Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle sehr
herzlich.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: aktuelle Konjunktur- und Exportperspektiven.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit,
Wolfgang Clement.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Kabinett hat sich heute vor dem Hintergrund der Beratungen über den Stand der Agenda 2010
auch mit der erwarteten Konjunktur- und Exportentwicklung beschäftigt.
Wir alle kennen das Herbstgutachten der Institute zur
Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft,
aus dem sich ergibt, dass die deutsche Wirtschaft seit
diesem Sommer wieder Fahrt aufnimmt und dass wir bereits in der zweiten Hälfte dieses Jahres eine leichte Belebung werden verzeichnen können. Dies besagt auch
der Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Oktober, dem zu entnehmen ist, dass im laufenden dritten
Quartal eine geringe Zunahme des Bruttoinlandsprodukts wahrscheinlich ist.
Im nächsten Jahr wird sich die wirtschaftliche Erholung ausweiten. Das Herbstgutachten der Institute rechnet für dieses Jahr mit einer Stagnation des Bruttoinlandsprodukts und im nächsten Jahr mit einem Wachstum
von 1,7 Prozent. Das entspricht auch unseren Erwartungen, wobei uns allen klar ist, dass der so genannte Arbeitstageeffekt, das heißt die für Unternehmer günstige
Lage der Feiertage, eine Rolle spielt.
Wir werden morgen in der Bundesregierung die
Herbstprojektion verabschieden. Sie reiht sich in das
Spektrum dieser Berichte ein. Wir rechnen bei der wirtschaftlichen Entwicklung für dieses Jahr mit einer, wie
wir sagen, schwarzen Null und für das nächste Jahr, um
das vorwegzunehmen, mit einer Steigerung um 1,7 Prozent. Darauf komme ich aber noch zu sprechen.
Die Frühjahrsprognose, bei der wir mit einem Wachstum von 0,75 Prozent gerechnet haben, ist ebenso wie
die Annahme der Institute, die von einem Wachstum von
0,5 Prozent ausgegangen sind, also nach unten korrigiert
worden. Die Institute führen die leichte Prognosekorrektur, wie sie das nennen, auf drei Faktoren zurück: Erster
Faktor ist das Expansionstempo des Welthandels, das in
diesem Jahr deutlich geringer ausgefallen ist als im
Frühjahr erwartet. Zweiter Faktor ist die faktische Aufwertung des Euro gegenüber dem amerikanischen Dollar. Dritter Faktor ist das zurückbleibende Wachstum in
den europäischen Nachbarstaaten. Das Zusammenwirken dieser Faktoren hat zu einer deutlichen Korrektur
der Exportschätzung und damit auch des Außenbeitrags
geführt. Das trifft auch für unsere Frühjahrsprojektion
zu.
Die Bundesregierung erwartet für 2004, um das vorwegzunehmen - darüber beraten bis morgen Mittag
nämlich noch die Fachleute -, ein reales Wachstum des
Bruttoinlandsproduktes von 1,5 bis 2 Prozent. Wir rechnen - darauf stützt sich die Bundesregierung auch in ihren weiteren Planungen - mit einem Wachstum von
1,7 Prozent. Mit der Unsicherheitsmarge, die wir mit einer Spanne zwischen 1,5 und 2 Prozent ansetzen, berücksichtigen wir die außen- und binnenwirtschaftlichen
Chancen und Risiken. Es ist nicht unüblich, bei Prognosen solche Unsicherheitsspannen vorzusehen. Die EZB
veröffentlicht ihre Prognosen zum Beispiel mit Spannen
von bis zu einem Prozentpunkt.
Wir rechnen sowohl die nationalen als auch die internationalen Chancen und Risiken ein. Auf nationaler
Ebene betrifft das beispielsweise - das ergibt auch das
Gutachten der Institute - die Frage des Vorziehens der
Steuerreform, was zu einem Wachstum von zwischen
0,2 und 0,4 Prozent führt, wie es in den unterschiedlichen Schätzungen angenommen wird.
Redetext
Am Arbeitsmarkt rechnen wir zunächst aufgrund der
Arbeitsmarktreformen und dann zunehmend auch aufgrund der besseren Konjunktur mit einer leichten Entspannung. Für 2003 erwarten wir - genauso wie die Institute - eine Arbeitslosenzahl von 4,39 Millionen. Für
2004 rechnen wir im Jahresdurchschnitt mit einer ganz
leichten Abnahme auf 4,36 Millionen, also mit weniger
Arbeitslosen als die Institute, die von einer Steigerung
der Arbeitslosenzahl auf 4,45 Millionen ausgehen.
Wir sind mit unserem Ansatz etwas optimistischer als
die Institute. Das hat mit den von uns erwarteten Effekten aufgrund der so genannten Hartz-Gesetze zu tun.
Diese Erwartung resultiert aus den Alternativberechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, das möglicherweise eine bessere Übersicht über die Effekte der
Hartz-Gesetze hat als die Institute. Die Zahl der Erwerbstätigen wird nach unseren Erwartungen in diesem
Jahr um 1,5 Prozent und im nächsten Jahr - wiederum in
Übereinstimmung mit den Erwartungen des Instituts nur um etwa 50 000 zurückgehen, während die Sachverständigeninstitute mit 104 000 rechnen.
Aus unserer Sicht ist ein Wirtschaftswachstum von
bis zu 2 Prozent zu erreichen. Dazu ist unter anderem die
Aufhellung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen notwendig, also insbesondere der erwartete Aufschwung in den USA, der sich weiter fortsetzen müsste
und nicht durch Wechselkurs- oder Ölpreisverwerfungen
beeinträchtigt werden sollte. Daneben rechnen wir mit
der Realisierung der Reformvorhaben - insbesondere
dem Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform -, die
die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. Wir weisen darauf hin - deshalb auch diese Annahme -, dass das
Wirtschaftswachstum bei Verhinderung der Reformmaßnahmen bis auf 1,5 Prozent gedrückt werden könnte.
Ich sollte noch auf die dominierende Rolle des Außenhandels hinweisen. Dies ist umso erfreulicher, als die
aktuelle Eurostärke die deutschen Ausfuhren nicht gerade beflügelt. Ich teile die Einschätzung der Deutschen
Bundesbank in ihrem neuesten Monatsbericht, dass sich
die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen in den
vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. Es ist sehr
interessant, dass der Anteil Deutschlands am weltweiten
Außenhandel weiter leicht angestiegen ist. Von 1998 bis
2002 hat die Bundesrepublik Deutschland beim Anteil
am weltweiten Handel ein Plus von einem Prozentpunkt
auf jetzt 10,5 Prozent erreicht.
Das zeigt sich insbesondere an den sehr positiven Daten der deutschen Unternehmen bei dem Handel mit den
Ländern Mittel- und Osteuropas. Dieser Markt hat einen
Anteil von insgesamt 11 Prozent am deutschen Außenhandel und liegt damit vor den USA. In die USA exportieren wir 9,6 Prozent. Das heißt, die Erweiterung der
Europäischen Union im nächsten Jahr stellt eine hervorragende Chance für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft dar.
Herr Minister, könnten Sie sich mit Blick auf die Zeit
vorstellen, dass ein Teil der Zahlen, die Sie offenkundig
noch parat haben, in den Antworten auf die Fragen der
Kolleginnen und Kollegen untergebracht werden
könnte?
Ja, Herr Präsident, ich stimme Ihnen zu; Sie haben
Recht. Ich bitte um Entschuldigung.
Ich will noch auf etwas nicht ganz Uninteressantes
hinweisen: Gemäß den uns vorliegenden Prognosen bezüglich des Wachstums wird die Bundesrepublik
Deutschland nicht mehr das Schlusslicht in Europa sein.
Mit 1,7 Prozentpunkten werden wir genau in der Mitte
der Entwicklung des Wachstums in Europa liegen. Wir
gehen davon aus, dass wir diese Position noch werden
verbessern können.
Ich danke Ihnen sehr.
({0})
Ich habe mir bereits die Wortmeldungen der Kollegen
Michelbach und Koppelin sowie der Kollegin Kopp notiert. - Zunächst hat Kollege Michelbach das Wort.
Herr Bundesminister Clement, ich frage mich und
Sie: Wo nehmen Sie diesen Optimismus her? Wecken
Sie mit Ihren Versprechungen nicht falsche Erwartungen? Wenn Sie einmal anstatt auf die Arbeitslosenzahl
auf die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen achten
würden - das ist viel wichtiger -, dann könnten Sie erkennen, dass wir heute im Vergleich zum Vorjahr - das
ist das eigentliche Problem der deutschen Wirtschaft 650 000 Erwerbstätige verloren haben.
Ist Ihre Bewertung nicht auch deshalb falsch, weil die
Forschungsinstitute in ihrer Beurteilung die ganzen
Maßnahmen als zu zaghaft und widersprüchlich ansehen? Schon im Vorjahr haben Sie im Zuge der Hartz-Gesetze 2 Millionen neue Stellen versprochen. Allerdings
ist dadurch nur eine geringe Zahl von Arbeitsplätzen entstanden.
Herr Kollege Michelbach, wir sollten uns langsam
darauf verständigen, zwischen Zielsetzungen, Versprechungen und Prognosen zu unterscheiden. Es macht relativ wenig Sinn, dass wir in dieser Diskussion ständig
aneinander vorbeireden; ob bewusst oder unbewusst
lasse ich einmal dahingestellt.
Ich habe keine Versprechungen gemacht. Die Zahl
von 2 Millionen neuen Arbeitsplätzen habe ich nicht in
den Mund genommen. Die Versprechungen, die Sie meinen benennen zu müssen, sind im Zuge der gesamten
Hartz-Reformen gemacht worden, aber nicht von mir,
sondern von Peter Hartz. Ich vermute, dass der Zeitraum, um ein solches Ziel zu erreichen, länger sein wird.
Aber niemand von uns hat diese Zahl von 2 Millionen in
den Mund genommen.
Ich habe im Übrigen keine Versprechungen gemacht,
sondern Prognosen wiedergegeben. Wenn Sie sie mit
dem vergleichen, was die Institute gestern in ihrem Gutachten bekannt gegeben haben, dann werden Sie feststellen, dass dies auf Punkt und Komma übereinstimmt.
Deshalb verstehe ich Ihre Frage nicht.
Was die Arbeitslosenzahl von 4,39 Millionen im
Durchschnitt für dieses Jahr angeht, so kann ich dazu nur
sagen, dass dies viel zu viel ist. Dennoch ist diese Zahl
bemerkenswert: In der Frühjahrsprojektion wurde von
über 4,4 Millionen Arbeitslosen bei einem Wachstum
von 0,75 Prozent ausgegangen. Das Wachstum liegt
heute bei null, aber die Arbeitslosenzahl liegt bei
4,39 Millionen, genauso wie es die Institute für dieses
Jahr voraussagen. Unsere Annahmen für das nächste
Jahr sind etwas positiver als die der Wirtschaftsinstitute.
Dabei unterstellen wir, dass die Beschäftigungsschwelle
in Deutschland langsam, aber sicher sinkt. Sie liegt nicht
mehr bei 2 oder 2,5 Prozent, sondern irgendwo zwischen
1,5 und 1,8 Prozent, und wird im Zuge der Reformen
weiter sinken.
All dies sind relativ nüchterne Beschreibungen, die
mit Versprechungen nicht das Geringste zu tun haben.
Ich kann Ihnen gerne mit Versprechungen dienen, wenn
Sie sie benötigen. Aber diese haben dann mit der Sache
nichts zu tun.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Minister, Sie konnten sicherlich aus Zeitgründen
nicht auf einen Bereich eingehen, der heute in den Medien aufgegriffen wurde. Im Herbstgutachten soll besonders harte Kritik an der Finanz- und Haushaltspolitik der
Bundesregierung zum Ausdruck gekommen sein. Diese
harte Kritik würden wir als FDP natürlich teilen. Ich
möchte aber zuerst wissen, ob das stimmt.
Ich darf Sie bei dieser Gelegenheit auch noch fragen:
Ist es eine solide Finanzpolitik der Bundesregierung
- das gehört mit zum Herbstgutachten -, wenn am
Freitag von der Koalition mit dem Haushaltsbegleitgesetz entschieden wird, den Zuschuss des Bundes zur
Rentenversicherung um 2 Milliarden Euro zu kürzen,
und am Sonntag von der Bundesregierung genau das Gegenteil beschlossen wurde?
In dem Herbstgutachten ist tatsächlich eine Kritik der
Sachverständigen enthalten. Der Vorwurf ist, dass unser
Kurs - Konsolidierung oder weitere Schuldenaufnahme nicht klar ist. Alle sechs Institute sind übrigens für das
Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform; damit wir
uns in diesem Punkt verstehen. Auch warnen alle vor
dem Risiko, auf das Vorziehen zu verzichten.
Es ist allerdings bemerkenswert, dass sich die Institute in ihrer Kritik nicht einig sind. Drei der sechs Institute sind nämlich für das Vorziehen der dritten Stufe der
Steuerreform, unter Inkaufnahme von höheren Schulden,
und zwar bis zu zwei Drittel des Gesamtbetrages. Ihre
Begründung, die ich für richtig halte, ist, dass wir im
nächsten Jahr einen Investitionsschub für die Konjunktur
brauchen. Die drei anderen Institute sind hinsichtlich der
Aufnahme von Schulden nicht dieser Ansicht. Die Meinungen sind also sehr differenziert.
Aus diesem Grunde ist auch die Finanzpolitik der
Bundesregierung sehr differenziert. Mit unserer Politik
müssen wir sowohl konsolidieren als auch der Konjunktur einen Schub geben. Wir haben das heute im Kabinett
mit Herrn Kommissar Solbes diskutiert. Dabei haben wir
deutlich gemacht, wie die Situation ist. Die Europäische
Union ist auf ein wirtschaftliches Wachstum in Deutschland angewiesen. Die Annahme, dass das wirtschaftliche
Wachstum in eine Größenordnung von 1,7 Prozentpunkten erreicht, hängt aber davon ab, dass es durch das Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform einen Schub
für die Konjunktur gibt, den die Wirtschaftsinstitute mit
0,2 bzw. 0,4 Prozentpunkten voraussagen.
({0})
- Welche Frage habe ich nicht beantwortet?
({1})
- Aufgrund der aktuellen Rentensituation hat die Bundesregierung entschieden, eine Veränderung vorzunehmen; das ist richtig. Das wird sich unter anderem in einer
globalen Minderausgabe niederschlagen, die über den
Haushalt gelegt wird und über die die einzelnen Ressorts
in eigener Verantwortung zu entscheiden haben. Insgesamt wird sich dadurch der Haushaltsentwurf natürlich
verändern. Diese Kritik ist richtig. Das hat aber mit der
aktuellen Lage der Rentenversicherungsträger zu tun.
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang gerne darauf hinweisen, weil Ihrer Partei und Ihrer Fraktion so
sehr am wirtschaftlichen Erfolg liegt, dass es aus wirtschaftspolitischer Sicht von außerordentlicher Bedeutung ist - da werden Sie mir sicher zustimmen -, dass
wir die Rentenversicherungsbeiträge stabil halten, und
dass wir dazu alle Möglichkeiten ergreifen müssen, auch
wenn dies Schmerzen verursacht, was uns klar ist. Diese
Schmerzen machen sich parteipolitisch durchaus bemerkbar.
Frau Kopp.
Herr Minister, Sie haben selbst dargestellt, dass Sie
davon ausgehen, dass von den prognostizierten 1,7 Prozent Wachstum für das kommende Jahr allein 0,6 Prozent dadurch erreicht werden, dass im kommenden Jahr
insgesamt fünf Feiertage auf einen Sonnabend fallen und
somit fünf Tage mehr für die Arbeit zur Verfügung stehen. Sie bestätigen damit einen direkten positiven Zusammenhang zwischen mehr Arbeit und Wachstum.
Ergreifen Sie jetzt auch die entsprechenden Maßnahmen, beispielsweise betriebliche Bündnisse, Rechtsgrundlagen für mehr Deregulierung und Möglichkeiten
vor Ort, in den Betrieben zu Sondervereinbarungen zu
kommen, und wann dürfen wir mit Ihren Initiativen
rechnen?
Das verstehe ich jetzt nicht ganz. Natürlich ist es richtig, dass es aus unternehmerischer und aus volkswirtschaftlicher Sicht gut ist, wie die Feiertage im nächsten
Jahr fallen, und dass das zu einem erheblichen Wachstum in Deutschland beiträgt. Sie haben Recht, wenn Sie
dadurch mit einem Wachstum von etwa 0,6 Prozentpunkten rechnen.
Wenn Sie fragen, wie sich das in Deutschland auswirkt und was man daraus lernen kann, so antworte ich
Ihnen: Ja, wenn wir mehr arbeiten, werden wir ein höheres Wachstum erzielen.
({0})
- Ich sage es Ihnen doch jetzt.
({1})
- Ich sage es Ihnen jetzt. Sie haben doch gefragt.
({2})
Dann werden Bayern und andere Länder Entscheidungen zu fällen haben.
Ich werde das jetzt fortsetzen. Es ist richtig, dass die
Staaten, die die Arbeitskraft voll mobilisieren können
- das gilt beispielsweise für die Arbeitsdauer und für
die Erwerbstätigenquote -, ein höheres Wachstum als
andere erreichen. Deshalb stellt sich diese Frage auch in
Deutschland, und zwar erstens für die Tarifparteien,
denn die Arbeitszeit wird in Deutschland immer noch
von den Tarifparteien festgelegt, zweitens insbesondere
für die Länder, denn die entscheiden über die Feiertage, und drittens für die Bundesregierung, die beispielsweise über das Renteneintrittsalter und über die
Lebensarbeitszeit entscheidet. Wir sind im Entscheidungsprozess, wie Sie wissen. Deshalb wundere ich
mich etwas über Ihre Reaktion. Jeder möge an seinem
Platz entscheiden, was fällig ist, die Tarifparteien in ihrer Verantwortung, die Länder in ihrer Verantwortung
und der Bund in seiner.
({3})
- Ein bisschen Spannung ist ja auch gut für den Fortschritt.
Vizepräsident: Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Singhammer.
Herr Bundesminister, die Bundesregierung hat in der
Vergangenheit immer wieder auf den Zusammenhang
zwischen steigenden Löhnen und deren stimulierender
Wirkung für die Konjunktur hingewiesen. Nun haben
Sie mit den Beschlüssen vom Sonntag für eine erhebliche Verbrauchergruppe, nämlich die der Rentner, Einschnitte beschlossen. In welcher Weise gehen diese konjunkturdämpfenden Momente in Ihre Prognose ein und
wie werden Sie diese berücksichtigen?
Die Institute haben sie nicht berücksichtigt. Sie haben
nicht mit den Beschlüssen gerechnet. Die Institute haben
unterstellt, dass die Bundesregierung so handeln würde,
wie Sie es geglaubt haben. Die Bundesregierung hat aber
anders gehandelt und die Rentenversicherungsbeiträge
stabil gehalten.
Wir sehen dies in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage als überragende Aufgabe an und müssen deshalb das, was die Beschlüsse beinhalten, in Kauf nehmen und den Rentnerinnen und Rentnern zumuten. Wir
haben dies sehr wohl abzuwägen. Das ist unter allen
Gesichtspunkten eine überaus kritische Frage, sowohl
unter wirtschaftspolitischen als auch unter sozialen Gesichtspunkten. Wir meinen, dass die wirtschaftspolitischen Gesichtspunkte in der gegenwärtigen Phase der
Entwicklung in Deutschland, die immer noch durch
eine relativ labile wirtschaftliche Lage gekennzeichnet
ist, für die Beibehaltung der Höhe des Beitrags sprechen.
Es ist bemerkenswert, dass die Institute das nicht berücksichtigt haben. Wenn sie es berücksichtigt hätten,
hätten sie ihre Prognose möglicherweise sogar mit einem
leichten Wachstum oberhalb von 1,7 Prozentpunkten abgeschlossen.
Kollege Schmidt.
Herr Minister, die Wirtschaft wird - das ist eine
Binsenweisheit - auch durch eine gute allgemeine Situation und öffentliche Aktivitäten unterstützt. Deswegen
frage ich Sie, ob die Wirtschaftsweisen, die ihre Prognosen, ihr Gutachten vorgelegt haben, auch Kriterien
berücksichtigt haben wie die Tatsache, dass Teile der
Wirtschaftslobby und der Opposition - wie wir es eben
wieder im Ansatz gehört haben - durch ständiges Herauspicken von einzelnen negativen Elementen Miesmacherei in der öffentlichen Diskussion betreiben, ohne
dass es dafür eine umfassende Begründung gibt.
({0})
Ich nehme Ihre Frage gerne zum Anlass, Herr Kollege
Schmidt, um zu betonen, dass wir in Deutschland froh
darüber sein sollten, dass sich eine wirtschaftliche Belebung andeutet, und dass uns die parteipolitischen Diskussionen, die wir gelegentlich - manchmal auch sehr
intensiv - führen, nicht verführen sollten, die Chance,
die in der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung liegt
und die sich übrigens insbesondere aus der weltwirtschaftlichen Entwicklung ergibt, möglicherweise nicht
zu nutzen.
({0})
Wir werden nach meiner Interpretation im nächsten
Jahr noch keinen Aufschwung erleben. Es wird vielmehr
zu einer Phase der wirtschaftlichen Belebung kommen.
Wir sind gut beraten, nach den Reformen, die wir auf
den Weg gebracht haben, auch diese Reform gemeinsam
zu Ergebnissen zu führen, um voranzukommen.
Zwischen all diesen Maßnahmen besteht ein Zusammenhang. Wenn wir von einem wirtschaftlichen Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent im nächsten Jahr ausgehen,
dann spielen dabei neben der Zahl der Feiertage, die auf
Arbeitstage fallen, das Vorziehen der Steuerreform wie
auch die Reformen insgesamt eine wichtige Rolle. Ohne
diese Faktoren ist ein solches wirtschaftliches Wachstum
nicht erreichbar. Hinzu kommt der Export, bei dem die
Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal seit langer
Zeit wieder an erster Stelle liegt, was gelegentlich unterschätzt wird.
Wir haben insofern keinen Grund, die Wirtschaft in
Deutschland und unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unter den Scheffel zu stellen. Beides stellt sich gut
dar. Wir haben allen Grund, die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass die weltwirtschaftliche Belebung von
der deutschen Volkswirtschaft genutzt werden kann, um
selbst wieder in eine Aufschwungphase zu kommen.
Viele Menschen - auch viele Arbeitnehmer - scheinen
dies langsam, aber sicher auch so wahrzunehmen. Wir
müssen ein Interesse daran haben - ich wüsste nicht, wer
einen Grund haben sollte, das infrage zu stellen -, die
wirtschaftliche Entwicklung gemeinsam und mit aller
Kraft voranzubringen.
