in der namentlichen Abstimmung diesem Entwurf
nicht zustimmen, tragen Sie, die Kolleginnen und Kollegen der SPD- und der grünen Fraktion, die Verantwortung
dafür, dass die Kommunen in eine weitere desolate Situation hineingeführt werden.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir nehmen mit Genugtuung, Herr Kollege Pinkwart, zur
Kenntnis, dass Sie den Antrag, den Sie offensichtlich Anfang der Woche in den Deutschen Bundestag einbringen
wollten und der den Titel trug „Gemeindefinanzen reformieren, Gewerbesteuer abschaffen, Finanzkraft der Gemeinden stärken“, zurückgezogen haben. Das war in der
Tat ein Dienst an den Gemeinden. Ich werte es als Einsicht; denn dieser Antrag, der ein Ladenhüter aus der letzten Wahlperiode ist, hätte nun den Gemeinden wirklich
nicht geholfen.
({0})
Herr Kollege Götz, ich will etwas zu unserem Verhältnis zu den Kommunen in diesem Land sagen. Dieses wird
nicht durch Zentralismus oder Staatsdirigismus geprägt;
das sind Propagandablasen, die Sie hier vortragen. Wir haben alle Gesetze in der letzten Wahlperiode in enger Abstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden entworfen und dann im Deutschen Bundestag beschlossen.
({1})
- Das stimmt.
Es stimmt auch - und das ist schlimm -, dass all diese
Gesetze auf Ihren entschiedenen Widerstand gestoßen
sind. All das, was wir hier zum Wohle der Gemeinden im
Deutschen Bundestag beschlossen haben, ist von Ihnen
nicht mitgetragen worden. Nun kommen Sie erneut mit
dem, was Sie uns bereits seit über einem Jahr immer wieder präsentieren, nämlich mit dem Vorschlag, die Gewerbesteuerumlage zu senken.
Wir begrüßen, dass sich der Bundestag mit dem Thema
„Kommunalfinanzen“ befasst. Dazu haben wir auch allen
Grund.
({2})
- Herr Michelbach, Sie stehen auf der Rednerliste. Sie haben nachher Gelegenheit, dem Hohen Haus zu verkünden,
wie die Bayerische Staatsregierung mit ihren Gemeinden
umspringt.
({3})
Dazu lässt sich sicherlich vieles sagen und auch der Kollege Pronold hat dazu vor kurzem schon einiges gesagt.
Es verwundert aber doch, wenn sich einerseits der bayerische Staatsminister für die Finanzen rühmt, im Land
Bayern für das Jahr 2003 eine sehr geringe Verschuldung
vorgesehen zu haben, und auf der anderen Seite die Kommunen beispielsweise die Kosten für das Lehrpersonal
übernehmen müssen und eine Stadt wie München doppelt
so viel Schulden aufnehmen muss wie der gesamte Freistaat Bayern. Sie können dazu nachher gern ein paar
Worte sagen.
({4})
Ich möchte noch etwas anderes mit aller Deutlichkeit
sagen. Das Engagement, das Sie in den letzten Wochen
und Monaten für die Kommunen entwickelt haben, haben
wir in den vielen Jahren davor deutlich vermisst.
({5})
- Nein. Was Sie vorhin beschrieben haben, nämlich die
starke Abhängigkeit der Gewerbesteuer von der Konjunktur, hat den Kommunen sicherlich schon immer, allerdings
nicht in dieser Prägnanz, Probleme bereitet.
Hier ist mehr als einmal gesagt worden, dass Sie es waren, die dazu beigetragen haben, diese Steuer zu einer
Großbetriebssteuer zu machen.
({6})
Alle Elemente, die das etwas hätten mildern können, sind
aus dem Gewerbesteuergesetz herausgenommen worden.
Dies ist auch noch gar nicht so lange her.
Wer hat denn vor nicht allzu langer Zeit, in der letzen
Wahlperiode, im Deutschen Bundestag den Antrag auf
Absenkung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer um 20 Prozentpunkte eingebracht?
({7})
Das waren doch nicht wir. Man muss schon ein stabiles
Maß an Verdrängungsfähigkeit besitzen, wenn man dies
alles heute nicht mehr zur Kenntnis nimmt und sich hier
zum Retter der Gemeinden aufschwingt.
({8})
Die Senkung der Umlage der Gewerbesteuer ist kein
Allheilmittel für die Kommunen.
({9})
- Kollege Seiffert, wir können uns über vieles unterhalten. Der Wahlkampf ist nun Gott sei Dank vorbei.
({10})
Wir werden im Rahmen der Kommission, die sich mit der
Neuordnung der Gemeindefinanzen befasst - in dieser
sind die von Ihnen regierten Länder genauso vertreten
wie die von uns regierten Länder -, auch einen Konsens
finden müssen, um auf dessen Grundlage das Problem
möglichst schnell einer Lösung zuzuführen. Der Zeitpunkt ist bereits genannt worden. Wir wollen, dass es zum
1. Januar 2004 in Kraft tritt.
Bislang ist uns aber nicht klar geworden, welche Vorschläge denn die Union für eine grundlegende Gemeindefinanzreform hat. Dies würde uns, aber auch die Kommunen, die Städte und Gemeinden, interessieren. Dazu hören
wir aber nichts.
({11})
Ein einziger Vorschlag wird hier konstant immer wieder eingebracht. Aber auch diesen scheinen Sie nicht so
ganz ernst zu meinen. Die jüngste Forderung, die Gewerbesteuersenkung in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufzunehmen, ist doch grotesk. Sie kündigen an,
diesen Gesetzentwurf vollständig abzulehnen, bringen
aber vor zwei Tagen einen Antrag in den Finanzausschuss
ein, in den Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugesetzes, den Sie ablehnen wollen, die Absenkung der Gewerbesteuerumlage aufzunehmen. Wie das funktionieren
soll, müssen Sie einmal erklären.
({12})
Wollen Sie den Gemeinden nun helfen oder nicht? War
die Mehrheit im Bundesrat für die Absenkung der Gewerbesteuerumlage im zweiten Anlauf ein Versehen oder
haben Sie es nur mit der Angst zu tun bekommen, weil
Ihre Großzügigkeit gegebenenfalls nicht seriös finanziert
werden kann? Schließlich hätten Bund und Länder eine
Senkung der Umlage zu verkraften. Nicht von ungefähr auch das ist schon angesprochen worden - hat die Bayerische Staatsregierung den bayerischen Kommunen die
Möglichkeit der Senkung des Landesanteiles an der Umlage immer wieder verwehrt.
Ich will Ihnen einmal sagen, was passiert, wenn wir
Ihrem Vorschlag näher treten würden. Bestenfalls würden
wir folgenden Effekt provozieren: Die Länderhaushalte
haben bis auf ein oder zwei absolut keinen Spielraum. Sie
werden die Mittel für die Kommunen schlichtweg an anderer Stelle streichen und die Kommunen hätten in der
Summe nichts gewonnen.
Wir lehnen Ihren Antrag aber nicht nur wegen der offenkundigen mangelnden Ernsthaftigkeit ab, mit der Sie
die Anliegen der Kommunen verfolgen. Wir halten die
Senkung der Umlage als Soforthilfe für die Gemeinden
für nicht geeignet. Die Streuung der Einnahmen von
Gemeinde zu Gemeinde werden durch eine solche Maßnahme nur noch verstärkt. Sehen Sie sich einmal die Finanzdaten im Gemeindefinanzbericht 2001 an: Frankfurt
am Main minus 38 Prozent; Wiesbaden plus 5 Prozent;
Bochum plus 17 Prozent; Darmstadt plus 56 Prozent;
Göttingen plus 26 Prozent. Die Gemeinden in den neuen
Ländern haben dagegen ein geringes Gewerbesteueraufkommen zu verzeichnen. Was wollen Sie also mit einer
Neujustierung der Gewerbesteuerumlage erreichen? Die
Gemeinden, die am meisten haben, werden am stärksten
entlastet, München vielleicht 20-mal so stark wie Gelsenkirchen und vielleicht 50-mal so stark wie Halle an der
Saale. Das sind die Zahlen auf Grundlage des Gemeindefinanzberichts.
({13})
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wir bestreiten doch nicht, dass das Gewerbesteueraufkommen in den letzten beiden Jahren drastisch eingebrochen ist. Von Ihnen wird aber immer wieder die Propaganda im Lande verbreitet, dieser Einbruch habe etwas
mit unserer Steuerreform zu tun. In einem Schreiben eines großen Energieunternehmens an eine Stadt in meinem
Wahlkreis heißt es:
In diesem Zusammenhang erlauben wir uns eine Anmerkung. Die Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens hat grundsätzlich nichts mit der Ausnutzung von Steuervergünstigungen zu tun. Sie ist
vielmehr primär konjunkturbedingt.
Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Wir müssen die Gewerbesteuer wieder zu einer verlässlichen und stetigen Steuerquelle für die Gemeinden
machen.
({14})
- Nein, Herr Kollege Seiffert. Darüber werden wir uns
noch einmal unterhalten müssen. So einfach wird es aber
sicher nicht.
({15})
- Herr Michelbach, Sie sind doch gleich dran.
Ihre Anträge - das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen - tragen nicht dazu bei, den Kommunen eine verlässliche und stetige Steuerquelle zu geben.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt,
dem wir alle zu seinem heutigen Geburtstag sehr herzlich
gratulieren.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
kommunalen Spitzenverbände meines schönen Heimatlandes Schleswig-Holstein
({0})
haben in diesen Tagen eine Entschließung vorgelegt. In
diesen Gremien sitzen mindestens genauso viele Sozialdemokraten wie Christdemokraten.
({1})
In dieser Entschließung heißt es: Die finanzielle Situation
unserer Kommunen war seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland noch nie so schlecht wie heute.
({2})
Das ist die Ausgangslage.
In dieser Situation bringen Sie hier einen Antrag ein, in
dem Sie schreiben, die Situation bei den Kommunen sei
kritisch. Nein, die Lage ist katastrophal. Sie haben den
Ernst offensichtlich noch nicht verstanden.
({3})
Im Bericht der Sachverständigen steht, dass der Bundesregierung der Blick für die Ökonomie insgesamt fehle.
Nach den bisherigen Reden der Sozialdemokraten - es
war sogar ein Volkswirt darunter - habe auch ich diesen
Eindruck gewonnen. Ihnen fehlt der Blick für die Ökonomie insgesamt.
({4})
Sie können froh sein, dass wir Ihr Steuererhöhungsgesetz
im Bundesrat ablehnen.
({5})
Wenn wir rein egoistisch parteipolitisch vorgehen würden,
dann müssten wir diesem Gesetz zustimmen, weil es dann
mit der deutschen Wirtschaft weiter bergab ginge. Wir helfen Ihnen, indem wir Ihr unsägliches Gesetz im Bundesrat
mit unserer Mehrheit - Gott sei Dank - ablehnen.
Wenn man die Lebensläufe der Abgeordneten im
Handbuch des Deutschen Bundestages durchsieht, dann
fällt auf, dass zwei Merkmale unter den Abgeordneten besonders häufig zu finden sind. Zum einen ist eine hohe
Anzahl von Abgeordneten - bei Ihnen etwa 80 Prozent Mitglied in einer Gewerkschaft. Das merkt man - leider bei mancher Ihrer Entscheidungen.
Ein zweites Kriterium, das auffällt, wenn man sich die
Lebensläufe ansieht, ist - das gilt besonders für die beiden großen Fraktionen, aber teilweise auch für die anderen -, dass mehr als die Hälfte aller Mitglieder dieses
Hauses kommunalpolitisch tätig waren oder sind. Das
merkt man bei den Einlassungen von der linken Seite dieses Hauses leider nicht.
({6})
Sie sollten sich wieder einmal zu Hause bei Ihren Bürgermeistern und Stadtkämmerern informieren.
({7})
Ich habe das getan. Ich nenne Ihnen nur zwei Zahlen.
Im letzten Jahr der Regierung Kohl - viele haben Sehnsucht nach dieser Zeit ({8})
betrugen die Nettogewerbesteuereinnahmen der Kommunen in Schleswig-Holstein 570 Millionen Euro, im
letzten Jahr - das war Ihr viertes Regierungsjahr - nur
noch 410 Millionen Euro. Das heißt, sie sind in vier Jahren um 30 Prozent zurückgegangen. Um es noch konkreter zu sagen - ich komme aus einer Mittelstadt in Schleswig-Holstein, aus Rendsburg, 30 000 Einwohner -:
({9})
Uns kostet das zurzeit jedes Jahr 750 000 Euro Gewerbesteuereinnahmen. Das sind die Realitäten vor Ort. Sie
sollten sich wieder einmal bei Ihren Kommunen sehen
lassen.
({10})
Nun haben Sie im Jahre 2000 gegen unsere Stimmen
die Gewerbesteuerumlage von 20 auf 30 Prozent erhöht.
Ich muss Sie immer wieder an Ihre Begründung erinnern.
Sie haben damals zwei Gründe genannt. Als einen Grund
haben Sie genannt, dass Ihre heiß geliebte Steuerreform
letztlich zum Ankurbeln der Konjunktur führe. Deshalb
sollten sich die Kommunen an den eingeplanten Ausfällen dieser Steuerreform beteiligen. So steht es im Gesetz.
({11})
- Natürlich stimmt das. Vielleicht haben Sie es nicht gelesen. Ich habe es vor der Debatte noch einmal gelesen.
Ich sage nur: Was aus der Konjunktur geworden ist, das
wissen wir.
Sie haben eine zweite Argumentation gebracht. Sie haben damals gesagt: Wir werden die Branchenabschreibungstabellen verändern und dies führt dazu, dass die
Kommunen mehr Einnahmen erzielen. Ich sage an dieser
Stelle: Gott sei Dank haben Sie sie nicht verändert, denn
dann wäre es in der Wirtschaft noch weiter bergab gegangen. Schon heute werden zum Teil Scheingewinne
versteuert. Aber damit ist die Geschäftsgrundlage für die
damals beschlossene Erhöhung
({12})
weggefallen. Schon von daher sind Sie moralisch verpflichtet, unserem Antrag zuzustimmen.
({13})
Meine Damen und Herren, ich möchte wegen der gesamten Ökonomie, die wir nie vergessen dürfen, noch
einmal betonen: Der Kreislauf ist folgender - ich bitte alle
Nichtökonomen, besonders auf der linken Seite, zuzuhören -:
({14})
Wenn die Kommunen nicht in der Lage sind, Investitionen in Auftrag zu geben, leiden vor Ort das Handwerk und
die mittelständische Wirtschaft. Ich nenne Ihnen eine Zahl
aus dem Jahr 2002. Sie stammt nicht von mir, sondern
vom Verband der Vereine Creditreform. Es sind im Jahre
2002 38 000 Firmen Pleite gegangen und das hat
600 000 Arbeitsplätze gekostet. Das ist das Ergebnis Ihrer
Politik.
({15})
- Unterm Strich ist viel mehr herauszubekommen, Herr
Kollege. Das wissen Sie.
Aber der Kreislauf der Wirtschaft geht noch weiter.
Wenn immer mehr Leute arbeitslos werden, brechen unsere sozialen Systeme zusammen. Das ist ein weiterer
Punkt, der zur Betrachtung der Gesamtökonomie gehört.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wenn Sie
sich hierhin stellen und sagen, Sie hätten tolle Pläne für
die Gemeindefinanzierung, hilft das den Kommunen
heute nicht. Diese Pläne können frühestens ab 1. Januar 2004 in Kraft treten. Bis dahin wird es durch die
schwierige Situation der Kommunen aber ein deutliches
Stück weiter bergab gehen.
Natürlich warten Sie auf Aussagen, wie wir uns eine
Gemeindefinanzreform vorstellen. Es gibt noch keine abschließende Entscheidung, aber ich sage sehr deutlich: Ich
bin nach wie vor dafür, die Gewerbesteuer abzuschaffen.
({16})
Aber das kann man nur im Rahmen einer Neuordnung der
Finanzen insgesamt und nicht isoliert machen. Hier geht
es schließlich um einen Brocken von 23 Milliarden Euro.
({17})
Dafür muss es auch einen Ersatz geben, auf den die Kommunen Einfluss haben. Das alles ist klar.
Wenn Sie unserem Gesetzentwurf heute zustimmen, bedeutet das, dass die Kommunen in der Bundesrepublik
Deutschland noch in diesem Jahr rund 2,25 Milliarden Euro
mehr erhalten. Das wollen die Stadtkämmerer hören. Ich
glaube nicht, dass die Ministerpräsidenten am Fernseher sitzen. Nein, es sind die Bürgermeister und die Stadtkämmerer.
({18})
Meine Damen und Herren, das ist zwar noch nicht die
Lösung des Problems, aber es ist ein ernst zu nehmender
Betrag. Bezogen auf die Legislaturperiode geht es hier um
10 Milliarden Euro mehr für die Kommunen. Deshalb
kann ich an die Kommunalpolitiker in der sozialdemokratischen Fraktion nur appellieren, sich dies noch einmal
genau zu überlegen; denn eines wissen die Kämmerer
auch: Wenn dies heute abgelehnt wird, gäbe es in diesem
Jahr keinen zusätzlichen Cent für die Kommunen. Damit
liefe der gesamtwirtschaftliche Kreislauf so weiter wie
bisher. Die Kommunen könnten keine Investitionen tätigen. Der Verband der Vereine Creditreform sagt, dass in
diesem Jahr 42 000 Firmen Pleite gehen. Wir wissen, was
das für die Sozialversicherung bedeutet.
Deshalb lautet mein dringender Appell: Lösen Sie sich
von dem, was Ihnen die Haushaltsabteilung des Finanzministeriums auf den Tisch gelegt hat! Stellen Sie bei Ihrer Abwägung gesamtwirtschaftliche Überlegungen an!
Jede Steuererhöhung, die Sie beschließen - dies gilt insbesondere auch für die Mindestbesteuerung von Kapitalgesellschaften -, führt uns letztlich weiter nach unten.
({19})
Ich appelliere an Ihren ökonomischen Sachverstand:
Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir noch in diesem Jahr etwas für unsere Kommunen leisten! Sie haben
es dringend nötig. Die Situation dort ist nicht kritisch, sie
ist katastrophal.
({20})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte gerne ein paar Äußerungen des Geburtstagskindes
- herzlichen Glückwunsch auch von mir - aufgreifen
({0})
und die Widersprüche deutlich machen, die es in Ihrer Argumentation - nicht nur in Ihrer persönlichen, sondern
auch in der der Union - gibt.
Auf der einen Seite wird gesagt - das ist ja auch richtig -,
dass es vielen Kommunen finanziell sehr schlecht geht.
({1})
Das ist in Deutschland regional sehr unterschiedlich. Der
Kollege hat darauf hingewiesen, dass es Kommunen mit
einem Plus und Kommunen mit einem Minus von 20 bis
30 Prozent gibt. In meinem Landkreis Aschaffenburg hatten wir im sehr schwierigen letzten Jahr zum Beispiel ein
Plus von über 40 Prozent.
({2})
In den Städten und Gemeinden in Bayern und auch in anderen Ländern sind die Schwankungsbreiten enorm groß.
Das zeigt uns, dass durch das jetzige System, mit dem
die Gewerbesteuer veranlagt wird, die Probleme der
Kommunen nicht gelöst werden können. Es kann keine
solide und berechenbare Grundlage für die kommunalen
Haushalte sein.
({3})
Das ist der Grund, das heißt, das jetzige System ist für die
heutige Wirtschaftssituation mit international operierenden Unternehmen nicht mehr geeignet, eine vernünftige
Einnahmequelle für die Kommunen darzustellen. Das ist
das Erste.
Sie sagen, dass es unterschiedlich ist; ich gebe Ihnen ja
Recht. Danach argumentieren Sie aber sofort, dass man
für die Betriebe mehr tun muss. Bezogen auf die Branchentabellen wurde uns zugestanden - wir haben sie
damals nicht umgesetzt -, dass es zu keiner Verschlechterung gekommen ist. Ich finde es aus wirtschaftspolitischen Gründen völlig richtig, dass wir damals auf die Verschärfungen verzichtet haben. Sie halten uns vor, wir
hätten die Branchentabellen nicht umgesetzt und die Gewerbesteuerumlage erhöht, wodurch es zu einem größeren Problem gekommen sei. Deswegen, um also die Umlage wieder auf den alten Stand zu bringen, müssten wir
Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. Das geht so nicht auf.
Kollegin Andreae hat völlig zu Recht gesagt: Genau
dort, wo heute eine vernünftige Einnahmesituation gegeben ist, würde die Umlage, wenn man die Erhöhung
zurücknähme, positiv greifen. Dort, wo wenig Geld in der
Kasse ist, hätte man auch von der Umlageveränderung
nicht so viel. Dieser Zusammenhang muss hier deutlich
gemacht werden.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Wenn wir all die
Maßnahmen - die alten Abmachungen mit den Kommunen, den Gesetzentwurf und die Branchentabellen - umsetzen würden, müssten die Kommunen im Jahre 2003 auf
etwa 400 Millionen Euro verzichten. Die Anhebung der
Gewerbesteuerumlage befindet sich rein quantitativ in einem anderen Kontext. Es handelt sich dabei um knapp
3 Milliarden Euro. Wenn ich mir die Anträge zur Senkung
der Umlage anschaue, obwohl auch CDU/CSU-geführte
Länder - von Schleswig-Holstein bis nach Bayern, wo ich
herkomme - dagegen sind, dann frage ich mich schon,
wie man das zusammenbringt.
Wir wissen, dass etwa zwei Drittel der Umlage in die
Länderhaushalte eingestellt werden. Wenn das nicht der
Fall wäre, hätten wir quer durch alle Länder verfassungswidrige Haushalte. Wenn die Kommunen den Ländern
wirklich so sehr am Herzen liegen und die Probleme dort
tatsächlich so groß sind, dann sollten die Länder einmal
ehrlich sagen, warum sie die Umlage in ihre Haushalte einstellen und die Mittel nicht an die Kommunen weitergeben.
Diese Frage müssen die unionsgeführten Länder beantworten. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen dem,
was Sie in Ihrem Gesetzentwurf formulieren, und dem, was
in den unionsgeführten Ländern gemacht wird.
({4})
Wir werden uns bald sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müssen - die Kommission arbeitet und es liegen bereits viele Zwischenberichte vor -, wie es mit den
Kommunalfinanzen weitergeht.
({5})
Wir werden nur dann eine gute Entscheidung treffen können, wenn diese von den kommunalen Spitzenverbänden
mitgetragen wird. Die kommunalen Spitzenverbände sind
der Auffassung, dass man vernünftige Berechnungsgrundlagen braucht, um ein zukunftsfähiges Gesetz auf
den Weg zu bringen. Deswegen halten wir mehr davon,
uns gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden
einer positiven Lösung zuzuwenden als durch Aktionismus Hilfe vorzutäuschen, die aber denen, für die sie gedacht ist, am Ende nichts bringt.
Abschließend noch eine Bemerkung. Wir können uns
selbstverständlich vorstellen, bereits in diesem Jahr die
Höhe der Umlage zu prüfen und dies nicht erst im nächsten Jahr zu tun.
({6})
Die Zahlen müssen auf den Tisch kommen, sodass alle Beteiligten wissen, wie das Steueraufkommen in Deutschland verteilt ist.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Piltz.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ‘ ich einen Arbeitskreis. Das habe ich in der Politik schon früh gelernt.
({0})
Nach diesem Motto gründet die Bundesregierung fleißig
eine Kommission - wir haben sie jetzt anders genannt nach der nächsten: Hartz-Kommission, Rürup-Kommission
und schließlich die Gemeindefinanzreformkommission.
({1})
Die zweite Weisheit der Arbeitskreispolitik lautet, dass
Verweisungen in derartige Gremien nicht immer für eine
hohe Priorität der Themen sprechen.
({2})
Die Bundesregierung macht schon bei den Kommissionen, deren Name vom Renommee des Vorsitzenden geprägt wird, kaum Anstalten, die dort gefundenen Lösungen eins zu eins umzusetzen. Das haben wir im Parlament
kurz vor Weihnachten schmerzlich erleben müssen.
({3})
Aber immerhin: Sozialreform und Arbeitsmarkt sind
der Bundesregierung wichtig genug, um sich in der Öffentlichkeit mit den Kommissionen zu schmücken: Hartz,
Rürup. Das klingt nach Kompetenz, Schnelligkeit, umfassenden Aufträgen und neuen, innovativen Wegen.
Dann aber gibt es noch diese Gemeindefinanzreformkommission. Sie hat keinen prominenten Namen, mit
dem sie sich schmücken kann. Ob das auf den Sachverstand der Beteiligten schließen lässt, kann ich nicht beurteilen. Aber es spricht offensichtlich auch nicht gerade für
die Besetzung dieser Kommission.
Diese Kommission verschiebt eine Sitzung nach der
anderen und hat nach fast einem Jahr noch immer kein Ergebnis vorzulegen. Sie braucht, wie jetzt mitgeteilt wurde,
sogar noch fast ein halbes Jahr mehr Zeit. Dabei hat sie
vorsichtshalber nicht einmal den Auftrag, über die Finanzierung und die Aufgaben der Kommunen umfassend
nachzudenken. Die Bundesregierung zeigt aus unserer
Sicht deutlich: Das Thema ist ihr einfach nicht wichtig genug. Das ist nach unserer Auffassung eine politische
Bankrotterklärung gegenüber den Kommunen.
({4})
Wenn Sie bei der Hartz- und der Rürup-Kommission
Druck machen, warum machen Sie das nicht auch in diesem Zusammenhang?
Die Gemeindefinanzreform ist ein zentrales Thema für
ein funktionierendes Gemeinwesen in diesem Staat. Die
Kommunen bilden die Basis unserer Gesellschaft. Sie
sind näher am Bürger als alle anderen Ebenen. Sie aber,
meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen,
lassen auch heute wieder die Kommunen im Regen stehen. Sie könnten wenigstens kurzfristig helfen und den
dringend benötigten Spielraum zur Verfügung stellen.
({5})
Denn inzwischen stehen die Kommunen gegenüber dem
Bund und den Ländern erheblich schlechter da als Anfang
2000, als Sie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
beschlossen haben. Daher fordern wir die Rücknahme
dieser Erhöhung.
({6})
Dass jetzt noch quasi auf Kosten der Kommune Gewinne
gemacht werden, halte ich persönlich für eine Frechheit.
({7})
Mit unserer Forderung stehen wir übrigens nicht alleine. Alle kommunalen Spitzenverbände sehen das genauso. Sie jedoch, meine Damen und Herren von der SPD und
den Grünen, handeln offensichtlich gegen die Interessen
der Kommunen. Aber wie Sie das Ihren Kommunalpolitikern vor Ort beibringen wollen, ist Gott sei Dank Ihr Problem, nicht unseres.
({8})
Was wir heute wollen, ist eine schnelle Hilfe für die
Kommunen, die vor allen Dingen deshalb notwendig ist,
weil die verfehlte Politik der Bundesregierung die Kommunen erst in diese schwierige Lage gebracht hat. Die
Kommunen warten dringend auf eine umfassende Finanzreform.
({9})
Dabei müssen die Einnahmen verlässlich gestaltet werden. Das geht aus unserer Sicht - auch wenn heute das
Gegenteil behauptet wurde - nach wie vor nur über die
Abschaffung der wettbewerbsfeindlichen Gewerbesteuer.
({10})
Darüber hinaus müssen aber auch die Aufgaben und
Ausgaben zwischen den staatlichen Ebenen neu geregelt
werden. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir bei
dieser Regierung lange darauf warten können.
Meine Fraktion wird heute dem Antrag, die Erhöhung
der Gewerbesteuerumlage zurückzunehmen, zustimmen,
aber eben nicht, um die Gewerbesteuer zu perpetuieren,
sondern um dringend notwendige finanzielle Spielräume
für die Kommunen zu schaffen. Denn im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir die Sorgen der Kommunen ernst.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Ulrich
Krüger.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die aktuelle Situation der kommunalen
Haushalte ist in der Tat durch steigende Ausgaben im Jugend- und Sozialhilfebereich und durch Einbrüche bei
den Steuereinnahmen bei gleichzeitiger Talfahrt der kommunalen Investitionen geprägt. Sparbemühungen der vergangenen Jahre haben - das ist auch einzugestehen - vielfach die vorhandenen Potenziale aufgezehrt und die
Handlungsspielräume nahezu auf null verengt.
({0})
Angesichts dieser Situation ist unstreitig nach Lösungen zu suchen, welche das Steueraufkommen von Städten
und Gemeinden in ihrer Gesamtheit auf einem Niveau
verstetigen, das verantwortungsbewusstes kommunales
Handeln auf Dauer gewährleistet.
Die Bundesregierung hat daher, wie ich meine, richtig
gehandelt, als sie im März des vergangenen Jahres eine
Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen unter
umfassender Beteiligung von Vertretern kommunaler
Spitzenverbände, der Länder, Wirtschaftsverbände und
Gewerkschaften eingesetzt hat. Dabei ist mein Vertrauen
in Minister Beckstein aus Bayern offenbar größer als das
Ihre, Frau Kollegin Piltz. Ich habe jedenfalls keine Zweifel, dass diese Kommission, in der der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens die A-Länder und der
Kollege Beckstein die B-Länder vertreten, qualitativ
hochwertig mit entsprechendem Sachverstand besetzt ist.
({1})
Es geht in der Tat nicht an - darin sind wir uns schnell
einig -, dass in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen, das eben bereits erwähnt wurde, die Kommunen
allein im Kalenderjahr 2001 ein Minus von 550 Millionen Euro Gewerbesteuer verkraften müssen und demgemäß die vom Kollegen Pinkwart erwähnten 105 von
396 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept schreiben müssen.
Hier ist nach vernünftigen und auf Dauer tragfähigen
Ansätzen zu suchen. Darin liegt eine wichtige Aufgabe für
jeden, der es mit der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ernst meint. Dabei ist allerdings eine umfassende
Reform der kommunalen Finanzen notwendig, und zwar
eine Reform an Haupt und Gliedern, die auch in die Zukunft weist, statt einer Notreparatur mit untauglichem
Werkzeug.
Zentraler Punkt aller Reformbemühungen ist und
bleibt die modernisierte kommunale Gewerbesteuer. Ihr
Hebesatzrecht stärkt die kommunale Finanzautonomie.
Gleichzeitig belohnt sie die Kommune mit einer zusätzlichen Einnahme, welche sich ihrer gesamtwirtschaftlichen
Verantwortung durch die Bereitstellung von Gewerbeund Industrieflächen stellt.
Sämtliche Bestrebungen zur Abschaffung der Gewerbesteuer - meinetwegen zugunsten einer so genannten
Bürgersteuer - sind demgegenüber wirtschaftspolitische
Selbsttore.
({2})
Welche Kommune würde denn überhaupt noch das im
Vergleich zu Bauland wesentlich preiswertere Gewerbeoder Industrieland ausweisen, wenn es ihr, gerade im
Speckgürtel größerer Städte, auch möglich wäre, die gut
verdienenden Angestellten und Freiberufler in attraktive
Wohngebiete zu ziehen und sich über den Anteil an der
Einkommensteuer bzw. über die allgemeinen Mittelzuweisungen zu finanzieren?
({3})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zweifel darüber sein sollten, fragen Sie bitte die Wirtschaftsförderer Ihrer Region, welches Gewicht die Gewerbesteuerprognosen für viele Städte bei der Ansiedlung
großer Unternehmen in der Vergangenheit gehabt haben.
Ein Modell, das auf die Abschaffung der Gewerbesteuer
zielt, wird daher den ureigenen Interessen von Gewerbe
und Industrie zuwiderlaufen. Oder - um ein kleines Zahlenspiel zu wagen, Herr Kollege Pinkwart -: Dann hätten
im Jahr 2001 in Nordrhein-Westfalen nicht 105, sondern
wahrscheinlich 150 Kommunen ein HSK verfasst.
Eine Lösung der kommunalen Einnahmeprobleme
kann daher zum einen nur in einer modernisierten Gewerbesteuer liegen, welche insbesondere die Freiberufler und die Selbstständigen einbezieht, wobei diese bekanntermaßen die von ihnen gezahlte Gewerbesteuer in
einem pauschalen Verfahren mit der Einkommensteuer
verrechnen dürfen. Zum anderen bedarf es auch einer Verbesserung und Verstetigung der Einnahmen durch eine
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
Hier, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, liegt es nun allerdings auch an Ihnen
und Ihren Kollegen im Bundesrat, dafür zu sorgen, dass
die diesbezüglichen Kommunen, Bund und Land stärkenden Aspekte des Steuersubventionsabbaugesetzes möglichst schnell in die Tat umgesetzt werden,
({4})
wenn es Ihnen denn mit der Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltungshoheit ernst ist. Eines muss nämlich
klar sein: Eine Gewerbesteuer als wesentliche kommunale Steuer, welche in den letzten Jahren in der Tat und
bedauerlicherweise zu einer Steuer für wenige Großbetriebe mutiert ist, kann für keinen Rat der Stadt die notwendige verlässliche Bemessungsgrundlage darstellen,
die der Bürger zu Recht verlangt.
Wer es daher mit der Sanierung unserer kommunalen
Finanzen ernst meint, der muss diese Dinge auf der Einnahmeseite der Kommune bedenken und insbesondere
auch konstruktiv an der Verbesserung der Ausgabeseite
mitwirken.
({5})
Das Stichwort, das ich Ihnen hier zurufe, ist beispielsweise die von der Hartz-Kommission empfohlene Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe für Erwerbsfähige. Ich hoffe, dass Sie Ihren eigenen Antrag,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, so verstehen, dass Sie in dieser Kommission unter diesen Aspekten mitwirken wollen, und insofern hoffe ich auf die
Einhaltung Ihres diesbezüglich für mich konkludent abgegebenen Versprechens.
Angesichts dieser fundamentalen Herausforderungen,
welche im Übrigen einen Schlussstrich unter eine nahezu
30-jährige Diskussion ziehen würden, sind - ich muss sagen: leider - sowohl Ihr aktueller Gesetzentwurf wie auch
die Vorstellungen der FDP untauglich.
({6})
Die Senkung der Gewerbesteuerumlage würde das
vorgezeichnete Grundübel nicht beseitigen, sondern nur
diejenigen Kommunen begünstigen - das ist schon erwähnt worden -, welche zurzeit noch über nennenswerte
Gewerbesteuereinnahmen verfügen, jedoch diejenigen
ins Abseits stellen, denen wegen fast gen null tendierender
Einnahmen in Wirklichkeit am stärksten geholfen werden
müsste. Damit würde der Unterschied zwischen einer
aufkommensstärkeren und einer aufkommensschwachen
Kommune und damit das Ungleichgewicht gestärkt, ohne
dass das grundsätzliche Problem der Nichtberechenbarkeit kommunaler Steuern auf der Einnahmeseite angegangen worden wäre.
Wenn Sie, verehrte Damen und Herren von der Opposition, daher etwas für die Kommunen tun wollen, kann ich
Sie nur auffordern, in der Gemeindereformkommission
konstruktiv und zum Wohl unserer Kommunen mitzuarbeiten, anstatt Anträge zu stellen, bei denen im Dunkeln
verborgen bleibt, woher beispielsweise die von den Ländern allein in diesem Jahr zu tragenden 1,135 Milliarden Euro kommen sollen.
Die Bayerische Staatsregierung - sie ist bereits mehrfach erwähnt worden - kann es offenbar nicht sein. Auch
kann es offenbar nicht der Ministerpräsident des Landes
Hessen sein, der die 140 Millionen Euro aus dem Steuersubventionsabbaugesetz bereits verplanen musste - obwohl er dieses Gesetz bekämpfen möchte -, um seinen
Haushalt einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Wo
also sollen die zusätzlichen Summen als Anteil der Länder herkommen? Wo sollen da ehrlicherweise Spielräume
sein? Sagen Sie es uns, meine Damen und Herren!
({7})
Unterstützen Sie daher bitte mit uns allen diejenigen
- wir nehmen das sehr ernst -, die das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen auch in Zukunft als ein starkes und
unabhängiges Selbstverwaltungsrecht erleben möchten.
Unterstützen Sie die Arbeit der Kommission zur Reform
der Gemeindefinanzen. Legen Sie mit uns bitte Wert darauf, dass dort eine nachhaltige und umfassende Modernisierung der Gewerbesteuer geregelt wird. Sorgen Sie mit
uns auch für eine effiziente Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und schaffen Sie damit ein verlässliches Korsett für die Kommunen, in dessen Rahmen dann
meinetwegen zu irgendeinem Zeitpunkt auch eine Diskussion über die Gewerbesteuerumlage geführt werden kann!
Das ist der richtige, der solide, der ehrliche Weg, der
letzten Endes uns allen in Form gesicherter industrieller
Standorte dienen und der in Form gesicherter kommunaler Investitionen verlässlich sein wird.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in Deutschland die finanzpolitische
Geisterfahrt einer überforderten Bundesregierung.
({0})
Am Steuer sitzt ein Geisterfahrer namens Hans Eichel, der
jedes Gebot der ökonomischen Vernunft missachtet und
ein finanzpolitisches Stoppschild nach dem anderen überfährt. Eigentlich hätten es unsere Kommunen verdient,
dass der Herr Bundesfinanzminister heute selbst an dieser
für die Kommunen wichtigen Entscheidung teilnimmt
({1})
und damit auch dokumentiert, dass ihm die kommunalen
Finanzen wichtig sind im Hinblick auf das Gesamtwohl.
Seine Fahrt in die falsche Richtung macht sich an verschiedenen Orientierungsfehlern fest: an der wachstumsfeindlichen Erhöhung des Staatsanteils am Volkseinkommen durch immer mehr Steuern und Abgaben, an den
unzureichenden Einsparungen auf der Ausgabenseite, an
der hohen Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte,
an dem Verstoß gegen den Wachstums- und Stabilitätspakt, an der Investitionsvernichtung durch die einseitigen
Belastungen der Kommunalfinanzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer einen solchen chaotischen Zickzackkurs fährt, wer die Inlandsnachfrage immer weiter verhindert, wer alles immer nur
- wie in Ihrem Antrag - auf die Weltwirtschaft schiebt,
wer Wachstum vernichtet und gleichzeitig die Verschuldung erhöht, erleidet einen Totalschaden. Er vernichtet
die Grundlagen für die Einnahmen der öffentlichen Haushalte, insbesondere der Kommunen, die sich am Ende der
Fahnenstange befinden.
({2})
Die Bundesregierung erweist sich geradezu als unfähig, eine moderne und wachstumsorientierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu entwickeln und
letzten Endes auch durchzusetzen. Darunter leiden unsere
Bürger, unsere Betriebe und insbesondere unsere Kommunen. Dabei sind wir bereit zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zum Wohle der Kommunen und zum
Wohle der Wirtschaft. Nicht bereit dagegen sind wir, Ihrer Steuererhöhungspolitik zuzustimmen.
({3})
Notwendig sind eine Förderung der Wachstumskräfte,
eine Verbesserung der Investitionschancen bei Wirtschaft
und Kommunen, eine Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte durch Ausgabenreduzierung, gezielte Beschäftigungsanreize am Arbeitsmarkt und eine Verbilligung des
Faktors Arbeit durch Senkung der Lohnzusatzkosten auf
unter 40 Prozent. Meine Damen und Herren, es muss endlich gehandelt werden. So kann es nicht weitergehen.
Sonst ruinieren Sie endgültig unsere wirtschafts-, finanzund sozialpolitischen Fundamente in diesem Land.
Deutschland hat 2002 - deshalb ist das, was Sie jetzt diskutieren, besonders verwerflich - die EU-Defizitgrenze
von 3 Prozent mit einem unverantwortlichen gesamtstaatlichen Defizit von 3,8 Prozent weit überschritten. Auch im
Jahr 2003 wird gegen die Vorgaben des Wachstums- und
Stabilitätspakts bei der Defizitquote und auch bei der Gesamtverschuldung deutlich verstoßen werden. Alle anders
lautenden Versprechungen des Bundesfinanzministers
sind - wie vor den Wahlen - wieder die Unwahrheit und
werden wider besseres Wissen gemacht. Die Überschreitung der Defizitobergrenze hat alleine er selbst zu verantworten.
({4})
Das Finanzierungsdefizit des Bundes einschließlich
der Sozialversicherungen - hören Sie genau zu - beträgt,
bezogen auf die vom Finanzplanungsrat festgelegte Bemessungsgröße von 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, rund 4,6 Prozentpunkte. Wie wollen Sie denn auf
unter 3 Prozent kommen, wenn Sie selbst ein so schlechtes Beispiel geben? Die Kommunen sollen also nach
Ihrem Dafürhalten sparen, während Sie im Bund einen
großen Schluck aus der Pulle nehmen. Das ist Ihre Finanzpolitik. So darf es nicht weitergehen.
({5})
Die deutliche Überschreitung durch den Bund ist trotz der
finanziellen Verschiebebahnhöfe zulasten der Länder und
Kommunen die Hauptursache für das Finanzdesaster.
Übrigens, akzeptieren Sie endlich, dass Bayerns Kommunen noch die geringste Verschuldung und die höchste Investitionsquote aufweisen. Wenn Sie die bayerischen Verhältnisse auf Ihre Finanzpolitik übertragen würden, dann
ginge es uns allen besser.
({6})
Der Bundesfinanzminister hat es versäumt, in den konjunkturell guten Jahren die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen zu ergreifen und die Wachstumskräfte
gezielt zu stärken. Ich kann die Regierungskoalition nur
warnen, die angelaufenen Bemühungen in der SPD-Fraktion zur Aufweichung des Wachstums- und Stabilitätspaktes der EU weiter zu verfolgen. Nach dem Verlust Ihrer Glaubwürdigkeit in vielen politischen Bereichen
sollten Sie zumindest die Stabilität unserer Währung sowie die finanziellen Fundamente unseres Landes nicht
weiter gefährden. Ich bitte Sie: Lassen Sie die Finger vom
Wachstums- und Stabilitätspakt! Die von Ihnen beabsichtigte Aufweichung ist eine riesige Gefahr für unser Land,
für die Arbeitsplätze, für die Betriebe und für unsere
Währung.
({7})
Damit zerstören Sie jegliches Vertrauen in die Zukunft.
Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung insbesondere im Bereich der Wirtschafts-, der Finanz- und der
Sozialpolitik. Nur so ist die zweifellos vorhandene finanzpolitische Krise zu meistern. Es darf kein zusätzliches Potenzial an Risiken für die öffentlichen Kassen
mehr entstehen. Wir brauchen eine wachstumsfördernde
Konzeption, klare Signale und zielgenaue Sofortmaßnahmen.
Heute haben Sie die Chance, Sofortmaßnahmen zur
Stärkung der Kommunen, des Wirtschaftskreislaufs und
insbesondere der Investitionsbereitschaft auf den Weg zu
bringen. Frau Scheel, nicht prüfen, sondern endlich etwas
machen - das ist das Motto, nach dem jetzt gehandelt werden muss.
({8})
Das heißt konkret: Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage als Sofortmaßnahme für die Gesundung
der Kommunalfinanzen, Verzicht auf das so genannte
Steuervergünstigungsabbaugesetz als vertrauensbildende
Maßnahme zur Konjunkturförderung, ein Steuerabbauprogramm als Entlastungssignal für mehr Wachstum,
keine Erweiterung und Erhöhung der Gewerbesteuer, sondern eine innovative und wettbewerbsfähige Gemeindefinanzreform. Mit diesen wachstumsfördernden Maßnahmen ließe sich eine finanzpolitische Wende herbeiführen.
Ich bitte Sie herzlich: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, dessen Ziel die Rücknahme der Erhöhung der
Gewerbesteuerumlage ist. Geben Sie unseren Kommunen
und unserer Wirtschaft mehr Freiraum für Investitionen
sowie für mehr wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und
Dynamik in unserem Land.
({9})
Legen Sie endlich ein konkretes Konzept für eine Gemeindefinanzreform vor! Das, was Sie im Steuervergünstigungsabbaugesetz festgelegt haben, wird für viele Kommunen insbesondere in den neuen Bundesländern einem
Kahlschlag im Bereich der gewerbesteuerlichen Organschaften gleichkommen. Bringen Sie einmal ein Gesamtkonzept auf den Weg. Geben Sie heute Gas für die Kommunalfinanzen und für die wirtschaftliche Verbesserung.
Dann machen Sie schnell eine Gemeindefinanzreform aus
einem Guss! Dazu werden wir unseren Beitrag leisten.
({10})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst, Kollege Michelbach: Niemand betreibt die
Aufweichung der Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
({0})
Aber selbstverständlich ist Gegenstand des Stabilitätsund Wachstumspaktes, dass Dinge, die so etwas wie
höhere Gewalt sind, ihre Berücksichtigung finden.
({1})
Sollte es zu einer kriegerischen Entwicklung kommen
- die Bundesregierung tut alles dafür, das noch zu verhindern; wir haben heute Morgen darüber gesprochen -, werden sich die Europäische Union und auch die G 7 auf diese
veränderte Situation ökonomisch einstellen müssen.
({2})
Nichts anderes ist im Gespräch und nichts anderes ist vernünftig. - So viel vorweggeschickt.
({3})
Zu dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, will ich
nicht mehr sprechen. Von den Kolleginnen und Kollegen
der Grünen und der SPD ist dazu, denke ich, alles gesagt
worden, was gesagt werden musste. Ich will jetzt auf das
eingehen, was auch hier unter der Hand behauptet worden
ist: dass die Kommission gar nicht arbeite und wir gar
nicht wüssten, was wir wollten.
Die letzte Gemeindefinanzreform ist 1970, vor jetzt
rund 33 Jahren, umgesetzt worden. In den 70er-Jahren
und zu Beginn der 80er-Jahre - das sage ich nur für die
historisch Interessierten - gab es noch keinen Druck für
eine Gemeindefinanzreform. In den 80er-Jahren und speziell in den 90er-Jahren entwickelte sich ein solcher
Druck. In dieser Zeit trugen Sie 16 Jahre lang die Regierungsverantwortung, von Ende 1982, wie wir uns erinnern, bis Ende 1998.
Wir hatten schon bei Übernahme der Regierungsverantwortung in die Koalitionsvereinbarung geschrieben:
Wir wollen eine kommunale Finanzreform auf den Weg
bringen. - Wir wurden an der zügigen Umsetzung dessen
durch Klagen von Südländern gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich gehindert. Wir mussten in der
vergangenen Legislaturperiode zunächst das Urteil zum
bundesstaatlichen Finanzausgleich, das dann ergangen
ist, umsetzen und die Neuregelung des Solidarpakts II zugunsten der neuen Bundesländer auf den Weg bringen.
Die Arbeiten an der Gemeindefinanzreform mussten also
zurückstehen, weil wir die Urteile des Bundesverfassungsgerichts umsetzen mussten.
({4})
Übrigens haben diese Urteile den klagenden Ländern
Hessen, Baden-Württemberg und Bayern alles andere als
Recht gegeben; viel Arbeit hat uns das trotzdem gemacht.
Wir haben auch den Solidarpakt II mit einer Laufzeit bis
2019 beschlossen, also sehr weitsichtig zugunsten der
neuen Bundesländer gehandelt. Eine solch weitsichtige
Politik haben Sie - darauf will ich nur einmal hinweisen niemals geleistet.
({5})
Jetzt also zur Gemeindefinanzreform. Im März des
vergangenen Jahres hat das Bundeskabinett den Beschluss zur Einsetzung einer Kommission zur Reform
der Gemeindefinanzen gefasst. Die Länderministerrunden, also die Konferenz der Innenminister der Länder, die
Konferenz der Finanzminister der Länder und die Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder, haben
dann etwa zwei Monate gebraucht, um sich unter sich darüber zu verständigen, wer Mitglied der Kommission
werden soll. Natürlich muss die Vertretung von A- und
B-Ländern, also SPD- und CDU/CSU-regierten, von
Flächenländern und Stadtstaaten, von Ost und West ausgewogen sein. Das alles muss natürlich stimmen. Also
dauerte es nach der Beschlussfassung durch das Bundeskabinett etwa zwei Monate, bis die Kommission zum ersten Mal tagen konnte. Seither hat die Kommission in der
Tat erst zweimal getagt.
Jetzt gehen ganz kluge Leute von Ihnen übers Land und
sagen: Die arbeiten ja gar nicht. Die tagen ja gar nicht. - In
dieser Kommission sitzen, wie Sie wissen, Landesminister, Bundesminister, die Präsidenten von Wirtschaftsverbänden und die Vorsitzenden von Gewerkschaften. Sie
wissen sehr wohl, dass dies nicht diejenigen sind, die die
Facharbeit zu leisten haben; dies sind diejenigen, die am
Schluss die politische Bewertung vornehmen, um dann
- das ist einfach so - dem Gesetzgeber eine Empfehlung
vorzulegen.
Darum arbeiten unterhalb dieser Kommission zwei Arbeitsgruppen. Die eine kümmert sich um die Einnahmeseite, also namentlich um die Gewerbesteuer - die Grundsteuer kommt sicherlich auch noch ins Blickfeld -, und
die andere kümmert sich um die Frage: Wie werden wir in
Zukunft Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander verzahnen und welche finanzverfassungsrechtlichen Schlussfolgerungen müssen wir ziehen, wenn die Verantwortung
für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger zum Beispiel nicht
mehr bei den Kommunen, sondern bei der Bundesanstalt
für Arbeit liegt? Wenn das der Fall wäre, dann müssten finanzverfassungsrechtliche Schlussfolgerungen gezogen
werden. Auch das gehört zum Konnexitätsprinzip. Wenn
die Erfüllung einer Aufgabe verlagert wird, dann muss an
dem entsprechenden Ort das nötige Geld zur Verfügung
gestellt werden. Darüber sind wir uns im Prinzip einig.
Das Konnexitätsprinzip muss für alle Ebenen des Bundes
gelten, jedenfalls wenn man grundsätzliche Lastenverschiebungen vornimmt.
Die beiden genannten Arbeitsgruppen arbeiten. Beide
Arbeitsgruppen haben Arbeitskreise eingerichtet. Der
eine heißt „Quantifizierung“. Dort wird - das deutet der
Name schon an - mit mathematischen Modellen gerechnet, und zwar anhand von 200 Modellkommunen, die von
den kommunalen Spitzenverbänden vorgeschlagen worden sind. In diesem Arbeitskreis werden also die verschiedenen Systeme durchgerechnet: Welche Änderungen
ergeben sich hinsichtlich der Steuereinnahmen der Kommunen und welche Auswirkungen haben das Modell A,
das Modell B oder das Modell C auf die Modellkommunen? So lassen sich die Wirkungen der denkbaren Modelle abschätzen.
Deshalb: Wenn die FDP vorschlägt, die Gewerbesteuer
einfach abzuschaffen - das hat die FDP schon immer vorgeschlagen -, dann macht sie es sich sehr leicht, wie üblich. Auch Mitglieder der CDU haben dies gefordert. Das
ist aber nicht die Mehrheitsmeinung, jedenfalls nicht die
einvernehmliche Meinung in der CDU. Die CDU weiß
doch überhaupt nicht, was sie will. Als Herr Rüttgers aus
Nordrhein-Westfalen gefordert hat, die Gewerbesteuer
abzuschaffen, wurde er von den Bürgermeistern und
Oberbürgermeistern, die der CDU angehören, so kräftig
zurückgepfiffen, dass er in den Zügeln gestolpert ist. So
ist die Lage.
({6})
- Ja, Sie wollen immer nur, dass wir schnell machen. Ich
habe deshalb bewusst darauf hingewiesen, dass die letzte
Gemeindefinanzreform vor 33 Jahren stattgefunden hat.
Der andere Arbeitskreis trägt den Namen „Administrierbarkeit“. Dort werden die verschiedenen Modelle
also im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in der Verwaltung geprüft. Man geht der Frage nach, ob die einzelnen
Modelle in den kommunalen Finanzverwaltungen überhaupt zu handhaben sind.
Wenn man eine grundsätzliche Änderung vornimmt,
dann muss man sein Vorgehen doch wohl so gründlich
vorbereiten müssen. Wir haben nie etwas anderes ver1930
sprochen, als dass wir zum Ende der ersten Hälfte dieses
Jahres, also Ende Juni 2003, dem Gesetzgeber eine Empfehlung vorlegen. Die Kommission wird also Vorschläge
machen. Ich hoffe, diese Vorschläge werden - in dieser
Kommission sitzen auf der Regierungsseite viele Kollegen aus den Ländern - einvernehmlich sein und der Gesetzgeber wird sich diese Vorschläge in groben Zügen zu
Eigen machen können. Wenn die Vorbereitungen weiterhin so laufen wie bisher und sich niemand verweigert,
dann muss das auch klappen.
Wir werden unser Wahlversprechen einhalten: In der
ersten Hälfte des Jahres wird die Kommission die Empfehlung erarbeiten und in der zweiten Hälfte des Jahres
wird das Gesetzgebungsverfahren durchgeführt; das entsprechend geänderte Gesetz wird zum Januar 2004 in
Kraft treten.
({7})
Meinetwegen können Sie ungläubig in den Seilen hängen und denken, wir seien nicht schnell genug. Ich sehe
dabei insbesondere zwei junge Kollegen an, die offenbar
über eine langjährige Erfahrung mit dem Gesetzgebungsverfahren in diesem Parlament verfügen.
