Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen sehr schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt es einiges mitzuteilen.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, während der Haushaltsberatungen ab dem
11. September 2007 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann wird so verfahren.
Der Ältestenrat ist ebenfalls übereingekommen, bei
EU-Vorlagen folgendes Verfahren im Hinblick auf eine
Änderung der Geschäftsordnung zu erproben:
Erstens. Bei Unionsdokumenten, die Vorhaben im
Sinne der Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union
entsprechen, wird bei der Vorbereitung der Überweisungsentscheidung die Beratungsrelevanz des Dokuments in Abstimmung mit den Fraktionen bewertet; dies
ist die sogenannte Priorisierung.
Zweitens. Wird die Beratungsrelevanz von keiner
Fraktion bejaht, unterbleibt eine Überweisung.
Drittens. Es ist vorgesehen, die hiernach nicht überwiesenen Unionsdokumente nach Unterrichtung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union in der Sammelübersicht gemäß § 93 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung gesondert auszuweisen.
Sind Sie mit der vorgeschlagenen Erprobung einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Die von der Fraktion Die Linke beantragte und heute
als letzter Tagesordnungspunkt vorgesehene Aktuelle
Stunde zur Datenvernichtung bei der Bundeswehr soll
entgegen der Ankündigung nicht mehr durchgeführt
werden und entfällt.
({0})
- Vielleicht können wir ein seelsorgerischeres Gespräch
anbieten, wenn es jemand heute Nachmittag ohne diese
Aktuelle Stunde nicht aushalten kann.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Verbes-
serung der Qualifizierung und Beschäfti-
gungschancen von jüngeren Menschen mit
Vermittlungshemmnissen
- Drucksache 16/5714 -
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Ver-
besserung der Beschäftigungschancen von
Menschen mit Vermittlungshemmnissen
- Drucksache 16/5715 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/5933 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ralf Brauksiepe
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5934 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Redetext
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Für eine Ausweitung und eine neue Qualität
öffentlich finanzierter Beschäftigung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Dr. Thea Dückert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren
- Drucksachen 16/2504, 16/2652, 16/5495 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Katrin Kunert, Roland Claus, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Freigabe der im Bundeshaushalt einbehaltenen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für das
Jahr 2007
- Drucksachen 16/4749, 16/5812 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg Rohde
Zu den Gesetzentwürfen zur Änderung des Zweiten
und Dritten Buches Sozialgesetzbuch liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Es ist verabredet, eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich ebenfalls keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem dem
Kollegen Klaus Brandner von der SPD-Fraktion das
Wort.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der guten Arbeitsmarktlage fragen sich viele, warum wir uns für eine Jobperspektive und für mehr Unterstützung Jugendlicher
auf dem Weg in eine Beschäftigung starkmachen. In der
Tat, die Arbeitsmarktsituation ist vielversprechend.
Die Arbeitslosigkeit geht deutlich zurück. In diesem Jahr
gibt es gegenüber dem Vorjahr 712 000 Arbeitslose und
350 000 Langzeitarbeitslose weniger. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, die Anzahl der offenen Stellen
steigt. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es 600 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr.
Wie wir heute erfahren werden, ist die Bundesagentur
für Arbeit auch finanziell äußerst gut ausgestattet. Anstelle eines Defizits von 4,3 Milliarden Euro in diesem
Jahr werden voraussichtlich - so wird geschätzt - Überschüsse in Höhe von 5 Milliarden Euro erzielt. All das
ist keine kurzfristige Laune der Konjunktur, sondern Basis unserer guten Reformarbeit, Basis einer nachhaltigen
Politik für Wachstum und Beschäftigung.
Dennoch, um es klar zu sagen, werden nicht alle Arbeitslosen aufgrund dieser Situation eine Perspektive haben. Insbesondere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, ohne Berufsausbildung, mit geringer
Qualifikation oder Ältere sind besonders häufig langzeitarbeitslos. Auch bei einer weiter verbesserten Arbeitsmarktlage wird es uns nicht gelingen, alle Langzeitarbeitslosen mit den bisher verfügbaren Instrumenten in
Beschäftigung zu bringen. Bei vielen Langzeitarbeitslosen sind diese Möglichkeiten im Übrigen ausgeschöpft.
Es gibt noch weiteren Handlungsbedarf. Zu viele
Jugendliche verlassen die Schule ohne einen Abschluss.
Im Mai gab es fast eine halbe Million Langzeitarbeitslose ohne Schulabschluss. Es darf nicht sein, dass sich
bereits mehr als die Hälfte der Ausbildungsplatzbewerber schon im zweiten oder dritten Jahr in Warteschleifen
befinden, um einen Ausbildungsplatz zu finden. Darüber
hinaus haben zu viele Jugendliche nach der Ausbildung
keine Anschlussperspektive. Deshalb brauchen wir nicht
nur eine bessere Kinderbetreuung und bessere Schulen.
Hier sind die Länder gefordert. Man darf sicherlich
Herrn Minister Laumann sagen, dass dies ein Hinweis an
die nordrhein-westfälische Schulministerin ist, in die
Hände zu spucken und dafür zu sorgen, dass die Ausgangssituation für Jugendliche besser wird.
Wir wissen aber auch, dass die Aktivitäten im Bildungswesen zur Lösung aktueller Probleme zu spät
kommen. Deshalb haben wir zwei Gesetze auf den Weg
gebracht. Mit der Jobperspektive schaffen wir für
100 000 Menschen Teilhabe am Arbeitsmarkt und an der
Gesellschaft. Darüber hinaus organisieren wir mit einem
Beschäftigungszuschuss sozialversicherungspflichtige
Jobs und neue Arbeitsfelder. Mit dem zweiten Gesetz
werden wir speziell Jugendliche ansprechen. Sie sollen
leichter einen Arbeitsplatz finden, sich bei der Arbeit bewähren und ihre Qualifikationen verbessern können.
({0})
Dazu führen wir einen Qualifizierungszuschuss ein,
der sich an Jugendliche ohne Ausbildung richtet. Für Jugendliche mit Ausbildung, aber ohne Arbeit gibt es
künftig einen besonderen Eingliederungszuschuss. Zur
besseren Vorbereitung auf eine Ausbildung wird es die
betriebliche Einstiegsqualifizierung für Jugendliche,
EQJ, als reguläres Instrument geben.
Betriebe wollen wir bei der Ausbildung von Jugendlichen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, unterstützen. Deswegen wird es künftig sozialpädagogische
Begleitung und organisatorische Unterstützung bei betrieblicher Berufsausbildung und Berufsvorbereitung geben.
({1})
Ganz wichtig ist auch, dass sich Jugendliche möglichst frühzeitig Gedanken über die berufliche Zukunft
machen. Daher bauen wir die Möglichkeit der Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen aus. Damit
haben wir ein ganzes Paket geschnürt, um jungen Menschen den Einstieg in die Arbeit zu erleichtern.
Zurück zur Jobperspektive. Dem heutigen Tag ist
eine lange, nicht immer einfache Debatte vorausgegangen. Wir als SPD mussten viel Überzeugungsarbeit zu
diesem Thema leisten. Ein wichtiger Schritt war die Einigung von SPD und Union in der Koalitionsvereinbarung. Ein weiterer wichtiger Schritt wurde in der Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt unternommen, in der unter
Leitung des Arbeitsministers Franz Müntefering dieses
Thema einen besonderen Stellenwert eingenommen hat.
Arbeitsminister Karl-Josef Laumann und ich haben dazu
Eckpunkte formuliert. Ich bin überzeugt, das, was wir
erarbeitet haben, wird vielen Menschen neue Hoffnung
und Halt geben.
({2})
Ich will es klar sagen: In dieser Zusammenarbeit hat
sich gezeigt, dass diejenigen, die wissen, wovon sie reden, die nahe bei den Menschen vor Ort sind, sozialpolitisch richtige Instrumente auf den Weg bringen, um diesen Menschen, die ansonsten dauerhaft vor der Tür
bleiben würden, ihre Würde zurückzugeben. Das ist unser Anliegen. Wir sind überzeugt, dass wir das mit diesem Instrument auch erreichen werden.
({3})
Auf unserem Weg haben wir viel Bestätigung erfahren. Die Wohlfahrtsverbände zum Beispiel, die AWO,
die Diakonie, die Caritas, der Deutsche Paritätische
Wohlfahrtsverband, und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund haben den Prozess frühzeitig begleitet und
uns darin bestärkt, dass die Jobperspektive der richtige
Weg ist. Noch vor einigen Tagen hat sich der Präsident
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich für die Initiative bedankt. Das hat
uns sehr gefreut, bestätigt und darin unterstützt, diesen
Weg konsequent zu gehen.
Die Anhörung in dieser Woche hat gezeigt - das will
ich deutlich sagen -, dass wir richtig liegen. Das steht in
krassem Widerspruch zu dem Nörgeln der Opposition an
diesem Gesetzespaket in den letzten Tagen und auch im
Ausschuss.
({4})
Das mag den einen oder anderen enttäuschen. Mich hat
es nicht enttäuscht, aber es hat gezeigt, dass Sie nicht auf
der Seite derjenigen sind, die eine besondere Unterstützung brauchen. Teilen der Opposition geht es anscheinend nicht darum, den Menschen zu helfen, die eine
ganz besondere Unterstützung und Achtung in dieser
Gesellschaft brauchen. Sie verhöhnen die Menschen
- zumindest bei der FDP war das klar zu sehen -, indem
Sie immer wieder das Bild vom unbeweglichen und
allzu bequemen Arbeitslosen malen,
({5})
der aufgrund eigener Schuld keine Arbeit findet und sich
in der Arbeitslosigkeit, so wie Sie es im Ausschuss fast
wörtlich gesagt haben, bequem eingerichtet hat.
({6})
Was die Fraktion der Linken und der Grünen geboten
haben, war aus meiner Sicht einmal mehr nicht konsequent; denn sie sind noch nicht einmal ihrer eigenen Linie treu geblieben. Sie mäkeln nur herum und lassen die
Menschen im Stich.
({7})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Erst rennen Sie der Regierung thematisch hinterher und schieben eigene Anträge nach; dann winden Sie sich durch Ablehnung des
Gesetzes aus der Verantwortung und verabschieden sich
im Ergebnis von Ihrer eigenen Initiative. - Frau
Pothmer, es ist so.
({8})
Sie sagen auf der einen Seite: Wir haben kein Vertrauen
zum Fallmanagement. Die finanzielle Ausstattung ist natürlich, wie immer, viel zu gering. - Auf der anderen
Seite reist die Opposition übers Land und fordert: Wir
müssen die Entschuldung dieses Staates schneller voranbringen. Sie sind da nicht mutig genug und nicht konsequent genug.
({9})
Vor Ort wollen Sie aber das Füllhorn ausschütten und
sich als Wohltäter gerieren. Das ist nicht konsequent, das
ist widersprüchlich, und das muss hier deutlich gesagt
werden.
({10})
Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die den Menschen hilft, selbst ihr Geschick zu lenken. Das war richtig, und das bleibt richtig. Die Menschen haben ein
Recht auf Teilhabe und gerechte Entlohnung.
Wir wissen, wie unsere europäischen Nachbarn mit
dieser Herausforderung umgegangen sind. Wenn wir uns
die Statistiken dazu ansehen, dann erfahren wir ganz
schnell, dass dort Erwerbsunfähigkeit völlig anders definiert ist. In Deutschland sind 3,1 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter erwerbsunfähig, in Großbritannien sind es 6,3 Prozent und in den Niederlanden
sind es sogar 8,8 Prozent. Das heißt, man gibt diesen
Menschen keine Perspektive. Man gibt den Menschen
nur materielle Unterstützung. Man stempelt sie ab. Wir
wollen genau das Gegenteil.
({11})
Für uns ist wichtig, dass ein Arbeitsplatz und die
damit verbundene Selbstständigkeit erreicht werden.
Selbstbestimmtes Leben wird aus unserer Sicht nur
durch Arbeit erreicht. Arbeit ist zentral. Sie fördert die
Selbstachtung und das Selbstwertgefühl. Deshalb wollen
wir offensiv an der Initiative arbeiten, Menschen auf
dem regulären Arbeitsmarkt eine Jobperspektive zu geben.
Wie sieht das konkret aus? Wir haben uns mit der Jobperspektive deutlich gegen den Ausbau des Niedriglohnsektors entschieden. Das würde auch nur in die Sackgasse führen. Deshalb wollen wir gesellschaftlich
anerkannte Beschäftigungsmöglichkeiten in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, das heißt mit
Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Die Drehtüreffekte, die wir aus der Vergangenheit kennen, wollen
wir vermeiden. Deshalb sollen keine Arbeitslosenversicherungbeiträge gezahlt werden. Die öffentliche Beschäftigung für diesen Personenkreis muss alternativlos
sein. Voraussetzung ist also, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt
eröffnet haben. Nur dann setzen wir das neue Instrument
an.
Die Entscheidung darüber, wer zu diesem Personenkreis gehört, soll der Fallmanager vor Ort treffen. Es
geht uns um Personen, die nach realistischer Erwartung
innerhalb der nächsten 24 Monate keine Chance auf dem
regulären Arbeitsmarkt haben und schon zwölf Monate
arbeitslos waren. Für diejenigen, die wirklich draußen
vor der Tür sind, bauen wir also eine Jobperspektive auf.
({12})
Bei Handwerkern, in Betrieben, in Integrationsunternehmen, also in einem vielfältigen Umfeld, werden diese
Beschäftigungsmöglichkeiten gefunden werden, seien
es Hausmeistertätigkeiten, seien es Reinigungsarbeiten
oder sei es eine Teilefertigung, so wie sie in vielen Integrationsbetrieben schon heute möglich ist. Aber es gibt
auch gewerbliche Unternehmen, die aufgrund einer nicht
interessanten Marktausgangssituation Tätigkeiten nicht
anbieten, und auch da können für den genannten Personenkreis Jobs organisiert werden.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich denke an Wäschehol- und -bringdienste, an Einkaufsdienste für ältere Mitbürger, die ohne diesen Service beispielsweise in solchen Regionen, wo keine öffentliche Nahversorgung mehr gegeben ist, ins Heim
müssten. Es gibt auch im sozialen Umfeld viele Betätigungsfelder, wo Arbeit geleistet werden kann.
Insgesamt gesehen - lassen Sie mich das deutlich sagen - geht es uns darum, durch eine ausreichende Finanzierung im Bundeshaushalt und natürlich auch durch
Unterstützung der Kommunen, die ja letztlich entlastet
werden, sicherzustellen, dass den Arbeitslosen bessere
Chancen geboten werden, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. 100 000 Menschen soll die Perspektive
eröffnet werden, in einem regulären Job arbeiten zu können. Das ist unser Ziel. Das werden wir auch erreichen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Möglicherweise bin ich missverstanden worden: Die
Zeit für die Aktuelle Stunde sollte nicht auf diese Debatte übertragen werden. Das sage ich an die Adresse all
derjenigen, die noch beabsichtigen, ihre Redezeit zu
überziehen.
Der nächste Redner ist der Kollege Dirk Niebel für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist völlig in Ordnung und lässt sich überhaupt
nicht vermeiden, dass Menschen Fehler machen. Das
darf man Menschen auch nicht übel nehmen. Was man
Menschen übel nehmen muss, ist, wenn sie aus den vorausgegangenen Fehlern nicht lernen und sie immer wieder machen. Genau das passiert heute mit diesem Gesetzgebungsvorhaben.
({0})
Die Bundesregierung bzw. die sie tragenden Fraktionen legen hier zwei neue Gesetzentwürfe zu Einstellungs- bzw. Lohnkostenzuschüssen und zur Unterstützung des zweiten Arbeitsmarktes vor: zwei weitere zu all
den vielen, die wir schon heute haben. Noch bevor sie
abschließend beraten sind, kommt der Bundesarbeitsund -sozialminister mit einem weiteren Blumenstrauß in
Form des Kommunalkombi für die Verschönerung des
Dschungels arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Das
nützt nicht den Menschen, das kostet nur das Geld, das
Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu zahlen haben, und
führt deswegen in die Irre.
({1})
Am 11. November 2005 - der 11.11. ist ja schon allgemein ein bemerkenswertes Datum, aber dieser ganz
besonders - haben die CDU, die CSU und die SPD einen
Koalitionsvertrag unterschrieben. Ich zitiere aus diesem
Vertrag:
Die Vielzahl unterschiedlicher Förder-Instrumente
ist für die Menschen kaum noch überschaubar. Vieles deutet darauf hin, dass einzelne Maßnahmen
und die damit verbundenen teilweise umfangreichen Mittel der Arbeitslosenversicherung zielgenauer, sparsamer und effizienter eingesetzt werden
können.
({2})
CDU, CSU und SPD werden daher alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf den Prüfstand
stellen. Das, was sich als wirksam erweist und zur
Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit oder zu
Beschäftigung führt, wird fortgesetzt. Das, was unwirksam und ineffizient ist, wird abgeschafft. Diese
Überprüfung soll bis Ende kommenden Jahres
- das war 2006 abgeschlossen sein.
({3})
Sie haben das völlig richtig festgestellt: eine Vielzahl
unterschiedlichster arbeitsmarktpolitischer Instrumente.
Derzeit gibt es einen Zuschuss für Jüngere, einen Zuschuss für Vermittlungsgehemmte, einen Zuschuss für
Langzeitarbeitslose, es gibt die Initiative „50 plus“, es
wird den Kommunalkombi geben.
({4})
Es gibt einen Blumenstrauß von Dingen, die im Endeffekt nichts anderes bewirken, als das Geld anderer Leute,
nämlich der Versicherten und Steuerzahler, herauszuschmeißen, ohne für die Betroffenen eine Integration im
ersten Arbeitsmarkt zu organisieren.
({5})
Ihre Bundesregierung - da schaue ich Herrn Brandner
an; denn es war die rot-grüne Bundesregierung - hat einen Evaluierungsbericht in Auftrag gegeben, der von
der jetzigen Bundesregierung, der schwarz-roten, vor
über einem Jahr in Empfang genommen worden ist und
seitdem in den Schubladen liegt. In diesem sogenannten
Evaluierungsbericht steht, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente den Betroffenen weitgehend nicht nur
nicht helfen, sondern ihnen auch noch schaden, weil sie
stigmatisiert werden.
({6})
Diejenigen, die in diesen Maßnahmen vermeintlich gefördert werden sollen, verharren in der Arbeitslosigkeit,
wohingegen diejenigen, die nicht in den Genuss der Förderung gekommen sind, sich schon im nächsten Beschäftigungsverhältnis befinden. Das muss Ihnen doch
einmal die Augen öffnen. Hören Sie doch endlich auf
mit Ihrer Arbeitsverweigerung und setzen Sie Ihren eigenen Evaluierungsbericht um.
Entzerren Sie die arbeitsmarktpolitischen Instrumente!
({7})
Fördern Sie das, was zu einer Integration in den Arbeitsmarkt führt! Unterstützen Sie die Menschen, meinetwegen durch Garantie eines Mindesteinkommens, ohne
dämliche Diskussionen über Mindestlöhne zu führen!
Wenn die Frau Präsidentin zur Kenntnis nehmen
würde, dass mir eine Zwischenfrage gestellt werden soll,
würde ich diese auch glatt entgegennehmen.
({8})
Herr Niebel, ich wollte Sie nicht unterbrechen, weil
Sie so in Fahrt waren. Jetzt tue ich das aber gerne.
Möchten Sie denn die Zwischenfrage des Kollegen Weiß
zulassen?
Sehr gerne, sofern Sie die Uhr anhalten, die im Moment noch weiterläuft.
Das mache ich dann auch noch.
Herr Kollege Niebel, haben wir hier im Plenum eben
richtig gehört, dass Sie das Wort „stigmatisieren“ verwandt haben? Wollten Sie nicht eher „entstigmatisieren“
sagen? Bei dem Programm Jobperspektive geht es nämlich um die Gruppe von Menschen, denen zum Beispiel
wegen psychischer Krankheit, Suchtkrankheit oder anderer Beschwernisse derzeit von Arbeitgebern oder Arbeitsvermittlern gesagt wird: Eigentlich können wir euch
nicht gebrauchen. - Diese Menschen sind stigmatisiert.
Jetzt schaffen wir endlich für diesen Personenkreis,
der übrigens auf 100 000 Personen beschränkt ist - das
ist angesichts von 3,6 Millionen Arbeitslosen eine geringe Zahl -, ein Programm, mit dem wir diese Menschen von ihrer Stigmatisierung befreien wollen. Wir
wollen sie entstigmatisieren und ihnen sagen: Auch ihr
habt ein Recht und die Chance, Arbeit zu finden, und wir
helfen euch dabei.
Ich bitte Sie, Ihre Wortwahl zu ändern, also nicht von
Stigmatisierung, sondern von Entstigmatisierung zu reden; denn um Letzteres geht es.
({0})
Herr Kollege Weiß, Sie haben völlig richtig gehört: Ich
habe davon gesprochen, dass die Masse der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die im Evaluierungsbericht der
Bundesregierung - nicht der bösen Opposition - bewertet
wurden, die Arbeitslosen stigmatisiert. Gemäß diesem Bericht führen die Maßnahmen nämlich nicht zu einer Integration in den Arbeitsmarkt, zu einem Herauslösen aus
der Arbeitslosigkeit, sondern zu einer dauerhaften Verfestigung der hohen Sockelarbeitslosigkeit. Die Tatsache,
dass ein Bewerber an diesen Maßnahmen teilgenommen
hat, erweckt bei den Arbeitgebern, die diese Menschen
einstellen sollen, das Gefühl: Bei dem stimmt doch etwas
nicht; denn er ist von einer Maßnahme in die nächste geschickt worden.