Herr Kollege Brüderle.
Herr Minister, Sie haben selbst dargelegt, dass das
Wachstum im Grunde zu niedrig ist, um beschäftigungswirksam zu werden; denn das ist erst ab einer Schwelle
von 1,5 bis 1,8 Prozent - 1,5 Prozent wäre schon sehr
günstig - der Fall. Das für das nächste Jahr prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent - wenn man
die Sondersituation der Feiertage unberücksichtigt lässt
- liegt aber deutlich darunter. Insofern muss über zusätzliche Aktivitäten nachgedacht werden, um eine Dynamik
zu erzielen, die uns nach vorne bringt.
Ein Blick in das Herbstgutachten zeigt, dass das
Investitionsvolumen keinen Aufschwung bedeutet. Vielmehr handelt es sich in der Regel um Ersatzinvestitionen, die sich aus der konjunkturell bedingten Zurückhaltung ergeben. Ein Turnaround bzw. eine Trendwende
ist nicht erkennbar. Deshalb müssen wir zusätzlich handeln. Das geltende Tarifvertragsrecht hat dazu geführt,
dass in Ostdeutschland 70 Prozent aller Arbeitsverhältnisse außertariflich geregelt sind. Wir müssen endlich
auch die Mitentscheidungsrechte der betroffenen Beschäftigten in Westdeutschland erweitern, damit sie gegebenenfalls abweichend vom Flächentarifvertrag in ihren Betrieben eigene Wege beschreiten können. Das aber
verweigern Sie. Weil die Gewerkschaften einseitig und
uneinsichtig vorgehen, müssen wir gesetzliche Öffnungsklauseln schaffen.
In dieser verfahrenen Situation ist Vertrauen notwendig. Der Kollege Schmidt hat gefordert, wir sollten die
Situation gesundbeten und als Hofjubler der Regierung
durch die Lande ziehen, damit das Wirtschaftswachstum
einsetzt.
({0})
Das wäre aber verkehrt. Vertrauen gewinnt man nicht
durch Hochjubeln, auch wenn das hier immer wieder
versucht wird. Als vor ein oder zwei Jahren kritisiert
wurde, dass die Wachstumsprognosen eine Illusion seien
- sie waren tatsächlich eine Illusion; keine Prognose
wurde eingehalten -, hat Herr Eichel von 2 Prozent
Wachstum schwadroniert. Tatsächlich hat er ein Nullwachstum erreicht. Als wir darauf hingewiesen haben,
dass die Prognosen unrealistisch seien, wurden wir von
Rot-Grün auf eine Stufe mit Vaterlandsverrätern gestellt.
Vertrauen gewinnt man nur durch eine faire und realistische Darlegung. Hier unterscheiden Sie sich von Ihrem
Vorgänger - erfreulicherweise - sehr; denn Sie haben offen auf das Bemühen der Bundesregierung hingewiesen.
Aber die Regierung muss doch noch zusätzlich etwas bewegen. Das Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform
ist von der Regierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen schon regelrecht zerredet worden; denn jeden
Tag wird eine neue Sau durch das Dorf getrieben. So gewinnt man kein Vertrauen.
Meine Frage lautet zugespitzt: Was macht der Wirtschafts- und Arbeitsminister Deutschlands aus der unbefriedigenden Situation, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass das Wachstum weit unter der
Beschäftigungsschwelle liegt. Natürlich können Sie sich
glücklich schätzen, dass die Feiertage, insbesondere die
Weihnachtsfeiertage, im nächsten Jahr nicht auf einen
Werktag fallen. Das ist für Deutschland eine schöne Bescherung durch das Christkind. Aber was machen Sie,
damit es vorangeht?
Herr Kollege Brüderle, Hochjubler habe ich schon
lange nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht in der letzten
Zeit.
({0})
Die Bundesregierung und insbesondere die Mehrheit der
Regierungsfraktionen haben sich mit den Reformmaßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben - wir reden
ja in vollem Ernst darüber -, wirklich nicht die leichteste
Last auf die Schultern gelegt. Wir tun dies sehr wohl im
vollen Bewusstsein der politischen Risiken, die mit diesen Maßnahmen verbunden sind. Wir tun dies aber auch
in der Überzeugung, dass es für die Bundesrepublik zurzeit keinen anderen Weg gibt als den, den wir eingeschlagen haben.
Herr Kollege Eichel hat sich auf Prognosen und Erwartungen gestützt, die von allen Instituten geteilt wurden. Es gibt weltweit kein einziges Institut - jedenfalls
nicht in den hoch entwickelten Volkswirtschaften -, dessen Prognosen in den letzten Jahren der Realität standgehalten hätten. Das gilt auch für die Prognosen der Sachverständigen und der Bundesregierung. Das ist eine
Tatsache. Europaweit wird nun ein Wachstum von
1,7 Prozentpunkten erwartet. Genau hier liegt die
Schwelle der Beschäftigungswirksamkeit. Ich gehe davon aus, dass wir eine gewisse Beschäftigungswirksamkeit erzielen werden und dass wir mit den Hartz-Gesetzen, die wir vor kurzem verabschiedet haben, die
Beschäftigungsschwelle senken werden. Wir müssen
eine Beschäftigungsschwelle erreichen, die wie in den
Nachbarstaaten, zum Beispiel in den Niederlanden, bei
1 Prozent liegt. Experten schätzen, dass das Arbeitsplatzpotenzial in Deutschland bei bis zu 2 Millionen
liegt. Dieses Potenzial ist auszuschöpfen. Wir haben es
noch lange nicht geschafft, dieses Potenzial in legale Arbeitsplätze zu verwandeln. Man muss ja bedenken, dass
es in Deutschland 5 Millionen bis 6 Millionen Schwarzarbeiter gibt. Wir müssen jede Chance nutzen, um die
Menschen aus der Schwarzarbeit durch ordnungspolitische Maßnahmen und ökonomische Anreize herauszuholen.
Sie haben gefragt, was wir auf der Pfanne hätten, um
zusätzlich etwas zu mobilisieren. Das ist das, was vor allen Dingen die Agenda 2010 mit allem, was dazu gehört,
beinhaltet: die Steuerreform, die Gemeindefinanzreform
und die Gesundheitsreform. Das sind aber auch das, was
wir in rentenpolitischer Hinsicht getan haben, um die
Beiträge stabil zu halten, und die Arbeitsmarktreformen,
die zu einer gravierenden Veränderung des Arbeitsmarktes führen werden. Dazu gehört außerdem das, was Ihnen Schmerzen bereitet: die Reform der Handwerksordnung und die Reform der berufsständischen Institutionen
in Deutschland, die allesamt zu Verhärtungen und Verkrustungen geführt haben. Nicht zuletzt gehört auch die
weitere Liberalisierung des gesamten Netzbereiches
dazu, insbesondere des Telekommunikationsbereiches
und des Energiebereiches. Der gesamte Güter-, Dienstleistungs- und Netzbereich in Deutschland müssen weiter liberalisiert werden. Wenn wir in den nächsten Jahrzehnten die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren
und eine sichere Wettbewerbssituation für die Exportwirtschaft und für die nächste Generation schaffen wollen, werden wir des Weiteren zugunsten von Investitionen in Wissenschaft und Forschung sowie in Bildung
und Qualifikation umschichten müssen. Wenn wir das
alles hinter uns haben, dann - so vermute ich - sind wir
über den Berg.
Herr Kollege Burgbacher.
Herr Minister, die Experten haben gestern eingeräumt
- das haben auch Sie eigentlich schon getan -, dass der
Aufschwung - wenn er denn kommt - nur von außen,
das heißt von den USA und Ostasien, angetrieben werde
und dass der Antrieb aller Binnenkräfte im Augenblick
gleich null sei. Wir werden in der morgigen Sitzung des
Tourismusausschusses eine entsprechende Debatte führen. Prognos sagt voraus, dass Deutschland auf dem Gebiet des Tourismus im internationalen Vergleich weit
hinterherhinke. Die Frage ist doch, wie wir es schaffen
können, die Aufschwungkräfte, die von außen kommen,
in unserem Land aufzunehmen.
Mit allen Maßnahmen, die Sie jetzt durchführen wollen - Sie muten den Menschen weiß Gott viel zu -,
springen Sie eigentlich zu kurz. Ich empfehle Ihnen, den
in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ erschienenen Artikel von Nikolaus Piper zu lesen. Er
schreibt sehr treffend, dass Sie zu kurz springen würden
und dass die Maßnahmen, die eine Zumutung für die
Menschen seien, nicht die Erfolge zeitigen würden, die
Sie erzielen wollten. Deshalb frage ich Sie: Was wollen
Sie tun, wenn die Erfolge, die Sie sich von Ihren Maßnahmen versprechen - man sieht das zum Beispiel an
dem Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform -, ausbleiben werden, wovon ich überzeugt bin?
Ich weiß nicht, warum ich mich daran beteiligen soll,
die Exportleistung der deutschen Volkswirtschaft kleinzureden. Was spricht denn dagegen, dass die deutsche
Exportwirtschaft einen erheblichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland haben wird?
Sie ist unser wichtigster Motor. Es ist von überragender
Bedeutung, dass Deutschland gerade in den weltwirtschaftlichen Bereichen, in denen jetzt eine Dynamik einsetzt, ausgesprochen gut positioniert ist, und zwar - ich
sage das einmal so - ausnahmsweise wirtschaftlich und
politisch.
Das bezieht sich auf die Beitrittsländer. Ich habe vorhin gesagt, dass der Anteil Deutschlands an den Exporten in diese Länder bei 11,6 Prozent liegt. Wir haben
eine enorme Dynamik in China und in anderen südostasiatischen Staaten, überall dort, wo wir sehr gut positioniert sind. Sie haben das immer bestritten.
Seit dem Jahr 2001 mussten wir eine Abflachung der
Exportentwicklung während der weltweiten Konjunkturschwäche hinnehmen. Das hat sich bei uns besonders
negativ ausgewirkt. Jetzt kommen wir in eine weltwirtschaftliche Erholung hinein, es sei denn, es gäbe irgendein zusätzliches Problem, etwa bei den Ölpreisen
oder in den Währungsrelationen. Wenn ich diese Risiken
außer Acht lasse, haben wir in der Perspektive eine sehr
gute weltwirtschaftliche Entwicklung zu erwarten. Dies
wirkt sich für uns positiv aus. Die weltweite Konjunkturschwäche in allen negativen Facetten haben wir ausgebadet - Sie und andere haben das in allen Formen beschrieben - und jetzt kommt es zu einer positiven
Entwicklung; daran wird sich hoffentlich auch nichts ändern. Dass sie sich hier auswirkt, ist für uns von außerordentlicher Bedeutung.
Wir in der Bundesrepublik brauchen diese Exportposition und werden sie weiter verbessern müssen, indem wir auch technologisch immer noch besser werden,
als wir heute schon sind, und zwar in den Technologien,
die in Zukunft die Weltmärkte bestimmen werden, und
das geht über die Bereiche Automobil, Chemie oder Maschinenbau hinaus. Das ist die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben.
Was die Situation in der Bundesrepublik angeht - wir
werden das jetzt nicht miteinander ausdiskutieren können -, sind wir der Meinung - alle Reaktionen, die es
dazu gegeben hat, bestätigen uns darin -: Was von der
Bundesregierung an Reformen auf den Weg gebracht
worden ist, ist in der deutschen Nachkriegsgeschichte
bisher einmalig. Auch vor diesem Hintergrund ist von
enormer Bedeutung, dass diese Reformen gelingen. Ich
habe andere Erwartungen in Bezug auf den Erfolg dieser
Maßnahmen als Sie.
Die Institute sprechen von einer ersten wirtschaftlichen Belebung. Niemand von uns sagt, dass damit die
Hände in den Schoß gelegt werden können. Wir werden
auch im nächsten Jahr über mehr als 4 Millionen Arbeitslose reden. Sie können davon ausgehen, dass es unser Ziel ist, diese Situation grundlegend zu verändern.
Dazu benötigen wir noch weiter gehende Maßnahmen
als die, die wir jetzt diskutieren. Die, die jetzt beschlossen worden sind, brauchen wir; auch das bestätigen die
Institute.
Letzte Frage zu diesem Themenkomplex, Kollege
Michelbach.
Herr Bundesminister Clement, Sie haben das Vertrauen der Wirtschaft in den Vordergrund Ihrer Ausführungen gestellt. Die Verbesserung der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit hängt sicherlich auch mit der Stimmung zusammen. Wie beurteilen Sie denn die Tatsache,
dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt von deutscher
Seite im Jahr 2003 und dann auch im Jahr 2004 vorsätzlich wieder gebrochen werden wird? Führt das nicht zu
einem Vertrauensverlust? Liegt darin nicht auch begründet, dass die Auslandsinvestitionen zunehmen und die
Inlandsinvestitionen abnehmen?
Das sehe ich ganz und gar nicht so. Wenn wir schon
über die Investitionen sprechen, dann sollten wir auch
sagen, dass Deutschland, was die Auslandsinvestitionen
angeht, zurzeit in einer außerordentlich positiven Situation ist. Unter den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union sind wir vermutlich auf Platz eins oder zwei. Das
Vertrauen in den Standort Deutschland scheint also außerordentlich hoch zu sein; sonst wären wir nicht in dieser günstigen Position, was Auslandsinvestitionen angeht. Deshalb kann ich das, was Sie benannt haben, ganz
und gar nicht teilen.
Deutsche Unternehmen investieren im Ausland, ja. In
vielen Fällen geht es auch gar nicht anders. Wenn sie in
China im Markt sein wollen, müssen sie auch in China
produzieren. Wenn sie in Südostasien im Markt sein
wollen, müssen sie dort auch produzieren. Es hat keinen
Zweck, dass wir in Deutschland nun über alles in Tränen
ausbrechen. Wir müssen schon akzeptieren, dass wir in
einem weltweiten Markt sind und dass unsere Unternehmen weltweit unterwegs sein müssen, und zwar zu den
Bedingungen, die in den jeweiligen Weltregionen gegeben sind. Deshalb kann ich da überhaupt keinen Kritikpunkt erkennen.
Was den Stabilitäts- und Wachstumspakt angeht - das
haben wir heute auch mit Kommissar Solbes erörtert -,
sind wir in einer Situation, die nicht einfach zu handhaben ist. Wir müssen konsolidieren, also für Stabilität
sorgen, so wie es der Stabilitätspakt vorsieht. Der Pakt
ist aber ein Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es macht
nämlich keinen Sinn, dass wir auf Teufel komm raus
konsolidieren. Entscheidend ist, dass wir Impulse für die
wirtschaftliche Entwicklung geben; deshalb ist beispielsweise das Vorziehen der Steuerreform so außerordentlich wichtig.
Insofern müssen wir die finanzpolitische Situation - sie
ist, wie ich meine, keineswegs widersprüchlich - letztlich sehr sorgfältig austarieren: auf der einen Seite die
Konsolidierungsbemühungen einschließlich des Abbaus
von Subventionen und auf der anderen Seite Impulse,
die unsere Wirtschaft - auch im Interesse der europäischen Wirtschaft - braucht. Der Vorwurf, den Sie erheben, ist also in meinen Augen nicht gerechtfertigt.
Richtig ist, dass wir auf längere Sicht konsolidieren
müssen. Die Bundesregierung vertritt zu Recht die Auffassung, dass das Vorziehen der Steuerreform durch einen entsprechenden Abbau öffentlicher Leistungen im
nächsten Jahr nicht voll kompensiert werden sollte.
Langfristig sollte das allerdings schon passieren. Wie der
Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister deutlich
gemacht haben, sind wir bereit, für die nächsten Jahre einen Subventionsabbau, der deutlich über das hinausgeht,
was die Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück dankenswerterweise auf den Weg gebracht haben, verbindlich festzulegen.
Vielen Dank. - Gibt es Fragen zu anderen Themen der
heutigen Kabinettssitzung? - Herr Kollege von Klaeden,
bitte.
Ich habe eine Frage an Herrn Staatsminister Schwanitz.
Am Wochenende hat es eine widersprüchliche Berichterstattung darüber gegeben, ob das Kanzleramt mittlerweile Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung der
Staatsanwaltschaft Bonn vom 2. Oktober eingelegt hat.
Können Sie uns sagen, was Sache ist?
({0})
Es ist jedenfalls die Wahrnehmung des Fragerechts
des Abgeordneten.
Herr Minister Schwanitz, bitte.
Herr von Klaeden, nur der Ordnung halber will ich
einfach sagen, dass das nicht Thema der heutigen Kabinettssitzung war.
Aber da es bekanntermaßen Interesse an diesem
Thema gibt, will ich Ihre Frage mit einem klaren Ja beantworten. Das Bundeskanzleramt hat mit Schreiben
vom 16. Oktober 2003 fristgemäß zur Begründung der
Einstellungsverfügung unter Beibehaltung der früheren
Bewertung ergänzend kritisch Stellung genommen.
Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass das Bundeskanzleramt im Fall der Nichtabhilfe der Beschwerde im Übrigen
nicht beabsichtigt, durch den Generalstaatsanwalt ein
Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 StPO zu betreiben. Das Vorbringen des Bundeskanzleramtes gilt damit im weiteren Verfahren als Fachaufsichtsbeschwerde.
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bleibt demgemäß abzuwarten.
Das Wort zu einer weiteren Frage hat der Kollege
Grindel.
Herr Staatsminister, ich würde Ihnen gern ein Interview des Journalisten Hans Leyendecker vorhalten, der
sich seit drei Jahren mit den Recherchen über diese angebliche Affäre beschäftigt hat. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ hat er gesagt:
Aber wir wissen eben heute mehr als damals. Die
Recherchen rechtfertigten damals eine Verdachtsberichterstattung, erweisen sich aber heute als korrekturbedürftig und müssen berichtigt werden.
Er führt dann weiter aus:
Richtig ist, dass Kohl in Parteifinanzierungsdingen
Dreck am Stecken hat. Aber andere Sachen, wie die
so genannten „Bundeslöschtage“, sind ihm schon
deshalb nicht anzulasten, weil es sie nicht gegeben
hat. Leider sind nicht alle Leser an Differenzierung
interessiert.
Stimmen Sie mir zu, dass sich langsam wirklich der Eindruck aufdrängt, dass die Bundesregierung wegen dieser
mangelnden Differenzierung in der Öffentlichkeit nach
dem Motto „Hauptsache, es bleibt etwas hängen“ den
früheren Bundeskanzler und andere, die in dieser Affäre
eine Rolle spielen, weiter unter Verdächtigung halten
will, obwohl selbst Journalisten, die nun nicht der CDU/
CSU zuzurechnen sind und seit drei Jahren recherchieren, sagen: Es müsste eigentlich längst etwas berichtigt
werden, da an der Geschichte ohnehin nichts dran ist?
Herr Kollege Grindel, ich stimme Ihnen ausdrücklich
nicht zu. Ich weise auch diese, wie ich finde, unsachlichen Beschreibungen zurück.
Es war, insbesondere bei solch sensiblen Fragen, immer gute Sitte, Äußerungen in Zeitungen und Zeitungsartikel nicht zu kommentieren.
({0})
Sie haben versucht, dieses Thema durch eine Dringlichkeitsfrage anzuberaumen. Ich denke, ich bin Ihnen mit
der Beantwortung der Frage von Herrn von Klaeden sehr
fair entgegengekommen.
Wenn Sie weiter gehende Ausführungen und Informationen wünschen, dann steht es Ihnen selbstverständlich
frei, der Bundesregierung auf dem herkömmlichen Weg
eine Frage zu stellen. Diese Frage wird dann auch beantwortet.
({1})
Weitere Fragen hierzu liegen nicht vor.
Ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 15/1763 Die zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Verteidigung eingereichte Frage 1 des Kollegen Nolting
wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Frage 2 des Kollegen Nolting wird
gemäß unseren Richtlinien für die Fragestunde ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 3 des Kollegen Dr. Stinner auf:
Welche Konsultationsmechanismen gibt es zwischen den
Teilnehmern des Quartetts - bestehend aus USA, EU, UNO
und Russland -, um zu einheitlichen Abstimmungsergebnissen der Mitglieder des Quartetts bzw. ihrer EU-Mitglieder im
UN-Sicherheitsrat bei den den Nahen Osten betreffenden Resolutionen zu kommen, und welche Initiativen unternimmt die
Bundesregierung, um diese Abstimmung zu verbessern?
Zur Beantwortung steht der Staatsminister Hans Martin
Bury zur Verfügung.
Herr Kollege Dr. Stinner, das Nahost-Quartett aus den
USA, der EU, dem VN-Generalsekretär und Russland ist
mit auf deutsche Initiative hin im April 2002 geschaffen
worden. Es trifft sich regelmäßig auch auf Ministerebene, zuletzt am Rand der VN-Generalversammlung in
New York am 26. September. Sein Ziel war von Anfang
an ein abgestimmtes Vorgehen vor Ort.
Die Abstimmung über konkrete Entwürfe für Sicherheitsratsresolutionen zum Nahen Osten findet zwischen
allen Mitgliedstaaten des VN-Sicherheitsrates statt, wobei die Konsultationen unter den im Sicherheitsrat vertretenen Mitgliedern des Quartetts, das heißt Russland,
den USA und den im Sicherheitsrat vertretenen EU-Mitgliedern - das sind zurzeit neben Deutschland Frankreich, Großbritannien und Spanien -, besonders intensiv
verlaufen. Zusätzlich finden häufig noch direkte Konsultationen zwischen den Hauptstädten statt.
Deutschland wird sich an diesen Konsultationen auch
weiterhin engagiert beteiligen und dabei für einen möglichst umfassenden Konsens im Sicherheitsrat werben.
Dabei ist klar - das gilt auch für Deutschland -, dass jeder Staat letztendlich in eigener Verantwortung über sein
Abstimmungsverhalten entscheiden muss.
Zusatzfrage, Herr Kollege Stinner?
Herr Staatsminister, bezieht sich diese Abstimmung,
also die Konsultationen des Quartetts, auch auf die Genfer Initiative für den Nahen Osten, die unter Führung der
ehemaligen Minister Beilin aus Israel und Rabbo aus Palästina gestartet wurde?
Herr Kollege, die Bundesregierung sieht in dem Genfer Abkommen einen äußerst positiven zivilgesellschaftlichen Beitrag zum Nahost-Friedensprozess, der insbesondere dem in der Roadmap formulierten Ziel dient, die
Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen
und entsprechende politischen Perspektiven für den Endstatus auszuformulieren. Insbesondere unterstützt die
Bundesregierung die mögliche Impulswirkung, die vom
Genfer Abkommen für die israelische und palästinensische Öffentlichkeit ausgehen kann. Der Abkommensentwurf zeigt, dass die schwierigen Problemfelder des
Nahost-Konfliktes rational lösbar sein können.