({8})
Sie werden schon noch merken, dass man umfassende
Verfahren sorgfältig vorbereiten muss. Wir sind nicht diejenigen, die zum Beispiel die Zahl der Modellkommunen
festgelegt haben. Das waren die kommunalen Spitzenverbände, die Wert darauf gelegt haben. Im Übrigen: Die Verfahrensweisen in der gesamten Kommissionsarbeit wurden bisher einvernehmlich beschlossen.
Die nächste Bundestagswahl ist erst in drei Jahren und
neun Monaten. Ich bin guten Mutes, dass Sie, wenn Sie
das begriffen haben, vernünftig werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Mit der Gesetzesinitiative der CDU/CSUFraktion und des Bundesrates kann jetzt die Chance genutzt werden, einerseits unseren stark gebeutelten Städten
und Gemeinden im Sinne einer Soforthilfe auf gesetzestechnisch einfachem, aber effektiven Wege wieder ein
wenig Luft zu verschaffen und andererseits einen dringend notwendigen wirtschaftspolitischen Impuls für Investitionen vor Ort und für die am Boden liegende Baubranche auszulösen. Wer sich dem verweigert, hat die
dramatische Lage der kommunalen Haushalte scheinbar
immer noch nicht erkannt. Sprechen Sie mit den Bürgermeistern vor Ort.
({0})
Gerade in den letzten Tagen und Wochen beglückt die
Regierungskoalition die deutsche Öffentlichkeit mit
immer neuen Bekundungen wirtschaftspolitischen Umdenkens, neuen Thesenpapieren und der angeblichen Bereitschaft, sinnvolle Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes auch zusammen mit der Union auf den Weg
bringen zu wollen. Wir erwarten hier im Deutschen Bundestag konkrete Taten.
({1})
Mit der Zustimmung zu unserer Gesetzesinitiative hätten
Sie heute die Chance, ein Zeichen dafür zu setzen, dass
Sie mit den Veränderungen ernst machen und zumindest
einen schnellen Beitrag zur Schadensbegrenzung leisten
wollen. Die Bürger in unserem Land haben kein Verständnis mehr dafür, wenn Lösungen auf die lange Bank
geschoben werden oder wenn wie hier auf die von Ihnen
jetzt schon seit fünf Jahren angekündigte Gemeindefinanzreform verwiesen wird. Daran ändern auch die langen Berichte über Arbeitskreise, Kommissionen etc.
nichts. Wir wollen hier im Bundestag konkrete Vorschläge
sehen.
({2})
Die vorgeschlagene Absenkung der Gewerbesteuerumlage auf das Niveau, das vor der Gesetzesänderung im
Jahr 2000 galt, würde der beabsichtigten Reform des Gemeindefinanzsystems überhaupt nicht im Wege stehen.
Ganz im Gegenteil: Es wäre ein Zeichen, das angäbe, in
welche Richtung die Gemeindefinanzreform entwickelt
werden muss. Es muss endlich Schluss damit sein, dass
die grundgesetzlich verankerte Mitverantwortung des
Bundes für die Gemeindefinanzen so nach Gutsherrenart
- das ist mir insbesondere noch einmal bei dem Redebeitrag von Frau Scheel aufgefallen - praktiziert wird,
schlichtweg nach dem Motto: Die Letzten beißen die
Hunde. Gemeinden und Städte dürfen nicht mehr länger
Almosenempfänger der Bundes- oder Länderpolitik sein.
({3})
Meine Damen und Herren, die schlimmste strukturelle
Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik - so die
kommunalen Spitzenverbände - ist längst nicht mehr ein
Thema ausschließlich für Bürgermeister, Gemeinderäte
oder Kämmerer. Das Thema betrifft die Bürgerinnen und
Bürger vor Ort tagtäglich direkt. Betroffen sind die Eltern,
die zwischenzeitlich die Schulen ihrer Kinder in Eigenregie
renovieren. Betroffen sind die vielen Kulturschaffenden
im Ehrenamt oder im Hauptamt, die um die Offenhaltung
von Theatern, Bürgerhäusern oder Hallen fürchten müssen. Betroffen sind viele Feuerwehrkameraden, die nur
noch mit Mühe veraltete Fahrzeuge instand halten können. Betroffen sind viele soziale Einrichtungen oder Einrichtungen der freiwilligen Jugendarbeit, deren laufende
Sach- und Personalkosten nicht mehr finanzierbar sind.
Betroffen sind auch viele Beschäftigte, die um ihren Arbeitsplatz bei der Kommune oder einer kommunalen Einrichtung bangen müssen. Das hat im Übrigen auch etwas
mit dem Tarifabschluss zu tun, der vor kurzem getroffen
wurde. Betroffen sind aber vor allem auch viele Handwerksfirmen insbesondere der Bauwirtschaft, die ganz
gravierend unter der stagnierenden Investitionstätigkeit
unserer Gemeinden leidet.
Im Vergleich zu 1992 sind die kommunalen Investitionen um ein ganzes Drittel eingebrochen. Der Investitionsstau sowohl im Hochbau wie auch im Tiefbau ist dramatisch. Der Investitionsbedarf aller Gemeinden, Städte,
Landkreise und Zweckverbände beziffert sich für den
Zeitraum von 2000 bis 2009 inzwischen auf 665 Milliarden Euro. Allein im Jahre 2003 wird die Investitionstätigkeit nochmals um 11,8 Prozent zurückgehen. Die heutige
Gesetzesinitiative befreit daher unsere Kommunen selbstverständlich nicht von ihren großen Sorgen, die hier geschildert worden sind; sie wäre aber ein wichtiges Signal
und könnte vor allem einen wichtigen Investitionsimpuls
geben.
({4})
Was bedeuten 2,3 Milliarden Euro mehr in 2003 oder
2,6 Milliarden Euro mehr in 2004 konkret? Für viele
große Städte bedeutet dies eine Verbesserung der finanziellen Lage in zweistelliger Millionenhöhe; das ist nachrechenbar. Ich will es aber einmal am Beispiel einer kleinen
Stadt verdeutlichen: In der Saar-Mosel-Stadt Konz, in
meinem Wahlkreis gelegen, circa 20 000 Einwohner, hätten diese Mehreinnahmen in 2003 und 2004 einen Effekt
von jährlich etwa 140 000 bis 160 000 Euro. Für Kommunen in dieser Größenordnung ist das in der derzeitigen Situation eine sehr große Hilfe.
({5})
Mir sind viele Bürgermeister bekannt, die Klage darüber führen, dass manche dringend notwendige und sinnvolle Investition trotz möglicher Mitfinanzierung durch
Land, Bund oder europäische Programme daran scheitert,
dass die Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihren Eigenanteil von 10 oder 20 Prozent zu erbringen. Das belegt
eindeutig, dass die wirtschaftliche Wirkung der Senkung
der Gewerbesteuerumlage, der Investitionsimpuls um
ein Mehrfaches über den Summen von 2,3 Milliarden
oder 2,5 Milliarden Euro läge.
Mit der Umlagensenkung würde aber noch eine weitere Wirkung einhergehen: Für sehr viele Städte und Gemeinden mit defizitärem Haushalt - das sind leider Tausende - wäre der 10-prozentige Differenzbetrag, ob
15 000 Euro in einer kleinen Gemeinde, 200 000 bis
500 000 Euro in einer Kleinstadt oder 4, 5 oder 15 Millionen Euro in einer großen Stadt, letztlich die Rettung zum
Haushaltsausgleich.
Meine Damen und Herren, dramatisch ist nicht nur die
Finanzsituation, dramatisch ist letztlich die Aushöhlung
der Selbstverwaltung in unserem Land. Welche Gestaltungsspielräume verbleiben unseren Gemeinde- und
Stadträten noch? Die Bilanz, die wir heute ziehen müssen,
ist eindeutig: Die Selbstverwaltung, die Interessen von
Städten und Gemeinden sind bei Rot-Grün im Bund in
den denkbar schlechtesten Händen.
({6})
Bei näherem Hinsehen - das betrifft leider auch die Argumentation bezüglich der Gemeindefinanzreform - ist
der Hang von Sozialdemokraten zu Zentralismus, Steuerung und Betreuung von oben unverkennbar. Liegt der
Grund nicht vielleicht auch darin, dass einer großen
Mehrheit der Sozialdemokraten die Selbstverwaltung, die
Entscheidungsfreiheit vor Ort letztlich suspekt ist? Diesen Eindruck habe ich bei manchen Debattenbeiträgen.
Von der bisher immer wieder angekündigten Gemeindefinanzreform erwarten wir daher leider neues Ungemach. Zudem ist das Thema „Reformierung des Gemeindefinanzsystems“ beim Bundesfinanzminister am denkbar
schlechtesten aufgehoben.
({7})
Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage im Jahre 2000 war falsch. Die damaligen
Begründungen, insbesondere im Hinblick auf die Gewerbesteuerentwicklung, haben sich in der Vergangenheit unbestritten als unrichtig erwiesen. Es mag auch in der Politik verzeihbar sein, wenn eine Fehlentscheidung
getroffen wurde; aber es ist unverzeihbar, wenn ein offensichtlicher Fehler nicht korrigiert wird.
({8})
Deshalb: Beenden Sie die Abwärtsspirale unserer Gemeinden und Städte! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie der Absenkung der Gewerbesteuerumlage zu!
Nicht nur die Bürgermeister, sondern auch die Bürger
werden es Ihnen danken.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gemeindefinanzreformgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die
Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen
besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung.
({0})
- Offensichtlich ist da irgendetwas unklar. Ich bitte Sie einen Moment um Geduld.
Ich sage es noch einmal: Wer den Gesetzentwurf ablehnen will, muss mit Rot stimmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, muss mit Blau stimmen. Wer sich
enthalten will, muss sich enthalten. Ich habe nicht danach
gefragt, ob Sie der Beschlussempfehlung zustimmen oder
sie ablehnen wollen, sondern ob Sie den eingebrachten
Gesetzentwurf ablehnen oder ihm zustimmen wollen. Das
heißt, wer den Gesetzentwurf ablehnen will, muss mit
Nein stimmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will,
muss mit Ja stimmen. Dies ist die Vorlage, die ich hier
habe, und auch nach Rücksprache das richtige Vorgehen.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall
zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung
zu beginnen.
Es gibt eine zweite namentliche Abstimmung, aber ich
muss erst das Ergebnis der ersten Abstimmung abwarten.
Ich kann jedoch die Zeit nutzen, um Ihnen zu erklären,
warum wir genau so, wie ich es gesagt habe, richtig abgestimmt haben. Wenn es Anträge gibt, dann wird über die
Beschlussempfehlung abgestimmt. Wenn es aber Gesetzesvorlagen gibt, dann wird über die Gesetzesvorlage abgestimmt. Das war das offensichtliche Missverständnis:
Es ist kein Antrag, über den es eine Beschlussempfehlung
gibt, sondern ein Gesetzentwurf.
Die Sitzung ist bis zum Vorliegen des Ergebnisses der
namentlichen Abstimmung unterbrochen.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben
gestimmt 274, mit Nein haben gestimmt 300. Es gab
keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon
ja: 274
nein: 299
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({2})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({3})
Peter H. Carstensen
({4})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({5})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({6})
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer ({8})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({9})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Siegfried Kauder
({10})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({11})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({12})
Dr. Karl A. Lamers
({13})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({14})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({15})
Stephan Mayer ({16})
Cornelia Mayer
({17})
Dr. Martin Mayer
({18})
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({19})
Doris Meyer ({20})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Stefan Müller ({21})
Bernward Müller ({22})
Bernd Neumann ({23})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({24})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({25})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({26})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({27})
Andreas Schmidt ({28})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({29})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Peter Weiß ({30})
Gerald Weiß ({31})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({32})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({33})
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
({34})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({35})
Eberhard Otto ({36})
Cornelia Pieper
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Nein
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({37})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({38})
Klaus Barthel ({39})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({40})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({41})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({42})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({43})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({44})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Karl Hermann Haack
({45})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({46})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({47})
Walter Hoffmann
({48})
Iris Hoffmann ({49})
Frank Hofmann ({50})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({51})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({52})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Eveline Merkel
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({53})
Christian Müller ({54})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({55})
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Wir kommen nun zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gemeindefinanzreformgesetzes, Drucksache 15/109. Der Finanzausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/433 mit dem Titel „Gemeindefinanzen
dauerhaft stärken“. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die
Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Hans-Joachim Otto
({56}), Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Finanzplatz Frankfurt stärken
- Drucksache 15/369 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/369 an den Finanzausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({57})
Michael Roth ({58})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({59})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({60})
Gudrun Schaich-Walch
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({61})
Ulla Schmidt ({62})
Silvia Schmidt ({63})
Dagmar Schmidt ({64})
Wilhelm Schmidt ({65})
Heinz Schmitt ({66})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({67})
Reinhard Schultz
({68})
Swen Schulz ({69})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({70})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({71})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({72})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({73})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({74})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({75})
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({76})
Volker Beck ({77})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({78})
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Undine Kurth ({79})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({80})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({81})
Werner Schulz ({82})
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({83})
Fraktionslos
Dr. Gesine Lötzsch
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf. Es
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de-
nen keine Aussprache vorgesehen ist.
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({84})
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Drucksache 15/363 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Sammelübersicht 11 ist mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen worden.
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({85})
Sammelübersicht 12 zu Petitionen
- Drucksache 15/364 -
Wer stimmt dafür ? - Gibt es Gegenstimmen? Enthal-
tungen? - Auch Sammelübersicht 12 ist damit einstimmig
angenommen worden.
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({86})
Sammelübersicht 13 zu Petitionen
- Drucksache 15/365 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 13 ist damit einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung
für Ganztagsschulen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
die Bundesregierung Frau Ministerin Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei der internationalen
PISA-Vergleichsstudie hat die großen Mängel unseres
Schulsystems offenbart. Im letzten Juli habe ich nach Veröffentlichung des PISA-Ländervergleichs an dieser Stelle
deutlich gemacht, dass die Mängel so gravierend sind,
dass sie eine nationale Antwort erfordern. Deshalb haben
wir rasch gehandelt. Mit dem am Montag den Ländern
vorgelegten Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung haben wir eine der notwendigen Antworten gegeben. Unseren konsequenten Reformprozess werden wir weiterhin
fortsetzen.
({0})
Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen aus den
Ländern zu einer abschließenden Erörterung der Verwaltungsvereinbarung Anfang März eingeladen. Lassen Sie
uns alle gemeinsam an einem Strang ziehen, damit die
Vereinbarung schnell unterzeichnet und mit der Umsetzung zügig begonnen werden kann; denn viele Millionen
Eltern und viele Lehrerinnen und Lehrer wollen dies. Sie
wollen den Kindern und Jugendlichen endlich die Bildungschancen bieten, die diese brauchen. Solche Bildungschancen werden, auch in unserem Land, dringend
benötigt.
({1})
Die Bundesregierung wird die Länder mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ in
den kommenden Jahren mit rund 4 Milliarden Euro
beim Aufbau von Ganztagsschulen unterstützen. Für
dieses Jahr sind bereits 300 Millionen Euro im Haushalt
eingestellt. In den kommenden Jahren werden es jeweils
1 Milliarde Euro sein. Im Jahr 2007 sind es 700 Millionen Euro.
Meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, diese Gelder stehen bereit; denn die Bundesregierung weiß, wo sie ihre Prioritäten setzen muss.
({2})
Die Verantwortung für die Schulbildung haben die Länder
nach dem Grundgesetz seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland. Neu ist, dass der Bund sie bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung mit 4 Milliarden Euro unterstützt.
({3})
Das Milliardenprogramm des Bundes kommt auch den
Kommunen zugute. Dadurch können nämlich zusätzliche
Aufträge an den Mittelstand vergeben werden, insbesondere an das Handwerk vor Ort.
({4})
Wir haben das Programm ganz bewusst unbürokratisch
und transparent gestaltet. Mit der Verwaltungsvereinbarung gewährleisten wir, dass die Länder selber entscheiden können, welche Vorhaben sie fördern. Wir stellen die
Verantwortung der Länder und der Schulträger also nicht
infrage.
Der Ausbau der Ganztagsschulen ist ein wichtiger
Schritt, um das deutsche Bildungssystem in zehn Jahren
wieder an die Weltspitze zu bringen. Ein wesentlicher
Schritt hierzu sind neben der Entwicklung von Bildungsstandards - ich werde gemeinsam mit der Vorsitzenden der
KMK noch in diesem Monat eine Expertise vorstellen die regelmäßige Bewertung der Leistungen von Schulen,
die Einsetzung eines nationalen Bildungsrates, die Schaffung einer nationalen Bildungsberichterstattung, wie wir
sie im Deutschen Bundestag beschlossen haben, sowie die
gemeinsame Entwicklung besserer Unterrichtskonzepte
und -methoden, wie wir es im Juli letzten Jahres in der
Bund-Länder-Kommission vereinbart haben.
Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass ein solches Konzept erheblich zur Qualitätsverbesserung der schulischen
Bildung beiträgt.
({5})
Nur ein solches Konzept, das gemeinsam von Bund und
Ländern, von Lehrerinnen und Lehrern, Schülern und Eltern getragen wird, wird eine grundlegende Veränderung
und eine erhebliche Verbesserung unseres Bildungssystems zur Folge haben. Dazu ist es notwendig, dass sich jeder dieser Verantwortung stellt. Niemand darf sich ins Abseits stellen und sich zurückziehen.
({6})
Es muss - das muss ich deutlich sagen - zu einem Umdenken in der Bildungspolitik kommen. Sie darf nicht
mehr von der Frage nach Zuständigkeiten geprägt sein.
Lassen Sie mich auch ganz klar sagen, dass es ein Skandal ist, dass in Deutschland die soziale Herkunft über die
Bildungschancen entscheidet; das gibt es in keinem anderen Land dieser Welt. 32 Staaten haben an der PISA-Vergleichsstudie teilgenommen, aber nur in Deutschland ist
die soziale Herkunft der entscheidende Faktor für die
Wahrnehmung der Chance auf Bildung, für den Bildungserfolg und damit für den Lebenserfolg. Das ist ein
Skandal, dem ein Ende bereitet werden muss.
({7})
Wir wollen, dass jedes Kind mit seinen Begabungen
und seinen Schwächen eine Chance erhält. Unser Ziel
bleibt es, Chancengleichheit zu verwirklichen, und dafür
sind gute Ganztagsschulen notwendig. Davon haben wir
in Deutschland mehrere; man muss sie sich nur einmal anschauen. Gute Ganztagsschulen schaffen eine wichtige
Voraussetzung für eine intensive, frühe, individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen.
({8})
Genau das ist die Achillesferse in unserem Schulsystem: Wir haben eine mangelhafte, unzureichende individuelle und frühe Förderung. Deshalb setzen wir genau an
diesem Punkt an. Wir müssen schon in der Grundschule
beginnen. Deshalb ist das Ganztagsschulprogramm kein
Programm für die Sekundarstufe II. Wir müssen auch im
Kindergarten ansetzen, bei einer besseren Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Kindergarten. Denn die
Defizite, die in jungen Jahren entstehen, sind meist später
nur noch sehr schwer auszugleichen. Hier muss das Motto
des finnischen Bildungssystems „Jedes Kind kann es
schaffen, vorausgesetzt, wir sind gut genug, es entsprechend zu fördern“ Vorbild sein.
Um eines ganz deutlich anzusprechen: Uns geht es mit
der Ganztagsschule nicht um Suppenküchen, wie einige
immer wieder - ich sage: dümmlicherweise - behaupten.
({9})
Es geht uns auch nicht um ein bisschen Hausaufgabenhilfe, sondern es geht uns darum, dass wir Ganztagsschulen schaffen, die die frühe, individuelle Förderung eines
Kindes wirklich zu dem zentralen Punkt ihres pädagogischen Konzepts und ihrer Aufgabe in der Schule machen.
Klar ist dabei, dass es nicht das pädagogische Konzept geben kann, das für alle Schulen gilt. Jede Schule muss ihr
eigenes Konzept, ihr eigenes Profil entwickeln können,
das sich an den Gegebenheiten vor Ort orientieren muss.
Deshalb sind wir so dezidiert für eine größere Selbstständigkeit der Schulen.
({10})
Eine Ganztagsschule an einem sozialen Brennpunkt in einer Großstadt wird anders aussehen als eine Ganztagsschule auf dem Land. Wer das nicht begreift, hat seine
Schulaufgaben nicht gemacht.
Entscheidend für den Bund ist das Vorhaben, durch
eine Pädagogik der Vielfalt - das ist das entscheidende
Stichwort - die unterschiedlichen Stärken und Begabungen unserer Kinder frühzeitig zu erkennen und auch frühzeitig individuell optimal zu fördern. Das können wir erreichen. Das zeigen uns die besten Schulen in
Deutschland, das zeigen uns die vielen Beispiele in anderen Ländern. Das können wir zum Beispiel erreichen
durch die Verknüpfung des Unterrichts mit Zusatzangeboten, mit einem Wechsel von stärker freizeitorientierten
und stärker unterrichtsorientierten Phasen über Vormittag
und Nachmittag hinweg, durch die Lösung des starren
45-Minuten-Takts, die Raum gibt für freien Unterricht
und für projektorientierten Unterricht, durch die Einbeziehung von Angeboten der Jugendhilfe, der Musikschulen, der Sportvereine, durch die Kooperation der Schulen
vor Ort mit sozialen und kulturellen Einrichtungen, mit
Betrieben, durch eine kontinuierliche, intensive Beteiligung von Eltern, Schülern und außerschulischen Partnern
an der Schulentwicklung
({11})
und - auch das sollte nicht verschwiegen werden - durch
eine deutlich bessere Qualifizierung und Ausbildung der
Lehrerinnen und Lehrer, sowohl der zukünftigen als auch
der bereits berufstätigen, die sich dabei auch stärker als
Team und nicht als bloße Fachlehrer verstehen müssen.
Mit dem Startsignal für das Ganztagsschulprogramm
leiten wir eine konsequente Bildungsreform für Deutschland ein. Die Reaktionen vor Ort zeigen, dass diese Initiative der richtige Schritt ist. Wir haben schon zahlreiche
Anfragen von Schulträgern vor Ort erhalten. Ich sage das
auch deshalb ausdrücklich, weil dies mit dem Vorurteil
aufräumt, unsere Schulleitungen, die Lehrerinnen und
Lehrer würden das Angebot, das sie jetzt erhalten, nicht
offensiv und kreativ aufgreifen. Sie tun es und wir müssen ihnen jetzt auch die Möglichkeit dazu geben.
Eine kurze Anmerkung noch an die Opposition: Angesichts dieser großen Aufgabe, vor der wir stehen, brauchen
wir eine neue Kultur der Zusammenarbeit, eine Kultur der
Zusammenarbeit, wie wir sie im Forum Bildung hatten.
Ich wünsche mir, dass auch die Opposition nicht vergisst,
was wir vor knapp einem Jahr im Forum Bildung gemeinsam beschlossen haben - gemeinsam mit drei CDULandesministerinnen und -ministern, Annette Schavan,
Hans Joachim Meyer und Hans Zehetmair -, dass nämlich
Ganztagsschulen eine erhebliche und wichtige Voraussetzung dafür sind, dass Kinder besser und individuell gefördert werden. Ich denke, es gehört auch zur Bildung,
dass man von der Arbeit und den Erkenntnissen anderer
Kenntnis nimmt und sie berücksichtigt.
Vielen Dank.
({12})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“ bekannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt
298, mit Nein haben gestimmt 276, Enthaltungen keine.
Der Antrag ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon
ja: 297
nein: 276
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Karl Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Iris Hoffmann ({12})
Frank Hofmann ({13})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({15})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({16})
Christian Müller ({17})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({18})
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({19})
Michael Roth ({20})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({21})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({22})
Gudrun Schaich-Walch
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({23})
Ulla Schmidt ({24})
Dagmar Schmidt ({25})
Wilhelm Schmidt ({26})
Heinz Schmitt ({27})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({28})
Reinhard Schultz
({29})
Swen Schulz ({30})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({31})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({32})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({33})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({34})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({35})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({36})
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({37})
Volker Beck ({38})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({39})
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Undine Kurth ({40})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({41})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Werner Schulz ({42})
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({43})
FDP
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({44})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({45})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({46})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({47})
Peter H. Carstensen
({48})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({49})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({50})
Dirk Fischer ({51})
Axel E. Fischer ({52})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({53})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Siegfried Kauder
({54})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({55})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({56})
Dr. Karl A. Lamers
({57})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({58})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({59})
Stephan Mayer ({60})
Conny Mayer ({61})
Dr. Martin Mayer
({62})
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({63})
Doris Meyer ({64})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Stefan Müller ({65})
Bernward Müller ({66})
Bernd Neumann ({67})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
({68})
Frau Präsidentin! Werte Damen! Werte Herren! 4 Milliarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschulen - das war
eine Antwort auf den grottenschlechten Vergleich, den wir
mit der PISA-Studie vorgelegt bekommen haben.
({0})
Sie müssen Folgendes bedenken: Wenn ich morgens
einen schlechten Film sehe, wird er nicht dadurch besser,
dass ich ihn nachmittags noch einmal laufen lasse. Es geht
nicht nur darum, die Zeit zu verlängern, sondern es geht
auch darum, mehr Qualität in die Bildung hineinzubringen. Masse ist nicht gleich Klasse.
({1})
Deshalb müssen wir auch fragen, wofür die Gelder mobilisiert werden. Hierzu gibt es auch in der PISA-Studie
sehr differenzierte Ergebnisse. Wenn beispielsweise ein
Schüler in Bayern aufgrund der Stundentafel und nicht so
vieler Unterrichtsausfälle wie in Nordrhein-Westfalen
nach Beendigung der allgemeinen Schulausbildung insgesamt ein Jahr länger Unterricht hatte als ein Schüler in
Nordrhein-Westfalen, dann ist dies ein Bildungsvorteil,
der allein dadurch erreicht wird, dass dort eine Unterrichtsgarantie gegeben und auch eingehalten wird.
({2})
Der Schlüssel liegt natürlich in den Ländern und hier
muss mehr Personal eingestellt werden.
Frau Bulmahn, am 10. Februar sagten Sie in der „Berliner Zeitung“:
Die neuen Ganztagsschulen sollen zum Ort für eine
neue Pädagogik werden, der Raum und Zeit für eine
intensive individuelle Förderung bietet.
({3})
Sie geben 4 Milliarden Euro und wollen aus gutem Grund
- denken Sie an die Länderkompetenz - kein eigenes
Konzept mitliefern. Am Ende erwarten Sie aber die wunderbare Offenbarung einer völlig neuen Pädagogik zwischen Raum und Zeit. Ich glaube, dass hier ein Programm
vorgelegt wird, das dem Anspruch, den Sie öffentlich einfordern, überhaupt nicht gerecht werden kann.
({4})
Sie kennen sich ja in Niedersachsen hervorragend aus.
Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich den neuen Film in
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({5})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({6})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({7})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({8})
Andreas Schmidt ({9})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({10})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Peter Weiß ({11})
Gerald Weiß ({12})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({13})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({14})
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
({15})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({16})
Eberhard Otto ({17})
Cornelia Pieper
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslos
Dr. Gesine Lötzsch
Niedersachsen an. Er zeigt, wie Christian Wulff das aufarbeiten wird, was Frau Bulmahn in Hannover hinterlassen hat.
({18})
Wir lesen heute in der Verwaltungsvereinbarung von
einem Haushaltsvorbehalt. Davon war im Wahlkampf
überhaupt keine Rede.
({19})
Wenn Sie diesem Programm eine echte Priorität eingeräumt und eine fünfjährige Finanzierungsgarantie gegeben hätten, dann wäre das eingetreten, was Sie im Wahlkampf großspurig versprochen haben. Länder und
Kommunen sollten sich zumindest auf Ihre Zusagen verlassen können.
({20})
Es ging Ihnen um Stimmungs- und Stimmengewinn,
große Zahlen, ein bombastisches Nebelprogramm und
eine beschränkte Haftung für das, was Sie am Ende zahlen werden. Die Rechnung kommt später. Ihre dazugehörige Devise lautet: linke Tasche, rechte Tasche.
Zulasten der Kommunen und zugunsten des Bundes haben Sie noch zum 1. Januar 2003 die Gewerbesteuerumlage auf 30 Prozent erhöht.
({21})
- Das haben Sie getan. - Sie wissen, dass in NordrheinWestfalen 70 Prozent der Städte und Gemeinden schon
heute nicht mehr in der Lage sind, einen ausgeglichenen
Haushalt zu verabschieden. Nun fordern Sie in Ihrer Verwaltungsvereinbarung auch noch eine Kofinanzierung.
({22})
Länder und Kommunen haben ohnehin den Löwenanteil
der Kosten für die Ganztagsschulen zu bezahlen.
({23})
- Ich weiß nicht, warum Sie immer dazwischenschreien.
Wenn Sie sich die Argumente gelassen anhören, haben Sie
die Möglichkeit, anschließend in Ihren Reden dagegenzuhalten. Offenkundig tut Ihnen die Wahrheit weh. Deshalb
schreien Sie.
({24})
Der Löwenanteil der Kosten für die Ganztagsschulen
liegt bei den Betriebs- und Personalkosten. Diese müssen
von den Ländern und den Kommunen aufgebracht werden. Hier haben Sie eine automatische Bremse eingebaut.
Sobald eine Kommune die Förderung beschließt, kommt
die Kofinanzierung hinzu und damit das Aus. Der Antrag
landet in der Schublade. Die maroden Finanzen der Kommunen sind kein mystisches Ereignis. Sie sind das Ergebnis auch Ihrer Politik. Darüber haben wir in den letzten
zwei Stunden miteinander diskutiert.
Allein Ihre Erhöhung der Gewerbesteuerumlage kostet
die Kommunen jährlich 2 Milliarden Euro. Das Geld landet bei Eichel. Das sind innerhalb von fünf Jahren 10 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum geben Sie zweckgebunden über Kofinanzierung 4 Milliarden Euro für die
Förderung von Ganztagsschulen zurück. Nachts rauben
Sie den Kommunen eine Kuh. Am nächsten Morgen bringen Sie unter großem Trommelwirbel ein Glas Milch.
Dafür wollen Sie Beifall.
({25})
Für einen Zeitraum von fünf Jahren stellen Sie für ein
Bauprogramm mit Innenausstattung 4 Milliarden Euro
zur Verfügung. Dabei stehen die Räume in den Schulen
nachmittags ohnehin zur Verfügung. Wichtiger wären die
Förderung inhaltlicher Konzepte und die Neueinstellung
von Lehrern gewesen. Voraussetzung dazu wäre ein fairer
Lastenausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, dem Sie sich bis heute verweigern.
({26})
Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen. Lassen
Sie uns gemeinsam überlegen, wie das Geld bedarfsgerecht, mit Wahlfreiheit und im Interesse der jungen Menschen für eine Nachmittagsbetreuung in den Schulen eingesetzt werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam auch die
kleinen Einheiten fördern, vorneweg die Familien, die
Nachbarschaften und die kleinen Netzwerke.
({27})
Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir neben dem
heutigen Bau- und Ausstattungsprogramm eine wirkliche
Offensive für eine kindgerechte Gesellschaft starten können.
Herr Kollege, Sie müssen auf Ihre Redezeit achten.
Wir sind dazu bereit.
({0})
Herr Kollege Schummer, dies war Ihre erste Rede in
diesem Hause. Unsere herzliche Gratulation und Ihnen
politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal ein Satz vorweg zur CDU/CSU. Ich bin sehr
gespannt, ob die CDU/CSU-regierten Länder am Ende
das Geld nehmen werden oder nicht. Wenn man Sie so
reden hört, dann hat man die Erwartung, dass daraus auch
Konsequenzen folgen müssten. Schauen wir mal.
({0})
Nun aber zu den Inhalten. Es gibt in den letzten Jahren
zum Glück einen wachsenden Konsens über die Notwendigkeit eines qualifizierten flächendeckenden Ganztagsangebots an Schulen in Deutschland, und zwar nicht nur
aus sozialpolitischen Gründen. Frau Ministerin Bulmahn
hat dazu schon einiges gesagt.
Schule nur am Vormittag - mit diesem Modell hat sich
Deutschland international weitgehend isoliert. Kaum ein
anderes Land setzt seine Schüler schon mittags vor die
Tür. Die Folge: Das deutsche Schulsystem ist trotz aller
Reformversuche der 70er-Jahre de facto immer noch ein
ständisches Schulsystem. In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg so
groß wie in keinem anderen Land. Wir sind laut PISAStudie Weltmeister der sozialen Ausgrenzung. Dies ist der
traurige Befund der Studie. Begabung, Leistungsvermögen und Leistungsbereitschaft sind für den Schulerfolg
- so die bittere Erkenntnis - leider nur zweitrangig.
Ein Viertel aller 15-Jährigen in Deutschland können
nicht richtig lesen oder schreiben. Davon entfällt ein wesentlicher Anteil auf Kinder von Migrantinnen und Migranten. Diesen Zusammenhang aufzulösen, das ist die
dringendste bildungspolitische Herausforderung.
({1})
Es ist nicht hinzunehmen, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts die Schullaufbahn eines Kindes nahezu genauso
sehr vom Geldbeutel und von der sozialen Schicht der
Eltern abhängt wie am Ende des 19. Jahrhunderts.
({2})
Länder, die in der PISA-Studie gut abgeschnitten haben, bieten meist gute etablierte Ganztagsangebote der
Schulen. Besonders deshalb werden die Ganztagsangebote
als eine Chance wahrgenommen, die unselige Verkettung
von sozialer Herkunft und Schulerfolg zu durchbrechen
und den deutschen Sonderweg der Halbtagsschule ein
Stück weit aufzugeben.
Das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ der rot-grünen Bundesregierung leistet eine wirksame strukturelle Hilfe zum Aufbau und Ausbau von
Ganztagsangeboten in den Ländern. Diese Hilfe umzusetzen liegt allerdings in der Pflicht und Verantwortung der
Länder. Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarung formuliert keinerlei qualitative Anforderungen. Das ist auch gut
so. Die Gestaltungskompetenz liegt nun bei den Ländern.
Vor allem aber müssen Schulen ihr pädagogisches
Konzept autonom auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten vor Ort abstimmen können. Ein enges Korsett an
Vorgaben wäre sehr kontraproduktiv.
({3})
- Nein. - Die Länder sind daher aufgefordert, die Richtlinie für die Vergabe der Mittel inhaltlich möglichst offen zu
gestalten. Das Investitionsprogramm bietet die große
Chance, pädagogische Vielfalt zu fördern. Erst pädagogische Vielfalt und eine Profilbildung der Schulen erlauben
pädagogischen Wettbewerb unter verschiedenen Systemen.
Die gestalterische Autonomie darf aber nicht missverstanden werden. Schule mit angehängter Nachmittagsverwahrung ist mit Bündnis 90/Die Grünen nicht zu machen.
Darüber herrscht in diesem Hause sicherlich Einigkeit.
({4})
Die Vorlage eines plausiblen pädagogischen Konzepts,
das die Vormittags- und Nachmittagsbetreuung sinnvoll
aufeinander abstimmt, muss eine unabdingbare Voraussetzung sein, wenn man Mittel aus dem Programm erhalten
will. Auch deshalb ist es selbstverständlich und unerlässlich, die Verwendung der Mittel einer effektiven, wissenschaftlich begleiteten Qualitätskontrolle zu unterziehen.
Sowohl die Schulen als auch die Länder müssen sich
letztendlich am Erfolg der von ihnen durchgeführten
Maßnahmen messen lassen. Dafür scheint mir die Einrichtung einer unabhängigen länderübergreifenden und
wissenschaftlich arbeitenden Zentralstelle für schulische
Evaluation sinnvoll. Sie könnte allgemeine Eckpunkte zur
Evaluation entwickeln und anwenden und die Schulen
und die Bildungspolitik beratend begleiten.
Insgesamt sind die Kriterien im Entwurf der Verwaltungsvereinbarung erfreulich weit gefasst. Nicht nur Baumaßnahmen wie die berühmte Suppenküche, sondern
auch Sachmittel wie Computer und deren Pflege und Wartung können finanziert werden.
Wir als Grüne fordern hierbei länderübergreifend, dass
alle Schulen und Schularten in das Programm einbezogen
werden. Grundschulen sollen ebenso auf die Mittel zugreifen können wie Schulen in freier Trägerschaft. Besondere Berücksichtigung müssen dabei Schulen in Ballungsräumen erfahren. Dort ist der Bedarf an ganztägigen
Angeboten sowohl in bildungs- als auch in sozialpolitischer Hinsicht am größten. Das hat nicht nur PISA allzu
deutlich gezeigt.
Wer nun allerdings meint, Ganztagsschulen seien die Lösung all dieser Probleme, hat die Komplexität der Situation
nicht verstanden. Die Folgestudie der UNICEF zu PISA hat
deutlich gezeigt, dass das gegliederte Schulsystem mit seinem Anspruch, Kinder nach ihrer Leistungsfähigkeit zu sortieren, völlig gescheitert ist. Vielmehr ist die Heterogenität
auch in Deutschland alltägliche schulische Wirklichkeit.
Ich sehe, dass die Uhr schon blinkt. - Es ist mir wichtig festzuhalten, dass sich die Bundesregierung erfreulicherweise hat in die Pflicht nehmen lassen. Sie trägt aktiv
zur Verbesserung der Situation in den deutschen Schulen
bei. Die Länderhoheit in Sachen Kultur bleibt mit diesem
Investitionsprogramm unangetastet. Die Länderpolitiker
sind nun gefordert, diese Schritte entschlossen zu gehen.
Wir werden den Prozess weiterhin aktiv begleiten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Anstrengungen der Regierung bei der Einführung der Ganztagsschulen neuen Typs begrüßen wir
durchaus.
({0})
Wir sagen Ihnen aber auch, warum die Umsetzung in der
jetzigen Form nicht zustimmungsfähig ist.
({1})
Wir lehnen das von Rot-Grün vorgelegte Konzept aus folgenden Gründen ab: Wir Liberale wollen nämlich, dass
Frauen und Männer mit ihren Familien generell mehr
Freiheit bekommen, ihren eigenen Lebensentwurf mit Beruf und Familie besser vereinbaren zu können.
({2})
Deshalb brauchen wir die Ganztagsschule als Betreuungsangebot an Eltern und Kinder. Allerdings muss die
Ganztagsschule ein freiwilliges Angebot bleiben.
({3})
Denn nicht für alle Kinder und Eltern ist die Ganztagsschule die geeignete Betreuungsform. Deshalb muss die
Ganztagsschule im gleichberechtigten Wettbewerb mit
anderen Bildungsträgern stehen.
({4})
Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, sich allerdings hier hinstellen und sich feiern, ist
- vorsichtig formuliert ({5})
mutig.
({6})
Dafür gibt es mehrere Gründe. Frau Ministerin, Sie haben
zu einer guten Zusammenarbeit aller Fraktionen aufgerufen. Ich begrüße das. Aber ich muss Ihnen sagen: Fangen
Sie als Erstes an, vor Ihrem eigenen Haus zu kehren. Denn
die Informationspolitik der Bundesregierung ist katastrophal.
({7})
Ab Freitag lag die Verwaltungsvereinbarung den Medien vor. Ab Montag konnten wir dies in verschiedenen
Zeitungen lesen. Wir selbst wollten am Montag diese Vereinbarung von Ihrem Haus bekommen. Ihr Haus sah sich
nicht dazu in der Lage, sie herauszugeben.
({8})
Wir haben sie dann von den Medien zugespielt bekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Art
des Umgangs mit dem Parlament ist - vorsichtig formuliert - eine Zumutung durch Sie, sehr verehrte Frau Ministerin.
({9})
Neben der Informationspolitik sind einige inhaltliche
Probleme der Verwaltungsvereinbarung zu nennen. Die
größte Schwachstelle ist die Finanzierung. Dass Bundesländer keinen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen, ist
heute an der Tagesordnung. Die Finanzlage der Kommunen ist prekär. Auf Länder und Kommunen kommen aber
aufgrund der hier in Rede stehenden Verwaltungsvereinbarung immense Kosten zu. Das ist zum einen der zehnprozentige Eigenanteil an den Gesamtinvestitionen, das
sind zum anderen aber auch die Folgekosten nach Auslaufen des Programms und es sind vor allem die notwendigen Personalkosten, die von den Ländern zu tragen sind.
Wie sollen die gebeutelten Kommunen und Länder diese
Zusatzbelastung tragen?
({10})
- Ich komme gleich dazu, Herr Kollege. Ihr Programm können sich nur die reichen Länder und Kommunen leisten.
({11})
Der zweite Punkt betrifft das pädagogische Konzept.
({12})
Sie sagen, es muss ein pädagogisches Konzept geben, von
dem Sie die Zuschüsse abhängig machen. Sie sagen aber
mit keinem Wort, wie dieses pädagogische Konzept aussehen soll. Genau deswegen ist das Wort „pädagogisches
Konzept“ eine Worthülse und nur weiße Salbe für die Öffentlichkeit.
({13})
Die beschriebenen Probleme haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Herr Kollege, es ist eben falsch, was der
Staatssekretär gestern im Ausschuss behauptet hat, nämlich dass der Bund generell keine Möglichkeit habe, Personalstellen im Bildungswesen zu finanzieren. Das liegt
nur daran, dass Sie sich des Art. 104 a Grundgesetz bedienen wollen, womit Sie sich selbst Handschellen angelegt haben. Sie könnten diese abstreifen, indem Sie diese
4 Milliarden in ein Programm für komplett finanzierte
Modellvorhaben umwidmen, wie die FDP es Ihnen vorschlägt. So könnten Sie auch die Folge- und die Personalkosten bezahlen.
({14})
Christoph Hartmann ({15})
Sie könnten ein passgenaues pädagogisches Konzept entwickeln, das mit Kindern und Eltern abgestimmt ist.
({16})
Sämtliche Bundesländer, auch die ärmeren, könnten von
Ihrem Programm profitieren.
({17})
Die Umsetzung wäre auch problemlos, wenn Sie eben
nicht auf Art. 104 a Grundgesetz abstellen, sondern die
von Ihnen im Koalitionsvertrag angekündigte Bundesstiftung Bildung mit den entsprechenden Geldern ausstatten,
um so die Modellvorhaben zu finanzieren.
({18})
Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Retten Sie Ihr
Programm, investieren Sie auch in Personal. Bildung findet in erster Linie durch Menschen statt und nicht nur
durch Ausrüstung. So wären Ihre 4 Milliarden Euro wirklich sinnvoll investiert, nämlich in die Zukunft von Bildung und Betreuung in diesem Land.
Vielen Dank.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartmann,
Sie fingen so hoffnungsvoll an, aber leider hatten Sie dann
doch nicht die Kraft, Ihre Polemik im Interesse der Sache
zurückzudrängen.
({0})
Politik hat für mich und für uns da ihre Berechtigung
und ihre große Aufgabe, wo sie die Lebenssituation der
Menschen aufgreift und dort den Hebel für positive Veränderungen ansetzt.
({1})
Gerade am Beispiel Bildungspolitik und speziell an den
Ganztagsschulen kann man verdeutlichen, dass die Bundesregierung, dass wir genau so handeln.
Ein kurzer Rückblick. Was war die Auslangslage? Wo
setzt unser 4-Milliarden-Projekt für Ganztagsschulen an?
Unser Bildungssystem stand auf dem Prüfstand und bekam im internationalen Vergleich schlechte Noten. Die
PISA-Studie sorgte dafür, dass diese für uns als Nation so
bedrückende Tatsache öffentlichkeitswirksam und breit
diskutiert wurde. Darüber, dass das Thema Bildung nun in
den Fokus des öffentlichen Interesses geraten ist, können
wir Bildungspolitikerinnen und -politiker natürlich froh
sein. Wichtig ist aber, dass wir nicht bei der Analyse des
Problems stehen bleiben, sondern Maßnahmen ergreifen,
die uns aus der Misere herausbringen.
({2})
Eine dieser Maßnahmen - nicht das Allheilmittel; das
ist ganz wichtig -, eine Antwort auf die von PISA benannten Probleme der schulischen Bildung ist die Ganztagsschule. Gerade sie bietet den Raum und die Zeit,
Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Begabungen, und zwar die Guten und die Starken ebenso wie die
Schwachen, individuell zu fördern.
({3})
- Genau. - Als Ort des Lernens und Lebens bietet sie
Institutionen und Vereinen in ihrem Umfeld an, dass sie
sich einbinden können. Trotz knappster Kassen hat die
Bundesregierung den Bundesländern für den Zeitraum
von 2003 bis 2007 4 Milliarden Euro angeboten und damit einen gesellschaftspolitisch wichtigen und notwendigen Anstoß gegeben - nicht mehr, aber auch nicht weniger -,
({4})
der die Länder in die Lage versetzt, schnell und in großem
Umfang das Ganztagsangebot auszubauen.
Im Übrigen - das will ich hier auch einmal sagen - stehen sogar Arbeitgeberpräsident Hundt und der BadenWürttembergische Handwerkskammertag, eine Person
und eine Institution, die ja nun wirklich nicht in dem Verdacht stehen, Sozialdemokraten blindlings hinterherzulaufen, hinter diesem Konzept und begrüßen es.
({5})
Wie reagiert nun die Opposition? Das Stimmengewirr
könnte nicht diffuser sein. Annette Schavan aus BadenWürttemberg signalisierte ihre Zustimmung, nachdem ihr
klar wurde, dass die Länder über die pädagogischen Konzepte selbst entscheiden dürfen.
({6})
- Hat sie das schon wieder revidiert?
({7})
Im Ausschuss für Bildung und Forschung gab es aufseiten der CDU gestern einen Eiertanz ohnegleichen und es
wurden vom Bund gerade die pädagogischen Konzepte
gefordert - von Ihnen wurde das ja auch noch einmal angesprochen -, die Frau Schavan dem Bund auf keinen Fall
übertragen möchte, die sie für sich und die Länder reklamiert.
({8})
Katherina Reiche nörgelte vorgestern in der „Berliner
Zeitung“ einmal wieder, dass der Bund ja lediglich Baumaßnahmen fördern wolle, aber nicht Lehrer und Inhalte
der schulischen Ausbildung. Das sei nicht im Sinne der
Sache.
Blicken Sie eigentlich selbst noch durch bei diesem
Stimmenwirrwarr in Ihren eigenen Reihen, meine Damen
und Herren von der Opposition?
({9})
Hier wird Opposition eindeutig nur um der Opposition
willen betrieben, letztlich - das ist das Traurige an der Sache - auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler, der
Eltern und Lehrer.
({10})
Ich hoffe allerdings, dass die Verantwortungsbewussten
unter Ihnen sich letztlich durchsetzen werden.
Mein Appell an die Bedenkenträger: Legen Sie Ihre
ideologischen Scheuklappen ab und lassen Sie uns im Interesse der Kinder und ihrer Eltern nach dem Motto
„Bund und Land - Hand in Hand“ diesen Erfolg versprechenden Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe von Kindern und Jugendlichen
gemeinsam gehen! Sie haben nach den für uns so enttäuschenden Wahlergebnissen vom 2. Februar medienwirksam die gewachsene Bedeutung Ihrer Oppositionsrolle
herausgestrichen. Sie haben eine konstruktive Mitarbeit
versprochen. Nicht an Ihren Worten, an Ihren Taten werden wir Sie messen.
({11})
Geben Sie sich endlich einen Ruck und springen Sie auf
den bereits anfahrenden Zug auf, auch wenn die Bundesregierung ihn ins Rollen gebracht hat! Kein Bürger und
keine Bürgerin würde es verstehen, wenn Sie, nur weil Sie
den Zugführer nicht selbst eingestellt haben, darauf verzichteten, ans Ziel zu gelangen.
({12})
Frau Kollegin Berg, ich gratuliere Ihnen recht herzlich
zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause und wünsche auch
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Minister, wenn das von Ihnen vorgestellte Förderprogramm eine Antwort auf die PISA-Studie sein soll, dann
muss ich sagen, dass sie sehr oberflächlich ist. Wenn man
sich - Herr Tauss, das ist kein Nörgeln - die Förderkriterien vor Augen führt, die dieses Programm bestimmen,
dann stellt man fest, dass es nur ein einziges Kriterium
gibt: Die Schulzeit soll länger sein als die herkömmliche
Unterrichtszeit. Sie werden es mir sicherlich nicht übel
nehmen, dass meine Ansprüche an die Bildungspolitik
über solche simplen Muster hinausgehen.
({0})
Frau Kollegin Bettin, Sie haben gesagt, dass Sie darauf
gespannt seien, wer die Zuwendungen vom Bund nehmen
werde. Das ist für mich nicht die entscheidende Frage.
Denn wer wird schon Geld ablehnen, wenn er es bekommen kann?
({1})
Wir stehen aber als Haushalts- und Bildungspolitiker des
Bundes in der Verantwortung und müssen deshalb fragen,
ob die geplanten Investitionen in Höhe von 4 Milliarden
Euro sinnvoll eingesetzt werden. Genau daran haben wir
Zweifel angemeldet. Ich wäre ja gern bereit, konstruktiv
über schulbezogene Betreuungsangebote zu diskutieren.
({2})
Aber zuvor müsste beispielsweise die Frage beantwortet
sein, warum Ihr Programm nicht an die Vorgaben der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe - hier hat der
Bund eine ganz andere Gestaltungskompetenz - anknüpft. In den neuen Bundesländern haben wir mit den
Schulhorten als schulbezogene Betreuungsangebote hinreichende Erfahrungen. Sie denken aber nur in den Kategorien der Ganztagsschule, obwohl in der OECD-Studie
die Länder, die ein großes Angebot an Ganztagsschulen
haben, sowohl im oberen als auch im unteren Bereich der
Skala zu finden sind. Das ist der erste Punkt.
({3})
Zweiter Punkt. Wenn Sie an eine Ausdehnung der
Schulzeit und damit auch der Schulpflicht denken, dann
müssen Sie zumindest in Rede stellen, dass Sie damit in
Konflikt mit den Rechten und der Verantwortung der Eltern kommen.
({4})
In dem Bundesland, aus dem ich komme, hat es bereits
Verfassungsklagen gegen die Entscheidung zugunsten betreuter Halbtagsschulen gegeben. Aufgrund dieser Verfassungsklagen ist mir die Dimension des Problems bewusst.
Ich denke, wem es um das Kindeswohl und die Erziehung
der Kinder geht, der kann die Gesichtspunkte, die hinter
solchen Verfassungsklagen stehen, nicht einfach in den
Wind schreiben.
Der dritte und wesentlichste Punkt, der mich an der
Ernsthaftigkeit Ihres Vorhabens zweifeln lässt, ist die
Frage: Warum wollen Sie eine Bildungsreform über ein
Bauprogramm durchführen?
({5})
Sie haben, offenbar einer Auflage des Bundesfinanzministers folgend, die Mittel in einen investiven Titel eingestellt.
Sie können die Zuweisungen an die Länder aber nur über
Art. 104 a des Grundgesetzes ausreichen. Das bedeutet,
dass Sie den Nachweis führen müssen, dass die Mittel
„zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher
Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des
wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind“. Weil wir
das im Ausschuss problematisiert haben, hat uns nun die
Bundesregierung bzw. das Bundesbildungsministerium
ein Rechtsgutachten zur Verfügung gestellt, dessen Aussagen ich höchst problematisch finde. Es läuft nämlich auf
die simple Aussage hinaus, dass Schulbaumaßnahmen
Wirtschaftsförderung sind.
({6})
Übrigens steht ein merkwürdiger Bildungsbegriff dahinter, wenn man zwischen Wirtschaft und Bildung eine so
enge Verbindung konstruiert; aber davon will ich einmal
absehen.
({7})
Wenn Sie tatsächlich dieser Meinung sind, dann frage
ich mich, warum in der Vergangenheit alle Versuche in
den neuen Bundesländern, Schulbauprogramme für das
allgemein bildende Schulwesen über EFRE-Mittel zu finanzieren, fehlgeschlagen sind und warum Mittel aus der
Gemeinschaftsaufgabe zur regionalen Wirtschaftsförderung nicht in Schulbauprogramme geflossen sind.
Sie betreiben hier eine Verfälschung des Haushaltsrechts, die mich an der Ernsthaftigkeit Ihres gesamten
Programms zweifeln lässt. Das ist der Punkt, den ich in
die Debatte werfen will.
({8})
Ich bin mit dem Kollegen Hartmann von der FDP einer
Meinung: Wenn es Ihnen mit dem Anliegen ernst gewesen wäre, dann hätten Sie einen Zuwendungstitel eingerichtet, der den Ländern und vor Ort die Spielräume für
einen sachgerechten Mitteleinsatz gegeben hätte. Darüber, ob das über Modellvorhaben oder ein Förderprogramm geschehen sollte, hätten wir noch reden können.
So aber legen Sie ein Bauprogramm auf, das - das kann
ich Ihnen vorhersagen - bei den Schulträgern als ein obrigkeitsstaatlicher Beglückungsversuch wahrgenommen
werden wird.
({9})
Irgendwo wird man sich anpassen und die Programme so
herrichten - ({10})
Herr Kollege Bergner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich hätte gern noch auf den Zwischenruf des Kollegen
Küster geantwortet.
Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen. Sie haben
Ihre Redezeit überzogen.