Diese Stigmatisierung durch Ihre gutgemeinte Arbeitsmarktpolitik, die zu keinem guten Ergebnis führt,
müssen wir verhindern, wenn wir Menschen dauerhaft
helfen wollen. Deswegen sage ich: Ja, Ihre Politik stigmatisiert und grenzt aus, Ihre Politik führt zu Freiheitsberaubung;
({0})
denn Arbeitslosigkeit in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist Freiheitsberaubung, weil Teilnahmechancen
eingeschränkt werden. Deswegen brauchen wir eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik, bei der der Mensch im
Mittelpunkt steht.
({1})
Nichtsdestotrotz danke ich Ihnen herzlich für Ihre
Nachfrage.
Ich möchte gerne einen weiteren Punkt herausstellen,
der mir wichtig ist: Es stimmt natürlich, dass viele Bundesländer ihrem Bildungsauftrag nicht nachgekommen
sind. Deswegen ist die FDP der Überzeugung, dass es
notwendig ist, diesen jungen Menschen einen besseren
Einstieg zu ermöglichen. Wir werden uns bei der Abstimmung über diese Vorlage allerdings der Stimme
enthalten, weil das nicht die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist. Wenn die Bundesländer ihrem Bildungsauftrag nicht ausreichend nachkommen, ist es eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
junge Menschen Einstiegsmöglichkeiten erhalten. Es ist
falsch, wieder einmal, wie hier geplant, neue Verschiebebahnhöfe zu errichten, zulasten der Arbeitslosenversicherung, also zulasten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die sie zu finanzieren haben.
Ich möchte eines deutlich sagen: Sie wollten das eigentlich auch nicht. Ich zitiere aus der letzten Rede des
Kollegen Göhner vom gestrigen Tage:
Wir wollen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung senken, versicherungsfremde Leistungen in
Nürnberg durch Steuern finanzieren … Das Gegenteil dieser richtigen Strategie wäre, Beiträge aus der
Kasse in Nürnberg in den Bundeshaushalt umzulenken - und das auch noch mit der Begründung, eindeutig versicherungsfremde Leistungen durch lohnbezogene Beiträge finanzieren zu wollen.
Der Kollege Göhner hat völlig Recht. Es ist schade,
dass mit dem Weggang des Kollegen Göhner aus diesem
Parlament ein großer Teil des wirtschaftspolitischen
Sachverstandes der Unionsfraktion verloren geht.
({2})
Wir werden versuchen, das von liberaler Seite auszugleichen und dafür zu sorgen, dass der Bundesfinanzminister seine Hamsterbacken nicht mit den Geldern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer füllt, sondern dass
er seinen Haushalt in Ordnung bringt. Das wird in der
nächsten Zeit unsere Aufgabe sein. Darüber werden wir
in der Sommerpause und danach hier in diesem Hause
diskutieren.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt spricht unser ehemaliger Kollege Karl-Josef
Laumann, der Minister für Arbeit in Nordrhein-Westfalen, für den Bundesrat.
({0})
Karl-Josef Laumann, Minister ({1}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages! Wir alle wissen, dass
die Situation am Arbeitsmarkt so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr ist. Der Aufschwung der Wirtschaft und
des Arbeitsmarktes schreitet voran. Die gute konjunkturelle Entwicklung schafft - wir sehen das an den Arbeitsmarktzahlen - zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Wir alle sollten uns freuen,
dass beim Abbau der Arbeitslosigkeit vor allen Dingen
die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wächst.
In den vielen Jahren, in denen ich hier im Bundestag arbeitsmarktpolitische Reden gehalten habe, hatten wir eigentlich immer einen Abbau der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze zu verzeichnen. Jetzt werden
sie einfach wieder mehr, und das ist gut so.
({2})
Ich glaube, dass zu dieser Entwicklung sehr viele
Menschen in Deutschland beigetragen haben. Das war
nicht nur eine Leistung der Wirtschaft. Das war vor allen
Dingen auch eine Leistung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die über viele Jahre mit sehr maßvollen
Lohnabschlüssen und mit einer Erhöhung der Arbeitszeit
wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen haben.
({3})
Ich finde es schön, dass wir heute eine arbeitsmarktpolitische Debatte führen können, während bei der Bundesagentur für Arbeit 460 000 offene Stellen gemeldet
sind, die besetzt werden können. Wir haben hier ein erhebliches Potenzial, Menschen in Arbeit zu bringen.
Wir haben auf dem deutschen Arbeitsmarkt aber auch
ein großes strukturelles Problem: Das ist das Thema der
Langzeitarbeitslosigkeit. Rund 2,5 Millionen der registrierten Arbeitslosen sind im SGB II. Das Thema Arbeitsmarktpolitik spielt sich im SGB II ab, nicht mehr im
SGB III. 68 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland
sind nicht mehr in der Arbeitslosenversicherung, sondern sind in einem steuerfinanzierten Grundsicherungssystem, das wir SGB II nennen. Im Übrigen ist es
deswegen gar keine so tolle Leistung, dass die Bundesagentur für Arbeit andauernd die Beiträge senken kann;
sie hat nicht einmal mehr ein Drittel der Arbeitslosen zu
verwalten und zu finanzieren. Auch das ist die Wahrheit.
({4})
Der Rest ist eine allein steuerfinanzierte Angelegenheit,
sowohl was die Arbeitsmarktpolitik angeht wie auch was
Minister Karl-Josef Laumann ({5})
die Unterhaltssicherung für die betroffenen Menschen
angeht.
Das Ausmaß dieser Entwicklung sieht man daran,
dass in Deutschland so viele im SGB II sind. Jeder, der
sich mit Arbeitsmarktpolitik in der Administration beschäftigt, weiß, dass es eine starke Tendenz dazu gibt,
dass sich Langzeitarbeitslosigkeit insbesondere bei Menschen, die mehrere Vermittlungshemmnisse haben,
zementiert. Deswegen glaube ich, dass es eines unternehmensnahen Integrationsansatzes in der Arbeitsmarktpolitik bedarf.
Warum ist das so? Wir haben uns damals, als wir die
Hartz-Gesetze gemacht haben, nun einmal entschieden,
dass wir Menschen, die drei Stunden täglich erwerbsfähig sein können, unter den allgemeinen Bedingungen
des Arbeitsmarktes für arbeitsfähig erklären. Dies ist
- das ist nachweisbar - in vielen europäischen Ländern
anders. Die Niederlande haben gut 7 Prozent der Menschen in der Erwerbsunfähigkeit, die Engländer rund
7 Prozent, die Dänen 7 Prozent und bei den über 55-Jährigen sogar 13 Prozent. Wir haben in Deutschland ganze
4 Prozent der Menschen, die im erwerbsfähigen Alter
sind, in der sogenannten Erwerbsunfähigkeitsrente.
Wenn man das Ausmaß der Arbeitslosigkeit in einer
Gesellschaft ermitteln will, dann muss man nach meiner
Meinung die Quote der Erwerbsunfähigkeit plus die
Quote der Menschen, die in einer Grundsicherung sind,
plus die Quote der Menschen, die arbeitslos sind, eigentlich zusammenzählen.
({6})
Sonst kommt man zu keinem fairen Vergleich. Wenn
man das tut, dann sieht der Arbeitsmarkt in Deutschland
übrigens gar nicht so viel anders aus wie etwa der Arbeitsmarkt in Holland oder in England. Das ist die Wahrheit; das sehen Sie, wenn Sie die drei genannten Faktoren in diesen Ländern zusammenzählen.
({7})
Ich sage ganz offen: Ich halte die Grenze mit den drei
Stunden Erwerbsfähigkeit pro Tag für problematisch,
weil wir in der Rentenversicherung in der Frage, ob jemand eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommt, immer
noch die konkrete Betrachtungsweise haben.
({8})
Das heißt, dass nicht nur die Frage, ob jemand drei Stunden arbeiten kann, entscheidend dafür ist, ob er eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommt, sondern gleichzeitig
bedacht wird, ob mit seiner Behinderung eine reelle und
reale Vermittlungschance besteht. Mittlerweile werden
in Deutschland über zwei Drittel der Erwerbsunfähigkeitsrenten aufgrund der konkreten Betrachtungsweise
entschieden. Diese Möglichkeit gibt es im SGB II aber
nicht. Deswegen gibt es einige Arbeitslose, die nach dem
SGB II gefördert werden und von den Argen bzw. den
Optionskommunen betreut werden, für die gilt: Die
Konjunktur kann laufen, wie sie will, sie haben keine reelle Chance, in den regulären ersten Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden.
Ich verdeutliche das an einem Beispiel, Herr Kollege
Niebel. Eltern, die ein behindertes Kind haben, das nach
der Schule in eine Behindertenwerkstatt geht, machen
sich große Sorgen um ihr Kind und fragen sich, was aus
ihrem Kind wird, wenn sie einmal nicht mehr da sind.
Dieses Kind hat aber die Möglichkeit, in einer Behindertenwerkstatt an der Arbeit teilzuhaben, es hat einen
strukturierten Tagesablauf. Die Behindertenwerkstatt ist
eine sichere Institution. Die Eltern können sich darauf
verlassen, dass ihr Kind über die Werkstatt abgesichert
ist, wenn sie nicht mehr leben.
Hast du aber ein Kind, das lernbehindert ist - es ist
nun einmal so, dass Lernbehinderung häufig mit einer
groben Motorik verbunden ist -, das einerseits „zu gut“
für die Behindertenwerkstatt ist, das andererseits aber
keine Chance hat, einen Arbeitsplatz zu finden, dann
hast du ein drückendes Problem. Ein solcher Mensch hat
keinen Grund, morgens aufzustehen; ihn will schließlich
niemand haben. Man muss sich doch nicht wundern,
wenn er dann in die Drogenszene oder ähnliche Szenen
abgleitet.
({9})
Ich bin natürlich immer wieder gern im Bundestag;
das gebe ich zu. Heute bin ich aber besonders gern nach
Berlin gekommen, weil ich mich riesig darüber freue,
dass wir in der Arbeitsmarktpolitik bald ein Instrument
haben, mit dem wir für diese Menschen eine Perspektive
schaffen können.
({10})
In Nordrhein-Westfalen haben wir ein Kombimodell für
genau diese Gruppe aufgelegt. Wir haben 1 500 Kombiarbeitslohnplätze geschaffen. Die Wahrheit ist aber, dass
diese Arbeitsplätze schwer einzurichten sind, weil sie
aufgrund der zurzeit geltenden rechtlichen Grundlagen
bestenfalls für die Dauer von zwei Jahren gefördert werden können.
Herr Laumann, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel zulassen?
Karl-Josef Laumann, Minister ({0}):
Gerne.
Bitte schön.
Herr Minister, lieber Karl-Josef, würdest du mir zustimmen, dass die Förderung des Kindes, das du gerade
beschrieben hast - wir wollen es genauso fördern -, eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, weil dieses Kind
niemals in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat?
Würdest du mir zustimmen, dass die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die falsche Finanzierungsgrundlage sind? Würdest du bitte zur Kenntnis
nehmen, dass sich die FDP bei der Abstimmung über
diesen Antrag enthält, weil das eine Aufgabe ist, die über
Steuern zu finanzieren ist? Wir haben inhaltlich keine
andere Überzeugung. Die Frage ist, wer das zu zahlen
hat. Wir wollen die Beiträge senken. Das habt ihr im Übrigen in eurem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir
wollen dafür sorgen, dass Arbeit billiger wird und dass
gesamtgesellschaftliche Aufgaben auch von der gesamten Gesellschaft finanziert werden.
({0})
Karl-Josef Laumann, Minister ({1}):
Verehrter Kollege Niebel, lieber Dirk, ich will dir nur
sagen: Genau das tun wir. Das Programm zur Förderung
der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen mit schweren Vermittlungshemmnissen wird über Steuern finanziert; denn das ist Teil des SGB II und hat nichts mit der
Arbeitslosenversicherung zu tun.
({2})
Wir reden ausschließlich über ein Programm, das über
das SGB II geregelt wird und damit zu 100 Prozent über
Steuern finanziert wird. Die Arbeitslosenversicherung
hat damit nichts zu tun. Das ist die Wahrheit. Deswegen
können Sie sich jetzt hinsetzen und dem Gesetz zustimmen.
({3})
Sie möchten keine zweite Frage zulassen?
Karl-Josef Laumann, Minister ({0}):
Nein, ich habe es ja erklärt.
({1})
- Ich rede aber jetzt über das Gesetz zur Vermittlung von
Langzeitarbeitslosen. Der Bereich, den ich angesprochen
habe, ist ausschließlich steuerfinanziert.
({2})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Arbeitsplätze bekommen werden. Ich freue mich darüber, weil
damit ein weiterer Punkt - das ist ganz wichtig - verbunden ist: So gut ich persönlich Behindertenwerkstätten
finde, auf der anderen Seite bedeuten sie genau das Gegenteil von Integration von Behinderten in den Arbeitsmarkt.
({3})
Denn es sind Sondereinrichtungen. Wir können doch
nicht einen großen Teil der Menschen, die Handicaps haben und in dieser modernen Welt nun einmal nicht so gut
klarkommen, in Sondereinrichtungen schicken.
({4})
Deswegen ist es richtig, zu sagen: Wir versuchen,
diese Menschen in ein ganz normales Arbeitsverhältnis
zu bringen. Das Wichtige daran ist ja nicht nur das Geldverdienen, sondern wichtig ist auch, einen strukturierten
Tagesablauf und einen Grund zu haben, morgens aufzustehen. Wichtig ist auch, dass man Arbeitskolleginnen
und Arbeitskollegen hat, die mitten in der Gesellschaft
stehen. Wenn man dann einmal im Dorf oder der Stadt,
wo man lebt, zu einem Fest geht, kennt man dort Arbeitskollegen, mit denen man zusammenstehen und sich
unterhalten kann. Darum geht es doch auch in diesem
Menschenleben und nicht nur darum, dass man ausgegliedert ist.
({5})
Deswegen bin ich froh, dass es durch die Änderungsanträge der Union und der SPD möglich geworden ist,
was das Arbeitsministerium - ich meine das in Berlin,
nicht das in Düsseldorf - leider am Anfang nicht vorgeschlagen hatte, nämlich dass diese Arbeitsplätze nicht
ausschließlich bei der öffentlichen Hand und bei den
Wohlfahrtsverbänden entstehen sollen. Denn das wäre
falsch. Diese Arbeitsplätze müssen auch in ganz normalen Betrieben entstehen.
({6})
Wenn man sich eine Schule für Lernbehinderte ansieht,
stellt man fest: Nicht jeder Mensch ist für einen Sozialberuf geboren. Es gibt auch Menschen, die mit ihren
Händen einmal richtig etwas anpacken müssen. Deswegen brauchen wir diese Arbeitsplätze schlicht und ergreifend auch in der regulären Wirtschaft.
({7})
Ich möchte, dass wir auf Grundlage dieses Gesetzes
demnächst als Arge oder als Optionskommune zu einem
mittelständischen überschaubaren Unternehmen sagen
können: Wenn du denjenigen einstellst und ihm pro
Stunde 3 Euro zahlst, dann geben wir 3 Euro, oder
2,50 Euro oder 4 Euro dazu. Dieser Mensch arbeitet
dann zum Beispiel in einer Schreinerei und räumt da auf.
Dann hat er normale Arbeitskollegen. Ich werde ihnen
voraussagen, dass dieser Mensch nach einiger Zeit auch
dabei sein wird, wenn an einer Maschine etwas gemacht
werden muss. Irgendwann wird ein Kollege fehlen, dann
kommt er mit auf den Bau, wo die Fenster eingesetzt
werden müssen. Ich sage Ihnen: Es wird Menschen geben, die werden nach einigen Jahren sogar Fenster einsetzen können. Denn ich bin ganz fest davon überzeugt,
dass es Menschen gibt, die die Welt nicht theoretisch begreifen, sondern praktisch und über die Hände.
({8})
Deswegen finde ich, dass wir das so machen sollten.
Minister Karl-Josef Laumann ({9})
Jetzt sagt die PDS, dass das alles viel zu wenig sei.
Was seien denn 100 000 Jobs?
({10})
Eines habe ich in den letzten Jahren in der Arbeitspolitik
gelernt: Man sollte im Zusammenhang mit so großen
Zahlen bescheiden sein. Das große Problem von Peter
Hartz ist ja nicht, dass er jetzt vorbestraft ist.
({11})
- Ich finde es schon ein bisschen problematisch, dass ein
Sozialgesetz in Deutschland, das für so viele Menschen
Bedeutung hat, nach einem Vorbestraften benannt worden ist.
({12})
Das Problem von Peter Hartz ist vor allen Dingen,
dass er immer sofort von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen gesprochen hat, wenn er eine Maßnahme beschrieben hat. Meine Erfahrung als Arbeitsmarktpolitiker ist, dass man viele Instrumente braucht, mit denen
man immer nur Teile erreicht. Wenn wir uns im Bund
vorgenommen haben, bis zum Ende der Wahlperiode
Hunderttausend solcher Jobs zu schaffen, dann bedeutet
das für Nordrhein-Westfalen, dass wir etwa 20 000
schaffen müssen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir
diese 20 000 vernünftig hinbekommen wollen, dann haben wir genug zu tun. Denn diese Jobs liegen nicht auf
der Straße. Dabei muss eine Menge Überzeugungsarbeit
geleistet werden.
({13})
Ich möchte gerne einen zweiten Punkt ansprechen.
Ich finde, die Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen sollten einmal über den 1-Euro-Job nachdenken.
Der 1-Euro-Job ist ein gutes Instrument, um zu testen, ob
ein Mensch dem Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung
steht. Der 1-Euro-Job, so wie ich ihn in Nordrhein-Westfalen wahrnehme - wir haben 56 000 -, ist in der Regel
ein Angebot der Argen und der Optionskommunen an
Menschen, die unbedingt eine Arbeit haben wollen. Sie
nehmen dann zum Beispiel eine Stelle in einer Pflegeeinrichtung an und haben die Hoffnung, dass sie, wenn
sie sich gut verhalten, dortbleiben können. In Wahrheit
steht am ersten Arbeitstag schon fest, dass sie nicht bleiben können.
({14})
Jetzt sagen die Träger: Wieso soll ich denn Kombilöhne machen, wenn ihr mir diese guten 1-Euro-Jobber
schickt und mir auch noch Geld gebt, damit ich sie überhaupt nehme? Damit kann kein Kombilohn konkurrieren, bei dem wir einen gewissen Beitrag der Arbeitgeberseite erwarten.
({15})
Jetzt nenne ich Ihnen einen weiteren Punkt. Man
muss auch die Würde des Menschen beachten.
Da zum Menschen auch die Würde der Arbeit gehört,
verstehe ich eine gerechte Gesellschaft so, dass Arbeit
auch etwas wert sein muss.
({16})
Deswegen ist die im Kombilohnmodell vorgesehene
Regelung, dass ein Teil des Lohnes auf jeden Fall vom
Arbeitgeber gezahlt werden muss, richtig.
({17})
Das hat mit der Wertschätzung der Arbeit zu tun.
Unsere Lösung sieht vor, dass die Förderung bis zu
75 Prozent ausmachen darf und über die Leistungsfähigkeit immer individuell entschieden werden kann. Ich
finde, dass wir mit dieser Regelung ein ganz gutes
Instrument geschaffen haben. Für einen Teil der Menschen haben wir gemeinsam dafür gesorgt, dass nicht
mehr allein die wirtschaftliche Entwicklung darüber entscheidet, ob sie am Arbeitsleben teilhaben. Ich denke,
wir werden es schaffen, sie in den ersten Arbeitsmarkt
zu integrieren.
Ich sage auch: Wenn in Kürze die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vorliegt - der Landkreistag
möchte, dass die Frage der Argen und der Optionskommunen geprüft wird -, müssen wir uns mit der Verwaltung des SGB II beschäftigen.
({18})
Es ist eine Zunahme der Zahl der Klagen zu verzeichnen. Bei Widersprüchen beträgt die Bearbeitungszeit
vier Monate. In 30 Prozent der Fälle bekommen die
Menschen mit ihren Klagen voll oder teilweise recht.
Eine Behörde, die Bescheide erlässt, die zu 30 Prozent
einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten, hat ein
Problem.
({19})
Dieses Problem dürfen wir nicht ignorieren. Wenn wir es
ignorieren, helfen wir damit nur der Linkspartei, aber auf
keinen Fall den betroffenen Menschen.
({20})
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Ich sage uns voraus: Wir werden, was das SGB II angeht, nie Ruhe bekommen, wenn wir nicht für die Menschen, die gut verdient und Steuern und Beiträge gezahlt haben, höhere
Vermögensfreigrenzen für die Alterssicherung einführen.
({21})
Dass man diesen Menschen bis auf einen Freibetrag bis
zu 16 000 Euro - das entspricht einer Monatsrente von
80 Euro - alles wegnimmt, das ist und bleibt eine Ungerechtigkeit. Die Anträge, die die Union damals gestellt
Minister Karl-Josef Laumann ({22})
hat, zielten in eine andere Richtung. Jetzt sollten wir die
Chance nutzen, dies zu revidieren.
Schönen Dank.
({23})
Jetzt hat Katja Kipping das Wort für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da die
CDU/CSU die durchaus berechtigte Kritik von Herrn
Laumann an den Hartz-Gesetzen beklatscht hat,
({0})
frage ich mich, warum Sie nicht dazu beitragen, die
Hartz-Gesetze rückgängig zu machen, sondern sich im
Gegenteil sogar an ihrer Verschärfung beteiligen.
({1})
Sie erinnern sich sicherlich noch an eine Debatte, die
wir in diesem Haus Ende März dieses Jahres über einen
Antrag der Linksfraktion geführt haben.