Weitere Zusatzfrage?
Herr Präsident, ich möchte meine Frage von eben
noch einmal wiederholen; denn die Antwort, die Sie,
Herr Staatsminister, gegeben haben, hat mit meiner
Frage nicht das Geringste zu tun gehabt. Sie lautete ganz
explizit, ob sich die Konsultationen des Quartetts auch
auf dieses Genfer Abkommen bezogen haben.
Ich habe Ihnen geschildert, dass permanent enge Konsultationen stattfinden, vermag Ihnen aber nicht zu sagen, inwieweit bei diesen Konsultationen bisher eine
Abstimmung zum Genfer Abkommen stattgefunden hat.
Inhaltlich habe ich Ihre Frage aber sehr wohl beantwortet.
Dann rufe ich die Frage 4 des Kollegen Stinner auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Auswirkungen unterschiedlicher Voten des Quartetts im UN-Sicherheitsrat auf
die Einflussmöglichkeiten des Quartetts auf den Friedensprozess im Nahen Osten?
Herr Kollege, die einmütige Unterstützung der
Roadmap durch die Mitglieder des Nahost-Quartetts
bleibt aus Sicht der Bundesregierung alternativlos und
wird durch das unterschiedliche Stimmverhalten von
Quartettmitgliedern im VN-Sicherheitsrat zu Einzelfragen der Nahost-Politik im Kern nicht infrage gestellt, zumal die Bewertungen in der Sache zumeist übereinstimmen. So wurde zum Beispiel der Ausweisungsbeschluss
des israelischen Kabinetts in Bezug auf Yassir Arafat
von allen Quartettmitgliedern kritisiert. Im Sicherheitsrat ging es vor allem um die Frage der Ausgewogenheit
der Resolutionstexte hinsichtlich der Einbeziehung einer
Verurteilung von Terroranschlägen.
Zusatzfrage?
Eine Zusatzfrage dazu: Wie bewertet die Bundesregierung denn, dass gestern Abend das Quartett in den
Vereinten Nationen wiederum zu einer von der Europäischen Union vorgelegten Resolution ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten gezeigt hat?
Zunächst, Herr Kollege, ist es positiv, wie ich denke,
dass die EU in den Resolutionsentwürfen jeweils entscheidende Textverbesserungen durchsetzen konnte und
damit ein geschlossenes Abstimmungsverhalten der Europäischen Union bzw. der im Sicherheitsrat vertretenen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union ermöglichte.
Von den anderen Quartettsmitgliedern haben Russland
für den Entwurf und die USA gegen den Entwurf gestimmt; die USA hatten nämlich bezüglich der Ausgewogenheit der Texte nach wie vor Bedenken.
Weitere Zusatzfrage?
Herr Staatsminister, ist es vorstellbar, dass das Quartett darin übereinkommt, eigene Resolutionsentwürfe bei
den Vereinten Nationen einzubringen?
Herr Kollege, es ist ohne Alternative, dass das Quartett weiterhin geschlossen und entschlossen an der Umsetzung der Roadmap arbeitet und daran festhält. Ob zu
dem Zweck neue Sicherheitsratsresolutionen zu diesem
Zeitpunkt erforderlich und hilfreich sind, vermag ich
nicht zu beurteilen.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich bedanke mich, Herr Staatsminister Bury.
Ich rufe den Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht
der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
zur Verfügung.
Die Fragen 5 und 6 des Kollegen Hartmut Koschyk
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 der Abgeordneten Petra Pau auf:
Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die
Spendenzahlungen des Fluthilfekuratoriums im Zusammenhang mit dem Hochwasser im August 2002 an die betroffenen
Länder und in welchem Verhältnis - bitte einzeln für die Länder aufschlüsseln - stehen diese zur Antragslage?
Frau Kollegin, das Kuratorium „Fluthilfe“ unter Vorsitz von Herrn Bundespräsidenten a. D. Dr. Richard von
Weizsäcker wurde unmittelbar nach der Flutkatastrophe
von Herrn Bundeskanzler Schröder als unabhängige Beschwerdeinstanz berufen. Zu seinen Aufgaben gehören
die Gewährleistung einer möglichst gerechten Abwicklung der Entschädigungen und die Ausreichung von Zuschüssen in Notsituationen.
Für die Hilfe in begründeten Fällen wurde das Kuratorium mit Finanzmitteln in Höhe von 20 Millionen Euro
aus dem Fluthilfefonds in Höhe von circa 7 Milliarden
Euro ausgestattet. Davon wurden bisher circa 8,5 Millionen Euro direkt an die einzelnen Antragsteller ausgezahlt.
Zuweisungen an die Länder aus den Mitteln des Kuratoriums - das ist ganz wichtig - erfolgen nicht. In der
Regel sind es die Bürger des am stärksten betroffenen
Freistaates Sachsen, die sich - gefolgt von den Bürgern
Sachsen-Anhalts und mit weitem Abstand von den Bürgern Bayerns - an das Kuratorium „Fluthilfe“ wenden.
Nach derzeitiger Einschätzung werden die noch verfügbaren Finanzmittel ausreichen, um im erforderlichen
Umfang Einzelfallhilfen leisten zu können.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Pau.
Herr Staatssekretär, es ist mir natürlich bekannt, dass
die Zuwendungen nicht an die Länder geleistet werden,
sondern an einzelne oder juristische Personen. Sind Sie
in der Lage, auszuführen, ob es gewisse Schwerpunkte
wie beispielsweise karitative Einrichtungen, Einzelpersonen oder betroffene Unternehmen in den einzelnen
Bundesländern, insbesondere in Sachsen und SachsenAnhalt, gibt?
Frau Kollegin Pau, den Hinweis, dass keine Zuweisungen an die Länder aus diesen Mitteln erfolgen, habe
ich vorgebracht, weil mir nicht klar war, was genau Sie
in Ihrer Frage meinten.
Die Schwerpunkte, nach denen Sie gefragt haben, lassen sich vielleicht insofern kennzeichnen, als es sich um
Bereiche handelt, in denen es um relativ kleine Beträge
geht. Beispielsweise hat man festgestellt, dass aus dem
Bereich der Kleingärtner etliche Anträge gestellt worden
sind, sodass man hier von einem Schwerpunkt sprechen
kann.
Weitere Zusatzfrage.
Eine weitere Zusatzfrage und vielleicht auch eine
Bitte. Wir haben inzwischen eine gewisse Übung, wenn
es darum geht, tiefer gehende Informationen auszutauschen. Hat Ihr Ministerium eine Übersicht dieser
Schwerpunkte, sodass man sie nachlesen kann?
Frau Kollegin Pau, da das Kuratorium „Fluthilfe“
keine nachgeordnete Behörde des Bundesinnenministeriums ist - wir sind zwar für vieles zuständig, aber nicht
für alles -, ist die statistische Erfassung nicht so ganz
einfach. Ich kann Ihnen nicht zusagen, die von Ihnen
nachgefragte Übersicht zu liefern.
Die Fragen 8 und 9 des Kollegen Albert Deß sollen
schriftlich beantwortet werden. Wir sind damit am Ende
dieses Geschäftsbereiches.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau
Dr. Hendricks zur Verfügung.
Die Fragen 10 und 11 des Kollegen Dr. Hermann Otto
Solms werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Dr. Jürgen Gehb
auf:
Für welche Zwecke soll nach Auffassung der Bundesregierung das Spendenaufkommen, das mit dem Verkauf der
Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksaufstandes in der
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
DDR“ - Ausgabetag 12. Juni 2003 - erzielt wird, verwendet
und welchen Institutionen soll es zugewiesen werden?
Herr Kollege Gehb, vorab: Die korrekte Bezeichnung
des Sonderpostwertzeichens lautet: „50. Jahrestag des
Volksaufstandes am 17. Juni 1953“. Die Mittel aus dem
Erlös dieser Sonderbriefmarke sollen den Opfern politischer Verfolgung zugute kommen. Nach Möglichkeit
soll der Anlass der Herausgabe der Sondermarke bei der
Verwendung der Mittel Berücksichtigung finden. Derzeit sind die Beratungen über den Empfängerkreis und
die Verwendung der erwarteten Zuschlagserlöse noch
nicht abgeschlossen.
Zusatzfrage.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Staatssekretärin, steht auch nach vier Monaten der Kreis der Empfänger der Mittel noch nicht genau fest. Wie beurteilen
Sie dieses Im-Dunkeln-Lassen der Postkunden und der
Öffentlichkeit eigentlich unter dem Gesichtspunkt des
Verbraucherschutzes?
Herr Kollege, es handelt sich hier nicht um ein ImDunkeln-Lassen, sondern es ist eben noch keine Entscheidung gefällt worden. Das Geld wird auf einem Sonderkonto der Deutschen Post AG gesammelt; es geschieht also nichts Böses.
Weitere Zusatzfrage.
Vor dem Ausgabetag ist von exponierter Stelle aus Ihrem Hause gesagt worden, zum Beispiel die Opfer des
Stalinismus sollten bei der Vergabe bedacht werden.
Gibt es einen Grund, warum man von dieser Aussage abgewichen ist, und mit welchen Institutionen wird nach
nunmehr über vier Monaten eigentlich darüber beraten?
Herr Kollege Gehb, ich kann Ihnen darauf nur antworten: Es ist noch keine Entscheidung gefällt worden;
es wird weiterhin darüber beraten. Wie ich Ihnen gerade
schon gesagt habe, soll eine Nähe zum Thema des Sonderpostwertzeichens hergestellt werden. Das kann ich
Ihnen zusichern.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Gehb auf:
Wann hat die Bundesregierung über die Verwendung des
Spendenaufkommens entschieden, das mit dem Verkauf der
Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksaufstandes in der
DDR“ - Ausgabetag 12. Juni 2003 - erzielt wird, und, falls
bisher keine Entscheidung getroffen wurde, wann plant die
Bundesregierung dies zu tun?
Wie ich schon sagte: Wir haben eine solche Entscheidung bisher nicht getroffen. Derzeit sind die Beratungen
über den Empfängerkreis und die Verwendung der erwarteten Erlöse noch nicht abgeschlossen. Den genauen
Zeitpunkt kann ich Ihnen im Moment noch nicht nennen.
Frau Staatssekretärin, Zuschlagsmarken werden bedauerlicherweise kaum gekauft. Was hat den Bundesfinanzminister eigentlich veranlasst, statt einer zuschlagsfreien Sondermarke, durch die das Gedenken an den
Volksaufstand millionenfach in die Welt hinausgetragen
worden wäre, eine Zuschlagsmarke herauszugeben, die
- abgesehen von Zwangskäufen durch die Philatelisten wie Blei an den Postschaltern liegt, sodass die Entscheidung unter PR-Gesichtspunkten völlig kontraproduktiv
war?
Herr Kollege Gehb, ich kann Ihrer Auffassung, dass
Zuschlagsmarken kaum gekauft würden, nicht zustimmen. Es ist schon richtig, dass Zuschlagsmarken weniger
gekauft werden als zuschlagsfreie Marken. Die Bürger
müssen sich schon bewusst dafür entscheiden, eine Zuschlagsmarke zu kaufen. Dies geschieht im Geschäftsverkehr nur vereinzelt und bei Privatkunden nach bewusster Entscheidung.
Ich weiß auch, dass die Philatelisten Zuschlagsmarken nicht lieben. Es finden zwar keine Zwangskäufe
statt, wie Sie es eben genannt haben; aber Philatelisten,
die Wert auf eine vollständige Sammlung legen, sind natürlich veranlasst, auch Zuschlagsmarken zu erwerben.
Natürlich würden sie lieber weniger Geld für ihr Hobby
ausgeben; das kann ich aus Sicht eines Philatelisten verstehen. Aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland
nur eine sehr beschränkte Anzahl von Zuschlagsmarken,
abgesehen von bestimmten Reihen, die jedes Jahr wiederkommen. Es gibt auch eine Verständigung mit den
Philatelisten darüber, dass - aus den eben von mir geschilderten Gründen - deren Anzahl nicht zu groß ist.
Bürgerinnen und Bürger, die dazu beitragen wollen,
das Andenken des 17. Juni 1953 in alle Welt hinauszutragen, dürfte der Zuschlag daran nicht hindern.
Herr Kollege Gehb.
Stimmen Sie mir zu, dass die Kauflust der entsprechenden Kunden jedenfalls größer wäre, wenn diese von
Anfang an wüssten, an wen der Erlös aus dem Zuschlag
geht?
Herr Kollege Gehb, ich habe schon gesagt, dass die
Opfer politischer Verfolgung bedacht werden sollen. Es
soll eine Nähe zum Thema dieses Sonderpostwertzeichens, also zum Gedenktag 17. Juni 1953, gegeben sein.
Allerdings müssen die möglichen Destinatäre geprüft
werden. Möglicherweise fühlen sich viele berufen, eine
solche Unterstützung zu bekommen. Bevor eine entsprechende Entscheidung gefällt wird, muss allerdings im
öffentlichen Interesse genau geprüft werden, ob unter
den Bewerbern nicht auch obskure Vereinigungen sind.
({0})
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereiches, da die
Fragen 14 und 15 des Kollegen Fromme schriftlich beantwortet werden sollen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit auf. Hier steht der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Beantwortung zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Hans Michelbach
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Zukunft der nationalen und europäischen Strukturpolitik vor dem Hintergrund
der EU-Osterweiterung für die ehemaligen westdeutschen
Grenzregionen nach dem Auslaufen der Bundesmittel für die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den alten Bundesländern?
Herr Abgeordneter Michelbach, von dem Auslaufen
der Bundesmittel für diese Gemeinschaftsaufgabe in den
alten Ländern nach 2003 werden die beihilferechtlichen
Spielräume in deren strukturschwachen Gebieten, insbesondere das bis Ende 2006 von der EU-Kommission
genehmigte Fördergebiet der GA sowie die nach der
KMU-Freistellungsverordnung zulässige Förderintensität, nicht berührt. In diesem Rahmen können weiterhin
auch Landes- und EU-Strukturfondsmittel eingesetzt
werden.
Die Handlungsmöglichkeiten in den ehemaligen
westdeutschen Grenzregionen ab 2007 sind vor allem
von den beihilferechtlichen Entwicklungen auf EUEbene abhängig. Die EU-Kommission wird insbesondere im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung das
derzeitige Beihilferegime überprüfen und anpassen. Die
Bundesregierung setzt sich in den laufenden Gesprächen
mit der Kommission unter anderem für eine generelle
Absenkung und Harmonisierung der Regionalfördersätze in den Mitgliedstaaten ein. Darüber hinaus soll
sichergestellt werden, dass auch Mitgliedstaaten wie
Deutschland ausreichend Spielraum erhalten, ihre Regionalprobleme selbst zu identifizieren und aus eigener
Kraft lösen zu können.
Im Rahmen der Diskussion über die europäische
Strukturpolitik nach 2006 setzt sich die Bundesregierung
für eine nachhaltige Konzentration der Förderung auf die
bedürftigsten Regionen in der erweiterten Union ein.
Eine Förderung außerhalb dieser Regionen ist nur bei
Vorliegen eines besonderen europäischen Mehrwerts zu
rechtfertigen. Diesen sieht die Bundesregierung bei der
transeuropäischen Zusammenarbeit grundsätzlich gewährleistet und befürwortet daher auch im Interesse der
ehemaligen westdeutschen Grenzregionen die Fortsetzung von Fördermaßnahmen mit dem Schwerpunkt der
grenzübergreifenden Zusammenarbeit der Regionen beiderseits der neuen Binnengrenze der erweiterten Gemeinschaft.
Zusatzfrage, Herr Kollege Michelbach.
Herr Staatssekretär, sehen Sie bei diesem Vorgehen
- wenn Sie nur auf die grenzüberschreitenden beiderseitigen Förderungen abzielen - nicht das Problem, dass es
nach 2006 unter den EU-Nachbarländern ein noch stärkeres Fördergefälle geben wird, und wäre es nicht notwendig, dass sich die Bundesregierung zur Strukturförderung der grenznahen Gebiete nationale Maßnahmen
ausbedingt, die dann lediglich einer EU-Missbrauchskontrolle unterliegen, und sowohl in den Bundesländern
als auch auf Bundesebene eigenständige Strukturförderungen ermöglicht?
Nein.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Ihre Antwort auf meine Frage
nach einer für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze in
diesem Raum sehr bedeutenden Maßnahme ist sehr dürftig. Können Sie sich nicht vorstellen, dass die Bundesregierung bei der EU-Kommission eine Initiative ergreift,
um die Strukturförderung zu forcieren und die Lösung
regionaler Aufgaben in den grenznahen Gebieten weiter
voranzubringen, statt das bestehende Fördergefälle nach
2006 noch auszuweiten?
Herr Abgeordneter Michelbach, ich habe deswegen
so knapp geantwortet, weil Ihre Einleitungsfloskel lautete: „Sehen Sie nicht …?“ Dann haben Sie Vieles aufgezählt, was ich so nicht sehe.
Zu Ihrer zweiten Frage möchte ich Ihnen sagen: Sie
wissen, dass das ein außerordentlich komplizierter Sachverhalt ist, weil die Neuauflage von Strukturfördermitteln ab 2007 unter mehreren Gesichtspunkten zu sehen
ist. Zum einen geht es um die Finanzierung. Im europäischen Bereich gibt es Vorstellungen, diese Mittel kräftig
aufzustocken. Diese Vorstellung hat die Bundesregierung nicht. Denn es stellt sich dann immer die Frage,
wer das bezahlt. Zum anderen stellt sich das Problem,
dass die gegenwärtigen Förderregime in einer erweiterten Union natürlich verändert werden müssen. Sie wissen ganz genau: Wenn man, so wie ich das vorgetragen
habe, sagt, man wolle nur die bedürftigsten Regionen
fördern, dann verliert die Bundesrepublik Deutschland
weite Teile der jetzigen Ziel-1-Förderung. Das ist so.
Das kann man aber, glaube ich, vor dem Hintergrund der
von mir angesprochenen Finanzierung nicht verändern,
es sei denn, dass wir die entsprechenden Beträge aus eigenen Mitteln aufstocken. Dann könnten wir das auch
komplett selber bezahlen. Es gibt da also einen gewissen
Zusammenhang, den man beachten muss.
Wir haben am Montag auf der Konferenz der Arbeitsund Sozialminister über diese Frage geredet, weil schon
jetzt Vorbereitungen getroffen werden. Die Finanzminister haben, soweit ich informiert bin, auf ihrem informellen
Rat in Rom darüber diskutiert. Es ist ein sehr schwieriges
Gebiet. Wir haben die Absicht, nur solche Strukturmaßnahmen zu fördern, die einen gesamteuropäischen Mehrwert erbringen und grenzüberschreitend sind.
Vor diesem Hintergrund muss man die weiteren Diskussionen und Entwicklungen der nächsten zwei Jahre
sehen. Denn in Bezug auf die Fortsetzung ab 2007 haben
wir noch etwas Zeit.
Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Auch das will ich
noch einmal ausdrücklich sagen: Es bleibt uns nach wie
vor der Spielraum, dass Ländermittel und EU-Mittel eingesetzt werden können. Es verhält sich nicht so, dass mit
dem Auslaufen der GA West keine Förderung mehr
möglich sei. Das wird zwar oft behauptet, aber das ist
nicht so.
Vielen Dank. - Die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten Dr. Lötzsch werden schriftlich beantwortet. Wir sind
damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin
Caspers-Merk zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 19 der Kollegin Kaupa
auf:
Ist die Bundesregierung der Meinung, dass ein Anheben
der Besitzgrenze von Cannabis auf 15 Gramm der Cannabisprävention und damit einer Reduzierung des Cannabiskonsums schaden würde, und sieht sich die Bundesregierung hinsichtlich der Bestrebungen, die es laut der „Welt“ vom
26. September 2003 in Berlin gibt, aufgefordert, ein Programm für eine zielgerichtete und effektive Cannabisprävention in Deutschland durchzuführen?
Herr Präsident! Liebe Kollegin Kaupa, Sie fragen
nach den Auswirkungen bestimmter Ankündigungen in
der Presse zum Thema Cannabispolitik und danach, wie
sich die Bundesregierung mit diesem Themenfeld auseinander setzt. Der Artikel in der Zeitung „Die Welt“
vom 26. September 2003 hat immer wieder zu Nachfragen in unserem Hause Anlass gegeben. Deswegen
möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um hier einige
grundsätzliche Dinge anzusprechen.
Nach Auskunft der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz ist kein Modellprojekt - wie in dem genannten Artikel behauptet zur legalen Abgabe von Cannabis geplant. Es wäre auch
rechtlich unzulässig. Der Verkehr mit Cannabis zu anderen als zu medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken ist entsprechend den Vorgaben der internationalen
Suchtstoffübereinkommen nach dem Betäubungsmittelgesetz verboten und strafbar. Die Strafbarkeit gilt sowohl
für die Abgabe als auch für den bloßen Besitz von Betäubungsmitteln. Ein Absehen von der Strafverfolgung ist
jedoch nach § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes beim
Besitz einer geringen Menge von Betäubungsmitteln und
ähnlichen konsumbezogenen Verhaltensweisen zum bloßen Eigenverbrauch möglich, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Nur in diesem
Zusammenhang kann, untechnisch gesprochen, überhaupt von einer „straffreien“ Besitzmenge die Rede sein,
das heißt einer Menge, die im Ergebnis regelmäßig zu einer Einstellung des Strafverfahrens führt. An der materiellen Strafbarkeit dieser Verhaltensweisen ändert dies
hingegen nichts. Das heißt, die Strafverfolgungsbehörden können beim Besitz einer geringen Menge von Betäubungsmitteln von einer Strafverfolgung absehen. Bei
Cannabis haben die Länder bei der Festlegung dieser
Menge einen rechtlichen Spielraum.
Die Bundesregierung hat auch in ihrer Antwort vom
15. Oktober 2003 auf die Frage des Abgeordneten Spahn
darauf hingewiesen, dass es grundsätzlich in der Kompetenz der für die Strafverfolgung zuständigen Länder
liegt, in Einzelerlassen bzw. Richtlinien die Grenzwerte
für die Anwendung des § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes zu konkretisieren. Derzeit bewegen sich diese
Grenzwerte in den entsprechenden Richtlinien der allermeisten Bundesländer zwischen 6 und 15 Gramm. Insofern lägen die 15 Gramm, über die jetzt in Berlin diskutiert wird, noch im beschriebenen Rahmen.