Das Thema „PISA-Studie und die Herausforderungen
der Bildungspolitik“ sollte uns mehr wert sein, finde ich,
als ein Programm, das im Grunde nur auf die Außenwirkung des Begriffs „Ganztagsschule“ setzt.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schummer, auch wenn es Ihre erste Rede war, muss
ich Ihnen sagen: Man muss ganz klar machen, worum es
uns geht und worum es Ihnen anscheinend geht. Uns geht
es in der Tat nicht um die Spitzenförderung oder Begabtenförderung, sondern uns geht es um die Breitenförderung,
({0})
um die Kinder von Migranten, um die sozial Schwächeren und auch um die Schlüsselkinder, die es in diesem
Land gibt.
({1})
Es geht darum, ihnen Alternativen und schulische Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten. Das ist das Zentrum dieses
Programms und nichts anderes.
({2})
Wenn wir uns die PISA-Studie anschauen, dann stellen
wir fest: Das ist die Antwort, die darauf gegeben werden
muss. Was hat uns PISA denn gezeigt? Schauen Sie sich
Bayern an! In Bayern gibt es zwar Begabte, aber Bayern
hat auch die höchste Sitzenbleiberquote und eine hohe
Schulabbrecherquote.
({3})
Auf die Ergebnisse von PISA müssen wir reagieren, weil
das unsere Aufgabe ist.
Herr Bergner, Sie haben von Bauprogrammen, Suppenküchen und Investitionen gesprochen. Ja, auch das
gehört dazu. Das ist ein Teil der kommunalen Förderung.
Erst letzte Woche hat das Familienministerium eine Studie vorgestellt, die gezeigt hat, dass jeder Euro, der in den
Bereich der Kinderbetreuung investiert wird, vierfach
wieder zurückkommt, und zwar vor allem durch die Erwerbstätigkeit der Eltern.
({4})
Viele Frauen setzen auf die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie und wir wollen sie darin unterstützen. Ja, auch das
ist unsere Programmatik.
({5})
Wenn Sie hier schon großartig die Verfassung zitieren,
dann sollten Sie auch erwähnen, dass die Bildungspolitik
eine der ureigensten Aufgaben der Länder ist, dass die
Länder hier Personalhoheit haben, gerade bei den Lehrern, die in den meisten Bundesländern, wenn nicht in allen, verbeamtet sind. Es geht hierbei nicht darum, die Länder zu entmachten, wo ihre ureigenen Aufgaben betroffen
sind, sondern es kann nur darum gehen, sie in ihren Aufgaben zu unterstützen.
({6})
Nur das können wir gewährleisten. Wir wollen ihnen nicht
ihre Zuständigkeiten nehmen.
({7})
Herr Hartmann hat uns auf die Pädagogik angesprochen. Herr Hartmann, Sie haben es falsch verstanden. Es
liegt kein Missverständnis vor; wir wollen die Pädagogik
nicht vorschreiben, sondern wir wollen eine Vielfalt an
pädagogischen Konzepten. Wenn sich Frau Hohlmeier,
Ministerin in Bayern, dafür entscheidet, dass ihre Kinder
in eine Ganztags-Waldorfschule gehen, dann soll sie das
tun können. Wenn Eltern möchten, dass ihr Kind in eine
kirchliche Schule, in ein Montessori-Gymnasium oder in
eine staatliche Schule geht, dann soll auch das möglich
sein. Erziehung ist und bleibt die eigentliche Aufgabe der
Eltern; deshalb sollten wir eine Vielfalt an pädagogischen
Formen zulassen und nicht von vornherein einschränken.
Eine solche Einschränkung kann nicht das Ziel der Pädagogik der heutigen Zeit sein.
({8})
Zum Schluss möchte ich aus dem Manifest „Keine Zukunft ohne Kinder - Manifest pro Ganztagsschule und für
ganztägige Bildung in Krippen und Kindergärten“ zitieren:
Mehr Zeit in der Schule darf nicht bedeuten, dass
Kinder und Schüler mehr „pauken“ und mehr Leistungsstress ertragen müssen. Mehr Zeit bedeutet
sinnvollen Wechsel zwischen anstrengenden, anregenden und erholsamen Zeitphasen. Vor allem aber
bietet mehr Zeit die Möglichkeit erweiterter persönlicher und menschlicher Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden - vielleicht die wichtigste
Voraussetzung für die Erhöhung pädagogischer Effizienz und Leistung.
Sie werden mir sicherlich Recht geben, wenn ich behaupte, dass das, was ich gerade zitiert habe, stimmt. Dieses Manifest haben Wassilios Fthenakis, ein anerkannter
Professor der Frühpädagogik, Dieter Hundt - er ist uns allen bekannt -, Frau Rita Süssmuth und - siehe da! Katherina Reiche unterschrieben.
({9})
Ich finde, Sie sollten sich in diesen Dingen einmal direkt von Katherina Reiche beraten lassen und Sie sollten
Ihre Informationen nicht nur aus ihren Interviews in der
„Berliner Zeitung“ beziehen. Ich bin mir nämlich ziemlich
sicher: Zu diesen Interviews steht sie längst nicht mehr.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Heinz Schmitt, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn es heute um die Ausweitung von Ganztagsschulangeboten geht, dann brauchen wir nicht mehr
über graue Theorie zu diskutieren. In meinem Bundesland, Rheinland-Pfalz, gibt es seit Beginn dieses Schuljahres ein neues Programm zur Förderung von Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung. Dieses Programm ist
sehr erfolgreich angelaufen. Rheinland-Pfalz ist mit
81 neuen Ganztagsschulen in dieses Schuljahr gestartet.
({0})
Von Rheinland-Pfalz lernen heißt bekanntlich siegen lernen.
Voraussetzungen für ein Ganztagsschulangebot sind
eine Mindestzahl an teilnehmenden Schülern und vor allen Dingen ein pädagogisches Konzept.
({1})
Die Schulen müssen, wenn ihre Bewerbung Erfolg haben
soll, vier Säulen vorweisen: unterrichtsbezogene Ergänzungen, themenbezogene Projekte, Angebote für eine unterstützende Förderung und Angebote für eine Freizeitgestaltung unter pädagogischer Anleitung. Im Durchschnitt
haben sich an den jeweiligen Schulen rund ein Drittel der
Schülerinnen und Schüler für das neue Ganztagsangebot
angemeldet. Für das zweite Programmjahr werden weitere 84 Schulen ein Ganztagsschulangebot machen. Beworben hatten sich 163 Schulen.
Diese hohen Zahlen belegen die große Nachfrage von
Eltern und Schülern nach einer Ergänzung des normalen
Schulangebots durch ein Ganztagsangebot. Die Anmeldung erfolgt - auch das ist wichtig; es wird immer wieder
verkannt - auf freiwilliger Basis. Es ist daher schlicht
falsch, wenn die Union und ihre bildungspolitische Sprecherin, Frau Reiche, noch immer behaupten, wir planten
eine Zwangsumwandlung in Ganztagsschulen oder wir
verfolgten einen bürokratischen Ansatz ohne pädagogisches Konzept.
({2})
- Danke schön.
Heinz Schmitt ({3})
Die Ganztagsschule wird von vielen Eltern für ihre
Kinder gewünscht und sie trägt vor allen Dingen den gesellschaftlichen Veränderungen und den familiären Verhältnissen Rechnung.
Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu dem
Programm für Ganztagsschulen in meinem Bundesland
ist eindeutig. Sie kommt im Wesentlichen zu folgenden
Ergebnissen: Die Schulleiter berichten von einem großen
Motivationsschub für das Kollegium. Die Lehrkräfte stehen in einem besseren pädagogischen Bezug zu den
Schülern. Die Schüler selbst fühlen sich besser aufgehoben und gefördert. Die Eltern fühlen sich entlastet und sehen bessere Entwicklungschancen für ihre Kinder.
({4})
Natürlich wird auch die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf durch Ganztagsschulen gefördert.
Diese Ergebnisse bestätigen mir die Schulleiter in meinem Wahlkreis. Ein Schulleiter spricht von einem „zündenden Erfolgsmodell“ für alle Beteiligten. Beispiel: Zu
Beginn dieses Schuljahres hatte die Schule dieses Schulleiters 110 Ganztagsschüler; nach einem halben Jahr sind
es 230 Schüler, die das neue Angebot wahrnehmen. Eine
enorme Zunahme an Akzeptanz und Vertrauen also innerhalb nur eines halben Jahres. Auch das Engagement der
Eltern für ihre Schule hat eine neue Qualität erreicht. Die
Schüler wiederum nehmen die Betreuungsangebote
ebenso dankbar auf: Schwächere Schüler steigern ihre
Leistungen. Die besseren Schüler werden gleichzeitig
durch zusätzliche Angebote gefördert, angeregt und zusätzlich motiviert.
({5})
Die Veränderungen gelten aber auch für soziale Belange: Schüler nehmen die Betreuer als Bezugspersonen an
und fühlen sich mit ihren kleinen und größeren Anliegen
und Problemen gut aufgehoben. Schließlich leiten vielfältige Projekte und Angebote zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung an und stärken den Zusammenhalt und die soziale
Kompetenz bei den Schülern und Lehrern. Alle Beteiligten
waren also voll des Lobes für das neue Ganztagsmodell.
Dass Rheinland-Pfalz erfolgreich und Vorreiter ist, hat
sich mittlerweile auch schon in einigen CDU-regierten
Ländern herumgesprochen.
({6})
Immer öfter kommen Pädagogen aus dem benachbarten
Baden-Württemberg über den Rhein,
({7})
um sich vor Ort - Herr Fischer ist nicht da - über die neue
Ganztagsschule zu informieren.
({8})
Ich hoffe, dass dieses rege Interesse auch die Landesregierung in Stuttgart und damit die Bänke der Opposition
hier im Bundestag dauerhaft und nachhaltig erreicht.
({9})
Meine Damen und Herren, die Ganztagsschule hat für
frischen Wind in Schulen und Klassenzimmern gesorgt.
Genau das ist es, was wir nach PISA unbedingt benötigen.
Wir müssen nämlich Motivation und Engagement, aber
auch Freude am Lehren und Lernen in unsere Schulen
zurückbringen. Die Bundesregierung unterstützt mit
ihrem Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“
solch wichtige Reformanstrengungen an unseren Schulen. Wir verbessern nachweislich die Situation an den
Schulen, stellen die Weichen für mehr Chancengleichheit
und für eine individuelle Förderung der Schüler. Wir passen also die Schulen an die gesellschaftlichen und familiären Realitäten an, öffnen die Schule nach außen und
vernetzen sie mit der Berufs- und Lebenswelt. Daher ist
der Kurs der Bundesregierung richtig. Dieser Kurs ist
ohne Alternative. Wir haben den richtigen Weg zur Verbesserung unseres Bildungssystems eingeschlagen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Nach den vielen pädagogischen Bekenntnissen, die wir
eben zur Kenntnis genommen haben, stelle ich eines fest:
({0})
Wir sind uns ja eigentlich alle einig. Die zukunftsfähige
Ausbildung unserer Kinder ist zweifellos die größte und
wichtigste Gemeinschaftsaufgabe von Bürgern, Staat und
Gesellschaft in den nächsten Jahren. Selbst die Wege zur
Erreichung dieses Ziels laufen über weite Strecken parallel.
Ihre Vorgehensweise, Frau Bulmahn, bei der Vorstellung der Verwaltungsvereinbarung war jedoch reichlich
überzogen. Deswegen kommt Misstrauen auf. Am
Montag beruft die Bildungsministerin nämlich eine Pressekonferenz ein und faxt erst wenige Minuten vorher den
Entwurf der Verwaltungsvereinbarung an die Länder.
Derweil beantragen die Regierungsfraktionen zu demselben Thema schnell noch eine Aktuelle Stunde. Über Ihren
Umgang mit dem Parlament kann man da nur noch den
Mantel des Schweigens decken.
({1})
Durch diesen hastigen Aktionismus verschleiern Sie, dass
den Ländern anstelle von Wohltaten doch wieder finanzielle Mühlsteine um den Hals gelegt werden. Sie bleiben
auf halbem Weg stehen. Während der Bund seine Förderung ausschließlich auf Investitionen für Ausbau, Renovierung und Ausstattung der Schulen beschränkt, liegen
die eigentlichen Probleme - die Vorredner haben es bereits hinreichend dargestellt ({2})
bei der Finanzierung der Personal- und Betriebskosten.
Darauf weisen wir seit Monaten hin.
Natürlich ist es begrüßenswert, wenn der Bund den
Ländern und Kommunen 4 Milliarden Euro für den weiteren Ausbau von Ganztagsangeboten bereitstellt,
({3})
doch dank der misslungenen Steuer- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stehen viele Länder und Kommunen vor dem Ruin.
({4})
Allein die Neuregelung der Umsatzsteuerverteilung
würde genügend Geld in die leeren Kassen der Länder
spülen, um eine Finanzierung der Ganztagsangebote dauerhaft sicherzustellen.
({5})
- Nein.
({6})
Eine isolierte Verwaltungsvereinbarung hebt die Bildungsdefizite nicht auf. Das gesamte Bildungssystem
muss nachhaltig verbessert werden.
({7})
Anstatt leichtfertig die Schulkapazitäten aufzublähen,
müssen wir für Lehrerförderung und Personalbildung sorgen. Lehrerausbildung und -weiterbildung kostet die Länder sehr viel Geld; sie müssen tief in die Tasche greifen.
An dieser Stelle dürfen wir nicht nur den halben Weg sehen, sondern müssen das Endziel im Auge haben und versuchen, dieses Ziel zu erreichen.
Wir haben in Bayern eine Lehrerplanstellengarantie.
({8})
Jeder ausscheidende Lehrer wird durch einen jungen Lehrer ersetzt.
({9})
Ich frage Sie, meine verehrten Kollegen: Was nützt Ihnen
das schönste Ganztagsangebot, wenn am Nachmittag wegen Krankheit oder Lehrermangel weder Unterricht noch
Betreuung stattfindet?
Wir sollten vor allem darauf achten, dass Qualitätskriterien für alle Schulen erarbeitet und aufrechterhalten
werden.
({10})
- Bei uns funktioniert das. Die Lehrer in Bayern haben ein
Minimum an Fortbildungstagen zu absolvieren. Ab dem
nächsten Schuljahr gibt es Evaluationsteams, die Hilfestellung zur Verbesserung der Unterrichtsqualität an Schulen geben sollen. Deswegen ist die PISA-Evaluierung in
Bayern in dieser Hinsicht ganz hervorragend gelungen.
({11})
Lassen Sie mich die Gedanken auf den Punkt bringen:
Erstens. Unser Bildungssystem muss nachhaltig und
langfristig verändert werden. Zweitens. Hierzu ist die
Formulierung von pädagogischen Anforderungen an
zukünftige Lehrer genauso wichtig wie die nachhaltige
Qualitätssicherung in den Schulen. Drittens. Dazu ist eine
verbesserte und dauerhafte Finanzausstattung der Länder
und Kommunen unbedingte Voraussetzung. Viertens. Der
Bund unterstützt die Länder bei der Finanzierung der Bildungsaufgaben am besten,
({12})
indem er endlich einer aufgabengerechten Neuverteilung
der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern zustimmt
({13})
und eine Umsatzsteuerumverteilung vornimmt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gebäude
alleine reichen nicht. Wer Bildung will, braucht Lehrer.
Besten Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Circa 40 Milliarden Euro - diese gewaltige
Summe müssen wir im nächsten Jahr allein für Zinszahlungen ausgeben. Es handelt sich um den zweitgrößten
Einzelposten im Bundeshaushalt. Das unterstreicht die
Notwendigkeit, den Kurs der Haushaltskonsolidierung
konsequent fortzusetzen. Wir werden das tun und 2006
einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen.
({0})
Dies ist aber nur der eine Teil einer erfolgreichen
Haushaltspolitik. Der andere beinhaltet, weiter in Zukunftsbereiche zu investieren.
({1})
Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung
und Betreuung“ vollziehen wir eine intelligente, nachhaltige Konsolidierungspolitik. Die begrenzten finanziellen
Mittel setzen wir zielgerichtet zum größtmöglichen Nutzen für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen ein.
({2})
Warum aber lenken wir diese Mittel ausgerechnet in
den Ausbau von Ganztagsschulen? Das erschreckendste
Ergebnis der PISA-Studie ist ohne Zweifel, dass es unserem Bildungssystem besonders schlecht gelingt, Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft auszugleichen. Auf der Behebung dieses Defizits muss unser
Hauptaugenmerk liegen.
({3})
Gegenseitige Schuldzuweisungen oder lange Debatten
über Zuständigkeitsfragen oder ein ewiges Schlechtreden
unseres Konzepts sind deshalb völlig fehl am Platze.
({4})
Es geht um die Zukunft unseres Bildungssystems und damit um die Zukunft unseres Landes. Wir sollten diese
Chance gemeinsam nutzen.
({5})
Ganztagsschule bedeutet für uns mehr denn je Betreuung, Erziehung und Bildung.
({6})
Dabei geht es uns nicht nur um eine zahlenmäßige Ausweitung des Platzangebotes. Es geht vor allem auch um
eine verbesserte Qualität von Betreuung.
({7})
Nach der PISA-Studie haben die meisten der erfolgreichen Staaten Ganztagsschulsysteme.
({8})
Das sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht ignorieren.
({9})
Betrachtet man die Versorgungsquote, also das Verhältnis von Platzzahlen zu Kinderzahlen, so zeigen sich
immer noch sehr große Unterschiede zwischen Ost- und
Westdeutschland. Für Kinder im Hortalter lag sie 1998
in Westdeutschland bei 6 Prozent, in Ostdeutschland dagegen - fast zehnmal so hoch - bei circa 58 Prozent.
Während in Westdeutschland nur circa 19 Prozent aller
Kita-Plätze Ganztagsplätze mit Mittagessen waren, gehörten in Ostdeutschland fast alle Plätze zu dieser Kategorie. Dieses infrastrukturelle Erbe ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund, dass in Ostdeutschland eine
ganztägige Betreuung auch 13 Jahre nach dem Fall der
Mauer einen enorm positiven Stellenwert besitzt und im
Übrigen einen wichtigen Standortfaktor darstellt.
({10})
Mit kreativen Konzepten können sich Ganztagsschulen
zu einem Ort der Begegnung und zu einem Zentrum der
Kommunikation entwickeln. Durch die Beteiligung von
Vereinen und Verbänden oder durch sportliche, musikalische und künstlerische Elemente können sie Kindern
und Jugendlichen aus allen sozialen Schichten neue
Zukunftschancen eröffnen. Besonders in den strukturschwachen Regionen fällt der Ganztagsschule eine
große Bedeutung zu.
Die soziale und geistige Kompetenz unserer Kinder
und Jugendlichen entwickelt sich auch in Abhängigkeit
vom Elternhaus und dessen Umgebung. Hohe Arbeitslosigkeit verbunden mit Frustration und Tristesse befördern eher Intoleranz, Verschlossenheit und Minderwertigkeitsgefühle. Ein ganz auf die Verhältnisse vor Ort
zugeschnittenes pädagogisches Konzept fördert die Bildung von Teamfähigkeit und Toleranz, das Selbstbewusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Solidarität im Umgang miteinander.
({11})
Die vorliegende Verwaltungsvereinbarung trägt den
besonderen Bedingungen in Ostdeutschland Rechnung.
Denn nicht nur der Neubau, sondern auch zusätzliche
Ganztagsangebote, Ausstattungsinvestitionen und die damit verbundenen Dienstleistungen können in Ganztagsschulen oder auch in Schulen mit angegliedertem Hort
finanziert werden. Durch Bildung, Erziehung und Betreuung in Ganztagsschulen schaffen wir die Voraussetzung,
dass die soziale Herkunft nicht länger über die Zukunft
unserer Kinder entscheidet.
({12})
Wir investieren in die Zukunft unseres Bildungssystems
und damit in die Zukunft unseres Landes.
Vielen Dank.
({13})
Frau Kollegin Wicklein, auch Ihnen unsere herzlichen
Glückwünsche für Ihre erste Rede hier in diesem Hohen
Hause sowie persönlich und beruflich alles Gute!
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Hannelore Roedel, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschland hat zusammen mit südeuropäischen Ländern wie Italien und Spanien die niedrigste
Geburtenrate Europas. Rund 30 Prozent der jetzigen jungen
Generation werden aus verschiedenen Gründen - durchaus
nicht immer geplant - kinderlos bleiben. Angesichts dieser demographischen Entwicklung muss alles, was Familien in unserem Land hilft und fördert, getan werden.
({0})
Dazu gehört ein flexibles und qualitativ gutes Angebot an
Betreuungsmöglichkeiten bis hin zur Ganztagsbetreuung.
Wenn Kind und Karriere kein Widerspruch mehr sein sollen, dann muss auch die voll arbeitende Mutter für ihr Kind
Betreuung finden, auch in Form der Ganztagsschule.
({1})
Deswegen begrüßen wir das Ganztagsschulprogramm
von Frau Bulmahn als richtigen Schritt auf dem Weg zu
einer nachhaltig familienfreundlichen Gesellschaft, vor
allem nachdem Sie, Frau Ministerin, nach einem Blick in
das Grundgesetz doch noch realisiert haben, dass die Kultushoheit bei den Ländern liegt,
({2})
und dies bei der Durchführung Ihres Programms nun auch
berücksichtigt haben.
({3})
Die Bindung der Förderung an pädagogische Konzepte
mag zwar gut klingen; unsere Schulen sind aber weit fortschrittlicher, als Sie es vielleicht wissen. Ich kenne kaum
eine Schule, die nicht schon über pädagogische Konzepte
verfügt. Für uns ist wichtig, dass auch mit dem neuen Programm gewährleistet bleibt, dass die einzelnen Schulen
auf die Bedürfnisse genau ihrer Kinder und ihrer Eltern
eingehen können.
({4})
Doch zu kritisieren bleibt etwas anderes; denn Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz gedacht. Die
Realität ist nämlich die, dass der Bund mit diesem Programm großzügig Steine und Beton für die Schulen finanziert,
({5})
dass aber die Kosten für das, was die Schulen mit Leben
erfüllt, nämlich Personal, an den Ländern und Kommunen
hängen bleibt.
Was wird die Folge dieses Programms sein? Über kurz
oder lang werden wir landauf, landab eine Menge neuer
und kindgerechter moderner Schulen haben - mit allem
Drum und Dran -, aber keine Lehrer. Schulen ohne Seelen? Wenn Sie uns das öffentlichkeitswirksam als rot-grünes Geschenk verkaufen, dann scheint mir das eher ein
trojanisches Pferd zu sein - vor allem, wenn man bedenkt,
dass die Länder, um überhaupt diesen Zuschuss zu bekommen, auch noch 10 Prozent Eigenmittel aufbringen
müssen.
Die Zeche zahlen Länder und Kommunen und die Regierung sonnt sich im Glanz ihrer nationalen Antwort auf
PISA. Kommunen und Ländern steht aber das Wasser bis
zum Hals.
({6})
Durch die falsche Wirtschafts- und Steuerpolitik von Ihnen sind ihnen die wesentlichen Finanzgrundlagen weggebrochen. Wenn natürlich die Länder jetzt nach den Mitteln aus Berlin greifen - wie auch ein Ertrinkender nach
einem Strohhalm greift -, dann bleibt eines doch gewiss:
Auf Dauer können Länder und Kommunen eine Bildungspolitik auf hohem Niveau nur dann durchführen,
wenn ihnen eine solide finanzielle Grundlage garantiert
ist.
({7})
Dafür zu sorgen ist nicht Aufgabe der Länder, sondern der
Bundesregierung.
Die rot-grünen Bildungsexperten sind auch auf dem
Holzweg, wenn sie glauben, der PISA-Misere allein mit
Ganztagsschulen entkommen zu können.
({8})
Die Ergebnisse von PISA im nationalen und internationalen Vergleich belegen ganz deutlich, dass die Gleichung
„mehr Ganztagsschulen gleich mehr Bildung“ eben nicht
aufgeht.
({9})
Entscheidender als die Frage Ganz- oder Halbtagsschule
ist das, was in der Schule passiert. Allein die Rahmenbedingungen für Ganztagsbetreuung zu verbessern kann
weder die Ergebnisse von PISA steigern noch den Familien Lust auf Kinder machen.
({10})
Eine familienfreundliche Politik schafft man nicht
durch staatlichen Zwang; vielmehr müssen die Eltern
selbst entscheiden können, ob und in welchem Umfang
die Betreuung ihres Kindes innerhalb oder außerhalb der
Familie erfolgen soll. Wir Politiker müssen mit einem
ausreichenden Angebot an Betreuungsmodellen dafür
sorgen, dass die Eltern Wahlfreiheit wirklich haben.
({11})
Was Familien heute am dringendsten brauchen, ist eine
Politik, die wieder mehr Menschen und damit auch Mütter und Väter in Arbeit bringt, die den Menschen Mut zur
Selbstständigkeit gibt, die die Leistungsbereitschaft fördert und die die finanziellen Grundlagen von Kommunen
und Ländern stärkt. Das neue Investitionsprogramm ist
deshalb ein wichtiger Schritt. Wenn es aber nur bei einer
kurzfristigen Anschub- und Baufinanzierung bleibt, dann
tun Sie den Familien nichts Gutes. Am Ende kommen
dann vielleicht eben doch nur Sparschulen mit einer angeschlossenen Suppenküche heraus.
({12})
Es gibt eine Menge neuer Kolleginnen und Kollegen,
die engagiert im Bildungsausschuss tätig sind. Auch Sie,
liebe Kollegin Roedel, gehören dazu. Ich gratuliere Ihnen
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
und wünsche auch Ihnen persönlich und politisch alles
Gute.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Caren
Marks, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Erziehung, Bildung und Betreuung sind untrennbare, sich ergänzende Voraussetzungen für: erstens
ein besseres Bildungsniveau junger Menschen, zweitens
die individuelle Förderung von Kindern und drittens eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({0})
Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und
Betreuung“ lösen wir eines unserer zentralen Wahlversprechen ein. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist
ein Kernelement sozialdemokratischer Politik.
Der Ausbau von Ganztagsschulen trägt dazu bei, dass
Frauen und Männer ihren Wunsch nach Kindern realisieren können, ohne dass sie auf die Teilhabe am Arbeitsund Wirtschaftsleben verzichten müssen.
({1})
Das Potenzial und das Know-how insbesondere vieler
Frauen geht unserer Gesellschaft verloren, weil es an
Ganztagsbetreuung mangelt. Während die Union uns einseitige Förderung außerhäuslicher Kinderbetreuung vorwirft, begrüßen Wirtschaft und Eltern unsere Familienpolitik ganz besonders.
({2})
Jahrelang haben CDU/CSU und FDP die Kinderbetreuung vernachlässigt und weder bundes- noch landespolitisch angemessen gefördert. Jetzt lautstark die Förderung der Kinderbetreuung unserer Bundesregierung
anzugreifen und keine eigenen Konzepte zu entwickeln
({3})
zeigt auf allen Politikfeldern, dass Union und FDP zurzeit
nur ein Geschäft verstehen: Deutschland schlechtzureden,
({4})
Problemlösungen auszuweichen und sich aus der Verantwortung zu stehlen,
({5})
unser Land kinder- und familienfreundlicher zu gestalten.
Mit dem Ausbau von Ganztagsschulangeboten schaffen
wir für Eltern die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit. Für Alleinerziehende ist Betreuung die Grundvoraussetzung, um auf dem
Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben. Mit einem
verbesserten schulischen Angebot stellen wir aber auch die
Chancengleichheit und die individuelle Förderung der Kinder in den Mittelpunkt. Uns geht es nicht um die einfache
Verlängerung der Schulzeit, sondern um kreative pädagogische Konzepte. Schule soll zu einem Ort werden, der für
Schüler und Lehrer das Lehr- und Lernklima verbessert; ein
Ort, mit dem sich Schüler und Lehrer gleichermaßen identifizieren können; ein Ort, der das familiäre Netz der Kinder
nicht ersetzen soll und kann, aber sinnvoll ergänzt;
({6})
ein Ort, der Kinder stark macht, durchs Leben zu gehen,
und Kindern soziale Kompetenzen und Verantwortung
vermittelt. Das sind die Leitlinien unserer Politik.
CDU/CSU hingegen haben bei auftauchenden Problemen - wie es sich zum Beispiel beim Graffiti-Bekämpfungsgesetz wieder einmal zeigt - den falschen Ansatzpunkt. Sie vernachlässigen den präventiven Ansatz und
glauben, dem Phänomen des Graffiti-Sprühens in erster
Linie mit den Mitteln des Strafrechts begegnen zu können.
Bildung und Betreuung fördern und sicherstellen, das
ist die große gemeinsame Herausforderung, aber auch die
große Chance, die sich dem Bund, den Ländern und den
Kommunen derzeit stellt. Eltern, Kinder und Wirtschaft
werden kein Verständnis dafür aufbringen, wenn sich die
Union mit Zuständigkeitsfragen aufhält und bei ihrem
traditionellen Familienbild bleibt.
({7})
Eine ablehnende und blockierende Haltung der CDU/
CSU-geführten Landesregierungen und Kommunen werden wir thematisieren. Wir werden den Menschen dabei
ganz deutlich machen, welche Chancen konservative Regierungen auf Kosten von Kindern und Eltern nicht nutzen.
({8})
Kinder sind unsere Zukunft. Die Qualität ihrer Erziehung,
Bildung und Betreuung entscheidet darüber, wie leistungsfähig, wie innovativ, aber auch wie human, wie demokratisch und auch wie sozial integriert unsere Gesellschaft der Zukunft sein wird. Ich denke, auch das ist ein
ganz besonderer Aspekt des Ausbaus von Ganztagsschulen.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Marks, als Baden-Württemberger fällt
es mir etwas schwer, mir von Ihnen etwas über Bildungspolitik aus Niedersachsen erklären lassen zu müssen.
({0})
Hier trennen uns im Ergebnis Welten. Politik sollte aber
immer damit anfangen, die Sachverhalte zur Kenntnis zu
nehmen.
({1})
Nun zum Thema: Der Bund möchte den Ländern und
Gemeinden 4 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung
zur Verfügung stellen. Das, Frau Ministerin Bulmahn, ist
die gute Nachricht. Mit maximal 400 000 Euro pro Schule
kann durchaus etwas gebaut werden. Diese Aktion ist also
deutlich mehr als das, was der Kanzler zurzeit im Bereich
Wirtschaft und Arbeitsmarkt auf den Weg bringt. Eine wesentliche Verbesserung wird damit aber nicht erreicht. Es
ist eher ein Tropfen auf den heißen Stein.
({2})
Die Begeisterung im Land hält sich daher, abgesehen von
der rot-grünen Regierungskoalition, durchaus in Grenzen.
Das hat auch seine Gründe.
({3})
Der Bund investiert in Beton, Steine und Farbe.
({4})
- Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden. Diskutieren können
wir hinterher. - Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarung
zwischen dem Bund und den Ländern versteht unter den Investitionen „insbesondere erforderliche Renovierungs-,
Umbau-,Ausbau- und Neubaumaßnahmen“. Mit den Folgekosten stehen die Länder und Gemeinden dann alleine da.
Die Kosten für zusätzliche Lehrer, für zusätzliche pädagogische Betreuungskräfte, für Zuschüsse zum Abmangel für
Schülermensen, fürdieGebäudeunterhaltungetc.bleibenals
dauernde Lasten bei den Kommunen und Ländern hängen.
({5})
Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der nur noch
wenige Städte und Gemeinden ihre Haushalte überhaupt
ausgleichen können.
({6})
- Ich kann Ihnen dazu etwas sagen. Esslingen hatte im
letzten Jahr einen Gewerbesteuereinbruch um mehr als
die Hälfte. Das ist auch für eine Gemeinde, der es gut
geht, weil es in Baden-Württemberg eine gute Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik gibt, eine schwierige Situation, Frau Kollegin.
({7})
- Auf einem niedrigen Niveau ist es natürlich schwerer,
entsprechend tief einzubrechen.
Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Betreuungseinrichtungen geschlossen und die Öffnungszeiten
von Jugendhäusern und ähnlichen Einrichtungen aus
Kostengründen reduziert werden müssen. Dies trifft die
Kommunen in einer Zeit, in der Büchereien und Musikschulen geschlossen werden müssen.
({8})
Dies trifft sie in einer Zeit, in der Geld für Sprachkurse gestrichen werden muss.
({9})
- Herr Tauss, wir können gern einmal von Gemeinde zu
Gemeinde gehen und uns die Haushaltssanierungskonzepte ansehen und schauen, was dort alles in den Bereichen, die für uns gemeinsam wichtig sind, gestrichen werden muss, weil die Einnahmen aus der Gewerbesteuer
fehlen.
Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Gebühren für Kinderbetreuungseinrichtungen teilweise
drastisch erhöht werden müssen. Dies trifft eine Gesellschaft, in der die finanzielle Schere zwischen Menschen
bzw. Familien mit Kindern und solchen ohne Kinder deutlich auseinander geht.
({10})
- Überkompensiert durch Inflation, Ökosteuer, Versicherungsteuer usw. All dies trifft die Familien viel mehr.
({11})
Dies trifft die Länder, die ihre Personalkosten - auch für
Lehrer - kaum mehr bezahlen können.
Die Löcher, die die Bundesregierung bei den Ganztagsschulen stopfen will, werden an vielen anderen Stellen aufgerissen: auch bei der Bildung, der Betreuung und
in der Familienförderung. Wie sich in einer solchen Situation die Lage in den Schulen, bei der familienergänzenden Kinderbetreuung und für die Familien überhaupt
verbessern soll, bleibt Ihr Geheimnis, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierungskoalition.
Wer für die Betreuung und Bildung in unserem Land
etwas tun will, der setzt bei Sprach- und Leseförderung
an, der verbessert die Betreuungsqualität auch im Vorschulbereich, der setzt die von der Kultusministerkonferenz vereinbarten Bildungsstandards um,
({12})
der fördert die Familien, der stärkt die Erziehungskompetenz der Eltern - das darf ich jetzt ausdrücklich auch für
die Familienpolitiker der Union sagen -,
({13})
der sorgt aber in erster Linie dafür, dass die Länder und
Gemeinden wieder eine angemessene Finanzausstattung
bekommen und ihre ureigenen Aufgaben selbst erfüllen
können.
({14})
Ich kann hier nahtlos an die Diskussion um die Gemeindefinanzen anschließen, die wir eben geführt haben.
Die Verantwortlichen in den Ländern und Gemeinden
werden dann ohne den goldenen Zügel mit angemessener
Finanzausstattung sehr viel mehr für die Bildung, sehr
viel mehr für die Betreuung und sehr viel mehr für die Familienförderung tun, als das geplante Investitionsprogramm je erreichen kann.
An dieser Baustelle sollten Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Regierungskoalition, endlich wieder arbeiten.
({15})
Herr Kollege Grübel, ich spreche Ihnen ebenfalls herzliche Glückwünsche für Ihre erste Rede in diesem Hause
aus und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.
({0})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir im Bundestag angesichts 4 Milliarden Euro an
freiwilliger Leistung des Bundes im Bildungsbereich eine
solche Debatte führen, ist schon bemerkenswert. Mir ist
aufgefallen, dass die eine Gruppe von Abgeordneten in
dieser Debatte aus der Begeisterung heraus plädieren, etwas für die Betroffenen, für die Kinder und die Familien
zu schaffen, dass die andere Gruppe dies aber zerredet.
Die Beiträge der Abgeordneten der CDU/CSU, die ich mir
hier angehört habe - die Abgeordneten kommen aus Niedersachsen, aus Sachsen-Anhalt, zwei aus Bayern und einer aus Baden-Württemberg -, wiesen eine Vielfalt und
Widersprüchlichkeit auf, die für sich sprechen. Angesichts dessen wundert es mich nicht, dass Sie ohne eine
Linie, ohne ein Angebot und ohne eine politische Vision
in die Bundestagswahlen gegangen sind. Auch deshalb
haben Sie diese Bundestagswahl verloren.
({0})
Sie haben gedacht, Sie kämen daran vorbei, klare Positionen bekannt zu geben, die die Bedürfnisse im Bildungsbereich und die Sorgen von jungen Familien, von Frauen
wie von Männern betreffen. Dafür haben Sie von den
Wählerinnen und Wählern die Quittung bekommen.
({1})
Deshalb regieren wir. Das freut uns und ärgert Sie.
Sie hatten gedacht, dass der Umfang der Initiative des
Bundes zur Unterstützung der Länder, die Frau Ministerin
Bulmahn seit über einem Jahr vorbereitet, von uns am Ende
nicht eingehalten werden würde oder könnte. Sie hätten sich
sicher nichts mehr gewünscht, als uns in einer Debatte vorwerfen zu können, wir seien mit dem Ziel von 4 Milliarden
Euro gestartet, herausgekommen sei aber nur 1 Milliarde
Euro an Unterstützung. Doch wie hoch ist der Umfang? - Er
beträgt 4 Milliarden Euro. Das ärgert Sie zum Zweiten.
({2})
Uns freut dies. Es ist eine große Leistung der Regierung,
eine große Leistung von Gerhard Schröder, Edelgard
Bulmahn und Hans Eichel.
Als Drittes wird Sie ärgern, wenn die Bildungsministerin und die 16 Ministerinnen und Minister aus den Ländern hoffentlich nicht mit Sekt, sondern ganz kinderfreundlich mit biologischem Apfelsaft anstoßen und
sagen: Topp, diese Verwaltungsvereinbarung gilt! Darauf
bauen wir jetzt auf.
({3})
All diese Punkte ärgern Sie; denn dann müssen Sie wieder zurückrudern und müssen die Kritik, die Sie mehr oder
minder daran geäußert haben, zurücknehmen. Einige waren ja vorsichtiger und haben gesagt, es sei ein sinnvoller
Beitrag. Dahinter steht offensichtlich die Staatsführung
aus Bayern, dass man das, was man konstruktiv aufgreifen
könnte, vorweg nicht in Grund und Boden reden sollte.
({4})
Andere haben gesagt, das könne doch nicht alles sein.
Das ist auch unsere Meinung. Uns bieten sich deshalb
Chancen: Sie haben die Chance, dreifache Frustration abzuarbeiten. Wir haben die Chance auf dreifachen Nutzen:
zum Ersten den Nutzen für die ökonomische Lage; die
Studien sind schon zitiert worden, die besagen, dass dies
einen Beitrag für einen Wirtschaftsaufschwung in mittlerer Sicht bringen kann; zum Zweiten einen Nutzen für die
Familien und für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Im Übrigen: Wenn die CDU/CSU dem folgen sollte,
wird sie wieder bessere Wahlergebnisse bei diesen Menschen haben, weil Sie sie dann besser vertreten würden.
({5})
Ein dritter Nutzen liegt darin, dass es für die Kinder mehr
Zeit und Gestaltungsfreiheit in der Schule gibt und für die
Schulen mehr Möglichkeiten, mit Kindern Zeit zu gestalten. Das muss der entscheidende Ausgangspunkt sein.
Sie beschwören immer die Sorgen der Kommunen.
Diese kann man nachvollziehen. Deswegen machen wir
eine andere Steuerpolitik als die, die Sie uns immer empfehlen. Sie empfehlen uns immer, die Steuern zu senken
und die Verschuldung zu erhöhen. Es müssen aber doch
vielmehr die Sorgen der Menschen im Mittelpunkt stehen,
die nicht wissen, wo sie ihr Kind pädagogisch gut betreut
finden, oder die Sorgen von Pädagogen, die sagen, sie hätten gerne mehr Zeit, um mit den Kindern arbeiten zu können. Wenn Sie diesen Bezugspunkt haben, nehmen Sie
das Programm als viel hilfreicher, initiativreicher und
positiver wahr.
Sie werten das als reine Investition in Bauen und Beton ab. Wir könnten doch einmal zusammen darüber nachdenken, ob unsere Schulbauten, unsere Schulstrukturen
tatsächlich, wenn wir uns in die Kinder hineindenken, den
Ansprüchen der Pädagogik genügen oder nicht. Es wird
sehr viele kleinere und größere Wünsche geben, dieses
oder jenes so umzugestalten, auch baulich, dass es kindgerecht ist. Da ist unser Angebot - 90 Prozent vom Bund,
10 Prozent Kofinanzierung -,
({6})
sehr wohl eine Hilfe, die von denen, die aus der Praxis,
nämlich aus den Ländern, kommen, aufgegriffen wird.
Der FDP muss man eine Antwort gönnen. Ich bin gespannt, ob der Senator Lange, Ihr letzter Mohikaner aus
dem Bildungsbereich in Hamburg, anregen wird, das
4-Milliarden-Bund-Länder-Programm als Versuchsprogramm zu finanzieren - 50 Prozent vom Bund und 50 Prozent von den Ländern -, um damit ein 8-Milliarden-Programm zu bekommen.
({7})
- Sie hatten angeregt, ein Modellprogramm zu machen.
Ich sage Ihnen dazu nur: Die Zeit für Modellprogramme
geht an der Wirklichkeit der Menschen vorbei. Die Menschen erwarten, dass das Vorhaben Schritt für Schritt Realität wird und nicht in Modellen stecken bleibt.
({8})
Fazit: Es mag sein, dass man in zehn oder 15 Jahren
manches vergessen haben wird, was diese Bundesregierung von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Edelgard
Bulmahn eingeleitet hat. Man wird sich an den Schulen
und in der deutschen Bildungsgeschichte aber ganz gewiss
daran erinnern, dass mit dieser Bundesregierung die Umwandlung des nicht mehr zeitgemäßen Halbtagsschulsystems in Deutschland in ein besseres Angebot für Kinder,
Eltern und Lehrer, in Ganztagsangebote begonnen worden
ist. Dafür lohnt es zu kämpfen, und in 15 Jahren freuen Sie
sich, freuen wir uns und freuen sich vor allem die Kinder.
Danke.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen
- Drucksache 15/396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gemessen an der Furore, die der Ladenschluss in
der Vergangenheit ausgelöst hat, ist die Teilnahme an der
Debatte hier eher etwas gering. Aber vielleicht ist das
Thema auch schon über die letzten Jahre, wenn nicht
Jahrzehnte zu oft debattiert worden, als dass noch Neues
dabei zu finden wäre. Die Konfliktlinien sind seit Jahr und
Tag gleich. Die Auffassungen reichen von einer Befürwortung der völligen Abschaffung des Ladenschlussgesetzes bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des geltenden Rechts. Dabei bestimmen häufig nicht die
Sachargumente, sondern leider auch viele sehr ideologische und politische Positionen die Diskussion.
Mit dem jetzt vorgelegten Entwurf des Gesetzes zur
Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen setzt die
Bundesregierung auf eine Reform mit einer maßvollen
Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Wir laufen nicht
mit ideologischen Scheuklappen herum. Wir haben uns
den Blick für das Notwendige bewahrt.
Wenn ich das sage, rufe ich noch einmal das Ifo-Gutachten und die Bewertung des Ifo nach der letzten Liberalisierung Mitte der 90er-Jahre in Erinnerung. Für das
Jahr 1999 gilt hier Folgendes: Eine Erweiterung der Ladenöffnung bis 20 Uhr an Werktagen, von Montag bis
Freitag, und an Samstagen bis 16 Uhr, so heißt es, ist von
den Verbrauchern angenommen worden. Das begrüßen
wir ausdrücklich. Vor allem die wochenendnahen Tage
von Donnerstag bis Samstag werden von gut 50 Prozent
der Verbraucher zum Kauf in den verlängerten Öffnungszeiten genutzt.
Wie sieht das Interesse der Verbraucher bezüglich einer weiteren Verlängerung der Öffnungszeiten aus? Im
Ifo-Gutachten heißt es: 45 Prozent der Verbraucher plädieren für die Abschaffung der gesetzlichen Ladenschlusszeiten an den Wochentagen, also von Montag bis Samstag, während sich 36 Prozent dagegen aussprechen. Am
Samstag wollen 46 Prozent eine auf wenige Stunden befristete Öffnung, während sich 44 Prozent der Verbraucher grundsätzlich negativ äußern.
Der Einzelhandel selbst ist ebenfalls außerordentlich gespalten. Die Befürworter und Kritiker der Ladenschlussliberalisierung stehen sich, so hieß es 1999 - drei Jahre
nach der Reform -, in großen Gruppen gegenüber.
Während 32 Prozent der Einzelhändler für eine Ladenöffnung nach 18.30 Uhr eintreten, sind 26 Prozent für eine völlige Aufhebung der gesetzlichen Restriktionen und 40 Prozent für die Schließung der Geschäfte um 18.30 Uhr.
Zu den Befürwortern der vollständigen Liberalisierung
gehören naturgemäß meist die größeren Unternehmen
und Geschäfte, während die kleinen und mittleren Geschäfte dagegen opponieren. Für ein generelles Verbot der
Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen sprechen sich
57 Prozent der Geschäfte aus. 12 Prozent sind für eine
zeitlich befristete Öffnung und 21 Prozent für eine völlige
Aufhebung der Ladenschlussregelung an diesen Tagen.
Das zeigt in der Bewertung der Interessen der größeren
Unternehmen, der kleineren und mittleren Unternehmen,
der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Städte: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten am Samstag um vier Stunden, nämlich von 16 Uhr auf 20 Uhr, ist im Sinne eines
Interessenausgleichs sinnvoll und vernünftig. Vor dem
Hintergrund dieser Gesamtkulisse haben wir uns entschlossen, diesen und keinen anderen Weg zu gehen.
({0})
Ich glaube, in dem Regierungsentwurf ist damit auch
eine zeitgemäße und bedarfsorientierte Öffnung vorgesehen. Die Einzelhandelsumsätze - das wissen Sie sehr
wohl - bleiben seit Jahren unter den allgemeinen Wachstumsraten. Die Branche verliert pro Jahr 20 000 bis 30 000
Arbeitsplätze. Der Anteil der Ausgaben der Verbraucher
zugunsten des Einzelhandels ist nach den Berechnungen
des Statistischen Bundesamtes in den letzten zehn Jahren
von 32 Prozent auf 25 Prozent gesunken. Die Differenz,
die ich hier beschrieben habe, fließt heute in andere
Dienstleistungen, zum Beispiel in den Gesundheits- oder
Bildungsbereich.
Mit anderen Worten: Mit der Erweiterung wollen wir
dem Einzelhandel die Chance geben, insbesondere an den
verbraucherstarken Tagen - in diesem Fall geht es um den
Samstag - den Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren.
Das wird gelingen, wenn er sich an den Bedürfnissen der
Verbraucherinnen und Verbraucher orientiert. Seit der
Änderung des Ladenschlussgesetzes im Jahre 1996 hat
der Samstag im Käuferverhalten an Bedeutung gewonnen.
({1})
- Herr Schauerte könnte sich gerade in Bezug auf den Ladenschluss einmal in besonderer Weise für die kleinen
und mittleren Betriebe einsetzen.
({2})
Diese schützen wir mit diesem Gesetz, indem wir ihnen
mehr Spielraum geben; wir liefern sie den großen Unternehmen nicht aus. Das wäre eine gute Sache. Herr
Schauerte, Sie passen ganz gut auf die Plätze der FDP.
({3})
Ein Bedarf an längeren Öffnungszeiten an Samstagen
zeigen auch die Erfahrungen in Niedersachsen mit den
verlängerten Ladenöffnungszeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die Verbraucherinnen und
Verbraucher haben die längeren Öffnungszeiten am
Samstag rege genutzt. Gleichwohl müssen wir auch hier
wiederum zwischen den ländlichen Gebieten und den
großen Städten unterscheiden. Das, was wir hier sehen,
ist hochdifferenziert. Ich hoffe sehr darauf, dass die Debatte heute nicht wieder schwarzweiß wird. Sie muss dieser differenzierten Situation angemessen Rechnung tragen.
Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unternehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung des
Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche einzustellen und
ihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen
anzupassen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein Geschäft bis 20 Uhr offen zu
halten.
({4})
Jeder soll nach Maßgabe und geschäftlichem Interesse
seinen Laden offen halten oder ihn schließen, wenn er das
für richtig hält.
({5})
Das ist eine Frage von Angebot und Nachfrage innerhalb eines vernünftigen Zeitraumes.
({6})
Ich will hinzufügen: Die Pflicht zur Schließung um
14 Uhr an Samstagen vor verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen werden wir aufheben. Auch das ist vernünftig. Es
war den Verbraucherinnen und Verbrauchern bereits in
der Vergangenheit nicht zu vermitteln, dass zwar ein
Sonntagsverkauf bei bestimmten Anlässen genehmigt
wird, sie aber am vorhergehenden Samstag bereits um
14 Uhr vor verschlossenen Türen stehen müssen. Auch
hier haben wir mit dem Gesetzentwurf vereinfacht und
modernisiert. Zehn Regelungen werden aufgehoben. Wir
werden unter anderem die Vorschriften für Warenautomaten und Friseurbetriebe aus dem Ladenschlussgesetz
streichen. Eine Notwendigkeit für diese Regelungen ist
nicht mehr erkennbar.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält - das
will ich noch einmal sagen - eine maßvolle Anpassung
der Ladenöffnungszeiten, die die veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt, die Ergebnis umfänglicher Vorarbeiten, Anhörungen und wissenschaftlicher
Untersuchungen ist und die vor diesem Hintergrund eine
Balance zwischen den sehr unterschiedlichen Interessen
darstellt.
({7})
Ich bin schon auf die aus Bayern angekündigten Initiativen gespannt. Ich erinnere mich zum Beispiel an die
Auffassung der Religionsgemeinschaften zu dieser Debatte, die an uns herangetragen worden ist.
({8})
Sie befürchten, dass an den Wochenenden nicht mehr
genügend Zeit für die Familie bleibt
({9})
und dass in erster Linie Frauen, die als Arbeitnehmerinnen
im Einzelhandel tätig sind, die Betroffenen sind.
Ich bitte Sie: Lassen Sie uns nicht das Kind mit dem
Bade auskippen.
({10})
Lassen Sie uns die Bereiche regeln, die in Übereinstimmung mit dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, dem HDE, realisiert werden können. Der Präsident
des HDE hat ganz klar und deutlich gesagt:
Jetzt muss endlich Schluss sein mit der Diskussion
über weitere Vorschläge für eine Ladenschlussreform. Wir brauchen die Änderung des Ladenschlussgesetzes möglichst schnell, aber keineswegs noch
mehr lange Debatten über Vorschläge, die sich dann
auch noch gegenseitig blockieren.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns den vorliegenden Gesetzentwurf bitte sachlich beraten und zügig beschließen.
Der Einzelhandel und die Verbraucherinnen und Verbraucher warten schon darauf.
Schönen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Kues,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Staatssekretär, zu dem, was Sie vorgetragen und wie Sie begründet haben, was mit diesem Gesetzentwurf alles an Problemen gelöst wird, kann ich nur feststellen: Das ist nichts
Ganzes und nichts Halbes, weil Sie keine Linie haben.
({0})
Uns sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Wir wollen, dass
der Sonntag konsequent geschützt wird.
({1})
Zweitens. Wir wollen, dass den Werktagen die bürokratischen Fesseln genommen werden. Das sind unsere
Punkte.
({2})
- Für unsere Fraktion erkläre ich: Wir legen großen Wert
darauf, dass der Sonntag eine Angelegenheit der Nation
bleibt. Er ist ein Kulturgut und damit wichtig. Er soll nicht
angegriffen werden. Wir wollen, dass am Sonntag Zeit für
Familien, Verwandte und Freunde bleibt. Er ist auch für
soziale und gesellschaftliche Kontakte wichtig. Er ist
auch als Ruhepause wichtig. Er gehört zum Sieben-TageRhythmus: Man muss zur Besinnung kommen können,
Sport treiben können, und wer möchte, muss auch für die
Kirche Zeit haben. Das ist unser Anliegen beim Sonntag.
({3})
Die Zeit am Sonntag - das ist eine jahrhunderte-, jahrtausendealte Tradition - ist nicht unmittelbar von Nützlichkeitserwägungen bestimmt. Das ist unseres Erachtens
der wichtige Punkt. Deswegen sagen wir: Der Sonntag
soll bleiben, wie er ist; die Menschen sollen ihn für sich
haben.
Auf der anderen Seite sagen wir aber auch: Wir wollen
keine bürokratischen Regelungen an den Werktagen,
die Schritt für Schritt verändert werden. Vertrauen wir darauf, dass in den Regionen eine vernünftige Entwicklung
in Gang kommt.
({4})
Man muss auf dem Land andere Regelungen finden können als in der Stadt. Einzelhändler, die sich auf gemeinsame Werbemaßnahmen verständigen, werden sich auch
auf vernünftige Öffnungszeiten verständigen können.
({5})
Wir setzen auf die Vernunft der Leute. Wir setzen auf Subsidiarität. Die Menschen sollen selbst entscheiden können, wann es sich für sie lohnt und unter welchen Umständen es sich privat und familiär einrichten lässt, die
Öffnungszeiten zu verändern.
({6})
Auch wir vertreten die Position - das sage ich ganz
deutlich -, dass keiner seinen Laden öffnen muss. Die
Frage ist, ob er ihn öffnen darf. Diese Freiheit wollen wir
ihm an den Werktagen lassen.
({7})
Ich bin sicher, dass es vernünftige Regelungen geben
wird. Es ist klug, wenn sich der nationale Gesetzgeber auf
einen zentralen Punkt konzentriert, nämlich auf den Sonntagsschutz. Auf der anderen Seite sollten wir uns aber zu
unbürokratischen Regelungen für die Werktage bekennen.
Diejenigen, die einfallsreich sind, die etwas unternehmen
wollen, die eine besondere Dienstleistung anbieten wollen,
dürfen in Deutschland nicht gezwungen sein, erst eine Tankstelle pachten zu müssen, damit das machbar wird.