({2})
Darin ging es um innovative Arbeitsmarktprojekte. Der
CDU-Redner Herr Rauen verteufelte die öffentlich geförderte Beschäftigung damals als Neuauflage der
ABM-Maßnahmen,
({3})
die - so der Redner der CDU - in Zeiten des Aufschwungs nicht notwendig seien.
({4})
Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass Sie die Lage
jetzt etwas anders einschätzen. Inzwischen sind wir uns
einig: Der Aufschwung kann die Situation der Langzeiterwerbslosen nicht wesentlich verbessern. Daraus folgt:
Gezielte öffentlich geförderte Beschäftigung ist dringend notwendig.
({5})
So weit sind wir uns einig.
Bei der konkreten Ausgestaltung trennen sich unsere
Wege jedoch:
Erstens. Sie wollen nur 100 000 Stellen schaffen.
Unser Antrag hingegen zielt auf die Schaffung von
500 000 Stellen.
({6})
Zweitens. Ihr Modell sieht keine Arbeitslosenversicherung vor. Das heißt, wenn die Förderung ausläuft,
fallen die Leute automatisch in den Bezug von Hartz IV
zurück. Wir meinen jedoch, auch öffentlich geförderte
Beschäftigung muss sozialversicherungspflichtig sein.
({7})
Drittens. Das Modell von CDU/CSU und SPD sieht
keinen Mindestlohn vor. Da der Zuschuss begrenzt ist,
ist zu befürchten, dass vor allem Jobs zu Hungerlöhnen
geschaffen werden. Die Linke hingegen meint: Auch bei
öffentlich geförderter Beschäftigung muss ein Mindestlohn von wenigstens 8 Euro pro Stunde gezahlt werden.
({8})
Die Koalition setzt bei der Vermittlung auf Zwang
und Sanktionen. Ich meine dagegen, eine erfolgreiche
Vermittlung und Beratung sollte dem Prinzip der Freiwilligkeit folgen und durch gegenseitigen Respekt von
Fallmanager und Erwerbslosem geprägt sein. Alle neuen
Instrumente, auch die, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf
vorschlagen, sind sanktionierbar. Das heißt, wer ein solches Angebot ablehnt, dem wird automatisch der Regelsatz gekürzt, in 30-Prozent-Schritten.
Es kann aber gute Gründe dafür geben, mal ein Angebot abzulehnen: Stellen Sie sich beispielsweise vor, ein
Langzeiterwerbsloser, der sich ehrenamtlich in einem
Projekt engagiert, das für ihn sehr sinnvoll ist, bekommt
ausgerechnet in dem Moment, wo das Projekt in seiner
arbeitsintensivsten Phase ist und er fest eingebunden ist,
eine Stelle angeboten. Eine Stelle, die gar nicht seinen
Fähigkeiten entspricht, zum Beispiel dass er mit einer
speziellen Mütze versehen jeden Tag mehrere Stunden
durch die Stadt laufen soll, damit ihn Touristen ansprechen und nach dem Weg fragen können - was im günstigsten Fall zwei Mal die Woche passiert. Ein weiteres
Beispiel: Stellen Sie sich vor, es wird eine Stelle bei
einem örtlichen Schützenverein geschaffen, um Schützenfeste vorzubereiten, und derjenige, der diese Stelle
angeboten bekommt, ist aber überzeugter Pazifist. Das
sind nur zwei Beispiele, die zeigen: Die Repressionen,
die Sie eingeführt haben, müssen weg.
({9})
Ich fasse zusammen: Wir freuen uns, dass sich auch
CDU/CSU und SPD endlich dem Thema der öffentlich
geförderten Beschäftigung zuwenden. Wir können aber
Ihren Gesetzentwürfen nicht zustimmen.
({10})
Wir streiten nämlich für öffentlich geförderte Beschäftigung, die erstens sozialversicherungspflichtig ist, die
zweitens dem Prinzip der Freiwilligkeit folgt und die
drittens an einen Mindestlohn gekoppelt ist.
({11})
Den jungen Menschen, die verzweifelt einen Ausbildungsplatz suchen, ist mit den QualifizierungsangeboKatja Kipping
ten, die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen sind, nicht
geholfen.
({12})
Vielmehr muss endlich eine Ausbildungsplatzabgabe
eingeführt werden.
({13})
Es geht doch nicht an, dass sich ausgerechnet die großen
Unternehmen vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, auszubilden, drücken. Deswegen fordern wir Sie
auf: Wenn Sie dieses Problem wirklich angehen wollen,
beteiligen Sie sich mit uns daran, eine Ausbildungsplatzabgabe einzuführen! Das hilft den jungen Menschen, die
verzweifelt einen Ausbildungsplatz suchen.
Besten Dank.
({14})
Jetzt spricht Brigitte Pothmer von Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Laumann, ich weiß nicht, ob wir es jetzt mit einem Problem Ihres Kurzzeitgedächtnisses zu tun haben. Aber soweit ich informiert bin, waren Sie doch derjenige, der die
Bedingungen für das SGB II verhandelt hat, nächtelang
dagesessen hat und sich insbesondere in der Frage der
Altersvorsorge stur gestellt hat.
({0})
Aber so ist das wohl mit den Gedächtnisleistungen von
Politikern; das soll ja häufiger vorkommen.
({1})
Herr Niebel, ich würde gerne ein paar Sätze an Sie
richten. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit ein Problem ist, das
inzwischen seit ungefähr 30 Jahren, also auch zu Zeiten
Ihrer Regierungsverantwortung, gewachsen ist.
({2})
Nach jedem Konjunkturaufschwung haben wir
({3})
mehr Langzeitarbeitslosigkeit gehabt als vorher.
({4})
Deswegen - das will ich hier ganz deutlich sagen - bin
ich froh, dass die Koalition jetzt den Weg frei macht für
einen sozialen Arbeitsmarkt. Das begrüßen wir ausdrücklich, weil damit die Anerkennung der Tatsache verbunden ist, dass es eben eine Gruppe von Arbeitslosen
gibt, die unter den gegebenen Bedingungen kaum eine
Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Herr
Brandner, ich weiß, dass da viel Überzeugungsarbeit geleistet werden musste, nicht nur in der Fraktion der
CDU/CSU, sondern auch bei Ihren Leuten, sogar bei Ihrem Minister. Sie haben es nicht leicht gehabt, und ich
erkenne Ihre Arbeit durchaus an.
Aber ich muss Ihnen sagen: Die Ausgestaltung des
Projektes ist Ihnen leider nicht gut gelungen.
({5})
Sie sagen, Sie haben in der Anhörung Zustimmung erfahren. Die Zustimmung bezog sich auf die Tatsache,
dass ein sozialer Arbeitsmarkt eingerichtet worden ist.
Das Programm als solches ist, wenn Sie ehrlich sind, eigentlich zerrissen worden.
({6})
Es gab die Kritik, dass dieses Programm unflexibel ist.
({7})
Die Förderhöchstgrenze von 75 Prozent ist in einzelnen Fällen einfach ein Fehler. Der Qualifizierungszuschuss ist bei weitem zu starr.
Ich komme zur Finanzierung. Warum in Gottes Namen haben Sie nicht die Möglichkeit eröffnet, aktive und
passive Leistungen gegenseitig deckungsfähig zu machen?
({8})
Das ist das Instrument, das wir in der Arbeitsmarktpolitik wirklich brauchen.
({9})
Jetzt soll es aus dem Integrationsbudget gefördert werden. Ich habe im Haushaltsentwurf nachgesehen; zusätzliche Mittel sind dafür nicht eingestellt. Jetzt versuchen
Sie folgenden Trick: Sie sagen, es seien 6,4 Milliarden
Euro eingestellt, und versprechen uns im Ausschuss,
dass für 1 Milliarde Euro - so wie im Jahr 2007 - kein
Sperrvermerk daraufgelegt werden soll. Ihr Motto ist:
Feiern Sie uns bitte dafür, dass wir Ihnen etwas wiedergeben, was wir Ihnen vorher weggenommen haben. Für
wie blöd halten Sie uns eigentlich?
({10})
Diese Feier machen wir nicht mit.
({11})
Der wirkliche arbeitsmarktpolitische Sündenfall ist
aber, dass Sie im Nachhinein noch die jungen Menschen
unter 25 Jahren in dieses Programm hineingenommen
haben. Damit haben Sie das Ziel, jungen Leuten über
Qualifizierung und Ausbildung eine wirkliche Perspektive zu geben, endgültig aufgegeben.
Ich will noch etwas zum Qualifizierungszuschuss
sagen, den Sie hier so feiern. Dieser Qualifizierungszuschuss hat mit Qualifizierung leider herzlich wenig zu
tun.
({12})
Er ist nichts anderes als ein Lohnkostenzuschuss, der die
Leute in einen geförderten Arbeitsmarkt bringt - und
zwar ohne eine wirkliche Qualifizierung und damit auch
ohne eine wirkliche Perspektive. Sehenden Auges werden diese jungen Leute zu einem Teil der Hochrisikogruppe des deutschen Arbeitsmarktes, der Ungelernten,
gemacht. Ungelernte - das wissen Sie genauso gut wie
ich - haben um rund ein Drittel schlechtere Chancen auf
dem ersten Arbeitsmarkt. Diese Politik bietet den jungen
Leuten überhaupt keine Perspektive. Zwei Drittel aller
ALG-II-Empfänger in diesem Alter haben keine Ausbildung. Daran ändern Sie mit diesem Programm rein gar
nichts!
({13})
Wir reden in Deutschland über den Fachkräftemangel, und Sie sagen zur Zuwanderung: „Njet“. Wenn Sie
keine Zuwanderung wollen, müssten Sie doch wenigstens in Qualifizierung investieren. Wenn Sie aber beides
nicht machen, laufen Sie Gefahr, den Konjunkturaufschwung abzubremsen. Das bringt keine Perspektiven,
auch nicht für die Ungelernten.
({14})
Insgesamt vermisse ich in der Arbeitsmarktpolitik
eine schlüssige Strategie und ein schlüssiges Konzept.
Ich finde es nicht richtig, dass Sie das Geld, das aufgrund des Aufschwungs jetzt zusätzlich zur Verfügung
steht, von einem Sonderprogramm ins nächste bewegen und es damit für überflüssige Arbeitgeberzuschüsse
ausgeben. Dahinter steht kein Plan, das hat keine Perspektive. Mein Eindruck ist, dass alle Beteiligten dieser
Großen Koalition sich einen Skalp an ihren Gürtel hängen wollen und hängen müssen. Das führt dazu, dass es
eine Flut von Gesetzesvorlagen gibt, die dann von den
Beschäftigten in den Arbeitsagenturen umgesetzt werden sollen und ausgebadet werden müssen.
Allein in diesen beiden Gesetzentwürfen, die Sie
heute vorgelegt haben, sind - konservativ gezählt - vier
neue Instrumente vorhanden. Zwei neue Instrumente
sind schon wieder in der Pipeline: der Azubizuschuss
und der Kommunalkombi. Sie hatten sich - da hat Herr
Niebel an einer Stelle einmal recht - selbst einmal auf
die Fahnen geschrieben, die Anzahl dieser Instrumente
zu reduzieren. Derzeit machen Sie das genaue Gegenteil.
Strukturelle Reformen wären besser als ein solcher
Kombilohn-Wirrwarr. Die OECD hatte Deutschland ins
Stammbuch geschrieben, dass wir die Sozialabgaben
insbesondere für die unteren Lohngruppen unbedingt reduzieren müssen. Wir haben Ihnen dafür mit dem Progressivmodell einen guten Vorschlag unterbreitet. Zeitweise hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass Sie hier ein
bisschen begriffen haben; denn bei Ihnen ist das Bofinger/
Walwei-Modell ja auch einmal diskutiert worden. Davon
hört man jetzt leider gar nichts mehr.
Ich finde, Sie verpassen die Chance, die ein Aufschwung bietet, nämlich strukturelle Reformen voranzutreiben. Ich fürchte, dass die Situation der Gruppen, für
die wir jetzt strukturell handeln müssten, also für die Migrantinnen und Migranten, für die Jugendlichen und für
die Langzeitarbeitslosen, nach dem Aufschwung so ist
wie vorher auch, weil Sie eben nicht darangegangen
sind, zum Beispiel das duale Ausbildungssystem zu
reformieren. Das duale Ausbildungssystem ist inzwischen ein Nadelöhr, durch das alle aussortiert werden,
die etwas leistungsschwächer sind. Deswegen müssen
wir strukturell etwas daran ändern.
({15})
Wir müssen nicht die Vielzahl der Instrumente der
Arbeitsmarktpolitik erhöhen, sondern wir müssen unbedingt den dezentralen Spielraum erweitern. Wir müssen
es ermöglichen, dass vor Ort entschieden werden kann.
({16})
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wir müssen die Haushalte des Bundes und der Bundesagentur konsequenter voneinander trennen.
Herr Laumann, nach dem, was Sie hier vorgetragen
haben, würde es mich einmal interessieren, was Sie zu
der Absicht des Bundesfinanzministers sagen, dort jetzt
noch einmal 5 Milliarden Euro als Raubritter abzukassieren.
({17})
Ich sage es einmal so: Sie haben hier doch gerade vorgetragen, dass die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und somit
auch steuerfinanziert werden soll. Wenn der Finanzminister jetzt noch einmal 5 Milliarden Euro abgreift, dann
ist das doch genau das Gegenteil dessen, was Sie hier
vorgeschlagen haben.
({18})
Dann hätten wir uns die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe doch ersparen können.
({19})
Der Finanzminister stellt sich hin und sagt: I love
Cash. - Ich glaube, er meint: I love Crash.
({20})
Er fährt hier doch einen Crashkurs. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Sie sich hierüber einmal auseinandersetzen würden.
({21})
Ich prophezeie Ihnen: Wenn diese gute Konjunktur
eine Pause einlegt - und sie wird eine Pause einlegen -,
dann werden Sie sich an den Kopf fassen und feststellen,
dass Sie strukturell nichts verbessert haben und dass die
neuen Probleme die alten Probleme sind.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich will Ihnen sagen: Wenn Frau Merkel und Herr
Müntefering zu Tisch rufen, dann sind die Teller für die
leer, die wir hier heute in den Fokus gestellt haben.
({0})
Einmal chancenlos, immer chancenlos. Mit Ihren heutigen Beschlüssen beheben Sie die Ausgrenzung der Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen nicht wirklich.
Deswegen stimmen wir auch dagegen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Jetzt hat der Kollege Franz Thönnes für die Bundesregierung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
So ist das im Leben: Die einen wollen immer mehr, die
anderen wollen es ganz anders. Dann gibt es auch noch
welche, die glauben, dass der Markt das alles ganz alleine richtet. Das ist nicht so.
({0})
Es geht darum, etwas zu tun.
Wir reden hier über Chancen. Es geht um die Chancen der Menschen, die bislang aus strukturellen Gründen
nicht am Aufschwung teilhaben. Es geht darum, diesen
jetzt Chancen zu verschaffen.
({1})
Das tun wir mit beiden Gesetzentwürfen, bei deren
Erstellung wir uns auf die guten Ergebnisse der Arbeitsgruppe in der Koalition konzentriert haben. Wir wollen
Chancen für Menschen schaffen, die bislang kaum die
Möglichkeit hatten, in Arbeit zu kommen oder eine Ausbildung zu erhalten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, zu
sagen, dass die jungen Menschen hier im Mittelpunkt
stehen, die seit langem arbeitslos sind und bei denen es
besondere Vermittlungshemmnisse gibt, zum Beispiel
ein fehlender Schulabschluss, eine fehlende Berufsausbildung oder gesundheitliche Probleme.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind jetzt
gut. Wir können uns darüber freuen, dass es knapp
600 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs gibt.
Die Zahl der Arbeitslosen ist um gut 700 000 zurückgegangen. Wir wissen aber ganz genau, dass davon überwiegend die profitiert haben, die ganz gute Voraussetzungen haben. Jetzt ist es sozialpolitisch geboten, sich
um diejenigen zu kümmern und denen zu helfen, bei denen das nicht so ist.
Wir freuen uns darüber, dass die Beschäftigungsschwelle sinkt. Schon jetzt geht die Arbeitslosigkeit bei
einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent merklich
zurück. Das war früher erst bei 2 Prozent bis 2,5 Prozent
der Fall. Ich glaube, das ist ein klarer Erfolg der von der
Vorgängerregierung und auch dieser Regierung durchgeführten Arbeitsmarktreformen, die vielen Menschen
nützen. Weil sie aber noch nicht allen Betroffenen zugutekommen, geht es für uns jetzt darum, uns um die
Schwächeren zu kümmern und ihnen Chancen zu verschaffen.
({2})
Die jüngeren Arbeitslosen profitieren von der guten
Arbeitsmarktentwicklung. Die Zahl der Arbeitslosen
unter 25 Jahren ist im Vergleich zum Vorjahresmonat
um ein Viertel - genauer gesagt um 25,2 Prozent - zurückgegangen. Das ist der niedrigste Stand, der seit der
Wiedervereinigung in einem Juni erreicht wurde, und
gleichzeitig auch der stärkste Rückgang. Darüber darf
man sich freuen. Das spornt an und macht Mut.
366 000 Menschen profitieren aber noch nicht von dieser Entwicklung. Gerade weil manche von ihnen länger
ohne Beschäftigung sind, wollen wir auch diesen Menschen helfen. Wir wollen versuchen, ihnen mit Arbeitgeberzuschüssen Perspektiven zu bieten, um sie zu qualifizieren und in Beschäftigung zu bringen.
Der Eingliederungszuschuss, der 25 Prozent bis
50 Prozent des Bruttolohns bis maximal 1 000 Euro beträgt, soll Jugendliche unter 25 Jahren, die eine Ausbildung abgeschlossen, dann aber lange arbeitslos waren,
wieder in Arbeit bringen. Dabei geht es auch um Qualifizierung. Insofern sollte niemand so tun, als würde das
außer Acht gelassen. Es geht uns darum, jungen Menschen eine Basis für ihr späteres Arbeitsleben zu bieten.
Diesem Ziel dient der Qualifizierungszuschuss, der
sich an Jugendliche ohne Ausbildung und Ausbildungsplatz richtet, die bisher keinen Weg in den Beruf gefunden haben. Damit wird ihnen eine Chance zur Ausbildung und zu einem beruflichen Abschluss gegeben.
Wichtig ist aber zunächst einmal, in Beschäftigung
zu kommen und - das wurde schon angesprochen - das
Alltagsleben im Betrieb zu erfahren, Kolleginnen und
Kollegen zu haben und Anerkennung und Selbstbestätigung zu bekommen. Deswegen wird der Qualifizierungszuschuss in Höhe von 50 Prozent des Bruttolohns
gezahlt. Mit der im Ausschuss vereinbarten Änderung
wird klar, dass mindestens 15 Prozent des Zuschusses
- gerne auch mehr - für die Qualifizierung verwendet
werden müssen. Beide Zuschüsse sind Ermessensleistungen und bis Ende 2010 befristet.
Aus meiner Sicht ist es gut, den jungen Menschen
eine Chance zu bieten. Wenn es mit der ersten Chance
nicht klappt, sollten sie auch eine zweite oder gegebenenfalls eine dritte Chance erhalten. Das Geld ist gut investiert in die Zukunft dieses Landes und der Kinder.
({3})
Des Weiteren gibt es die EQJ, die Einstiegsqualifizierung. Auch bei diesem sehr erfolgreichen Instrument
wird für die kommenden drei Jahre sichergestellt, dass
es funktioniert. Die Zahl der geförderten Plätze konnte
von anfangs 25 000 auf jetzt 40 000 erhöht werden. Darüber sind wir sehr froh. Die guten Eingliederungswerte
machen deutlich, dass fast 63 Prozent der jungen Menschen, die mithilfe dieses Instruments Zugang zu Arbeit
gefunden haben, später eine Berufsausbildung angeboten wurde. Deswegen ist es gut, dass die EQJ jetzt zur
Regelleistung wird. Das kommt gerade jungen Menschen mit eingeschränkten Vermittlungsperspektiven zugute.
({4})
Darüber hinaus werden die Möglichkeiten der
Berufsorientierungsmaßnahmen verbessert. Wichtig
ist, dass die neuen gesetzlichen Regelungen bis zum
1. Oktober in Kraft treten. Wenn die jungen Menschen
die Schule verlassen und das neue Ausbildungsjahr beginnt, sollen sie eine Brücke in eine Berufsausbildung
und ins Arbeitsleben vorfinden. Sie sollen nicht länger
vor einer verschlossenen Tür stehen und gesagt bekommen, sie sollten im Wartezimmer warten, irgendwann
kämen sie auch dran. Das ist in einem Sozialstaat nicht
zulässig. Hier müssen Brücken gebaut und es muss geholfen werden. Dazu tragen die vorgesehenen Regelungen bei.
({5})
Es geht aber nicht nur um die jungen Menschen, sondern auch darum, die Sockelarbeitslosigkeit abzubauen.
Wir alle kennen die volkswirtschaftliche Bauernregel:
„Die Konjunktur hat Berg und Tal, der Sockel steigt mit
jedem Mal.“ Diese Regel gilt nicht mehr. Jetzt sinkt der
Sockel. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist um
17,1 Prozent zurückgegangen. Aber auch hier erreicht
der Aufschwung nicht alle.
Deswegen wollen wir mit dem zweiten Gesetzentwurf, den wir in diesem Zusammenhang beraten, einen
Beschäftigungszuschuss einführen. Auch damit setzen
wir einen Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe um.