Die Bundesregierung hat demzufolge auch keinen
Anlass, ihre Maßnahmen zur Cannabisprävention zu
verändern. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung ein breites Spektrum an
Informationsmaterial entwickelt, in dem auch auf die Risiken des Cannabiskonsums eingegangen wird. Darunter
gibt es gezielte Informationsbroschüren für Eltern, Lehrer und Multiplikatoren.
Einige Angebote, wie zum Beispiel das Internetangebot www.drugcom.de, richten sich direkt an Jugendliche.
In den Jahren 2000 bis 2002 hat das Bundesministerium
für Gesundheit und Soziale Sicherung zusammen mit
acht Ländern ein Modellprojekt zur Frühintervention bei
erstauffälligen Drogenkonsumenten, abgekürzt: Fred,
aufgelegt. An 15 Modellstandorten wurde insbesondere
für Jugendliche der Altersgruppe 14 bis 21 Jahre, die
erstmalig wegen Konsums illegaler Drogen straffällig
geworden waren, ein gezieltes Hilfsangebot in Form eines Kurses gemacht. Das Angebot wurde von fast
100 Prozent der auffällig gewordenen Cannabiskonsumenten in Anspruch genommen und als sehr positiv beurteilt. Es hat darüber hinaus zu einer deutlichen Haltungsveränderung beigetragen. Wir sind sehr froh, dass
einige Länder, insbesondere Berlin und Bayern, dieses
Programm weiterführen werden, weil es sich bewährt
hat.
Zusatzfrage.
Das durchschnittliche Einstiegsalter in den Konsum
von Cannabis ist auf 14 Jahre gesunken. Rund
30 Prozent der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland haben
schon einmal illegale Drogen wie Cannabis genommen.
3 Prozent konsumieren regelmäßig. Meine Frage lautet:
Welche Programme der Frühintervention und Frühprävention strebt die Bundesregierung an?
Frau Kollegin Kaupa, ich habe schon zwei Modellprojekte angesprochen. Die Cannabiskonsumstruktur
gibt Anlass zur Besorgnis. Ein großes Problem besteht
darin, dass wir eine gesellschaftspolitische Diskussion
über Cannabis führen, die zwischen Dämonisieren und
Bagatellisieren schwankt. Ich glaube, es ist richtig, über
die Risiken umfassend aufzuklären.
Es gibt über 10 000 Jugendliche, die mit Cannabisabhängigkeitsproblemen in den Beratungsstellen vorstellig
werden. Aus diesem Grund möchten wir die Frühintervention stärker fördern. Hier gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten: Der Bund führt die Modellprojekte durch,
die er in seinem Namen verantwortet. In aller Regel
führt er sie zusammen mit den Ländern durch, die diese
dann weiterführen. Ein großes Projekt speziell für Cannabisabhängige war „Fred“. Acht Länder, leider nicht
alle, haben die Komplementärmittel zur Verfügung gestellt. Dieses Projekt wird jetzt zumindest von zwei Ländern weitergeführt.
Es gibt zunächst eine Modellphase, nach deren Ablauf die Länder einspringen müssen. Ich bin sehr besorgt
darüber, dass gerade die Länder, die größere Anstrengungen gegen den Cannabiskonsum fordern, diese Modellprojekte nicht weiterführen. Ich wäre Ihnen sehr
dankbar, wenn Sie insbesondere bei den Ländern, die daran beteiligt waren, darauf hinwirken würden, diese weiterhin mitzutragen.
Unter der Adresse „www.drugcom.de“ informieren
wir über die Gefahren des Cannabiskonsums. Generell
gilt: Es macht heute nur wenig Sinn, Präventionsprojekte
ausschließlich auf ein Suchtmittel bezogen durchzuführen. Wir haben in der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung, in der viele Projekte zusammenlaufen, den
Ansatz „Kinder stark machen“ gewählt, weil wir wissen,
dass Kinder, wenn sie selbstbewusst sind und gelernt haben, mit Enttäuschungen, Stress und auch Sorgen im Elternhaus oder mit Gleichaltrigen umzugehen, am besten
vor Drogenkonsum geschützt sind. Deshalb bezieht sich
unser Modellprojekt auf die Kampagne „Kinder stark
machen“. Im Zuge dieses Projekts qualifizieren wir Jugendübungsleiter in Sportvereinen; gleichzeitig versuchen wir, etwas an Schulen anzustoßen.
Sie wissen, dass wir dieses Jahr das Thema Rauchen
zum Schwerpunkt der BZgA-Arbeit gemacht haben. Wir
wissen, dass ein früher Einstieg in die legalen Suchtmittel in aller Regel dazu führt, dass auch illegale Drogen
früher ausprobiert werden. Hier gibt es einen deutlichen
Zusammenhang. Aus diesem Grund brauchen wir eine
Präventionsstrategie, die nicht nur ein Suchtmittel in den
Mittelpunkt stellt, sondern suchtmittelübergreifend ansetzt.
Es gibt keine weitere Zusatzfrage der Kollegin
Kaupa, also kommen wir zur Zusatzfrage des Kollegen
Spahn.
Frau Staatssekretärin, ich wundere mich schon, dass
sich die Regierungssprecherin und auch der Regierende
Bürgermeister von Berlin während seines Aufenthaltes
in Mexiko zu dieser Frage geäußert haben - aber damit
haben Sie natürlich nichts zu tun -, obgleich in Berlin
dazu offiziell nichts geplant ist.
Ich persönlich stehe in Bezug auf die Beurteilung der
Cannabisproblematik fest an Ihrer Seite. Ich bin froh,
dass Sie als Drogenbeauftragte auch bei anderen Bestrebungen in der Koalition weiterhin dazu stehen.
Ich habe allerdings eine Frage: Verfolgen Sie Ihr Ziel,
das Sie bereits des Öfteren und auch kürzlich noch einmal in einem „Focus“-Interview formuliert haben, zu einer in allen Bundesländern einheitlichen Beurteilung der
geringfügigen Menge zu kommen, weiter - das divergiert in den einzelnen Bundesländern sehr stark -, verbunden mit dem Ziel, zu einer starken Reduzierung der
maximal zulässigen Menge zu kommen? 30 Gramm sind
weit mehr als der Tagesbedarf eines Gelegenheitskonsumenten. Diese Menge ist eher etwas für Kleindealer.
Herr Kollege Spahn, mit der durchschnittlichen
Menge eines Gelegenheitskonsumenten kenne ich mich
vielleicht weniger aus als Sie.
Wir haben beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht ein ForschungsproParl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
jekt in Auftrag gegeben, um zu untersuchen, ob die derzeit in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der
Höchstgrenze für den straffreien Besitz von Cannabis
bestehende Differenzierung adäquat ist. Es gibt in der
Praxis immer wieder Diskussion darüber, warum ein
Land die Grenze bei 6 Gramm und ein anderes sie bei
15 Gramm festlegt. Ich sage das insbesondere mit Blick
auf die Jugendlichen, denen Sie sich sicher auch stellen
müssen.
Wir wissen, dass sich die Rechtsprechung inzwischen
auf eine bestimmte Menge festlegt hat. Das gilt für die
gesamte Bundesrepublik. Das aber möchten wir belegen
und haben deshalb dieses Forschungsprojekt in Auftrag
gegeben. Mitte nächsten Jahres werden wir die Ergebnisse bekommen. Dann müssen wir die Ergebnisse nochmals mit den Ländern erörtern. Diesen Grenzwert kann
der Bund nicht allein festlegen, sondern muss dies im
Einvernehmen mit den Ländern tun. Einige Länder haben
ein Interesse an einer einheitlichen Struktur, andere dagegen wollen an ihrer getroffenen Festlegung festhalten.
Ich rufe die Frage 20 der Kollegin Kaupa auf:
Sieht es die Bundesregierung hinsichtlich der Cannabisprävention als erforderlich an, insbesondere den § 29
Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 des Betäubungsmittelgesetzes, wonach
mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird, wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch
Verbreiten von Schriften - § 11 Abs. 3 des Strafgesetzbuches dazu auffordert, Betäubungsmittel zu verbrauchen, die in nicht
zulässiger Weise verschrieben worden sind, für eine vernünftige Cannabisprävention zu ändern bzw. ersatzlos zu streichen?
Frau Kollegin Kaupa, Sie fragen, ob wir § 29 des Betäubungsmittelgesetzes nicht ändern oder abschaffen
sollten. So habe ich Ihre Frage verstanden und beantworte Ihre Frage wie folgt: Wir marschieren hier in unterschiedliche Richtungen. Wir wollen § 29 des Betäubungsmittelgesetzes nicht abschaffen.
In den ambulanten Drogenberatungsstellen nimmt der
Anteil der Klienten, die wegen eines Cannabisproblems
zur Behandlung kommen, zu. Ich habe eben die absoluten Zahlen genannt. Im Jahre 2002 war Cannabiskonsum
bei 30,5 Prozent der wegen Drogenproblemen ambulant
Behandelten nach einem Bericht der Deutschen Referenzstelle für die Europäische Beobachtungsstelle für
Drogen und Drogensucht der wichtigste Anlass der Betreuung in den Beratungsstellen. Die Bundesregierung
sieht daher einen Widerspruch zwischen einer vernünftigen Cannabisprävention und der Streichung des
§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 des Betäubungsmittelgesetzes.
Das Betäubungsmittelgesetz enthält eine Reihe von
Vorschriften, deren Ziel es ist, die öffentliche Aufstachelung, Verherrlichung und Verleitung zum Drogenkonsum zu verhindern. Das Jugendschutzgesetz ergänzt
diese Regelungen. Da im Zeitalter moderner Kommunikationstechnologien auch Jugendliche einen erleichterten Zugang zu aller Art von Informationen haben und
heutzutage zahlreiche Medien auf dem Markt sind, die
zum Beispiel den Cannabiskonsum offen propagieren,
wäre die Streichung dieser Vorschrift ein falsches Signal.
Deswegen halten wir an § 29 des Betäubungsmittelgesetzes fest. Wir sind der Überzeugung, dass es für die
Aufklärung wichtig ist, nochmals darauf hinzuweisen,
dass der Aufruf zum Drogenkonsum nicht straffrei gestellt ist.
Zusatzfrage?
Ziel meiner Frage war nicht, dass Sie § 29 des Betäubungsmittelgesetzes streichen. Ich wollte nur Ihre Meinung dazu hören.
Die Bundesregierung hat in ihrem Aktionsplan „Drogen und Sucht“ die Überlebenshilfen als vierte Säule
verankert. Welche Rechtssicherheit kann die Bundesregierung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie
den Nutzern niedrigschwelliger Angebote der Drogenhilfe gewähren, ohne den Vorgaben des Aktionsplanes
zu widersprechen?
Es gab in dieser Hinsicht bisher nur einen einzigen
Vorfall, und zwar in Bielefeld. Ich denke, auf diesen Vorfall beziehen Sie sich auch. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld hat gegen Mitarbeiter einer Drogenberatungsstelle
ermittelt. Einige Vorwürfe - es gab noch andere - hat sie
auf § 29 des Betäubungsmittelgesetzes bezogen. Dieser
Prozess ist im Sande verlaufen; denn auch die Staatsanwaltschaft Bielefeld musste einsehen: Betreuer in
niedrigschwelligen Drogeneinrichtungen wandern auf
einem schmalen Grat: Sie müssen einerseits diejenigen,
die die Betreuungseinrichtung aufsuchen - sie wissen,
dass es Drogenkonsumenten sind -, beraten, andererseits
müssen sie aber auch darauf hinwirken, dass diejenigen,
wenn sie sie schon nicht zum Ausstieg motivieren können, wenigstens die Überlebenshilfen in Anspruch nehmen. Dazu zählt, dass sie saubere Spritzen benutzen oder
sich regelmäßig ärztlich untersuchen lassen. Nur derjenige, der überlebt, kann aus der Drogensucht aussteigen.
Deswegen sind gerade die niedrigschwelligen Kontaktcafés die Stellen, in denen der Kontakt zu den Konsumenten hergestellt werden kann. Durch den Ausbau des
Kontaktes können die Mitarbeiter darauf einwirken, dass
die Betroffenen einen Ausstieg wollen.
Wir befinden uns hier in einer Grauzone. Außer dem
Fall in Bielefeld ist uns aber kein anderer Fall bekannt.
Wir haben Betreuer immer ermuntert, die Konsumenten
zunächst zu einem sichereren Konsum anzuhalten, auch,
um Infektionen mit HIV oder Hepatitis einzudämmen
- auch das ist ein wichtiges Ziel - und dann über den intensiven Kontakt und den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Ausstieg zu motivieren.
Den Beschäftigten, die in Drogenprojekten arbeiten,
gilt mein großer Respekt, weil sie sich mit einer sehr
schwierigen Klientel beschäftigen und es sich insgesamt
um eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe handelt. Man
muss alles tun, um diese Personen rechtlich abzusichern.
Wir glauben aber, dass ihnen durch eine bloße Streichung des § 29 des Betäubungsmittelgesetzes nicht geholfen wäre. Es wäre wichtiger, wenn wir uns öffentlich
zu solchen Einrichtungen bekennen und stärker zu ihnen
stehen.
Zusatzfrage?
Reicht es aus, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtungen rechtlich nicht verfolgt werden,
wenn wir öffentlich hinter solchen Einrichtungen stehen? Die Arbeit, die sie machen - Sie haben sie gerade
beschrieben -, ist wichtig. Wir wollen, dass sie gemacht
wird.
Frau Kollegin Kaupa, ich habe mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Einrichtung in Bielefeld
Kontakt gehabt und habe mich sehr für sie eingesetzt.
Wir können natürlich nicht in ein Strafverfahren eingreifen, schließlich müssen wir respektieren, dass unsere
Justiz unabhängig ist. Im Verlauf des Verfahrens hat sich
aber gezeigt, dass die Vorwürfe nicht haltbar waren und
dass der Verweis auf § 29 des Betäubungsmittelgesetzes
nicht getragen hat.
Zusatzfrage des Kollegen Spahn.
Frau Staatssekretärin, zum vollständigen Verständnis
möchte ich ganz präzise nachfragen: Sie halten weitere
rechtliche Maßnahmen, um die Grauzone, die Sie gerade
beschrieben haben, aufzulösen und weitere Verfahren
dieser Art zu vermeiden, also für nicht notwendig?
Wir halten solche Maßnahmen nicht für notwendig.
Wir wissen, dass es den Vorstoß von einigen Drogenberatungsstellen gab, § 29 des Betäubungsmittelgesetzes
zu überdenken. Wenn wir § 29 Betäubungsmittelgesetzes streichen, würde das aber auch dazu führen, dass wir
nicht mehr gegen Publikationen vorgehen könnten, die
offen für Drogenkonsum werben.
Bei der Abwägung sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir ein rechtliches Instrumentarium brauchen,
um gegen drogenverherrlichende Schriften in der Öffentlichkeit vorgehen zu können. Deswegen führt eine
einfache Streichung nicht zum Ziel. Wir glauben, dass es
wichtiger ist, anzuerkennen, dass ein Mitarbeiter einer
Drogenberatungsstelle am Drogenkonsum der Klienten
zunächst nichts ändert. Er muss vielmehr über den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses versuchen, sie zum
Ausstieg zu motivieren. Um Vertrauen aufzubauen, muss
er seine Klienten zunächst annehmen und durch die Bereitstellung sauberer Spritzen etc. dafür sorgen, dass sich
Infektionskrankheiten nicht weiter verbreiten.
Wir sind der Überzeugung, dass für den Gesetzgeber
noch kein Anlass besteht, tätig zu werden, wenn in einem so langen Zeitraum, in dem vor Ort für die Drogenprävention gearbeitet wird, nur ein entsprechender Fall
auftritt. Daneben wurde dieser eine Fall ja auch zugunsten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entschieden.
Ich rufe nun die Frage 21 der Kollegin Pau auf:
Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung - bitte
für die letzten vier Jahre aufschlüsseln - die jährlichen Kosten
lebensmittelbedingter Krankheiten für das bundesdeutsche
Gesundheitswesen?
Frau Kollegin Pau, in einer vom Bundesministerium
für Gesundheit geförderten Studie über ernährungsabhängige Krankheiten und ihre Kosten aus dem Jahr 1993
werden die Kosten für ernährungsabhängige Krankheiten für das Jahr 1990 mit 83,5 Milliarden DM, also mit
gut 40 Milliarden Euro, beziffert. Dies ist nahezu ein
Drittel aller Kosten im Gesundheitswesen. Die höchsten
Gesamtkosten unter den ernährungsabhängigen Krankheiten entfallen mit rund 33 Milliarden DM auf die
Gruppe der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mit rund
20 Milliarden DM folgt Zahnkaries.
Diese Ergebnisse sind in Band 27 der Schriftenreihe
des Bundesministeriums für Gesundheit ausführlich
nachzulesen. Neuere und valide Studien sind uns nicht
bekannt.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich gebe zu, dass ich über die
zurückliegende Untersuchung jetzt etwas überrascht bin,
da sich die Frau Ministerin erst im Oktober zu den Kosten geäußert hat. Dabei wurde zumindest der Anschein
erweckt, als seien das neuere Zahlen; auch sie bezog sich
auf ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten.
Ich frage trotzdem nach: Wurde beispielsweise bei
der Vorbereitung des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes über prophylaktische Maßnahmen zur Zurückdrängung dieser Kosten nachgedacht und welche
konkreten Maßnahmen sind in das Gesetzeswerk eingeflossen?
Frau Kollegin Pau, an der grundlegenden Problematik
in Deutschland, dass wir uns falsch ernähren, zu wenig
bewegen und zu viel rauchen, hat sich seit Anfang der
90er-Jahre leider nichts geändert. Im Gegenteil: Die Problematik hat sich eher verschärft.
Wenn wir uns heute den Anteil der Kinder und Jugendlichen ansehen, die schon sehr früh übergewichtig
sind, wissen wir, dass dort zukünftig Krankheitskosten
entstehen werden, wenn wir nicht gegensteuern. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass es bei denjenigen, die früh
Übergewicht haben, im Alter zu einem höheren Anteil
an Diabetikern kommt als bei Menschen ohne Übergewicht. So sind die Zusammenhänge. Deswegen würde es
wenig Sinn machen, eine neue Studie zu finanzieren.
Wir müssen die Prävention verbessern und verstärken. Bei den Beratungen des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes gab es parteiübergreifend einen Konsens, dass wir die Aufgabe haben - das ist auch ein
Anliegen der Gesundheits- und Sozialministerin -, ein
eigenständiges Präventionsgesetz vorzulegen. Dies ist
im Eckpunktepapier zum GMG nachzulesen. In diesem
eigenständigen Präventionsgesetz sollen gerade auch
diese genannten Dinge aufgegriffen werden. Dazu benötigen wir öffentliche Kampagnen, Veränderungen bei der
Ernährung in der Schule und die Bereitschaft der gesetzlichen Krankenkassen, neben Investitionen in rein kurativer Medizin auch der Prävention ein stärkeres Gewicht
beizumessen.
Wir werden dieses Präventionsgesetz in einem geordneten parlamentarischen Verfahren präsentieren. Im Parlament wird dann ausreichend Gelegenheit sein, darüber
zu diskutieren.
Zusatzfrage.
Ist bei dieser Prävention auch daran gedacht, die Verursacher von lebensmittelbedingten Krankheiten - Ursache dafür sind nicht nur Bewegungsmangel und die von
Ihnen sonst noch aufgezählten Umstände, sondern
manchmal auch die oft ungesunde Zusammensetzung
von Nahrungsmitteln - zur Kasse zu bitten bzw. durch
Auflagen mehr an der Prophylaxe zu beteiligen?
Ihre Frage geht in die Richtung, wie man das Verursacherprinzip adäquat durchsetzen kann.
Deutschland hat eine andere Rechtstradition als beispielsweise die USA, wo derzeit Klagen gegen FastFood-Ketten anhängig sind. Wir sind der Auffassung,
dass zunächst der Staat und die Gesellschaft die Aufgabe
haben, Prävention zu fördern. Insofern ist es zunächst an
uns, bei den gesetzlichen Krankenkassen darauf hinzuwirken, die Anstrengungen zur Prävention zu verstärken.
Es muss klar werden, dass ein Teil der Krankheitskosten
durch das vernünftige Verhalten eines jeden Einzelnen
eingespart werden kann.
Es bringt wenig, sich zuerst unvernünftig zu verhalten
und hinterher die Verursacher zu verklagen, wenn durch
Krankheiten hohe Kosten entstanden sind. Wichtiger ist
mir, eine gesellschaftliche Veränderung zu erreichen.
Themen wie gesunde Ernährung, ausreichende Bewegung und der Verzicht auf Zigaretten müssen in Deutschland wieder auf die Tagesordnung.
Leider ist das nicht der Fall. Vielmehr treten bei Kindern immer häufiger Krankheiten aufgrund von Übergewicht und Bewegungsmangel auf. So leiden Kinder zum
Beispiel sehr früh unter Rückenbeschwerden. Auch das
Thema Karies ist unmittelbar auf falsche Ernährung zurückzuführen. Es ist wichtig, dass gesunde Ernährung
sowohl in Schulen als auch in Kindergärten ein Thema
ist. Deswegen unterstützen wir zum Beispiel die Kampagne „5 am Tag“, mit der für den Verzehr von Obst und
Gemüse geworben wird. Mit der Stiftung Prävention und
Gesundheitsförderung sowie mit „gesundheitsziele.de“
versuchen wir die Verantwortlichen an einen Tisch zu
holen und übergreifende Präventionskampagnen zu initiieren.
Nun rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann zur Verfügung. Die Frage 22
des Kollegen Austermann wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Hans Michelbach
auf:
Wie erklärt die Bundesregierung die Diskrepanz zwischen
der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Iris
Gleicke, auf meine Frage 51 in der Fragestunde am 24. September 2003, Plenarprotokoll 15/62, Seite 5281 C - betreffend
das Projekt Nr. 8.1 des Bundesverkehrswegeplans Deutsche
Einheit, die ICE-Trasse Nürnberg-Coburg-Erfurt -, dass die
Fertigstellung der Neubaustrecke bis 2015 abgeschlossen sein
werde, und den Äußerungen derselben Staatssekretärin gegenüber der „Neuen Presse“ Coburg, dort abgedruckt am
15. Oktober 2003, Seite 1, wonach nicht feststehe, ob der Abschnitt Ebensfeld-Nürnberg 2015 bereits ausgebaut sein
werde, und dass deswegen auf dem vorbenannten Teilstück in
einer Länge von 96 Kilometern nicht mit Geschwindigkeiten
bis zu 230 Kilometer pro Stunde, sondern nur bis zu etwa
160 Kilometer pro Stunde gefahren werden könne?
Herr Michelbach, es besteht keine Diskrepanz. Die
Antwort auf Ihre Frage 51 in der Fragestunde vom
24. September 2003 - ich zitiere Es besteht kein Baustopp für ICE-Strecken. Das
Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.1, also die Eisenbahnneubaustrecke Erfurt-Nürnberg wird, - wie geplant - bis 2015 fertig gestellt werden.
bezieht sich eindeutig auf den Neubaustreckenteil des
Verkehrsprojekts „Deutsche Einheit“ 8.1 zwischen Erfurt und Ebensfeld. Der Artikel aus der „Neuen Presse“
Coburg vom 15. Oktober 2003 bezieht sich dagegen auf
den Ausbauabschnitt des VDE 8.1, also den Abschnitt
Ebensfeld-Nürnberg.