({8})
Das ist der falsche Weg. Wir wollen mehr Freiheit für die
Menschen.
Die Argumente wurden alle schon genannt. Ich glaube
nicht, dass es zu einem Rund-um-die-Uhr-Einkauf kommt,
weil der Kunde zwar König ist, aber auch Nachtruhe
braucht. Das wird sich einpendeln. Wir stellen ja bereits
fest, dass die jetzigen Öffnungszeiten keineswegs völlig
ausgenutzt werden.
Die Frage, was mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird, ob sie übermäßig belastet werden, lässt sich
klären. Es gibt andere Regelungen, durch die dem Missbrauch ein Riegel vorgeschoben wird. Es gibt tarifliche
Vereinbarungen. Die wöchentliche Arbeitszeit beläuft sich
im Schnitt auf 37,5 Stunden. Es gibt das Arbeitszeitgesetz,
das dort greift, wo keine tariflichen Regelungen getroffen
wurden. Wir brauchen eine Lösung, die Spielraum lässt für
Fantasie und die vor allem denjenigen Möglichkeiten
schafft, die im Dienstleistungsbereich ein Angebot machen wollen, anstatt arbeitslos zu sein und ihr Geld vom
Arbeitsamt zu beziehen. Das sollten wir unterstützen.
({9})
Wenn man sich im Übrigen mit dem Werdegang dieses
Gesetzentwurfes beschäftigt, bekommt man eine Ahnung
davon, wie Sie Politik machen. Sie leben mit Ihren politischen Initiativen von der Hand in den Mund. Sie wissen
heute nicht, was Sie sich morgen vornehmen wollen, und
tun so - Herr Staatssekretär, das klang auch in Ihrer Rede
an -, als wenn man Politik durch Symbolik ersetzen
könnte. Noch Anfang Dezember, also vor gut zwei Monaten, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage des Kollegen Jüttner geantwortet, eine Änderung des Ladenschlussgesetzes sei nicht vorgesehen. Jetzt will sie plötzlich ein
Zaubermittel entdeckt haben und dadurch den Eindruck
erwecken, als würden mutige Entscheidungen gefällt. Das
ist keine mutige Entscheidung, sondern eine bürokratische
Entscheidung. Die hilft uns nicht weiter!
({10})
Denn wir befinden uns auf dem Arbeitsmarkt, bei der
steuerlichen Belastung, bei den Abgaben und bezüglich
der Sozialsysteme in einer wirtschaftlichen Strukturkrise ungeahnten Ausmaßes. Im Verhältnis dazu ist der
Ladenschluss geradezu eine Bagatelle. Das ist Politik nach
der Devise „Heute so, morgen vielleicht ganz anders!“ Ihr
Motto scheint zu lauten: Als sie das Ziel aus den Augen
verloren hatten, verdoppelten sie die Anstrengungen.
Unser Ansatzpunkt - das will ich noch einmal klar sagen - ist eindeutig: Zur Sieben-Tage-Woche gehört ein
freier Tag. Das ist Kultur und Tradition. Das muss der Gesetzgeber schützen. Wie sich das auf Dauer entwickeln
wird - diese persönliche Bemerkung sei mir gestattet -,
hängt nicht in erster Linie vom staatlichen Rahmen ab,
sondern davon, ob wir als Bürgerinnen und Bürger den
Sonntag praktizieren, ob wir ihn also durch unser Verhalten inhaltlich füllen. Wenn er zu einer leeren Hülle verkommt - das sage ich auch ganz deutlich -, dann ist er auf
Dauer immer schwerer zu verteidigen.
Ich bin dafür, lieber weniger zu regeln und das gescheit, als alles Mögliche regeln zu wollen, neue Bürokratie zu produzieren, im Endeffekt das eigentliche Ziel
aber aus den Augen zu verlieren.
Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung.
({11})
Wir haben im Wahlkampf viel über die Bedeutung der
Familien geredet. Hinbekommen haben wir in der letzten
Legislaturperiode wenig und in dieser eigentlich so gut
wie gar nichts. Politik muss auch Zeit für Familien sichern. Ich glaube, die erfolgreichste familienpolitische
Leistung der letzten Jahre und der künftigen Jahre wird es
sein, dass wir den Sonntag verteidigen. Denn das, glaube
ich, gibt Zeit für Familien, gibt Zeit für Kinder, gibt Zeit
für Freunde;
({12})
das muss unser Ziel sein. Unnötige bürokratische Regelungen haben hier nichts zu suchen.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden heute über den von der Regierungskoalition eingebrachten Antrag zur Erweiterung der Ladenöffnungszeiten am Samstag. Diese Debatte hat eine
lange Vorlaufzeit, wie wir eben gehört haben.
({0})
Bei dieser Erweiterung geht es schlichtweg um eine logische Folgerung der Änderungen des Jahres 1996, weil
sich seit 1996 herausgestellt hat, dass der Samstag von
den Konsumentinnen und Konsumenten sehr viel deutlicher und sehr viel stärker angenommen wird als erwartet.
Insofern ist es logisch und konsequent, insbesondere den
Samstag bis 20 Uhr freizugeben.
({1})
Eine weitere Maßnahme in diesem Gesetzentwurf ist
die Herausnahme der Friseurgeschäfte aus dem Ladenöffnungsgesetz, was ich für sehr sinnvoll halte. Es werden
insgesamt zehn Verwaltungsvorschriften gestrichen. Die
Sonntage bleiben von diesen ganzen Regelungen unberührt.
Die Diskussion um die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten zerfällt eigentlich in zwei Diskussionskomplexe. Zum einen geht es immer wieder um die Rechte
der Beschäftigten, insbesondere bei den Gewerkschaften. Zum anderen geht es um mehr Verbraucherfreundlichkeit. Gerade bei der Verbraucherfreundlichkeit müssen auch wir als Politik zur Kenntnis nehmen, dass sich
die Bedarfsstrukturen in den letzten Jahren und Jahrzehnten einfach völlig verändert haben. Was wir brauchen, ist
gerade bei den Ladenöffnungszeiten mehr Familienfreundlichkeit.
({2})
Hierbei geht es um eine Entzerrung von Arbeitszeit und
Einkaufszeit. Da läuft heute vieles nicht mehr zusammen,
und das macht eine Flexibilisierung dieser Zeiten notwendig. Man muss wissen: Zwei Drittel aller Beschäftigten in Deutschland wollen eine Liberalisierung und
50 Prozent aller Verbraucher wollen sie ebenfalls.
Die andere Seite ist natürlich die Diskussion um die
Rechte der Beschäftigten. Aber hier muss man ganz klar
und offen sagen: Es geht nicht um Mehrarbeit für die
Menschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, es geht
um eine andere Verteilung der Arbeit. Die Arbeit dort ist
in Tarifverträgen geregelt und an diesen Tarifverträgen
will schlichtweg niemand etwas ändern.
Aber es kann nicht sein, dass von rund 90 Prozent der
36 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland eine hohe Flexibilität verlangt wird, was die
Arbeitszeiten angeht - zwei bis drei Schichten sind da
normal -, aber bei einer Gruppe, nämlich den Menschen,
die im Einzelhandel beschäftigt sind, diese Diskussion
hinten runterfällt. Da hat man ein Ungleichgewicht, das
durch nichts zu begründen ist. Der Polizist muss in drei
Schichten arbeiten, die Krankenschwester, der Schichtarbeiter in der Industrie sowieso, Feuerwehrleute und viele
andere auch.
Hier muss man einmal ein deutliches Wort an die
Adresse der Gewerkschaften und eine deutliches Wort an
die Adresse von Herrn Bsirske sagen, auch wenn er Grüner ist. Es kann nicht sein, dass die Gewerkschaften eine
solche Diskussion durch einen wirklichen Strukturkonservatismus ewig behindern. Da muss auch von deren
Seite eine gewisse Offenheit in die Debatte hinein.
({3})
Es kann nicht sein, dass ich als Gewerkschaft auf der
einen Seite - zu Recht, sage ich - mehr Arbeitsplätze einfordere, auf der anderen Seite aber nicht bereit bin, meinen Teil dazu zu leisten. Ich finde es auch völlig verkehrt
- um das an dieser Stelle noch einmal zu sagen -, dass sich
der Herr Zwickel jetzt in einer solchen Diskussion, wie
wir sie hier insgesamt haben, aus dem Bündnis für Arbeit
verabschiedet. Es muss auch einmal anerkannt werden,
dass die Lohnnebenkosten sowohl im Einzelhandel als
auch in anderen Bereichen ein Problem darstellen, das
gelöst werden muss.
Das andere Extrem ist in den Anträgen von FDP und
CDU/CSU die Freigabe der Ladenöffnungszeiten. Eine
völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten würde natürlich eine Menge Probleme mit sich bringen.
({4})
- Ja, auch an Werktagen. Insbesondere die mittelständischen Betriebe und die Klein- und Kleinstbetriebe würden
unter einer solchen Freigabe sehr stark leiden.
({5})
Sie befinden sich heute bereits in einer sehr großen Konkurrenzsituation durch Internethandel, Tankstellen und
Bahnhöfe und vor allen Dingen durch die Discounter und
die großen Einkaufszentren draußen auf der grünen
Wiese.
({6})
Die Geschäfte in innenstädtischen Lagen haben eine
Menge Wettbewerbsnachteile, insbesondere die Kleinund Kleinstbetriebe. Sie haben die Hochbaukosten, müssen Ablösegebühren für Stellplätze zahlen und ein höheres Mietkostenniveau finanzieren. Die Verkaufsflächen
pro Mitarbeiter sind in Innenstädten deutlich kleiner als
draußen auf der grünen Wiese. Die Personalkosten betragen im Innenstadtbereich 16,3 Prozent, auf der grünen
Wiese 7,6 Prozent.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja.
({0})
Nein, das sehe ich nicht. Erstens sind Zwischenfragen
parlamentarisch sehr hilfreich und zweitens wissen Sie,
dass meine Fragen in aller Regel qualitativ sehr hochwertig sind.
Herr Kollege Ulrich, Sie haben gerade zu Recht festgestellt, dass die kleinen Betriebe in Innenstadtlagen in
aller Regel hohe Kosten haben, weil die Mieten dort hoch
sind, weil sie Stellplätze zur Verfügung stellen müssen
und Ähnliches. Würden Sie mir zustimmen, dass die von
Ihnen angesprochenen Kosten unabhängig von der Ladenöffnungszeit immer gleich hoch sind
({0})
- die Miete bleibt gleich, egal, ob ich acht, zwölf oder
24 Stunden am Tag öffne -, dass ich bei Freigabe der Ladenöffnungszeiten aber - wenn ich es möchte, nicht weil
ich es muss - die Möglichkeit hätte, über einen längeren
Zeitraum auch mehr Umsatz zu machen?
({1})
Herr Niebel, die Arbeitskosten sind aber insbesondere
bei den kleinen Unternehmen sehr viel anders verteilt als
bei den großen, die das sehr viel deutlicher und besser
ausgleichen können. Insofern müssen Sie die Arbeitskosten von den Restkosten deutlich trennen. Darin liegt das
Problem.
({0})
Ich möchte mit dem, was ich eben gesagt habe, eigentlich verdeutlichen, dass wir Konzepte brauchen, um dem
klassischen Tante-Emma-Laden auch heute noch Überlebensmöglichkeiten zu geben. Wir brauchen Konzepte für
eine Existenzerhaltung dieser so genannten Tante-EmmaLäden, auch wenn es von der Zahl her bereits heute deutlich weniger gibt als noch vor einigen Jahrzehnten.
„Tante-Emma-Laden“ ist für mich heute einfach eine Umschreibung für Klein- und Kleinstbetriebe.
Die perverseste Form von Einzelhandel, die wir im
Moment in Deutschland haben, sind die so genannten
Factory Outlet Center, die eine generelle Konkurrenz für
unsere Innenstädte darstellen. Wenn man nach Amerika
guckt, stellt man fest, dass sie auch dort zu ganz großen
Problemen geführt haben. In den Vereinigten Staaten
- auch das sollte nicht unerwähnt bleiben - gibt man heute
bereits zig Millionen US-Dollar aus, um die Innenstädte
wieder zu beleben. Dort versucht man eine Entwicklung
zurückzudrehen, in der wir uns gerade befinden. Deshalb
müssen wir von der Politik aus einfach ein Zeichen setzen, um das zu stoppen.
Wir haben bereits in der letzten Runde zu den Ladenöffnungszeiten vom City-Privileg gesprochen, von
dem ich persönlich sehr viel halte, von dem auch wir als
Grüne sehr viel halten. Dabei geht es um eine deutliche
Bevorteilung der Innenstadtlagen gegenüber der grünen
Wiese. Ich denke, man sollte in diesem Haus parteiübergreifend ernsthaft darüber nachdenken, dass man die Entscheidung den Kommunen überlassen sollte. Die Kommunen sollten entscheiden, was eine Innenstadtlage und
was eine grüne Wiese ist, und sie sollten durch eine zeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten den Geschäften in Innenstadtlagen einen größeren Spielraum
und somit auch einen klaren Wettbewerbsvorteil geben.
Dabei gibt es eine Menge Verbündete. Beispielsweise
tritt der Deutsche Städte- und Gemeindetag für ein solches
Innenstadt- oder City-Privileg ein.
({1})
Bestimmte Einzelhandelsverbände, der Zentralverband
des Deutschen Handwerks und eine ganze Reihe von
Bundesländern haben am 30. Januar dieses Jahres im
Bundesrat eine Prüfbitte gestellt, um die räumliche und
zeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten zu
eruieren. Ich denke, auch der Deutsche Bundestag sollte
diesen Gedanken aufgreifen und einmal ernsthaft darüber
diskutieren.
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits
eine ganze Menge Maßnahmen ergriffen, um dem Einzelhandel und auch dem Mittelstand unter die Arme zu greifen. Eine ganz wichtige Maßnahme - auch das soll hier
nicht unerwähnt bleiben - ist die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die persönliche Einkommensteuer. Dadurch
werden insbesondere die Personengesellschaften im Vergleich zu den Kapitalgesellschaften deutlich besser gestellt.
Ein weiterer wichtiger und großer Schritt war der Aufbau eines Niedriglohnsektors. Ich denke, auch hier haben
wir sehr viel erreicht. Der Hauptverband des Deutschen
Einzelhandels rechnet aufgrund dieser Maßnahme mit
100 000 neuen Jobs. Wir haben außerdem dem Mittelstand und insbesondere den kleinen Betrieben - auch das
geht in die gleiche Richtung - durch die Verankerung einer Mittelstandskomponente in Basel II und durch den
Verlustvortrag Vorteile verschaffen können, die sie in der
Vergangenheit nie hatten. Wir, die rot-grüne Koalition
und insbesondere das Bündnis 90/Die Grünen, nehmen
die Probleme des Mittelstands also ernst. Wir tun etwas,
was die heutige Opposition in ihren Regierungszeiten nie
gemacht hat.
({2})
Könnte man sich noch für ein City-Privileg erwärmen,
dann hätte man zusammen mit den eben genannten Maßnahmen ein echtes Gesamtkonzept zur Stärkung von
Klein- und Kleinstbetrieben sowie der Geschäfte in Citylagen.
Mittelstand wurde in der Vergangenheit insbesondere
bei der FDP immer groß geschrieben. Wann immer es aber
um die Umsetzung ging, kam bei Ihnen nur Kleingedrucktes heraus. Das finde ich schade.
Meine Redezeit ist, wie ich gerade sehe, leider um.
({3})
Deshalb nur noch einen Satz: Ich appelliere an das Haus,
über die von mir vorgetragenen Vorschläge ernsthaft
nachzudenken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir
diskutieren heute Nachmittag darüber, ob die Ladenschlusszeiten an Samstagen um weitere vier Stunden verlängert werden sollen. Ich finde diese Debatte peinlich
und auch unnötig, weil der Wirtschaftsstandort Deutschland - man muss sich nur die hohen Steuern und Abgaben
sowie die hohe Arbeitslosenzahl anschauen - große Probleme hat. Trotzdem diskutieren wir über jede weitere
Stunde, um die die Ladenöffnungszeiten verlängert werden sollen. Diese Debatte geht völlig an dem vorbei, was
tatsächlich notwendig wäre.
({0})
Herr Kollege, Sie haben zwar das City-Privileg und
auch viele andere Regelungen angesprochen. Aber das
Beste wäre, wenn wir nicht nur daran dächten, Kosten,
Steuern und Abgaben zu senken, sondern auch mit der
Task Force für den Bürokratieabbau Ernst machten.
({1})
Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll das
Gesetz über den Ladenschluss zukünftig nicht mehr elf,
sondern nur noch neun Seiten umfassen. Insofern sind einige Regelungen - man höre und staune - tatsächlich
weggefallen. Aber es befinden sich noch immer genügend
Klein- und Kleinstregelungen in diesem Gesetz. Ich
möchte Ihnen nur eine einzige vorlesen, die den Geist, der
durch dieses Gesetz weht, sehr deutlich macht. In § 3 des
Gesetzes über den Ladenschluss, den Sie unverändert lassen, steht: „Die bei Ladenschluss anwesenden Kunden
dürfen noch bedient werden.“ Das ist ja prima. Hoffentlich geht das nicht zu weit über 20 Uhr hinaus. Es ist einfach peinlich, dass wir uns in der jetzigen hochbrisanten
Wirtschaftslage auch noch um solche Kleinigkeiten kümmern. Ihnen fehlt der große Wurf.
({2})
Wir haben Sie gebeten, zu unserem Vorschlag einer konsequenten, unbürokratischen Regelung Ja zu sagen, nämlich zu der Abschaffung von gesetzlichen Regelungen
der Ladenschlusszeiten an Werktagen. Auch für uns
bleibt der Sonntag verfassungsrechtlich geschützt. Etwaige Sonderregelungen fallen in die Kompetenz von
Ländern und Kommunen. Der Bund soll damit nichts weiter zu tun haben.
({3})
Alle Bedenken, die gerade von Gewerkschaftsseite
kommen, können wir mit dem Hinweis auf das Arbeitsschutzgesetz für nicht tarifgebundene Firmen, die Branchentarife für tarifgebundene Firmen, die Regelungen zur
Festsetzung der Höchstarbeitszeiten und die Möglichkeiten des Ausgleichs entkräften. Von daher sollte es keine
Probleme geben. Ich finde es aber bedenklich, wenn die
Gewerkschaft Verdi mit Protesten und Demonstrationen
droht
({4})
und ankündigt, dass sie als Ausgleich für die längeren Öffnungszeiten weitere Zuschläge fordern werde. Im Augenblick wird für samstags von 14 bis 16 Uhr ein Zuschlag
von 20 Prozent gezahlt. Diese Regelung möchten die Gewerkschaften auf die Zeit bis 20 Uhr ausdehnen. Ich
möchte nicht, dass es zu einer Änderung des Manteltarifs
in dem Bereich kommt.
({5})
Mein Vorredner, Herr Ulrich, war ja mit erfrischend neuen
Gedanken ausgestattet und hat gesagt: Das geht zu weit.
Auch den Gewerkschaften muss dringend einmal gesagt
werden, wo ihre Grenzen sind.
({6})
Wir können uns nicht das diktieren lassen, was vorgestern
Geltung hatte.
({7})
Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben den HDE genannt. Ich möchte da eine kleine Korrektur anbringen.
Der HDE hat gesagt: Der Gesetzentwurf der rot-grünen
Regierung ist besser als nichts. Wir dürfen demnächst wenigstens samstags vier Stunden länger öffnen. Besser fänden wir natürlich die konsequente Lösung, das Ladenschlussgesetz für Werktage völlig fallen zu lassen.
({8})
- Sechsmal 24 Stunden. Vielen Dank. - Das heißt nicht
- das sage ich noch einmal ausdrücklich -, dass 24 Stunden lang geöffnet werden muss, aber jeder soll die Chance
dazu haben. Auch zum Besten der kleineren mittelständischen Unternehmen soll für jeden und jede die Chance bestehen, in der Zeit zu öffnen, von der er oder sie meint,
branchenspezifisch am besten Umsätze machen zu können.
({9})
Es liegt doch im ureigenen Interesse der Marktteilnehmer, der Anbieter und derjenigen, die Dienstleistungen
nachfragen, dass sie es selbst regeln können. An die Regierungsseite sage ich: Trauen Sie doch den Menschen
mehr zu!
({10})
Wir brauchen Gott sei Dank nicht überall politische Eingriffe und gesetzgeberische Maßnahmen. Wir brauchen
keinen Gesetzgeber, der den Schlüssel der Ladentür herumdreht und den Marktteilnehmern vorschreibt, wann sie
was wie machen dürfen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Die Lage des Handels ist
dramatisch. Für das Jahr 2003 - Sie wissen es - wird ein
weiterer Umsatzrückgang von 1,5 Prozent prognostiziert.
Auch die stark gestiegenen Kosten für Energie sowie die
stark gestiegenen Steuern und Abgaben und der Konsumverzicht der Verbraucher setzen dem Handel enorm zu.
({11})
Das sind die Probleme! Wir können den Marktteilnehmern auf diesem Gebiet wenigstens zu etwas mehr Freiheit - weniger Bürokratie, weniger Vorschriften - verhelfen. Deshalb kann es eigentlich nur eine logische
Konsequenz geben, nämlich die, dass das gesamte Haus
den Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion beschließt.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich zuerst einmal zu
dem Stellung beziehe, was der Kollege Kues gesagt hat.
Ich erinnere daran, dass wir im Dezember den Gesetzentwurf der FDP und den Antrag der CDU/CSU beraten haben, in denen es darum ging, die Ladenöffnung praktisch
rund um die Uhr freizugeben. Wir haben das damals abgelehnt,
({0})
und zwar mit dem Hinweis darauf, dass ein Regierungsentwurf vorgelegt wird und wir diesen Regierungsentwurf
in jedem Fall unterstützen werden.
({1})
Die Regierung hat Wort gehalten. Wir werden auch Wort
halten. Ich werde in meinen Ausführungen auch darlegen,
weshalb wir glauben, dass dies richtig ist.
Wir haben damals gesagt, dass es keinen Sinn hat,
24 Stunden geöffnet zu haben, weil dies nicht dem Bedarf
der Verbraucher entspricht.
({2})
Wir haben dies auch in Gesprächen mit den Arbeitgeberverbänden festgestellt. Uns ist gesagt worden: Es ist
tatsächlich so, dass es für die Zeit nach 20 Uhr keinen Bedarf mehr gibt.
({3})
- Herr Niebel, Ihre Zwischenfrage vorhin war schon qualifiziert und Ihre Zwischenrufe bewerte ich als noch qualifizierter. Von daher bitte ich Sie, Ihre Energie für andere
Dinge zu verwenden, vielleicht für bessere Beiträge, die
Sie ja noch leisten können.
({4})
Der Kollege Kues hat gesagt, wir hätten keine Linie,
bei uns sei das nichts Halbes und nichts Ganzes. Herr Kollege Kues, wenn sich Ihre Linie nur darin äußert, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rund um die Uhr zur
Verfügung zu stehen haben, dann sage ich: Mit uns nicht!
({5})
Ich erinnere daran, dass das Ladenschlussgesetz auch ein
Arbeitsschutzgesetz ist. Wenn Sie unter dem Abbau von
Bürokratie letztlich den Abbau von Arbeitnehmerrechten verstehen - alles deutet darauf hin -, dann sagen wir
noch einmal: Mit uns nicht!
({6})
- Mir wird Angst und Bange, wenn ich aus Ihrem Munde
höre, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
selbstständig sein sollen. Ich lade Sie dazu ein, sich einmal anzuschauen, wie es in den Bereichen aussieht, für
die Sie die Selbstständigkeit verlangen.
({7})
Dort gibt es Personen, die von Menschen, die Ihre Ideologie teilen, am langen Gängelband geführt werden. Ich
wiederhole: Sie sind herzlich eingeladen, sich das einmal
anzuschauen.
Wir haben die Flexibilität betont. Diese Flexibilität
wird für den Zeitraum zwischen 6 Uhr und 20 Uhr gelten,
aber nicht für den Zeitraum zwischen 20 Uhr und 6 Uhr.
Die Kollegin Kopp hat die Tarifhoheit beim Zustandekommen der Tarifverträge betont. Frau Kollegin Kopp,
diese Tarifverträge werden durch die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht beeinflusst. Die vorhandene Tarifhoheit wird strengstens beachtet werden.
({8})
Wir sehen aber immer wieder, dass Sie versuchen, sich
in die Tarifhoheit einzumischen. Dazu sagen wir: Nicht
mit uns! Es gibt einen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften, die darüber verhandeln werden. Mir wäre es lieb
gewesen, wenn Sie sich ähnlich geäußert und die Grenzen
gewerkschaftlichen Handelns aufgezeigt hätten, als die
Ärzte gedroht haben, an einem Tag in der Woche zu streiken, wodurch sie ihrem Auftrag, im Gesundheitswesen jederzeit zur Verfügung zu stehen, nicht nachkommen würden.
({9})
Dies haben Sie nicht getan. Deshalb sage ich Ihnen: Sie
beweisen immer wieder, dass Sie auf einem Auge blind
sind. Das wissen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande. Auch deswegen werden Sie in diesen Kreisen nicht ernst genommen.
({10})
Der Regierungsentwurf enthält die - aus unserer Sicht
passgenaue - Regelung - ich habe schon gesagt, dass wir
darüber mit den Arbeitgeberverbänden gesprochen haben -,
die Ladenschlusszeiten am Samstag von 16 Uhr auf
20 Uhr zu erweitern. Die Läden werden künftig in der Zeit
von 6 Uhr bis 20 Uhr offen sein dürfen; sie dürfen also
maximal 14 Stunden geöffnet haben. Dank der verlängerten Ladenöffnungszeiten an den traditionell umsatzstarken Samstagen können sich Einzelhandelsunternehmen
besser auf die Bedürfnisse der Verbraucher und auf das
Kundenaufkommen einstellen. Durch eine stärkere Kundenorientierung erhalten sie die Chance, die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale des Einzelhandels
voll zu nutzen. Im Vordergrund steht dabei immer stärker
der Dienstleistungs- und Erlebnisaspekt. Das Käuferverhalten hat an Bedeutung gewonnen und dem trägt die
Regierung mit ihrem Gesetzentwurf Rechnung.
Der Gesetzentwurf der Regierung berücksichtigt den
im Ladenschlussgesetz enthaltenen Ausgleich zwischen
den Interessen der Beschäftigten, der Geschäftsinhaber
und der Verbraucher. Das Thema Ladenschluss - dies ist
allen in diesem Hause bekannt - wird von weiten Teilen
der Gesellschaft diskutiert. Die Lockerung des Ladenschlusses dürfte deshalb kein Tabu sein und sie ist in unserer Fraktion nie ein Tabu gewesen.
({11})
Die Opposition hat, wie erwähnt, weiter gehende Vorschläge, die insbesondere den Arbeitsschutz betreffen,
aufheben wollen. Ich wiederhole: Wir werden das nicht
mitmachen.
({12})
- Ihnen muss einmal der Sinn des Ladenschlussgesetzes
klar werden.
Mit dem Gesetzentwurf der Regierung bleibt es bei der
Begrenzung der Öffnungszeit an den übrigen Werktagen
bis 20 Uhr. Die Beschäftigten werden weiterhin vor
ungünstigen Arbeitszeiten, insbesondere in den späten
Abendstunden, geschützt. Aus dem gleichen Grund setzen wir uns auch - zumindest dies scheint in diesem
Hause unstrittig zu sein - für den Erhalt der Sonn- und
Feiertage als gesetzlich geschützte Ruhetage ein.
Die Diskussionen und die Debatten über dieses Thema
machen deutlich, dass es uns gelingen muss, eine Balance
zwischen den Interessen der Unternehmen und den Interessen der Beschäftigten im Einzelhandel herzustellen.
Wir wissen durchaus, dass wir mit diesem Gesetz nicht
alle Probleme im Einzelhandel lösen. Wir wissen, dass die
Problematik der Belebung der Innenstädte damit in keiner Weise behoben wird. Die Novelle des Ladenschlussgesetzes ist nur eine Facette, bei der mit positiven Impulsen zu rechnen sein wird.
Wir werden nach der Änderung des Ladenschlussgesetzes weitere notwendige Initiativen ergreifen müssen.
Wir werden uns damit zu beschäftigen haben, inwieweit
das Bauordnungs- und Planungsrecht, das in die Hoheit
der Länder fällt, dahin gehend geändert werden muss, um
die Innenstädte stärker zu beleben. Wir werden uns mit
der großflächigen Ansiedlung von Einkaufszentren auf
der „grünen Wiese“ beschäftigen müssen. Wir werden darüber zu reden haben, inwieweit auch auf diesem Gebiet
Eingriffe möglich sind.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp gestatten?
Der Frau Kopp antworte ich immer gern.
Das ist sehr nett; herzlichen Dank, Herr Kollege
Grotthaus. - Sie haben eben ausgeführt, wenn ich es richtig verstanden habe, dass unser Gesetzentwurf arbeitsrechtliche Regelungen beschneiden wolle. Würden Sie mir
bitte sagen, an welcher Stelle wir dieses beabsichtigen?
Das Ladenschlussgesetz beinhaltet keine Fragen des
Arbeitszeitgesetzes, sondern ist ein Arbeitsschutzgesetz,
({0})
das dem Schutz der Interessen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer dient. Von daher greifen Sie, wenn Sie
es den Läden gestatten wollen, rund um die Uhr zu öffnen,
({1})
unmittelbar in schutzwürdige Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Nichts anderes beabsichtigen Sie.
({2})
Ich halte also fest: Einen allumfassenden Anspruch in
Bezug auf die Revitalisierung der Innenstädte erhebt dieses Gesetz nicht. Es wäre auch der falsche Ansatz, alle
Probleme des Einzelhandels und seiner Beschäftigten
über dieses Gesetz regeln zu wollen. Wir ermöglichen es
den Einzelhandel mit diesem Gesetz, die Handelsumsätze
voll abzuschöpfen, indem wir die Öffnungszeiten gemäß
den Verbraucherbedürfnissen regeln und anpassen. Hier
hat, wie wir meinen, die Regierung solide gearbeitet und
einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss vorgelegt.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das grundlegende Ziel des Regierungsentwurfs: Die Bundesregierung
reagiert mit dieser Gesetzesvorlage auf ein verändertes
Verhalten der Verbraucher, in deren Interesse eine Ausweitung der Öffnungszeiten an Samstagen liegt. Die Festlegung auf um vier Stunden verlängerte Öffnungszeiten
am Samstag zielt wiederum darauf ab, die Beschäftigten
des Einzelhandels vor Tätigkeiten zu sozial ungünstigen
Zeiten zu schützen. Wir haben dies getan, um dem
tatsächlichen Verbraucherverhalten, wie ich es gerade beschrieben habe, Rechnung zu tragen. Dabei kommt unsere
Gesetzesvorlage, die ja schon einen Kompromiss darstellt, wie wir meinen, gut weg. Uns wurde bei den Gesprächen mit den Verbänden signalisiert, dass diese Lösung tatsächlich kompromissfähig ist. Von daher sehen
wir der Anhörung, die am 10. März stattfinden wird, mit
Interesse entgegen und sind gespannt, ob dann die Verbände, die mit uns geredet haben, dies ebenfalls noch einmal in aller Öffentlichkeit bestätigen werden.
Dies deckt sich im Übrigen auch - Herr Staatssekretär
Staffelt hat es schon erwähnt - mit den Erfahrungen aus den
Versuchen mit verlängerten Ladenöffnungszeiten anlässlich der EXPO. Ich bin mir sicher, dass diese Fakten dazu
dienen werden, nach der Anhörung zu einem Kompromiss
in diesem Haus zu kommen. Ich bin mir auch sicher, dass
bei der zweiten und dritten Lesung die Gemeinsamkeiten
doch ein bisschen stärker herausgestellt werden.
Es kommt, so meine ich abschließend festhalten zu können, darauf an, den gesellschaftlichen Wandel zu gestalten
und uns nicht von ihm überrollen zu lassen; das will doch
keiner von uns. An dieser Stelle hat die Bundesregierung
gehandelt, gestaltet und modernisiert. Daran mitzuwirken
sind alle, Herr Kollege Ulrich, eingeladen. Deswegen habe
ich mit Freude Ihre Bemerkung zum Gewerkschaftskollegen Bsirske, der ja Ihr Parteikollege ist, wahrgenommen.
Sie können in den nächsten Wochen die Gelegenheit nutzen, den Kollegen Bsirske davon zu überzeugen,
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
- dass er diesem Entwurf zustimmt. Auch darauf sind
wir gespannt.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Bevor ich dem Kollegen Singhammer das Wort erteile,
erhält der Kollege Niebel Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Grotthaus, entsprechend Ihrem Wunsch, meine Energie
nicht in einen Zwischenruf zu stecken, sondern sie anderweitig zu verwenden, werde ich das in einer Kurzintervention tun.
({0})
Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, es gebe keinen Bedarf für Einkäufe nach 20 Uhr. Nun möchte ich Ihnen
nicht die Pflicht aufdrücken, sich einmal kundig zu machen
und Informationen darüber einzuholen, weshalb an Tankstellen, in Bahnhöfen und auf Flughäfen eingekauft wird.
({1})
Aber Sie selbst sind wahrscheinlich auch schon öfter in
der Situation gewesen, dass Sie nach 20 Uhr und vor
22 Uhr beim Edeka im Bahnhof Friedrichstraße eingekauft haben. Da stehen die Schlangen bis in die Bahnhofsvorhalle und die Leute werden nur kontingentiert hereingelassen. So hoch ist der Bedarf um diese Zeit.
Ich habe zwar im „Kürschner“ gelesen, dass Sie Mitglied der IG BCE und der IG Metall sind, ich habe aber
nicht finden können, dass Sie einmal Einzelhändler oder
gar Lebensmitteleinzelhändler gewesen wären. Deswegen frage ich Sie, welches Recht Sie sich als Gesetzgeber
eigentlich herausnehmen, wenn Sie jemandem sagen wollen, wann er arbeiten und wann er nicht arbeiten darf. Mit
welchem Recht versuchen Sie, uns zu unterstellen, wir
wollten den Arbeitsschutz abbauen, obwohl doch das Arbeitszeitgesetz in Kraft bleibt, Tarifverträge und arbeitsvertragliche Regelungen in Kraft bleiben, kein Mensch im
Einzelhandel wird mehr arbeiten müssen, als das heute
der Fall ist, und sich nur die Arbeitszeiten den Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft anpassen?
Als Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
sollten Sie wissen, dass viele Berufsgruppen in diesem
Land nicht von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr arbeiten. Sie selbst gehören einer solchen Berufsgruppe im
Moment an. Es gibt Freiberufler, die an jedem Wochenende in ihrem Büro, ihrer Kanzlei oder ihrer Praxis sind.
Es gibt Krankenschwestern, die zu allen Tages- und
Nachtzeiten arbeiten. Das gilt ebenso für Feuerwehrleute,
Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten
und eine Vielzahl weiterer Berufsgruppen. Einzig das
antiquierte Ladenschlussgesetz wollen Sie aus ideologischen Gründen aufrechterhalten.
Geben Sie den Menschen die Freiheit, selber zu entscheiden, wann sie ihre Geschäfte öffnen bzw. wann sie
konsumieren! Was Sie uns hier verkaufen wollen, ist hinterwäldlerische, mittelalterliche Politik.
({2})
Herr Kollege Grotthaus, möchten Sie antworten? Bitte schön.
Herr Kollege Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
meine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochen haben.
Ich bin stolz darauf, schon fast 40 Jahre in der Gewerkschaft zu sein. Sie sollten einmal überlegen: Vielleicht
hätten auch Sie, wenn Sie Mitglied einer Gewerkschaft
wären, einen anderen Sozialisationsprozess erlebt und
vielleicht hätten Sie dann für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Staat mehr Verständnis; denn das
vermisse ich bei Ihnen sehr oft.
Ich spreche Sie deswegen persönlich an, weil Sie mich
auf meine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochen
haben. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich bin stolz darauf.
Wenn man uns Sozialdemokraten als Gewerkschafter bezeichnet, dann empfinde ich das nicht als Schimpfwort,
sondern als Lob, da wir uns für die Menschen in diesem
Staat einsetzen, die Hilfe brauchen.
({0})
Zu dem, was Sie zu den Einkäufen an Tankstellen,
Flughäfen und Bahnhöfen gesagt haben: Das erlebe auch
ich, Herr Kollege Niebel, aber ich sehe ebenso, wie viele
Menschen dort stehen. Sie können nicht Berlin mit der
Stadt, aus der ich komme, oder mit anderen Mittelzentren
vergleichen.
({1})
Ist es denn so wichtig, nach 20 Uhr einkaufen zu können? Ist es nicht sinnvoll, abzuwägen, ob die Arbeitnehmerinteressen, die Interessen des Einzelhandels und die
Verbraucherinteressen in Übereinstimmung gebracht
werden können?
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben uns mit dem
HDE unterhalten.
({2})
- Dann werden wir ja eine sehr interessante öffentliche
Anhörung haben. - Der HDE hat uns gesagt, der Bedarf
sei nach 20 Uhr nicht mehr vorhanden.
({3})
Wir werden uns an diesen Bedarf anpassen. Von daher
stellt sich für uns diese Frage nicht. Wir orientieren uns
nicht an der einzelnen Tankstelle in einem bestimmten
Gebiet, in dem es vielleicht nicht viele Einzelhändler
gibt, sondern wir sorgen dafür, dass die Familie an Samstagen, wenn sie komplett ist, ihren Erlebniseinkauf tätigen kann.
Von daher werden Sie uns von unserem Entschluss,
dem Regierungsentwurf zuzustimmen, nicht abbringen
können. Da nützen noch so viele Kurzinterventionen und
Zwischenfragen nichts.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland kann sich halbe Sachen nicht mehr leisten. Vor wenigen Tagen, am Montag dieser Woche, haben
Zehntausende Einzelhändler, Gastronomen und Handwerker einen verzweifelten Hilferuf an die Politik gerichtet und gegen die rot-grüne Bundesregierung demonstriert: Tausende in München, Tausende in Berlin,
Tausende in Hamburg, Tausende in Düsseldorf. Insgesamt
haben in den vergangenen zwei Wochen mehr als
200 000 Menschen in Deutschland auf Protestkundgebungen ihren Unmut zum Ausdruck gebracht.
Wenn Einzelhändler und Handwerksmeister ihr Geschäft verlassen, Umsatzverluste in Kauf nehmen und
sich bei Schnee und Kälte vielleicht zum ersten Mal an einer Demonstration beteiligen, dann muss die Situation in
Deutschland schon dramatisch sein. In der Tat: Der Einzelhandel hat im vergangenen Jahr das schlechteste Ergebnis seit dem Kriegsende 1945 zu verkraften. Auch die
Vorhersagen für das eben begonnene Jahr 2003 geben wenig Anlass zur Hoffnung: 9 000 Konkurse im vergangenen
Jahr, 9 000 Konkurse in diesem Jahr. Solch düstere Prognosen erreichen uns. In wenigen Wochen - das fürchten
wir alle - wird in Deutschland die Schallmauer von 5 Millionen Arbeitslosen überschritten.
Die Botschaft nicht nur dieser Demonstranten, sondern
aller Menschen in Deutschland an die politisch Verantwortlichen ist klar und eindeutig: Schluss mit unnötigen
Vorschriften, die blockieren! Weg mit hemmender Bürokratie! Öffnet die Schranken für mehr Eigenverantwortung und Freiheit! Gebt dem Handel Entscheidungsfreiheit über Ladenöffnungszeiten!
({0})
Macht keine halben Sachen, sondern klare und einfache
Lösungen!
Der rot-grüne Gesetzentwurf, nur an Samstagen die
Öffnungszeiten zu verlängern, genügt nicht. Sie von RotGrün sprechen immer wieder von Reformen und Reformtempo. Das Zustandekommen Ihres Gesetzesvorschlages
ist dafür wieder ein schlechtes Beispiel: Die Bundesregierung hat für die Regelung, die Öffnungszeiten um nur
vier Stunden pro Woche zu erweitern, ein halbes Jahr
benötigt. Mit diesem Tempo werden Sie der Situation in
Deutschland nicht gerecht.
Unser Vorschlag, der der Union, ist klar und großzügig
und beinhaltet keine zusätzliche Bürokratie: Erstens. Wer
einkaufen will, soll das künftig rund um die Uhr tun können. Zweitens. Sonntage und Feiertage bleiben uns heilig.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Mit dieser Regelung
haben alle Ladenunternehmer die gleichen Chancen wie
bisher Tankstellen und Geschäfte in Bahnhöfen oder in
Flughäfen. Jetzt werden Ladenbesitzer nicht mehr gegenüber dem zunehmenden Internethandel benachteiligt,
der ohne Ladenöffnungsregeln rund um die Uhr anbieten
kann. Familien mit Kindern können Kindererziehung,
Büro- und Berufszeiten, Haushalt und Einkauf besser planen. Die Unternehmer haben die Chance, sich exakt die
Tageszeiten herauszusuchen, die für sie am interessantesten und am besten sind. Ein Öffnungszwang, wie er immer wieder unterstellt wird, existiert nicht, sondern Öffnungsfreiheit.
Rot-Grün bleibt dagegen beim alten Wahlspruch seiner
Regierungszeit in den vergangenen viereinhalb Jahren:
Wo immer eine Schwierigkeit auftaucht, sehen Sie
zunächst die Probleme und nicht die Chancen. Wir sagen:
Wir müssen die Chancen erkennen. Mut lohnt sich und
Angst lähmt.
({1})
Richtig ist natürlich, dass dies für die einzelne Verkäuferin und den einzelnen Verkäufer zu Umstellungen
führen wird. Aber das Arbeitszeitgesetz ändert sich entgegen dem, was Sie, Herr Grotthaus, soeben gesagt haben, dadurch nicht. Vielmehr wird in ihm für jeden die
maximale tägliche Arbeitszeit festgeschrieben. Die Verteilung der Arbeitszeiten sowie Zuschläge für mehr Frühoder Spätarbeit können und werden die Tarifvertragsparteien regeln, wie sie das bisher auch getan haben. Ich
meine, es ist in vielen Fällen besser, künftig nach 18 Uhr
eine Stunde mehr zu arbeiten und dafür mehr Sicherheit
in Bezug auf den Arbeitsplatz zu haben, als keinen Arbeitsplatz mehr zu haben. In vielen Bereichen ist es für die
Beschäftigten besonders attraktiv - das zeigt sich derzeit
in den Tarifverträgen -, während der späten Ladenöffnungsstunden beschäftigt zu sein.
Die Rentabilität wird steigen. Längere Ladenöffnungszeiten führen zu verbesserten Betriebsergebnissen.
Eine Untersuchung des Kölner Instituts für Handelsforschung zeigt, dass die Verlängerung der Ladenöffnungszeit um eine Stunde die Umsatzrendite statistisch um
0,14 Prozentpunkte erhöht. Das heißt also, mehr Gelegenheit kann auch mehr Umsatz bringen.
Ihnen von Rot-Grün passt das nicht. Nachdem der Chef
der SPD-Fraktion, Herr Müntefering, die Devise ausgegeben hat „Weniger privater Konsum, dafür mehr Geld
für den Staat!“, macht Ihre Politik in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten natürlich Sinn.
({2})
Wir halten diese Weichenstellung allerdings für grundsätzlich falsch.
({3})
- Sie haben sich in manchen Bereichen durchaus als frei
denkender Kollege gezeigt, deshalb nehme ich den Zwischenruf gerne entgegen.
Besonders mittelständischen Betrieben bieten sich
neue Chancen, trotz aller Schwierigkeiten bei der Umstellung. Es steht nirgendwo geschrieben, dass nur große
Konzerne und Verkaufsketten von einer Freigabe des Ladenschlusses profitieren. Die flexiblen Öffnungszeiten
für kleine Betriebe eröffnen auch neue Chancen. Es ist
nicht so, dass Tante Emma - falls sie überhaupt noch existiert - jetzt plötzlich 24 Stunden hinter der Ladentheke
stehen müsste, um konkurrenzfähig zu bleiben.
({4})
Das ist nicht das Thema. Jeder hat künftig die Chance, die
für ihn günstigsten Geschäftszeiten herauszusuchen.
Noch etwas: Anwohner von Geschäften brauchen keine Angst vor Lärm rund um die Uhr zu haben; denn selbstverständlich gelten auch weiterhin die Lärmschutzvorschriften.
Offene Läden während der Woche und Ruhe an Sonnund Feiertagen, das ist die richtige Balance zwischen Freiheit und Respekt vor den kulturellen und religiösen
Grundfundamenten unseres Landes.
Wenn Rot-Grün das Wort Reform in den Mund nimmt,
dann bedeutet das meist Stillstand, Zögerlichkeit und
halbe Sachen. Wir wollen den Aufbruch, damit es den
Menschen in Deutschland wieder besser geht.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Manfred Zöllmer, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Singhammer, ich muss leider feststellen: Sie haben argumentativ sehr schwach begonnen,
dafür dann aber ganz stark nachgelassen.
({0})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird das Ladenschlussgesetz modernisiert. Der
Samstag wird den anderen Werktagen gleichgestellt und
die Pflicht zur Schließung um 14 Uhr vor verkaufsoffenen
Sonntagen wird aufgehoben. Der Sonntag bleibt geschützt. Diese Regelung ist bedarfsorientiert und zeitgemäß. Damit wird das Ladenschlussgesetz den Wünschen und Bedürfnissen der Verbraucherinnen und
Verbraucher und des Einzelhandels angepasst.
({1})
Mit dieser Änderung werden aber auch die Belange der
Beschäftigten berücksichtigt. Das unterscheidet unseren
Gesetzentwurf von Ihren Vorschlägen.
({2})
Was will die Opposition? Sie wollen - das haben Sie in
Ihren Beiträgen hier sehr deutlich gemacht - letztendlich
das Ladenschlussgesetz abschaffen, die FDP komplett - ({3})
- Selbstverständlich, das wollte ich auch gerade sagen;
Sie müssen gar nicht hektisch werden.
Es geht darum, dass alle Geschäfte bis zu 24 Stunden
am Tag - bis auf den Sonntag - öffnen können. Ich muss
feststellen: Diese Vorschläge der Opposition sind leider
Ausdruck Ihres politischen Realitätsverlustes.
({4})
Gesetze regeln nun einmal das Zusammenleben der Menschen und sie regeln genauso wirtschaftliche Zusammenhänge. Das Ladenschlussgesetz hat eindeutig und unbestreitbar eine Lenkungs- und auch eine Schutzfunktion.
Diese besteht zu Recht, denn wir müssen, wenn wir über
Öffnungszeiten reden, vier Aspekte berücksichtigen:
Da gibt es das Bedürfnis der Verbraucherinnen und
Verbraucher, möglichst bequem und ohne Zeitdruck einkaufen zu gehen.
Da ist der Einzelhandel, der eine größere Flexibilität bei
den Öffnungszeiten fordert, um seine Umsätze zu erhöhen.
Da ist die Schutzfunktion des Ladenschlussgesetzes.
Es gilt, die notwendigen Arbeitnehmerschutzrechte zu bewahren und zu erhalten - wir haben das hier eben gehört.
Last but not least ist da der Aspekt des Erhalts der Urbanität unserer Städte, des Erhalts der zentralen Funktionen unserer Innenstädte.
Bei einer Reform des Ladenschlussgesetzes müssen
alle vier Aspekte berücksichtigt werden. Verbraucherinnen
und Verbraucher kaufen ein, um ihren täglichen Bedarf zu
decken. Das Stichwort Erlebniseinkauf zeigt aber, dass
Einkaufen heutzutage auch andere Bedürfnisse befriedigt.
Untersuchungen haben längst belegt, dass der Samstag
eine entscheidende Bedeutung für das Kaufverhalten hat.
An diesem Tag - für die meisten ein Tag ohne alltägliche
Hektik und Verpflichtungen - braucht es eine deutliche
Änderung der Öffnungszeiten, um einen Einkauf ohne
Stress zu ermöglichen. Heutzutage sieht es häufig so aus,
dass die Kundinnen und Kunden am Samstag um 16 Uhr
fast mit Gewalt aus den Geschäften vertrieben werden
müssen. Hier ist tatsächlich Regelungsbedarf vorhanden.
Wir und dieser Gesetzentwurf nehmen die Bedürfnisse
und Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher in
unserer Gesellschaft ernst. Gott sei Dank wird endlich die
unsinnige Regelung beseitigt, vor einem verkaufsoffenen
Sonntag am Samstag die Geschäfte um 14 Uhr schließen
zu müssen. Diese Regelung war niemandem verständlich.
Sie war überflüssig wie ein Kropf.
Sie, CDU/CSU und FDP, argumentieren im Zusammenhang mit Ihren Anträgen allen Ernstes: Weil andere
schlechte Arbeitszeiten haben, können die Interessen der im
Einzelhandel Beschäftigten keine Rolle spielen. Ich muss
feststellen: Sie sind nicht in der Lage, ausgewogene, faire
und für alle Seiten vertretbare Lösungen zu entwickeln. Wir
dürfen unsere Augen nicht davor verschließen, dass im Einzelhandel überwiegend Frauen arbeiten. Wie soll denn eine
Versorgung von Kindern gewährleistet sein, wenn die Mutter bis Mitternacht im Laden stehen muss?
Ich verfolge die Debatten in diesem Haus seit einiger
Zeit sehr aufmerksam, weil ich gern wissen möchte, was
die Opposition eigentlich an konkreten Vorschlägen an1966
zubieten hat. Hier, im Falle des Ladenschlussgesetzes, haben wir einen der ganz wenigen Fälle, bei dem CDU/CSU
und FDP klar sagen, was sie eigentlich politisch wollen.
Sonst überbieten sie sich ja geradezu darin, rhetorische
Nebelkerzen zu werfen, um ihre politischen Absichten im
Unverbindlichen zu lassen.
({5})
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Sie in dieser Frage die
Katze aus dem Sack gelassen und klar gesagt haben, was
Sie eigentlich wollen.
({6})
Eine Prüfung Ihres Vorschlages zeigt eindeutig: Ihre
Vorschläge sind arbeitnehmerfeindlich,
({7})
Ihre Vorschläge schaden letztendlich den Strukturen des
Einzelhandels und der Urbanität in den Städten.
({8})
Ich kann nur feststellen: Sie, die Opposition, sind nicht
fähig, unterschiedliche gesellschaftliche Bedürfnisse zu
berücksichtigen. Deshalb sitzen Sie zu Recht auf den Oppositionsbänken.
({9})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ja. - Der Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung
des Ladenschlussgesetzes liegt auf dem Tisch. Zukünftig
können Verbraucherinnen und Verbraucher an sechs Tagen 14 Stunden lang einkaufen. Dies liegt in ihrem Interesse. Dies gibt einen wichtigen positiven Impuls zur
Stärkung des privaten Konsums. Dies unterstützt auch
den Mittelstand in unserem Lande und achtet die berechtigten Interessen der im Einzelhandel beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb wird die
SPD-Fraktion diesen Vorschlag unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Zöllmer, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere
mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Die unvermeidlichen Schwierigkeiten im Kampf mit
den vorgegebenen Redezeiten machen einmal mehr deutlich, dass manchmal der Bedarf an Zeit größer ist als die
zur Verfügung gestellte.
({1})
Nun erteile ich als letztem Redner in dieser Debatte
dem Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde zunächst einmal empfehlen, bei diesem
Thema, das konkret den Ladenschluss und seine Regelungen betrifft, abzurüsten. In der Sache sind wir gar nicht
so weit auseinander; wir werden einen Weg finden. Das ist
auch mehr als überfällig. Wir selber haben vor einigen
Jahren noch andere Positionen vertreten, aber wir haben
inzwischen dazugelernt.
({0})
Unser Streit geht jetzt darüber, ob wir in dieser Sache genug gelernt haben. Wir haben den Verdacht, dass Sie etwas weniger gelernt haben als wir.
({1})
Dieser Verdacht ist auch irgendwie berechtigt.
Wie ich den Kollegen Schauerte kenne, hat er an dieser Freundlichkeit lange geübt. Man sollte ihn jetzt nicht
unnötig provozieren, von dieser gefundenen Linie abzuweichen.
Das Ladenschlussgesetz war entgegen mancher Behauptung nie ein reines Arbeitnehmerschutzgesetz, sondern immer auch ein Unternehmer- und Mittelstandschutzgesetz. Es enthielt immer beide Elemente. Es ist in
einer Zeit entstanden, in der wir wirtschaftspolitisch sehr
viel anders gedacht haben als heute.
({0})
Ich möchte nicht weiter auf die Gesetzesbegründung eingehen und empfehle Ihnen auch gar nicht, sich die Entstehungsgeschichte anzusehen. Dann bekommen wir alle
ganz braune Ohren. Also lassen wir das besser sein! Es
entstand unter ganz anderen Voraussetzungen.
Auch die deutschen Einzelhändler haben in den letzten
Jahren gelernt, dass die strenge Ablehnung der Öffnung
der Ladenschlusszeiten, die sie vor drei, vier oder fünf
Jahren noch von uns gefordert haben, keinen Sinn machte.
Hier gilt wieder, dass auf der Arbeitnehmerseite, die etwas
stärker bei Ihnen zu Hause ist, dieser Lernprozess etwas
langsamer vor sich geht, genau wie bei Ihnen auch. Das
spiegelt sich wunderschön. Das ist ein Parallelverlauf.