Wir werden - das ist neu in der Arbeitsmarktpolitik den Zuschuss nach einer ersten Förderphase von 24 Monaten unbefristet gewähren. Bis 2009 sollen damit
100 000 Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse kommen. Ausgenommen ist nur die
Versicherungspflicht zur Arbeitslosenversicherung, weil
wir keine Drehtüreffekte herbeiführen wollen. Ich betone aber ausdrücklich, dass die Renten-, Pflege- und
Krankenversicherung in die Regelung einbezogen sind.
Tun Sie nicht so, als wären es keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse!
({6})
Die Entscheidung über eine Förderung treffen die
Fallmanager vor Ort. Sie tragen große Verantwortung,
aber sie kennen sich am besten aus. Inzwischen haben
wir es mit Betreuungsquoten von 1:180 zu tun. Das hat
sich deutlich verbessert. Früher gab es Betreuungsquoten von 1:400 oder 1:500. Die Fallmanager wissen inzwischen genau, wie man helfen muss und wer welche
Leistungen beanspruchen kann.
Wir wollen nicht, dass die Menschen aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Wir wollen Möglichkeiten der Integration. Deswegen kann der
Beschäftigungszuschuss bis zu 75 Prozent des Arbeitsentgeltes betragen. Wir wollen darüber hinaus flankieren
und helfen. Begleitende Qualifizierung und stabilisierende Maßnahmen wie die Schuldner- und Suchtberatung oder psychosoziale Betreuung sind möglich und
notwendig. In Einzelfällen kann den Arbeitgebern ein
besonderer Aufwand erstattet werden.
Wir wollen, dass der Aufschwung alle erreicht. Wir
wollen alle mitnehmen. Ich möchte die Gesamtkonzeption einmal darlegen, damit deutlich wird, dass man
nicht mit einer Maßnahme die sich aus den differenzierten Strukturen der Arbeitslosigkeit ergebenden Fragen
beantworten kann. Es wird notwendig sein, dass Menschen, bei denen besondere Vermittlungshemmnisse vorliegen und die ohne Arbeit und Ausbildung sind, eine
vernünftige Chance bekommen. Es gibt nun 100 000 Arbeitsplätze für Menschen mit Vermittlungshemmnissen.
Hinzu kommt der Kommunalkombi, der helfen soll, Arbeitsplätze in den Kommunen zu schaffen. Damit soll es
zusätzlich für 100 000 Menschen Chancen geben.
Wenn man alles zusammennimmt, was wir für die
jungen Menschen tun, bei denen erhebliche Vermittlungsschwierigkeiten bestehen, dann stellt man fest, dass
wir für diesen Personenkreis vieles getan haben und tun.
Da sind 40 000 Einstiegsqualifizierungsmöglichkeiten,
eine Erhöhung um 15 000. Nicht vergessen werden dürfen die 7 500 zusätzlichen Ausbildungsplätze für junge
Menschen, die erhebliche Defizite haben und unter sozialer Benachteiligung leiden. Die Arbeitgeber haben
sich zudem verpflichtet, 60 000 neue Ausbildungsplätze
pro Jahr anzubieten. Zudem sollen Jahr für Jahr
30 000 neue Ausbildungsbetriebe geworben werden.
Auch das wird das Ausbildungsplatzangebot steigern.
Schließlich kommen 4 000 zusätzliche Chancen für
Menschen mit Behinderung aus der Initiative „job4000“.
Das alles sind hervorragende Möglichkeiten, die während des Aufschwungs von allen genutzt werden müssen: von den Arbeitsagenturen, den öffentlichen Trägern,
den Arbeitgebern und den gemeinnützigen Organisationen. Hinzu kommt die Möglichkeit - das darf nicht vergessen werden -, das Programm „Beschäftigungspakte
für Ältere in den Regionen“ im Rahmen des Bundesprogramms „Perspektive 50plus“ zu verlängern. Die guten
Erfahrungen, die wir in den 62 Modellregionen gemacht
haben - dafür sind 250 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt worden -, zeigen uns klar und deutlich: Es ist
wieder Platz für die Älteren. Die Steigerung von gut
38 Prozent im Jahr 2000 auf knapp 50 Prozent im Jahr
2006 bei der Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen
zeigt, dass es geht, wenn wir wollen. Aber wir müssen
wollen; darauf kommt es an.
Meine große Bitte an dieser Stelle lautet daher: Arbeiten Sie alle mit, und schaffen Sie heute die rechtlichen
Voraussetzungen! So nehmen wir die sozialstaatliche
Verantwortung für die Menschen im Land und für die
Zukunft der deutschen Wirtschaft wahr.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Jörg Rohde spricht jetzt für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt so viele Kritikpunkte, dass man gar nicht weiß,
wo man anfangen soll.
({0})
Herr Brandner, für Jugendliche mit Ausbildung gibt es
einen Eingliederungszuschuss; das haben Sie eben ausgeführt. Glauben Sie nicht, dass es auch Fälle geben
wird, in denen dieser Zuschuss abgerufen wird, obwohl
dies vielleicht gar nicht notwendig ist? Wir befürchten
hier Mitnahmeeffekte.
Herr Laumann, das Programm für die Jugendlichen
wird über die Arbeitslosenversicherung finanziert. Das
kritisieren wir. Deswegen werden wir den Änderungen
des SGB III nicht zustimmen. Sie haben es einfach
falsch dargestellt.
({1})
- Nein, das glaube ich nicht.
Manchmal frage ich mich allen Ernstes, welchen
Zweck Anhörungen im Ausschuss noch haben, wenn
die dort geäußerten Anregungen der Sachverständigen
völlig ignoriert werden. Wie wäre die Kritik erst ausgefallen, wenn die Experten Ihre Änderungsanträge gesehen hätten?
Wir sprechen heute über Arbeitsmarktgesetze. Zum
Arbeitsmarkt gehören Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Manchmal brauchen wir dazwischen noch eine dritte Instanz, eine Arbeitsvermittlung, die Brücken zwischen
diesen beiden Seiten baut. Der Brückenbau klappt aber
nur, wenn beide Brückenköpfe auf das gleiche Ziel ausgerichtet sind. Deshalb frage ich Sie heute, meine Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Rot, welches Ziel Sie
hier verfolgen. Haben Sie am vergangenen Montag den
Ausführungen der Arbeitgeber und der Wissenschaftler
zugehört? Haben Sie die Kritik berücksichtigt? Ich
denke, nein. Sie haben die Warnung der Wissenschaft ignoriert und verzichten auf jede Zusammenarbeit mit den
Arbeitgebern.
({2})
Die Leidtragenden dieses Verweigerungsverhaltens
werden ausgerechnet die Arbeitsuchenden sein, die Sie
mit Ihrem Arbeitsmarktprogramm unterstützen wollen.
Das ist das Schlimmste an Ihrer Dickköpfigkeit. In der
Anhörung haben alle Sachverständigen unisono darauf
hingewiesen, dass die Zielgruppe der Fördermaßnahmen klipp und klar definiert sein muss. Die jetzige, sehr
weit gefasste Definition der Zielgruppen wird dazu führen, dass viele Arbeitslose, die dem ersten Arbeitsmarkt
schon sehr nahe sind, mit den Maßnahmen in den zweiten Arbeitsmarkt gedrängt und stigmatisiert werden.
({3})
Herr Weiß, wir bleiben bei unserer Formulierung: Ein
Arbeitsplatz im zweiten Arbeitsmarkt ist ein Stigma.
({4})
Gleichzeitig droht die Gefahr, dass die, die tatsächlich
erst grundlegend auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet
werden müssten, von der ersten Gruppe verdrängt werden und durch das Raster fallen. Das können wir auch
nicht wollen. Mit Ihrem Änderungsantrag, der eine Förderung auch über 24 Monate hinaus ermöglichen soll,
haben Sie diesen Konstruktionsfehler noch verschlimmbessert. Die langen ABM-Karrieren vergangener Zeiten
haben Sie, meine Damen und Herren von Schwarz und
Rot, anscheinend schon vergessen.
({5})
In diesem Zusammenhang sollten wir noch einmal
über das Thema Entlohnung sprechen. Warum verzerren Sie den gesamten Arbeitsmarkt Geringqualifizierter,
indem Sie die Entlohnung der Maßnahmenteilnehmer
um jeden Preis an tariflichen Löhnen festmachen? Es
geht doch um Menschen, deren Produktivität und Belastbarkeit weit unter den Mindestanforderungen des ersten
Arbeitsmarktes liegen. Ist Ihnen bewusst, dass Sie damit
regulär beschäftigten Geringqualifizierten, die unter Tarif arbeiten, jede Motivation für einen Verbleib in regulärer Beschäftigung nehmen, wenn der geförderte Kollege
nebenan deutlich mehr verdient? Vor allem Sie von CDU
und CSU, die Sie so erfolgreich Münteferings Mindestlohn verhindert haben,
({6})
führen ihn jetzt für einzelne Gruppen durch die Hintertür
ein. Nennen Sie das glaubwürdig?
({7})
Die FDP lehnt einen Mindestlohn ab, spricht sich aber
für ein Mindesteinkommen aus. Wer arbeitet, muss besser leben können als andere, die nicht arbeiten. Das ist
eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Herr
Laumann, Sie haben eben das Beispiel eines lernbehin11286
derten Jugendlichen vorgestellt. Wir wollen, dass dieser
Jugendliche eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
bekommt. Das geht nur, wenn der Lohn in einem angemessenen Verhältnis zur Produktivität steht.
({8})
Wenn der Arbeitslohn nicht reicht, dann muss die Differenz mit einem Zuschuss aus Steuermitteln ausgeglichen
werden, am besten direkt an den Arbeitnehmer. Lesen
Sie doch einmal das Bürgergeldmodell der FDP nach.
({9})
Wir haben bereits sehr gute Vorschläge eingebracht.
({10})
Die Beitragsmittel aus der Arbeitslosenversicherung
oder unwirtschaftliche Lohnvorgaben für die Arbeitgeber sind die falsche Quelle für solche Differenzen zu einem Mindesteinkommen.
Was in den Gesetzentwürfen schon in der Zielsetzung
falsch angelegt ist, wird sich in der Ausführung der Gesetze fortsetzen. Ich möchte das zu erwartende Chaos in
den Arbeitsagenturen, Argen und Kommunen gar nicht
näher beschreiben,
({11})
komme aber nicht ganz darum herum. Die normalen
Kunden im Jobcenter und in den Arbeitsvermittlungen
werden darunter leiden, dass die Jobvermittler eine weitere aufwendige Bürokratie zunächst aufbauen und später verwalten müssen.
({12})
Ich prophezeie Ihnen: Die für die nicht geförderten Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen zur Verfügung stehende Beratungszeit, die dringend notwendig ist, um
diese in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, wird abnehmen. Völlig unklar ist auch, wie viel Geld eigentlich
schlussendlich für die tatsächliche Förderung der Arbeitsplätze zur Verfügung steht; denn für die zusätzlichen Kosten, die durch das Coaching der Arbeitsuchenden entstehen, werden keine zusätzlichen Mittel
bereitgestellt. Sie müssen aus dem Eingliederungstopf
finanziert werden.
Wir Liberale wollen den guten Willen hinter den
heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfen nicht
schlechtreden. Wir sind uns einig, dass es Arbeitslose
gibt, die ohne vielfältige zusätzliche Förderung nicht in
den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können. Wir
Liberale glauben aber, dass die Gesetze, die wir hier und
heute beraten, dies nicht oder nur sehr eingeschränkt
leisten können. Wir befürchten Mitnahmeeffekte, ein
dauerhaftes Einmauern der Geförderten im zweiten Arbeitsmarkt und ein Verfehlen der eigentlichen Zielgruppe. Deshalb lehnen wir das Gesetz zum SGB II ab
und enthalten uns beim SGB III.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundeswirtschaftsminister hat eine Regierungserklärung abgegeben. Er hat ausgeführt, dass die Wirtschaft unter Volldampf steht und Deutschland wieder die
Wachstumslokomotive in Europa ist. Ich finde, Michael
Glos hat recht. Die wirtschaftliche Dynamik in unserem Land hat sich wieder verstärkt. Wir sind heute nicht
mehr alleine auf die Weltwirtschaft angewiesen, sondern
die deutsche Wirtschaft hat wieder aus sich heraus Tritt
gefasst. Da frage ich Sie: Wer hätte das noch vor einem
Jahr für möglich gehalten?
Viel entscheidender ist die Tatsache, dass der wirtschaftliche Aufschwung endlich auch den Arbeitsmarkt
erreicht hat. Wir haben uns schon fast daran gewöhnt,
dass jeden Monat bessere Zahlen von der Bundesagentur
in Nürnberg präsentiert werden. Das heißt doch aber
ausdrücklich, dass dieser Aufschwung endlich bei den
Menschen ankommt. Ich finde, wir sollten uns mit denjenigen 800 000 Menschen freuen, die letztes Jahr noch
arbeitslos waren und dieses Jahr wieder eine Stelle gefunden haben.
({0})
Es besteht nach langer Zeit für viele Menschen wieder
die berechtigte Hoffnung, dauerhaft eine selbstbestimmte
berufliche Perspektive zu haben. Das zeigt, dass die
Große Koalition mit ihrer Wirtschaftspolitik und ihrer
Arbeitsmarktpolitik auf dem richtigen Weg ist.
Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs, trotz dieser
besseren Entwicklung am Arbeitsmarkt bleibt es notwendig, für bestimmte Gruppen von beschäftigungslosen Menschen etwas zu tun. Dies gilt insbesondere für
diejenigen, deren Arbeitsmarktchancen durch diese positive Konjunkturlage nicht verbessert wurden, bei denen
der volle Einsatz des Instrumentenkastens der Bundesagentur nicht dazu führt, dass sie besser oder überhaupt
in den Arbeitsmarkt integriert werden können, bei denen
also nur die Alternative bleibt, auf staatliche Fürsorge
angewiesen und sich selbst überlassen zu sein. Eine andere Alternative ist, eine Lösung zu suchen, damit auch
diese Arbeitslosen wieder am Erwerbsleben teilhaben
können. Genau um diese Gruppe geht es hier.
({1})
Die Bundesagentur für Arbeit beziffert diese Personengruppe auf circa 400 000 Menschen. Sie haben verschiedene Vermittlungshemmnisse, also ganz unterschiedliche Probleme - sei es, dass sie noch nie oder
schon lange nicht mehr gearbeitet haben; sei es, dass sie
gesundheitliche Beeinträchtigungen haben oder eine berufliche Qualifikation fehlt. Dies alles sind Gründe, die
die Annahme einer Arbeitsstelle außerordentlich erStefan Müller ({2})
schweren. Genau für diese Personengruppe ist der Kombilohn, den wir heute beschließen wollen, gedacht.
Herr Niebel, Sie haben im Ausschuss ausgeführt, dass
die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - das habe die Evaluationsstudie zu Hartz I bis Hartz III ergeben - nicht erfolgreich gewesen seien. Da haben Sie ausdrücklich
recht. Das steht dort so geschrieben. Nur, liebe Kollegen
von der FDP, der von uns geplante Kombilohn hat mit
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen überhaupt nichts zu
tun.
({3})
Es geht hier um einen eng begrenzten Personenkreis. Es
geht nicht darum, ein flächendeckendes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu organisieren. Es geht auch nicht
- auch das ist klar geworden - um eine 100-prozentige
Finanzierung. Eine ABM-Maßnahme zeichnet sich aber
durch all das aus. Darum geht es hier nicht, sondern darum, denjenigen Menschen, die ich gerade beschrieben
habe, eine Chance zu geben.
({4})
Nun können Sie ja - das halte ich für vertretbar - eine
andere Auffassung dazu haben. Sie können sagen, dass
Sie das für ordnungspolitisch falsch halten; da haben wir
eine unterschiedliche Auffassung. Aber selbst wenn dies
ordnungspolitisch falsch wäre, ist es sozialpolitisch richtig, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, am Erwerbsleben teilzuhaben.
({5})
Deswegen ist unser Vorhaben richtig, und deswegen
werden wir es auch umsetzen.
({6})
Herr Kollege Rohde, bemerkenswerterweise sind Sie
in Ihrer ersten Rede zu diesem Thema sehr viel differenzierter an die Sache herangegangen.
({7})
Da standen Sie ja auch noch nicht unter der Beobachtung
von Herrn Kolb und Herrn Niebel. Sie sind zwar sehr
vielversprechend gestartet, sind aber leider Gottes sehr
enttäuschend gelandet. Es ist schade für die betroffenen
Menschen, dass Sie sich der Zustimmung zu dieser Maßnahme tatsächlich entziehen.
Noch ein Wort zur Reduzierung der Zahl der Arbeitsmarktinstrumente. Seien Sie ganz beruhigt, Herr Niebel
und Frau Pothmer, wir werden dazu im Herbst einen
Vorschlag unterbreiten und eine eventuell bestehende
Unübersichtlichkeit, die Sie kritisieren, beheben.
({8})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde
zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön.
Lieber Kollege Müller, lieber Stefan,
({0})
ich bin wirklich sehr konstruktiv-kritisch mit diesem Gesetzentwurf umgegangen. Das habt ihr zur Kenntnis genommen. Aber würdet ihr - und speziell du - auch zur
Kenntnis nehmen, dass die Änderungsanträge, die erst
nach der Expertenanhörung eingebracht wurden und
über die wir im Ausschuss diskutiert haben, eine Verschlimmbesserung des Gesetzentwurfes darstellen, sodass wir ihm selbst bei gutem Willen, den wir unterstellen und den auch wir haben, nicht mehr zustimmen
können?
Ich hätte dafür Verständnis, wenn ich nicht den Eindruck gewonnen hätte, dass das Abstimmungsverhalten
der FDP schon vorher festgelegt worden ist.
({0})
Da ich diesen Eindruck aber habe, Herr Kollege, kann
ich Ihnen leider nicht zustimmen. Ich komme später auf
Sie zurück. Vielleicht haben Sie dann noch einmal das
Bedürfnis, eine Zwischenfrage zu stellen.
Genauso schade finde ich, dass die Grünen diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen. Auf Seite 13 Ihres neuen Papiers „Grüne Marktwirtschaft“ - ich habe es
mir besorgt - erkennen Sie die Notwendigkeit eines
sozialen Arbeitsmarkts ausdrücklich an - ich zitiere -:
Daneben brauchen wir aber auch Angebote für diejenigen, die trotz Unterstützung auf unabsehbare
Zeit nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar
sein werden. …
Mit dem, was Sie da beschreiben, haben Sie recht. Ich
wiederhole: Ich finde es schade, dass Sie diesem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen können.
({1})
- Es wäre Ihnen unbenommen gewesen, noch Änderungsanträge zu stellen.
({2})
Stefan Müller ({3})
Auch das haben Sie nicht getan. Also gilt für Sie im
Zweifel das Gleiche, was für die FDP gilt: Das Abstimmungsverhalten war schon vorher festgelegt. Streuen Sie
den Leuten doch keinen Sand in die Augen, und erwecken Sie nicht den Eindruck, als hätten Sie bei der ersten
Lesung noch nicht gewusst, wie Sie sich hier bei der
zweiten und bei der dritten Lesung sowie bei der Abstimmung tatsächlich verhalten!
({4})
Wir werden mit der Verabschiedung des zweiten Gesetzentwurfs, den wir heute zur Abstimmung stellen, die
Beschäftigungsperspektiven für jüngere Menschen
verbessern. Zunächst einmal kann man - das hat der
Herr Staatssekretär gerade getan - auch dort eine außerordentlich erfreuliche Entwicklung feststellen. Die Arbeitslosigkeit unter 25-Jähriger ist von Juni 2006 bis
Juni 2007 um über 123 000 zurückgegangen; das entspricht circa 30 Prozent.
Diese Zahlen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch über 360 000 junge Menschen
unter 25 Jahren keine Arbeit haben. Das sind immer
noch eindeutig zu viele. Es gibt in diesem Bereich deshalb dringenden Handlungsbedarf. Wir können es uns
nicht leisten, den jungen Menschen am Anfang ihres Berufslebens das Gefühl zu geben, nicht gebraucht zu werden. Wir dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, dass die
Politik sich nicht um sie kümmert. Genau deswegen
werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen
wichtigen, einen entscheidenden Schritt zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit machen.
({5})
Das Hauptproblem vieler junger Arbeitsloser ist tatsächlich die mangelnde Qualifizierung. Mangelnde
Qualifizierung führt langfristig auch zu einer verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit. Es ist sehr schwer und bedarf großer finanzieller Anstrengungen, sie zu überwinden. Wir schaffen mit dem Qualifizierungszuschuss für
Jugendliche ohne Berufsausbildung eine Perspektive,
eine Beschäftigung aufzunehmen. Das Gleiche gilt für
arbeitslose Jugendliche mit Berufsabschluss, denen ein
entsprechender Eingliederungszuschuss zusteht. Wir
greifen damit auf vorhandene Instrumente zurück. Beide
Instrumente - Qualifizierungszuschuss und Eingliederungszuschuss - dienen ausschließlich dazu, jungen Arbeitslosen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Frau Pothmer, auch das Sammeln von Berufserfahrung dient letztlich dazu, die Beschäftigungsperspektive,
mittel- und langfristig gesehen, zu verändern. Es ist immer noch besser, einen jungen Menschen in eine
Beschäftigung zu bringen, als ihn arbeitslos auf der
Straße stehen zu lassen. Ich bitte Sie, das einfach anzuerkennen.
({6})
Bei alledem dürfen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass es nicht nur um diejenigen geht, die heute
schon arbeitslos sind. Eigentlich muss es uns ja auch um
diejenigen gehen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie
morgen oder übermorgen arbeitslos werden, sei es, weil
sie keinen Schulabschluss haben, sei es, weil die Ausbildungsreife - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - noch
nicht gegeben ist. Es geht uns also auch darum, dort anzusetzen, wo Hilfe noch rechtzeitig erfolgen kann, nämlich beim Übergang von der Schule ins Berufsleben.