Diese Aussage ist auch deshalb korrekt, weil die Bundesregierung mit der Deutschen Bahn AG eine Finanzierungsvereinbarung mit einer Laufzeit bis 2015 für die
Neubaustrecke abgeschlossen hat. Für die Ausbaustrecke des VDE 8.1, also den Abschnitt Ebensfeld-Nürnberg, die derzeit zweigleisig und elektrifiziert
ist und im Zuge der zunehmenden Verkehrsentwicklung,
bedingt durch die Fertigstellung der Neubaustrecken des
VDE 8.2 und VDE 8.1, sowie der Ausbaustrecke Berlin-Leipzig, um zwei weitere Gleise ausgebaut werden
soll, gibt es noch keine Finanzierungsvereinbarung und
keine endgültige Zeitplanung.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht einen großen Vertrauensverlust in der Region, wenn ein Projekt der deutschen Einheit erst 26 Jahre nach der deutschen Einheit
fertig gestellt werden soll und gleichzeitig der durchgehende Ausbau zur direkten Anbindung der Ballungszentren Berlin und München für die Region Oberfranken
wieder infrage gestellt wird? Wird damit nicht ein falsches Signal für mehr wirtschaftliche Dynamik in diesem Raum gesetzt?
Herr Kollege Michelbach, ich kann diese Einschätzung nicht teilen. Ich glaube, dass die Bevölkerung vor
Ort sehr interessiert zur Kenntnis genommen hat, dass
wir die VDE 8.1 und 8.2 fertig stellen wollen, obwohl es
- auch das sollte man erwähnen - hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit dieser Strecke Bedenken gibt. Wir haben
uns trotzdem entschieden, die Strecken der Verkehrsprojekte 8.1 und 8.2 trotz aller anderen Prioritäten, die
wir in unserem Land sehen, mit Hochdruck zu Ende zu
bauen. Das Ziel der Fertigstellung einer so langen Strecke bis 2015 - es geht um Ingenieursbauten, die es in
diesem Ausmaß teilweise noch gar nicht gegeben hat wird engagiert verfolgt.
Herr Michelbach.
Herr Staatssekretär, geben Sie mir darin Recht, dass
nur die Gesamtstrecke die Wirkung erzielt, die notwendig ist, um in Oberfranken eine Wirtschaftsdrehscheibe
zwischen Bayern und Thüringen zu schaffen? Wenn eine
regionale Wirkung erzielt werden soll, ist neben der Verbindung zwischen den beiden Bundesländern die direkte, schnelle Anbindung an die anderen Zentren notwendig. Das ist eine große Maßnahme; aber das ist die
Grundlage einer solchen Entscheidung. Diese Verbindung sollte möglichst schnell fertig gestellt werden.
Herr Kollege Michelbach, das ist das teuerste Schienenprojekt, das wir überhaupt in Deutschland realisieren. Ich betone, dass wir große finanzielle Anstrengungen zur Realisierung dieses Projekts unternommen
haben. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir in der Phase
vom Referentenentwurf bis zum Kabinettsentwurf des
Bundesverkehrswegeplans 700 Millionen Euro zusätzlich
für diesen Bereich vorgesehen haben, um zu dokumentieren, dass wir diese Strecke zeitnah zu Ende bauen
wollen. Aber ein so großes Objekt braucht seine Zeit.
({0})
Die Fragen 24 und 25 der Kollegin Laurischk werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 26 des Kollegen Haupt auf:
Weshalb sieht die Bundesregierung den Ausbau der niederschlesischen Magistrale, das heißt die Eisenbahnstrecke
Hoyerswerda-Horka-Grenze zu Polen, nur für eine Maximalgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde statt der
für den zukünftigen europäischen Güterverkehr angepeilten
160 Kilometer pro Stunde vor, und welche Mehrkosten sind
absehbar, wenn die auf 120 Kilometer pro Stunde ausgebaute
Strecke nachträglich, wie es angesichts der europäischen Bedeutung dieser wichtigen Ost-West-Magistrale zu erwarten
ist, auf 160 Kilometer pro Stunde aufgerüstet werden muss?
Herr Kollege Haupt, der Ausbau der Eisenbahnstrecke Hoyerswerda-Horka-Grenze Deutschland/Polen erfolgt als Vorrangstrecke des Güterverkehrs gemäß dem
„Europäischen Übereinkommen über wichtige Linien
des internationalen kombinierten Verkehrs und damit zusammenhängende Einrichtungen“ für eine Streckengeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde. Dieser
Ausbaustandard wurde in dem mit der Republik Polen
am 30. April 2003, also erst vor kurzer Zeit, in Görlitz
geschlossenen Abkommen vereinbart.
Bestrebungen der Europäischen Union, die Streckengeschwindigkeit für den Schienengüterverkehr auf
160 Kilometer pro Stunde zu erhöhen, sind der Bundesregierung nicht bekannt. Eine nachträgliche Anhebung
der Streckengeschwindigkeit auf 160 Kilometer pro
Stunde zwischen Hoyerswerda und der Grenze zwischen
Deutschland und Polen - das Stück ist circa 60 Kilometer lang - würde nach groben Schätzungen weitere Investitionen in Höhe von 50 Millionen Euro erfordern.
Zusatzfrage, Herr Kollege Haupt.
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, dass mit
dieser zweiten wichtigen Ost-West-Verbindung neben
der Verbindung Berlin-Warschau im Prinzip eine Verbindung zwischen den Nordseehäfen, dem Ruhrgebiet
und Mitteldeutschland auf der einen Seite und dem niederschlesischen Ballungsraum auf der anderen Seite geschaffen wird sowie eine Anbindung an die Ukraine erfolgt, müssen wir an Wettbewerbsfähigkeit denken. Als
europäischer Standard sind 160 Kilometer pro Stunde
angepeilt. Wie mir bekannt ist, soll auf der polnischen
Seite eine Streckengeschwindigkeit von 160 Kilometern
pro Stunde realisiert werden. Finden Sie vor diesem Hintergrund nicht, dass das Anpeilen von 120 km/h nicht
gerade zukunftssicher ist?
Herr Kollege Haupt, ich habe schon in meiner ersten
Antwort zum Ausdruck gebracht, dass der Bundesregierung von einem Willen der Europäischen Union, die Güterverkehrsstrecken für eine Geschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde auszubauen, nichts bekannt ist.
Ich habe das Abkommen zitiert. Der Originaltitel
heißt: Accord européen sur les grandes lignes internationales de chemin de fer. In diesem Abkommen ist der
Standard auf 120 Kilometer pro Stunde festgelegt. In
dem Vertrag, den ich eben zitiert habe, haben sich die
deutsche Seite und die polnische Seite auf
120 Kilometer pro Stunde verständigt. Auch die polnische Seite baut diese Strecke nicht auf den Standard von
160 Kilometern pro Stunde aus, sondern auf den europäischen Standard von 120 Stundenkilometern für Güterfernverkehrszüge.
Eine weitere Zusatzfrage? - Herr Kollege Nitzsche,
eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie erwähnten den Vertrag mit
der polnischen Seite. Die Strecke geht in das schlesische
Kohlfurt. Meines Erachtens liegt das Memorandum
schon zwei Jahre zurück. Für wann sehen Sie Realisierungschancen für dieses Projekt?
Darf ich zurückfragen, welches Memorandum Sie
meinen?
Es gab meines Wissens ein Memorandum, das die
Deutsche Bahn, die deutsche Bundesregierung und die
polnische Seite über diese Strecke abgeschlossen haben.
Das müsste etwa vor zwei Jahren passiert sein.
Das Abkommen ist am 30. April 2003 unterzeichnet
worden. Daraufhin haben sich die deutsche und die polnische Seite verständigt, den Streckenabschnitt für eine
Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern auszubauen.
Der Vereinbarung des Abkommens folgt die Realisierungsphase. Als Mitglied des Verkehrsausschusses ist
Ihnen bekannt, dass wir derzeit den Bundesverkehrswegeplan beraten. Das Abkommen wird in dem neuen Bundesverkehrswegeplan berücksichtigt. Wenn das Parlament keine Änderungen beschließt, wird damit die
Grundlage geschaffen, um weitere Schritte folgen zu lassen.
Weitere Zusatzfragen liegen mir nicht vor. Wir sind
damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der Aktuellen Stunde um 15.30 Uhr.
({0})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu Berichten
über Äußerungen des Bundesumweltministeriums, die Vernichtung von Arbeitsplätzen
durch das Dosenzwangspfand sei politisch gewollt
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hatte versprochen, die Zahl der Arbeitslosen unter 3,5 Millionen zu senken. Heute liegt sie bei
4,5 Millionen. Der Sachverständigenrat hat mitgeteilt,
dass das auch im nächsten Jahr nicht anders sein werde
bzw. dass sogar eine leichte Zunahme wahrscheinlicher
sei. Dabei haben Sie bereits durch Manipulationen an
der Statistik 1 Million Menschen herausgerechnet, die
eigentlich arbeitslos sind.
Vor diesem Hintergrund ist für uns der Sachverhalt
von besonderer Bedeutung - den kann ich eigentlich
nicht mehr verstehen -,
({0})
dass im Zusammenhang mit der Einführung des Dosenpfandes ein Staatssekretär der Bundesregierung erklärt,
die Vernichtung von circa 10 000 Arbeitsplätzen werde
nicht nur hingenommen, sondern sei politisch sogar gewollt.
({1})
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
Es folgte, Herr Minister, postwendend ein Dementi Ihres
Hauses. Aber auf dieses ist ebenso viel zu geben wie auf
viele andere Dementis; denn wir haben die Bestätigung
von Betriebsratsvorsitzenden bzw. Betriebsräten vorliegen, dass diese Äußerung so und nicht anders gefallen
ist. Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Vor
dem Hintergrund, dass wir es mit 4,5 Millionen Einzelschicksalen zu tun haben - jedes stellt einen schwierigen
Fall dar -, ist ein beamteter Staatssekretär, der aus gesicherter Position heraus solche zynischen Bemerkungen
macht, nicht mehr zu halten.
({3})
Sie sollten sich von diesen Äußerungen distanzieren und
nicht noch versuchen, das zu entschuldigen. Das ist
schlicht und ergreifend ein Skandal.
Ich sage Ihnen ganz offen: Früher saßen auf der linken Seite des Hauses noch Abgeordnete, die die Arbeitsplätze der Arbeitnehmer verteidigt haben.
({4})
Davon haben Sie sich längst verabschiedet. Aber ich
wäre schon dankbar, wenn die Bundesregierung mitteilte
- das haben wir die Bundesregierung und insbesondere
Sie, Herr Trittin, gefragt -, ob sie das Schreiben der Betriebsratsvorsitzenden und der Betriebsräte an Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement beantwortet hat, in
dem sie um Aufklärung in der Frage bitten, ob diese Äußerung die Meinung eines einzelnen Irrenden oder die
der Bundesregierung sei. Nach meinen Informationen ist
dieses Schreiben bis heute nicht beantwortet. Es ist auch
ein Skandal, wie Sie mit gewählten Vertretern der Arbeitnehmer umgehen.
({5})
Ich sage Ihnen das, meine Damen und Herren von der
SPD, weil jeder von Ihnen im Regelfall ein Gewerkschaftsbuch in der Tasche hat. Aber haben Sie das bitte
nicht nur zum Vorzeigen, sondern auch, um die Interessen der Arbeitnehmer in der Sache überzeugend zu vertreten! Sie sollten das, was hier geschehen ist, nicht einfach hinnehmen.
({6})
Ich kann mir schon vorstellen, wie das laufen wird.
Sie werden sagen: Das Ausmaß der Arbeitsplatzvernichtung ist nicht so schlimm. Wir haben ein Gutachten, das
bestätigt, dass alles gut ist.
({7})
Uns liegt eine vernünftige Studie der Firma Prognos
vor. Als Sie den Zwischenbericht der Firma Prognos mit
dieser Studie gesehen haben, ist Ihnen auf einmal klar
geworden, welche politische Brisanz das hat. In Panik
haben Sie sofort ein Gutachten bei einer anderen Institution bestellt, die heute selbst zugegeben hat, dass ihre Erhebung nicht repräsentativ sein kann.
({8})
Lassen Sie doch diese Mätzchen! Kommen Sie zur Sache selbst!
({9})
Lösen Sie die Probleme! Verschleudern Sie nicht Steuergelder, die man anderswo besser und sinnvoller einsetzen kann! So geht es mit Sicherheit nicht.
Ich will Ihnen auch sagen, was mich besonders berührt. Wenn dieses Dosenpfand eine besondere Bedeutung für die Arbeitsplatzschaffung hätte, dann könnte
man es hinnehmen. Aber es hat weder eine Bedeutung
für die Schaffung von Arbeitsplätzen, noch hat es - auch
das ist heute herausgekommen - eine ökologische Bedeutung. Es soll ja eine Umweltbelastung vermieden
werden. Für eine CO2-Reduktion um 0,04 Prozent würden circa 1 Million Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
Deutschland vernichtet. Das heißt, sowohl in Sachen Arbeitsplätze als auch in Sachen Umweltschutz ist Ihre
Vorgehensweise desaströs.
Ich will eigentlich gar nicht darauf hinweisen, dass
Sie von der EU korrigiert werden, auch wenn Sie hier so
tun, als sei das alles mit Gelassenheit ertragbar. Das hat
mit Gelassenheit nichts zu tun. Der Punkt ist, das in der
Bundesrepublik niemand mehr dieses Hin und Her, dieses Hickhack versteht. Auch in der Europäischen Union
werden Fragen aufgeworfen.
Ich sage Ihnen, Herr Trittin: Tun Sie etwas Vernünftiges! Setzen Sie das Dosenpfand aus! Kommen Sie mit
uns zu einer überzeugenden, vernünftigen Novelle der
Verpackungsverordnung insgesamt! Das ist eine Lösung,
die wir akzeptieren können.
({10})
Außerdem bin ich dafür, dass Sie Ihren Staatssekretär
nicht nur öffentlich rügen, sondern ihn auch bitten, sich
bei den Arbeitnehmern zu entschuldigen.
({11})
Mit einer Entschuldigung würde er einen Rest von Anstand zeigen.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Mehl, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lippold, an einer Stelle gebe ich Ihnen Recht:
({0})
- Nein, an einer Stelle! - Wenn es um das Pflichtpfand
geht, denkt man manchmal, dass man in einem Tollhaus
ist; das Wort haben Sie eben, glaube ich, verwendet.
Man müsste eigentlich ein Buch darüber schreiben.
({1})
Vielleicht erbarmt sich mal jemand. Ein solches Buch
würde sich bestimmt genauso spannend lesen wie ein
Henning Mankell. Das Ganze wird langsam nämlich zur
Räuberpistole.
Seit drei Jahren zieht der Handel gegen das Pflichtpfand zu Felde, bringt immer neue Argumente, versucht,
alle Register zu ziehen, und geht überall baden. Jetzt
hofft er darauf, dass der Weg zum Erfolg für ihn über die
EU führen wird. Ich sage Ihnen: Das wird nicht der Fall
sein.
({2})
Die Welt ist hierbei nach meiner Auffassung schon
deshalb auf den Kopf gestellt, weil es um eine Regelung
geht, die Sie selbst erfunden haben.
({3})
Im Übrigen war der Handel an dieser Regelung beteiligt.
Für den Handel ist das also nicht neu. Sie sagen nun, es
mache ökologisch keinen Sinn.
({4})
- Moment! Darauf komme ich noch zu sprechen. - Sie
haben damals das Prinzip erfunden, und zwar mit der
Begründung: Wir wollen - mit heutigen Worten - ökologisch sinnvolle oder verträgliche Verpackungen. Wir
wollen den ökologisch sinnvollen Verpackungen den
Vorzug geben. - Das war auch der Sinn der Produktverantwortung. Das muss doch auch bei Ihnen dahinter gesteckt haben. Anders ist es mir nicht erklärlich. Oder warum haben Sie es damals erfunden?
({5})
Folgendes ist mir aber noch weniger erklärlich: Sie
haben sich von diesem Prinzip anscheinend völlig verabschiedet. Jedenfalls habe ich nichts anderes wahrgenommen; vielleicht hören wir heute dazu noch etwas Substanzielles. Ich habe bei den bisherigen Diskussionen
nicht gehört, dass Sie irgendeine Regelung für ökologisch sinnvolle Verpackungen wollen.
({6})
Es geht nur noch darum, dass möglichst lange ausgesetzt
wird. Welche Regelung Sie wollen, ist nicht klar. Sie
stellen streitig, was eine ökologisch sinnvolle Verpackung ist, behaupten, dass die Bewertungen des Umweltbundesamtes nicht in Ordnung sind, was der Handel
ja auch schon einmal zu beweisen versucht hat. Das alles
ist Unsinn.
Der Handel hat uns schon vor drei Jahren gesagt, dass
er gern eine Aussetzung der Verpackungsverordnung
möchte. Von daher kenne ich den Vorschlag schon länger. Dass die derzeitige Verpackungsverordnung nicht
die optimale ist, wissen auch wir.
({7})
Wir versuchen, Ihre Erfindung
({8})
- ja, ja, ja - halbwegs vollziehbar zu machen. Wir haben
einen neuen Vorschlag auf den Tisch gelegt. Über den
wird nur gar nicht geredet.
({9})
Er wird boykottiert. Man versucht, ihn abzuwürgen, notfalls im Bundesrat, oder das Ganze auszusitzen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass der Bundesrat versucht, das auszusitzen.
Der Handel weiß spätestens seit 1998, dass das
Pflichtpfand eingeführt wird, da die Mehrwegquote zuvor gesunken war, und zwar kontinuierlich. Im Jahr
2000 lag die Quote schon bei 65 Prozent, also deutlich
unter der Vorgabe, und 2002 bei 50 Prozent. Jeder weiß,
dass die Mehrwegsysteme bei solchen Quoten auf Dauer
nicht überleben können und am Ende irgendwann verschwinden. Wenn man das will, dann muss man eine entsprechende Politik betreiben; aber wir versuchen, zunächst einmal Recht zu vollziehen.
Mein Eindruck ist allmählich: Hier geht es überhaupt
nicht mehr darum, ob etwas ökologisch sinnvoll ist oder
nicht,
({10})
sondern darum, wer die Macht in den Händen hält. Der
Handel glaubt, er halte sie in den Händen. Das ist ein Irrtum. Sie freuen sich zu früh, wenn Sie auf die EU hoffen.
({11})
Im Übrigen hatte der Handel die Möglichkeit, eine
Regelung zu finden. Es lag in seinen Händen; aber er hat
nichts gemacht. In anderen Ländern wurde dies lautlos
vollzogen und es funktioniert dort seit Jahren. Der Handel hat dieses Instrument bis zum letzten Tag boykottiert. So kann es nicht funktionieren.
({12})
Am Anfang der Diskussion hat zum Beispiel der BDI
vorgeschlagen, eine Abgabe einzuführen, weil dies ein
viel besseres Instrument sei. Als man anfing, darüber
nachzudenken, hat der BDI plötzlich die Kurve gekratzt
und gesagt, das sei es dann doch nicht. Es wurde ständig
versucht - egal was vorgeschlagen wurde - anzugreifen.
Machen Sie doch einmal Vorschläge - außer den Vorschlag, die Verpackungsverordnung auszusetzen; er ist
schon etwas älter - und sagen Sie, was Sie sich vorstellen! Sie hätten in den zwei oder drei Jahren, in denen
diese Diskussion läuft, schon längst Vorschläge machen
können; aber es kommt nichts.
({13})
Es wird nur dagegengehalten. Sie wissen ganz genau:
Wenn es zu einer Aussetzung käme, dann wäre das
Thema „ökologisch vorteilhafte Verpackungen“ erledigt.
Das wollen wir nicht. Deswegen fordern wir Sie auf, Ihren Beitrag dazu zu leisten, dass die neue Verpackungsverordnung im Bundesrat beschlossen wird. Wenn Sie
das tun, dann hätten Sie endlich einmal etwas Konstruktives getan.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich das hier so anhört, kann man nur sagen:
Das Zwangspfand gerät immer mehr zur peinlichen
Posse.
({0})
Deutschland wird dank dieser stümperhaft arbeitenden
rot-grünen Bundesregierung zur europäischen Lachnummer: Ganz Europa schüttelt den Kopf darüber, dass wir
es nicht schaffen, ein Mautsystem einzuführen; seit gestern schüttelt ganz Europa auch noch den Kopf über das
Chaos mit dem Zwangspfand in Deutschland.
({1})
Ich kann nur feststellen: Die EU-Kommission hat völlig zu Recht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland eingeleitet. Dieses Vertragsverletzungsverfahren richtet sich vor allen Dingen gegen die jetzige
Umsetzung des Zwangspfands - nicht gegen die eigentliche Regelung -, und zwar weil wir kein flächendeckendes Rücknahmesystem aufweisen können. Herr Müller,
lesen Sie doch einmal den ganzen Briefwechsel dazu!
({2})
Dieses Verfahren kann Deutschland teuer zu stehen
kommen. Am Ende kann ein von der EU erhobenes
Zwangsgeld stehen. Am Ende könnten auch Schadensersatzforderungen der jenigen Betriebe ins Haus stehen,
die schon jetzt in Rücknahmeautomaten investiert haben
und womöglich irgendwann erfahren, dass diese Investition unsinnig war.
({3})
Ich kann es absolut nicht mehr akzeptieren, dass ein
ausgewachsener Bundesminister alle Warnungen in den
Wind schlägt, ignoriert und auch finanzielle Folgen für
die Bundesrepublik Deutschland in Kauf nimmt, nur
weil er stur ist und seinen Kopf durchsetzen will. Das
geht nicht.