({1})
Es lohnt sich aber nicht, mit Heftigkeit darüber zu reden.
Was wollen wir? Wir wollen keine Öffnung für
24 Stunden. Wir arbeiten hier ja im Rahmen der Reformdiskussion in unserer Gesellschaft an einem symptomatischen Modell zum Warmlaufen. Regelungen, die wirklich
notwendig sind, muss es natürlich geben. Soziale Marktwirtschaft ist nie regelungsfrei gewesen. Das soll sie auch
nicht werden. Aber Regelungen, die vielleicht noch einen
behaupteten, aber erkennbar keinen faktischen Nutzen
mehr haben, müssen wir deutlich, das heißt gegen null,
zurückfahren. Genau das ist hier der Fall.
Ich möchte ein paar Widersprüche aufzeigen. Sie sagen
zum Beispiel, wir müssten über das City-Privileg reden.
Das heißt eigentlich, dass Sie meinen, wir müssten in den
Innenstädten sehr wahrscheinlich andere, sprich längere
Ladenöffnungszeiten haben als draußen auf der grünen
Wiese, damit die Städte lebendiger werden. Also folgen
Sie eigentlich unserer Idee, dass längere Ladenöffnungszeiten mindestens in der City Vorteile haben könnten.
Dies wäre logisch. Was soll das sonst? Der Ansatz des
Städtetages ist doch: Wir möchten längere Ladenöffnungszeiten. Sie sagen, darüber müsse man nachdenken.
Also haben Sie doch kapiert, dass dieser Ansatz vielleicht
sinnvoll ist.
Nun frage ich zurück: Auch wenn es an einer Stelle
nützlich ist, könnte man es an anderen Stellen dennoch
nicht wollen, weil man regulierend eingreifen, also das
Verhalten der Kunden durch konkrete Regelungen beeinflussen will. Dies ergäbe ein ganz neues Reglement des
Handels. Ob wir dies durchhalten könnten, bezweifle ich.
Sie haben bei Ihren Vorschlägen also nicht bis zum Ende
gedacht.
Ich kenne viele Unternehmer, die befürchten, dass sie
ihr Geschäft schon deshalb länger aufmachen müssen,
weil sie gar nicht mehr wissen, was der Nachbar macht.
Dies ist eine berechtige Sorge des Mittelstandes. Die Entwicklung im Einzelhandel ist katastrophal. Darüber müssen wir nicht reden und ich muss Ihnen auch nicht die
Zahlen nennen, die kennen Sie alle. Die Binnennachfrage
ist total auf den Hund gekommen. Helfen da jetzt mehr
Schutz, mehr Enge und mehr Restriktionen oder ergeben
sich durch die Öffnung der Ladenschlusszeiten doch noch
Chancen?
({2})
Lassen Sie uns darüber einfach nur intelligent und ohne
Grabenkämpfe nachdenken! Wie wollen wir uns denn
beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarktpolitik und
bei der Gesundheitspolitik überhaupt bewegen, wenn wir
uns bei diesem Thema jetzt schon wieder festfahren? Das
ist meine Sorge. Diese Frage hat für mich symptomatischen Charakter. Hoffentlich bestimmt sie nicht die Melodie der gesamten Reformdiskussion, die in diesem Jahr
vor uns liegen muss. Dies wäre schlimm für unser Land.
Lassen wir diese Freiheit doch ein bisschen zu!
({3})
Jetzt komme ich zur Arbeitnehmersicht. Natürlich
will niemand, dass eine Mutter bis 24 Uhr im Laden stehen muss, wenn sie ihr Kind in dieser Zeit fremd versorgen lassen muss. Diese Vorstellung ist geradezu idiotisch.
({4})
Aber wie viel Millionen Menschen gibt es, die sehr gern
zu einer völlig anderen Zeit als bisher das machen möchten, was sie können, nämlich verkaufen,
({5})
weil dies viel besser in ihre Familien-, Lebens- oder Bildungsplanung passen würde?
({6})
- Warum eröffnen wir ihnen diese Chance nicht?
Wir haben doch selbstbewusste Arbeitnehmer und
selbstbewusste Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften.
Vieles von dem, worüber wir gerade diskutieren, ist am
Ende tarifverhandlungsfähig. Warum muss der Staat das
regeln?
({7})
An einer Stelle gibt es vielleicht einen Bruch; das gebe
ich gerne zu. Es geht um den Sonntag. Ich bin durch den
Glauben bzw. - wenn man das so benennen will - ideologisch geprägt. Für mich ist das eine Glaubensfrage.
({8})
- Es gibt auch Leute, die das anders sehen. - Aus meiner
Religiosität heraus trete ich dafür ein, dass der Sonntag
von diesen Überlegungen soweit wie möglich ausgenommen wird.
({9})
Deswegen haben wir diese Einschränkung vorgenommen. Sie ist ein gewisser Systembruch. Das, was ich eben
gesagt habe, müsste eigentlich auch für den Sonntag gelten. Aber bitte nehmen Sie mir ab: Mit einer Geschäftsöffnung am Sonntag habe ich ein Problem; das
gebe ich offen zu. Das muss besonders geregelt werden.
Dies wird zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
nicht unterschiedlich beurteilt. Im Gegenteil: Ich behaupte, dass es von allen, die sonst miteinander streiten
mögen, bei entsprechender Grundüberzeugung ähnlich
gesehen wird. Deswegen sollte hier eine Ausnahme gemacht werden, an der wir unter allen Umständen festhalten sollten.
Bitte entscheiden Sie sich hinsichtlich des Ladenschlusses schnell. Es ist schon so lange über das Thema
diskutiert worden, es ist so ausgelutscht.
({10})
- Es ist interessant, dass Sie das erwähnen. Sie verzögern
doch.
({11})
- Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie verzögern wollen: Sie sind von der Gewerkschaftsseite gebeten worden,
die Tarifverhandlungen zu diesem Thema abzuwarten, damit das schön zusammenpasst. Eigentlich gehört eine solche Motivation nicht in ein Gesetzgebungsverfahren.
Meine Bitte: Machen Sie schnell! Wir alle wissen, dass
die 20-Uhr-Regelung kommt, zumindest eine Regelung,
nach der länger geöffnet wird. Wir sind der Meinung, man
sollte konsequenter sein. Mauern Sie sich bitte nicht so
früh in Ihren gewerkschaftlichen Ängstlichkeiten ein. Ihnen wird in den kommenden Monaten noch viel mehr zugemutet werden müssen.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/396 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht der
Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen ({0})
- Drucksache 15/308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Ober, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat problematisiert in dem von ihm eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von
Pflegebedürftigen die Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen
Kranken- und Pflegekassen. Es geht dabei um die Frage,
wer für die Versorgung von Pflegebedürftigen mit Hilfsmitteln sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich
zuständig ist. Die Entscheidung über die Zuständigkeit
dürfe nicht vom Einzelfall abhängen - so der Entwurf.
Der Bundesratsentwurf hat weiter zum Ziel, Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen. In ihm wird als
Lösung eine Klarstellung der Hilfsmittelgewährung nach
§ 40 Pflege-Versicherungsgesetz vorgeschlagen. Für den
ambulanten Bereich bestätigt der Bundesrat durch Ergänzung des § 40 SGB XI die Subsidiaritätsklausel. Diese
Nachrangigkeitsklausel stellt aber schon jetzt ausdrücklich klar, dass die Pflegekassen nur dann herangezogen
werden, wenn die Hilfsmittelversorgung durch die Krankenkasse nicht greift. Eine solche Ergänzung ist deshalb
aus unserer Sicht nicht nötig.
({0})
Der bestehende Paragraph regelt bereits eindeutig die
Leistungspflicht der Pflegeversicherung. Diese tritt nur
ein, wenn eine Leistungspflicht der GKV, also der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht vorliegt. Die Trennung
der Auflistung von Hilfsmittelverzeichnis und Pflegehilfsmittelverzeichnis mit klarer Nachrangigkeit der Leistungspflicht der Pflegeversicherung ist im Gesetz bereits
geregelt.
({1})
Manche Krankenkassen haben diese bestehende Subsidiaritätsklausel in der Praxis bei der Bewilligung nicht
hinreichend beachtet. So ist es in der Vergangenheit zu bekannten Fehlbuchungen zulasten der Pflegeversicherung
gekommen. Letztendlich könnte die Verschiebung von
der Kranken- zur Pflegeversicherung zu Leistungskürzungen bei Pflegebedürftigen führen. Meistens wurden
aber diese Fehlbuchungen korrigiert. Der Bundesrat weist
in der Begründung seines Gesetzentwurfs ausdrücklich
darauf hin, dass die meisten Krankenkassen die genannte
Rechtsauffassung bezüglich der Nachrangigkeit der Pflegeversicherung teilen.
({2})
- Hören Sie bis zum Ende zu! Wir machen einen Vorschlag.
({3})
Einen anderen Weg hat die AOK Bayern beschritten.
Sie strebt eine Methode der Einzelfallentscheidung an.
Wenn aber ein Sachbearbeiter einer Kranken- und Pflegekasse in jedem Einzelfall entscheiden würde, stünden Tür
und Tor offen, Kosten der Krankenversicherung auf die
Pflegeversicherung zu verlagern. Auf diese Weise könnten die Kosten der gesetzlichen Krankenkassen gedrückt
werden. Das kann so aber nicht sein und der Gesetzgeber
sieht dies unter Berücksichtigung der bestehenden
Rechtslage auch nicht vor.
({4})
Im stationären Bereich sieht der Bundesratsentwurf
klarstellende Ergänzungen der §§ 75 Abs. 2 und 80 Abs. 2
vor. Die Zuständigkeit für die Grundausstattung der
Pflegeheime mit Hilfsmitteln soll geklärt werden. Der
Bundesrat bezieht sich hierbei auf ein Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem Jahre 2000, in dem es die Ansicht
vertrat, die Leistungspflicht der Krankenversicherung
ende dort, wo die Vorhaltepflicht des Pflegeheimes einsetze. Hierzu ist aber zu sagen: Die Partner der Selbstverwaltung müssen auch jetzt die Grundausstattung der
Heime mit Hilfsmitteln regeln. Sie haben eigentlich die
Pflicht dazu. Zum stationären Bereich hat das Bundessozialgericht in seinen letzten Urteilen aus dem Jahre 2002
ausdrücklich bestätigt, dass die Ausstattung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln zu regeln ist, konkret in § 80 a SGB
XI in Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen. Deshalb
ist eine solche Ergänzung nicht zwingend nötig.
({5})
Daneben soll die Bundesregierung in § 84 SGB XI
durch eine Ergänzung ermächtigt werden, zu entscheiden,
welche Hilfsmittel bei Bemessung der Pflegesätze zu
berücksichtigen wären und damit als Anlagegüter gelten
und unter die Investitionspflichten der Länder nach § 9
SGB XI fallen würden.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die
genannten Ergänzungen des Bundesratsentwurfes sind
aus fachlicher Sicht nicht zu beanstanden, aber bei sachgerechter Anwendung geltenden Rechtes nicht zwingend
erforderlich.
({6})
Es sind lediglich Handlungsanweisungen.
In der stationären Pflege gibt es keinen Individualanspruch auf Leistungspflicht. Hier ist die Selbstverwaltung gefragt. Wenn allerdings der Gesetzgeber weiter
unterschiedlich interpretiert wird und die Selbstverwaltung die ihr zugestandene Flexibilität gegen das Gesetz
nutzt, dann sollten die Abgrenzungsschwierigkeiten im
Zuge einer gesetzgeberischen Maßnahme ausgeräumt
werden.
({7})
Eine solche Maßnahme müsste dann aber auch über die
im Bundesratsentwurf beschriebenen Detailfragen hinausgehen. Klärungsnotwendigkeit besteht nämlich auch
bei medizinischer Behandlungspflege, geriatrischer Rehabilitation sowie bei der Pflegeüberleitung und auch
dem Case-Management.
Folgt man also der Auffassung, dass Krankenkassen
trotz eindeutiger Rechtslage konkrete Handlungsanweisungen benötigen, also nicht nur bei der Hilfsmittelversorgung, so sollten sie Teil einer Lösung der
gesamten leistungsrechtlichen Schnittstellenfrage zwischen Kranken- und Pflegeversicherung sein, damit eine
Doppelbefassung der Gesetzgebungsorgane vermieden
wird.
Die Kostenträger müssen sich verbindlich und eindeutig an die gesetzlichen Vorgaben bei der Aufgaben- und
Finanzierungsverteilung zwischen Pflege- und Krankenkasse halten. Die Kostenträger tragen die Verantwortung
dafür, dass den Pflegebedürftigen die Leistungen vollständig zur Verfügung stehen.
Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben wir
angekündigt, uns in der laufenden Legislaturperiode
der Schnittstelle zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung nochmals zu widmen.
Leistungseinschränkungen oder Leistungskürzungen
durch strategische Verschiebungen werden wir nicht
mittragen.
({8})
Eine isolierte Herangehensweise, wie sie im Bundesratsentwurf mit kleinstem Lösungsansatz der
Schnittstellenproblematik praktiziert wird, bringt im
Hinblick auf eine Gesamtlösung keinen nachhaltigen
Fortschritt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Frau Kollegin Dr. Ober, ich darf Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. Ich
vermute, dass die große Begeisterung in Ihrer eigenen
Fraktion nicht nur auf den Inhalt Ihrer Rede, sondern auch
auf das ungewöhnliche Ereignis zurückzuführen ist, dass
Sie Redezeit eingespart haben, die andere nutzen können.
Das kommt im Deutschen Bundestag so selten vor, dass
es einer ausdrücklichen Würdigung bedarf.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias
Sehling für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pflegeversicherung besteht jetzt insgesamt acht
erfolgreiche Jahre. Ihre Einführung im Jahre 1995 hat sich
bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall als insgesamt
richtige Entscheidung erwiesen. Sie war in der damaligen
Koalition - unter Federführung von Bundessozialminister
Norbert Blüm - zwar eine schwierige Geburt, aber eine
mutige Entscheidung. Sie regelt das letzte große allgemeine Lebensrisiko, die Pflegebedürftigkeit, im Wege einer sozialen und einer privaten Pflichtversicherung. Sie
dient der Sicherung der Bürger, der Belebung des Pflegedienstleistungsmarktes und der Entlastung der Sozialhilfeträger. Auch das soll erwähnt werden.
Nicht nur angesichts der jetzt schärfer erkennbaren demographischen Entwicklung, sondern auch im Detail hat
diese soziale Sicherung einen aktuellen Nachbesserungsbedarf. Der heute in erster Lesung zu beratende Bundesratsentwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes - als Abgeordneter aus Bayern bin ich stolz darauf, dass er auf
eine bayerische Initiative aus dem Hause von Bayerns Sozialministerin Christa Stewens zurückgeht ({0})
befasst sich mit solchen Detailärgernissen aus der Praxis.
In der Vergangenheit kam es zu teilweise grotesken
und auch entwürdigenden Abgrenzungsschwierigkeiten
- es ging dabei um die Verschreibungsmöglichkeit und
Kostentragung von Hilfsmitteln - zwischen den im Wettbewerb stehenden gesetzlichen Krankenkassen einerseits
und den betroffenen Pflegebedürftigen und Pflegeheimen
andererseits. Darum geht es heute. Bis zum Bundessozialgericht wurden Prozesse geführt, wer welche Hilfsmittel zu leisten oder vorzuhalten hatte.
Der Bundesrat will mit diesem Entwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes solche Streitfragen ausdrücklich und endgültig regeln.
({1})
Es geht darum, Klarheit und Rechtssicherheit bei der Verordnung und Finanzierung von Hilfsmitteln zu erreichen.
Das wird den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen
ebenso wie den verschreibenden Ärzten, den Krankenkassen, den Pflegekassen und den Pflegeheimträgern zu1970
gute kommen. Im Sinne von mehr Qualität in den Pflegeheimen soll den vertragschließenden Partnern auf Landesebene die Aufgabe erteilt werden, durch Rahmenverträge die nötige Grundausstattung von Pflegeheimen mit
Hilfsmitteln verbindlich zu vereinbaren.
In dem Gesetzentwurf werden zwei große Fallgruppen
zu Streitfragen über Hilfsmittel geregelt. Erstens. Im Falle
der ambulanten Pflege geht es um die Frage der Zuständigkeit zwischen der Krankenkasse und der Pflegekasse.
Zweitens. Im Falle der stationären Pflege geht es um die
Frage der Zuständigkeit zwischen der Krankenkasse und
dem Pflegeheim.
Der Bundesrat schlägt für den Bereich der ambulanten Pflege vor, dass solche Hilfsmittel von der Krankenversicherung zu leisten sind, die sowohl der Krankenbehandlung als auch zugleich der Erleichterung der Pflege
dienen. Der unwürdige Streit etwa darüber, wer den Rollstuhl zu zahlen hat, der sowohl zu Spazierfahrten als auch
zum Transport vom Bett ins Bad genutzt wird, muss ein
Ende haben.
Die Bundesregierung macht es sich in ihrer Gegenäußerung zum Bundesratsentwurf sehr einfach. Sie
hält diese Neuregelung für überflüssig - wir haben gerade
von der Vorrednerin gehört, dass das auch von der SPDFraktion geteilt wird -, weil im Gesetz eine Subsidiaritätsklausel enthalten sei, die die vorrangige Leistungspflicht
der Krankenversicherung ohnehin anordne. Wenn dies
so klar ist, frage ich: Warum haben etwa der AOK-Bundesverband und seine Mitgliedskassen damit angefangen,
dies im Einzelfall und damit meist auf dem Rücken der
Versicherten umständlich und lang andauernd zu prüfen?
({2})
Die Haltung der AOK hat im Übrigen zu unzulässigen
Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen
geführt. Es gibt nun Krankenkassen, die einen Rollstuhl
pflichtgemäß bezahlen, und andere, die sich davor gedrückt und jahrelange Prozesse in Kauf genommen haben.
Dieses unwürdige Geschacher muss der Gesetzgeber mit
einer ausdrücklichen Entscheidung beenden.
({3})
Das Hilfsmittelsicherungsgesetz soll ein weiteres
großes Problemfeld endgültig klären. Es geht um die Versorgung mit Hilfsmitteln in Pflegeheimen. Welche
Hilfsmittel hat das Pflegeheim als Grundausstattung vorzuhalten? Welche Hilfsmittel kann und muss der Heimbewohner oder die Heimbewohnerin von seiner Krankenversicherung beantragen? Selbst in dem so genannten
Zweiten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung vom März 2001 wurde eingeräumt, dass es sich bei den in der Praxis auftretenden
Abgrenzungsstreitigkeiten um Probleme bei der Aufgabenbeschreibung im Gesetz handelt. Ich füge hinzu: Das
ist eine direkte Folge der ungeheuren Wettbewerbsverzerrung unter den gesetzlichen Kassen.
Auch hier lassen die von der Bundesregierung ungelösten Aufgaben des Molochs Risikostrukturausgleich
grüßen. Weder die Bundesgesundheitsministerin noch der
Staatssekretär, der gestern im Gesundheitsausschuss offiziell die Eckpunkte vorgelegt hat, haben in irgendeiner
Weise erkennen lassen, wie sie die Ungereimtheiten und
Fehlentwicklungen beim kassenübergreifenden Finanzausgleich namens RSA, dem berühmt-berüchtigten Risikostrukturausgleich, lösen wollen. Wenn sich wie hier die
Krankenkassen darum prügeln, möglichst wenige Leistungen von Versicherten in Pflegeheimen übernehmen zu
müssen, ist auch das eine Folge der unerwünschten Scherenentwicklung der Kassen untereinander, nämlich der
Entwicklung zu den Versorgerkassen einerseits und den
Yuppiekassen mit den niedrigen Beiträgen andererseits.
Die Grundidee der Regelungen des heute eingebrachten
Hilfsmittelsicherungsgesetzes lautet: Sofern die Hilfsmittel zu einer genau definierten und teilweise auch pflegesatzfähigen Grundausstattung des Pflegeheims gehören,
muss das Hilfsmittel vom Pflegeheim vorgehalten werden. Umgekehrt: Gehört das benötigte Hilfsmittel nicht
zur Grundausstattung, ist die Krankenversicherung des
Heimbewohners bzw. der Heimbewohnerin zuständig. So
einfach wäre das.
In ihrer spezifischen Gegenäußerung zieht sich die
Bundesregierung weiterhin auf den Ohne-mich-Standpunkt zurück. Die vorgeschlagene Regelung gelte nach
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ohnehin,
eine Gesetzesregelung sei also überflüssig.
Nachdem wir Mitglieder dieses Hohen Hauses alle die
Lebensweisheit „Vor Gericht und auf hoher See sind wir
in Gottes Hand“ kennen, möchte ich doch den Vorzügen
einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung das Wort reden. Viel Streit und viel Enttäuschung wäre den Betroffenen erspart geblieben, wenn der Gesetzgeber seine Hausaufgaben mit klaren gesetzlichen Entscheidungen schon
früher gemacht hätte.
Der Bundesrat sorgt im Hilfsmittelsicherungsgesetz im
Übrigen auch für die effektive Durchsetzung der Beschaffung der Grundausstattung mit Hilfsmitteln durch
die Pflegeheime. So sollen die schon jetzt auf Landesebene abzuschließenden Rahmenverträge zwischen den
Pflegekassen und den Pflegeeinrichtungen künftig eigene
verbindliche Inhalte über die Grundausstattung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln enthalten.
Ein weiteres Mal unverständlich ist - Sie ahnen es - die
Ablehnung auch dieses Vorschlags durch die Bundesregierung unter Hinweis auf eine ohnehin existierende
Rechtsprechung. In der Praxis wird aber in Kollektivverträge erfahrungsgemäß nur das hineingeschrieben und hat
auch nur das vor Schiedsämtern und Gerichten der ersten
Instanz Bestand, was ausdrücklich im Gesetz vorgesehen
ist. Das ist halt so. Darum sollte man sich schon der Mühe
unterziehen, den Inhalt des Rahmenvertrags ausdrücklich
und verpflichtend in das SGB XI aufzunehmen.
({4})
In dem Gesetzentwurf des Bundesrates wird schließlich eine Verordnungsermächtigung der Bundesregierung vorgesehen. Danach kann mit Zustimmung des Bundesrates festgestellt werden, welche Hilfsmittel, die zur
Grundausstattung eines Pflegeheims gehören, bei der
Bemessung der Pflegesätze zu berücksichtigen sind. Damit wird die Kostenlast für die Beschaffung von Hilfsmitteln nicht alleine den Pflegeheimen aufgebürdet. Vielmehr trägt die Pflegeversicherung selbst einen Anteil zu
deren Finanzierung bei. Wenn eine Hilfsmittelpflegesatzverordnung erlassen würde, würde durch die teilweise
Anerkennung der Pflegesatzfähigkeit von Hilfsmitteln erneut für ein Stück mehr Qualität in den Pflegeheimen gesorgt werden.
Besonders geistreich und allgemein weiterführend
- deshalb möchte ich Ihnen das nicht vorenthalten - erscheint in diesem Zusammenhang die - natürlich erneut ablehnende Einlassung des Bundesgesundheitsministeriums. In einer Stellungnahme zu der Verordnungsermächtigung heißt es: „Eine unmittelbare Verbesserung der
Rechtslage im Bereich der Hilfsmittelversorgung Pflegebedürftiger ist mit dieser Verordnungsermächtigung nicht
verbunden.“ Deshalb lehne man sie ab. Dazu kann ich nur
sagen: Sehr wahr. Jetzt müsste die Bundesregierung nur
noch ihren Teil dazu beitragen und von der Verordnungsermächtigung alsbald Gebrauch machen. Nur dann - aber
dann umso mehr - wäre sehr bald eine spürbare Verbesserung der Hilfsmittelversorgung in den Pflegeheimen
auch tatsächlich festzustellen.
Insgesamt stellt dieser Entwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes eine Sammlung äußerst hilfreicher, praktischer Verbesserungen des Pflege-Versicherungsgesetzes
- SGB XI - dar, die die CDU/CSU-Fraktion begrüßt und
unterstützt.
({5})
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, verehrte Kollegen
der Regierungsfraktionen, ein offenbar schon in Vergessenheit geratenes Dokument vom 16. Oktober letzten Jahres in Erinnerung rufen. Sie wissen schon, was ich meine:
Ihre Koalitionsvereinbarung. Auf Seite 55 haben Sie sich
unter der Überschrift „Mehr Qualität und mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen“ selbst geschworen:
Wir stimmen die Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung und der Rehabilitation besser aufeinander ab.
({6})
Dazu möchte ich einmal mehr mit Goethes Faust sagen: „Die Kunde höre ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube.“
({7})
Herr Kollege Sehling, ich darf auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede herzlich gratulieren. Ich wünsche Ihnen für die
weitere Arbeit alles Gute, insbesondere bei der präzisen
Einhaltung der Redezeit, was das Präsidieren ungemein
erleichtert.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Petra Selg für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrats sieht
vor, die Versorgung Pflegebedürftiger mit Hilfsmitteln
gesetzlich neu zu bestimmen. Es ist richtig, dass es in der
Praxis momentan oft unklar ist, welche Hilfsmittel das
Pflegeheim vorzuhalten hat und welche Hilfsmittel der
Heimbewohner oder die Heimbewohnerin von der Krankenversicherung beanspruchen kann.
Die Ursache dafür ist eine manchmal recht unklare
Rechtslage. Zwar hat das Bundessozialgericht die bestehenden Gesetze in der Vergangenheit immer weiter konkretisiert. Trotzdem - das weiß ich - fehlt den betroffenen
Akteuren im Gesundheitswesen ein klares Verständnis für
die bestehenden Regelungen. Deshalb kommt es oft zu
Zuständigkeitsstreitigkeiten. Das belastet das Heimpersonal, die Heimbewohner und vor allem unsere Sozialgerichte. Diesbezüglich teile ich die im Gesetzentwurf zum
Ausdruck kommende Haltung: Wir müssen dringend Abhilfe schaffen.
Der Bundesregierung ist das durchaus bewusst. Wir arbeiten bereits an der Lösung dieses Problems. Ich bin deshalb der Meinung, dass diese Gesetzesinitiative zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Mittel ist, um dieses Problem
zu lösen. Zwar bin ich der Meinung, dass die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Neuregelungen durchaus
brauchbar und sinnvoll sind. Fachlich ist daran absolut
nichts auszusetzen. Das Problem dabei ist nur, dass sie
sich auf den heutigen Regelungsrahmen beziehen. Es ist
also eine Beschreibung des Istzustandes. Wir haben das
Problem erkannt und wollen darum den Regelungsrahmen im Zuge der anstehenden Gesundheitsreform verändern.
({0})
- Das dauert nicht zu lange. Warten Sie es ab! Wenn Sie
mithelfen, geht es schneller.
({1})
Wir werden auch das Verhältnis zwischen der Kranken- und der Pflegeversicherung auf den Prüfstand stellen, um bestehende Abgrenzungsprobleme der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung endlich
aufzuheben und so die Verschiebebahnhöfe zu beseitigen.
Unser Ansatz ist damit breiter und umfassender als der in
diesem Gesetzentwurf, denn er betrifft natürlich und
selbstverständlich auch die Frage der Hilfs- und Heilmittelversorgung in den Heimen. Ich kann Ihnen sagen: Wir
machen unsere Hausaufgaben. Ich denke, wir sind sogar
Meisterschüler.
({2})
Vor diesem Hintergrund macht es meiner Ansicht nach
heute keinen Sinn, diese neue Regelung zu beschließen,
da sie aufgrund der Gesundheitsreform bereits morgen
wieder überholt sein könnte. Dies würde nicht nur die
Ressourcen des Gesetzgebers über Gebühr beanspruchen
- Sie sind ja immer so für Entbürokratisierung; da denke
ich mir: warum jetzt noch so ein Gesetz? -, es würde auch
bei den betroffenen Akteuren des Gesundheitswesens im
Moment unnötigerweise Verwirrung hervorrufen.
Deshalb schlage ich vor, diesen Gesetzentwurf im Ausschuss vor dem Hintergrund der anstehenden Reformen
neu zu prüfen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Vorhaben der Bundesregierung den genannten Problemen bereits in weiten Teilen Rechnung tragen. Ich verweise auch
darauf, dass gestern nur Eckpunkte vorgestellt wurden.
Damit es nicht so lange dauert, sind Sie herzlich aufgefordert, mitzumachen, wenn es darum geht, diese Probleme im Rahmen der Reformen endgültig zu beseitigen.
Danke.
({3})
Angesichts der beispiellosen Disziplin bei der Einhaltung der Redezeiten könnte ich ins Schwärmen geraten.
Ich werde mir das heutige Datum in sämtlichen Kalendern
als leuchtendes Beispiel für nachfolgende Debatten vermerken.
Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kollege
Daniel Bahr das Wort, bei dem ich sozusagen schon der
guten Ordnung halber darauf hinweisen muss, dass er kaum
die Chance hat, die gerade drei Minuten, die ihm seine
Fraktion zugestanden hat, noch einmal zu unterbieten.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der mir zur Verfügung stehenden drei Minuten wird das in der Tat schwierig sein; ich will mich
aber dennoch bemühen.
Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurf
des Bundesrates.
({0})
Damit wird nämlich die Finanzierung von Hilfsmitteln im
Sozialgesetzbuch konkretisiert. Für uns ist sehr entscheidend, dass der hilfsbedürftige Mensch neben seinen körperlichen Beeinträchtigungen nicht noch zusätzlich unter
den Streitigkeiten der Kostenträger zu leiden hat.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalitionsfraktion,
ich verstehe nicht, warum Sie sich dem verwehren. Ich
habe viele gute Argumente gehört. Wir sind uns einig,
dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich habe den Eindruck, dass Sie dem Antrag aus dem Bundesrat nicht zustimmen wollen, weil er nicht aus Ihren Reihen kommt.
Das wäre bei einem so wichtigen Thema schade.
({2})
Leider ist die Stellungnahme der Bundesregierung enttäuschend. Es verwundert mich schon, wenn die Bundesregierung in dieser Stellungnahme zum Gesetzentwurf
des Bundesrates anmerkt - Sie haben das zitiert, Frau
Dr. Ober -, dass das vorliegende Gesetz „zwar fachlich
zutreffend, aber ... nicht zwingend erforderlich“ sei.
Gleichzeitig betont die Bundesregierung, dass sie den
Sachverhalt zusammen mit den anderen Schnittstellenfragen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung lösen
möchte - was ja nichts anderes heißt, als dass es auch nach
Ansicht der Bundesregierung notwendig ist, diesen Sachverhalt zu regeln.
({3})
Auch die Behauptung der Bundesregierung, die Rechtslage sei eindeutig, kann nicht zutreffen, denn wie wir
hören, werden andauernd entsprechende Gerichtsurteile
gefällt. Deswegen ist diese Stellungnahme hier nicht
nachvollziehbar.
({4})
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, es bleibt einfach unverständlich, aus welchem Grund
Sie Regelungen, die zu mehr Rechtssicherheit führen und
die Kompetenzen der behandelnden Ärzte stärken, weiter
auf die lange Bank schieben möchten. Wir stimmen Ihnen
zwar zu, dass wir eine Lösung sämtlicher Schnittstellenfragen im SGB brauchen. Aber insbesondere der Umstand, dass die Bundesregierung auch in der Stellungnahme zu diesem Gesetz keinerlei Angaben darüber
macht, wann sie denn ein solches Gesetz vorlegen wird,
lässt befürchten, dass ein solches Gesetz noch lange auf
sich warten lässt. Die Zeit haben wir nicht mehr.
Der Handlungsbedarf ist bereits heute gegeben. Es ist
leider eine Tatsache, dass einige Krankenkassen trotz einschlägiger Gerichtsurteile immer wieder Rechtsstreitigkeiten wegen der Kostenübernahme von Hilfsmitteln gesucht haben. Die verkündeten Urteile werden von den
Krankenkassen regelmäßig als Einzelfallentscheidungen
ohne generelle Bindewirkung interpretiert. Wir brauchen
daher eine eindeutige Lösung, um Pflegebedürftigen und
Pflegenden eine zeit- und kostenintensive Auseinandersetzung mit den Krankenkassen zu ersparen. Insbesondere weil eine erhebliche Zahl der Krankenkassen bisher
auf einer Einzelfallprüfung besteht und es keine strikte
Orientierung an Hilfsmittelverzeichnissen gibt, ist es
sinnvoll, die Kostenerstattung bei besonders streitträchtigen Hilfsmitteln eindeutig gesetzlich zu regeln.
({5})
Das Hilfsmittelsicherungsgesetz stellt klar, dass Hilfsmittel, die der Krankenbehandlung dienen und vom Arzt
für medizinisch erforderlich gehalten werden, von den
Krankenkassen zu erstatten sind. Das Gesetz trägt somit
zu mehr Rechtssicherheit bei und beendet das unwürdige
Gezerre um die Finanzierungszuständigkeit. Herr Kollege
Dreßen, ich wünsche mir, dass Sie im Rahmen der Anhörung noch überzeugt werden,
({6})
denn das ist der Sache dienlich und das wäre auch den vielen Pflegenden und Pflegebedürftigen dienlich.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/308
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist erkennbar nicht der Fall; dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
Straßenverkehr und Übersicht über das Rettungswesen 2000 und 2001 - Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2000/2001 - Drucksachen 14/9730, 15/99 Nr. 1.1, 15/388 Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch; dann können wir so verfahren.
Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung
das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Angelika
Mertens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gesellschaftliche Einstellung zur Mobilität findet ihren Niederschlag in der Regel in Form von Leitbildern. Zwischen der
autogerechten Stadt - das war das Leitbild der 50er-Jahre - und der nachhaltigen Mobilität, dem Leitbild der
90er-Jahre, gab es das Leitbild der 70er-Jahre, wo es hieß:
Der Mensch hat Vorrang. Dieses Leitkonzept stand ganz
unter dem Eindruck der inzwischen aufgekommenen
Ökologiediskussion und der Sicherheit. Die Verringerung
der Umweltbelastung und der Verkehrsunfallfolgen wurden zu einem wichtigen Aspekt der Verkehrspolitik. Es
war die Zeit der Fußgängerzonen; Tempo 100 auf Bundesstraßen wurde eingeführt, ebenso wie die Beweisumkehr am Zebrastreifen. Ich erinnere auch an die Einführung des Sicherheitsgurtes und, was ganz wichtig ist,
der 0,8-Promille-Grenze.
({0})
- Nein, 0,8. Wir sind in den 70er-Jahren, liebe Kollegin.
In diese Zeit fiel auch das In-Kraft-Treten des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, um Verlagerungseffekte
von der Straße auf den ÖPNV auch finanziell zu unterstützen. Ziel der Verkehrspolitik war es, den Mobilitätsbedarf
der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Das war immer so und das wird auch
immer so bleiben. Die heutigen Mobilitätsbedarfe und
Mobilitätsbedürfnisse sind lediglich qualifizierter geworden als zum Beispiel zu Zeiten eines Goethe, der immerhin als Minister für Wegebau in Sachsen-Weimar tätig war.
Mobilität ist mit der Zeit immer wichtiger geworden.
Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Handel
und Gewerbe ist Mobilität existenziell. Im Freizeitbereich
bedeutet Mobilität gesellschaftliche Teilhabe, neue Erkenntnisse und vor allen Dingen auch Spaß. Es ist also
Aufgabe der Verkehrspolitik, diese Mobilität zu gewährleisten und sie so sicher, umweltfreundlich und sozial gerecht wie möglich zu gestalten.
({1})
Die Straße wird auch in Zukunft der Verkehrsträger
Nummer eins bleiben. Wenn wir Rückblick halten, werden
wir feststellen: Wir sind seit den 70er-Jahren des immerhin vorigen Jahrhunderts ein ganzes Stück vorangekommen in dem Ziel, die Straßen sicherer zu machen. Trotz der
starken Verkehrszunahme sank die Zahl der Verunglückten in den letzten zehn Jahren um etwa 3 Prozent. Die Zahl
der Unfälle mit schweren Unfallfolgen ist noch wesentlich
stärker zurückgegangen. So verringerte sich die Zahl der
getöteten Verkehrsteilnehmer von 11 300 im Jahre 1991
um 36 Prozent auf 6 997 und die Zahl der Schwerverletzten um 27 Prozent auf 95 040 im Jahre 2001.
Das bevölkerungsbezogene Risiko, im Straßenverkehr
getötet zu werden, liegt im Berichtszeitraum bei ungefähr
neun getöteten Personen auf 100 000 Einwohner. In den
Niederlanden, in Schweden und besonders auch in Großbritannien liegt das Risiko bei sechs bis sieben Getöteten
pro 100 000 Einwohner; Belgien, Spanien, Frankreich
und Österreich weisen dagegen etwa doppelt so hohe Risikowerte auf. Insofern liegen wir mit neun Getöteten bei
100 000 Einwohnern vergleichsweise - ich sage das sehr
vorsichtig - gut.
Aber es ist mehr drin. Eine Begründung für dieses Ziel
ist ganz einfach: Jeder Getötete und Verletzte im Straßenverkehr ist einer zu viel. Dass man Leid und Schmerz
nicht messen kann, weiß jeder, der einen Angehörigen
oder einen Freund im Straßenverkehr verloren hat. Über
das Ziel weniger Tote und weniger Verletzte im Straßenverkehr gibt es zwar einen großen gesellschaftlichen Konsens. Aber das Verhalten der jeweiligen Verkehrsteilnehmer ist nicht immer zielführend.
Im Berichtszeitraum haben wir zwei Programme aufgelegt: 1999 das Programm „Besser sicher - Sicher besser“ und 2001 das „Programm für mehr Sicherheit im
Straßenverkehr“. Beide Programme zeigen zielgerichtet
Mittel und Wege auf, Menschenleben durch Unfallvermeidung zu schützen. Unfallfolgen zu mindern und den
volkswirtschaftlichen Schaden zu minimieren muss ein
weiteres Ziel sein. Der so entstehende volkswirtschaftliche
Schaden wird pro Jahr auf 35 Milliarden Euro beziffert.
Wir haben folgende Schwerpunkte gesetzt: das Verkehrsklima verbessern, schwächere Verkehrsteilnehmer
schützen, Unfallrisiken junger Fahrer reduzieren, Gefahrenpotenziale schwerer Nutzfahrzeuge minimieren und
die Verkehrssicherheit auf Landstraßen erhöhen. Zwei
von drei im Straßenverkehr Getöteten sind Opfer von Unfällen auf Landstraßen. Deshalb muss ein Hauptaugenmerk auf die Bekämpfung der Ursachen von Unfällen auf
Landstraßen gerichtet sein.
Im Berichtszeitraum umgesetzt wurden: die Änderung
der StVO, um die Anordnung von Tempo-30-Zonen zu er1974
leichtern, das Verbot von Radarwarngeräten, das Verbot
von Telefonieren am Steuer ohne Freisprecheinrichtung
- das sollten sich alle hinter die Ohren schreiben -, die Verkehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“ und die europaweite Einführung der einheitlichen Notrufziffer 112
für Rettungsdienste. Ganz besonders wichtig war, so
glaube ich, die Einführung der 0,5-Promille-Grenze.
({2})
Woran wird gearbeitet? Wir wollen die allgemeine Verkehrserziehung weiter ausbauen. Das BMVBW und die
zuständigen Kultusminister wollen gemeinsam Wege zur
Verbesserung aufzeigen. Wir wollen des Weiteren die
StVO zusammen mit den Bürgern vereinfachen, die sich
schon rege daran beteiligen. Außerdem werden wir die Sicherheitsstandards für die Straßen erhöhen. Zurzeit wird
ein standardisiertes Verfahren zur Beurteilung der Sicherheitsbelange in allen Phasen des Straßenentwurfs entwickelt, das durch die Straßenbauverwaltungen der Länder erprobt wird. Zur Analyse von Sicherheitsmängeln in
regional begrenzten Straßennetzen werden Richtlinien erarbeitet und Erfahrungen mit Sicherheitsanalysen durch
die örtlich zuständigen Behörden gesammelt. Ganz wichtig ist auch: Der zweijährlich erscheinende Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr wird zu einem ControllingInstrument weiterentwickelt, um die Veränderungen im
Verkehrsverhalten und Unfallgeschehen zu erfassen und
im jeweils aktuellen Bericht Empfehlungen für die künftige Verkehrssicherheitsarbeit auszuweisen.
Ich möchte noch einmal auf das Problem mit den jungen Fahrern zurückkommen. Sie sind unsere Sorgenkinder; denn die Zahl der jungen Fahrer als Hauptverursacher
von Unfällen mit Personenschäden ist in den letzten Jahren
wieder angestiegen. Zurzeit gibt es eine Diskussion über
den - ich stelle das verkürzt dar - „Führerschein mit 17“.
Die Projektgruppe wird im Frühjahr einen Abschlussbericht vorlegen, über den wir ernsthaft und vorurteilsfrei
diskutieren sollten. Wir sollten uns aber davor hüten, ein
Allheilmittel daraus zu machen. Ich jedenfalls habe noch
eine ganze Menge Fragen.
Zum Schluss möchte ich dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat und der Deutschen Verkehrswacht für ihre
Arbeit herzlich danken. Ich glaube, dass sie uns in unserem Bemühen, Unfälle zu vermeiden, sehr geholfen haben.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Gero Storjohann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Unfallverhütungsbericht
der Bundesregierung für die Jahre 2000 und 2001. Trotz
einer starken Verkehrszunahme sank die Zahl der Verunglückten in den letzten zehn Jahren um rund 3 Prozent auf
circa 500 000 Verunglückte pro Jahr. Die Zahl der Unfälle
mit schweren Unfallfolgen sind erheblich zurückgegangen. 1991 gab es noch 11 300 im Straßenverkehr Getötete,
2001 waren es knapp 7 000. Dies ist ein Rückgang um
38 Prozent. Die Zahl der Schwerverletzten sank zwischen
1991 und 2001 um 27 Prozent. Trotz alledem stecken hinter diesen Zahlen noch viele ungelöste Probleme. Es geht
hierbei um schreckliche Einzelschicksale.
Gestatten Sie mir deswegen, dass ich beispielhaft einige Dinge anspreche, zunächst das Problem mit den
Kleinlastern. Um 147 Prozent ist deren Unfallquote seit
1991 - gegen den allgemeinen Unfalltrend - gestiegen.
Die Polizei in Schleswig-Holstein - daher komme ich musste bei Kontrollen jeden dritten Kleinlaster aus den
Verkehr ziehen. Übermüdete Fahrer, hohes Tempo und
ungesicherte Ladung waren die Gründe. Im „Spiegel“ war
davon zu lesen, im ARD-Nachrichtenmagazin „Fakt“
wurde darüber berichtet, nur im Unfallverhütungsbericht
der Bundesregierung steht über dieses Problem kein einziges Wort.
({0})
Wir müssen darauf hinwirken, dass von diesen Fahrzeugen zukünftig keine erhöhten Unfallzahlen ausgehen.
Wir müssen politisch darauf drängen, dass gleichermaßen
in die Verbesserung der Technik und die Schulung der
Fahrzeugführer dieser Kleinlaster investiert wird. Die
CDU/CSU-Fraktion bekennt sich - so wie es die Staatssekretärin eben auch getan hat - ausdrücklich zur Mobilität. Für uns ist das aber kein neues Bekenntnis; wir haben das schon seit Jahren gemacht.
({1})
Wir fordern die Bundesregierung natürlich auf, kurzfristig
ihren Beitrag zur Verkehrssicherheit in diesem Bereich zu
leisten.
Wie sieht es mit jungen Fahrerinnen und Fahrern
aus? Die 18- bis 25-Jährigen bleiben die zentrale Risikogruppe. 2001 verunglückten mehr als 110 000 junge Fahrzeugführer im Straßenverkehr; davon wurden 1 606 tödlich und 21 014 schwer verletzt. Das sind Besorgnis
erregende Zahlen. Hier sehe ich auch erheblichen Handlungsbedarf.
Der 41. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar hat
kürzlich diskutiert und dazu folgenden Vorschlag unterbreitet: begleitetes Fahren ab 17 auf freiwilliger Basis.
Ausgangspunkt für dieses Modell ist die unbestrittene Erkenntnis aus der Unfallforschung, dass das Unfallrisiko
bei jungen Fahranfängern fünffach höher ist als bei „alten
Hasen“. Neben dem jugendlichen Alter ist der Hauptunfallgrund mangelnde Erfahrung und mangelnde Fahrpraxis.
Hier setzt das begleitete Fahren an. Es soll die Fahrausbildung unter Begleitung vertiefen, damit fahrpraktische Erfahrungen gesammelt werden können. Dadurch
werden Fahranfänger befähigt, ab dem 18. Geburtstag eigenständig und ohne Begleitung, aber mit erheblich verringertem Unfallrisiko am Straßenverkehr teilzunehmen.
({2})
Wir sind aufgefordert, vertieft über diverse Lösungswege zur Senkung der Unfallzahlen bei jungen Menschen
nachzudenken. Besonders die Vermeidung des Praxislochs zwischen Führerscheinprüfung und selbstständiger
Teilnahme am Verkehr gilt es, zu überwinden. Im Ausland, zum Beispiel in Schweden, hat man mit dem begleiteten Fahren gute Erfahrungen gemacht. Auch Österreich
hat dieses Modell bereits eingeführt.
Wir sollten zudem die Möglichkeit einer freiwilligen
zweiten Ausbildungsphase für Fahranfänger in Erwägung
ziehen. Durch die zweite Ausbildungsphase sollen die
Kenntnisse der Fahranfänger im Rahmen des bisherigen
Fahrschulausbildungsumfangs, also ohne Zusatzkosten
für den Fahranfänger, vertieft werden.
({3})
Das wäre ein Gewinn für mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Als Belohnung für die Teilnahme an einer solchen
freiwilligen zweiten Ausbildungsphase kann ich mir gut
vorstellen, die Probezeit zu verkürzen. Auch der Führerschein auf Probe selbst muss optimiert werden. Hierzu erwarten wir Ansätze der Regierung. Frau Staatssekretärin,
wir warten dabei auch auf Ihre Vorschläge. Werden Sie
tätig!
Das Ziel aller Bemühungen muss jedoch die Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Mitwirkung der
Verkehrsteilnehmer sein. Rücksichtnahme gegenüber
schwächeren Verkehrsteilnehmern, Verantwortungsbewusstsein, Fairness und kooperatives Verhalten im
Straßenverkehr müssen gestärkt werden. Dazu gehört jedoch auch, unsere Autofahrer nicht zu überfordern. Vor allem muss der Schilderwald gelichtet werden. Häufig führt
insbesondere innerhalb geschlossener Ortschaften die
stete Überprüfung einer sparsamen, aber sinnvollen Beschilderung zu einer besseren Übersichtlichkeit auf den
Straßen.
Das gilt auch für Autobahnen und Schnellstraßen. Dort
brauchen wir nicht unbedingt fest installierte Straßenschilder; diese machen bei rasch wechselnden Verkehrslagen häufig keinen Sinn. Was wir brauchen, ist auch moderne Elektronik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
fordert daher einen verstärkten Ausbau von Verkehrsbeeinflussungsanlagen.
({4})
Diese steuern den Verkehrsablauf auf hoch frequentierten
Straßen. Sie geben verkehrs- und witterungsabhängige Informationen sowie Warnungen und vermindern die Verkehrsunfälle und ihre Folgen. Ebenso sind umfangreiche
technische Verbesserungen an Fahrzeugen zu fördern. Im
zu diskutierenden Bericht ist die Rede von „mitschwenkenden Scheinwerfern“ und „Spurhalteassistenten“, von
„Schlupfsensorik zur Feststellung des Reibwertes auf der
Straße“ und von „Navigationssystemen mit Sprachinformation des Fahrers zur Reduzierung der Blickabwendezeiten“. Das ist zwar alles schön und gut; es steht aber nur
auf dem Papier. Wir erwarten hier eine konkrete Umsetzung.
Wie verhält es sich mit Fahren mit Licht bei eingeschränkten Lichtverhältnissen? Was ist mit Reifen ohne
Profil und ausgeschlagenen Lenkstangen? Wie steht es
um abgefahrene Bremsbeläge, poröse Schlauchverbindungen und defekte Beleuchtungsanlagen? Hierüber verliert der Bericht kein Wort. Dabei fahren auf unseren
Straßen zunehmend Schrottautos - ein Risiko für uns alle.
Politisch bedanken können wir uns hierfür bei Rot-Grün.
({5})
Wenn Sie die Fachpresse der letzten Tage und Wochen
lesen, dann stellen Sie fest, dass die Bürger bei der Instandhaltung und Wartung ihrer Fahrzeuge sparen. Das
geht zulasten der eigenen Verkehrssicherheit. Deswegen
sage ich: Die Leute müssen mehr Geld in den Taschen haben, um der Verkehrssicherheit insgesamt zu dienen. Wir
sehen: Politik wirkt in alle Lebensbereiche hinein; falsche
Politik erhöht auch Risiken.
Wir dürfen eines nicht vergessen: Im Mittelpunkt der
Politik müssen der Mensch und seine Gesundheit stehen.
Das gilt insbesondere für die Verkehrspolitik. Deshalb
sind die Aufklärung und Information der Verkehrsteilnehmer zu intensivieren. Hierbei leisten die Deutsche
Verkehrswacht und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat
wertvolle Arbeit. Beide müssen finanzielle Mittel in derselben Höhe wie bisher erhalten. In der von Rot-Grün geplanten Zusammenlegung der Haushaltsansätze sehen wir
von der CDU/CSU-Fraktion eine Gefahr für die Eigenständigkeit der Deutschen Verkehrswacht; deshalb plädieren wir mit Nachdruck für die Einzelausweisung der
Titel.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, die Teilnahme am
Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. Wenn Ihre Verkehrspolitik diese
Grundregel aus der Straßenverkehrsordnung in der Umsetzung häufiger und schneller beachten würde, dann
wären wir alle schon ein großes Stück weiter.
({6})
Herr Kollege Storjohann, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Ich erteile nun der Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für viele von Ihnen mag der vorliegende Bericht eine reine Routineangelegenheit sein; denn er wird
alle zwei Jahre mit den jeweils neuesten Zahlen - teilweise haben wir sie heute schon gehört - hier im Plenum
vorgestellt.
Der vorliegende Bericht bezieht sich auf die letzten
beiden Jahre. Ich muss sagen, dass für mich als neue Abgeordnete dieser Bericht teilweise spannender zu lesen
war als mancher Bericht, der beispielsweise im „Spiegel“
steht. Das Spannende daran ist, dass jede und jeder von
uns damit zu tun hat. Gerade wir Abgeordnete können ein
Lied davon singen, was es heißt, mobil zu sein, denn wir
müssen, ob wir es wollen oder nicht, oft auf das Auto oder
andere Verkehrsmittel zurückgreifen. In den Wahlkreisen
werden wir mit Wünschen nach Umgehungsstraßen und
- je nachdem, welchem politischen Spektrum wir angehören - auch insgesamt mit dem Wunsch nach mehr
Straßen konfrontiert.
Alles in allem: Der Verkehr in Deutschland nimmt weiterhin zu.
({0})
Es ist nun reine Interpretationssache, wie wir mit den Zahlen des so genannten Unfallverhütungsberichtes umgehen. Es ist einerseits eine Abnahme, andererseits aber
auch eine Zunahme an Unfällen zu verzeichnen. Abgenommen hat die Zahl der Unfalltoten; sie liegt bei etwa
7 000 Verkehrsopfern. Zum Vergleich: 1971 waren es
noch 21 000. Zugenommen hat allerdings allgemein die
Zahl der Unfälle. Diese Zahl ist doch ganz beachtlich, sie
beträgt nämlich 2,37 Millionen. Davon sind 2 Millionen
Unfälle nur mit Sachschaden und 375 000, wie es im
Amtsdeutsch heißt, Unfälle mit Personenschaden. Diese
Zahlen können wir hier bewerten. Ich gehe davon aus,
dass wir uns einig sind, dass diese Zahlen gewaltig gesenkt werden müssen.
({1})
Bei der Antwort auf die Frage, wie wir das schaffen
können, liegen wir, wie ich glaube, gar nicht so weit auseinander. Jede Regierung hat bisher Geld in Aufklärungskampagnen gesteckt. Ich bin mir sicher: Jede
weitere Straßenbaumaßnahme geschieht unter dem
Aspekt höchstmöglicher Sicherheit, genauso wie die Autoindustrie größtes Interesse hat, Autos so sicher wie möglich zu machen. Trotzdem sind wir mit diesem Unfallberg
konfrontiert, der jährlich einen volkswirtschaftlichen
Schaden von - diese Zahl wurde schon genannt - 35 Milliarden Euro verursacht. Was tun? Meine Vorrednerin und
mein Vorredner haben Wege aufgezeigt, aber, wie ich
feststellen muss, die Verkehrsströme in Deutschland als
mehr oder weniger gegeben hingestellt. Es hieß, sie seien
zu kanalisieren und - wortwörtlich - so sicher, umweltfreundlich und sozial gerecht wie möglich zu gestalten.
Dagegen ist schwer etwas zu sagen. Ich tue es hiermit
trotzdem.
Meiner Meinung nach müssen wir stärker denn je die
Lage unseres Landes berücksichtigen. Das meine ich im
Wortsinne, nämlich geographisch. Deutschland liegt mitten in Europa und wird ab 2004 noch stärker als Transitland beansprucht werden. Deshalb ist die Zunahme des
Autoverkehrs schon einmal vorprogrammiert und damit
natürlich leider auch die Zunahme der Unfälle - wenn wir
nicht gegensteuern. Die Zahlen aus Großbritannien, die
vorhin genannt wurden, kann man meiner Meinung nach
nicht heranziehen, da es ein großer Unterschied ist, ob
man von einem Transitland und einer Insel spricht.