Dieser Übergang ist doch der entscheidende Zeitpunkt,
zu dem man Defizite Jugendlicher ausgleichen kann
oder zu dem man dafür sorgen kann, dass Defizite gar
nicht erst entstehen.
Dazu haben wir zwei Maßnahmen vorgeschlagen.
Erstens sind das die Fortschreibung des EQJ-Programms und seine Übernahme in das Arbeitsförderungsrecht. Dieses Programm soll insbesondere jungen
Menschen ermöglichen, Zugang zu einem Ausbildungsplatz zu erhalten. Die Begleitstudien zum EQJ-Programm sind außerordentlich vielversprechend: Nahezu
70 Prozent derer, die an diesem Programm teilnehmen,
können eine Ausbildung aufnehmen.
Zweitens geht es darum, die vertiefte Berufsorientierung zu erweitern. Insbesondere die Kollegen von der
FDP haben hier Kritik an der damit verbundenen Verwendung von Beitragsmitteln geübt.
Es hilft uns ja nichts, wenn wir heute diese Maßnahme nicht vornehmen und sie später dann doch auf
Kosten der Beitragzahler weitergebildet werden müssen
oder Fürsorgeleistungen bekommen. Ich glaube, dass
wir in der Arbeitsmarktpolitik einen entscheidenden
Fehler machen: Wir kümmern uns um das Kind erst
dann, wenn es in den Brunnen gefallen ist.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Wichtiger und richtiger wäre es, sich dann um die jungen
Menschen zu kümmern, bevor sie in den Brunnen fallen,
also rechtzeitig dafür zu sorgen, dass die Ausgangssituation vor Eintritt in die Berufsausbildung, vor Abschluss
der Schule verbessert wird.
({0})
Herr Kollege!
Herr Kollege Rohde, ich habe Ihnen versprochen,
noch einmal auf Sie zuzukommen. Als Bürger meines
Wahlkreises müssten Sie wissen, dass wir in Erlangen
ein vielversprechendes Projekt haben, das durch Mittel
der Bundesagentur unterstützt wird. Ich lade Sie ein,
mich bei den Gesprächen im kommenden Jahr zu begleiten.
Herr Kollege!
Ich bin davon überzeugt, dass auch mit Mitteln der
Bundesagentur Gutes getan werden kann.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Katrin Kunert für Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Gäste! Ständige Korrekturen an den HartzGesetzen und das Auflegen zahlreicher Sonderprogramme sind ein klares Zeugnis für ein fehlendes
Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
({0})
Was Sie anbieten, ist ein Flickenteppich. Herr Niebel,
in der Einschätzung der Maßnahmen der Bundesregierung sind wir sicherlich ganz dicht beieinander. Sie reden davon, dass es das Geld der anderen ist, wir sagen,
es sind eingezahlte Beiträge. Sie betreiben damit eine
Spaltung zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen in diesem Land, und das werden wir nicht unterstützen.
({1})
In den Bundesländern herrschen völlig unterschiedliche Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt kaum
Konzepte, die auf regionale Besonderheiten eingehen.
So gibt es Menschen in diesem Land, die bessere Chancen für den Einstieg ins Arbeitsleben haben, und es gibt
Menschen, die mit Hartz IV an den Rand der Gesellschaft gestellt werden, weil sie unter anderem in einer
strukturschwachen Region leben.
Die Linke macht ein Angebot zur öffentlich geförderten Beschäftigung, die in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin unter Rot-Rot bereits praktiziert
wurde und wird. Was in den Ländern geht, muss auch
auf Bundesebene möglich sein. Deshalb fordern wir die
Bundesregierung auf:
Erstens. Schaffung der rechtlichen Grundlagen für
dauerhaft öffentlich geförderte Beschäftigung.
Zweitens. Bereitstellung der erforderlichen Haushaltsmittel mit Mindestlohnniveau.
Drittens. Verteilung der Haushaltsmittel einsprechend
einer Quote gemessen an der Anzahl der Langzeitarbeitslosen.
({2})
Zielgruppe dieser öffentlich geförderten Beschäftigung sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen
und Menschen in Regionen mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit. Wenn sich Beschäftigungspolitik
auf diese Schwerpunkte konzentriert und Beschäftigungs- und Strukturpolitik miteinander verzahnt werden,
dann kann das soziale Ungleichgewicht zwischen den
Menschen und zwischen den Regionen entschärft werden. Regionale Verantwortung durch öffentlich geförderte Beschäftigung kann ein Mehr an Demokratie bedeuten.
Die Ankündigung des Arbeitsministers, einen kommunalen Kombilohn einzuführen, halten wir für populistisch und sehr unseriös, populistisch, weil plakativ
Hoffnungen geweckt werden, und unseriös, weil die geforderte Gegenfinanzierung weder durch die Kommunen
noch durch die Träger möglich ist und weil ein möglicher Arbeitnehmer mit Familie und einem Lohn von
1 000 Euro nicht automatisch aus der Bedürftigkeit fällt.
({3})
Trotz sprudelnder Gewerbesteuereinnahmen haben
44 Prozent der Landkreise keinen ausgeglichenen Haushalt. Die Regionen, die seit Jahren eine Arbeitslosigkeit
von über 15 Prozent aufweisen, haben ein Wirtschaftsstrukturproblem. Das löst man nicht mit einem kommunalen Kombilohn. Die Kommunen können auch nicht
die Probleme für den Bund lösen. Zweifelhaft ist auch,
ob die angekündigten Einsparungen bei den Kommunen
wirklich eintreten. Bei den Kosten der Unterkunft haben
Sie damals eine Entlastung für die Kommunen in Höhe
von 2,5 Milliarden Euro errechnet. Der Beweis bleibt bis
heute aus.
({4})
Eine weitaus wirksamere Lösung wären entweder zusätzliche Mittel des Bundes an die Kommunen, oder Sie
stimmen unserem Antrag auf eine öffentlich geförderte
Beschäftigung zu.
Zum zweiten Antrag unserer Fraktion: Der Bund hat
im Haushalt 2007 6,5 Milliarden Euro für Eingliederungsleistungen eingestellt und eine Milliarde davon
mit einem Deckungsvermerk gesperrt. Diese Milliarde
wurde einbehalten, um Löcher bei der Arbeitslosengeld-II-Finanzierung zu stopfen, Löcher, die durch
krasse Fehlkalkulationen der Bundesregierung entstanden sind. Diese Milliarde wird aber dringend benötigt,
um arbeitslose Menschen weiter zu qualifizieren, damit
sie eine reelle Chance am Arbeitsmarkt haben. Herr Kollege Brandner, wenn Sie da von Verantwortung reden,
obwohl Sie Gelder einbehalten, dann haben Sie eine andere Definition von Verantwortung.
({5})
Soziale Projekte wie Jugend- und Altenbetreuung,
dringend erforderliche Beratungsleistungen und auch die
Unterstützung von Sportvereinen hängen von dieser Milliarde ab. Die Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der Argen in Sachsen-Anhalt, Frau Tempel,
kommentiert die Blockade der Mittel wie folgt:
Damit gerät die bisher positive Entwicklung der gesetzten Ziele in Gefahr. Auch der sozialpolitische
Auftrag des SGB II, Menschen in Beschäftigung zu
bringen, der sozial- und kommunalpolitisch sinnvolle Auftrag, Gemeinwesenprojekte zu unterstützen, ist im 2. Halbjahr kaum umsetzbar …
Gleiches fordern der Ausschuss für Arbeit und Soziales des Landtages von Brandenburg, der Landkreis Tirschenreuth und Argen aus Ludwigslust, Euskirchen oder
auch Leipzig.
Ganz ehrlich, Herr Thönnes: Die eine Milliarde hilft
Ihnen bei der Sanierung des Haushalts nicht wirklich.
Beweisen Sie Mut! Geben Sie die eine Milliarde frei!
Dann kommen Sie Ihrer Verantwortung wirklich nach.
({6})
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie unseren beiden Anträgen zu!
Herzlichen Dank.
({7})
Jetzt hat Gabriele Lösekrug-Möller das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Wir haben eine gute
Stunde debattiert, und ich frage mich: War es eine gute
Debatte? In der Frage kommen einige vielleicht zu ganz
anderen Einschätzungen als ich.
({0})
Ich will Ihnen meine Einschätzung zunächst vorenthalten und werde sie Ihnen vielleicht am Ende mitteilen. Ich
bin aber sicher: Wir treffen gleich eine exzellente Entscheidung, und das ist, finde ich, das Wesentliche;
({1})
denn wir müssen Schwächeren eine Perspektive auf Arbeit geben. Das muss unser Ziel sein. Das steht im Mittelpunkt dieses Gesetzgebungsvorhabens.
({2})
Ich will mit einer Lüge aufräumen, die hier grassiert.
Die Große Koalition und die Sozialdemokraten sagen:
Es gilt nach wie vor: erst bilden, dann ausbilden, dann
weiterbilden. - Davon rücken wir keinen Millimeter ab,
auch nicht mit diesem Gesetzgebungsvorhaben.
({3})
Aber wir müssen uns der Wirklichkeit stellen, dass es
viele Menschen gibt, die ein Recht auf Arbeit haben,
denen wir mit „bilden, ausbilden, weiterbilden“ nicht so
helfen konnten, dass sie die Chance auf Teilhabe an der
Arbeitswelt haben. Für die schaffen wir heute gesetzliche Grundlagen, damit eine Integration gelingt. Ich bin
froh darüber, dass wir uns zu diesem Schritt entschlossen
haben.
({4})
Die Sozialdemokraten nennen das: Jobperspektive. Ich
finde, darin steckt alles.
Ich will auf ein paar Redebeiträge am Rande eingehen. Herr Niebel, Ihre Affinität zu Fehlern ist dem Haus
bekannt.
({5})
Wirklich geärgert hat mich, dass Sie das Adjektiv „dämlich“ im Zusammenhang mit „Mindestlohn“ genannt haben. Das ist unter aller Würde. Das möchte ich Ihnen so
ins Stammbuch schreiben.
({6})
Verehrte Kollegin Pothmer,
({7})
eigentlich ist Mäkelei gar nicht Ihr Format. Ich habe Sie
als eine Abgeordnete kennengelernt, die das große Format liebt und das, finde ich, gut ausfüllt. Ihre Rede heute
war so klein-klein und mäkelig, dass ich ein bisschen
enttäuscht bin.
({8})
Aber ich verstehe es ja. Sie müssen eine Begründung
finden, um Nein sagen zu können, wenn wir gleich abstimmen.
({9})
Eigentlich bedauere ich das, weil ich ganz sicher bin,
dass es auch Ihnen darum geht, den Betroffenen eine
Chance auf Arbeit zu geben. Es ist traurig, dass Sie denen heute im Grunde eine Ohrfeige geben.
({10})
Ich will gerne noch etwas zu den beiden Wortbeiträgen von Ihnen, Frau Kipping und Frau Kunert, sagen.
Wir kennen Ihre grundsätzliche Opposition. Sie sagen:
Alles, was nicht die Qualität des von Ihnen geforderten
Mindestlohns hat, ist abzulehnen. - Ich finde das ein wenig billig. Ich bedauere das auch, weil wir mit dem, was
wir heute verabschieden, den Menschen, die Ihnen doch
eigentlich so am Herzen liegen, echte Chancen einräumen. Wenn Sie sagen: „Nein, das wollen wir nicht, weil
es unserer Ideologie nicht entspricht“, dann tun Sie den
Menschen keinen Gefallen. Das ist - das möchte ich an
dieser Stelle einmal so sagen - entlarvend.
({11})
Ich komme zum Schluss. - Ich bin mir sicher, dass
wir den richtigen Weg einschlagen, weil wir damit den
Fallmanagern vor Ort, die inzwischen eine exzellente
Arbeit leisten, einen großen Entscheidungsspielraum geben. Das ist richtig.
Deshalb noch eine Anmerkung zum Instrumentenkasten, der im Übrigen im Wesentlichen steuerfinanziert
ist. Das ist in dieser Debatte argumentativ in eine leichte
Schieflage geraten. Das Steuergeld, das wir hier verwenden, ist gut eingesetzt. Den Fallmanagern einen ordentlichen Instrumentenkasten zur Verfügung zu stellen,
macht Sinn.
({12})
Wer würde nämlich einem Chirurgen trauen, der in seinem Koffer nur ein Messer hat? Lassen Sie sich das einmal ins Stammbuch schreiben. Ich bin sehr dafür, dass
wir Klarheit schaffen. Aber wenn wir meinen, es dürfe
prinzipiell nur ein einziges Instrument geben, greifen wir
zu kurz. Das hätte nichts mit Professionalität zu tun.
({13})
Alle, die professionell arbeiten, beherrschen ihre Instrumente, auch wenn Frau Künast sich jetzt darüber aufregt.
({14})
Ich glaube, wir treffen gleich eine gute Entscheidung,
weil wir Menschen dadurch wieder in die Mitte der Gesellschaft rücken, indem wir ihre Chancen auf Teilhabe
über Arbeit verbessern. Deshalb wird das für Hunderttausende von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ein guter Tag.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der Qualifizierung und Beschäftigungschancen von jüngeren Menschen mit
Vermittlungshemmnissen. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5933, den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/5714 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf so annehmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung der Koalition und Ablehnung
durch Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis wie vorher
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5979. Wer stimmt für den Entschließungsantrag?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der Linken und Ablehnung durch die übrigen Fraktionen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der Beschäftigungschancen von
Menschen mit Vermittlungshemmnissen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf
der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/5715 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die den Gesetzentwurf so annehmen wollen, bitte
ich um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in
dritter Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis wie
vorher angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5980. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Entschließungsantrag bei Zustimmung der Linken und
Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses abgelehnt.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/5495.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2504 mit dem Titel „Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die
Stimmen der Linken und Zustimmung durch das übrige
Haus angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2652 mit dem Titel „Arbeit statt
Arbeitslosigkeit finanzieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Diese Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und die FDP gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei
Enthaltung der Linken.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Freigabe der im Bundeshaushalt einbehaltenen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für das Jahr 2007“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5812, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4749 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung der
Koalition und der FDP und Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 14 auf:
27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Fritz Kuhn, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Konkretes Maßnahmenpaket für Klimaschutz
und eine konfliktarme Energieversorgung verabschieden
- Drucksache 16/5895 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Perspektiven für eine sektorale Ausweitung
des Emissionshandels sowie für die Nutzung
erneuerbarer Energien im Wärmesektor
- Drucksache 16/5610 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell ist verabredet, hierüber eineinviertel
Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir müssen alles tun, um den fortschreitenden Klimawandel einzudämmen. - So spricht Bundeskanzlerin Merkel unentwegt auf den Weltgipfeln und
in den Medien. Recht hat sie!
({0})
Nur leider sehen wir nicht, dass sie alles tut. Wir sehen
im Gegenteil, dass sie bisher keine Maßnahmen durchgesetzt hat.
Wir Grüne legen heute einen umfangreichen, realistischen und zielführenden Katalog mit 78 Maßnahmen
vor. Darin steht, was man alles machen kann und was
man alles machen muss, um den Klimawandel einzudämmen.
({1})
Darunter sind Maßnahmen, die schon lange von uns
Grünen vorgeschlagen wurden, aber auch völlig neue
Vorschläge, zum Beispiel der Vorschlag, ein Programm
für 1 Million Ökostromautos aufzulegen.
Bremser aus der SPD, die heute gut bezahlte Jobs bei
den großen klimaschädigenden Energiekonzernen haben, machten unter Rot-Grün viele solcher grüner Vorschläge zunichte.
({2})
Es waren die Grünen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz - ein großer Erfolg für den Bereich der erneuerbaren
Energien - zusammen mit engagierten SPD-Abgeordneten durch den Bundestag boxten, gegen den Widerstand
einiger SPD-Regierungsmitglieder.
Ja, Herr Minister Gabriel, es war erfreulich, gestern
Ihren Erfahrungsbericht zu hören und die grandiosen Erfolge des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgestellt zu
bekommen. Endlich ein SPD-Minister, der voll hinter
dem Erneuerbare-Energien-Gesetz steht!
({3})
Herr Minister, solche Erfolge könnten Sie nach wenigen
Jahren ernten, wenn Sie die Vorschläge unseres grünen
Energiekonzeptes umsetzen würden. Stattdessen kämpfen Sie zusammen mit Bundeskanzlerin Merkel für eine
Energiesicherheit auf der Basis fossiler Energien. Neue
Erdöllieferungen, neue Erdgaspipelines, neue Kohlegruben tragen doch nur zur weiteren Klimazerstörung bei
und nicht zu einer höheren Energieversorgungssicherheit.
({4})
Anstatt konsequent und kompromisslos auf eine Nutzung der unerschöpflichen erneuerbaren Energien, auf
Energieeinsparung und -effizienz hinzuarbeiten, stützt
die Große Koalition die Energiekonzerne, die auf fossile
Energieträger setzen; die Union stützt sogar die Atomkonzerne. Dabei ist die Klimaerwärmung viel dramatischer, als es noch im jüngsten IPCC-Bericht dargestellt
wurde: Das Grünlandeis schmilzt dreimal schneller, als
noch im Februar von der IPCC prognostiziert; die Klimaerwärmung in Deutschland war in den letzten zwölf
Monaten schon bei 3 Grad Celsius angelangt, obwohl
die Weltgemeinschaft immer noch vom Ziel einer weltweiten Begrenzung auf 2 Grad Celsius redet.
Wir müssen die Klimagasemissionen endlich stoppen
und nicht nur reduzieren. Ja, das geht: mit der komproHans-Josef Fell
misslosen Umstellung auf erneuerbare Energien in Verbindung mit konsequenter Energieeinsparung. Eine Fülle
von Maßnahmen im Strom-, Wärme- und Verkehrssektor
stehen dafür in unserem Energiekonzept. Es ist tatsächlich möglich, ohne die Verlängerung der Laufzeit von
riskanten Atomkraftwerken und ohne neue Kohlekraftwerke sogar mehr als 40 Prozent CO2-Reduktion bis
zum Jahre 2020 zu erreichen.
Die bisherigen Maßnahmen der Großen Koalition
sind mehr als dürftig.
({5})
Umweltminister Gabriel braucht weniger als eine Minute,
um alles aufzuzählen, so die Aufstockung der Mittel für
die von uns Grünen durchgesetzte Altbausanierung oder
die Netzanbindung an die Offshore-Windkraftanlagen.
Alle übrigen Maßnahmen der Großen Koalition sind lediglich Bestandsschutz der Energiekonzerne und kein
Klimaschutz.
({6})
Was hat denn die Große Koalition bisher gemacht?
Als Erstes wurden gleich im Dezember 2005 die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Finanzierung erneuerbarer Energien verschlechtert. Später wurde die
Energieverschwendung von energiefressenden Unternehmen durch Privilegien bei der Ökosteuer sogar noch
belohnt.
Dann haben Sie die Biokraftstoffe besteuert, was
mittelständische Biodieselproduzenten in den Konkurs
treibt. Im Zuteilungsgesetz haben Sie der Kohle unglaubliche Privilegien verschafft. Seit 592 Tagen warten
wir auf ein Wärmegesetz für erneuerbare Energien und
auf ein Top-Runner-Gesetz für mehr Energieeffizienz.
Den Erdgaskonzernen halten Sie die mittelständische
Konkurrenz vom Halse, indem Sie ein Biogaseinspeisegesetz verweigern. Auf der EU-Ebene haben Sie gar die
klimaschädlichen Automobilkonzerne vor wirksamen
Emissionsgrenzen in Schutz genommen.
Diese Woche führen Sie Ihre Klimaerwärmungsmaßnahmen in aller Unverfrorenheit weiter. Im Haushaltsplanentwurf für 2008 kürzen Sie das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien gar um 45 Millionen Euro. Knapp die Hälfte der Einnahmen aus der
Versteigerung der Zertifikate geht in die allgemeine
Haushaltssanierung statt in Klimaschutzmaßnahmen. So
wird diese Große Koalition Deutschland bald zu den
Schlusslichtern beim Klimaschutz in der EU und in eine
gigantische Energiekrise führen.
({7})
Nicht einmal das schwache EU-Ziel von 20 Prozent
erneuerbaren Energien will die Regierung Merkel für
Deutschland umsetzen. Klägliche 16 Prozent bis 2020
sind das Ziel. Klimaschutzpolitik, Herr Minister Gabriel,
sieht anders aus. Sie können hervorragend reden, aber
Sie setzen keine Maßnahmen durch. Melden Sie unser
grünes Energiekonzept als Maßnahmenpaket der Bundesregierung nach Brüssel; dann werden Sie ein erfolgreicher Umweltminister werden.
({8})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Klimaschutz ist spätestens seit dem Bericht
des britischen Chefökonomen Sir Nicholas Stern im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Auch der Bericht
des Intergovernmental Panel on Climate Change - IPCC vom 4. Mai 2007 der Vereinten Nationen unterstreicht
die Bedeutung des Klimawandels.
Aufgrund der massiven Auswirkungen des Klimawandels auf die Bewohnbarkeit großer Regionen unserer
Erde und die in Folge möglicherweise auftretenden massiven Verwerfungen durch Migration und gewaltsame
Auseinandersetzungen um Wasser, Nahrung und Wohnraum wurde der Bericht nicht in den für Umweltpolitik
zuständigen Gremien debattiert, sondern im Weltsicherheitsrat. Das zeigt die fundamentale Bedeutung dieser
Problematik.