({4})
Ebenso haben Sie alle Warnungen, was Arbeitsplätze
angeht, in den Wind geschlagen. Allein in diesem Jahr
- so schätzt das Prognos-Gutachten - gehen 2 700 Arbeitsplätze verloren. Bis 2004 werden im Vergleich zu
2002 demzufolge 9 700 Arbeitsplätze vernichtet. Das
zeigt: Das Zwangspfand ist ein Jobkiller.
({5})
Die heutige Ausschusssitzung hat deutlich gemacht,
dass das Prognos-Gutachten seriös erarbeitet worden ist
und dass das, worauf sich der Herr Minister beruft - es
ist keine Studie, die die Arbeitsplätze betrifft, sondern
eine Presserecherche, die er in Auftrag gegeben hat -, so
nicht stimmt. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten.
Hinzu kommt, dass Sie immer wieder davon reden,
dass laut einer gemeinsamen Studie von DUH und FFU
14 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine solche gemeinsame Studie gibt es nicht, Herr Minister. Deswegen
kann man nur sagen: Hören Sie endlich auf, die Tatsachen zu verdrehen, und kümmern Sie sich stattdessen
darum, was in diesem Bereich wirklich abgeht!
({6})
Nun sind wir bei dem Fall, der zu dieser Aktuellen
Stunde geführt hat: Die Befürchtungen von Tausenden
von Familien sind Ihnen offensichtlich völlig egal. Eine
solche Arroganz kann man doch nicht unwidersprochen
hinnehmen.
({7})
Bei den Betriebsräten, die sich jetzt vor den Kopf gestoßen fühlen, nachdem man ihnen gesagt hat, man nehme
in Kauf, dass Arbeitsplätze bei den Herstellern von Einwegverpackungen verloren gehen, handelt es sich doch
um ehrliche, unbescholtene Bürger,
({8})
die sich als Arbeitnehmervertreter für ihren Betrieb engagieren, weil sie Angst um ihre Arbeitsplätze haben.
Ich gehe davon aus, dass diese bei dem Gespräch sehr
genau zugehört haben, was man ihnen gesagt hat.
({9})
Nun kann es sein, dass man so etwas vielleicht nur gedacht hat, aber nicht sagen wollte. Ich kann mir sehr gut
vorstellen, dass der Herr Staatssekretär Baake das, was
er da gesagt hat, nicht sagen wollte und es ihm nur herausgerutscht ist. Wissen Sie, warum ich das glaube?
Weil es Ihrer Denke entspricht.
({10})
Sie sagen doch die ganze Zeit, Mehrweg sei besser als
Einweg. So steht in der von Ihnen herausgegebenen
Pressemitteilung, Herr Trittin:
Vielmehr wurde im Gespräch mit Betriebsräten darauf hingewiesen, dass das von allen politischen Parteien gemeinsam getragene Ziel der Verpackungsverordnung die Stärkung von Mehrweg gegenüber
Einweg sei.
({11})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ziel.
({12})
Das war das Ziel von Anno Tobak, von vor 13 Jahren.
Unser Ziel ist es, auch neue Erkenntnisse umzusetzen.
Wir wissen heute, dass die Trennlinie nicht mehr zwischen Einweg und Mehrweg verläuft, sondern zwischen
ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll. Das
ist die aktuelle Trennlinie, Herr Trittin.
({13})
Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wenn der Wahrheitsgehalt der ganzen von mir zitierten Pressemitteilung, die
Sie verteilt haben, so viel wert ist wie Ihr Versuch, uns
darin ausschließlich pro Mehrweg zu vereinnahmen
- wir sind vielmehr für ökologisch vorteilhafte Verpackungen -, dann steht für mich fest, wer an dieser Stelle
Recht hat, und zwar die Arbeitnehmervertreter, die meines Erachtens zu Recht eine Entschuldigung
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
- ja - für eine Äußerung erwarten, die so nicht stehen
bleiben darf.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man kann sich nur wundern, wie viel Einsatz
und Mühe in den vergangenen Wochen und Monaten
von Teilen des Handels und der beteiligten Wirtschaftskreise aufgebracht worden ist, um gegen das Pfand vorzugehen. Es hätte bereits ein Bruchteil dessen gereicht,
um rechtzeitig ein einheitliches, verbraucherfreundliches
und EU-konformes Rücknahmesystem aufzubauen.
({0})
Dann bräuchten wir uns nicht wieder und wieder mit der
Dose zu beschäftigen und könnten uns anderen anstehenden Problemen zuwenden.
({1})
Fest steht in der Tat: Das Pfand an sich ist mit dem
Europarecht konform. Die EU-Kommission hat in ihrer
Pressemitteilung eindeutig festgestellt - ich zitiere -:
Die Kommission stellt Pfand- und Rücknahmesysteme nicht grundsätzlich infrage, welche vorteilhaft
für umweltschützende Ziele sind.
Es wird kritisiert, dass es kein „einwandfrei funktionierendes landesweites Rücknahmesystem“ gebe. Dies liegt
aber nicht, wie immer wieder behauptet wird, in der Verantwortung der Bundesregierung, sondern ganz klar in
der Verantwortung der beteiligten Wirtschaftskreise.
({2})
Der in den letzten Tagen oft gehörte Spruch: „Die
können es nicht!“ trifft nicht die Regierung, sondern die
beteiligte Wirtschaft.
({3})
Diese hatte den Aufbau eines ebensolchen Rücknahmesystems gegenüber dem Bundesumweltminister fest zugesagt.
({4})
Dieser war ihr im Gegenzug mit dem bis zum 1. Oktober
dieses Jahres eingeschränkten Vollzug der Verordnung
entgegengekommen.
Die beteiligten Wirtschaftskreise haben ihre Zusage
im Übrigen auch ohne Rücksicht auf den Verbraucher
gebrochen. Ihr Kalkül war, mit ihrer Verweigerungshaltung auf europäischer Ebene endlich zu erreichen, was
bislang auf rechtlichem Wege in Deutschland nicht gelungen ist, nämlich das Einwegpfand doch noch zu verhindern.
In diesem Zusammenhang ist ein Punkt, der gerade
von FDP und Union immer wieder gefordert wird, von
ganz zentraler Bedeutung: der Ruf nach so wenig Staat
wie möglich und die damit verbundene Forderung, der
Staat solle sich zurückziehen und die Erfüllung von Aufgaben der Wirtschaft überlassen. Genau dieses hat die
Bundesregierung getan. Aber Teile des Handels sind offensichtlich nicht gewillt ist bzw. nicht in der Lage, ihre
Zusagen einzuhalten. Dies muss und wird Konsequenzen für künftige Vereinbarungen zwischen Wirtschaft
und Regierung haben.
Auch der Umgang mit dem Thema Liberalisierung
wird vor diesem Hintergrund zu diskutieren sein. Ich
frage mich, wohin wir künftig kommen, wenn aus ureigenen Interessen und aus Bequemlichkeit das gültige
Recht ausgehebelt wird. Was ist das für ein Rechtsverständnis?
({5})
Was passiert, wenn dieses Beispiel in anderen Bereichen
Schule macht? Sind sich die beteiligten Wirtschaftszweige nicht im Klaren darüber, dass genau sie dem Ansehen Deutschlands Schaden zufügen?
Lieber Herr Kollege Paziorek, in Ihrer heutigen Pressemitteilung lese ich, Deutschland drohe sich beim Dosenpfand zum Gespött zu machen.
({6})
Da stellt sich doch die Frage, wer sich hier zum Gespött
macht, wer der Verursacher ist. Die Antwort ist: nicht die
Bundesregierung,
({7})
sondern Teile der Wirtschaft.
Was bedeutet dies für diejenigen, die sich an das gültige Recht der Töpfer-Verordnung gehalten haben und
dies bis heute tun? Was bedeutet das für diejenigen, die
bereits in Rücknahmesysteme investiert haben
({8})
und einen reibungslosen Ablauf für den Verbraucher gewährleisten? Sind sie jetzt die Dummen?
Zum Thema Prognos-Gutachten. Die Zahlen des
Statistischen Bundesamtes sind nach Aussagen von
Günther Guder vom Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels zur Ableitung der Beschäftigungsentwicklung in der Getränkeindustrie nicht verwendbar, da Beschäftigungsveränderungen bei den
Getränkefachgroßhändlern mit einem Umsatz von weniger als 1 Million Euro vom Statistischen Bundesamt
nicht erfasst werden. Ein Drittel der Betriebe wird damit nicht erfasst. Auch von den Brauereien werden nur
diejenigen erfasst, die mindestens 20 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte ausweisen; bei allen anderen Betrieben werden statistisch nur die erfasst, die
mindestens zehn sozialversicherungspflichtige Beschäftigte ausweisen. Durch diese Art der Datenerhebung
und die Nichtberücksichtigung von Daten im PrognosGutachten werden die Betriebe, die am meisten vom
Pflichtpfand profitieren, nicht berücksichtigt. - So sieht
es aus.
({9})
Mir drängt sich zudem der Verdacht auf, dass es ganz
offensichtlich eine starke Lobby gibt, die die Einnahmeausfälle des DSD durch den Wegfall von Getränkedosen, Glas- und PET-Verpackungen - alle aus wertvollen
und lukrativen Rohstoffen hergestellt - und das bisherige Entsorgungssystem mit dem gelben Sack im Blick
hat und alles daran setzt, diesen Status quo zu erhalten Rechtslage hin oder her.
({10})
Es kann doch nicht sein, dass sich am Ende die Lobbyisten wirklich durchsetzen, die sich am lautesten zu Wort
melden!
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
die heutige Diskussion macht es wieder deutlich: Sie
wollen eben keine Stärkung von Mehrweg, ganz im Gegensatz zu Ihrem früheren Umweltminister Töpfer.
({12})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme gleich zum Ende.
Bitte kommen Sie jetzt zum Ende.
Für Sie spielen Ökologie und Mittelstand eine nachgeordnete Rolle. Sie handeln anders, als Sie sprechen.
Ein von Ihnen gefordertes Aussetzen der Pfandpflicht
wäre nicht nur unsinnig, sondern zugleich auch teuer.
Tausende von Unternehmen würden wohl mit Schadenersatzklagen Erfolg haben.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Das Pfand ist und bleibt ein sinnvolles Instrument, um
ökologisch vorteilhafte Verpackungen zu fördern, ein Instrument, das nach einer jüngsten Forsa-Umfrage nach
wie vor von einem großen Teil der Bevölkerung, nämlich von 75 Prozent, befürwortet wird.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Wittlich,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Weniger als ein Jahr nach der Einführung des
so genannten Dosenpfandes steht heute ein ganzer Industriezweig auf der Kippe. Viele Brauereien und Dosenhersteller haben riesige Umsatzeinbrüche erlebt.
Mehrere Tausend Mitarbeiter sind in Kurzarbeit, über
1 000 ist bereits gekündigt worden.
Die Betroffenen haben am 24. September dieses Jahres hier in Berlin demonstriert. Ich habe mich - im Gegensatz zu unserem Bundesumweltminister - an diesem
Tag unter die Demonstranten gemischt. Über 3 000 Betroffene sind an diesem Tag in Berlin auf die Straße gegangen. Fast alle diese Menschen waren entweder in
Kurzarbeit oder ihnen war schon gekündigt. Ich habe
T-Shirts gesehen mit Aufdrucken wie „dank Dosenpfand
zum Arbeitsamt“ oder „bereits gekündigt“.
Die Organisatoren hatten 16 000 Unterschriften gesammelt. Die Stimmung war sehr gedrückt und vielen
Teilnehmern standen Fassungslosigkeit und Zukunftsangst ins Gesicht geschrieben. Diese Menschen sind bestimmt keine radikalen Umweltgegner, ganz im Gegenteil: Sie kennen ihre Produkte und die ideologischen
Grabenkämpfe, die um diese Produkte geführt werden.
Sie kennen die Recyclingquoten ihrer Verpackungen aus
jahrelanger Erfahrung und müssen deshalb keine teuren
Studien dafür in Auftrag geben. Sie haben in jahrelanger
Arbeit die Materialstärken ihrer Verpackungen reduziert
und Millionen in den Umweltschutz investiert.
Und diesen Menschen sagen Sie, dass der Verlust von
Arbeitsplätzen durch das Pfand gewollt ist? - Wir sind
von Herrn Trittin ja inzwischen einiges gewohnt. Aber
dass ein Staatssekretär - und damit natürlich auch sein
Minister - öffentlich verkündet, dass die Vernichtung eines gesamten Industriezweiges politisch gewollt ist, das
schlägt dem Fass den Boden aus.
({0})
Am folgenden Tag hat das BMU die Meldung des
„Tagesspiegel“ heftig dementiert. In diesem Dementi
fand sich unter anderem folgender Satz:
Um dem drohenden Abbau von Arbeitsplätzen in
der Einwegindustrie entgegenzuwirken, sei die
Stärkung der bestehenden Rücknahmesysteme …
das beste Mittel.
Diese Äußerung zeigt immerhin, dass das lang verleugnete Prognos-Gutachten inzwischen selbst im BMU Beachtung gefunden hat. Man höre und staune!
({1})
- Ich denke, dass Sie es überhaupt nicht gelesen haben,
Herr Kollege.
({2})
Was ich an dem Dementi aber viel schlimmer finde:
Unabhängig voneinander hat nicht nur einer, sondern haben sieben mündige Betriebsräte bestätigt, was gesagt
wurde. Diese Betriebsräte sind unbescholtene und politisch unabhängige Staatsbürger. Sie werden durch das
Dementi des BMU der Lüge bezichtigt. Hieran wird
deutlich, mit welcher Kälte und Arroganz der Bundesumweltminister mit Menschen umgeht, die um ihren
Arbeitsplatz bangen.
({3})
Das BMU wurde also ganz klar der Lüge überführt.
Meine Damen und Herren, ich appelliere heute nochmals mit allem Nachdruck an unseren Bundesumweltminister Trittin, endlich seine ideologischen Scheuklappen abzulegen und nicht mit dem Kopf durch die Wand
zu gehen. So geht es einfach nicht weiter. Wir haben
Ihnen, Herr Trittin, bereits mehrfach angeboten, gemeinsam nach einer vernünftigen Lösung zu suchen.
({4})
Sie können sich doch nicht immer nur auf das berufen,
was 1991 oder noch früher in Gang gesetzt worden ist.
Alles zu seiner Zeit! Das war damals natürlich richtig.
({5})
Wir standen damals vor dem Problem, dass die Kommunen riesige Müllberge hatten, dass man nicht wusste,
welche Deponien noch Müll aufnehmen konnten. Wir
drohten ja im Müll zu ersticken.
Heute gibt es Recyclingverfahren, es gibt die Sammlung des Dualen Systems Deutschland, es gibt die Wiederverwertung. Das Problem, dessentwegen wir damals
die Verpackungsverordnung entwickeln mussten, ist
heute weitgehend gelöst.
Wir müssen uns dem widmen, was der Bürger eigentlich verlangen kann: einer umweltfreundlichen, umweltverträglichen und bürgernahen Entsorgung und damit
auch dem Erhalt der Arbeitsplätze in allen Bereichen.
Wir, die CDU/CSU, werden eine verbraucherfreundliche Alternative zum Zwangspfand erarbeiten. Wir werden dabei die ökologische Lenkungswirkung mit der
Praktikabilität für den Bürger kombinieren.
Die „Leipziger Volkszeitung“ titelte am 21. Oktober
2003:
Neben der Groteske um die LKW-Maut ist der Tanz
ums heilige Blechle das zweite rot-grüne Prestigeobjekt, das Deutschland in Brüssel vor dem gesamten
organisierten Europa blamiert. Für beide Umweltschutzvorhaben gilt das alte Handwerkerprinzip:
Gut gemeint ist leider oft das Gegenteil von gut gemacht.
Meine Damen und Herren, dem kann ich nichts hinzufügen.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Gerd Bollmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch die Pfandpflicht ist politisch auf gar keinen Fall gewollt.
({0})
Eine gegenteilige Äußerung des Staatssekretärs Baake
hat es auf der Veranstaltung am 26. September dieses
Jahres hier in Berlin nicht gegeben.
({1})
Ich selber habe an dieser Veranstaltung teilgenommen.
({2})
So wie Frau Homburger und Frau Gönner habe ich diese
Rede gehört. Herr Baake hat keinesfalls gesagt, die Vernichtung von Arbeitsplätzen sei gewollt.
({3})
Die Behauptung, er habe gesagt, die Vernichtung von
Arbeitsplätzen sei politisch gewollt, ist eine Falschaussage. Staatssekretär Baake wies darauf hin, dass eine
Stärkung des Mehrwegsektors zwangsläufig zu einem
Rückgang bei den Einweggetränkeverpackungen führen
wird. Ich frage Sie: War dies von Herrn Töpfer und Frau
Merkel nicht gewollt? Natürlich soll durch die Stärkung
des Mehrwegsektors der Einwegbereich zurückgedrängt
werden. Das ist doch eine Konsequenz daraus.
Eine Klarstellung durch das Ministerium ist bereits
erfolgt. Eine Debatte darüber ist heute im Grunde genommen unnötig.
({4})
Hintergrund dieser Vorwürfe sind Arbeitsplatzverluste
und Kurzarbeit bei den Herstellern von Einweggetränkeverpackungen. Uns ist bewusst, dass Kurzarbeit und drohender Arbeitsplatzverlust für jeden Betroffenen schlimme persönliche Folgen haben. Wir wissen, es nützt den
betroffenen Arbeitnehmern nichts, dass in anderen Bereichen, in den mittleren Brauereien oder im Getränkegroßhandel, neue Arbeitsplätze entstanden sind. Genauso wenig hilft den Betroffenen der Hinweis - auch
das ist völlig klar -, dass in den vergangenen Jahren in
der Mehrwegbranche aufgrund des Booms der Getränkedose zahlreiche Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
Auch das ist unbestritten.
Wir bedauern die drohenden Arbeitsplatzverluste bei
den Getränkedosenherstellern ganz ausdrücklich. Die
Proteste richten sich jedoch eindeutig an die falsche
Adresse. Schuld an der derzeitigen Situation ist nicht das
Bundesumweltministerium und erst recht nicht das Dosenpfand als solches.
({5})
Schuld sind die Teile des Handels und der Wirtschaft,
welche bewusst Zusagen und Absprachen gebrochen
und sich geweigert haben, ein einheitliches Rücknahmesystem aufzubauen.
({6})
Teile des Handels und der Wirtschaft weigern sich seit
Jahren, den Willen der politischen Mehrheit und der Bevölkerung anzuerkennen, weil sie jegliche Regelung
zum Schutz von Mehrwegsystemen ablehnen.
({7})
Die Folge davon ist das Fehlen eines einheitlichen
Rücknahmesystems. Daraus resultiert der massive Rückgang von Getränken in Einwegverpackungen. Hätte der
Handel - die Beispiele aus Dänemark und Schweden
zeigen dies - Maßnahmen zur Umsetzung des Pfandes
durchgeführt, würden wir jetzt nicht über mögliche Arbeitsplatzverluste bei den Dosenherstellern sprechen.
Die rechtzeitige Einführung eines einheitlichen Rücknahmesystems hätte den jetzigen Arbeitsplatzabbau und
die Kurzarbeit zum größten Teil verhindert.
Aus Gesprächen mit Dosenherstellern weiß ich, dass
sie das Dosenpfand keinesfalls grundsätzlich ablehnen.
Die Dosenhersteller fordern aber Planungs- und Investitionssicherheit.
({8})
Durch das Verhalten der Pfandgegner in Handel und Industrie wurde diese Sicherheit untergraben.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Kampf gegen das Dosenpfand, welches nach neuesten Umfragen
von Forsa - sie sind hochaktuell - von 75 Prozent der
Bevölkerung befürwortet wird,
({9})
wird auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen. In
erster Linie sind die Blockierer für Arbeitsplatzverluste
verantwortlich.
Vonseiten der Pfandgegner wird auf die Bedenken der
EU-Kommission verwiesen. Darauf möchte ich nur kurz
eingehen. Die Bedenken der Kommission richten sich
ausdrücklich nicht gegen das Dosenpfand als solches,
sondern hauptsächlich gegen mögliche Marktbeschränkungen. Bei einem einheitlichen Rücknahmesystem
gäbe es diese Bedenken nicht. Verantwortlich für die jetzige Situation sind also diejenigen, die den Aufbau eines
einheitlichen Rücknahmesystems verweigert haben. Die
„Süddeutsche Zeitung“ von heute schreibt dazu:
Es ist durchaus möglich, dass sich die EU-Kommission und Trittin im Rahmen des Verfahrens auf einige Detailänderungen verständigen werden. An
der grundsätzlichen Pfandpflicht auf Dosen wird
sich nichts ändern. Sie wird von der Kommission
auch nicht infrage gestellt. Das eigentliche Problem
liegt woanders: … Seit Wochen liegt die Novelle
der Verpakkungsverordnung im Bundesrat auf Betreiben der Opposition auf Eis. Es wird höchste
Zeit, dass diese Neuregelung, über die im Prinzip
sogar Einigkeit besteht, nun endlich beschlossen
wird.
Ich habe dem im Grunde genommen nichts hinzuzufügen.
Ich denke, man wird in den nächsten Wochen und
Monaten sehen müssen, dass man hier zu einer einvernehmlichen, vernünftigen Regelung kommt. Dies würde
allen dienen - vor allen Dingen auch denjenigen, die
Angst um ihre Arbeitsplätze haben.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Franz Obermeier,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es
scheint so zu sein, als ob der Gipfel der Ideologie erfolgreich erklommen worden ist. Jetzt sind wir so weit, dass
wir sagen können: Diese Bundesregierung glänzt nur
noch durch Murks und Pfusch.
Ich habe gerade gehört, dass das Gutachten, das die
Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, ebenfalls
falsch ist.
({0})
Ja, macht denn diese Bundesregierung überhaupt noch
irgendwo etwas richtig?
({1})
Der Staatssekretär, Herr Minister, spricht aus, dass es
politisch gewollt sei, die Arbeitsplätze abzubauen. Hat
denn irgendjemand in dieser Regierung noch ein Verständnis für die Familien, deren Männer arbeitslos werden?
({2})
Hat jemand noch ein Gefühl dafür, was sich in einer Gesellschaft abspielt, die Angst vor Arbeitslosigkeit hat?
({3})
Es ist furchtbar. Diese Bundesregierung, dieser Umweltminister wollen mit dem Kopf durch die Wand.
({4})
Man stelle sich einmal vor, man hätte uns derartige Vorwürfe machen können. Was wäre daraus geworden? Wie
hätten Sie geschrien!