Trotzdem werden wir, so meine ich, da wir diesen Unfallberg nicht einfach wegzaubern können, nicht darum
herumkommen, die Verkehrspolitik mit wichtigen anderen Politikfeldern zu verknüpfen, um gemeinsam eine zukunftsfähige Verkehrspolitik zu machen. Insofern müssen
wir uns ganz klar vor Augen führen: Mobilität muss eine
dienende Funktion haben, da andere Bedürfnisse wichtiger für uns sind. Ich darf aus dem „Konzept Nachhaltigkeit“ der Enquete-Kommission, das zwar ein paar Jahre
alt ist, aber an Aktualität überhaupt nichts verloren hat,
sinngemäß zitieren: Wir sollten selbstbewusst unsere Lebenswelt und unsere Lebensbedürfnisse selber definieren.
Wichtig ist der Raum, in dem wir wohnen, aufwachsen,
lernen, arbeiten, uns erholen und entfalten. Genau diese
Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen.
Die heutige Stadt- und Raumplanung muss die gravierenden Veränderungen in den Bereichen Arbeit und
Freizeit nachvollziehen und sich davon ausgehend immer
wieder neu definieren. Sie kann aber gerne dabei einen alten Leitspruch heranziehen, denn die Stadt der kurzen
Wege ist absolut in.
({2})
Wohnungen und Büroarbeitsplätze, soziale Infrastruktur
wie auch Freizeiteinrichtungen können und sollen jetzt in
kompakten Stadtstrukturen gemischt werden. So viel aus
Sicht eines Mitglieds im Verkehrs- und Bauausschuss.
Abschließend möchte ich auf die Kampagne „Gelassen läuft’s“ aufmerksam machen, die im Unfallverhütungsbericht erwähnt wurde und die ich sehr gut finde.
Diese Kampagne soll in den Köpfen der Menschen ein
neues Leitbild für das Verhalten im Verkehr verankern.
Dem aggressiven Kampf auf der Straße werden gegenseitige Rücksichtnahme und Verantwortung, Souveränität
und Gelassenheit entgegengesetzt. Diese Form der Kultur
wünsche ich mir - nicht nur auf der Straße, sondern als
neues Mitglied in diesem Hause auch hier.
Danke schön.
({3})
Ich darf auch Ihnen, Frau Kollegin Sowa, herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.
({0})
Ganz offensichtlich haben Sie das Motto „Gelassen
läuft’s“ auch Ihrer Rede zugrunde gelegt. Vielleicht gelingt Ihnen das bei weiteren Auftritten im Hause in ähnlicher Weise.
Nun erteile ich dem Kollegen Horst Friedrich das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um das Wort von der Routine aufzugreifen: Sicherlich ist es Routine, wieder ein neues Rekordergebnis
vorzulegen, was die Zahl der Verkehrstoten angeht. Wir
haben seit Einführung der Statistik wiederum den absolut
niedrigsten Stand erreicht. Es sind noch immer zu viele,
Horst Friedrich ({0})
aber trotz der Verkehrszunahme sind es weniger und das
passt eigentlich in die Linie.
Wenn man das so stehen ließe, könnte man sagen: Es
ist alles wunderbar und man braucht im Endeffekt nichts
zu ändern. Die Frage ist aber, liebe Kolleginnen und Kollegen: Worauf sind diese Zahlen zurückzuführen? Hat das
mit den Regulierungen zu tun oder nicht eher mit der
Erhöhung der passiven Sicherheit in den Fahrzeugen mit
allen technischen Einrichtungen, mit einer deutlichen
Verbesserung des Rettungswesens in Deutschland - die
Eintreffzeit der Rettungsfahrzeuge liegt mittlerweile sowohl am Tag als auch in der Nacht deutlich unter zehn Minuten - sowie mit einer deutlichen Verbesserung des Ausbaus der Infrastruktur, der für das Unfallgeschehen
ebenfalls signifikant ist?
({1})
Den letzten Punkt will ich allerdings etwas relativieren. In Kenntnis der Zahlen des Straßenbauberichtes 2001, den wir kürzlich hier diskutiert haben, ist festzustellen, dass nur noch ein Drittel aller Brücken und zwei
Drittel der Fernverkehrswege in Deutschland uneingeschränkt zu nutzen sind. In einigen Bundesländern ist sogar nur noch ein Drittel der Fernverkehrswege uneingeschränkt zu nutzen. Am schlechtesten steht in diesem Fall
wiederum Berlin da, wo nur noch 30 Prozent aller Fernverkehrswege uneingeschränkt nutzbar sind.
Dass das signifikant für das Unfallgeschehen ist, beweisen die Zahlen aus Hessen, wo vor kurzem zwei Unfallschwerpunkte auf Autobahnen dadurch entschärft
worden sind, dass man dort neue Straßenbeläge aufgebracht und die Autobahnen saniert hat. Unmittelbar danach sind die Unfallzahlen um 30 Prozent zurückgegangen. Das zeigt, dass es notwendig ist, beim Erhalt der
Infrastruktur anzusetzen.
({2})
Bei dem, was Sie, Frau Staatssekretärin, vorgestellt haben, fehlt meines Erachtens die Vision.
({3})
Ich vermisse die Vision von null Verkehrstoten im Straßenverkehr und einen entsprechend breiten, globalen Ansatz bei den Maßnahmen.
Sie haben einiges aufgezählt. Ich beginne mit dem
Thema der Promillegrenze. Es ist in der Diskussion, dass
sich die Senkung der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 signifikant auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Zu einem anderen Punkt in diesem Zusammenhang haben Sie
allerdings nichts gesagt. Fakt ist, dass die Promillewerte
derer, die sich jenseits der absoluten Fahruntüchtigkeit bewegen, zunehmen; sie liegen bei 1,6 und mehr.
({4})
Die Promillewerte erreichen astronomische Höhen. Außerdem sind die, die gegen die Promillegrenze verstoßen,
immer jünger. Da bewegt sich aus unserer Sicht zu wenig.
Das nächste Thema ist das von Ihnen angesprochene
Verbot des Telefonierens mit Handy ohne Freisprechanlage. Das bewehren Sie mit Bußgeld und Sie drohen
dem Fahrer Strafe an. Warum haben Sie es nicht einmal
damit versucht, zu sagen: „Wer sich in sein Auto eine Freisprechanlage einbauen lässt, hat eine verminderte Versicherungsprämie zu zahlen“?
({5})
Das wäre eine viel effizientere Lösung, auch wenn Sie darüber lachen. Wenn ich dem Autofahrer signalisiere:
„Wenn Sie sich eine Freisprechanlage einbauen lassen,
dann müssen Sie eine entsprechend reduzierte Versicherungsprämie zahlen“, ist das viel effizienter als die jetzige
Realität.
Was haben Sie denn erreicht? Sie haben ein Verbot in
die Welt gesetzt, an das sich kaum jemand hält. Sie versetzen die Polizei in die Situation, dass sie die Einhaltung
dieses Verbotes nicht kontrollieren kann, und senken damit die Schwelle, dieses Verbot einzuhalten, sodass immer mehr sagen: Es macht ja nichts, wenn ich dagegen
verstoße; es merkt ja sowieso keiner. Genau das erreichen
Sie damit.
Daran schließt sich die Frage an: Warum haben Sie
noch nicht verboten, während des Fahrens das Navigationssystem zu bedienen? Auch das ist in dieser Hinsicht
ein Thema.
({6})
- Herr Kollege Weis, Ihre dummen Zwischenbemerkungen können Sie sich schenken.
Nun zur Diskussion über den Führerschein mit
17 Jahren. Ob das, was damit initiiert werden soll, das
Problem löst, wage ich zu bezweifeln. Was soll ein Begleiter des Fahrers, der mindestens 30 Jahre alt sein und
eine entsprechende Fahrerfahrung haben muss, tatsächlich machen? Wer führt denn das Fahrzeug? Wer trägt das
Rechtsrisiko, wenn etwas passiert? Wie kann er eingreifen? Ganz zu schweigen davon, dass der Fahrer den Übergang von der Fahrschule zu dem, der nach der Fahrschule
neben ihm sitzt, erst einmal verkraften muss. Ich glaube,
das, was Sie dazu vorgelegt haben, ist noch nicht das Ende
der Fahnenstange.
({7})
Hier würde ich sehr viel tiefer ansetzen, zum Beispiel daran, das Fahrlehrerausbildungsrecht zu verändern. Das ist
nach wie vor ein Weiterbildungsberuf und kein Ausbildungsberuf. Noch immer ist das pädagogische Profil viel
zu deutlich ausgeprägt.
Wir sind der Meinung: Im Hinblick auf die Vision „null
Verkehrstote“ hat die Bundesregierung noch einen weiten
Weg vor sich. Diese Aufgabe muss sie erst einmal erfüllen.
Danke sehr.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Heidi Wright, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auto
fängt mit „au“ an. Das ist ein weiser Spruch meiner Mutter
an ihre Enkel. Diesem Eingangssatz folgt eine längere Ansprache an die Familie, dass das Autofahren teuer und gefährlich ist, dass man eigentlich gar nicht wegfahren müsse
und zu Hause bleiben könne oder dass man auch mit dem
Zug fahren könne. Keine Angst, ich halte hier keine Rede
gegen das Auto und schon gar nicht gegen die Mobilität.
Aber grundsätzlich und keineswegs altbacken ist festzustellen: Mobilität fängt nicht mit dem Auto an und ist nicht
auf das Auto beschränkt. Das Gute liegt nicht immer fern.
Den Fakten des Straßenverkehrs will ich mich aber
keineswegs verschließen und diese auch hier nochmals
bewusst machen. Wir haben eine enorme und steigende
Verkehrsdichte. Allein die PKW-Dichte lag Anfang 2002
bei 540 PKW pro 1 000 Einwohner. Damit verfügt mehr
als jeder Zweite über einen PKW. Das ist Rekord, der
natürlich im Hinblick auf die Wachstumstheorie fragen
lässt: Wie viel mehr denn noch?
540 PKW pro 1 000 Einwohner, also mehr als 43 Millionen PKW in Deutschland - das ist die eine Zahl. Die
andere ist, dass diese PKW mehr als 522 Milliarden Kilometer pro Jahr zurücklegen. Das ist unglaublich viel.
Nach all diesen Daten will ich zunächst einmal ein Lob
an all die Verkehrsteilnehmer loswerden, die bedacht und
rücksichtsvoll fahren und allermeistens seit Jahrzehnten
unfallfrei am Verkehrsgeschehen teilnehmen. Ich will ein
Lob an die Kolleginnen und Kollegen der Verkehrspolizei
loswerden, die meistens regeln, damit nichts passiert, und
immer hinzukommen, wenn Schlimmes passiert ist. Wenn
Schlimmes passiert, sind die Kräfte der Rettungsdienste
im Einsatz. Polizistinnen und Polizisten, Rettungssanitäter und Notärzte sind mit die Ersten, die in tragischen Situationen Betroffenen und Angehörigen zur Seite stehen.
Dafür auch aus diesem Hause Anerkennung!
({0})
Der Bericht zum Unfallgeschehen, der uns heute vorliegt, kann positiv bewertet werden. Bei der Beobachtung des Verkehrsgeschehens zeigt sich bei allem Verbesserungsbedarf die erfreuliche Erkenntnis: Der Mensch
ist lernfähig. Der Verkehr nimmt zu und das Unfallgeschehen nimmt ab.
Seit 1975 lässt sich der Deutsche Bundestag den Unfallbericht in zweijährlichem Abstand vorlegen. Seit 1991
haben wir rückläufige Zahlen bei den getöteten und
schwer verletzten Verkehrsteilnehmern. Dennoch, 6 977
tote Verkehrsteilnehmer im Jahre 2000 sind 6 977 zu viel.
Auch das ist ein Preis der Mobilität.
Mobilität, verehrte Kolleginnen und Kollegen, muss immer mit dem Anspruch der Verbesserung der Verkehrssicherheit einhergehen. Dieser Aufgabe stellt sich die
Politik. Im Berichtszeitraum sind zwei Programme des Bundesministeriums für Verkehr aufgelegt worden, die wichtige
Ziele verfolgen. Diese Ziele zu erreichen ist aber sicherlich
eine fortwährende Aufgabe. Die Bundesregierung hat dafür
im Berichtszeitraum wichtige Regelungen getroffen.
Eine davon will ich noch einmal aufgreifen; es ist die
0,5-Promille-Regelung. Ich habe sie sehr begrüßt und in
meinem Weinland Franken enorm dafür geworben. Ich
bitte jeden, doch einmal zu überlegen - jeder Vernünftige
hat das natürlich bereits vor dieser Regelung getan -, sein
Auto auch vor Erreichen der 0,5 Promille stehen zu lassen. Hier muss das Signal an die Jugendlichen gehen: Es
gibt nur eine Konsequenz, entweder Auto oder Alkohol,
entweder Fete oder Fahren.
Eine Beschäftigung mit den Unfallursachen und den
Unfallverursachern zeigt eine deutliche Unterscheidung
zwischen jungen und älteren Verkehrsteilnehmern sowie
zwischen Männern und Frauen. Das Fazit könnte sein:
Nur noch Frauen ab 25 ans Lenkrad!
({1})
Dass das natürlich nicht meine ernsthafte Forderung ist,
will ich gleich zugeben. Ich will aber nochmals feststellen: Frauen sind die besseren Verkehrsteilnehmer.
({2})
Die Brisanz, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt bei
den jungen Verkehrsteilnehmern. Es ist festzuhalten:
Junge Fahrer fahren gefährlich. Bei Unfällen mit jungen
PKW-Fahrern waren diese in fast 63 Prozent der Fälle
Hauptunfallverursacher. Das zeigt ganz klar den Handlungsbedarf auf. Ob dieser darin bestehen kann, dass wir
die Fahrerlaubnisgrenze auf 17 Jahre absenken, verneint
wohl jeder. Ob wir den jüngeren Verkehrsteilnehmern einen Begleiter zur Seite setzen, bringt aber auch mehr
Stirnrunzeln als Kopfnicken.
Zunächst die klare Message an die jungen Leute: Den
Führerschein mit 17, gerade mal so, gibt es natürlich
nicht. So einfach war das auch nie angedacht. Es gibt den
Führerschein mit 17 in den USA. Es gibt begleitetes Fahren in Österreich und in Schweden. Es gibt bei uns eine
Projektgruppe „Begleitetes Fahren“ der Bundesanstalt für
Straßenwesen. Es wird ein Gutachten dieser Projektgruppe und dann eine Befassung in den politischen Gremien geben. Dann schauen wir einmal. Aber so viel vorab:
Erfahrungen aus dem Ausland sind in weiten Teilen mit
den Gegebenheiten in Deutschland nicht vergleichbar.
Gibt es in Schweden vielleicht hier und dort die Gefahr
der Kollision mit einem Elch, so wartet bei uns der Elch
eigentlich an jeder Ecke.
({3})
Es ist Fakt: Wir sind das dichtest befahrene Land in Europa. Wir liegen nicht abgelegen peripher und befinden
uns auch nicht im Highway-Land mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 Meilen pro Stunde.
({4})
Ich habe in den letzten Wochen ganz klar die Absage an
die vereinfachte Formel des Führerscheins mit 17 gehört
und zum Thema begleitetes Fahren Achselzucken wahrgenommen. Ich habe jetzt Herrn Storjohann gehört, der sich
wohl als Begleiter outet. Ich habe gar niemanden erlebt,
der gerne ein Begleiter wäre. Ich habe auch niemanden
erlebt, der gerne amtlich begleitet fahren möchte. Ich
halte die Sache für überflüssig wie einen Kropf. Sie ist,
wenn sie wirklich mehr Verkehrssicherheit bringen soll,
aufwendig und umständlich und wird dann von den Jugendlichen ganz bestimmt nicht angenommen werden.
Jugendliche haben weder Zeit noch Geld, sich vor dem
18. Lebensjahr intensiv mit dem Führerschein oder mit
dem begleiteten Fahren abzumühen. Jugendliche sind
durch ÖPNV, Fahrrad und Billigflieger mobil. Es ist mir
wichtig, den Jugendlichen klar zu machen: Die Freiheit
beginnt nicht mit dem Führerschein und der Führerschein
ohne Verantwortung ist eine Freiheit zulasten anderer.
Ich komme zum Schluss zu unseren ungelösten politischen und gesellschaftlichen Aufgaben. Fakt ist: Wir müssen alles daransetzen, junge Verkehrsteilnehmer zu einem
stärkeren Sicherheitsbewusstsein und zu einem verantwortlichen Umgang im Straßenverkehr zu bringen. Ich
finde, die Verkehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“
ganz prima. Aber ob dieses Konzept die Jugendlichen erreicht, wage ich zu bezweifeln. Der Altersgruppe bis
25 müssen wir uns sicherlich anders nähern.
Wir werden uns auf Koalitionsebene mit Vertretern der
Fahrlehrerverbände treffen, vonseiten der SPD-Fraktion
eine Verkehrssicherheitskonferenz im ersten Halbjahr
durchführen und Herr Bundesminister Stolpe will nach
Vorlage des Gutachtens Experten zu einer Anhörung auf
politischer Ebene laden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Letzter Satz. - Ich weiß von den Bemühungen der Verkehrssicherheitsinstitute, die hier heute schon gelobt wurden, dass sie über Jugendmedien wie die „Bravo“, Jugendrundfunk und -fernsehen das Thema
Verkehrssicherheit ebenfalls aufgreifen werden. Der Unfallverhütungsbericht
({0})
ist ein guter Bericht und zeigt eine gute Verkehrssicherheitslage. Aber nichts ist so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wright,
wenn Sie die Männer beim Autofahren nicht so zurückgesetzt hätten, hätte ich Ihnen etwas von meiner Redezeit
abgetreten. Aber ich hoffe, dass wir das in Zukunft so machen können.
Der vorgelegte Unfallverhütungsbericht zeigt deutlich,
dass das Unfallgeschehen und die Unfallhäufigkeit untrennbar mit der Verkehrsinfrastruktur zusammenhängen.
Logische Konsequenz daraus ist der umfassende Ausbau
von Autobahnen, Bundesstraßen, Ortsumgehungen und
Verkehrsanlagen. Nicht zuletzt die beständige Zunahme
des Verkehrs zwingt uns dazu. Das steigende Verkehrsaufkommen darf nicht mit einem Anstieg der Unfallzahlen einhergehen. Deswegen ist für uns - auch aufgrund
dieses Berichtes - die klare und deutliche Aussage: Der
Ausbau und die Verbesserung von Verkehrswegen sind
wichtige und bedeutende Voraussetzungen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr.
({0})
Der Ausbau von Straßen ist auch ein eindeutiger und überzeugender Beitrag, um Unfälle zu verhüten.
({1})
Deswegen möchte ich einen Punkt ansprechen, der im
Bericht sicherlich zu kurz gekommen ist bzw. relativ wenig beachtet wurde. Wir befinden uns mitten in der Diskussion über die EU-Osterweiterung. Wir stellen schon
heute fest, dass in den letzten zehn Jahren nach Öffnung
der Grenze der Verkehr bei uns in Deutschland rasant zugenommen hat. Es ist Tatsache, dass wir ab 2004 noch
einmal eine deutliche Zunahme verzeichnen werden. Hinsichtlich des Straßengüterverkehrs zwischen der EU und
den Beitrittsländern wird eine Zunahme um rund 200 Prozent prognostiziert. Das sind seriöse Angaben von verschiedenen Stellen, die Konsequenzen in der Verkehrssicherheit und insbesondere beim Bau von Straßen
erfordern.
({2})
Die Einfuhr von Waren aus Polen hat sich von 1997 bis
2001 fast verdoppelt. Ich darf hier einfach einmal einen
Grenzübergang in meinem Wahlkreis, in Furth im Wald,
erwähnen. Gestern stand in der Zeitung: „Januar brach
alle bisherigen Lkw-Rekorde“. Wir stehen erst am Anfang
der Zunahme des LKW- und des Güterverkehrs. Das erfordert insbesondere im Bereich der Verkehrssicherheit
grundlegend neue Gedanken. Wir haben bereits jetzt
lange Schlangen. Wir haben übermüdete LKW-Fahrer.
Dies sind erhebliche Gefahren, denen wir begegnen müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf einen
Punkt aus der Praxis an den Grenzen ansprechen, der mir
einige Sorge bereitet. Leider Gottes ist die Polizei nicht
mehr in der Lage, umfassende Kontrollen durchzuführen.
Das heißt, dass viele LKWs auf unseren Straßen unterwegs sind, die unseren Ansprüchen nicht entsprechen.
Das bedeutet Gefahr für die Menschen; das bedeutet Gefahr für die Verkehrsteilnehmer.
Am 1. April 2004 werden die Zollkontrollen über
Nacht wegfallen. Natürlich ist der Zoll nicht für die Ver1980
kehrssicherheit zuständig. Aber was zum Beispiel die Beladung von Pkws oder von Lkws anbelangt, gibt der Zoll
Hinweise an die Grenzpolizei. Diese Zusammenarbeit
wird es in Zukunft nicht mehr geben.
({3})
Deswegen müssen wir neue Formen der Kontrolle finden.
Denn wir dürfen nicht zulassen, dass sich Lkws, die unseren Erfordernissen nicht entsprechen, auf unseren
Straßen tummeln.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
wir sind uns auch darin einig, dass die Eigenverantwortung in der Verkehrserziehung und in der gesamten Sicherheitsarbeit im Verkehr eine ganz entscheidende Rolle
spielt. Deswegen möchte ich einen Gedanken aufgreifen,
den unser Vorsitzender, Herr Oswald,
({5})
in den letzten Tagen in einer Zeitschrift dargestellt hat:
Die Deutsche Verkehrswacht ist Garant und eine tragende Säule der Verkehrssicherheitsarbeit.
({6})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen danken, die in
diesem Bereich tätig sind. Für mich ist ganz entscheidend,
dass hier unheimlich viele ehrenamtlich tätig sind. Wenn
ich die Zahl richtig in Erinnerung habe, hat die Verkehrswacht 90 000 Mitglieder, die ausschließlich ehrenamtlich
tätig sind. Ihnen gilt ein besonderer Dank.
({7})
Ich darf ein Beispiel aus meiner Heimatstadt erzählen.
Wir sind ein kleines Städtchen mit ungefähr 17 000 Einwohnern und einer Schulzentrale mit 4 000 Schülerinnen
und Schülern. Dort sind 100 Schüler in der Betreuung der
Überwege und für die Verkehrssicherheit tätig. Wir stellen fest: Seitdem diese jungen Menschen tätig sind, ist
kein Unfall mehr passiert. Dies ist doch ein deutliches
Zeichen, was man mit dem Ehrenamt auch im Straßenverkehr erreichen kann.
({8})
Diese 100 jungen Leute - jeder von Ihnen könnte solche
Beispiele aufzeigen - werden ausgebildet und werden ganz
anders an zukünftige Verkehrssituationen herangehen.
Ich möchte unsere Konsequenzen aus diesem Bericht
ganz kurz in fünf Punkten zusammenfassen:
Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur trägt dazu bei,
Unfälle zu vermeiden. Deshalb muss der Ausbau von Verkehrswegen oberste Priorität haben.
({9})
Zweitens. Die Verkehrspolitik muss verstärkt den
neuen Herausforderungen der EU-Osterweiterung Rechnung tragen. Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den Grenzregionen ist eine zentrale Forderung.
({10})
Drittens. Stärkere Verkehrskontrollen an den Grenzen
sind notwendig, um vor allem die Sicherheit beim LkwVerkehr zu gewährleisten.
({11})
Viertens. Wir müssen moderne Technologien und elektronische Verkehrsleitung nutzen, um eine noch größere
Verkehrssicherheit zu erreichen. Es sind Forschung und
Entwicklung in unserer Wirtschaft zu fördern - von ihr
gehen sehr große Impulse aus -, damit Deutschland eine
Vorreiterrolle übernehmen kann.
({12})
Fünftens. Nicht zuletzt muss die Eigenverantwortlichkeit der Verkehrsteilnehmer gestärkt werden; dies müssen
wir als Schwerpunkt ansehen. Dazu gehören die Anerkennung und Förderung von Tausenden von ehrenamtlichen Helfern, die im Verkehrsbereich tätig sind.
({13})
In diesem Bericht sind viele gute Ansätze enthalten.
Wir dürfen beim Erreichten aber nicht stehen bleiben,
sondern müssen im Interesse unserer Verkehrsteilnehmer
weiter daran arbeiten.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2000/2001 der Bundesregierung, Drucksachen 14/9730 und 15/388. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich
jemand enthalten? - Dann ist diese Beschlussempfehlung
bei nicht kompletter Beteiligung der anwesenden Kolleginnen und Kollegen - diese Präzisierung erwartet man vom
Präsidium - einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Versorgungsausgleich umgehend regeln - Keine
Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung
- Drucksache 15/354 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
„Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen“, das stellte
bereits der römische Dichter Ovid fest. Am Beginn des
21. Jahrhundert haben sich die Lebenswirklichkeiten in
der deutschen Gesellschaft wie auch in ganz Europa tief
greifend verändert. Die Menschen haben andere Lebenspläne und Wünsche als noch vor 50 Jahren. Dieser Wandel bereichert unsere Gesellschaft in gleichem Maße, wie
er uns vor neue Herausforderungen und Probleme stellt.
In Deutschland wird gegenwärtig jede dritte Ehe geschieden. In 55 Prozent der Fälle sind minderjährige Kinder betroffen. Angesichts dieser sich wandelnden Strukturen besteht insbesondere in der Familienpolitik immer
wieder Handlungsbedarf. Auch beim Familienrecht muss
diesem Wandel Rechnung getragen werden.
({0})
Es muss darum gehen, die veränderten Lebenswirklichkeiten und Bedürfnisse der Menschen unvoreingenommen wahrzunehmen und auf diese angemessen zu reagieren. Die Politik ist gefordert, die Menschen in ihrer
individuellen Lebenswirklichkeit konstruktiv zu begleiten und mit geeigneten Gesetzen die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.
Leider nehmen Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, diesen Auftrag an die Politik nicht allzu wichtig;
({1})
denn der von der Arbeitsgruppe Recht und der Gruppe der
Frauen unserer Fraktion heute eingebrachte Antrag zeigt
einen Sachverhalt auf, der geradezu symptomatisch zu
sein scheint für die Rechts-, Frauen- und Familienpolitik
dieser Bundesregierung.
({2})
Denn seit dem 1. Januar 2003 sehen sich Frauen und Männer, die sich scheiden lassen wollen, erheblichen Rechtsunsicherheiten gegenüber.
({3})
Nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 5. September des Jahres 2001 darf in Scheidungsverfahren die
Barwertverordnung für den Versorgungsausgleich seit
diesem Jahr nicht mehr in der bisherigen Form angewendet werden.
Bei der Barwertverordnung werden, wie Sie wissen,
die Rentenansprüche der Partner aus der Ehezeit addiert
und in gleiche Hälften geteilt.
({4})
({5})
Rot-Grün hat es versäumt, ja - das will ich schon sagen verschlampt, in der vom Bundesgerichtshof vorgegebenen Frist bis zum Jahr 2002 eine einwandfreie Nachfolgeregelung des Versorgungsausgleichs vorzulegen.
({6})
Insbesondere die damals noch zuständige Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin hat wohl ein Jahr lang
überhaupt nichts in dieser Sache unternommen. Dies ist
mehr als bedauerlich; denn der Versorgungsausgleich ist
ein ausgesprochen sinnvolles Instrument im Scheidungsrecht. Mit ihm wird dem Gedanken Rechnung getragen,
dass in der Ehezeit erworbene Versorgungsansprüche der
Ehepartner das Ergebnis einer gemeinsamen Lebensleistung sind. Gerade aus frauenpolitischer und aus familienpolitischer Sicht ist dieser Ansatz elementar. Denn es ist
richtig, dass insbesondere Frauen, aber auch Familienmänner, die während der Ehe zumindest zeitweise auf
eine Erwerbstätigkeit verzichten und sich auf die Familienarbeit konzentrieren, bei einer Scheidung nicht ihren Anspruch auf eine eigene Alterssicherung verlieren.
({7})
Wird die Ehe geschieden, ist der Versorgungsausgleich
ein wichtiger Baustein für die soziale Sicherung des wirtschaftlich schwächeren Ehegatten im Alter und bei Invalidität. Es entspricht unserem Sinn für Gerechtigkeit, dass
insbesondere die in der Ehezeit erworbenen Anrechte in
der gesetzlichen Rentenversicherung, Pensionsanrechte
sowie Rentenleistungen aus betrieblicher Altersversorgung oder auch aus privaten Rentenversicherungsverträgen unter den Eheleuten ausgeglichen werden und damit
zur eigenständigen Alterssicherung beitragen.
Um diesen Ausgleich der Ansprüche bei einer Ehescheidung gerecht und auch zügig durchführen zu können,
brauchen wir eine allgemeine Berechnungsgrundlage. Bis
Ende des Jahres 2002 war mit der Barwertverordnung
diese Grundlage gegeben. Jetzt befinden wir uns aufgrund
der Versäumnisse dieser Bundesregierung auf sehr
wackeligem rechtlichen Boden.
Damit nicht genug. Im Oktober 2002 legten Sie, Frau
Justizministerin, nach einjähriger Tatenlosigkeit Ihres
Hauses und dem notwendig gewordenen Abgang Ihrer
Vorgängerin einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des
Versorgungsausgleichs vor, den man schlichtweg als unbrauchbar bezeichnen muss. Die Kritik der Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten wollte gar nicht mehr aufhören. Daraufhin haben Sie diesen unausgegorenen
Gesetzentwurf auch wieder in der Versenkung verschwinden lassen - mehr als zu Recht, wie ich finde.
Gerade aus frauenpolitischer Sicht war dieser Gesetzentwurf eine reine Katastrophe. Viele Frauen hätten mit
der Umsetzung dieses Gesetzentwurfs unverantwortliche
Einschnitte in ihre Alterssicherung hinzunehmen gehabt.
Zum Beispiel hätten Frauen, die vor ihren geschiedenen
Männern in Rente gegangen oder berufsunfähig geworden wären, aus unerfindlichen Gründen erst warten müssen, bis ihr ehemaliger Ehegatte ebenfalls in Rente geht.
Erst dann hätten sie ihren Anspruch auf Versorgungsausgleich realisieren können. Sie wären so von den Lebensumständen des ehemaligen Partners abhängig gewesen
und wären mit gravierenden Versorgungslücken in der eigenen Alterssicherung konfrontiert gewesen.
Ebenso lebensfremd war Ihr Vorschlag, den Versorgungsausgleich schuldrechtlich auszugestalten. Was war
denn hier Ihr Ziel, Frau Justizministerin? Wollten Sie ge1982
schiedene Eheleute ein Leben lang in Rechtsstreitigkeiten
aneinander ketten?
({8})
Es ist Ihnen inzwischen wohl selbst klar geworden, dass
Sie sich mit dieser Idee auf dem Holzweg befunden haben. Hätten Sie diesen Vorschlag umgesetzt, wären eigene
Versorgungsanwartschaften für die betroffenen Frauen
und Männer in Zukunft passé gewesen. Sie hätten häufig
im hohen Alter mit eigenen Anträgen eine monatliche
Geldrente von ihrem ehemaligen Ehemann oder ihrer ehemaligen Ehefrau einfordern müssen. Ob sie dann überhaupt etwas erhalten hätten, steht in den Sternen. Immer
neue Rechtsstreitigkeiten wären vorprogrammiert gewesen, unter Umständen Jahrzehnte nach der Scheidung.
Dies kann doch nun wirklich niemand wollen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie weit sich
diese Bundesregierung von der Lebenswirklichkeit der
Menschen in unserem Lande entfernt hat. Man könnte fast
den Eindruck gewinnen, dass die Anspruch stellenden
Frauen und Männer dazu gebracht werden sollten, auf ihre
Rechte zu verzichten, um nicht immer wieder vor Gericht
erscheinen zu müssen. Wahrscheinlich wäre dies dann sogar auch passiert und die Betroffenen hätten sich in ihrer
Verzweiflung die Ausgleichsrechte gegen viel zu geringe
Beträge abkaufen lassen, um nicht ständig wieder in die
sprichwörtliche Höhle des Löwen zurückkehren zu müssen. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Wollen Sie, dass diese Frauen und Männer auf Sozialhilfe angewiesen sind, nur weil Sie nicht fähig sind, praktikable rechtliche Regelungen rechtzeitig auf den Weg zu
bringen? Ich glaube, hier sind Sie dem Hohen Haus nachher eine Erklärung schuldig, Frau Justizministerin.
Durch diesen Politikstil wird deutlich, was insbesondere Frauen von dieser Bundesregierung zu erwarten haben, nämlich weniger als nichts. Man kann sich bei dieser
Regierung nicht einmal darauf verlassen, dass es zu keiner Verschlechterung des Status quo kommt. Ein neuer
Gesetzentwurf, mit dem eine Neuregelung des Versorgungsausgleichs erreicht werden könnte, wurde bislang
nicht vorgelegt. Es wird von Ihnen lediglich immer darauf
verwiesen, dass alles nicht so schlimm sei und dass sich
alles regeln werde. Verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition, das ist ein Irrtum. Unter Ihrer
Verantwortung regelt sich nichts von selbst oder wird besser, im Gegenteil.
({9})
In jedem betroffenen Scheidungsverfahren müssen
jetzt Gutachter bestellt werden, um die Ansprüche einzeln
aufzuzeigen. Diese stehen nicht an jeder Ecke. Ich denke,
ich muss Ihnen nicht erzählen, was ein solches Gutachten
kostet. Es wäre eigentlich nur fair, wenn die Betroffenen
ihren nicht hinnehmbaren finanziellen und zeitlichen sowie nicht zu unterschätzenden nervlichen Mehraufwand
dieser rot-grünen Bundesregierung einfach in Rechnung
stellen könnten.
({10})
- Anhand Ihrer Zwischenrufe erkenne ich, dass Sie über
diesen nicht hinnehmbaren Zustand, der durch Ihre eigenen Schlampereien herbeigeführt worden ist, geflissentlich hinweggehen. Es bleibt zu hoffen, dass Ihre Untätigkeit nicht etwa ideologisch begründet ist.
({11})
Sie sorgen wohl nur für Frauen und Männer, die eine
lückenlose Erwerbsbiografie vorweisen können. Das ist
nicht unserer Ansatz. Wir wollen die Wahlfreiheit in unserem Land gewährleistet wissen. Es gibt nun einmal auch
in unserem Land eine Vielzahl von Frauen und inzwischen auch Männern, die sich für eine gewisse Zeit ausschließlich oder teilweise der Familie widmen wollen.
({12})
Dieser Lebensentwurf verdient unseren Respekt und
unsere Anerkennung. Diesen Müttern und Vätern muss
gerade auch dann, wenn es zum Scheitern der Ehe kommt,
unsere Unterstützung zukommen. Diesen Menschen dürfen Sie diese Quittung nicht geben. Sie von Rot-Grün sind
verpflichtet, dafür zu sorgen, dass es hier zu einer zügigen
Regelung kommt, die sorgsam, umsichtig und verantwortungsbewusst ist. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eines stimmt: Das Recht des Versorgungsausgleichs gehört zu den schwierigsten Materien überhaupt.
({0})
Sehr geehrte Frau Vorrednerin,
({1})
deshalb muss ich zunächst einmal eines klarstellen: Sie
reden immer vom Versorgungsausgleich und führen in Ihrer Begründung die Barwertverordnung an. Das sind zwei
ganz verschiedene Dinge.
({2})
Der Versorgungsausgleich ist das eine. Mit der Barwertverordnung, von der Sie hinten in Ihrem Antrag gesprochen haben - darauf nehmen Sie andauernd Bezug -,
regelt man nur den Ausgleich ganz bestimmter Ansprüche, vor allem der zusätzlichen Betriebsrenten. Nur
das wird durch die Barwertverordnung berechnet.
({3})
Ich erkläre das jetzt einmal von vorne:
({4})
Familienrichterinnen und -richter nutzen die Barwertverordnung für die Aufstellung einer Bilanz der angewachsenen Versorgungsansprüche, die neben den Ansprüchen gegenüber der BfA bestehen. Es ist nicht immer
einfach, diese Bilanz aufzustellen; denn es gibt unterschiedliche Versorgungsrechte. Es gibt betriebliche Zusatzversorgungen, die auf eine feste Zahlung hinauslaufen, es gibt betriebliche Versorgungssysteme, die
dynamisiert sind, es gibt die Riester-Rente, es gibt Lebensversicherungen und es gibt seit dem 1977 geschaffenen Recht des Versorgungsausgleichs einen bunten Strauß
von verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten.
Der Unterschied dieser Rechte besteht in der Dynamisierung. Dazu benötigen wir die Barwertverordnung. Die
Barwertverordnung dient dazu, diese unterschiedlichen
Rechte gegenüberzustellen, zu berechnen und dadurch einen richtigen Ausgleich zu finden.
Technisch wird das so gehandhabt, dass diese verschiedenen Anrechte nach dem Prinzip der gesetzlichen
Rentenversicherung vergleichbar gemacht werden. Das
heißt, auf der Basis des Anspruchs gegenüber der BfA
werden die anderen Ansprüche hinzugerechnet. Das bedeutet, die Rechte, die nicht wie die Anrechte aus der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrem Wert steigen,
werden in die Bilanz nicht mit dem monatlichen Nominalbetrag, sondern mit dem so genannten dynamisierten
Betrag eingestellt. Daher kommt dieses Wort.
Dieser Dynamisierung der Anrechte, die nicht volldynamisch sind und denen auch kein Deckungskapital zugrunde liegt, dient die Barwertverordnung. Dazu braucht
man verschiedene Parameter. Der Bundesgerichtshof hat
in seiner Entscheidung von 2001 gerügt, dass die zugrunde liegenden Annahmen über die Sterbewahrscheinlichkeit - sprich: über die Lebenserwartung der Menschen - und die Invalidisierungswahrscheinlichkeit
veraltet sind. Das ist richtig; denn die Barwertverordnung
ist inhaltlich seit 1984 nicht mehr geändert worden. Die
Lebenserwartung ist seitdem aber gestiegen.
Natürlich ist ein Versorgungsrecht mehr wert, wenn
man von einer höheren Lebenserwartung ausgehen kann.
Die Unterbewertung der von der Barwertverordnung betroffenen Anrechte führt also im Ergebnis dazu, dass die
während der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte nicht
hälftig zwischen den Ehegatten verteilt werden. In dem
Fall, den der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte,
hätte die Frau mehr Geld bekommen müssen.
Es klingt erst einmal ganz einfach: Wir passen die
zwei Parameter, Sterbewahrscheinlichkeit und Invalidisierungswahrscheinlichkeit, einfach an. Das kann man
sich zwar vorstellen, aber so einfach ist die Welt nun einmal nicht. Die Annahmen über die Lebenserwartung und
die Wahrscheinlichkeit der verminderten Erwerbsfähigkeit sind eben nur ein Teil der veralteten Parameter der
Barwertverordnung. Weitere wichtige Punkte sind der
Rechnungszins, der in der Barwertverordnung im Moment mit 5,5 Prozent angegeben ist - man geht davon
aus, dass das zu hoch ist -, die Rentendynamik, die unterschiedlichen Barwertfaktoren für Männer und Frauen,
die sich unterschiedlich entwickelt haben, sowie minderoder superdynamische Wertentwicklungen, die wir damals, als diese Verordnung gemacht wurde, noch gar
nicht kannten.
Festhalten lässt sich aber: Die Umrechnung als solche
bedeutet immer eine erhebliche Veränderung im Nominalwert der umzuwertenden Anrechte. Das kann in vielen
Fällen nicht mehr gerecht sein. Wir haben es also mit einem Verlust an Gerechtigkeit zu tun. Das hat übrigens
auch schon die Regierung Kohl erkannt. 1984 wollte sie
die Barwertverordnung wegen ihrer Mängel zum
Jahre 1987 auslaufen lassen. Sie sehen, man hat schon damals gewusst, dass sich das Leben selbst im 20. Jahrhundert ändert.
Wir in der rot-grünen Regierungskoalition haben uns in
der letzten Legislaturperiode entschieden - das fordern
Sie, wenngleich Sie es anders beschrieben haben -, den
Versorgungsausgleich in toto anzupacken. Wir wollen einen besseren Ausgleich bei nicht volldynamischen Anrechten. Unsere Überlegungen konzentrieren sich darauf,
die Durchführung des Versorgungsausgleichs im Wege
der Realteilung auszubauen. Das heißt, die Anrechte werden grundsätzlich in dem System, in dem sie erworben
sind, geteilt. Man muss keine gegenseitige Berechnung
mehr vornehmen.
Da ein solches System der verfassungsrechtlichen und
auch der versicherungsmathematischen Absicherung bedarf, müssen erst umfangreiche Vorarbeiten beendet werden. Die neue Entwicklung im System der Alterssicherung - Stichwort: Riester-Rente und andere Formen der
privaten Altersvorsorge - haben unsere geplante Strukturreform nicht nur zeitlich verzögert, sondern auch inhaltlich sehr erschwert. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist nun mitten in diese Arbeiten geplatzt.
Weder meine Amtsvorgängerin noch ich waren zunächst
von der Idee begeistert, das Auslaufmodell Barwertverordnung einfach nur zu verlängern, weil, wie schon erwähnt, neben den vom BGH behandelten beiden Punkten
noch zahlreiche andere problematisch sind.
Deshalb hat das Haus zunächst vorgeschlagen, die betroffenen Anrechte im Wege des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs zum Ausgleich zu bringen. Das hätte
für den Übergang bis zur Strukturreform in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eine Art Moratorium bedeutet.
Sie haben Recht: Man hätte diesen Versorgungsausgleich
abspalten und ihn später anpacken müssen, was im
Grunde kein Problem ist. Im Übrigen wird auch heute
schon über § 10 a EStG der Versorgungsausgleich wieder
angepackt. Oft stellt man nämlich nach zehn bis 15 Jahren fest, dass die Wertberechnungen, die damals zugrunde
gelegt wurden, nicht mehr stimmen.
Unsere Lösung hätte sich also in den vergleichsweise
wenigen Fällen ausgewirkt, in denen der Versorgungsausfall schon eingetreten wäre oder unmittelbar bevorstand.
Dies hätte das zur Folge, was Sie explizit fordern: Die
Frauen wären besser gestellt worden.
Diesen schuldrechtlichen Versorgungsausgleich haben
wir aber nur für die Übergangszeit geplant. In der
grundsätzlichen Strukturreform - das habe ich eben schon
angesprochen - wollen wir ihn natürlich nicht.
Der von uns vorgelegte Entwurf war nicht unbrauchbar. Er hat nur einen sehr viel übergreifenderen Ansatz
verfolgt und war deshalb in der Kürze der Zeit einigen
nicht vermittelbar. Die Kritik hat aber gezeigt, dass die
Strukturreform notwendig ist. Deswegen haben wir das
Thema noch einmal diskutiert. Ich bin nach wie vor der
Auffassung, dass wir den Versorgungsausgleich dringend
ändern müssen. Diese Reform ist überfällig. Das Recht ist
völlig zersplittert. Kein Mensch kennt sich aus. Man
benötigt wissenschaftliche Gutachten, um überhaupt zu
einem Ergebnis zu kommen. Das ist kein befriedigender
Zustand. Da müssen wir ran!
Deswegen habe ich entschieden, den Gesetzentwurf zum
Übergangsrecht in der vorgelegten Fassung nicht weiter zu
verfolgen, sondern eine Erhöhung der beiden Parameter Lebenserwartung und Invalidisierungswahrscheinlichkeit, die
der Bundesgerichtshof gerügt hat, vorzunehmen. Ich hoffe,
dass wir damit in diesen Bereich Ruhe hineinbringen und
hinsichtlich der grundsätzlichen Überarbeitung des Versorgungsausgleichs beschleunigt zu Lösungen kommen, mit
denen nicht nur die Praxis leben kann, sondern die vor allen
Dingen die Anforderungen erfüllen, von denen wir meinen,
dass sie berechtigt sind.
Das bedeutet, dass selbstverständlich sämtliche Lebensentwürfe von Frauen gerecht berücksichtigt werden.
Das ist nämlich eine alte Forderung der Sozialdemokraten, die keineswegs der Auffassung sind, dass nur diejenigen, die gearbeitet haben, im Alter eine Versorgung erhalten sollen, sondern dass auch diejenigen, die auf andere
Art und Weise dafür gesorgt haben, dass die Familie zusammengehalten wird und in der Form leben kann, in der
sie leben möchte, bei der Scheidung einer Ehe eine angemessene Versorgung erhalten.
({5})
- Vielen Dank! So ist es.
({6})
In diesem Sinne werden wir den Entwurf einer Barwertverordnung vorlegen. Ich gehe davon aus - ich habe
mit einem Teil der Ländervertreter bereits darüber gesprochen -, dass sie kurzfristig, wahrscheinlich spätestens
im Mai, wird in Kraft treten können.
({7})
- Dieses Jahr natürlich.
Die Arbeiten am Versorgungsausgleich werden wir so
zügig vorantreiben, dass wir auch das in dieser Legislaturperiode zu einem Abschluss bringen können.
Ich hoffe, der Unterschied zwischen Versorgungsausgleich und Barwertverordnung wurde deutlich.
({8})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Sibylle Laurischk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Mit der Aufgabe, die
Barwertverordnung neu regeln zu müssen, hat die frühere
Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, ein schwieriges
Erbe hinterlassen. Ausschlagen kann es die neue Ministerin nicht; aber es fällt offenbar schwer, das Erbe anzutreten. Das Nichtstun bringt jetzt auch noch alles durcheinander.
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 5. September 2001 die Barwertverordnung zu Recht als mit den
heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen nicht mehr vereinbar erachtet. Er hat den Gesetzgeber deshalb aufgefordert, bis zum
Ende des vergangenen Jahres eine Neuregelung vorzulegen. Nach der BGH-Entscheidung ging das Justizministerium zunächst einmal auf Tauchstation. Erst nach dem
Amtsantritt der neuen Justizministerin wurde - kurz vor
Fristablauf - ein Entwurf vorgelegt, der von der juristischen Fachwelt sofort und nahezu einhellig abgelehnt
wurde. Der Entwurf wurde dann wieder zurückgezogen.
Die Folge: Scheidungswillige müssen den Versorgungsausgleich zwar nicht im rechtsfreien Raum lösen,
weil der BGH weitsichtig genug war, in seiner Entscheidung zu erklären, dass zur Wahrung der Rechtseinheit und
im Interesse der Rechtssicherheit in der Übergangszeit,
bis zum In-Kraft-Treten einer Neuregelung der Barwertermittlung - jedenfalls im Regelfall -, die Barwertverordnung weiterhin zugrunde zu legen ist. Sie wird also
auch angewandt.
Man kann ein Scheidungsverfahren bis zur Neuregelung der Barwertverordnung auch ruhen lassen. Man kann
das Scheidungsverfahren abtrennen und hinsichtlich des
Versorgungsausgleiches abwarten.
({0})
- Ja, mit dem Versorgungsausgleich.
({1})
Der ist nämlich Gegenstand auch für die Regelung, die
dann mit der Barwertverordnung zu treffen ist.
Deshalb fordert die FDP das Bundesjustizministerium
auf, unverzüglich den Entwurf einer Neuregelung einer
Barwertverordnung vorzulegen.
Aus Sicht meiner Fraktion ist es damit aber nicht getan. Wir sollten das rot-grüne Versagen bei der Umsetzung
höchstrichterlicher Vorgaben
({2})
zum Anlass nehmen, das gesamte System des familienrechtlichen Versorgungsausgleichs auf den Prüfstand zu
stellen.
({3})
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Biografie von
Frauen grundsätzlich geändert hat - auch gegenüber den
70er-Jahren, als der Versorgungsausgleich mit der Scheidungsrechtsreform eingeführt wurde.
({4})
Die Grunddaten der bisherigen Barwertverordnung sind
aber bis zu 60 Jahre alt. Die veränderte Lebenssituation
von Frauen und auch von Männern muss deshalb dringend ihren Niederschlag in der Gesetzgebung finden. Der
Versorgungsausgleich sollte ursprünglich den Lebensunterhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicherstellen.
Dies waren damals zum überwiegenden Teil Frauen, die
entweder nur ein paar Jahre oder nie erwerbstätig gewesen waren. Mittlerweile ist es für Frauen selbstverständlich, berufstätig zu sein. Nur wenige haben noch eine
reine Hausfrauenbiografie.
Das Versorgungsausgleichsverfahren ist unglaublich
langwierig und zieht oft ein ansonsten unkompliziertes
Scheidensverfahren unnötig in die Länge. Oft braucht die
Klärung der Versorgungsausgleichsansprüche sechs bis
acht Monate, zunehmend noch länger. Nicht die Gerichte
sind schuld daran, sondern eine mühsam arbeitende Rentenversicherungsbürokratie, die bei der Klärung von
Rentenansprüchen mit Auslandsbezug oft völlig zum Erliegen kommt. Hier kann ein Scheidungsverfahren mangels Klärung der Versorgungsausgleichsansprüche gut
und gern auch zwei Jahre und länger dauern.
Ein unkomplizierter Verzicht auf den Versorgungsausgleich, der sich bei geringen Ausgleichsansprüchen anbietet, ist ohne vorherige Klärung der Ansprüche und richterliche Genehmigung oder ohne Gang zum Notar - aus
meiner Sicht eine überholte Bevormundung von scheidungswilligen Frauen und Männern - nicht möglich.
({5})
Ich nenne auch noch einen anderen Grund für meine Forderung, den Versorgungsausgleich insgesamt neu zu regeln:
({6})
Die versicherungsmathematischen Grundlagen des Versorgungsausgleichs sind kaum noch nachvollziehbar und
für Laien unverständlich.
({7})
Da bleibt ganz schnell das Prinzip der Rechtssicherheit
und der Rechtsklarheit auf der Strecke. Deshalb fordere
ich für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungsausgleichsrecht neu zu konzipieren und zu entbürokratisieren.
({8})
Sehr geehrte Frau Ministerin, die FDP-Bundestagsfraktion ist gespannt, welche Vorschläge Sie der Öffentlichkeit vorlegen werden. Ihr Vortrag heute gibt Anlass
zur Hoffnung. Lassen Sie das Erbe Ihrer Vorgängerin
nicht länger in der Schublade! Räumen Sie auf!
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard ScheweGerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit Verlaub, Frau Widmann-Mauz, der Titel Ihres Antrags: „Versorgungsausgleich umgehend regeln - Keine
Schlechterstellung für Frauen bei der Alterssicherung“
vermittelt den Eindruck, als beabsichtige die Bundesregierung eine Neuregelung des Versorgungsausgleichs
zulasten der Frauen. Sie wissen ganz genau: Das ist nicht
der Fall. Fakt ist: Die bestehende Regelung, die es immerhin seit 1977 gibt, geht oft zulasten der Frauen. Das
werden wir schleunigst ändern. Die Ministerin hat es gerade angesprochen.
Wo liegt das Problem? - Die Barwertverordnung, die
als Umrechnungstabelle benutzt wird, um dynamische
Rentenansprüche, also die der gesetzlichen Rentenversicherung, gegenüber nicht dynamischen wie Betriebsrenten oder Leistungen aus berufsständischen Versorgungswerken wie bei Architektenkammern oder Ähnlichem
vergleichbar zu machen, führte in ihrer Anwendung häufig zu Verzerrungen und zum Teil zu erheblichen Leistungskürzungen bei den geschiedenen Anspruchsberechtigten. Das waren in der Hauptsache eher Frauen.
Durch diesen Transfer gingen im Einzelfall bis zu 70 Prozent des Nominalwerts verloren. Genau das hat der Bundesgerichtshof beanstandet und die Anwendung der Barwertverordnung ab 1. Januar 2003 untersagt. Natürlich
hätte schon jetzt eine Regelung in Kraft sein können.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, Schadenfreude auf Ihrer Seite ist überhaupt nicht
angebracht. Das Problem ist lange bekannt. Schon 1984
wollte die damalige Bundesregierung das Verfahren ändern; sie hat es bis 1998 nicht getan. Wir werden das jetzt
machen, aber das braucht natürlich Zeit.
Die Ministerin hat gerade darauf hingewiesen, wie
kompliziert das System ist. Nach der Barwertverordnung
werden in die Berechnung natürlich biologische Daten
wie die durchschnittlichen Angaben für das Lebensalter,
Sterbetafeln usw. einbezogen. Da die Anwendung einer
veralteten Umrechnungstabelle zu ungerechten Verzerrungen geführt hat, müssen wir die Tabelle jetzt endlich
anpassen.
Die Ministerin hat ausgeführt, dass derzeit ein rentenmathematisches Modell erstellt wird. Mit den Ergebnissen rechnen wir sehr bald. Wenn die Bundesländer zustimmen - das sage ich an die Adresse der CDU/CSU -,
kann die neue Verordnung in der Tat noch vor der Sommerpause veröffentlicht werden.
Der Versorgungsausgleich ist ein sehr komplexes und
schwieriges Rechtsgebiet. Das zeigt sich auch darin, dass
seit In-Kraft-Treten immer wieder Korrekturen aufgrund
verfassungsgerichtlicher Vorgaben notwendig wurden.