Die Große Koalition hat sich von Anfang an den Herausforderungen des Klimawandels gestellt. Wir haben
im Koalitionsvertrag vereinbart, bis zum Jahr 2020 die
Energieproduktivität gegenüber 1990 zu verdoppeln.
Außerdem treten wir für den ökologisch und ökonomisch sinnvollen Ausbau der erneuerbaren Energien in
den Bereichen Strom und Wärme ein.
Die CDU/CSU-Fraktion hat zudem im April dieses
Jahres zahlreiche Maßnahmen und Ziele definiert - beispielsweise das 2-Grad-Ziel mit dem Kioto-PlusAbkommen verbindlich zu machen - und in das Positionspapier „Klimawandel entgegentreten - konkrete
Maßnahmen ergreifen“ aufgenommen.
Zentrale Aufgabe der Klimaschutzpolitik ist die Umsetzung der Verhandlungsergebnisse von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in diesem Jahr auf europäischer
und internationaler Ebene sehr ehrgeizige Rahmenbedingungen zum Schutz des Klimas formuliert hat. Das gilt
sowohl für die Vereinbarung des Europäischen Rats im
März als auch für die Erklärung des G-8-Gipfels in Heiligendamm im Juni dieses Jahres. Um diese Ziele zu realisieren, hat Bundesumweltminister Gabriel in seiner Regierungserklärung am 26. April mit der Klimaagenda
2020 einen nach Art und Umfang der Maßnahmen detaillierten Achtpunkteplan vorgestellt. Dieser Katalog
liegt vor und muss nicht erst erarbeitet werden, wie Ihr
Antrag, lieber Herr Fell, suggeriert.
Auf dem 3. Energiegipfel Mitte dieser Woche hat die
Bundeskanzlerin noch einmal ausdrücklich klargestellt,
dass die Bundesregierung zu diesen ehrgeizigen Klimaschutzzielen steht.
Um die Energieeffizienz in Deutschland jährlich um
3 Prozent zu steigern und den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2020 um bis zu 40 Prozent gegenüber
dem Jahr 1990 zu senken, muss jetzt eine Vielzahl von
Maßnahmen ergriffen werden. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos und Bundesumweltminister Sigmar
Gabriel werden diese Maßnahmen in einem integrierten
Klima- und Energiepaket zusammenstellen, das zur Kabinettsklausur Mitte August vorliegen wird. Über diese
Beschlüsse werden wir hier im Dezember debattieren.
({0})
Dazu wird sicherlich erstens der Ausbau der Stromerzeugung durch erneuerbare Energien zählen, den auch
Sie, liebe Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag
fordern. Sie wissen, dass Sie hiermit offene Türen einrennen; denn die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen handeln schon längst entsprechend. Der
Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien wurde
gestern vorgelegt; das haben Sie selbst erwähnt. Es ist
ganz klar, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit
der anstehenden Novelle fortentwickeln werden, und
zwar unter der Maßgabe eines ambitionierten Ausbaus
der erneuerbaren Energien und einer möglichst kosteneffizienten CO2-Einsparung. Der Vorläufer dieses Gesetzes wurde übrigens von uns entwickelt. Lieber Herr Fell,
auch das vergessen Sie immer wieder.
({1})
Ich nenne zweitens speziell den Bereich der Biokraftstoffe der ersten und der zweiten Generation. Ohne
Zweifel sind Letztere die Hoffnungsträger unter den
Biokraftstoffen, da sie aufgrund der Verwertung der ganzen Pflanzen günstigere Ökobilanzen aufweisen und zugleich für hochgezüchtete Motoren verträglich sind. Das
darf aber nicht davon ablenken, dass sie auf absehbare
Zeit nur in homöopathischen Mengen zur Verfügung stehen und deshalb Biokraftstoffe der ersten Generation,
also Pflanzenöl, Bioethanol und Biodiesel, eine wichtige
Rolle bei der Reduzierung der CO2-Emissionen im Verkehrssektor spielen.
Deshalb wird die Union dafür Sorge tragen, dass der
Bericht gemäß des Biokraftstoffquotengesetzes spätestens im Oktober dieses Jahres vorgelegt wird. Ausgehend von diesem Bericht werden wir mit unserem Koalitionspartner und dem Bundesfinanzminister über die
Fragen diskutieren, wie eine Verschiebung oder Reduzierung der nächsten Steuerstufe möglich ist und ob wir
die nächste Stufe der Beimischungsquote um ein Jahr
vorziehen.
({2})
Drittens nenne ich das riesige Klimaschutzpotenzial,
das sich im Wärmebereich und in der Gebäudesanierung
eröffnet. Die CDU/CSU-Fraktion setzt auf ein integriertes Wärmekonzept, welches mehrere Instrumente vereint, die den Zielen des Klimaschutzes und der Kosteneinsparung für Mieter und Vermieter entgegenkommen.
Dieses Konzept soll nicht einseitig regenerative Energien fördern, sondern auch weitere Klimaschutzinstrumente berücksichtigen.
Die Vorschläge sind detailliert und umfassen den
Ausbau von Wärmeerzeugung aus erneuerbaren Energien durch eine Verrechtlichung des Marktanreizprogramms über das Jahr 2009 hinaus, die Einführung einer
dynamischen Quote zur Installation erneuerbarer Wärme
bei Neubauten und bei grundlegenden Sanierungen von
Heizungen in Wohn- und Bürogebäuden von über
500 Quadratmetern, die verbesserte Effizienz fossiler
Wärmeerzeugung, die bessere Nutzung von Abwärme
aus der Stromerzeugung in Form von Fern- und
Nahwärme, die stärkere Nutzung der Kraft-WärmeKopplung, Energie-Contracting, das Fortführen des
CO2-Gebäudesanierungsprogramms, eines der erfolgreichsten Programme dieser Bundesregierung, über das
Jahr 2009 hinaus sowie Regelungen, die einen fairen Interessenausgleich zwischen Mietern und Vermietern
schaffen, die stärkere Anreize für den Vermieter setzen,
Sanierungsmaßnahmen auch tatsächlich durchzuführen,
und die die Energieberatung für Vermieter, Mieter und
insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen verbessern.
({3})
Die Forderung der Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, über diese Maßnahmen hinaus den Emissionshandel im Verkehr- und vor allem im Wohngebäudesektor
einzuführen, halten wir allerdings für viel zu bürokratisch. Ich plädiere dafür, nicht ein Instrument um des
Instrumentes willen einzuführen, sondern die beste unbürokratischste und zugleich effektivste Lösung anzustreben. Deshalb werbe ich für die unbürokratischen
Instrumente, die Bestandteil unseres integrierten Wärmekonzeptes sind.
({4})
Ich kann in vielen Punkten Ihren beiden gutgemeinten
Anträgen zustimmen. Allerdings sind viele dieser Forderungen erfreulicherweise genau Inhalt dessen, woran wir
bereits erfolgreich arbeiten. Ich denke, dass wir mit
Blick auf die jüngsten Beschlüsse sowohl auf der internationalen als auch auf der europäischen, aber auch auf
der nationalen Ebene zurzeit auf einem sehr guten klimapolitischen Weg sind. Diesen Weg beschreitet die Union
umsichtig und unideologisch, dafür aber sehr zielstrebig
und konsequent. Kommen Sie doch einfach mit.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat Michael Kauch das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klimaschutz besteht nicht nur aus schönen Zielen und Überschriften, die die Koalition so gerne vor sich her trägt
und die die Kollegin Flachsbarth hier so schön aufgelisMichael Kauch
tet hat, sondern es geht auch darum, Maßnahmen auf den
Weg zu bringen. Diese Maßnahmen müssen zum einen
effektiv sein. Das heißt, sie müssen die Klimaschutzziele
erreichen. Zum anderen müssen sie effizient sein. Das
heißt, sie müssen so kostengünstig, so wettbewerblich
und so technologieoffen wie möglich gestaltet werden.
({0})
Deshalb legen wir Ihnen heute ein konkretes Konzept
zur Ausweitung des Emissionshandels auf den Wärmesektor sowie ein Modell für ein marktwirtschaftlich
orientiertes regeneratives Wärmegesetz vor. Die Nutzung erneuerbarer Energien bei der Wärmeproduktion
und die möglichst energieeffiziente Nutzung dieser
Wärme sind zentrale Bausteine für den Klimaschutz und
auch für die Versorgungssicherheit.
Es ist richtig: Die Koalition unterschreibt diese Ziele
auch. Aber wenn es konkret wird, schlagen Sie sich in
die Büsche und verweisen darauf, dass irgendwann - es
wird immer wieder von Monat zu Monat verschoben;
jetzt ist es der August - ein tolles Konzept vorgelegt
wird. Aber Sie haben es in mehr als einem Jahr nicht geschafft, ein gemeinsames Konzept zu entwerfen. Das
zeigt wieder einmal, dass Sie in dieser Koalition eigentlich nicht mehr handlungsfähig sind.
({1})
Ich will die Verantwortlichkeiten an dieser Stelle klar
benennen. Die SPD hat ein Konzept. Es ist letztendlich
eine Kopie des EEG. Ich teile es nicht; aber zumindest
hat die SPD ein Konzept.
({2})
Jetzt komme ich zu den Kolleginnen und Kollegen
von der Union. Sie haben es bisher nicht einmal geschafft, in Ihrer eigenen Fraktion die vielstimmigen Meinungen zu einem Konzept zusammenzubringen.
Die Kanzlerin geht zwar lobenswerterweise immer
voran, wenn es um die Zielverhandlungen geht. Aber
wenn es konkret wird und um die Umsetzung geht, dann
versagen Sie als Unionsfraktion schon konzeptionell auf
ganzer Linie.
({3})
Diesem schwarz-roten Chaos setzen wir Liberale ein
Zweistufenmodell entgegen. Langfristig wollen wir den
Verkehr und die Wärmeproduktion in den bestehen
Emissionshandel integrieren. Frau Flachsbarth, das ist
nicht bürokratisch. Dabei geht es um die Frage, wie man
den Emissionshandel ausgestaltet. Wenn man es auf der
Ebene der Brennstoffhändler macht, dann gibt es eine
überschaubare Zahl von Akteuren. Wenn Sie die Zertifikate nicht zuteilen, sondern versteigern, wenn Sie also
den Emissionshandel richtig gestalten, entsteht keine
Bürokratie in diesem Bereich.
({4})
Die Einbeziehung der Wärme und des Verkehrs in
den Emissionshandel hätte zwei entscheidende Vorteile.
Erstens gäbe es dann auch für diesen Bereich nicht nur
politische Ziele zur Begrenzung der CO2-Emissionen,
die man dann erreicht oder nicht erreicht. Man hätte
auch klare, rechtlich verbindliche Obergrenzen für die
Emissionen aus diesen beiden Sektoren. Zweitens würde
die Wirtschaft durch den Handel die kostengünstigsten
Wege zur Umsetzung der verpflichtenden CO2-Einsparungen finden.
Bei dieser Ausweitung des Emissionshandels sind wir
natürlich darauf angewiesen, dass auch die Europäische
Union diesen Weg geht. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in dieser Richtung zu verhandeln,
wenn es um den Emissionshandel nach 2013 geht.
Solange das nicht erreicht ist, wollen wir ein Regenerative-Wärme-Gesetz. Um es möglichst unbürokratisch
zu gestalten, beabsichtigen wir, es auf der oberen Handelsebene anzusetzen. Wir wollen, dass der Staat jedes
Jahr eine regenerativ erzeugte Menge an Wärme vorgibt.
({5})
Die Erzeuger erneuerbarer Wärme, etwa die Betreiber
von Holzpelletheizungen und Solarthermieanlagen oder
die Biogaseinspeiser, können sich diese Wärmemenge
zertifizieren lassen. Auf der anderen Seite müssen die
Nachfrager, nämlich die Händler von Brennstoffen,
Heizöl und Erdgas, diese Zertifikate entsprechend nachweisen.
({6})
Der dadurch entstehende Preis für die erneuerbare
Wärme wäre ein echter Investitionsanreiz. Das wäre ein
effektiver, effizienter und marktwirtschaftlicher Weg, die
erneuerbaren Energien zu fördern.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, da
Sie selbst kein Konzept haben, schlage ich Ihnen vor:
Kopieren Sie unser Konzept und bringen Sie es in die
Verhandlungen ein.
({8})
Das wäre im Sinne des Klimaschutzes und im Interesse
der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Die FDP-Fraktion hat bereits zu anderen Bereichen
des Klimaschutzes Anträge ins Parlament eingebracht.
Dabei ging es beispielsweise um die Frage: Wie können
wir unsere solare Spitzentechnologie effektiver in Entwicklungs- und Schwellenländer exportieren? Leider
ist es so, dass die verschiedenen beteiligten Ministerien
keine Koordinierung vorweisen können und kein Konzept haben. Auch von der Koalition gibt es bisher nichts
als Überschriften.
({9})
- Ja. Aber schauen Sie sich bitte auch einmal die Realität
in den Ländern an, die nicht ohnehin schon weit sind. In
den afrikanischen Ländern zum Beispiel - ich bin Mitglied in der Parlamentariergruppe für das südliche
Afrika - gibt es auf breiter Front Insellösungen in der
Stromversorgung. Obwohl dort optimale Bedingungen
für Solartechnik bestehen, ist es vielfach immer noch so,
dass Strom mit Dieselgeneratoren erzeugt wird. Hier hat
zumindest das Entwicklungshilfeministerium etwas
falsch gemacht.
({10})
Der Antrag, den das Bündnis 90/Die Grünen heute
vorlegt, ist ein netter Versuch, letztendlich aber nichts als
ein Sammelsurium bekannter Positionen: von AntiAKW über die missionarische Verbreitung des teuren
EEG in ganz Europa bis hin zu Tempolimit und Hybrid.
Wir setzen nicht auf Ökosymbolik oder eine Verbotsideologie, sondern auf marktwirtschaftliche Anreize
und technologische Optionen für die Zukunft. Deshalb
werden wir diesen Antrag ablehnen.
({11})
Wir müssen neue technologische Möglichkeiten nutzen. Das betrifft auch die Kohle. Wir werden es nicht
schaffen, gleichzeitig aus der Nutzung der Kernkraft und
der Kohle auszusteigen. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Kohle so verantwortlich wie möglich nutzen können. Dazu gehört auch, dass
wir die CO2-Abscheidungstechnologie, durch die das
CO2 abgeschieden und in der Erde eingelagert wird, tatsächlich auf den Markt bringen.
Das muss man im internationalen Kontext sehen: Die
Kohle wird in China in jedem Fall verbrannt. Die Frage
ist: mit guter oder mit schlechter Technologie? Deutschland muss zu dieser neuen Technologie Ja sagen, und wir
müssen sicherstellen, dass in Deutschland kein Kraftwerk mehr gebaut wird, das nicht zumindest nachrüstbar
ist, was diese Technologie betrifft. Schöne Worte der
Kanzlerin reichen nicht aus. Ich erwarte von der Koalition, dass sie in diesem Bereich einen klaren Rechtsrahmen schafft.
Vielen Dank.
({12})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Frank Schwabe,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Am
Klimaschutz kommt niemand vorbei. Das ist, wie ich
glaube, im Rahmen der Auseinandersetzungen über den
Energiegipfel erneut deutlich geworden. Insofern waren
diese Auseinandersetzungen durchaus hilfreich. Ich habe
den Eindruck, dass diese Tatsache nun vielleicht auch
dem letzten Vorstandsvorsitzenden bewusst geworden
ist.
({0})
Ich freue mich, dass es auch im Deutschen Bundestag
eine große Übereinstimmung gibt, die sogar konkrete
Maßnahmen einschließt. Das soll im Rahmen solcher
Diskussionen natürlich etwas verschleiert werden. Denn
zu den Aufgaben der Opposition gehört, Kontrolle auszuüben und Antriebsfeder zu sein; das ist ja auch richtig.
Nichtsdestoweniger muss man die Dinge auseinanderhalten: Wenn die Grünen hier Anträge stellen, ist das
gut. Entscheidend ist aber, was am Ende umgesetzt wird;
daran muss man sich messen lassen. Dass Sie nicht daran glauben, dass das Ganze im Deutschen Bundestag
umgesetzt werden wird, macht schon der Text Ihres Antrages deutlich: Sie reden immer von einem grünen
Energiekonzept. So weit ist es noch nicht, dass der Deutsche Bundestag die grünen Energiekonzepte eins zu eins
beschlösse!
({1})
Ich will ja wirklich zurückhaltend sein; aber ich bitte
schon herzlich - auch Frau Künast -, bei der Wahrheit
zu bleiben. Ich musste nämlich in der „Zeit“ lesen:
Gabriel und die SPD mussten sich von der Europäischen
Kommission zu einer Versteigerung der Zertifikate
treiben lassen.
({2})
Es gab eine intensive Debatte, und der Minister hat immer von einer langen Lernkurve geredet, das stimmt.
Aber bei den Zertifikaten war das ganz anders: Da ist es
wirklich so, dass der Deutsche Bundestag vorangeht und
dass wir selbstbewusst sagen können: Deutschland ist
ein Vorbild für ganz Europa.
({3})
In der Frage der Veräußerung der Zertifikate sind wir an
die Spitze getreten. Das könnten Sie einmal würdigen,
anstatt wie in der „Zeit“ falsche Behauptungen aufzustellen!
Jetzt noch kurz zur FDP. Wir sind ja alle sommerlichmilde gestimmt. Ich will deswegen ausdrücklich würdigen, dass es einige in der FDP gibt, die sich bemühen,
der FDP beim Klimaschutz ein Stück weit ein grünes
Antlitz zu geben. Nichtsdestoweniger hat die Mehrheit
Ihrer Fraktion eine andere Position. Ich habe einmal
nachgelesen, was Frau Kopp zum Energiegipfel gesagt
hat:
In der Energiepolitik droht dem Land bis 2009 …
vielleicht
- das bezieht sich auf die Zukunft sogar aktionistischer Regelungswahn ohne Richtung und Ziel.
Die FDP muss sich schon entscheiden, wie sie sich aufstellen will: Wollen Sie nun, dass wir Maßnahmen ergreifen und sie entsprechend umsetzen, oder wollen Sie
dies „aktionistischen Regelungswahn“ nennen?
({4})
Denn Letzteres kann sich ja nur auf die Maßnahmen beziehen, die angekündigt sind.
Ich muss daran erinnern, dass Sie die einzige Fraktion
im Deutschen Bundestag sind, die sich noch nicht auf
das Ziel verpflichtet hat, die CO2-Emissionen bis 2020
gegenüber 1990 um 40 Prozent zu senken. Sie sind die
Einzigen; das muss hier immer wieder gesagt werden.
({5})
Die Bundesregierung - das kann man doch wirklich loben! - geht international voran: Sie hat sich national das
ambitionierte 40-Prozent-Ziel gesetzt und mit dem Gebäudesanierungsprogramm gehandelt, ebenso beim
Emissionshandel. Noch einmal: Ich würde mir wünschen, dass unsere Ausgestaltung des Emissionshandels
stärker gewürdigt wird. Wir haben die Versteigerung,
wir haben nicht den 3-fach-Benchmark im Bereich der
Braunkohle, und wir haben ein ambitioniertes Cap.
({6})
Nach langen Diskussionen haben wir miteinander einen
wirklich guten Emissionshandel beschlossen. Ich glaube,
es schadet nichts, wenn wir das gemeinsam feststellen,
Frau Künast.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Die gestatte ich gerne.
Herr Kollege Schwabe, die Grünen wollen offensichtlich zwischenrufen, aber ich möchte Sie ganz förmlich
fragen. Es ist offensichtlich - wir haben das schon gestern erlebt - eine Strategie Ihrer Fraktion, darauf zu verweisen, dass sich die FDP-Fraktion im Rahmen der Umfrage von Greenpeace nicht für das 40-Prozent-Ziel
ausgesprochen hat. Ich möchte, dass Sie zur Kenntnis
nehmen - und würde Sie bitten, das bei Ihren weiteren Argumentationen aufzunehmen -, dass sich die FDP-Fraktion in einem einstimmigen Beschluss auf das 30-Prozent-Ziel der EU verpflichtet hat, und zwar ohne Wenn
und Aber, ohne die Einschränkungen, die die Bundesregierung verhandelt hat.
Wir sind jedoch - wie im Übrigen auch Ihre Regierung - der Meinung, dass es Verhandlungen über die
Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union geben muss. Ich finde, es ist im deutschen Interesse, dass
wir zunächst einmal verhandeln und nicht vorher, einseitig, ein für uns denkbares Verhandlungsergebnis auf den
Tisch legen. Ich finde, auch die Franzosen sollten etwas
machen. Ich würde mich freuen, wie Sie das zur Kenntnis nähmen. Das war keine Zwischenfrage, das war eine
Zwischenbemerkung, die nach der Geschäftsordnung
auch zulässig ist.
Vielen Dank.
({0})
Aber Sie bleiben während der Beantwortung durch
den Kollegen Schwabe noch stehen!
Man lernt immer etwas dazu; dies war also eine Zwischenbemerkung.
Herr Kauch, wir haben schon mehrfach darüber diskutiert und wir wissen, dass es in der Tat das konditionierte Ziel von 30 Prozent für Europa bei 40 Prozent für
Deutschland gibt. Wenn wir aber in Sonntagsreden darüber sprechen, dass wir mit unseren nationalen Maßnahmen und auf europäischer Ebene wie auch international eine Vorreiterrolle einnehmen wollen, dann finde ich
es richtig, zu fragen, was wir machen müssen, wenn
Europa 30 Prozent als Ziel hat; wir gehen davon aus.