({5})
Herr Bollmann, auf das, was Sie gesagt haben,
möchte ich schon noch eingehen. Wir haben uns natürlich vorbereitet, weil wir gewusst haben, was Sie sagen;
wir haben gewusst, dass Sie das abstreiten werden. Jetzt
will ich Ihnen vorlesen, was die Betriebsräte, bei denen
Sie ja waren, geschrieben haben:
Am 26. September waren wir anlässlich der Großdemonstration in Berlin, bei der über 3 000 Mitarbeiter der betroffenen Unternehmen für den Erhalt
ihrer Arbeitsplätze demonstriert hatten, zum Gespräch mit Herrn Staatssekretär Baake in das Bundesumweltministerium eingeladen worden.
({6})
Hier wurde uns gegenüber unmissverständlich klar
gemacht, dass das Zwangspfand ungeachtet aller
negativen Folgen durchgesetzt werden soll. Staatssekretär Baake erklärte uns gegenüber, dass der
durch das Zwangspfand verursachte Verlust der Arbeitsplätze in den Betrieben der Einweggetränkeindustrie und den zugeordneten Industriebetrieben
({7})
sowie die Vernichtung der Einwegindustrie an sich
politisch gewollt seien.
Dieses Schreiben ist unterschrieben von Wolfgang Gildner,
Stefan Seifert, Werner Pop, Horst Krämer und weiteren.
Herr Bollmann, sind das Lügner oder haben Sie hier gelogen?
({8})
Ich sage Ihnen: Diese Betriebsräte haben mehr Vertrauen
verdient als Ihre Rede hier.
Heute Vormittag haben wir erfahren, mit welchen
Tricks Sie versuchen, ein von einem seriösen Institut erstelltes Gutachten in Misskredit zu bringen.
({9})
Klar und deutlich ist heute zum Ausdruck gekommen,
dass dieses Gutachten nach den anerkannten Regeln für
solche Erhebungen zustande gekommen ist und dass es
bei weitem nicht so ist, wie Sie behaupten, dass nämlich
dieses Gutachten falsch ist.
({10})
Wo bleibt jetzt das ökologische Element? - Das fällt
auch weg. In Rheinland-Pfalz haben die Grünen ins
Internet gestellt, dass diese Geschichte auch aus ökologischen Gründen völlig sinnlos ist.
({11})
Das können Sie nachlesen, wenn Sie wollen.
({12})
Ich kann es Ihnen auch gleich hier sagen: Die 100 000
bis 300 000 Tonnen pro Jahr spielen keine Rolle für die
Treibhausgasemissionen.
Was für eine Politik betreiben Sie? Sie betreiben eine
Politik, mit der Sie Leute schädigen und bei der Sie keinerlei Rücksicht auf die Sicherheit der Arbeitsplätze in
der Bundesrepublik Deutschland nehmen. Mit dieser Politik erzielen Sie weder einen ökonomischen noch einen
ökologischen Effekt. Das ist rot-grüne Politik.
({13})
Das können Sie landauf, landab erfahren; so schaut das
ganze Land aus. Wir haben seit fünf Jahren eine rotgrüne Regierung und wir sind pleite.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Obermeier, wenn Sie diese Rede vor der bayerischen Brauereiwirtschaft gehalten hätten, hätten Sie garantiert keinen Applaus erhalten, und zwar zu Recht.
({0})
Man kann erstens Folgendes festhalten: Es ist wirklich traurig, dass sich die CDU/CSU und die FDP für die
Chaosstrategie von Teilen des Handels instrumentalisieren lassen.
({1})
Sie sind der verlängerte Arm derjenigen, für die Rechtstreue ein Fremdwort ist.
({2})
Zweitens. Es ist doch ein Witz, Frau Homburger, dass
man der FDP sagen muss, dass Strukturwandel zur
Marktwirtschaft gehört. Das ist doch das Normalste von
der Welt. Finden Sie nicht?
({3})
Wenn die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass
umweltverträgliche Systeme und die Kreislaufwirtschaft
gefördert werden,
({4})
ist doch klar, dass die Unternehmen, die Mehrwegsysteme und umweltfreundliche Verpackungen anbieten
und auf die Kreislaufwirtschaft setzen - die kleinen und
mittelständischen Brauereien, die Mineralwasserbrunnen usw. -, davon profitieren und dort Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue entstehen. Die Bilanz ist positiv,
das können Sie nicht in Abrede stellen.
({5})
- Das sind zukunftsfähige Arbeitsplätze und diese wollen wir schützen und das Entstehen weiterer fördern.
Drittens. Es gibt eine Forsa-Umfrage - wir sollten zwar
nicht umfragegläubig sein, aber manchmal ist es gut,
wenn man sich die Ergebnisse solcher Umfragen zu Gemüte führt -, in der sich 75 Prozent der Bevölkerung für
das Dosenpfand ausgesprochen haben. Auch 70 Prozent
der CDU/CSU-Anhänger sind für das Dosenpfand. Die
Aussagen der FDP-Anhänger waren statistisch nicht
messbar, da der Stichprobenumfang zu klein war.
({6})
50 Prozent der Bevölkerung glaubt, dass die Landschaft
sauberer geworden ist.
({7})
- Ja, sie glauben das. Es ist natürlich subjektives Empfinden.
Es gibt also eine große Akzeptanz für das Dosenpfand. Aber die Menschen sind mit seiner Handhabung
unzufrieden. Sie sind mit der jetzigen Situation unzufrieden. Eines ist klar: Es muss einfacher werden, wir brauchen ein einfaches Rücknahmesystem. So simpel ist die
ganze Botschaft. Wir möchten Sie bitten, sich dem nicht
länger in den Weg zu stellen.
({8})
Viertens. Herr Kollege Paziorek, wir haben schon oft
über die Instrumente geredet. Jetzt kommt aus Bayern
ein Vorschlag, der fast den Charakter einer freiwilligen
Selbstverpflichtung hat,
({9})
und das Saarland spricht sich für eine Abgabe aus. Wir
haben darüber diskutiert; ich erinnere mich noch sehr gut
daran. Die Beteiligten - ich will jetzt keine Namen nennen - haben damals in meinem Büro gesessen und Teile
des Handels waren bereit, eine Abgabe einzuführen.
({10})
Dann hätte man auch mit einem einfachen Blick ins Regal sofort erkannt, ob etwas ökologisch schlecht und
teuer oder ökologisch gut und günstig ist. Das war aber
nicht durchsetzbar.
({11})
Sie wurden damals von Herrn Fuchs und vom BDI
zurückgepfiffen. Es ist einfach unglaubwürdig, dieses
Instrument jetzt, nachdem man es schon einmal nicht
durchsetzen konnte, erneut vorzuschlagen.
({12})
Bezüglich des Instruments der freiwilligen Selbstverpflichtung frage ich: Was ist das für ein Staatsverständnis? Das Instrument ist gescheitert, weil Teile des Handels sich nicht an die Verabredung gehalten haben. Jetzt
sagen Sie, ihr habt euch zwar nicht daran gehalten, aber
wir versuchen es mit diesem Instrument ein zweites Mal.
Ich frage Sie: Worauf gründen Sie eigentlich Ihre Hoffnung, dass das Instrument dieses Mal funktionieren
wird? So wird es nicht gehen. Unser Staat wäre schlecht
beraten, wenn er sich einfach seiner Möglichkeiten berauben würde.
Vor zwei Jahren hätte man über eine angemessen
hohe Abgabe reden können. Jetzt haben wir einen anderen Weg beschritten und bekommen dafür eine hohe Akzeptanz. Wir bewegen uns auf der Grundlage dessen,
was Gesetz und Recht in diesem Land ist. Deshalb sollten wir das umsetzen.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist
wichtig und richtet sich an all diejenigen, denen die Umweltpolitik wirklich am Herzen liegt. Leute, wir haben
andere Probleme als das Dosenpfand!
({13})
- Beifall auf Ihrer Seite.
Die ganze Diskussion über das Dosenpfand ist wie
eine Metapher für die übergeordneten Fragen: Wollen
wir eine Wegwerfwirtschaft oder wollen wir eine Kreislaufwirtschaft?
({14})
Wollen wir eine zentralistische Struktur mit großen
Brauereien oder wollen wir eine dezentrale Struktur mit
vielfältigen mittelständischen Brauereien? Das haben die
Leute verstanden. Die Entscheidung ist gefallen, nämlich für die ökologisch vorteilhafte Kreislaufwirtschaft
und die dezentrale Struktur. Deswegen möchte ich Sie
bitten, den Weg dafür frei zu machen.
Wenn wir an dieser Stelle so weitermachen, machen
wir uns als Gesamtparlament lächerlich
({15})
und fügen der Umweltpolitik insgesamt Schaden zu. Das
kann in niemandes Interesse liegen. Deswegen möchte
ich Sie wirklich bitten, Ihre Obstruktionspolitik in dieser
Sache zu beenden und sich mit uns für die Einführung
eines einfachen Systems einzusetzen.
Danke schön.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Tanja Gönner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Loske,
ich habe Ihre Aussage eher als Aufforderung an Ihren eigenen Minister empfunden, sich endlich zu bewegen.
({0})
Wir haben Ihnen im Rahmen der Diskussion um das Dosenpfand und die Verpackungsverordnung vor der Sommerpause Vorschläge unterbreitet.
({1})
Der Einzige, der nicht zur Mitarbeit bereit ist, ist Ihr
Umweltminister.
Frau Mehl, es erschüttert mich zutiefst, dass wir heute
hier über die Aussage eines Staatssekretärs bezüglich der
Vernichtung von Arbeitsplätzen sprechen und Sie sich
als Mitglied der SPD - ich glaube, Sie stehen den Gewerkschaften näher als die Union - in keiner Weise zu
dieser Aussage äußern. Das empfinde ich gegenüber den
betroffenen Menschen als ungeheuerlich.
({2})
Zu Ihnen, Herr Bollmann, kann ich nur sagen: Sie
sollten sich erst einmal an die Fakten halten. Es ging nie
um die Demonstration am 24. September 2003, sondern
es ging um ein gesondertes Gespräch im Umweltministerium. Das Notwendige dazu hat der Kollege Franz
Obermeier gesagt. Die Art, wie hier sieben unbescholtene Bürger diffamiert werden, halte ich für nicht mehr
erträglich.
({3})
Dasselbe gilt für den Umgang mit Instituten in diesem
Land, und zwar insbesondere für den Umgang mit dem
Prognos-Institut und der Freien Universität Berlin. Über
Monate hinweg wird behauptet, es gebe ein Gutachten
der Freien Universität, welches die Vorteile des vom
Umweltminister gewünschten Systems bestätigt. Heute
Morgen haben wir im Rahmen einer Befragung im Umweltausschuss festgestellt, dass es sich bei dem so genannten Gutachten in Wirklichkeit um eine journalistische Fachrecherche handelt.
({4})
Das Ganze wurde immer mit einer etwas seltsamen Erhebung der Deutschen Umwelthilfe zusammengemixt,
deren Zusammenhang mit dieser Frage nach wie vor
nicht geklärt ist, obwohl von unserer Seite hierzu im
Rahmen einer Anhörung zur Verpackungsverordnung
die entsprechenden Nachfragen gestellt worden sind.
Die im Prognos-Gutachten enthaltenen Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Ich kann das Umweltministerium im Übrigen nur auffordern, dieses Gutachten endlich freizugeben, damit es veröffentlicht werden kann.
({5})
Es wurde immerhin von einem Ministerium dieser Regierung in Auftrag gegeben und Sie haben es bis heute
nicht geschafft, es freizugeben.
({6})
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Gestern
haben Sie, Minister Trittin, und diese Bundesregierung
mit der Mitteilung der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens die rote Karte aus Brüssel erhalten. Vor
der Presse jedoch tun Sie so, als sei das alles kein Problem und wir hätten damit keine Schwierigkeiten. Entscheidend sei, wie Sie die Dinge darlegt.
Fakt ist jedoch, dass Sie in Brüssel bereits Ende September eine zwanzigseitige Stellungnahme vorgelegt haben, um zu erklären, dass die Umsetzung des heutigen
Dosenpfandes tatsächlich den EU-Richtlinien entspricht.
Trotzdem hat die Kommission gestern einstimmig - ich
erinnere daran, dass zwei der EU-Kommissare aus Ihren
Parteien stammen - der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens zugestimmt. Im Falle des Unterliegens
in diesem Verfahren ist die Bundesregierung von Anfang
an schadensersatzpflichtig - mit allen finanziellen Folgen für das Land.
Ich frage mich ernsthaft, warum Sie nicht versuchen, dies abzuwenden. Stattdessen senden Sie der
Kommission erneut die Stellungnahme, die ihr bereits
bekannt ist und die die Kommission bisher nicht überzeugt hat.
Es genügt im Übrigen nicht, dass wir dieses eine Problem mit der Kommission haben. Wir wissen vielmehr
schon heute, dass die vorgelegte Novelle zur Verpackungsverordnung nicht EU-rechtskonform ist. Im Rahmen des Ratifizierungsverfahrens haben, wie Sie wissen,
bereits sieben Länder und die Kommission Einwendungen gemacht, und das vor Verabschiedung der Novelle
im Bundesrat.
Die Länder werden nicht bereit sein, in Kenntnis der
Widrigkeit gegen das Europarecht eine solche Novelle
zu verabschieden. Das muss Ihnen doch klar sein.
({7})
Als Gründe werden vor allem der Markteintritt, die wettbewerbshindernde Insellösung sowie die Pfandhöhe kritisiert. Sie sollten berücksichtigen, dass der Bundesrat
nicht ohne Grund die Vertagung der Entscheidung über
diese Novelle gewollt hat. Er wollte - im Gegensatz zu
Ihnen; schließlich gibt es nichts Schöneres, als zur besten Zeit im Fernsehen zu sehen zu sein - zur Sachlichkeit zurückkehren.
Angesichts dessen, was Sie und insbesondere die Kollegin Mehl uns unterstellt haben, muss ich Ihnen sagen:
Die CDU/CSU-Fraktion ist nicht grundsätzlich gegen
das Dosenpfand.
({8})
Sie ist nur dagegen, wie das Dosenpfand jetzt ausgestaltet ist und wie Sie die Novelle hierzu ausgestalten wollen.
({9})
Wir haben nichts gegen das Dosenpfand, sondern nur etwas dagegen, wie Sie es ausgestalten wollen.
({10})
Wir sind bereit, mit Ihnen über eine neue Lösung
nachzudenken, auch unter Berücksichtigung der europäischen Ebene. Sowohl die B-Länder als auch die
CDU/CSU-Fraktion sind bereit, mit Ihnen über Vorschläge ins Gespräch zu kommen. Sie können von uns in
den nächsten zwei Wochen eine Alternative erwarten, in
der eine hohe ökologische Lenkungswirkung mit dem
Ziel, einfach und praktikabel für den Bürger zu sein,
kombiniert werden soll. Es liegt an Ihnen, wie bereits
vor der Sommerpause angeboten, mit uns in Verhandlungen einzutreten.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich fordere Sie daher auf: Setzen Sie das Dosenpfand
jetzt aus und treten Sie mit uns in Verhandlungen ein.
Das ist im Sinne der Verbraucher, aber auch im Sinne der
Arbeitnehmer der betroffenen Branchen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
allzu offenkundig, was Sie mit dieser Skandalisierung
erreichen wollen. Man muss schon sehr naiv sein, um
nicht zu merken, dass Sie versuchen, sich von einer
ernsthaften Umweltpolitik insgesamt zu verabschieden.
({0})
Michael Müller ({1})
- Das ist keine billige Argumentation.
({2})
- Dazu sage ich auch etwas.
Ich will Ihnen deutlich sagen: Für jeden Bürger ist das
Thema Abfall das Symbolthema im Bereich Umweltpolitik. Sie haben sich in der Vergangenheit stets einer konstruktiven Mitarbeit verweigert, haben immer blockiert
und sich hinter Lobbygruppen gestellt.
({3})
Gleichzeitig haben Sie nach außen aber immer so getan,
als ob Sie die Gemeinsamkeit suchten.
Im Titel Ihrer Aktuellen Stunde taucht für das, was
Sie erfunden haben, der Begriff Dosenzwangspfand auf.
Dieser Begriff zeigt, dass Sie nur diffamieren wollen und
nicht bereit sind, sich ernsthaft mit dem Thema auseinander setzen zu wollen. Schon der Begriff ist eine miese
Diffamierung.
({4})
- Herr Paziorek, dass das wahr ist, wissen Sie ganz genau. Und das ist das eigentlich Schlimme. Sie sind viel
intelligenter, als Sie hier tun.
({5})
Sie müssen aber auch einmal über die Wirkung Ihres
Handelns nachdenken. Sie diffamieren mit der Art und
Weise, wie Sie das Thema Abfallpolitik behandeln, die
Umweltpolitik insgesamt. Das wird weder der Regierung noch Ihnen etwas nutzen, weil Sie nämlich ein zentrales Zukunftsthema diffamieren.
({6})
Das ist das eigentlich Schlimme. Sie handeln leichtsinnig und leichtfertig zugleich.
({7})
Jeder von uns kennt Herrn Baake. Möglicherweise hat
er eine missverständliche Aussage gemacht; das weiß
ich nicht und möchte es ihm nicht unterstellen. Aber ist
hier wirklich jemand in diesem Raum, der sagt, Herr
Baake freue sich, wenn Arbeitsplätze vernichtet würden? Was ist das für eine Unterstellung in einem Haus,
in dem man sich untereinander kennt? Ich finde das
wirklich unglaublich.
({8})
- Entschuldigen Sie, aber das ist doch die Konsequenz
Ihrer Aussage, wenn Sie sich mit Krokodilstränen in den
Augen hier hinstellen und sagen, diese bösen Leute würden die Arbeitsplätze vernichten und sich auch noch darüber freuen! Was ist das für eine politische Kultur? Es
ist eine Unkultur!
({9})
So können wir nicht miteinander umgehen. Sie können
nicht auf der einen Seite Gemeinsamkeiten verlangen
und auf der anderen Seite die Leute diffamieren. Das
geht nicht.
Eine andere Anmerkung zum Dosenpfand. Ich erinnere mich sehr genau, dass ich damals - im Gegensatz
zu Ihnen, Frau Homburger - gegen das Dosenpfand und
für eine Abgabenregelung war. Heute tun Sie so, als ob
Sie immer für eine andere Linie gewesen wären und als
ob es nicht Ihr Bier wäre. Es ist Ihr Kind,
({10})
über das wir heute kritisch diskutieren. Ich finde das ehrlich schlimm.
Natürlich kann man Fehler machen, aber dann sollte
man wenigstens ab und zu einmal zugeben, dass man
hier auch eine Verantwortung hat. Nicht einmal dazu
sind Sie imstande. Wie soll Politik dann ernsthaft betrieben werden? Ich kann das nicht nachvollziehen; tut mir
Leid.
Lassen Sie mich auch noch etwas zur Konsequenz sagen. Sie stellen sich hinter die Lobbygruppen, denen Sie
das Gefühl geben, sie könnten sich gegen das Gesetz
stellen.
({11})
Ich erlebe im Augenblick viele Gespräche, bei denen
sich diejenigen, die jetzt, bei der Umsetzung, eigentlich
am Zuge wären, hinter der Opposition verschanzen und
sagen: Solange das unklar ist, brauchen wir das nicht. Die Gesetzeslage, die die Regierung und die politisch
Verantwortlichen geschaffen haben, ist eindeutig. Sie legen hier Feuer. Gleichzeitig beklagen Sie sich, dass es
brennt. Das passt nicht, das geht nicht. Wir sind sehr dafür, über jede Verbesserung zu reden, aber wir sind nicht
bereit, über diesen destruktiven Stil zu sprechen.
Lassen Sie mich noch etwas sagen, damit auch das
nicht unklar bleibt: Der Inhalt des Auftrags für die
Prognos-Studie ist völlig in Ordnung. Ich habe mir die
Studie angeschaut; methodisch kann ich nichts dagegen
sagen. Allerdings habe ich Zweifel, ob die Studie in sich
logisch ist. In ihr werden nämlich zentrale Aspekte, die
man in einem solchen Zusammenhang berücksichtigen
müsste, nicht behandelt. Bestimmte Fragen - beispielsweise die Herausarbeitung der Beschäftigungs- und der
ökologischen Effekte - werden in der Studie nicht behandelt. Insofern wäre ich sehr vorsichtig, mich aus ökologischen oder beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten allzu sehr darauf zu beziehen. Nicht in der Methodik,
aber in dem, was in ihr behandelt wird, hat die Studie erhebliche Mängel. Schauen Sie sich das einmal genau an!
({12})
Michael Müller ({13})
Dann kommen Sie zu einem anderen Urteil. Die Debatte,
die wir dann führen könnten - ich wäre sehr dafür, sie zu
führen -, fände ich sehr interessant.
Ich will Prognos überhaupt nicht diffamieren. Aber
für eine ausreichende Bewertung der Arbeitsplatzeffekte
und der ökologischen Effekte reicht die Studie nicht aus.
Diese Kritik übe ich allerdings sehr wohl und auch offensiv.
({14})
Ich sage Ihnen: Auch das, was das Bundesumweltamt
dazu schreibt, finde ich völlig richtig.
Wenn Sie aus Ihrer ökologischen Tradition heraus
und nicht so, als würden Sie sich von der Umweltpolitik
verabschieden, argumentieren - dies haben Sie getan -,
dann können wir uns darüber verständigen. Kommen Sie
bitte zur Umweltpolitik zurück!
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kristina Köhler,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Seit über zwei Jahren wird in diesem Hohen
Hause über Pfandbonussysteme, Auslistungen, Insellösungen, Folienstandbodenbeutel und Pfandschlupf gesprochen - Begriffe, die Parlamentariern fremd waren,
bevor sich Umweltminister Trittin des Dosenpfands annahm und zu einem Auswuchs beispielloser Umweltbürokratie entwickelt hat.
({0})
Pfandbestimmungsfragen sind mittlerweile zu einer
Wissenschaft für sich mutiert und beschäftigen genau
drei Verfassungsorgane: Kabinett, Bundestag und Bundesrat.
({1})
Im August konnten wir im „Spiegel“ lesen:
Mit Deutschland und der Dose ist es wie mit
Deutschland und der Welt. Die anderen ziehen davon und Deutschland schraubt an seinen maroden
Systemen. Am Bildungssystem, am Arbeitsmarkt,
am Steuersystem. Und am Rücknahmesystem.
({2})
Letzteres betrifft übrigens gerade einmal 1,5 Prozent des
deutschen Mülls. So hoch ist nämlich der Anteil der Getränkeverpackungen am Abfall deutscher Haushalte. Dafür stehen nun - ob politisch gewollt oder nicht 10 000 Arbeitsplätze auf dem Spiel.