Der Versorgungsausgleich muss über die sehr unterschiedlichen Systeme der Rentenversicherung und Altersvorsorge hinweg für einen gerechten Ausgleich zwischen
den geschiedenen Ehegatten sorgen. Zudem muss der Versorgungsausgleich aber auch gewährleisten, dass bereits
zum Zeitpunkt der Scheidung die Ansprüche gerecht und
transparent zwischen den ehemaligen Ehegatten geregelt
werden können. Die besondere Schwierigkeit besteht
darin - das liegt auf der Hand -, dass zum Zeitpunkt der
Scheidung das Renteneintrittsalter häufig noch in weiter
Ferne liegt und daher verlässliche Aussagen über die
in Jahrzehnten zu gewährenden Vorsorgeleistungen nur
schwer möglich sind.
Der Druck für eine generelle Reform des Versorgungsausgleichs ist erkennbar vorhanden. Das Ministerium
arbeitet - so haben wir gerade gehört - seit längerem an einer Strukturreform. Es hat ein versicherungsmathematisches Gutachten in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse wir
sicherlich noch vor der Sommerpause erwarten können.
Meine Fraktion sieht die Lösung des Problems nicht
nur in der Anpassung der Barwertverordnung, die jetzt
übergangsweise notwendig ist, sondern in einer generellen Reform des Versorgungsausgleichs. Ziel muss es
sein, gemeinsam mit den Versorgungsträgern praktikable
und gerechte Regelungen für geschiedene Ehegatten zu
finden, die eine eigenständige Altersvorsorge auch derjenigen Frauen und Männer absichern - da sind wir sehr
nahe bei Ihnen, Frau Widmann-Mauz -, die sich in der
Ehe für einen gewissen Zeitraum ausschließlich der Familienarbeit widmen oder einer niedriger entlohnten Teilzeitarbeit nachgehen. In diesem Punkt stimme ich ganz
mit Ihnen überein. Ziel der Strukturreform muss es aber
auch sein, dass die Ehegatten bereits zum Zeitpunkt der
Scheidung über ihre Ansprüche informiert werden, damit
spätere Streitigkeiten, oft nach Jahrzehnten, vermieden
werden können und die ehemaligen Ehegatten nicht in ihrer Planung für die Altersvorsorge behindert werden.
Der Zugang zu den Versorgungsleistungen muss auch
unabhängig möglich werden - da gebe ich Ihnen Recht;
das haben Sie vorhin vorgetragen -; denn es ist schon ein
Problem, wenn eine geschiedene Ehefrau auf Leistungen
warten muss, bis der ehemalige Ehegatte Rente bezieht.
Wir möchten, dass der Versorgungsanspruch nicht erst
fällig wird, wenn auch der ehemalige Ehepartner das Rentenalter erreicht hat. Für uns sind Regelungen durch Realteilung der Versorgungsleistungen denkbar, nach denen
die erworbenen Rentenansprüche grundsätzlich gegenüber dem Versorgungsträger ausgeglichen würden.
Wenn wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen - ich denke, das wird Mitte des Jahres sicherlich möglich sein -, würden wir Sie sehr gern beim Wort nehmen.
Wir hoffen, dass wir einen solchen Entwurf dann gemeinsam verabschieden können. Das ist sicherlich auch im Interesse derjenigen, die das Geld tatsächlich brauchen. Leider sind das in der Hauptsache immer noch die Frauen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Granold.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin, die Formulierung unseres Antrages ist
schon richtig gewählt. Die Barwertverordnung ist Teil des
Versorgungsausgleichs und mit einer nicht mehr geltenden Barwertverordnung lässt sich kein Versorgungsausgleich regeln. Das ist der Punkt, um den es heute geht.
({0})
Es ist dringender Handlungsbedarf gegeben.
(Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar
nicht!
In Deutschland wird nahezu jede dritte Ehe geschieden
und mit jeder Scheidung ist grundsätzlich auch der Versorgungsausgleich durchzuführen. Dieser regelt die Frage,
wie und in welchem Umfang von Ehegatten erworbene
Anwartschaften auf Altersversorgung geteilt werden. Im
September 2001 hatte der Bundesgerichtshof die so genannte Barwertverordnung außer Kraft gesetzt, weil sie
auf veralteten demographischen Grundlagen beruhte.
Mithilfe der Barwertverordnung konnten die Familiengerichte Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung mit denen in betrieblichen und freiberuflichen
Altersversorgungssystemen vergleichbar machen und so
zwischen den Eheleuten teilen.
Ebenfalls im September 2001 gab das höchste deutsche
Zivilgericht dem Bundesgesetzgeber auf, die Barwertverordnung bis spätestens zum 31. Dezember 2002 den heutigen Verhältnissen anzupassen. Doch über ein Jahr lang
ist absolut nichts geschehen.
Dann, Mitte Oktober 2002, übersandte das Bundesjustizministerium den Fachverbänden, den Bundesländern
und auch dem BGH selbst einen Gesetzentwurf zur Stellungnahme mit einer Frist von einem Monat. Statt sich
hierbei wegen der inzwischen eingetretenen Eilbedürftigkeit auf das Wesentlichste und Notwendigste, nämlich die
Novellierung der veralteten biometrischen Daten, zu beschränken, sollte - offenbar mit allzu heißer Nadel gestrickt - ein neues und sehr kompliziertes Verfahren zum
Ausgleich der Versorgungsanwartschaften als Übergangslösung eingeführt werden. Dieses Vorhaben der Bundesregierung wurde, wie es in letzter Zeit bei Regierungsplänen ja schon an der Tagesordnung ist, von Experten auf
das Schärfste kritisiert und zurückgewiesen. Nicht nur,
dass die durch die BGH-Entscheidung entstandene Regelungslücke nicht geschlossen wurde. Es kommt hinzu,
dass der Versorgungsberechtigte - in sehr vielen Fällen
handelt es sich um Frauen - nicht mehr einen Anspruch
auf die Hälfte der Anwartschaften des anderen Ehegatten,
so wie es das Gesetz vorsieht, sondern einen völlig ungesicherten schuldrechtlichen Ausgleichsanspruch gegenüber dem Besserversorgten hätte. Das ist eine eindeutige
Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage.
Im Gegensatz zu anderen Fällen - wir erinnern uns,
dass vor nicht allzu langer Zeit gegen den erbitterten Widerstand der Praxis die Novelle der Zivilprozessordnung
durchgeboxt wurde - hat sich die Regierung hier einsichtig gezeigt und den Gesetzentwurf nach der verheerenden
Kritik zurückgezogen. - Das ist wirklich das einzig Positive, was man zu diesem ganzen Vorgang anmerken kann. Aber auch das hat wieder viel zu lange gedauert. Obwohl
bereits im November letzten Jahres klar war, dass das
Gesetzesvorhaben keine Chance haben kann, hat sich bis
zur Stunde kaum etwas bewegt.
Ein weiteres Mal wurden vergangene Woche die Landesjustizverwaltungen, die bereits Ende vergangenen Jahres wegen der Untätigkeit der Bundesregierung Sturm gelaufen waren, aufgefordert, zu einem neuen Vorstoß der
Regierung Stellung zu nehmen.
({1})
Dieses Mal beschränkte man die Neuregelung zunächst
auf die vom BGH geforderte Berücksichtigung aktueller
biometrischer Daten. Das war eigentlich überflüssig;
denn es gibt jetzt keine Alternativen mehr. Es brennt vor
Ort! Bereits seit sechs Wochen sind die deutschen Gerichte nahezu handlungsunfähig.
({2})
Etwa 70 000 Verfahren sind betroffen. Unsere Familienrichter, ohnehin hoffnungslos überlastet - Frau Kollegin,
hören Sie mir einfach zu; ich werde das auch tun, wenn
Sie gleich reden werden -, können derzeit entweder nur
durch die Einholung teurer versicherungsmathematischer
Sachverständigengutachten, die den individuellen Barwert
ermitteln, entscheiden, das Versorgungsausgleichsverfahren vom Scheidungsverfahren abtrennen oder das Scheidungsverfahren insgesamt aussetzen.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin seit mehr als 20 Jahren als Scheidungsanwältin tätig und habe jetzt meinen
Mandanten das Unglaubliche zu erklären: Lahmlegen der
deutschen Gerichte wegen Tatenlosigkeit der Bundesregierung, weil sie seit anderthalb Jahren nicht in der Lage
ist, zunächst einmal nur eine einfache Tabelle hinsichtlich
Sterbe- und Individualisierungswahrscheinlichkeiten zu
aktualisieren. An dieser Stelle sollte man nicht vergessen,
dass es die Regierung selbst war, die bereits in einem
Schreiben vom 30. November 2000, also knapp ein Jahr
vor der hier in Rede stehenden Entscheidung des BGH,
Handlungsbedarf festgestellt hat. Ich zitiere:
Das Recht des Versorgungsausgleichs in Bezug auf
nicht volldynamische Anrechte bedarf vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung und Literatur erhobenen gewichtigen Einwände aus der Sicht der
Bundesregierung der Überarbeitung, um Mängeln
des geltenden Rechts abzuhelfen. Angesichts der
zum Teil auch gegen die Grundstrukturen des geltenden Rechts erhobenen Einwände erstrecken sich
diese Überlegungen auch auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne einer grundsätzlichen
Weiterentwicklung des Versorgungsausgleichsrechts.
Dieses Zitat ist übrigens Bestandteil der Entscheidung des
BGH vom September 2001.
Das Ganze ist sage und schreibe zweieinhalb Jahre her.
Das ist in der Tat ein Skandal.
({3})
Dabei sollte es sich eigentlich ganz von selbst verstehen,
dass ein vom höchsten deutschen Zivilgericht erteilter
Gesetzgebungsauftrag, der im Übrigen klar definiert ist,
innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von immerhin
eineinviertel Jahren erledigt wird - dies umso mehr, als
die Menschen in unserem Land von dieser Untätigkeit der
Regierung unmittelbar und hautnah betroffen sind.
Wir dürfen nun gespannt sein, ob die Bundesregierung
wenigstens insofern lernfähig ist, als es künftig besser und
schneller geht. Gelegenheit hierzu gibt es aktuell wieder.
Unser höchstes deutsches Gericht hat dieser Tage eine
Entscheidung zur gemeinschaftlichen elterlichen Sorge
nicht verheirateter Eltern von nicht ehelichen Kindern gefällt und dabei den Gesetzgeber ein weiteres Mal aufgefordert, tätig zu werden und bis Ende dieses Jahres eine
Übergangsregelung zu schaffen. Warten wir es ab!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert mit dem
heute vorliegenden Antrag die Bundesregierung eigentlich zu einer Selbstverständlichkeit auf, nämlich ihrer
Pflicht als Verordnungsgeber endlich nachzukommen
und den Menschen und Gerichten verlässliche und gerechte Rechtsgrundlagen an die Hand zu geben sowie die
seit langem bekannte und auch dringend gebotene Strukturreform des Versorgungsausgleichs auf den Weg zu
bringen.
({4})
Die Heubeck AG, das Beratungsinstitut für Altersvorsorge, ist, wie ich gehört habe, beauftragt, die Aktualisierung vorzunehmen. Das ist wenigstens etwas. Wir alle,
insbesondere die an Prozessen Beteiligten, hoffen sehr,
dass in kürzester Zeit die Aktualisierung der Barwertverordnung vorliegt, sodass wir im Versorgungsausgleich
eine Entscheidung treffen und die überlasteten Familienrichter ein bisschen entlasten können.
Vielen Dank.
({5})
Frau Kollegin Granold, soweit ich sehe, war das Ihre
erste Rede. Dazu möchte ich Ihnen im Namen des ganzen
Hauses gratulieren, auch wenn es manchmal nicht so ganz
einfach war.
({0})
Außerdem haben Sie die Redezeit nicht ganz ausgeschöpft.
({1})
Das ist sehr lobenswert, weil wir noch eine lange Tagesordnung haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine
Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Granold, bei der ersten Rede ist man immer so
ein bisschen unter einer Glocke; da gesteht man vieles zu.
Trotzdem muss es auch bei einer ersten Rede erlaubt sein,
von dieser Stelle aus schlicht falsche Behauptungen richtig zu stellen. Die Gelegenheit dazu möchte ich jetzt auch
nutzen, weil das gerade im Interesse der Betroffenen, die
Sie als Anwältin und Anwaltskollegin hier angesprochen
haben, so nicht stehen bleiben kann.
Sie haben behauptet, Versorgungsausgleiche könnten
wegen des Auslaufens bzw. wegen der mangelnden Möglichkeit der Anwendung der Barwertverordnung nicht
mehr vorgenommen werden. Das ist natürlich falsch; weiterhin werden Versorgungsausgleiche geregelt.
({0})
- Doch, genau das hat sie gesagt. Das können wir gern im
Protokoll nachlesen. Sie müssen vielleicht besser zuhören. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass Sie es einfach nicht verstehen.
Der Versorgungsausgleich kann selbstverständlich
dann geregelt werden, wenn es um gesetzliche Rentenversicherungsansprüche und wenn es um Beamtenversorgungen geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
natürlich das Gros der Versorgungsausgleiche.
({1})
Darum geht es und deswegen war die Behauptung falsch.
Es ist mir wichtig, das ausdrücklich zu sagen.
Um was geht es ansonsten? Es geht ansonsten um Versorgungsausgleiche, die andere Anwartschaften betreffen.
Auch in solchen Fällen wären selbstverständlich eine
Scheidung und eine Abtrennung des Versorgungsausgleichs - der muss abgetrennt werden - möglich.
({2})
Jetzt muss man sich fragen: Wie viele Fälle sind es
dann noch, bei denen es wirklich so brennt, wie Sie es dargestellt haben?
({3})
So brennen, dass ein Abtrennen des Versorgungsausgleichs
nicht hinnehmbar ist, kann es wirklich nur dann, wenn
entweder schon eine Rente oder eine sonstige Versorgung
gezahlt wird oder wenn man ganz, ganz kurz davor steht.
Nur über diese wirklich wenigen Ausnahmefälle, die
keine gesetzliche Rentenversicherung und keine Beamtenversorgung betreffen, bei denen die Rente direkt bevorsteht oder schon Rente gezahlt wird, sprechen wir.
({4})
Deswegen ist die Überschrift, die Sie für Ihren Antrag
gewählt haben, falsch. Sie erweckt den Eindruck, als ob
der Versorgungsausgleich insgesamt jetzt umgehend zu
regeln wäre. Es geht aber nur darum, eine neue Barwertverordnung bzw. eine Strukturreform zu schaffen, die
dann auch diese wenigen Fälle betrifft.
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, mir von der
CDU/CSU eingebrachte Anträge genau anzuschauen. Ich
prüfe: Was steht drauf und was ist drin? Der erste Teil des
Titels Ihres Antrages lautet: „Versorgungsausgleich umgehend regeln“. Ich habe klargestellt, dass es keineswegs darum geht; vielmehr geht es - zu Recht - darum, für einige
wenige Fälle jetzt eine Regelung zu treffen. Der zweite
Teil des Titels Ihres Antrags lautet: „Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung“. Dafür werden
Sie insbesondere auf der linken Seite dieses Hauses volle
Zustimmung finden; denn wir sind es, die beim besten Willen nicht dafür sorgen wollen, dass Frauen bei der Alterssicherung schlechter gestellt werden.
Uns geht es aber nicht nur darum, die Alterssicherung
für den Fall zu verbessern, dass es zu einer Scheidung
kommt, sondern es geht uns auch darum, dafür zu sorgen,
dass Frauen aufgrund selbst erworbener Alterssicherungsansprüche besser gestellt werden. Da haben wir eine
ganze Menge auf den Weg gebracht. Davon könnten Sie
sich eine Scheibe abschneiden.
({5})
Es geht um eine bessere Anrechnung von Kindererziehungszeiten und es geht um eine Regelung, die statt des
Erziehungsurlaubs eine Elternzeit vorsieht. Durch diese
Regelung können Frauen jetzt beides, Kinder und Beruf,
unter einen Hut bekommen. So können sie eine eigene Alterssicherung erwerben. Das ist bahnbrechend.
({6})
Wenn es Ihnen darum geht, eine Schlechterstellung der
Frauen bei der Alterssicherung zu verhindern, dann frage
ich mich wirklich - als Sie davon gesprochen haben, dass
Sie ermöglichen wollen, dass mehr Menschen veränderte
Lebenssituationen wahrnehmen können -, warum Sie
ideologische Scheuklappen tragen und Ihre Zustimmung
bisher versagt haben.
({7})
Aber Sie haben dazugelernt und deswegen werden Sie
bestimmt unsere Initiative mittragen, die Rahmenbedingungen dahin gehend zu verändern, dass Kinderbetreuungsangebote geschaffen und vorhandene ausgeweitet
werden, damit mehr Frauen eine eigene Alterssicherung
erwerben können.
Wie gesagt, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Ihre
Anträge sehr genau zu lesen. In Ihrem Antrag verweisen Sie auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom
5. September 2001. In diesem Beschluss hat der Bundesgerichtshof die Bundesregierung als Verordnungsgeber
dringend aufgefordert, den Berechnungsmodus zu verändern. Die Ministerin ist darauf ausführlich eingegangen. Ich will den Kollegen eine weitere Nachhilfestunde
ersparen. Zumindest die eine Seite des Hauses hat das
nämlich verstanden.
In Ihrem Antrag behaupten Sie - ich lese Ihre Anträge
so genau, weil man in ihnen immer wieder etwas Infames
finden kann -:
Nach fast zweijähriger Tatenlosigkeit legte das Bundesministerium der Justiz im Oktober 2002 einen
Gesetzentwurf zur Neuregelung des Versorgungsausgleichs vor.
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs ist vom 5. September 2001 und dennoch sprechen Sie mit Hinweis auf
den Oktober 2002 von „fast zweijähriger Tatenlosigkeit“.
Sie müssen einmal anfangen, rechnen zu lernen!
({8})
Sie verwechseln dort etwas. Zwischen dem 5. September
2001 und Oktober 2002 liegen 13 Monate und keine zwei
Jahre. Zwei Jahre sind nämlich 24 Monate. Ich will Ihnen
einmal eines sagen: Offensichtlich ist keiner von Ihnen
mit Versorgungsausgleichen betraut.
({9})
Falls doch, kann ich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Wenn Sie so den Versorgungsausgleich
Ihrer Mandanten berechnen, dann werden diese wenig
Spaß an den Ergebnissen haben.
({10})
Ich kann Sie nur aufrufen: Beenden Sie Ihre Schadenfreude darüber, dass es für ganz wenige Fälle zu einer Verzögerung von sechs Wochen oder von einigen Monaten
gekommen ist! Gehen Sie endlich dazu über, in einer so
wichtigen Frage sachlich zusammenzuarbeiten, die
Scheuklappen abzulegen und veränderte Lebenssituationen wahrzunehmen.
({11})
Sie sind herzlich dazu eingeladen, im Rechtsausschuss
eine weitere Lehrstunde zu nehmen.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/354 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung
der Früherkennung und Behandlung von
Demenz
- Drucksache 15/228 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
dass wir den nächsten Tagesordnungspunkt mit etwas weniger Echauffement, als es die Vorrednerin am Ende des
vorherigen Tagesordnungspunktes an den Tag gelegt hat,
angehen können.
Vor einigen Wochen war im ersten deutschen Fernsehen der Spielfilm „Mein Vater“ zu sehen. Götz George
spielt da einen Vater, der an Alzheimer erkrankt und in erschütternder Weise allmählich das Gedächtnis verliert.
Als dieser Film lief, saßen nur wenige in der ersten Reihe.
Deutschland suchte nicht den Superstar. Die Zuschauer
konnten sich bei diesem Film nicht mit der Sonnenseite
des Lebens beschäftigen; also schauten sie weg, weil nicht
sein kann, was nicht sein darf.
Gerade deshalb hat die FDP diesen Antrag formuliert;
gerade deshalb ist es wichtig, dass sich der Bundestag
nicht abwendet, sondern dieses Thema heute, wenn auch
zu später Stunde, debattiert. Gefühle von Scham, Angst
und Ausweglosigkeit treten in unserem Land bei weit über
1 Million Menschen und ihren Angehörigen auf, wenn die
Diagnose Demenz oder gar Alzheimer gestellt wird. Eine
70-jährige Frau im mittleren Stadium der Erkrankung beschreibt ihre Beschämung und Verzweiflung mit den Worten - ich zitiere -:
Ich merke, dass es immer mehr bergab geht. Mir ist
das furchtbar unangenehm, dass da oben etwas nicht
in Ordnung ist. Das ist dann genauso, wie wenn
früher über jemanden gesagt wurde: Die ist nicht
mehr ganz normal. Man hat aber keine Schuld daran.
Ich nehme das sehr schwer.
Das wahre Ausmaß solcher Beeinträchtigungen wird
meistens erst sehr spät bemerkt mit enorm belastenden
Folgen für unser Pflegesystem, mehr aber noch für die Familien und Freunde der Betroffenen. Ich kann Ihnen da
aus meiner eigenen Familie sehr genau berichten. Wir
wissen, dass vor dem Hintergrund der demographischen
Entwicklung die Zahl dieser Erkrankungen erheblich zunehmen wird. In der Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigen
erkranken etwa 3 Prozent der Bevölkerung, im Alter von
80 Jahren etwa jeder Fünfte, im Alter von 90 Jahren bereits jeder Dritte. Deshalb ist es, wie ich denke, unsere
Pflicht, für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der
Früherkennung und Behandlung von Demenz zu sorgen.
In einem Ratgeber für die häusliche Betreuung demenzerkrankter älterer Menschen wird die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose nachdrücklich herausgestellt.
Ich möchte daraus zitieren.
Durch die Diagnose werden viele „merkwürdige“
Verhaltensweisen des Erkrankten verständlich. Versagen und Fehlverhalten erhalten „Krankheitswert“. Ein
krankengerechter Umgang wird dadurch erleichtert.
Angehörige können sich frühzeitig mit dem zu erwartenden Verlauf der Krankheit auseinander setzen,
wichtige Informationen einholen und langfristig planen.
Der Erkrankte und seine Angehörigen sind mit den
Problemen nicht mehr allein. Professionelle Helfer
und andere betroffene Angehörige stehen als Gesprächspartner zur Verfügung.
Behandlungs- und Betreuungsangebote für den Erkrankten und entlastende Hilfen für die pflegenden
Angehörigen können rechtzeitig genutzt werden.
Meine Damen und Herren, diese Broschüre, „Wenn
das Gedächtnis nachlässt“ überschrieben, ist vom Bundesministerium für Gesundheit unter damals noch grüner
Führung herausgegeben worden. Das gibt mir die Hoffnung, dass dieser Antrag fraktionsübergreifend befürwortet wird. Gemeinsam sollten wir dafür Sorge tragen, Leid
zu verringern und gleichzeitig das Pflegesystem zu entlasten. Früh erkannte krankhafte Veränderungen des Gehirns
können nicht medikamentös und auch medikamentös so
behandelt werden, dass Krankheitsverlauf und Leistungsverluste deutlich hinausgezögert werden.
Neuere gesundheitsökonomische Untersuchungen
zum Nutzen der medikamentösen Behandlung der Alzheimer-Krankheit und der Demenzerkrankungen weisen
nach, dass der therapeutische Effekt unter anderem darin
besteht, dass der Zeitpunkt der Pflegeheimeinweisung
verzögert oder diese vielleicht sogar ganz verhindert werden kann und die Gesamtkosten für den Kranken, insbesondere was die Aufwendungen der Pflegeversicherung
anbetrifft, verringert werden. Das muss in der Öffentlichkeit bekannter werden. Wir brauchen eine gesellschaftlich
breit angelegte Informations-, Qualifizierungs- und Präventionskampagne. Wir müssen den Menschen in unserem Land die Möglichkeit geben, rechtzeitig etwas für
ihre Gesunderhaltung zu tun, mithilfe einer frühzeitigen
Behandlung möglichst lange ein eigenständiges Leben zu
führen und die eigene Lebensqualität zu verbessern.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
Sie daran erinnern, dass wir diese Thematik mit im Ergebnis leider viel zu geringen Auswirkungen im Bereich
des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes diskutiert haben. Wir haben dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz
über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zugestimmt
und es mit breiter Mehrheit in diesem Haus verabschiedet.
Ich wünsche mir, dass die Forderungen, die wir in unserem Antrag erhoben haben, ebenso breite Unterstützung
finden. Wir sind bereit, über Formulierungen und entsprechende Ergänzungen zu diskutieren und im Rahmen
der Ausschussarbeit zu einer Positionierung des Bundestages in klarer und eindeutiger Form zu kommen. Ich
wünsche mir eine vorbehaltlos geführte und dem Thema
dieser Problematik angemessene Debatte.
({0})
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hilde Mattheis. Es
ist, soweit ich weiß, auch ihre erste Rede. Ich sage das
jetzt immer vorher, dann gehen die Kollegen etwas vorsichtiger mit den Rednern um.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDPFraktion legt heute einen Antrag vor, der die Überschrift
„Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherkennung und Behandlung von Demenz“ erhalten hat. Elf
knappe und allgemeine Forderungen sollen - das ist der
Anspruch - ein Gesamtkonzept umreißen. Unter anderem
werden die Verbesserung der Früherkennung und Erforschung sowie die Sicherstellung einer größtmöglichen
Selbstbestimmung der betroffenen Personen gefordert. Es
wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Aus-, Fortund Weiterbildung von Hausärzten und Fachärzten in diesem Bereich zu verbessern.
Dass hier die Notwendigkeit der Weiterentwicklung
und Verbesserung besteht, wird niemand bestreiten, der
sich mit der Thematik Demenz auseinander gesetzt hat. Es
wird auch niemand bestreiten, dass die Verbesserung der
Versorgungssituation älterer, kranker Menschen eine
wichtige Zukunftsaufgabe und Herausforderung ist.
Allerdings ist der Anspruch der Antragsteller, mit diesen elf Forderungen eine Gesamtkonzeption für ein komplexes Thema zu bieten und auf eine zentrale Zukunftsaufgabe eine umfassende, der Situation angemessene
Antwort zu geben, deutlich überzogen.
Was ist also der Hintergrund, vor dem wir angemessene Antworten brauchen, um bisherige Maßnahmen weiterentwickeln und das, was unter Rot-Grün bereits begonnen wurde, weiterverfolgen zu können?
({0})
Die Lebenserwartung der Menschen steigt und damit
die Zahl der Älteren und Hochbetagten. Die Kehrseite
dieser Entwicklung ist, dass häufiger Alterskrankheiten
auftreten. Sie haben das richtig dargestellt. Heute sind
circa 1 Million Menschen von Demenz betroffen. Bis zum
Jahr 2020 werden es in Deutschland voraussichtlich
1,4 Millionen Menschen sein. Die Deutsche AlzheimerGesellschaft vermutet eine hohe Dunkelziffer.
Demenzerkrankungen sind derzeit nicht heilbar. Fachleute sind sich einig, dass medikamentöse und nicht medikamentöse Behandlungsansätze ineinander greifen müssen, um die Belastungen für die Betroffenen und die
Angehörigen erträglich zu machen und den Krankheitsverlauf zu verzögern. Durch bessere Frühdiagnose und frühzeitige Therapiemaßnahmen könnte der Beginn einer Demenz in 15 bis 20 Prozent der Fälle hinausgezögert werden.
({1})
- Ja. Ich habe gerade gesagt: mit Medikamenten und
durch andere Therapieformen.
Diese Fakten machen die gesundheits- und gesellschaftspolitische Herausforderung deutlich. Die Bundesregierung unter CDU/CSU und FDP - Sie merken, das
war die alte - hat 1997 die Notwendigkeit, einen ganzheitlichen Ansatz anzuerkennen, aus Kostengründen abgelehnt.
({2})
Offensichtlich hat man jetzt vergessen, die Kosten zu beziffern.
({3})
Das nun in einigen Ihrer Forderungen erkennbare Umdenken in der Sache ist erfreulich. Allerdings sind elf
knappe Forderungen - das habe ich schon ausgeführt bestenfalls Stichworte für einzelne Problembereiche, in
denen die rot-grüne Bundesregierung in den vergangenen
Jahren bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen hat, durch die sie Verbesserungen für Demenzkranke
und deren Angehörige erzielen konnte.
Mit der Novellierung des Heimgesetzes wurde die
Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner verbessert. Der Heimbeirat wurde für Dritte geöffnet.
Die Heimaufsicht wurde gestärkt, ihre Eingriffsinstrumente wurden verbessert. Die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenversicherung
und Trägern der Sozialhilfe wurde optimiert. Mit unserem
Pflege-Qualitätssicherungsgesetz wurde die Pflegequalität
weiterentwickelt und die Verbraucherrechte wurden gestärkt. Mit dem von uns auf den Weg gebrachten Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz wurde für Pflegebedürftige
mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf in häuslicher Pflege der Anspruch auf einen zusätzlichen Betreuungsbedarf in Höhe von bis zu 460 Euro je Kalenderjahr
festgeschrieben. Für die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und -strukturen wurden insgesamt 10 Millionen Euro je Kalenderjahr bereitgestellt. Hier sind allerdings die Länder und die Kommunen aufgefordert, sich
noch stärker zu engagieren und für die Kofinanzierung zu
sorgen.
({4})
Auch das bestehende Beratungsangebot für Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen wurde verbessert. Ich nenne einzelne Forschungsprojekte zum Bereich Demenz, die zum Beispiel vom BMBF unterstützt
bzw. finanziert wurden. Besonders hervorheben möchte
ich an dieser Stelle das Kompetenznetz Demenz. In diesem haben sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische
Zentren zusammengeschlossen. Beteiligt sind auch Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Industrieunternehmen
und Patientenorganisationen wie zum Beispiel die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft. Das Kompetenznetz soll
einheitliche, fortschrittliche Richtlinien für die Diagnostik und die Therapie demenzieller Erkrankungen in
Deutschland entwickeln. In einem aktuellen Ressortforschungsprojekt des BMGS wird eine „Gerontopsychiatrische Handreichung für Hausärzte und Allgemeinmediziner“ erarbeitet, durch die vor allem die Früherkennung
und Frühbehandlung von Demenzen gefördert wird.
Es wurden verschiedene Untersuchungen zu unterschiedlichen Fragestellungen in Auftrag gegeben. Im
Rahmen des Modellprogramms „Altenhilfestrukturen der
Zukunft“ werden insgesamt 20 Modellprojekte gefördert.
Diese Maßnahmen werden durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit unterstützt, um vor allen Dingen Verständnis für die Situation demenzkranker Menschen zu
wecken und Anleitungen zum Umgang mit zu ihnen geben. Sie sollen aber auch Maßnahmen zur Vermeidung
von Pflegebedürftigkeit oder zur Verhinderung einer Verschlimmerung aufzeigen. Leider laufen diese Modellvorhaben nur zögerlich an. Das ist unverständlich; denn der
Anreiz lautet: Für weniger Geld mehr Qualität. Ein gelungenes Wohnprojekt ist zum Beispiel in Erfurt zu besichtigen.
All dies, was ich hier nur ansatzweise darstellen
konnte, müsste die Antragsteller dahin gehend überzeugt
haben, dass ihre Forderungen - bis auf eine, auf die ich
noch zu sprechen komme - nicht weit entfernt von unseren Vorstellungen sind. Ohne die bestehenden Defizite
zum Beispiel im Bereich der gezielten Prävention, der
frühzeitigen Diagnostik und der ganzheitlichen, umfassenden Therapie - das will ich nicht außer Rede stellen kleinreden zu wollen, kann festgestellt werden: Die Richtung stimmt.
Jetzt komme ich auf die letzte Forderung im vorliegenden Antrag zu sprechen. Diese lautet:
Finanzierung der ärztlichen Leistungen außerhalb der
gedeckelten Gesamtvergütung und Herausnahme der
für Vorsorge und Therapie von Demenzerkrankungen
benötigten Arzneimittel aus den Richtgrößenvereinbarungen.
({5})
Das heißt, Sie wollen, dass alle vertragsärztlichen Leistungen und die damit verbundenen Kosten sowie benötigte Arzneimittel außerhalb der jetzt geltenden Vereinbarungen abgerechnet werden können.
({6})
Sie wollen in diesem Falle die Möglichkeiten der Abrechnung von ärztlichen Leistungen und Arzneimitteln
aus der Vereinbarung über Richtgrößen herausnehmen.
Ihnen ist natürlich klar, dass die Kosten in unkalkulierbare
Höhen steigen würden.
({7})
Schlimmer jedoch finde ich, dass Sie damit bei Erkrankten und deren Angehörigen die Angst schüren, sie
hätten keinen ausreichenden Anspruch auf das richtige
Medikament.
({8})
Sie wissen genau, dass im Rahmen des neuen Steuerungsinstruments der Arzneimittelvereinbarung ausdrücklich
Zielvereinbarungen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und der GKV vorgesehen sind. Niemand hindert zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung daran,
Arzneimittel einzusetzen, die einen Fortschritt für die
Versorgung von Demenzkranken bedeuten würden.
({9})
Wer also behauptet, Demenzkranke seien im GKV-System
unterversorgt, der verunsichert die Menschen.
Wir unterstützen Ihren Antrag nicht. Ich fürchte - und
das ist meine letzte Bemerkung -, dass alle richtigen Forderungen in Ihrem Antrag nur dazu herhalten mussten,
diese letzte zu umrahmen. Wenn dies nicht so ist, würde
mich das freuen; denn dann würden Sie ernsthaft die wichtigen von uns eingeleiteten Reformschritte unterstützen.
Herzlichen Dank.
({10})
Von mir aus im Namen des Hauses herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Auch die nächste Rede ist, wie ich gerade gehört habe,
die erste hier im Parlament. Ich gebe jetzt das Wort der
Abgeordneten Verena Butalikakis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich will noch einmal betonen, wie wichtig
die Thematik des vorliegenden FDP-Antrages ist - da
scheinen wir uns hier im Hause auch einig zu sein. Ich
kann nur bestätigen, Frau Kollegin, was Sie gesagt haben,
dass nämlich die Demenz sicherlich eine der großen Herausforderungen an unsere Gesellschaft darstellt, und
zwar sowohl in gesundheitlicher als auch in sozialer und
auch in finanzieller Hinsicht - diesen Aspekt haben Sie in
Ihrer Rede leider etwas falsch behandelt.
Umso entscheidender ist eigentlich, dass diese Thematik bisher sehr fahrlässig behandelt wurde. Meine Vorrednerin hat gerade noch einmal belegt, dass mit der Aufzählung von angelaufenen Modellvorhaben eben nicht das
zu erreichen ist, was der Antrag der FDP eigentlich bezweckt, nämlich die Vorlage einer Gesamtkonzeption.
({0})
Bei der Recherche zu dieser Rede habe ich natürlich
zurückgeblickt. Als im April des vergangenen Jahres der
Vierte Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation mit dem Schwerpunktthema „Risiken,
Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger - unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“
erschien, wurde vonseiten der Bundesregierung eine belanglose Stellungnahme abgegeben und vonseiten der Regierungsfraktionen, die vielleicht einmal zuhören sollten,
ein noch belangloserer Antrag eingebracht. Die Diskussion im Plenum war ergebnislos. Dabei dokumentiert dieser Altenbericht sehr eindrucksvoll die gravierenden
Mängel bei der Erkennung und Versorgung der Demenzkrankheiten und vor allem auch die Mängel im System
und in den Systemen. Er stellt eine große Anzahl konkreter Forderungen auf. Passiert ist allerdings gar nichts, das
hatte ich eingangs schon gesagt.
Zu Recht beklagen deshalb Fachärzte und Hausärzte,
Selbsthilfegruppen, Pflegekräfte und Experten genauso
wie übrigens auch Teilnehmer der Expertenkommission,
die den Vierten Altenbericht erstellt haben, dass die Bundesregierung den Blick auf die Gegenwart und vor allem
in die Zukunft scheut. Dabei gibt es viel zu tun. Der Kollege Parr hat schon darauf hingewiesen: Es gilt, die von
einer Demenzerkrankung betroffenen Menschen sowie
die pflegenden Angehörigen und die Fachkräfte mit den
Problemen, die diese Krankheit mit sich bringt, nicht alleine zu lassen. Es gilt, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Krankheit eingedämmt und die Belastungen reduziert werden.
Bei zügiger und richtiger Hilfe für die Menschen ergibt
sich ein in den heutigen Zeiten wichtiger zweiter Effekt. Wir
kommen nämlich zu Einsparungen im Gesamtsystem der
sozialen Sicherung, und zwar sowohl heute wie auch morgen - und das auch unabhängig von allen anderen Reformen; ich werde das nachher noch erläutern. Ich glaube, es
wäre ein wichtiger Beitrag für die so genannte Generationengerechtigkeit, wenn wir es heute schaffen würden, die
Strukturen zu legen, die auch morgen eine besondere finanzielle Belastung der jungen Generation ausschließen.
({1})
Manchmal hat man ja den Eindruck, dass so ein paar
Zahlen nicht oft genug gesagt werden können, weil dahinter wirklich menschliche Schicksale stecken. Deshalb
gehe ich noch einmal auf das ein, was gerade der Vierte
Altenbericht ausführlich darlegt, aber auch viele andere
wissenschaftliche Untersuchungen, nämlich: Wie sieht
die Lage der Demenzkranken derzeit aus? Nach konservativen, also ganz vorsichtigen Schätzungen leiden derzeit über 900 000 Menschen in Deutschland an einer mittelschweren oder schweren Demenz, etwa zwei Drittel
davon an einer Alzheimer-Krankheit. Andere Berechnungen, die auch leichtere Demenzformen berücksichtigen,
sprechen dann - das ist Ihre Zahl - von 1,2 bis sogar
1,6 Millionen Demenzkranken. Ganz wichtig ist, dass bei
den über 85-Jährigen die Prävalenz bei 50 Prozent liegt.
Zwei Drittel der Demenzkranken werden in Privathaushalten versorgt; wir reden hier über - wie gesagt nach
den vorsichtigen Schätzungen - 600 000 Menschen. Das
entspricht zwar überwiegend den Wünschen der Betroffenen, aber es bedeutet natürlich für die Angehörigen große
psychische, physische und finanzielle Belastungen.
Noch ein ganz wichtiger Punkt: Zwei Fünftel der Demenzkranken - also bei meinen vorsichtigen Schätzungen
ungefähr 180 000 Menschen - in Deutschland erhalten
keine oder zu geringe Leistungen aus der Pflegeversicherung. Das liegt sicherlich einerseits an der Unkenntnis der
Antragsteller, zeigt aber andererseits ganz deutlich, dass
wir bei der Unterstützung viel mehr tun müssen und dass
die Informationspolitik deutlich besser werden muss.
({2})
- Informationspolitik ist ja nun nicht so kostenreich, Herr
Kollege.
Kommen wir noch kurz zur ärztlichen und medizinischen Versorgung. Da gibt es offensichtlich sehr unterschiedliche Einschätzungen, wie meine beiden Vorredner
gezeigt haben. Es ist sicherlich richtig und wissenschaftlich belegt, dass derzeit nur circa 50 Prozent der Demenzerkrankungen in einem frühen Stadium entdeckt werden.
Das heißt, über die Hälfte der Betroffenen werden erst
diagnostiziert, wenn die Symptome ganz offensichtlich
vorhanden sind.
Das ist natürlich umso bedauerlicher, wenn wir an die
Entwicklung der jetzt vorliegenden modernen Medikamente denken. Bei der Medikation und bei der Früherkennung kommt den Hausärzten eine Schlüsselrolle zu.
Hier müssen wir für Fortbildung sorgen; auch darauf haben Sie hingewiesen. Ganz deutlich kann man aus dem aktuellen Arzneimittelverordnungsreport erkennen, - man
braucht sich nur die Anzahl der Betroffenen und die Anzahl der verordneten Medikamente anzusehen -, dass
tatsächlich eine generelle Unterversorgung mit Medikamenten besteht, aber vor allem mit Antidementiva. Es ist
schon so, dass gesagt wird: Wir haben ein Budget und
müssen sparen. Es wird auf Kosten der Patienten gespart.
({3})
Das wird natürlich umso unverständlicher, wenn mittlerweile Forschungsergebnisse belegen, dass eine richtige
Medikation das Fortschreiten der Erkrankung zeitlich weit
hinauszögern kann und damit natürlich Kosten im weiteren
Bereich deutlich eingespart werden können, weil die Unterbringung im Heimbereich sehr viel später erfolgt und der
daraus resultierende große Kostenblock erst später anfällt.
Den Blick in die Zukunft haben schon andere geworfen; auch ich will es tun: In den nächsten 50 Jahren steigt
die Zahl der Hochbetagten um das Doppelte. Im Jahre
2050 werden wir - bei all den bekannten Entwicklungen
in der Gesellschaft - 2 bis 2,8 Millionen Demenzkranke
in Deutschland haben. Die Frage wird sein: Wer kümmert
sich dann um die Erkrankten? Denn das, was heute die Familien leisten, wird dann sicherlich in einem geringeren
Maße möglich sein.
Natürlich steigen die Kosten der Pflege. Auch hier eine
Zahl: Wenn man von dem normalen demographischen
Faktor ausgeht, dann kommt es bis zum Jahr 2050 zu einer Steigerung um 64 Prozent. Deshalb dürfen wir auch
die ökonomische Dimension der Demenz nicht länger
unterschätzen.
Die von mir aufgezählten Daten und Fakten - ich habe
jetzt einen Kurzdurchlauf gemacht - zeigen eines ganz
deutlich: Jetzt muss gehandelt werden. Deswegen unterstützen wir den Antrag der FDP. Denn wir wollen jetzt
eine Gesamtkonzeption für den Umgang mit dem Thema
Demenz. Konkretes ist von der Bundesregierung und
auch von der Regierungskoalition nicht zu erwarten. Ich
habe vorhin schon auf den Antrag hingewiesen. Er wimmelte von wunderbaren Konjunktiven: sollte, könnte,
müsste. Es gab aber keine konkrete Forderung und vor allen keine zügige Umsetzung.
Die Bundesministerin reagiert in ihrer Stellungnahme
auf die 77 konkreten Empfehlungen der Expertenkommission, indem sie weitere Expertisen, ein Gutachten zu
aktuellen Zahlen und die weitere Erprobung bereits als erfolgreich gepriesene Modelle ankündigt.
({4})
Sie kündigte ein Altenhilfestrukturgesetz an. Das kann
aber natürlich erst dann entstehen, wenn die Ergebnisse
aller Untersuchungen vorliegen, also zumindest nicht in
dieser Legislaturperiode; sonst hätte sie es in dem Bericht
geschrieben. Man sieht: Hier wird in großen zeitlichen Dimensionen gedacht. Das bestätigt sie, als sie sehr deutlich
darauf hinweist, dass sich die Bundesregierung in ihrer
Initiative zu einem längerfristig geplanten Aktionsprogramm Demenz bestätigt fühlt.
„Längerfristig geplant“? Alle Ergebnisse und Untersuchungen, die Vorschläge und Forderungen liegen auf dem
Tisch. Jetzt muss die Konzeption erstellt werden. Denn
sonst ist es zu spät. Aber das ist der Reformkurs von RotGrün: ein bisschen schieben, bloß nichts leisten.
Der Kollege Zöller hat mich gerade noch einmal auf
das Pflegeleistungsänderungsgesetz hingewiesen. Das
war der richtige Schritt. Da gibt es gar keinen Zweifel.
Aber wie man mit 460 Euro pro Jahr, also 1,26 Euro pro
Tag, viel zusätzliche Betreuungsleistungen ermöglichen
will, muss uns noch einmal vorgerechnet werden.
({5})
Dasselbe gilt für einen weiteren Teil des viel gepriesenen Pflegeleistungsänderungsgesetzes. Da werden immer
20 Millionen Euro in den Raum gestellt, die zusätzlich zur
Verfügung stünden. Ein Blick in den entsprechenden Titel in Kapitel 15 02 des Haushaltsplanes zeigt ganz deutlich, dass im Bundeshaushalt 2003 für Pflegeprojekte und
-einrichtungen 10,13 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen. Wir reden also nicht von 20 Millionen Euro,
sondern definitiv von einem Betrag, der unter 10 Millionen Euro liegt.
Ich will mir jetzt die Zusammenfassung sparen, weil
meine Zeit drastisch abläuft. Wir werden noch sehr viele
Einzelheiten in die Ausschussberatung einbringen - ich
habe das schon mit dem Kollegen Parr besprochen -, sowohl was die wissenschaftliche Fachbegrifflichkeit als
auch was die Zusammenfassung für ein konkretes Konzept betrifft. Ich stimme Ihnen zu, dass man sich Gedanken über ein intelligentes Finanzierungssystem machen
muss. Ich und meine Fraktion wollen es unbedingt auch
systemübergreifend sehen.
Ich hatte gehofft - insofern teile ich die Einschätzung
des Kollegen Parr -, dass wir es schaffen würden, bei dieser wichtigen Thematik tatsächlich zu einem Konsens zu
kommen. Aber ich sehe, dass Rot-Grün tatsächlich in keinem Bereich die Kraft zu vernünftigem Handeln hat, noch
dazu wenn Eile geboten ist.
Ich bedanke mich.
({6})
Frau Kollegin, herzlichen Glückwunsch im Namen des
Hauses zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Jetzt gebe ich das Wort der Abgeordneten Petra Selg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
wirklich schade, dass es nicht einmal bei diesem Thema
gelingt, parteipolitischen Hickhack außen vor zu lassen.
Rot-Grün hat das versucht. Aber nein, die Kollegin der
CDU/CSU muss auch bei diesem Thema draufhauen. Das
finde ich peinlich.
({0})
Im vorliegenden Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, die Früherkennung und Behandlung von Demenz zu verbessern. Angeregt wird unter anderem, ein
flächendeckendes und qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm aufzubauen sowie auf Evidenz basierende Leitlinien für die Demenzfrüherkennung und -behandlung festzulegen.
Eines vorneweg: Es freut mich unwahrscheinlich, dass
endlich auch bei der FDP das soziale Gewissen aufblitzt.
Das habe ich bei ihr in der letzten Zeit leider vermissen
müssen. Ich hoffe sehr, dass das kein Strohfeuer bleibt.
Das ändert allerdings nichts daran, dass Ihre Verbesserungswünsche uns und der Bundesregierung schon lange
bekannt sind. Wir kümmern uns in vielen Bereichen um
die Umsetzung dieser Wünsche. Von dem, was in dem
FDP-Antrag formuliert ist, steht vieles - ich sage ehrlicherweise: nicht alles - bereits im Vierten Altenbericht
der Bundesregierung, der im letzten Jahr erschienen ist.
({1})
- Ich weiß, dass das umgesetzt werden muss. Ich komme
gleich dazu. Lassen Sie mich einfach ausreden. - Aber
vieles, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, wie die
Finanzierung Ihrer Wünsche - Frau Mattheis hat das aufgeführt -, erscheint mir sehr fragwürdig. Darüber müssen
wir noch reden.
Außerdem arbeitet das Ministerium schon jetzt daran,
Frühbehandlung und Früherkennung von Demenzen zu
fördern. In einem aktuellen Forschungsprojekt des Ministeriums wird eine „Gerontopsychiatrische Handreichung für Hausärzte und Allgemeinmediziner“ erarbeitet.
Diese soll die Ärzte im Umgang mit Dementen unterstützen und vorhandenes Wissen - das ist bisher das größte
Problem - besser vermitteln.
Weiterhin fördert das Bundesministerium für Bildung
und Forschung das „Kompetenznetz Demenzen“, in
dem sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische Zentren zusammengeschlossen haben. Beteiligt sind auch
Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und insbesondere
Allgemeinmediziner. Darüber hinaus sind, was ich sehr
gut finde, Patientenorganisationen wie zum Beispiel die
Deutsche Alzheimer Gesellschaft in dieses Kompetenznetz eingeschlossen. Dieses Netzwerk erarbeitet zurzeit
Leitlinien für Diagnostik und Therapie demenzieller Erkrankungen. Ziel soll sein, die Versorgungsqualität bei
Demenz deutlich zu verbessern.
Diese zwei Beispiele zeigen, dass wir den Handlungsbedarf bei demenziellen Erkrankungen sehr wohl erkannt
haben und, liebe Frau Kollegin von der CDU/CSU, bereits heute handeln. Das kann und soll natürlich nicht
heißen, dass wir bei dem Erreichten stehen bleiben. Im
Gegenteil: Wir werden diese Anstrengungen noch weiter
vorantreiben; denn wir wissen, dass Demenz eine der
größten Herausforderungen der Zukunft für unser Gesundheitswesen ist.
In diesem Zusammenhang ist es aber auch sehr wichtig, zu erwähnen, dass sich unsere Gesellschaft insgesamt
stärker mit dem Thema Demenz und ihren Folgen auseinander setzen muss. Noch heute bestehen hinsichtlich dieser Krankheit Tabus, die verschwinden müssen.
Das ist einer der Gründe, weshalb ich und meine Fraktion in dieser Legislaturperiode die Einsetzung einer
Enquete-Kommission fordern, die sich mit den heutigen,
vor allem aber mit den zukünftigen Lebensbedingungen
von psychisch kranken, von behinderten, vor allen Dingen
aber von immer älter werdenden Menschen in unserer Gesellschaft auseinander setzen soll. In der gegenwärtigen
Diskussion um die Reform unserer Sozialsysteme drohen
diese Gruppen - da sie keine großen Lobbyverbände hinter sich haben - in unserer Gesellschaft durch den Rost zu
fallen. Vor diesem Hintergrund ist es für uns wichtig, diese
Enquete-Kommission zu installieren, die sich die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Menschen zum Ziel
setzen und zukunftsfähige Konzepte für die Einbindung
der Betroffenen in unsere Gesellschaft entwickeln soll.
Ich denke, wir müssen endlich offen und auf breiter gesellschaftlicher Basis darüber reden, wie wir mit der
zunehmenden Alterung unserer Bevölkerung gesamtgesellschaftlich umgehen müssen. Eine solche EnqueteKommission könnte das leisten. Sie könnte vor allem auf
den Ergebnissen der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ aufbauen. Wir hätten endlich eine Plattform, um unbequeme und bisher wenig diskutierte Themen wie Alzheimer und Demenz in die Öffentlichkeit zu
tragen. Deshalb lehnt unsere Fraktion diesen Antrag auch
nicht von vorneherein ab. Ich hoffe, dass wir im Ausschuss über dieses Thema angemessen und ohne parteipolitisches Hickhack diskutieren können.
({2})
Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann
Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gegen Terror, Völkermord und Hungerkatastrophe in Simbabwe, um Destabilisierung des
südlichen Afrikas zu vermeiden
- Drucksache 15/353 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Wimmer ({1}), Walter Riester, Karin
Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin Dagmar
Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter
bekämpfen - Internationalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrechterhalten
- Drucksache 15/428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gemeinsame europäisch-afrikanische Initiative
zur Lösung der Krise in Simbabwe starten
- Drucksache 15/429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Staatsminister Bury.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Simbabwe galt bis vor wenigen Jahren als einer
der Hoffnungsträger Afrikas. Als erstes Land des südlichen Afrika befreite es sich von einem nachkolonialen
rassistischen System. Deutschland stand im simbabwischen Befreiungskampf auf der Seite der unterdrückten
schwarzen Bevölkerung und hat sich auch danach in erheblichem Umfang für die junge simbabwische Demokratie engagiert.
Heute ist Simbabwe ein zerrissenes und wirtschaftlich
zerrüttetes Land, das seine Bevölkerung nicht mehr
ernähren kann. Wir wollen im Interesse der dort lebenden
Menschen erreichen, das Simbabwe zu seinen demokratischen Wurzeln zurückkehrt.
Unser Ansatzpunkt hierfür ist eine harte und konsequente Haltung gegenüber der simbabwischen Regierung.
Denn die Negativbilanz ist kein Zufall und auch keine unvermeidbare Folge der Kolonialzeit. Die schwerwiegende
innenpolitische Krise wurde durch die Regierung bewusst
herbeigeführt. Das sich immer mehr als Diktatur darstellende De-facto-Einparteienregime unter Robert Mugabe
betreibt unter Inkaufnahme verheerender sozialer, wirtschaftlicher und humanitärer Entwicklungen eine verantwortungslose Politik, die ausschließlich dem eigenen
Machterhalt dient.
Deutschland hat sich deswegen maßgeblich und sehr
früh für die Einführung von Sanktionen gegen die simbabwische Nomenklatura eingesetzt. Hierzu zählen eine
Visumssperre und das Einfrieren von Konten ebenso
wie ein Waffenembargo.
Wir wollen, dass diese Sanktionen bestehen bleiben,
und setzen uns vehement für eine Verlängerung des Sanktionsregimes der EU gegenüber Simbabwe ein.
({0})
Ich hoffe, dass morgen in Brüssel die entsprechende Einigung erzielt wird. Dies wäre ein wichtiger Erfolg einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der Durchführung
des wichtigen EU-Afrika-Gipfels haben wir hohes Interesse. Der für Anfang April in Lissabon geplante Gipfel
kann aber nur dann stattfinden, wenn sichergestellt ist,
dass Mugabe nicht daran teilnimmt.
({1})
Wir sehen auch keinen Anlass, unsere suspendierte bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit
Simbabwe wieder aufzunehmen. Ausnahmen soll es weiterhin nur für humanitäre Hilfsmaßnahmen und für die
Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen bei
der Konfliktprävention und bei der Stärkung der Zivilgesellschaft geben. Denn beides kommt der Not leidenden
Bevölkerung unmittelbar zugute.
Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in Simbabwe kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, auch
die afrikanischen Staaten zur Aufgabe ihrer Beschränkung auf „stille Diplomatie“ und ihres Kurses der fast bedingungslosen Solidarität mit Simbabwe zu bewegen.
Hierfür setzen wir uns im Dialog mit diesen nachdrücklich ein. Durch Beharrlichkeit und vor dem Hintergrund
der auch für die Nachbarstaaten zunehmend untragbar
werdenden Situation in Simbabwe versuchen wir diese
Länder von der Notwendigkeit effizienterer politischer
Maßnahmen zu überzeugen.
Ich lehne es jedoch ab, meine Damen und Herren, dieses Ziel durch einen Entzug der Unterstützung für Südafrika oder die Staaten der neuen gesamtafrikanischen Reforminitiative NEPAD erreichen zu wollen.
({2})
Das südafrikanische Modell eines friedlichen politischen Wandels hat als Vorbild für die Region und den
ganzen Kontinent weiterhin Gültigkeit und verdient unsere Unterstützung.
({3})
Mit Südafrika verbindet uns auch eine umfassende und
strategische Partnerschaft, die nicht leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden sollte. Und generell gilt, dass die afrikanischen Reformstaaten nicht Urheber der Krise in Simbabwe sind. Ihre politischen Einflussmöglichkeiten bleiben zudem begrenzt.
({4})
Die Bundesregierung bemüht sich, auch außerhalb
Afrikas den internationalen Druck auf Simbabwe zu erhöhen. So unterstützen wir die Entscheidung des Internationalen Währungsfonds, ein Verfahren zum Entzug
des Stimmrechts und aller damit verbundenen Rechte für
Simbabwe einzuleiten.
({5})
Im Rahmen der Vereinten Nationen haben wir Afrika zu
einem Schwerpunktthema unserer Mitgliedschaft im
Sicherheitsrat gemacht. In engem Kontakt mit den dort
vertretenen europäischen Staaten prüfen wir zurzeit, ob
Simbabwe als Thema auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Damit würde - nach den Beschlüssen der EU der internationale Druck auf Simbabwe nochmals deutlich erhöht werden. Es gilt nun, die Widerstände Chinas
und der afrikanischen Staaten gegen eine Befassung des
Sicherheitsrats mit dem Thema Simbabwe zu überwinden.
({6})
Insgesamt bin ich zuversichtlich, dass die konsequente
Haltung großer Teile der Weltgemeinschaft gegenüber
Simbabwe mittel- bis langfristig zu Erfolgen führen wird.
Auch im Falle Südafrikas war eine Sanktionspolitik nach
längerer Zeit erfolgreich. Im Interesse der Menschen in
Simbabwe und im Interesse von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Menschenrechte wird
die Bundesregierung den Druck auf das Regime in Simbabwe aufrechterhalten.
Ich bedanke mich für die Unterstützung, die insbesondere im Antrag der Koalitionsfraktionen, aber auch insgesamt in der heutigen Debatte zum Ausdruck kommt.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Schatten des Irakkonflikts diskutieren wir heute Abend über ein
anderes Regime, das seine eigene Bevölkerung quält und
eine immer größere Bedrohung für die ganze Region darstellt, nämlich über das Mugabe-Regime in Simbabwe.
Simbabwe ist das Land, in dem Milch und Honig
fließen - so beschrieb mir vor zehn Jahren eine Frau ihre
Heimat. In der Tat: Damals war Simbabwe noch ein gesegnetes Land, eine afrikanische Musterdemokratie, die
Schweiz des südlichen Afrikas. Inzwischen ist es auf dem
Weg ins Armenhaus, zur Folterkammer und zu einem abschreckenden politischen und wirtschaftlichen Desaster.
Robert Mugabe hat Simbabwe mit Diktatur, Willkür, Korruption und seiner als „Landreform“ titulierten Massenenteignung von Farmen in den wirtschaftlichen und humanitären Niedergang gestürzt.
Bis zu 1 Million Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter und ihre Familien, befinden sich auf der Flucht
vor Mugabes Kriegsveteranen, die inzwischen weite Teile
des Landes beherrschen. Knapp 4 000 der insgesamt
4 500 kommerziellen Farmen wurden unter schlimmen
Begleiterscheinungen zwangsgeräumt. Immer stärker ist
auch das öffentliche Leben durch staatlich organisierten
Terror und Gewalt gekennzeichnet. Demokratie und
Menschenrechte zählen nicht mehr, oppositionelle Politiker, kritische Journalisten und Richter werden mit dem
Tode bedroht; die letzten Wahlen wurden manipuliert.
Auch wirtschaftlich liegt die früher hinter Südafrika
stärkste Volkswirtschaft im südlichen Afrika am Boden.
Die Arbeitslosenquote im formellen Sektor liegt bei über
70 Prozent, die Inflationsrate lag im letzten Jahr bei
200 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr liegen bei
500 Prozent. Ausländische Beteiligungen sind stark rückläufig, frühere Devisenbringer wie Bergbau und Tourismus sind völlig eingebrochen. Auch der ehemals hoch
rentable Agrarbereich erzielt aufgrund der chaotischen
Landreform nur noch einen Bruchteil der früheren Deviseneinkünfte.
In der Landwirtschaft wurde der größte Teil der ohnehin geringen Ernte entweder gestohlen, mutwillig von
den Kriegsveteranen zerstört oder er ist aufgrund von
Misswirtschaft verdorben. Simbabwe, das noch bis vor
kurzem Lebensmittelexporteur war, benötigt nun monatlich etwa 150 000 Tonnen Nahrungsmittel für die
Ernährung der Bevölkerung. Regierung und Hilfsorganisationen können nur etwa ein Drittel davon bereitstellen.
Deswegen rechnen Experten damit, dass zwischen sieben
und neun Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht sind. Besonders beunruhigend ist, dass Robert
Mugabe die Nahrungsmittelknappheit skrupellos zum
Machterhalt ausnützt. Vielerorts werden Nahrungsmittel
nur noch an Mitglieder seiner regierenden ZANU-PF-Partei ausgegeben. Distrikte, die bei den letzten Wahlen
mehrheitlich für die Opposition gestimmt haben, werden
durch Mugabes Privatarmee regelrecht ausgehungert.
Dies ist eine Vorstufe zu einem gezielten Völkermord
an Oppositionsanhängern und ethnischen Minderheiten.
Ich zitiere die öffentliche Äußerung des ehemaligen Parlamentssprechers Didymus Mutasa: Uns würde es mit nur
6 Millionen Menschen besser gehen. Ich meine unsere eigenen Leute, die den Freiheitskampf unterstützen. Die
anderen zusätzlichen Menschen wollen wir gar nicht. „Die „anderen zusätzlichen Menschen“ sind immerhin
mindestens 7 Millionen.
Die Welt - auch Europa - hat schon Anfang der 90erJahre einen afrikanischen Völkermord zugelassen, obwohl die Vorboten eindeutig waren. Ich spreche von
Ruanda. In der Folge haben sich weder die Europäer im
Allgemeinen noch wir Deutschen im Besonderen mit
Ruhm bekleckert, als es darum ging, mit unserer Afrikapolitik zu mehr Frieden und Stabilität beizutragen. StichStaatsminister Hans Martin Bury
worte sind dabei: Große Seen, Westafrika und Sudan.
Dies gilt im Grunde genommen auch für Simbabwe.
({0})
Es ist richtig, Herr Bury, dass die offizielle Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe eingefroren und
dafür die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen intensiviert worden ist. Richtig war auch das Einfrieren der
privaten Vermögenswerte Mugabes im Ausland, das EUWaffenembargo und das EU-Einreiseverbot. Die Sanktionen laufen am 18. Februar dieses Jahres aus. Natürlich
ist es dringend geboten, sie zu verlängern. Alles andere
wäre in der Tat ein schwerer Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der europäischen Außenpolitik.
Mit besonderer Aufmerksamkeit blicken wir nach
Frankreich. Für mich ist es ein trauriger Rückschlag,
dass Präsident Chirac weiter auf der Einladung für
Mugabe zum Frankreich-Afrika-Gipfel beharrt, bei dem
es zynischerweise um Menschenrechte und Good Governance geht.
({1})
Das ist ein Signal in die falsche Richtung und kein gutes
Zeichen für die jüngst wieder beschworene deutsch-französische Zusammenarbeit in der Außenpolitik.
({2})
Wir brauchen eine weiterhin harte Haltung gegenüber
Mugabe und seinem Regime im Besonderen und gegenüber Bad Governance in Afrika im Allgemeinen. In diesem
Zusammenhang fordern wir von der deutschen Außenpolitik, Herr Bury, und dem Kanzleramt einen Politikwechsel gegenüberAfrika. Ich möchte gerne wissen, was
der Außenpolitiker im Hause gegenüber dazu sagt. Wir
müssen weg von der Politik des freundlichen Desinteresses, garniert mit erheblicher Entwicklungshilfe, hin zu
dem Versuch, eine international abgestimmte Gegenoffensive gegen das zunehmende Chaos in Afrika zu organisieren. Es ist auch im deutschen Interesse, dass die Zonen der
Ordnungslosigkeit in Afrika eingedämmt werden.
({3})
Den wichtigsten Schlüssel zu einem Regierungswechsel in Simbabwe oder zumindest zu einem Einlenken von
Mugabe hat allerdings die Regierung in Südafrika.
({4})
Aber Südafrikas Präsident Mbeki hält sich trotz aller Bekenntnisse zu Menschenrechten, Demokratie und den
ambitiösen Zielen von NEPAD auffällig zurück. Seine
Strategie der stillen Diplomatie hat bisher zu keiner erkennbaren Verbesserung der Lage in Simbabwe geführt.
Ganz im Gegenteil: Sein Verhalten deuten viele als
eine stille Anerkennung dessen, was dort passiert. Südafrika hält das Terrorregime durch seine Treibstoff- und
Stromlieferungen, aber auch durch seine Kreditvergaben
künstlich am Leben, obwohl selbst Libyen inzwischen
kein Öl mehr liefert. Mittels einer geschickten Sanktionspolitik könnte Südafrika den Rücktritt von Robert
Mugabe binnen kürzester Zeit herbeiführen und damit
Millionen von Menschen aus der Gefahr befreien.
({5})
Deswegen ist Simbabwe die Nagelprobe für Afrikas
Bekenntnis zu Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit und
Demokratie. Simbabwes Nachbarländer stehen in der
Pflicht, Mugabe zum Einlenken zu bewegen. Vor allem
Südafrika ist als Protagonist von NEPAD moralisch verpflichtet, tätig zu werden. Der SADC-Vertrag von 1994
gibt der SADC die rechtliche Möglichkeit, Sanktionen gegen Simbabwe einzuleiten.
Herr Bury, wenn die Grundsätze und Prinzipien von
NEPAD und des SADC-Übereinkommens weiterhin mit
Füßen getreten werden, dann müssen wir Europäer unsere
Zustimmung zu beiden Abkommen infrage stellen, weil
sie sonst wirklich zu einer Farce werden.
({6})
Wir dürfen dem Terror von Robert Mugabe nicht länger
zusehen. Millionen von Menschen sind in Gefahr. Auch
die Glaubwürdigkeit der Afrikaner und das Vertrauen der
Welt, dass Afrika von Süden her eine neue Zukunft aus
eigener Kraft schafft, stehen auf dem Spiel.
Wir waren alle parteiübergreifend angesichts der Informationen betroffen, die wir auf der Veranstaltung, die wir
zusammen mit der Afrikastiftung vor zwei Wochen
durchgeführt haben - viele von uns waren dabei -, erhalten haben. Wir sollten versuchen, einen gemeinsamen
Antrag vorzulegen. Wir sind gerne dazu bereit, wenn wir
auf substanzielle Aussagen unseres Antrages nicht
verzichten müssen. Die Zeit drängt allerdings. Ich sage
ausdrücklich: Die Zeit für Beschwichtigungen ist vorbei!
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mehrere Regionen in Afrika stehen erneut vor einer Hungerkatastrophe. Fast 40 Millionen Menschen, vor allem
in Äthiopien und im südlichen Afrika, sind davon betroffen; circa 7 Millionen davon leben in Simbabwe. Besonders betroffen sind Kinder, Mütter und gesundheitlich geschwächte Personen.
Im Wesentlichen sind vier Ursachen für die immer
wieder auftretende Katastrophe verantwortlich: erstens,
die immer häufiger auftretenden Dürreperioden, zweitens
eine hoch subventionierte Agrarindustrie mit teilweise
nicht angepassten Agrarprodukten, drittens die schwierige und ungerechte Bodenbesitzstruktur sowie viertens
die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit einiger afrikanischer Regierungen, sich für die Lösung dieser prekären
Lage einzusetzen, ohne die Neuverteilung von Land politisch zu instrumentalisieren.
({0})
Die katastrophale Situation in weiten Teilen Afrikas ist
sicherlich kein Anlass für innenpolitische Auseinander1998
setzungen in dieser Debatte, die bedauerlicherweise erst
so spät am Abend geführt wird. Der Beifall zu vielen Passagen der Rede des Staatsministers, der nach meiner Auffassung sehr klare Aussagen zur Position der Regierung
machte, war ermutigend.
Die Situation in Simbabwe ist zurzeit äußerst brisant
und sowohl politisch als auch humanitär schwierig. Die
Rahmenbedingungen sind schlecht. Im Kontext deutscher
Entwicklungszusammenarbeit ist Simbabwe nur als
potenzielles Kooperationsland eingestuft. Die Regierung
von Robert Mugabe hat sich als Partner staatlicher Entwicklungszusammenarbeit selbst disqualifiziert.
Ich werde auf zwei der wesentlichen Rahmenbedingungen der Krise eingehen, nämlich auf die politische
und die wirtschaftliche Situation Simbabwes.
Präsident Mugabe, der seit nunmehr 23 Jahren an der
Macht ist, hat die Trennung von Staat, Regierung und
Partei aufgehoben und blockiert mögliche und dringend
notwendige Demokratisierungsprozesse. Seine Regierungsführung ist insbesondere durch Repression und politische Gewalt, besonders gegen die immer stärker werdende Opposition unter Morgan Tsvangirai, geprägt. Den
knappen Vorsprung gegenüber seinem politischen Gegner
von der Reformpartei bei der Wahl im März 2002 konnte
er nur durch Manipulation mittels fiktiver Wählerstimmen und Gewalt erzielen.
Die Opposition und andere zivilgesellschaftliche
Kräfte werden systematisch an der Teilhabe am politischen Leben gehindert und unterdrückt. Es geht so weit,
dass der Oppositionsführer unter einem dubiosen Mordkomplottverdacht vor Gericht gestellt und die internationale Öffentlichkeit anfangs von der Verhandlung ausgesperrt wurde.
Seit den 90er-Jahren ist die Gesellschaft durch eine
Günstlingswirtschaft geprägt, die nur dazu dient, die
Macht Mugabes zu festigen. Die Unterstützung der
Regierung entscheidet über die Teilhabe an den noch spärlich vorhandenen Gütern.
So ist auch die Landreform zu bewerten. Präsident
Mugabe versucht, durch die Neuverteilung des Bodens im
Rahmen der Landreform, seine Unterstützer aus den Reihen der Polizei, des Militärs und der eigenen Partei zu versorgen. Die Landreform wird hier als politisches Instrument zur Machterhaltung der Herrschaft Mugabes
missbraucht und nicht dazu genutzt, ungerechte Landbesitzverhältnisse aus der kolonialen Vergangenheit zu revidieren.
({1})
In Simbabwe handelt es sich also nicht nur um eine drohende wirtschaftliche Krise; die nationale Ökonomie leidet vor allem unter den Folgen der Miss- und Klientelwirtschaft.
Die allgemeine Wirtschaftslage Simbabwes ist seit
den 90er-Jahren durch die Rezession geprägt. Das Bruttoinlandsprodukt ging um 12 Prozent zurück. Die Inflationsrate lag im Dezember bei 198 Prozent und die Arbeitslosenquote - das ergibt sich aus den Unterlagen, die ich
gelesen habe - liegt nicht bei 70, sondern sogar bei
80 Prozent. Ich denke, dass man sich angesichts dieser Dimension nicht über die korrekte Zahl streiten muss. Die
wirtschaftliche Situation hat für die Menschen katastrophale Folgen.
({2})
Die Gesellschaft ist geprägt von Armut. Drei Viertel der
Menschen Simbabwes leben unter der Armutsgrenze.
Die fiskalische Situation Simbabwes wird durch
Kapitalflucht und Devisenmangel zusätzlich verschärft.
Kapital und Devisen wären aber für die Importe so
wichtiger Güter wie Nahrungsmittel und Erdöl dringend
notwendig. Zudem liegt die einst exportorientierte Landwirtschaft - Sie sagten es bereits, Herr Ruck - brach.
Zwar leidet das Land unter einer periodischen Dürre. Jedoch kann man sich nicht der Tatsache verschließen, dass
der Hauptverursacher der zusammenbrechenden Nahrungsmittelproduktion die missglückte und machtpolitisch
missbrauchte Landreform ist. Sowohl politisch als auch
wirtschaftlich kehrt die Regierung Mugabes immer mehr
zum Staatsinterventionismus zurück.
Wie soll und kann sich die Bundesregierung gegenüber
Simbabwe verhalten? Ich finde es gut, dass der Staatsminister eingangs die politische Position sehr deutlich
skizziert hat. Die Hilfe für Simbabwe darf natürlich nicht
abbrechen. Viele Menschen würden dadurch noch mehr
leiden und hungern.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit darf
allerdings die Position Mugabes nicht stärken. Es muss
also ein Weg beschritten werden, der das technisch
Mögliche und das entwicklungspolitisch Notwendige
verbindet. Klar ist, dass die entwicklungspolitische und
die außenpolitische Linie kohärent sein müssen. Die
auswärtige Politik muss den politischen Dialog mit allen
mulitlateralen Gremien führen, zur gegebenen Zeit natürlich auch mit der simbabwischen Regierung. Das sollte
vor allem in enger Abstimmung mit den EU-Partnern und
den SADC-Staaten erfolgen.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit muss also
abgestimmt, entwicklungspolitisch sinnvoll und nachhaltig sein. Die Auswahl von Mitteln, Trägern und
Empfängern muss gezielt erfolgen und sich auf reformwillige und reformfähige simbabwische Partner konzentrieren. Das Kriterium der Bedürftigkeit, also Armut und
Hunger, muss bei der Auswahl der Zielgruppen das
entscheidende Kriterium sein. Regierungsnahe Personen
und Funktionäre, Polizei und Militär müssen jedoch von
bilateraler Hilfe ausgeschlossen werden, da dadurch das
bestehende Regime gestärkt würde.
({3})
Der Handlungsansatz der Bundesregierung ist
richtig. Die Einstellung der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist Grundvoraussetzung dafür, das
Regime Mugabes nicht zu unterstützen. Es ist ein politischer Dialog gefragt, der die Opposition stärkt und zudem vor willkürlicher staatlicher Gewalt schützt. Die
Stärkung der Nichtregierungsorganisationen und anderer
zivilgesellschaftlicher Kräfte kann dazu beitragen, dass
Hilfelieferungen Bedürftige erreichen und nicht als Instrument zur Machterhaltung missbraucht werden.
Lassen Sie mich auf das zurückkommen, was ich anfangs gesagt habe. Auch wenn sich für uns und die Weltöffentlichkeit Simbabwe als Zentrum schlechter Regierungsführung in Afrika und als Kristallisationspunkt der
Hungerkatastrophe darstellt, dürfen wir den Rest Afrikas
nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen in Zukunft darauf hinarbeiten, politischen und ökologischen Krisen
rechtzeitig entgegenzuwirken. Zudem müssen Handlungsoptionen erarbeitet werden, um auf umweltbedingte
Gefahren im Vorfeld reagieren zu können.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Riester, in dem, was Sie und auch die anderen Kollegen
zur Einschätzung der Situation in Simbabwe und zur Einschätzung dessen, was Robert Mugabe seinem Land antut, gesagt haben, sind wir uns, fraktionsübergreifend einig. Mugabe ist ein furchtbarer Despot. Er fälscht Wahlen,
er schüchtert Leute ein durch Enteignung, Mord und Vertreibung - 1,5 Millionen Landarbeiter hat er vertrieben -,
er zerstört die wirtschaftliche Grundlage und damit auch
die Ernährungsgrundlage seines Landes in einer brutalen
Art und Weise, die nicht zu tolerieren ist. Er tritt die Menschenrechte mit Füßen, wie die jüngsten Attacken auf die
indische Minderheit und der Prozess, den Sie erwähnt haben, beweisen.
Ich glaube, es ist gut, dass wir uns in dieser Einschätzung einig sind. Ich halte auch die von der EU verhängten wirtschaftlichen und politischen Sanktionen
gegen Simbabwe für richtig. Sehr gut finde ich, dass sie
auch persönliche Sanktionen gegen Herrn Mugabe verhängt und sein Vermögen sowie das seiner Freunde eingefroren hat, soweit es sich in der EU befindet. Ich halte den
Versuch für richtig, den Diktator auch persönlich am
Portepee zu fassen.
({0})
- Richtig, das ist der entscheidende Punkt. Es muss auch
funktionieren.
Am Montag will der EU-Ministerrat diese Sanktionen
verlängern. Herr Bury, es gibt offensichtlich einen Kompromiss zwischen den Botschaftern, der nach Meldungen
der Agenturen ein bisschen anders aussieht als der, den
Sie hier geschildert haben. Der Kompromiss lautet, dass
mit Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eine Einreisegenehmigung für Herrn Mugabe erteilt werden kann.
({1})
Wir unterstützen die Verlängerung der Sanktionen,
denn man kann die Sanktionen jetzt nicht aussetzen. Dennoch sollte man beachten, dass die Sanktionen bis jetzt
nicht zu einer Verbesserung der Situation in Simbabwe
beigetragen haben.
({2})
Das müssen wir uns der Ehrlichkeit halber vor Augen
führen.
Deswegen schlagen wir vor, den Ansatz in der Politik
gegenüber Simbabwe etwas zu verändern. Man muss die
Sanktionen fortsetzen - es wäre ein katastrophales Signal,
wenn wir sie jetzt zurücknehmen würden -, aber den Weg,
den die Union vorschlägt, wollen wir nicht mitgehen. Wir
glauben nicht, dass erfolglose Sanktionen dadurch erfolgreich werden, dass wir einfach versuchen, die Sanktionen
noch härter zu machen und auch noch die Nachbarländer
mit in die Haftung zu nehmen. Das scheint uns nicht der
richtige Weg zu sein.
({3})
Ich habe mir auch den Antrag von Rot-Grün angesehen. Es ist ein bisschen schwierig, darin die Linie zu finden.
In dem Antrag wird sehr viel abgehandelt: Genfood, Dialog mit der Zivilgesellschaft und eine Menge Gutes und
Schönes. Irgendwo aber habe ich einen Absatz gefunden,
über den ich mich sehr gefreut habe. Er könnte aus unserem
Antrag sein, denn er beschreibt den Weg, den wir vorschlagen. Dieser Weg sieht so aus: Wenn wir als Europäer feststellen, dass es nicht funktioniert, wenn wir allein Sanktionen verhängen, müssen wir den Schulterschluss mit den
afrikanischen Nachbarn Simbabwes suchen.
Natürlich spielt Südafrika dabei eine Schlüsselrolle.
Herr Bury, Frau Ministerin, an dieser Stelle ist besonders
die SPD gefragt. Der ANC ist Partnerpartei der SPD, Sie
sitzen gemeinsam mit dem ANC in der Sozialistischen Internationale. Ich nehme an, dass Sie miteinander reden.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in Südafrika gemeinsam
mit dem ANC sehr viel gemacht. Es muss dort Netzwerke
geben. Ich gehe davon aus, dass Sie dort auch Einfluss
nehmen können. Tun Sie das. Nehmen Sie Einfluss auf
den ANC, damit der ANC und Herr Mbeki ihre Politik ändern und zu einer gemeinsamen europäisch-afrikanischen
Initiative Ja sagen,
({4})
sodass wir gemeinsam Einfluss auf Simbabwe nehmen
können, damit Herr Mugabe seinen Kurs dort ändert.
Ohne Südafrika - wir müssen eigentlich noch mehr afrikanische Länder ins Boot holen - wird es keinen Erfolg
geben. Dafür ist die Rolle, die Südafrika spielt, einfach zu
wichtig.
Herr Mugabe wird ja nun wohl zu den Konferenzen in
Paris und Lissabon reisen können. Wir haben darüber in
der Fraktion eine lange und sehr leidenschaftliche Debatte
geführt und sind zu dem Schluss gekommen: Wenn die
Franzosen wünschen, dass er kommt, dann müssen Sie,
Herr Bury - die Bundesregierung ist hier gefordert -, gemeinsam mit den Vertretern der anderen afrikanischen Staa2000
ten die Konferenzen in Paris und Lissabon nutzen, Herrn
Mugabe unter Druck zu setzen und dafür sorgen, dass er
sich, soweit dies möglich ist - das wird auf dieser Konferenz
sicherlich schwer zu erreichen sein -, einer geschlossenen
Front von europäischen und afrikanischen Ländern gegenübersieht. Vielleicht wird er dann seinen Kurs ändern bzw.
wird das irgendetwas bewegen. Es wäre der Bevölkerung
von Simbabwe sehr zu wünschen, dass dies gelingt.
({5})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Uschi Eid.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns
alle gemeinsam besorgt, ja bestürzt die Entwicklung in
Simbabwe. Wir glaubten eigentlich, dass die Zeit der
Apartheid und des Rassismus beendet sei. Aber jetzt müssen wir zusehen, wie in Simbabwe neuer Rassismus entsteht, der von der unverantwortlichen Politik der Regierung
Mugabes gegen weiße Bevölkerungsteile geschürt wird.
({0})
Das alte Unrecht der Kolonialzeit muss dringend beseitigt
werden. Daran führt kein Weg vorbei. Aber das alte Unrecht darf nicht durch neues Unrecht ersetzt werden.
Dafür ist kein Platz in dieser Welt.
({1})
Es ist auch kein Platz für ein korruptes Regime wie das von
Mugabe. Er erhält seine Macht um jeden Preis und er geht
dabei über Leichen. Seine Politik führt - darauf ist schon
hingewiesen worden - zu Hunger und Unterdrückung.
Platz ist in unserer Welt für das selbstbewusste, das offene, das reformbereite und das der Zukunft zugewandte
Afrika. Gerade wir, die wir gegen den Rassismus der
Weißen in Südafrika und Namibia gekämpft haben, und
die wir die Menschen in diesen Ländern in ihrem Kampf
gegen das menschenunwürdige System der Apartheid unterstützt haben, sind jetzt besonders aufgerufen, diesen
neuen Rassismus politisch zu bekämpfen und das demokratische Afrika und das Afrika, das international anerkannte Werte und Standards respektiert, zu stärken. Genau
das tut die Bundesregierung.
({2}): Na!)
Wir tun es aber nicht, Herr Hedrich - das sage ich in
aller Deutlichkeit -, indem wir andere afrikanische Staaten für die Politik in Simbabwe in Geiselhaft nehmen. Das
aber fordern Sie in Ihrem Antrag. Wir sind dagegen. Wir
tun es auch nicht, indem wir den intensiven Dialog der G 8
und Europas mit Afrika wieder abbrechen. Dazu sind wir
nicht bereit.
({3})
Nein, wir tun es, indem wir noch intensiver mit unseren
afrikanischen Partnern - und zwar auf gleicher Augenhöhe - über ihre gemeinsame Verantwortung für Afrika
sprechen. Unsere Strategie ist klar: erstens Abbruch der
Beziehungen mit der Regierung Mugabe bei gleichzeitiger Unterstützung der demokratischen und reformwilligen Kräfte in der Bevölkerung und zweitens Dialog mit
unseren afrikanischen Partnern, um den Druck auf Mugabe zu erhöhen und dazu beizutragen, dass die politische
Verantwortung für die weitere Entwicklung übernommen
wird. Ich kann Ihnen versichern: Alle Mitglieder der Bundesregierung bis hin zu Bundespräsident Rau haben in allen Gesprächen mit Vertretern Südafrikas immer wieder
gefordert, den Druck Südafrikas auf Simbabwe zu verstärken. Die Südafrikaner, die Malawier, die Lesother, alle
SADC-Politiker haben immer wieder versichert, dass sie
alles versucht hätten.
({4})
- Waren Sie dabei, Herr Ruck? Ich glaube, nicht.
({5})
Wir wissen zum Beispiel genau, dass Simbabwe jetzt
an der Reihe gewesen wäre, die Vizepräsidentschaft bei
der SADC zu übernehmen. Die SADC-Staaten haben genau dies verhindert. Mugabe ist nicht Vizepräsident geworden. Es sollte verhindert werden, dass im nächsten
Zyklus dann Simbabwe die Präsidentschaft der SADC
übernimmt. Genau das ist also nicht passiert. Das ist auf
Druck der anderen Politiker des südlichen Afrika geschehen. Darüber sind wir auch froh.
Die Bundesregierung hat von Anfang an mit Entschiedenheit gegen die systematische Zerstörung des Rechtsstaats in Simbabwe Stellung bezogen. Gerade wir waren
es, die sich schon sehr früh für konsequente Sanktionen
eingesetzt haben, und wir sind es, die jetzt innerhalb der
Europäischen Union für eine Verlängerung der Geltungsdauer der Sanktionen eintreten.
Darüber hinaus hat das BMZ - das wurde auch erwähnt - bereits im Jahre 2000 die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, also die staatliche Entwicklungszusammenarbeit, in großen Teilen ausgesetzt und nach
den letzten massiv manipulierten Wahlen im März 2002
vollständig eingestellt. Gleichzeitig haben wir die Zusammenarbeit auf nicht staatlicher Ebene intensiviert. Wir
machen weiter mit HIV-/Aidsbekämpfung, Demokratieförderung und Krisenprävention.
Was die Zusammenarbeit mit Ländern der Region
angeht, so haben wir im Politikdialog mit Südafrika und
mit anderen Regierungen des südlichen Afrikas darauf
hingewirkt, dass die Verantwortung gegenüber dem
Nachbarn wahrgenommen wird und der Druck auf das
Regime in Simbabwe zunimmt. Darum werden wir uns
auch in Zukunft konsequent bemühen.
Wir müssen dabei aber berücksichtigen - dabei dürfen
wir auch nicht ahistorisch sein -, dass viele Menschen im
südlichen Afrika zu Zeiten der Apartheid bei Mugabe in
Simbabwe Schutz und Unterstützung fanden und dass es
dort historisch gewachsene Freundschaften und Loyalitäten gibt, die eine rigorose Isolationspolitik, wie wir sie
uns vorstellen und wie sie international gefordert wird,
sehr erschweren.
({6})
- Herr Hedrich, Ihre Regierung hätte ja schon sehr viel
früher damit anfangen können, aber auch Mitglieder Ihrer
Partei pflegten sehr gute Freundschaften zu Mitgliedern
von Mugabes Regime. Sie erinnern sich: Wir waren gemeinsam in Simbabwe. Herr Mutambuka gehörte auch zu
denen, die in der CDU gute Freunde hatten, und er war sicherlich kein Demokrat.
({7})
Bei aller Enttäuschung über die so genannte stille Diplomatie muss auch gesehen und verstanden werden, dass
Südafrika nicht Verursacher der Krise ist und nicht dafür
verantwortlich gemacht werden kann. Wenn unsere Politik gegenüber den Nachbarstaaten Simbabwes nicht von
Augenmaß und strategischem Weitblick geprägt ist, dann
werden wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir
wollen und zu Recht erwarten.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Forderung der
CDU/CSU im Zusammenhang mit NEPAD sagen. Mit
NEPAD haben sich die afrikanischen Staaten zu grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Reformen sowie
zu global gültigen Werten, zu Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und verantwortlichem Regierungshandeln bekannt. Sie haben sich darüber hinaus zu
ihrer kollektiven Verantwortung für die afrikanische Entwicklung, zur Verantwortung für die Entwicklungschancen der Zukunft, aber auch zu Fehlern der Vergangenheit
und Gegenwart bekannt.
Diese neue Entwicklungsstrategie NEPAD hat ihre
Rolle als Vorreiter von Reformen schon mehrfach unter
Beweis gestellt,
({8})
am deutlichsten bei der Gründung der Afrikanischen
Union im Jahre 2002,
({9})
weil nämlich da das in der OAU verankerte Prinzip der
Nichteinmischung radikal über Bord geworfen wurde.
Die Afrikanische Union bekennt sich zu Demokratie,
guter Regierungsführung und Menschenrechten in allen
Mitgliedstaaten, was letztlich die Möglichkeit von Sanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und
gegen Diktatoren einschließt.
Diesem Bekenntnis zu gemeinsamer Verantwortung
entspricht die konkrete Bereitschaft von heute bereits
zwölf afrikanischen Staaten, sich einem gegenseitigen
Bewertungs- und Beurteilungsprozess zu unterwerfen.
({10})
Die Vorbereitungen dafür werden in Kürze abgeschlossen
sein. Damit werden Demokratie, gute Regierungsführung,
Marktwirtschaft und Menschenrechte erstmals zum Gegenstand eines förmlichen Dialogs zwischen afrikanischen
Staaten. Das muss man anerkennen und genau dies unterstützen wir.
Die gegenseitige Wertung wird einen umfassenden und
nachhaltigen Prozess der politischen Transformation
auf dem afrikanischen Kontinent auslösen. Falls dieser
Prozess transparent und glaubwürdig durchgeführt wird,
bietet er die Grundlage für eine Neuausrichtung unserer
Entwicklungszusammenarbeit mit den Reformstaaten
in Afrika.
Vor diesem Hintergrund fordern wir von unseren afrikanischen Partnern selbstverständlich, dass sie die kollektive Verantwortung, der sie sich verschrieben haben,
auch im Falle Simbabwes konsequent wahrnehmen. Um
genau diese Forderung geht es, wenn über die Unterstützung von NEPAD durch die G-8-Staaten diskutiert wird.
({11})
Herr Hedrich, Ihre Adresse an die Frau Staatssekretärin war nicht ganz parlamentarisch.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen
Hedrich.
Frau Präsidentin, ich gebe zu, dass mein Zwischenruf
nicht ganz parlamentarisch war. Ich nehme Ihren Hinweis
zur Kenntnis. Ich bitte um Entschuldigung.
Gut, entschuldigt und verziehen.
({0})
Ich gelobe auch Besserung. - Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere
daran, dass heute Morgen jemand von diesem Pult aus den
politischen Gegner zunächst beschuldigt hat, ein Kriegstreiber zu sein. Dann hat er behauptet, der politische Gegner vernachlässige die Prinzipien seiner Politik. Lassen
Sie uns solche Behauptungen einmal auf den hier diskutierten Fall transferieren!
In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses - er tagte nicht geheim - wurde darauf hingewiesen,
dass die Europäische Union vor zwei Optionen steht:
Die erste Option ist - Hans Martin Bury hat darauf hingewiesen -, dass der europäisch-afrikanische Gipfel in
Lissabon - das ist der Wunsch der Bundesregierung 2002
nicht stattfindet. Wenn Mugabe dorthin kommt, schließen
wir uns dem Wunsch der Bundesregierung an.
({0})
In derselben Sitzung hat der Vertreter des Auswärtigen
Amtes erklärt - damit ist die zweite Option verbunden -,
man sei aber dafür, dass Mugabe nach Paris, interessanterweise zum französisch-afrikanischen Gipfel, komme
und dass man der Teilnahme Mugabes dort allein schon
deshalb zustimmen wolle und müsse, weil Frankreich angedroht habe, der Verlängerung der Sanktionen nicht zuzustimmen, wenn Deutschland und die übrigen EU-Staaten darauf bestünden, das Mugabe nicht kommen dürfe.
Ich halte eine solche Politik für unwürdig und der Europäischen Union nicht angemessen.
({1})
Ich kann die Bundesregierung, lieber Herr Bury - ich
möchte mich aber auch an die Ministerin wenden -, deshalb nur auffordern: Wenn Sie möchten, dass Ihre Politik
nur ein Fünkchen Konsistenz enthält, dann müssen Sie die
Prinzipien, die Sie heute Morgen beschworen haben, nicht
nur auf den Fall Saddam Hussein, sondern auch auf den
Fall Mugabe und auf die Fälle anderer Diktatoren in gleicher Weise anwenden; sonst wird Ihre Politik unglaubwürdig und setzt sich zu Recht des Vorwurfs der Beliebigkeit aus.
({2})
Sie erwecken nämlich den Anschein, dass Ihnen Simbabwe im Augenblick nicht so wichtig ist. Die Bedeutung
dieses Falles - da darf ich mich beim Kollegen Walter
Riester ganz herzlich bedanken - ist aber sehr deutlich geworden.
Ich wiederhole: Bleiben Sie in Ihrer Politik konsequent!
Sie darf nicht, weil jetzt die Beantwortung irgendwelcher
anderer Fragen im deutsch-französischen Verhältnis ansteht, auf dem Altar zweifelhafter Gemeinsamkeit geopfert
werden. Wenn dieser Mann, Mugabe, die Chance bekäme,
sich auf diesem Gipfel in Paris zu präsentieren, dann wäre
das ein Schlag in die Gesichter aller Demokraten im südlichen Afrika. Deshalb darf ich die Bundesregierung bitten, dementsprechend zu handeln.
({3})
Im Übrigen habe ich mir sagen lassen - aber das ist
eine Pikanterie -, dass sich die Zahl der Französisch sprechenden Bürger in Simbabwe auf 18 Personen beläuft,
wobei der französische Botschafter eingeschlossen ist.
Das ist aber mehr eine Sache von Chirac. Um diese Frage
brauchen wir uns nicht so sehr zu kümmern.
Die Parlamentarische Staatssekretärin hat auf NEPAD
verwiesen. Ich teile ihre Einschätzung, dass NEPAD, eine
in Afrika entstandene Initiative, positiv zu bewerten ist.
Ich sage aber auch: Mugabe ist der Testfall.
({4})
- Nein, es gibt keine, aber Mugabe ist der Testfall. - Wie
wollen eigentlich die Führer dieser Initiative, Obasanjo
von Nigeria und Thabo Mbeki von Südafrika, uns Europäern und ihren eigenen Bürgern klar machen, dass sie
für alle afrikanischen Staaten - das ist ja der Ansatz - Demokratie, Menschenrechte, Freiheit der Presse und der
Meinungsäußerung einfordern, aber gleichzeitig einen
um die Ecke herum herrschenden Diktator nicht darauf
aufmerksam machen, diese umzusetzen. Mugabe wäre
morgen oder, um es korrekter zu formulieren, übermorgen
am Ende, wenn Thabo Mbeki den Daumen senken würde.
Wir fordern Mbeki auf, den Daumen zu senken, damit
dieses terroristische Regime endlich zusammenbricht.
Das hat das Volk von Simbabwe verdient.
({5})
Daran muss man dann auch den einen oder anderen erinnern.
Vielleicht hatten Sie Gelegenheit, mit Sam Nujoma, den
ich nun seit fast 30 Jahren kenne, bei seinem letzten Besuch zu sprechen. Da haben wir ihn gefragt: Mr. President
- er versteht sehr gut Deutsch -, was war eigentlich Ihre
Überlegung, dass Sie Robert Mugabe zu seiner Wiederwahl gratuliert haben, bevor die Auszählung der Stimmen
begonnen hatte? - Da hat Sam in der ihm eigenen Art formuliert: Ja, gab es denn einen Zweifel, dass er gewinnen
könnte? Jeder weiß, dass, wenn es eine freie Wahl in Simbabwe gegeben hätte, der Oppositionsführer, den Sie vorhin
zu Recht erwähnt haben, selbst bei den ungünstigsten Prognosen mit einem Ergebnis von 80 Prozent das Rennen gemacht hätte. In einer solchen Situation müssen wir von den
Nachbarn einfordern, nicht nur im eigenen Lande - Namibia ist ja Gott sei Dank nach wie vor ein viel versprechendes Beispiel in der Region - demokratischen Prinzipien
und Menschenrechten zur Anwendung zu verhelfen.
Die Glaubwürdigkeit, liebe Frau Staatssekretärin, von
NEPAD misst sich auch daran, welche Stellung die afrikanischen Führer zu den konkreten Beispielen der Verletzung von Menschenrechten in anderen Staaten beziehen. Bis heute müssen wir leider feststellen, dass die
afrikanischen Führer es nicht geschafft haben, hier eine
eindeutige Position zu beziehen. Damit diskreditiert sich
auch der Prozess von NEPAD. Wenn diesem Prozess
Glaubwürdigkeit zukommen soll, dann müssen wir darauf
bestehen, dass Mugabe abgelöst wird; denn er ist ein Hindernis für ein solides Verhältnis zwischen Europa und
Afrika und ein Schänder der Menschenrechte in Afrika.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich zähle jetzt nicht mehr die zu Recht von allen Seiten
gekommenen Beschreibungen auf, mit denen die Lage in
Simbabwe skizziert wurde. Für mich hat das mit am prägnantesten und deutlichsten unsere Ministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul schon im August drastisch und eindeutig
in einer Pressemitteilung formuliert - ich zitiere -:
Den Spitzenplatz der Verantwortungslosigkeit nimmt
die verbrecherische Clique des Diktators Mugabe in
Brigitte Wimmer ({0})
Simbabwe ein… Für die akute Hungersnot in Simbabwe sei die Regierung durch ihre Misswirtschaft
und menschenverachtende Willkür mit verantwortlich.
Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Regierung das
so sieht.
Ich möchte aber noch einmal zwei Aspekte aufgreifen:
Ich finde es unerträglich, dass nach übereinstimmenden
Aussagen durch systematische Behinderung der Verteilung von Nahrungsmitteln an bestimmte bedürftige Bevölkerungsgruppen versucht wird, die Opposition
buchstäblich auszuhungern, indem man ihre Mitglieder
verhungern lässt. Diese Aussagen sind ernst. Sie wurden
von glaubwürdigen Zeuginnen und Zeugen gemacht und
sind übereinstimmend.
Deswegen muss unsere erste und wichtigste Forderung
sein: Die Regierung in Simbabwe muss der ungehinderten Verteilung von Nothilfe durch unabhängige nationale
und internationale Hilfsorganisationen nicht nur zustimmen, sondern sie auch gewährleisten und sicherstellen.
Wir können nicht zulassen, dass mit Nahrungsmitteln
gnadenlos Politik gemacht wird.
({1})
Die Bundesregierung leistet zu Recht alles ihr Mögliche, um die Nichtregierungsorganisationen bei ihrer humanitären Arbeit zu unterstützen. Ich weiß nicht, wie es
Ihnen geht, wenn Sie die Berichte sehen und hören. Man
kann es fast nicht glauben. Ich denke, unsere Regierung
macht an diesem Punkt die richtige Politik, indem sie mit
aller Energie versucht, die Hilfe an die Menschen zu bringen, ohne das Regime zu unterstützen.
Das Zweite ist: Ich stimme absolut der klaren Position
von Staatsminister Bury zu, dass es darum geht, Simbabwe
bei den Vereinten Nationen zu einem Thema zu machen.
Ich finde die Initiative gut.
Wir sollten auch die Bemühungen der Länder unterstützen, die Lage in Simbabwe bei der Tagung der Menschenrechtskonvention, die im März in Genf beginnt,
auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist wichtig, dass in diesem Rahmen darauf hingewiesen wird, welche schrecklichen Menschenrechtsverletzungen es in Simbabwe gibt.
Wir tun das - da wende ich mich an die CDU/CSU aus Sorge um die Entwicklung im südlichen Afrika. Deswegen ist der Appell an die südafrikanischen Staaten richtig. Aber wir sollten das nicht vom hohen Ross und aus einer weißen Sicht tun, sondern aus einer Position der
Gleichberechtigung heraus. Staatssekretärin Eid hat darauf hingewiesen, dass der Menschenrechtsschutz bei der
Gründung der Afrikanischen Union im Sommer 2002 in
den Prinzipienkatalog aufgenommen worden ist. Daraus
erwächst den afrikanischen Staaten eine Verantwortung.
Selbstverständlich muss man an diese Verantwortung appellieren. Dabei hat Südafrika eine ganz wichtige Rolle,
aber nicht allein.
({2})
Es hat überhaupt keinen Sinn, sich hier vom hohen
Ross gegen NEPAD, gegen Südafrika zu wenden, sondern
man muss sich auf gleicher Augenhöhe und gleichberechtigt treffen. Die EU und die afrikanischen Staaten müssen
gemeinsam dazu beitragen, die Situation in Simbabwe zu
verändern.
({3})
Wir müssen gemeinsam dazu beitragen, den Menschen in
Simbabwe zu helfen, und zwar ohne Überheblichkeit,
sondern mit aller Kraft und aller Leidenschaft. Wir müssen unsere Regierung auf dem schwierigen, aber richtigen
Weg unterstützen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jüttner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um politisch zu überleben - ich will das noch einmal
unterstreichen und daran erinnern -, schürte Präsident
Mugabe bereits vor den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr den Hass gegen die weißen Großfarmer. Mithilfe so genannter Kriegsveteranen organisierte er deren
Vertreibung, verbunden mit Mord und Folter, mit der
Folge, dass die Landwirtschaft, einst das Rückgrat des
Landes - das wurde bereits betont -, inzwischen völlig zusammengebrochen und die Hälfte der Bevölkerung vom
Hungertod bedroht ist.
Die dringend erforderlich gewordene Nahrungsmittelhilfe der Vereinten Nationen wird von Mugabe als politische Waffe missbraucht. In den städtischen Regionen
werden Lebensmittel nach Parteizugehörigkeit verteilt. In
ländlichen Gebieten, in denen überwiegend die Opposition gewählt wurde, wird die Nahrungsmittelhilfe selten
oder gar nicht verteilt. Es ist deshalb unbegreiflich, dass
die für das Welternährungsprogramm Verantwortlichen
daraus trotz ursprünglicher und mehrfacher Ankündigungen bis jetzt keinerlei Konsequenzen gezogen haben.
({0})
- Das stimmt.
Die Menschenrechtslage hat sich in Simbabwe drastisch verschlechtert. Von Rechtsstaatlichkeit kann inzwischen keine Rede mehr sein. Horden so genannter Kriegsveteranen machen auf Geheiß Mugabes nicht nur Jagd auf
die noch verbliebenen Weißen, sondern bedrohen, foltern
und ermorden auch - und das vor allem - Schwarze, die
sie für politische Gegner Mugabes halten. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen: Bis zu 1 Million Menschen,
meist schwarze Farmarbeiter und ihre Familien, sind deshalb auf der Flucht vor diesen Kriegsveteranen. Schlägertrupps und Milizen sorgen zudem für eine brutale
Unterdrückung der Opposition. Dies reicht von Einschüchterungen und Misshandlungen bis hin zu politisch
motivierten Morden. Oppositionsführer Tsvangirai ist
mittels einer dubiosen Beweislage - das hat Herr Riester
bereits dargestellt - des Hochverrats angeklagt. Ihm droht
die Todesstrafe.
Menschenrechtsorganisationen, die Menschenrechtsverletzungen im Lande dokumentieren und Folteropfern
medizinische und psychologische Hilfe anbieten, werden
mit Polizeiaktionen überzogen. Ihren führenden Mitgliedern wird mit Verhaftung und Folter gedroht. BBC berichtete vor wenigen Tagen sogar von geheimen Folterkammern in der Hauptstadt Harare.
Das Schlimme ist: Menschenrechtsverstöße werden
nicht geahndet und entsprechend ungestraft fortgesetzt,
weil Gerichtsurteile ignoriert und Gesetze selektiv angewandt werden. Oppositionellen wird der Schutz des Staates verweigert. Medien- und Pressefreiheit ist längst nicht
mehr gewährleistet. Unabhängige Medien im Lande werden schikaniert und Journalisten bei ihrer Arbeit behindert, eingeschüchtert und teilweise festgenommen.
Diese fortdauernden, massiven Menschenrechtsverletzungen kann die zivilisierte Welt nicht länger hinnehmen.
({1})
Auch wenn die bestehenden Sanktionen, wie zum Beispiel
Reisebeschränkungen und Kontosperren in Bezug auf die
Mitglieder der Staats- und Parteiführung, in ihrer Wirkung
begrenzt sind, so müssen sie dennoch auf weitere Gefolgsleute Mugabes, so meine ich, ausgedehnt werden. Vor
allem müssen die von der EU verhängten Sanktionen
schnellstens verlängert werden. Es ist unerträglich, dass
der dringend erforderliche Beschluss über die Fortsetzung
der Sanktionen noch immer aussteht. Hier ist der deutsche
Außenminister gefordert, alles daranzusetzen, dass die Europäische Union mit einer Zunge spricht.
Insbesondere Frankreich, das Mugabe nach Paris eingeladen hat, muss deutlich gemacht werden, dass Europa
geschlossen handeln muss.
({2})
Bei der Schwere der Menschenrechtsverletzungen, ja bei
einem sich möglicherweise anbahnenden Genozid müssen nationale Interessen einzelner Länder zurückgestellt
werden.
Außerdem muss die Bundesregierung ihr ganzes politisches Gewicht dafür einsetzen, dass sich die Europäische Union auf der nächsten Menschenrechtskonferenz
in Genf auf eine gemeinsame Position zu Simbabwe verständigt.
({3})
Es muss sichergestellt werden, dass auf der 59. Sitzung
der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen
der im vergangenen Jahr von afrikanischen Staaten zu Fall
gebrachte Resolutionsentwurf zur Menschenrechtssituation in Simbabwe erneut unverändert eingebracht und
auch beschlossen wird. Die Menschenrechtsverletzungen
in Simbabwe müssen durch die Vereinten Nationen verurteilt und ein Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen muss eingesetzt werden.
({4})
Wichtig ist außerdem, dass die Opposition im Lande
von außen unterstützt und damit auch der innere Widerstand gegen das Regime gestärkt wird. Außerdem muss
alles unternommen werden, damit sich auch Südafrika
- das wurde hier wiederholt dargelegt - endlich seiner
Verantwortung gegenüber dem Nachbarland Simbabwe
bewusst wird.
Meine Damen und Herren, nur durch massiven internationalen Druck auf Mugawe besteht die Chance, dass
seine menschenverachtende Politik beendet und somit
eine noch größere Katastrophe verhindert wird.
Ich danke Ihnen.
({5})
Zu einer Erklärung zur Aussprache erhält nun die
Staatssekretärin noch einmal das Wort.
Frau Präsidentin! Ich möchte eines klarstellen: Afrika
ist ein großer Kontinent mit über 50 Ländern. Wir, die
Bundesregierung und Europa, können es uns nicht leisten,
den Dialog mit einem ganzen Kontinent wegen eines einzigen Landes zu gefährden. Das wäre strategisch falsch.
Es wäre falsch in unserem Interesse. Und es wäre falsch
aus historischen Gründen. Deswegen, glaube ich, ist es
auch falsch, Herr Hedrich, zu sagen: Simbabwe ist der
Testfall für NEPAD.
Wir müssen im Rahmen der neuen afrikanischen Entwicklungsstrategie den Dialog zwischen Europa und
Afrika weiterführen; denn sonst machen wir uns unglaubwürdig, wenn die Frage gestellt wird: Warum nicht
der Sudan, warum nicht die Elfenbeinküste, warum nicht
Angola, warum ausgerechnet Simbabwe? Wir müssen anerkennen, dass NEPAD bereits sehr positive Erfolge hatte.
Dass Südafrika einen Frieden zwischen der demokratischen Republik und Ruanda vermittelt hat, ist ein Erfolg.
Aufgrund dieser Erfolge können wir den Dialog mit
NEPAD jetzt nicht nur wegen eines Landes wie Simbabwe abbrechen, wie Sie es insinuiert haben.
({0})
Das war jetzt eine gewisse Schwierigkeit, denn ich darf
eigentlich nicht die Debatte verlängern. Ich glaube, es ist
fair, wenn ich Herrn Hedrich darauf antworten lasse.
({0})
Ich habe gedacht, dass sich „Erklärung zur Aussprache“ auf etwas Frau Eid Betreffendes bezieht. Jetzt hat sie
sich aber auf die ganze Aussprache bezogen. Daher gebe
ich Ihnen die Möglichkeit zur Antwort; ich glaube, das ist
fair.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Ich bin auch sofort
fertig. - Frau Staatssekretärin, damit kein Missverständnis aufkommt: Sie wissen, dass ich aufgrund der Erfahrungen mit anderen Initiativen, die wir aus Afrika kennen,
eine grundsätzliche Skepsis gegenüber NEPAD habe.
({0})
Wenn die Afrikaner NEPAD als eigene Initiative definieren,
dann müssen sie sich gefallen lassen - wie auch wir -, an
ihren eigenen Forderungen und Prinzipien gemessen zu
werden. Wir können nur feststellen: In dem Fall Simbabwe
versagt NEPAD. Das ist mein Punkt, nicht mehr und nicht
weniger.
({1})
Ich glaube, damit haben wir beiderseits die Standpunkte geklärt. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens ({0})
- Drucksache 15/371 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Es wird gebeten, die Reden der Abgeordneten
Brinkmann, Gehb, Ströbele, Funke und Hartenbach zu
Protokoll geben zu dürfen. Damit sind Sie, denke ich, einverstanden? - Dann verfahren wir auch so.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/371 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen einen schönen Restabend.