Man muss irgendwann anfangen, Gesetzespakete zu
schnüren, und das tun wir jetzt auch. Dann muss man
aber von einer Zahl ausgehen. Ich stelle noch einmal
fest, dass alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag
hinter dem 40-Prozent-Beschluss stehen, wenn Europa
sich 30 Prozent zum Ziel setzt, einige sogar unkonditioniert. Sie sind die einzige Fraktion, bei der das in keinem
einzigen Papier steht. Wenn das anders sein sollte, müssten Sie mich eines Besseren belehren.
({0})
Insofern geht die Bundesregierung wirklich voran. Es
wurde Druck gemacht, indem man sich vorgenommen
hat, das Klimapaket in diesem Jahr zu beschließen. Die
Bundeskanzlerin und der Bundesumweltminister haben
dabei die ausdrückliche Unterstützung der SPD-Fraktion. Die Ziele sind klar: die weitere Verbesserung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes, ein Wärme-EEG und
ein gutes Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz.
({1})
All das muss dieses Jahr beschlossen werden. Die zentralen Maßnahmen hat Sigmar Gabriel in seiner Regierungserklärung in einem Acht-Punkte-Programm beschrieben. Bei 40 Prozent liegt die Messlatte, und die
acht Punkte sind der mit eindeutigen Zielen unterlegte
Orientierungsrahmen. Wer immer in der Bundesregierung oder den Koalitionsfraktionen Änderungen an diesen acht Punkten vornehmen will, muss ganz genau benennen, welche Maßnahmen er zukünftig zusätzlich
darin aufnehmen will. Das ist die klare Vorgabe für dieses Jahr.
Ich freue mich darüber - will aber nicht zuviel darüber reden, weil es beim Energiegipfel zum Glück nicht
die Rolle gespielt hat, wie einige Medien es danach erscheinen lassen wollten -, dass wir die Alibidiskussion
über Atomkraft in dieser Legislaturperiode beenden.
Das ist, glaube ich, im Rahmen des Energiegipfels deutlich geworden. Es gibt fundamentale Gegensätze in der
Regierung. Im Parlament gibt es im Übrigen eine Mehrheit für den Atomausstieg. Das ist auch gut begründet.
Wenn immer wieder gesagt wird, dass Deutschland die
sichersten Atomkraftwerke der Welt hat, frage ich mich
nach den Vorkommnissen der letzten Wochen, wie es eigentlich im Rest der Welt aussieht. Es ist jedenfalls eine
Alibidebatte, weil die Atomenergie bei einem weltweiten Anteil von 3 Prozent an der Endenergie keine relevanten Klimaschutzeffekte hat.
({2})
Insofern ist es gut, dass diese Alibidebatte beendet ist
und wir uns auf die vielen anderen Dinge, bei denen wir
etwas machen können, konzentrieren können.
Im Antrag der Grünen wird auch einiges zur Außenpolitik gesagt. Deswegen will ich noch einmal deutlich
machen, dass es notwendig ist, bei der Klimakonferenz
in Bali zu einem Kioto-Nachfolgeabkommen zu gelangen. Es ist notwendig, dass die Industrieländer vorweggehen. Solange Deutschland pro Kopf auf einen zehnmal
so hohen CO2-Ausstoß wie Indien kommt, müssen wir
vorweggehen. Wenn wir vorweggehen wollen, brauchen
wir eine hohe Glaubwürdigkeit der nationalen Politik.
Der Umweltminister hat eine hervorragende Rolle in
Nairobi gespielt, weil er das 40-Prozent-Ziel benannt
hat. Nach meiner Erinnerung war er der Einzige, der
nicht nur gesagt hat, dass wir alle etwas tun wollen, sondern für Deutschland auch ganz konkret das 40-ProzentZiel benannt hat.
({3})
- In der Tat, es war ein Bundestagsbeschluss, Herr
Göppel.
Deswegen ist es ein hervorragendes Signal, wenn wir
es vor Bali schaffen, dieses Klimaschutzpaket durch den
Deutschen Bundestag zu bringen.
({4})
Ich will noch ganz kurz auf CCS eingehen. Die Linke
unterliegt diesbezüglich einem Denkfehler. Frau
Bulling-Schröter wird, glaube ich, zu diesem Thema
noch etwas sagen.
({5})
Sie schließen das kategorisch aus. Wir sind ja gemeinsam auf internationalen Konferenzen und wissen, wie
das diskutiert wird. Ich halte es aber auch für falsch, zu
sagen, das sei das allein Seligmachende und werde auf
alle Fälle funktionieren. Ich habe dazu durchaus Fragen.
Wir müssen aber aus dieser „Karottensituation“ herauskommen, in der jemand auf einem Esel sitzt, diesem eine
Karotte vor die Nase hält und sich die Karotte immer
dann, wenn der Esel einen Schritt vorwärts geht, auch
ein Stück nach vorne bewegt. Wir brauchen also Klarheit
bei der Debatte über CCS. Diese Klarheit muss ganz
schnell geschaffen werden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen geklärt werden, und wir brauchen
eine Debatte über die Akzeptanz. Wir brauchen nicht,
wie Sie, Herr Kauch, vorgeschlagen haben, eine Werbekampagne für CCS, sondern eine kritische Diskussion in
der deutschen Bevölkerung, ob CCS für die Menschen
akzeptabel ist - und zwar schnell!
Zum Abschluss will ich sagen, dass die Energie- und
Klimapolitik für Sozialdemokraten auch eine hohe soziale Relevanz hat. Auf dem Energiegipfel wurde jetzt ja
vor Strompreiserhöhungen gewarnt. Es wird Strompreiserhöhungen geben, nämlich dann, wenn wir nicht
frühzeitig umsteigen. Wenn wir es nicht frühzeitig schaffen, die Abhängigkeit von Importenergie und fossilen
Energieträgern aufzulösen, Alternativen zu entwickeln
und so umzusteigen, dass die notwendige Erhöhung der
Menge nicht mit einer Steigerung der CO2-Emissionen
einhergeht, dann wird die zweite Miete dauerhaft zur
ersten Miete. Ich glaube, es geht hierbei nicht nur um
das Klima, um die Ökologie, sondern darin steckt auch
viel sozialer Sprengstoff.
Ganz zum Schluss will ich noch einmal deutlich machen - ich freue mich, dass das beim Energiegipfel klargestellt wurde -, dass es die Aufgabe der demokratisch
legitimierten Politik ist zu handeln, wenn das Klima
und die Energiepolitik so zentral sind, wie das die Kanzlerin zu Recht beschrieben hat. Wir haben eben eine Demokratie und keine Großunternehmenskratie.
Herr Kollege, Sie wollen sicher nicht auf Kosten Ihrer
Kollegen sprechen.
Deswegen ist es die Aufgabe der Politik zu handeln.
Ich fordere die Unternehmen auf, dabei mitzumachen.
Ich denke aber, dass niemand Zweifel daran haben
sollte, dass die Politik die notwendigen Voraussetzungen
dafür zur Not auch eigenständig schafft.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Nach dem Energiegipfel in dieser Woche haben wir einmal mehr ein
Feuerwerk an Ankündigungen gehört. Die Bundesregierung hatte sich eine Menge vorgenommen. Was irgendwann Realität wird, steht aber noch in den Sternen.
({0})
Zudem ist ein Gesamtkonzept in der Klimapolitik
- hier ist sich die Opposition ausnahmsweise einmal eiEva Bulling-Schröter
nig - immer noch nicht zu erkennen. Es sei illusorisch,
gleichzeitig aus der Atomkraft und aus der Kohle auszusteigen, meint Umweltminister Gabriel beispielsweise.
({1})
Dabei wird durch das zum Gipfel vorgelegte Gutachten
- Sie sollten das einmal lesen, Herr Kauch - das Gegenteil bewiesen.
({2})
Immerhin erkennt auch die Bundesregierung an, dass
wir die Produktion von Strom und Wärme bis zur Mitte
dieses Jahrhunderts ebenso auf erneuerbare Energien
umgestellt haben müssen wie unsere Mobilität. Das wird
aber nicht funktionieren, wenn wir in den nächsten Jahren den Kraftwerkspark durch Kohlemeiler ersetzen, die
dann noch 50 Jahre lang laufen. So sieht jedenfalls für
uns die gegenwärtige Situation aus. Dies lehnen wir ab.
({3})
Im Übrigen gab es dazu vorgestern auch eine sehr heftige Debatte in der Bremer Bürgerschaft. Auch hier beschäftigt man sich also schon damit.
Die Zeichen, die mit dem europäischen Emissionshandel und mit seiner Umsetzung hierzulande gesetzt
wurden und werden, sind offensichtlich falsch. Kollege
Schwabe, auch wenn ich ein karottenfarbenes Sakko anhabe, führt die Fixierung auf die CO2-Abscheidung auf
den falschen Pfad. Sie wissen genau, dass die Technik
- wenn überhaupt - nicht vor 2020 zur Verfügung stehen
wird. Wohin die Millionen Tonnen Kohlendioxid dann
verpresst werden sollen, ist vollkommen unklar. In der
gestrigen Debatte über den Meeresschutz hat sich niemand dazu geäußert. Schade eigentlich! Wir sollten also
nicht auf dieses riskante Technologieversprechen setzen,
nur um die Kohleära zu verlängern.
Die Klimaziele werden auch nicht erreicht, wenn
Energieeffizienz und Energieeinsparung weiter so
stiefmütterlich behandelt werden wie bisher.
({4})
Es wird auch nicht funktionieren, wenn wir uns nicht
ernsthaft auf den Weg machen, eine neue Mobilität jenseits von Auto und Lkw zu organisieren.
({5})
Nach zwei Jahren schwarz-roter Koalition enthält die
Bilanz der Klimapolitik vor allem Pläneschmieden. Klar
ist vor allem, was wir noch nicht haben, nämlich zum
Beispiel das mehrfach angekündigte RegenerativeWärme-Gesetz. Es hätte längst auf den Weg gebracht
werden können, und die Bundesregierung hat ja auch
längst erkannt, dass hier riesige Potenziale brachliegen.
Also Mut, meine Damen und Herren!
({6})
Dies gilt auch für die energetische Gebäudesanierung. Mit dem 1,5-Milliarden-Euro-Programm wurde
zwar ein respektabler Anfang gemacht, doch die Rahmenbedingungen wurden nur halbherzig gesetzt. Der
Gebäudepass ist nicht zwingend als Bedarfsausweis ausgerichtet, und das wissen Sie. Das erschwert neuen Mietern oder Käufern von Immobilien die Einschätzung, wie
viel Geld sie künftig für die Heizung ausgeben müssen.
Es wird zu wenig überprüft, ob im Zuge einer Sanierung mit Mitteln der Kreditanstalt für Wiederaufbau die
vorgesehenen Dämmwerte wirklich erreicht werden.
Den Vorschlag der Grünen, dass neue Wohngebäude
künftig den Niedrigenergiehausstandard 60 einhalten
müssen, begrüßen wir. Allerdings wird bei den Neubauten gegenwärtig kaum kontrolliert, ob die Bauherren tatsächlich die gesetzlichen Standards einhalten. Ich halte
es für dringend notwendig, dass wir das ändern.
Mit einer konsequenten Energiesparpolitik im Wärmesektor schaffen wir auch Beschäftigung. Denn energetische Sanierung und Ökostandards im Neubau schaffen jede Menge existenzsichernde Jobs sowohl in der
Industrie als auch im Handwerk. Diese Jobs brauchen
wir auch.
({7})
Interessant ist der Vorschlag der Grünen, dass Mieterinnen und Mieter ein Anrecht auf bestimmte energetische Standards erhalten sollen. Das wäre grundsätzlich
gut, aber wir müssen aufpassen, dass bei solchen Programmen die Bewohner nicht auf der Strecke bleiben.
Die Umlage der Sanierungskosten muss in jedem Fall
sozialverträglich erfolgen. Wenn letzten Endes die Einsparungen an Energiekosten geringer ausfallen als die
Mieterhöhungen, dann trifft dies vor allem einkommensschwache Haushalte.
Im Übrigen vermissen wir generell ein Konzept der
Bundesregierung, wie unsere Gesellschaft mit dem sozialen Sprengstoff umgehen soll, der sich aus den explodierenden Preisen für Energierohstoffe ergibt.
({8})
Unserer Auffassung nach wird die Bundesregierung beispielsweise nicht umhinkommen, Heizkosten- und Mobilitätszuschüsse für einkommenschwache Haushalte
einzuführen.
({9})
Wir können zwar durch intelligente Energieeinsparungen Kostensteigerungen ausweichen, aber erklären Sie
das mal einer Hartz-IV-Familie im unsanierten Altbau,
die froh ist, wenn sie überhaupt über die Runden kommt.
Insofern sind Transferzahlungen die einzige Lösung.
Ich betone in diesem Zusammenhang noch einmal unsere Position als Linke: Der Klimawandel kann kein Totschlagargument sein, mit dem eine weitere Spaltung der
Gesellschaft toleriert wird.
({10})
- Hören Sie bitte zu! - Eine Hartz-IV-Familie, die von
Arbeitslosengeld lebt, wird sich keinen Ökokühlschrank
für einige Hundert Euro zulegen. Sie kann es leider
nicht, selbst wenn sich das über 15 Jahre hinweg auszahlen würde. Sie wird stattdessen wohl eher einen
gebrauchten Kühlschrank für 100 Euro kaufen, wenn der
alte nicht mehr funktioniert.
Warum besteuern wir nicht die Extraprofite aus dem
Emissionshandel und gewähren die Einnahmen daraus
solchen Familien als Zuschuss für Energiespargeräte?
Das wäre sozial und ökologisch.
({11})
Wenn die Zertifikate hoffentlich ab 2013 zu 100 Prozent
versteigert werden - dazu erwarte ich eine Aussage des
Umweltministers -, dann können wir die Auktionseinnahmen für solche Programme zur Verfügung stellen.
Manches, was Ökologie und Soziales verbinden
könnte, kostet nicht einmal Geld. Deshalb ist es auch ein
weiteres Versäumnis, dass die Bundesregierung solche
innovativen Ansätze wie das Top-Runner-Programm
nicht längst in die Praxis überführt hat. Geben Sie den
Herstellern von Elektrogeräten zwei Jahre Zeit, den jeweiligen Effizienzstandard der Besten am Markt zu erreichen! Die unvernünftige große und teure Kluft zwischen Edelökogeräten und stromfressender Massenware
würde dann weitgehend geschlossen. Auch dieser Ansatz schafft Arbeitsplätze. Denn bei weltweit steigenden
Energiepreisen sind Stromspargeräte Exportschlager.
({12})
Völlig kostenlos ist auch ein Tempolimit. Ob 120 oder
130 Kilometer pro Stunde, die Begrenzung der Raserei
auf unseren Autobahnen ist nicht nur aus Klimaschutzgründen längst überfällig,
({13})
genauso wie die Besteuerung von Flugbenzin;
({14})
denn der Zuwachs im Flugverkehr wird sonst alle anderen Einsparungen im Verkehrsbereich zunichte machen.
Wir als Linke haben in unserem Sofortprogramm etliche Vorschläge für einen nachhaltigen Verkehr unterbreitet. Auch die Grünen haben entsprechende Vorschläge vorgelegt, unter anderem die sympathische Idee
einer Stiftung Fahr-Rad.
Der wichtigste Bereich im Klimaschutz bleibt die
Frage der Kraftwerke. Deshalb zurück zum Strombereich: Die Versuche der CDU/CSU und der FDP, die
Atomkraft wieder ins Spiel zu bringen, sind irrational
und nach wie vor gefährlich.
({15})
Noch ein Argument: Weltweit decken die AKWs
- das wissen viele nicht - nur 2,5 Prozent des Energiebedarfs. 2,5 Prozent! Ungefähr um diesen Wert steigen jedes Jahr auch die weltweiten CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen. Wollten Sie nur einen Teil davon durch
Atomstrom kompensieren, gingen die Uranreserven in
wenigen Jahren zur Neige. Dafür wollen Sie sich zusätzliche Risiken von Kernschmelzen, strahlendem Abfall
und militärischem Missbrauch einkaufen? Damit ist
wohl klar, dass der Schlüssel im Klimaschutz nur in der
Energieeinsparung und in einem radikalen Umbau des
Energiesystems hin zu erneuerbaren Energien liegen
kann.
Genau in diese Richtung geht der Antrag der Grünen.
Deshalb stimmen wir ihm zu.
({16})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Paziorek.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit Jahren gehört der Klimaschutz zu den wichtigsten
politischen und gesellschaftlichen Themen, und das zu
Recht. Gerade der letzte IPCC-Bericht hat belegt, dass
das menschliche Handeln ein Grund dafür ist, dass wir
seit Jahren über Fragen der Klimaerwärmung diskutieren.
Es gibt aber auch immer wieder Stimmen, die sagen,
das alles sei wissenschaftlich gar nicht genau belegbar.
Diesen möchte ich heute Morgen an dieser Stelle sagen:
Selbst wer letzte wissenschaftliche Zweifel hat, sollte
klar und deutlich erkennen, dass das Wirtschaften weltweit darauf fußt, natürliche Ressourcen zu verbrauchen.
Der rasante Anstieg ist hier dramatisch. Durch diesen
Verbrauch werden die wirtschaftlichen Grundlagen für
zukünftige Generationen geringer. Selbst wer sagt, hier
und da gebe es noch einige wissenschaftliche Zweifel,
muss also erkennen: In diesem Sinne hat Klimaschutzpolitik auch langfristig eine ganz wichtige Bedeutung für
uns.
({0})
Das besondere Problem einer Klimaschutzpolitik ist
aber, dass sie fachlich nicht auf ein Politikfeld eingegrenzt werden kann. Klimaschutzpolitik hat Auswirkungen auf die Städtebaupolitik, die Forschungspolitik,
die Verkehrspolitik und die Energiepolitik. Sie ist eine
echte Querschnittspolitik. Damit hat sie Auswirkungen
auf die verschiedensten Bereiche. Wer dieses Problem
nicht erkennt, läuft natürlich Gefahr, trotz guter Absichten Fehler auf anderen Politikfeldern zu machen. Deshalb muss in der Klimaschutzpolitik immer der Grundsatz beherzigt werden: Es kommt nicht auf die Masse an,
sondern auf die Klasse der Vorschläge und die richtige
Prioritätensetzung.
({1})
Herr Kuhn, ich erlaube mir an dieser Stelle, auf Ihren
Zwischenruf „Kohle an den Fingern!“ während der Rede
eines meiner Vorredner einzugehen. Ihre Fraktion hat
sich in dem Antrag sehr breit zu der Frage geäußert,
wann zukünftig in Deutschland neue Kohlekraftwerke
gebaut werden dürfen. Sie stellen die These auf: nur
dann, wenn die Abscheidetechnik wirklich läuft. Frau
Künast, ich kann mich gut an die Diskussionen in der
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages - ich
war Mitglied der Kommission - erinnern. Vor zehn,
15 Jahren ist man davon ausgegangen, dass wir höchstwahrscheinlich gar nicht über die notwendige Filtertechnik bzw. Abscheidetechnik verfügen werden. Die Entwicklung ist weitergegangen. Nun gibt es Chancen. Aber
ich frage Sie: Wollen Sie aufgrund eines laufenden Forschungsprozesses die These politisch aufrechterhalten,
dass neue Kohlekraftwerke, die zum Beispiel Wirkungsgrade von 49 oder vielleicht sogar 51 Prozent haben,
nicht gebaut werden sollen, während alte Nachkriegskraftwerke mit Wirkungsgraden von 34 bzw. 36 Prozent
weiterlaufen sollen?
({2})
- Schauen Sie sich Ihren Antrag an. Die Diskussion
müssen Sie aushalten.
({3})
Ich sage Ihnen: Mir sind neue Kraftwerke mit einem
Wirkungsgrad von 50 Prozent lieber als alte Kraftwerke,
die mit einem Wirkungsgrad von 35 Prozent weiterlaufen.
({4})
Aus dem Grunde müssen wir uns sehr klug einer solchen Strategie stellen. Es ist sehr interessant, dass Sie in
Ihrem umfangreichen Papier mit dem breiten Ansatz nur
einen Satz darauf verwenden, wie das Ganze international eingebettet werden soll. Sie schreiben an einer Stelle,
das Ganze müsse multilateral vereinbart werden. Super,
Sie haben recht. Aber meinen Sie, mit einem solchen
Satz könnten wir es tatsächlich schaffen, die Erfolge zu
erzielen? Nein. Da muss ich ganz klar und deutlich sagen: Ich bin unserer Bundeskanzlerin dankbar, dass sie
es geschafft hat, endlich die internationalen Rahmenvereinbarungen zu ermöglichen, damit eine solche nationale Strategie international verankert werden kann.
Herzlichen Dank dafür an die Bundeskanzlerin.
({5})
Herr Kollege Paziorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Ja.
Herr Paziorek, ich glaube, das ist Ihre letzte Rede im
Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem weiteren Werdegang.
Ich möchte auf die Kohle zurückkommen. Das ist ein
entscheidender Punkt. Sie haben gesagt, dass neue Kohlekraftwerke einen Wirkungsgrad von 50 Prozent haben.
Das halte ich für etwas übertrieben, aber sagen wir einmal 45 Prozent. Geben Sie mir recht, dass es noch besser
wäre, in effizientere Kraftwerke zu investieren, die sowohl Strom als auch Wärme erzeugen, einen Wirkungsgrad von über 90 Prozent haben und deshalb die neuen
Kohlekraftwerke, die Sie jetzt propagieren, um das Doppelte schlagen? Ist das nicht viel besser für den Klimaschutz, als die alten Kraftwerke durch neue zu ersetzen,
die nicht so gut sind wie die Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen?
Sie haben selbstverständlich recht. Wer könnte an dieser Stelle Nein sagen?