({3})
Herr Müller, diese Zahl verdanken wir übrigens dem
Wirtschaftsausschuss bzw. Wirtschaftsminister Clement,
der die Prognos-Studie inklusive der Themenstellung in
Auftrag gegeben hat.
({4})
In dieser Studie ist Prognos zu diesem vernichtenden
Ergebnis gekommen: 9 700 Arbeitsplätze sind gefährdet.
Alles gar nicht wahr - so tönt es aus dem Umweltministerium.
({5})
Flugs zaubert Minister Trittin eine sagenumwobene Recherche - sie Studie zu nennen traut sich selbst unser
Umweltminister nicht - aus dem Hut, die angeblich von
der Deutschen Umwelthilfe und der FU Berlin stammt.
({6})
Nach dieser Recherche kommt man zu einem wahrhaft
wunderbaren Ergebnis: Dank des Einwegpfands sind
14 400 Arbeitsplätze entstanden. Man glaubt es kaum:
Durch das Pfand werden Arbeitsplätze geschaffen.
({7})
Dummerweise ist der berechnete Arbeitsplatzeffekt
ebenso wunderbar, wie die Methoden der Studie wunderlich sind.
({8})
Die Recherche will Aussagen dazu machen, ob in
14 000 Betrieben in Deutschland Arbeitsplätze entstanden sind oder nicht. Zu diesem Zweck wurden ganze
95 Betriebe befragt: 95 von 14 000 Betrieben.
({9})
Nun können wir dem „Neuen Deutschland“ entnehmen, dass sich der Herr Minister Trittin darauf beruft,
Statistik studiert zu haben. Das ist prima, Herr Minister.
Ich fürchte aber, Sie haben gelegentlich im Statistikseminar gefehlt; denn sonst hätten Sie schon während des
Grundstudiums in Statistik I gelernt, dass eine Stichprobe von 95 bei einer Grundgesamtheit von 14 000
nach dem Gesetz der großen Zahl wohl kaum Repräsentativität beanspruchen kann.
({10})
Entsprechend sind auf Basis dieser Stichprobe keine
Hochrechnungen möglich.
Kristina Köhler ({11})
({12})
Beim Getränkefacheinzelhandel wurden bei dieser
Recherche sogar nur 19 von 10 000 Betrieben befragt.
({13})
Das bedeutet: Ein Betrieb steht repräsentativ für
526 Betriebe. Daraus rechnen dann die Forscher einen
Arbeitsplatzgewinn von 4 100 Stellen hoch. Vom Verhältnis her wäre dies etwa das Gleiche, als wenn ein Forscher die Abgeordneten des Deutschen Bundestages untersuchen will, genau einen Abgeordneten befragt,
zufällig an Eberhard Gienger gerät und daraus schließt,
dass wir alle ehemalige Weltmeister im Turnen am Reck
waren.
({14})
Um diese doch - sagen wir - etwas eigenwillige Methode der Studie zu klären, hat der Umweltausschuss des
Deutschen Bundestages in seiner heutigen Sitzung Vertreter der FU Berlin eingeladen. Was ergab sich bei dieser Befragung? - Die Vertreter der FU Berlin wiesen es
weit von sich, etwas mit der von Trittin zitierten Studie
zu tun zu haben.
({15})
Die FU Berlin hat eine eigene Recherche mit einer ebenfalls kleinen Stichprobe durchgeführt. Sie erhebt aber für
diese Recherche in keiner Weise den Anspruch der Repräsentativität. Deshalb könne ihre Stichprobe auf Arbeitsplatzeffekte in Deutschland nicht hochgerechnet
werden. Bundesumweltminister Trittin beruft sich aber
ständig auf die FU, wenn er mit seinen sagenhaften
14 000 Dosenpfand-Arbeitsplätzen wuchert.
Es ist doch eindeutig: Bundesumweltminister Trittin
missbraucht das wissenschaftliche Renommee der
Freien Universität Berlin, um seinen dubiosen Zahlen einen seriösen Touch zu geben.
({16})
Unser Bundesumweltminister schadet dem Ruf einer bedeutenden deutschen Universität. Meine Damen und
Herren, hören Sie auf mit diesen Täuschungsmanövern!
Hören Sie auf, mit pseudowissenschaftlichen Recherchen und auf Kosten der FU Berlin einen Arbeitsplatzgewinn herbeizuzaubern! Blicken Sie der Realität ins
Auge: Das Zwangspfand hat Arbeitsplätze vernichtet.
Das Zwangspfand wird weiterhin Arbeitsplätze vernichten, wenn Sie nicht zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit uns bereit sind und dieses Dauerdrama beenden.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Ulrich von
Weizsäcker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Es ist für die Betroffenen immer bitter, wenn Arbeitsplätze verloren gehen. Es ist absolut verständlich,
dass diejenigen, die sich als Verlierer sehen, öffentlich
protestieren. Es wäre sehr bedauerlich gewesen, wenn
ein Staatssekretär der Bundesregierung etwas gesagt
hätte, was von den Betroffenen als Beleidigung empfunden worden wäre. Er hat es nicht gesagt.
({0})
- Mein Freund Gerd Bollmann war dabei.
({1})
Mir geht es darum, die Asymmetrie beim Strukturwandel, über die Herr Loske schon gesprochen hat, noch
einmal zu betonen. Es ist absolut verständlich, dass sich
im Strukturwandel die negativ Betroffenen viel lauter als
die positiv Betroffenen äußern. Es ist ebenfalls verständlich, dass sich die Medien hauptsächlich mit den Verlierern und nicht mit den Gewinnern befassen. Es ist ebenso
verständlich, dass sich die politische Opposition hauptsächlich mit den Verlierern und nicht mit den Gewinnern
beschäftigt. Das ist alles verständlich und geschenkt.
({2})
Die Frage ist nur, ob dies die alleinigen Fakten sind. Es
ist vollkommen richtig gewesen, dass sich der Bundesumweltminister in Erkenntnis dieser Situation zusätzlichen wissenschaftlichen Rat geholt hat, der sich insbesondere auf die Asymmetrie in den Medien bezieht. Es
war eine journalistische Recherche, wie gesagt wurde.
({3})
Nun wird von Ihrer Seite völlig zu Recht gesagt: Die
wissenschaftliche Basis dessen, was im Prognos-Gutachten steht, ist solider als die im FU-Gutachten.
({4})
Das kann ich wissenschaftlich aber sehr wohl erläutern. Es gibt nämlich eine grundsätzliche wissenschaftliche Asymmetrie, die darin besteht, dass man über Arbeitsplätze, Wirtschaftsentwicklung, Wohlstand usw. der
Gegenwart und der Vergangenheit sehr viel mehr aussagen kann als über die Zukunft. Das ist eine Selbstverständlichkeit in der Wissenschaft. Jeder, der einmal die
leontiefschen Input-Output-Analysen gesehen hat, weiß,
dass da immer eine Asymmetrie zugunsten der Vergangenheit und der Gegenwart und zuungunsten der Zukunft herauskommt. Das ist hineingebaut. Dies nun als
Argument im Sinne von Unseriosität dessen zu gebrauchen, was wir über die Zukunft aussagen, heißt, den Begriff Strukturwandel zu verdrängen. Das wollen wir
doch wohl alle nicht.
({5})
Das Wichtigste in dieser Debatte haben Reinhard Loske
und Michael Müller gesagt, nämlich dass die Dosenpfanddiskussion in Deutschland wichtigere ökologische
Themen erdrückt. Es wäre wichtig, dass wir zu einer parteiübergreifenden Einigung darüber kommen, dass wir
eine letzten Endes nicht wahnsinnig produktive Diskussion beenden und zu produktiveren Themen zurückkehren.
Viele Betriebe haben doch seit 2000 an den Zahlen
der zurückgegebenen Getränkebehälter ablesen können,
dass das, was damals bereits seit vielen Jahren Gesetz
war, nunmehr Wirklichkeit wird und das Zwangspfand
kommt. Man hätte auch diejenigen Arbeitsplätze, über
deren Verlust wir heute klagen müssen, retten können,
wenn die Wirtschaft rechtzeitig reagiert hätte. Das hat
Frau Vogel-Sperl vollkommen zutreffend gesagt. Dann
wären nämlich selbst die Firmen, die Einwegverpackungen herstellen, im Wesentlichen ohne Arbeitsplatzverluste davongekommen. Dieses Versäumnis nun aber der
rot-grünen Regierung anzuhaften, das ist eine völlige
Verdrehung der Tatsachen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Bundesumweltminister Jürgen
Trittin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anlass
der heutigen Aktuellen Stunde ist, um es sehr höflich zu
sagen, eine Unterstellung. Bei einem Gespräch am
26. September haben zwar einige Betriebsräte hartnäckig versucht, meinem Staatssekretär Rainer Baake die
Worte in den Mund zu legen, es sei politisch gewollt, Arbeitsplätze in der Einwegindustrie zu vernichten. Dieser
Gedanke ist absurd. Herr Baake hat solche Falschinterpretationen und Unterstellungen sowohl bereits in dem
Gespräch als auch anschließend schriftlich und per Pressemitteilung zurückgewiesen.
Wenn Sie weiter mit diesem Märchen durch die
Lande ziehen, dann arbeiten Sie nicht nur mit Unterstellungen, sondern mit dem Mittel der politischen Verleumdung, weil Sie dieses wider besseres Wissen tun. Das
muss ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit und mit
Nachdruck zurückweisen.
({0})
Wenn es nicht so ernst wäre, mit welcher politischen
Stillosigkeit und Schäbigkeit Sie gegenüber einem honorigen Beamten an dieser Stelle operieren,
({1})
dann könnte man sich darüber amüsieren, was für eine
Posse hier aufgeführt wird.
({2})
Da stellt sich die Kollegin Homburger - sie ist Mitglied einer Partei, die Gewerkschaften für überflüssig
hält und meint, dass deren Rechte beschränkt werden
müssten - mit Betriebsräten von Metallbetrieben an die
Spitze einer Metallerdemonstration.
({3})
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen.
({4})
Aber bei der Gelegenheit haben Sie die Katze aus
dem Sack gelassen, liebe Frau Homburger. Sie haben
heute deutlich gesagt, sie seien nicht für Mehrweg.
({5})
Genau das ist der Kern der Debatte. Denn wer ernsthaft
über Arbeitsplätze in der Getränkeindustrie, die ökologische Lenkungswirkung, Klimaschutz und Abfallpolitik
redet, sich aber gegen Mehrweg ausspricht, der ist gegen
Umweltschutz und hat ein zynisches Verhältnis zu den
Arbeitsplätzen.
({6})
Sie tun fast so, als hätte die Debatte um Arbeitsplätze
in der Getränkeindustrie am 1. Januar dieses Jahres angefangen. Nein, wir führen diese Debatte schon seit Anfang der 90er-Jahre.
({7})
Sie sind sicherlich noch nicht so lange im Bundestag. Ich
gehöre ihm auch noch nicht ganz so lange an.
({8})
Seit Anfang der 90er-Jahre beobachten wir, wie von
Nordrhein-Westfalen bis Bayern mittelständische Brauunternehmer, kleine Abfüller und Getränkefachhändler
reihenweise über die Wupper gegangen sind. Ich habe
von Ihrer Seite nie auch nur ein Wort des Bedauerns zu
diesem Abbau von Arbeitsplätzen gehört.
({9})
Über zehn Jahre hinweg sind mehrere tausend Arbeitsplätze verloren gegangen. Warum? - Weil große
Handelskonzerne beschlossen haben, ihre Logistikkosten zu senken. Wie erreicht man das am besten? - Mit
wenigen Herstellern und, wenn möglich, mit der Einsparung von Personal. Und das Mittel dazu? - Im Bereich
der Getränkeverpackungen bietet das Einwegsystem entsprechende Möglichkeiten, weil die Rücknahme der Verpackungen entfällt. Deswegen ist es zu dem beschriebenen Abbau von Arbeitsplätzen gekommen.
Wer sich heute gegen Mehrweg ausspricht,
({10})
der sagt damit deutlich: Ich bin für Einweg und dafür,
dass dieser Prozess fortgesetzt wird.
({11})
Dem halte ich entgegen: In diesem Sinne war der
1. Januar dieses Jahres überfällig, weil nämlich dieser
Prozess des Kaputtmachens des Mittelstandes und des
Zerstörens auch der heimatlichen Kultur, die wir in diesem Lande haben, endlich beendet worden ist.
({12})
Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem es wie
in den USA nur noch fünf Biersorten gibt, die alle gleich
schmecken. Ich fahre gerne durch Bayern,
({13})
wo es kleine Betriebe gibt, wo ich in jedem Ort ein anderes Bier bekommen kann und wo die Menschen auch in
der Brauwirtschaft noch Arbeit finden.
({14})
Deswegen erlauben Sie mir eine etwas harte Bemerkung. Was Prognos vorgelegt hat, ist unseriös, weil es
nicht die gesamten Betrachtungsweisen in der Zeitspanne von 1991 bis 2002 berücksichtigt hat.
({15})
Es ist wissenschaftlich außerordentlich fragwürdig,
wenn das Institut 14 Tage vor der Ablieferung des Gutachtens zu dem Ergebnis kommt, dass die Zahl der Arbeitsplätze durch die Einführung der Pfandpflicht selbst
in der kurzen Übergangsfrist steigt, dann aber auch auf
den Pfandschlupf aufmerksam wird - den habe übrigens
nicht ich erfunden; er stammt noch von Ihrem damaligen
Umweltminister -, der nicht in das ökonomische Modell
mit eingerechnet werden könne, weil er eine Rücklage
darstelle. Sie müssen mir erklären, wo diese Rücklage
liegt.
Allein aufgrund dieses Tricks ist man zu der Überzeugung gekommen, dass die Übergangsregelung Arbeitsplätze gekostet habe. Sie können von mir erwarten, dass
ich zwischen einer repräsentativen Studie und einem Rechenmodell wie dem von Prognos unterscheiden kann.
Aber ein Modell wie das von Prognos wäre, wie gesagt,
in unserem ersten Statistikseminar nicht durchgegangen.
({16})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Verantwortung für Arbeitsplätze machen. Weil ich Ihr Recht
anwende - es ist bis heute unverändert so, wie Sie es
verfasst haben -, haben Sie mir vorgeworfen, ich würde
mit dem Kopf durch die Wand gehen.
({17})
Ich muss Sie enttäuschen. Warum habe ich im Vertrauen
auf eine verbindliche Zusage der Wirtschaft, ein solches
Rücknahmesystem aufzubauen, eine neunmonatige
Übergangsfrist zugelassen? Warum habe ich mich dem
Ärger der Verbraucherinnen und Verbraucher und meinem eigenen Ärger ausgesetzt?
({18})
Ich wollte damit die Verluste in der Übergangszeit vermeiden und Möglichkeiten für den Aufbau dieses Rücknahmesystems schaffen. Ich habe das getan, gerade weil
mir und - das füge ich ausdrücklich hinzu - auch meinem Staatssekretär die Arbeitsplätze in der Dosenindustrie nicht egal sind. Diejenigen, die zynisch mit den
Ängsten und den Arbeitsplätzen der in dieser Branche
beschäftigten Menschen gespielt haben, sitzen nicht auf
der Regierungsbank, sondern in der Zentrale des HDE,
bei Metro, bei Aldi und in allen anderen Unternehmen,
die eine Boykottstrategie verfolgt haben und die glauben, trotz eines klaren Votums der Wählerinnen und der
Wähler im Jahr 2002 beim Dosenpfand nicht nur den
Staat, sondern auch die Gesellschaft der Bundesrepublik
Deutschland schlicht und ergreifend erpressen zu können. Das sind die Zyniker!
({19})
Lassen Sie mich noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie sich auf die
EU-Kommission berufen. Die EU-Kommission verlangt von mir nämlich nicht, die Pfandpflicht abzuschaffen, sondern verlangt, sie zu verschärfen. Jeder, der
künftig eine Einwegverpackung in den Verkehr bringt,
soll auch jede Einwegverpackung zurücknehmen. Das
ist der Kern des Schreibens von Herrn Bolkestein. Diesen Streit werden wir im Zweifel vor dem Europäischen
Gerichtshof ausfechten müssen; denn ich sehe nicht ein,
dass in Deutschland ein anderes Recht gelten soll als beispielsweise in Spanien oder Portugal, wo es vergleichbare Regelungen ohne Beanstandungen gibt.
Ich möchte Sie auch von einem Irrtum kurieren: Nicht
die Kommission, sondern der Europäische Gerichtshof
entscheidet über Vertragsverletzungen. Wir wollen uns
mit der Kommission gerne einigen. Wir werden es aber
nicht zulassen, dass die Regelung in Deutschland, die
mit Regelungen, die in anderen Ländern unbeanstandet
gelten, vergleichbar ist, von der EU als Sonderrecht beanstandet wird. Das werden wir schon aus Gründen der
Rechtseinheitlichkeit im Binnenmarkt nicht dulden können.
({20})
Ich möchte zum Schluss auf das hinweisen, was gestern gesagt worden ist - vielleicht regt Sie das zum
Nachdenken an -:
Die Entscheidung der Kommission bedeutet nicht,
dass die Kommission gegen das deutsche Pfandsystem ist. Es ist gut für Umwelt.
Das ist ein Originalzitat der EU-Kommissarin Wallström. Weil es gut für die Umwelt und langfristig insbesondere gut für den Mittelstand und die Arbeitsplätze in
diesem Land ist, werden wir die bestehende Pfandregelung nicht aussetzen. Sie sollten Ihre Bemühungen in
dieser Hinsicht einstellen. Dann können wir uns in Ruhe
auch anderen Themen zuwenden.
Vielen Dank.
({21})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max
Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Wir haben wieder feststellen können, dass Bundesminister
Trittin der Hardliner der Ideologen in der Bundesregierung ist.
({0})
Ihm ist es letztendlich völlig egal, ob die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland immer weiter sinkt. Wichtig
ist für ihn nur, dass die Ideologie stimmt. Das kam in seiner heutigen Rede erneut zum Ausdruck.
({1})
Es ist bedauerlich, wenn ein Staatssekretär aus seinem
Hause erklärt, es sei politisch gewollt, dass Arbeitsplätze
in der Industrie, die Einwegverpackungen in Deutschland herstellt, aufgegeben würden. Herr Bundesminister,
es ist infam, wenn Sie den Betriebsräten von Rexam
Gelsenkirchen unterstellen, dass sie die Unwahrheit sagten bzw. den Staatssekretär fast genötigt hätten, eine solche Aussage zu machen, oder ihm eine solche Aussage
untergeschoben hätten. Wenn das so gewesen wäre, dann
hätten die Betriebsräte so viel Ehrgefühl gehabt - davon
bin ich überzeugt -, sich nicht bittend an den Bundeskanzler zu wenden, sondern Stillschweigen zu bewahren.
Die Betriebsräte haben aber in ihrem Brief an den
Bundeskanzler dargelegt, dass Herr Baake, Staatssekretär im Bundesumweltministerium, in der Besprechung,
die zwei Tage nach einer Veranstaltung der IG Metall
und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
stattgefunden hat, mitgeteilt habe, der Verlust von Arbeitsplätzen in den betroffenen Branchen sowie die Vernichtung der Einwegindustrie seien politisch gewollt. Es
ist infam, wie man in Deutschland mit Arbeitsplätzen
umgeht. Deshalb ist eine Umkehr in der Umweltpolitik,
vor allen Dingen bei der Verpakkungsverordnung, im
Sinne der Erhaltung von Arbeitsplätzen, aber auch der
Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land notwendig.
Bundesumweltminister Trittin hat vorhin zu suggerieren versucht, er sei der Schutzpatron der kleinen Brauereien. Da kann ich nur lachen. Die kleinen Brauereien
klagen mittlerweile über das Hickhack zum Dosenpfand.
Die Zahlen sprechen für sich. Trotz der heißen Sommermonate dieses Jahres müssen wir leider feststellen, dass
insgesamt mittlerweile der Bierabsatz um 7 Prozent gesunken ist. Das bedeutet Umsatzverluste bei den kleinen,
mittleren und großen Brauereien und damit Arbeitsplatzverluste, Herr Bundesminister!
({2})
Etwas schlägt dem Fass da noch den Boden aus. Kollege Müller, Sie haben ausgeführt, die Handelsverbände
und natürlich Ketten wie Aldi und Lidl sowie sonstige
Verbrauchermärkte seien die großen Schuldigen; sie verhielten sich nicht gesetzeskonform. Tatsache ist doch:
Eine Insellösung ist möglich. Ich wüsste auch nicht, dass
es eine Verpflichtung gibt, Einwegverpackungen zu verkaufen.
({3})
Ein nicht gesetzeskonformes Verhalten kann ich hier
also nicht feststellen. Man hat aufgrund dieser Situation
den Verkauf von Dosen eingestellt. Das ist die einfache
Wahrheit. Mittlerweile kommt belgisches Bier in PETFlaschen in die Läden. Das ist garantiert zum Schaden
der deutschen Brauereien.
({4})
Man kann feststellen, dass sich das Ganze in die Arbeitsplatzabbaubemühungen der Bundesregierung einreiht. Die sind nämlich auch in vielen anderen Bereichen
feststellbar:
Einführung der Ökosteuer: Wir haben heute ganz kurz
nachgefragt. Tankstellenbetreiber haben ja auch Getränke zu verkaufen und vor allem in den Grenzregionen
stehen sie in einer besonderen Wettbewerbssituation.
400 Tankstellen mussten geschlossen werden, 3 000 bis
3 500 Arbeitsplätze sind verloren gegangen.
({5})
- Ja, wegen der Ökosteuer. Das ist ein Beispiel für das
Handeln der Bundesregierung.
({6})
Beispiel Transportgewerbe: Seit 1999, der Einführung der Ökosteuer, hat die Zahl der Insolvenzen im
Transportgewerbe um 96 Prozent zugenommen. Ein
Verlust von mehr als 100 000 Arbeitsplätzen und 10 000
Unternehmungen in diesem Bereich!
Ausstieg aus der Kernenergie: minus 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland,
({7})
einschließlich des vorgelagerten Bereichs.
Ein einseitiger Beschluss wie der, in Deutschland aus
der Käfighaltung auszusteigen, bedeutet einen Verlust
von 10 000 Arbeitsplätzen in der Geflügelwirtschaft und
17 000 Arbeitsplätzen in der Verpackungsindustrie.
({8})
Es zeigt sich sehr deutlich: Ideologisch begründete
Politik schadet den Arbeitsplätzen in Deutschland. Damit muss Schluss sein.
({9})
In diesem Sinne fordere ich die Bundesregierung auf,
das unglückselige Zwangspfand auszusetzen und zu
konstruktiven Verhandlungen zurückzukehren.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 23. Oktober 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.