({0})
Der entscheidende Punkt ist doch, Frau Höhn, wie wir
es Schritt für Schritt bei volkswirtschaftlich sinnvollen
Kosten schaffen, diesen Weg auch bei großtechnischen
Anlagen zu beschreiten. Da sagen wir nicht Nein, ganz
im Gegenteil. Das betrifft auch unser Forschungsprogramm. Wir wollen die Kraft-Wärme-Kopplung herbeiführen. Ich gebe Ihnen recht: Ich persönlich war aufgrund meiner langen Arbeit zu diesem Thema schon
ziemlich enttäuscht, dass Selbstverpflichtungserklärungen der Wirtschaft zum Einsatz von Kraft-WärmeKopplung auch bei kleineren Anlagen - Sie sprechen
jetzt von großtechnischen Anlagen - nicht eingehalten
worden sind. Sie haben von der Zielrichtung her recht.
Aber die Schritte müssen volkswirtschaftlich sinnvoll
sein. Ich habe manchmal Zweifel, ob der große Wurf,
den Sie jetzt verlangen, tatsächlich zielführend ist.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle, Frau Höhn, auf weitere
Punkte in Ihrem Antrag eingehen. Sie fordern die Optimierung des EEG. Die spannende Frage ist, wie das
konkret aussieht. Sie geben an einigen Stellen durchaus
Hinweise. Sie sagen, der Bonus für nachwachsende Rohstoffe solle reduziert werden. Die spannende Frage ist,
ob Sie tatsächlich in diesem Bereich auch wirklich den
Mut haben, über die Details nachher so zu diskutieren,
wie die Regierungskoalition das tut.
({2})
Wir stehen am Anfang dieser Diskussion. Am Anfang
der Diskussion muss man der Öffentlichkeit mitteilen,
dass die Bundesregierung im Augenblick daran arbeitet,
diesen Erfahrungsbericht vorzulegen, der jetzt die
Grundlage für einen Optimierungsprozess ist. Mit anderen Worten: Wir müssen der Öffentlichkeit sagen, dass
die Bundesregierung auf der ersten Stufe angelangt ist
- das haben Sie immer verlangt -, nämlich eine Bilanz
zu ziehen, wo wir stehen. Sie hätten eigentlich heute
Morgen in Ihren Reden sagen müssen, dass Sie der Bundesregierung dankbar sind, dass sie gestern einen solchen Bericht vorgelegt hat. Warum tun Sie das nicht?
({3})
Deshalb sage ich ganz selbstbewusst: Wir sind auf dem
Weg, diese Ziele zu erreichen.
Sie fordern pauschal die Aufstockung der Forschungsmittel. Ich bin in unserem Hause auch für die
Forschungsmittel für nachwachsende Rohstoffe zuständig. Ich sage mit allem Selbstbewusstsein: Ich kann
mich an kein einziges Gespräch erinnern, in dem mir
von der Wirtschaft oder den interessierten Verbänden,
die zum Teil heute auf der Tribüne zuhören, gesagt worden wäre, die Forschungsmittel zum Beispiel im Bereich
der nachwachsenden Rohstoffe seien zu gering. Ich kann
mir auch nicht vorstellen, dass es in den letzten Monaten
einen Fall gegeben hätte, wo wir wegen Finanzengpässen Forschungsanträge abgelehnt hätten. Wir haben Anträge abgelehnt, weil wir zunächst belastbar prüfen wollten, ob das Projekt wirklich einen Fortschritt darstellt,
aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir Projekte zurückgewiesen hätten, nur weil Forschungsmittel
gefehlt hätten.
Aus diesem Grunde sage ich: Ich bin Umweltminister
Gabriel an dieser Stelle im Rückblick sehr dankbar für
die guten Koalitionsverhandlungen, die wir damals geführt haben.
({4})
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen ein hervorragendes Ergebnis im Bereich der Umweltpolitik erzielt.
({5})
Niemand kann sagen, dass wir da versagt haben.
Herr Fell, Sie haben gerade dem Umweltminister Ihren Antrag mit großem Selbstbewusstsein übergeben.
Mir ist im Hinblick auf diesen Antrag aufgefallen: An einigen Stellen sind Sie weggetaucht, zum Beispiel bei der
spannenden Frage, wie wir im Bereich der Energiepflanzen weiterkommen und wie wir in diesem Bereich
die Forschung gestalten. Dazu steht in Ihrem Papier
nichts Ausführliches.
({6})
- Ich habe es mir gerade noch einmal genau angeschaut. - Ich weiß, weshalb Sie weggetaucht sind. Weil
Sie Angst haben, in Ihrer Klientel eine Diskussion darüber in Gang zu setzen, wo die Grenze zwischen Pflanzenzucht und Gentechnik liegt. An dieser Stelle sind Sie
sofort weggetaucht.
({7})
Dies bezieht sich auch auf die spannende Frage der Forschung.
Sie sprechen zu Recht von einem Wärmekonzept
für Biogasanlagen.
({8})
Denn es ist in der Tat ein bisschen bedenklich, dass man
mit Biogasanlagen nur Strom produziert und im Grunde
genommen vergisst, die dabei entstehende Wärme zu
nutzen. Die spannende Frage lautet doch: Wie können
wir die Nährstoffe, die Stoffe für die Biogasanlagen, so
verbessern - daran arbeiten wir gerade -, dass zum Beispiel auch Gülle als Grundstoff für Biogasanlagen eingesetzt wird? Davon sprechen Sie nicht, weil das Ihrem
Bild von der Landwirtschaft eventuell widerspricht. Da
tauchen Sie weg. Aber das sind doch Punkte, über die
wir diskutieren müssen. Da Sie hier mit dem Anspruch
auftreten, ein Konzept vorzulegen, in dem alle Gebiete
behandelt werden und das einen großen Durchbruch darstellt, muss ich Ihnen sagen: Es gibt Punkte, an denen
Sie wegtauchen, weil Sie Angst haben, kritisch mit Ihrer
Klientel diskutieren zu müssen.
({9})
Natürlich gibt es sehr viele Punkte - darauf haben
meine Vorredner hingewiesen; Maria Flachsbarth hat es
für unsere Fraktion angesprochen; auch die SPD-Fraktion hat dies betont -, bei denen wir eine gemeinsame
Plattform finden können; das soll an dieser Stelle herausgestellt werden. Deshalb wird die Zeit nach der Sommerpause für die Erarbeitung eines konkreten Konzeptes
zur Klimaschutzpolitik sehr wichtig sein.
({10})
Dafür sind die Punkte der Kanzlerin, die sie nach dem
Energiegipfel genannt hat, die entscheidende Grundlage.
Wir brauchen in der Tat mehr Energieeffizienz. Wir
brauchen in der Tat Förderkonzepte, um zum Beispiel
Nahwärmenetze im ländlichen Bereich zu schaffen und
den Einsatz von Biomasse in Biogasanlagen umweltpolitisch sinnvoller zu gestalten.
Wir werden nach meinem jetzigen Kenntnisstand bei
den Haushaltsplanberatungen einen ersten Fördertopf in
diesem Zusammenhang aufstellen. Ich hoffe, dass der
Bundestag dem zustimmen wird, um in diesem Bereich,
zum Beispiel auch bei der Kraft-Wärme-Kopplung, ein
Stückchen weiterzukommen.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.
({11})
Es freut mich natürlich, dass ich das anlässlich meiner
letzten Rede hier im Deutschen Bundestag sagen kann.
({12})
Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner Fraktion bedanken, die mir ganz überraschend die Möglichkeit eingeräumt hat, meine letzte Rede heute halten zu können.
Ich möchte einen Blick zurückwerfen. Wir haben das
Thema Klimaschutz seit 1990 sehr intensiv behandelt.
Ich kann mich daran erinnern, dass vor der großen Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio sehr viele
ausländische Parlamentarier zum Deutschen Bundestag
- damals noch in Bonn - gekommen sind, um mit uns
darüber zu reden, wie wir uns auf diese Klimakonferenz
vorbereiten. Das war deshalb begründet, weil damals die
entsprechende Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestages und damit Parlamentarier - ich will jetzt
bewusst den Bundestag ansprechen und nicht die Vorbereitungen auf Regierungsebene - zusammen mit Wissenschaftlern hervorragende Vorarbeiten für diese Konferenz geleistet haben. Auf internationaler Ebene hat man
gesagt: In dieser Beziehung ist der Deutsche Bundestag
ein Vorbild.
Unabhängig davon, dass wir jetzt wieder einmal über
den richtigen Weg gestritten haben, möchte ich Folgendes feststellen: Beim Nachlesen in den Protokollen habe
ich ein Ausschussprotokoll vom 6. Mai 1992 gefunden.
Darin heißt es wörtlich - ich darf zitieren -:
Bei der Diskussion ergab sich weite Übereinstimmung in der Sache, was letztlich in einen interfraktionell erarbeiteten Entschließungsantrag mündete.
Das bezog sich auf die Vorbereitung der Konferenz in
Rio. Da wurde über alle Fraktionsgrenzen hinweg ein
Entschließungsantrag verabschiedet.
Warum sage ich das? Ich möchte damit dem Eindruck
in der Öffentlichkeit entgegentreten, der immer wieder
nach dem Motto vorgebracht wird: Schaut euch einmal
die Politiker an, die springen jetzt auf ein solches Modethema wie den Klimaschutz und die Umweltpolitik.
({13})
- Frau Künast, Sie scheinen von meinen Worten sehr getroffen zu sein. Darüber möchte ich jetzt aber hinwegsehen.
Nein, die Realität ist anders. Dieser Bundestag hat
sich nicht kurzfristig des Modethemas Klimaschutz angenommen, sondern er hat in diesem Feld seit Jahren
verantwortungsbewusst gearbeitet, teilweise über Fraktionsgrenzen hinweg. Es wäre sehr schön, wenn der Stil
der Auseinandersetzung über das Thema Klimaschutz
trotz des Streits über den richtigen Weg beibehalten
wird. Das wünsche ich mir. Als Westfale sage ich mit
Blick auf Ihre weitere Arbeit in diesem Bereich: Glück
auf!
Herzlichen Dank.
({14})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Paziorek, auch ich möchte Ihnen
alles Gute für Ihre neue Arbeit wünschen. Ich kann Ihnen versichern: Sie haben da einiges zu tun, insbesondere dann, wenn Sie Emissionsgrenzwerte durchsetzen
und etwas gegen Emissionen, etwa im Verkehr, tun müssen. Ich bestätige Ihnen: Es gibt in allen Fraktionen
Kämpferinnen und Kämpfer für einen besseren Klimaschutz. Ich erinnere mich auch daran, dass Sie in Ihrer
Fraktion in diesem Kampf manchmal sehr einsam waren.
Nun will ich das Thema wechseln und auf einen
Punkt zu sprechen kommen, der in Klimaschutzdebatten
meistens randständig ist. Ich meine den Verkehr. Wenn
Sie sich umschauen, dann stellen Sie fest, dass hauptsächlich Umweltpolitiker und kaum Verkehrspolitiker
anwesend sind. Auf der Regierungsbank ist das Umweltministerium und nicht das Verkehrsministerium vertreten. Kollege Paziorek hat vollkommen recht: Um Klimaschutz erfolgreich zu betreiben, darf kein Sektor
ausgeblendet werden, zum Beispiel der Verkehr.
Der weltweite Verkehr ist inzwischen für rund ein
Viertel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Der Verkehr in Deutschland verursacht etwa 20 Prozent
der hiesigen CO2-Emissionen. Egal wie man es betrachtet, man kommt nicht umhin, anzuerkennen, dass der
Verkehrssektor für den Klimawandel inzwischen der
zweitproblematischste ist. Wenn man das Klima schützen will, dann kann man das nicht ohne eine entsprechende Verkehrspolitik tun.
({0})
Wir haben in anderen Sektoren, insbesondere im
Energiebereich, eine Reihe von Erfolgen erzielt. Es ist
uns gelungen, dafür zu sorgen, dass die Emissionen
- zum Teil drastisch - gesenkt werden. Der Verkehrssektor verzeichnet hingegen seit vielen Jahren Wachstumsraten. Das konterkariert alle von uns unternommenen
Anstrengungen in den anderen Bereichen. Wir müssen
im Verkehrssektor dringend deutlich mehr tun.
Sieht man von der FDP einmal ab - aber die spielt
jetzt keine Rolle -, besteht hier Konsens über das Ziel,
die CO2-Emissionen bis 2050 um 80 Prozent und bis
2020 um 40 Prozent zu senken. Was die Verkehrspolitik
angeht, sage ich ganz offen - unsere Fraktion hat das
auch in ihrem Konzept so dargestellt -: Aufgrund des
Wachstums des Verkehrs werden wir nicht in der Lage
sein, auf diesem Gebiet das 40-Prozent-Ziel zu erreichen. Wenn es zu einem Rückgang der CO2-Emissionen
im Verkehrssektor um 30 Prozent kommt, dann ist das
schon ziemlich viel. Es erfordert von uns große Anstrengungen.
30 Prozent weniger von diesem Treibhausgas heißt
zum Beispiel, dass in diesem Bereich knapp 20 Prozent
weniger Energie verbraucht wird und dass der Anteil
erneuerbarer Energien auf 20 Prozent anwächst. Um unsere Ziele zu erreichen, können wir meiner Meinung
nach nicht auf ein einziges Instrument setzen, etwa nur
auf das marktwirtschaftliche Instrument des Emissionshandels. Ja, dieses Instrument hat seinen Platz, zum Beispiel im Bereich des Flugverkehrs. Aber es darf nicht
das einzige Instrument in allen Verkehrssektoren sein.
Wir müssen für jeden Sektor ein eigenes Maßnahmenpaket schnüren. Das heißt, der Inhalt des Instrumentenkastens ist davon abhängig, in welchem Sektor wir etwas
machen wollen.
Das Motto unseres Vorgehens lautet: Wir müssen den
Verkehr verträglicher gestalten, wir müssen ihn dort vermeiden, wo es geht, und wir müssen ihn überall dort umgestalten, wo es Verkehrssysteme und Verkehrsträger
gibt, die deutlich effizienter, deutlich klimafreundlicher
als beispielsweise der Lkw-Verkehr sind.
({1})
80 Prozent der CO2-Emissionen in diesem Sektor entstehen im Straßenverkehr. Daher führt kein Weg daran
vorbei, dass es für die Pkws europaweit wirklich anspruchsvolle Verbrauchsobergrenzen geben muss. Ich
sage Ihnen ganz offen: Wir dürfen an dem 120-GrammZiel nicht rütteln lassen. Wir treten dafür ein, dass es im
Jahr 2020 möglichst viele 3-Liter-Autos gibt. Dieses
Ziel muss europaweit und durch entsprechende Maßnahmen hier politisch abgesichert werden.
({2})
Es muss Schluss sein mit immer schnelleren Fahrzeugen, die immer effizientere Motoren haben. Es ist, um es
einmal plastisch zu sagen, dem Klima wurscht, ob wir
mit immer schnelleren Fahrzeugen immer mehr fahren,
mit immer besseren Flugzeugen immer mehr fliegen,
wenn in der Summe der Ausstoß der Treibhausgase ansteigt und nicht reduziert wird.
Wir müssen - ich habe es bereits gesagt - auch mehr
für die Verlagerung des Verkehrs tun. Wir haben auf
der einen Seite im Bereich des Güterverkehrs auf der
Straße Wachstumsraten, die absolut klimaschädlich sind.
Auf der anderen Seite haben wir im Schienenverkehr
Engpässe, sodass man schon heute sagen kann, das zukünftige Verkehrswachstum kann auf der Rheintalstrecke und den Hafenhinterlandstrecken von den großen
Häfen weg nicht auf der Schiene bewältigt werden, obwohl sich alle einig sind, dass dort etwas geschehen
muss.
Meine Damen und Herren, ich muss zum Schluss
kommen. Wir sollten zukünftig in die Klimaschutzpolitik die Verkehrsemmissionen verstärkt mit einbeziehen
und dort nicht nur Ziele formulieren, sondern ein ganzes
Bündel von ambitionierten Maßnahmen gemeinsam
nach vorne bringen, denn Klimaschutz ohne Verkehrspolitik muss scheitern.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst etwas zum Kollegen Hermann sagen.
Sie haben recht, der Verkehr ist ein unterschätztes Feld
der Klimapolitik, auf dem wir sicher noch eine Menge
Aufgaben haben. Sie sollten aber auch sagen, dass wir
gerade im Bereich des Individualverkehrs jetzt auf europäischer Ebene einen deutlichen Fortschritt machen. Der
Umweltrat der Europäischen Union hat gerade die
Obergrenze von 120 Gramm für CO2-Emmissionen bis
2012 beschlossen. Das ist das von Ihnen eingeforderte
Ordnungsrecht. Das geht immer nur in der Kombination
von gesetzlichen Vorgaben und marktwirtschaftlichen
Instrumenten. Wir haben erlebt, dass die dort abgegebenen Selbstverpflichtungen in der Regel nicht eingehalten
werden. Deswegen geht es um die Balance zwischen
Ordnungsrecht und Marktwirtschaft.
({0})
- Ich habe Ihren Zwischenruf leider nicht verstanden,
aber keine Sorge, ich komme noch zu den Linken. Angesichts der Tatsache, dass Sie die Braunkohle bis 2050
fördern wollen - das steht heute in den Zeitungen -, war
das heute ein interessanter Redebeitrag der Linken. Den
Widerspruch, einerseits hier zu erklären, man solle aus
der Braunkohle austeigen, und andererseits einen Beschluss zu fassen, bis 2050 die Braunkohle weiter nutzen
zu wollen, müssen Sie auch einmal erklären.
({1})
Ich lese einmal einen Satz vor - wir sind ja kurz vor
den Ferien; da muss man ja ein bisschen Spaß haben -:
Bei der Steinkohle will die Linksfraktion das Ausstiegstempo verlangsamen.
Das ist der Beschluss, den Sie fassen. Hier sagen Sie jedoch, wir sollen nicht so viele Kohlekraftwerke bauen.
Der Kollege Paziorek hat absolut recht, wir müssen in
moderne Kohlekraftwerke investieren, um alte stilllegen
zu können. Die Bundesregierung will - das müssen wir
machen - damit 42 Millionen Tonnen CO2 einsparen.
Sie sagen dazu, dass diese Investitionen dann für 30,
40 Jahre stehen. Das ist - ich weiß nicht, wie gut Ihre
Fraktion in Mathe ist - ungefähr der Zeitraum bis 2050.
Wenn Sie mit uns einer Meinung sind, dann halten Sie
hier doch auch einmal Reden, aus denen man das erkennen kann. Reden Sie hier nicht das Gegenteil von dem,
was Sie den Wählern in Sachsen-Anhalt gegenüber, die
von der Braunkohle betroffen sind, öffentlich erklären.
Das geht so nicht. Das können wir Ihnen so nicht durchgehen lassen.
({2})
Ja, wir sind für eine 100-Prozent-Auktionierung in
der dritten Handelsperiode. Aber machen Sie nicht die
Auktionierung zum Jäger 90 des Jahres 2013. In der Regel kann man Geld nur einmal ausgeben. Wenn wir für
internationale und nationale Klimaschutzmaßnahmen
Geld einsetzen wollen, dann ist es natürlich absoluter
Wahnsinn, der Öffentlichkeit zu versprechen, für einen
bestimmten Teil der Bevölkerung die Elektrogeräte
staatlich zu subventionieren. Ich weiß kaum noch, was
man dazu sagen soll.
({3})
- Natürlich, Sie haben vorgeschlagen, einen Fonds aufzulegen und dann die effizienten Geräte preiswerter an
einen bestimmten Teil der Bevölkerung abzugeben. Wir
müssen hingegen Folgendes machen: Wir müssen die
Geräte dadurch preiswerter machen, dass wir sie beispielsweise anders besteuern oder durch Top-RunnerProgramme fördern, damit mehr Geräte auf den Markt
kommen. Das ist der richtige Ansatz.
({4})
Man sollte nicht am Beispiel von Hartz IV die Leute für
dumm verkaufen und ihnen sagen, Ihre Partei würde dafür sorgen, dass der Föhn im Kaufhaus und der Computer im Media Markt in Zukunft bei Vorlage des Hartz-IVScheins preiswerter abgegeben werden und dass die
Bundesregierung das aus Steuergeldern bezahlt. Ich
weiß wirklich nicht, in welchem Jahrhundert Sie sind, in
diesem Jahrhundert sind Sie jedenfalls nicht.
({5})
- Wenn Sie solche Zwischenrufe machen, muss ich Ihnen sagen: Hier beantragen Sie den Stopp der Braunkohle, und zu Hause in Sachsen-Anhalt gefährden Sie
damit 1 000 Arbeitsplätze. - Das ist die Politik der
Linkspartei im Deutschen Bundestag. Sie machen
1 000 Leute im Land Sachsen-Anhalt arbeitslos.
({6})
Was Sie hier beantragen, ist unpopulär. Das trifft zu.
Aber auch dann muss man das öffentlich sagen.
({7})
- Haben Sie nicht nur den Mut zu Zwischenrufen; haben
Sie auch einmal den Mut zu einer Rede, am besten vor
mir, damit ich danach auf Sie antworten kann!
({8})
Ich sage ganz offen: So kann man das nicht betreiben.
Top-Runner, Frau Kollegin, das wollen wir.
({9})
Aber Sie wissen doch wie wir, dass Regeln im europäischen Binnenmarkt für alle gelten müssen. Wir können
kein nationales Top-Runner-Programm auflegen. Wir
müssen das auf der europäischen Ebene durchsetzen.
Das wollen wir auch. Verkaufen Sie die Leute also nicht
für dumm, indem Sie erklären, man könne das mit nationalen Alleingängen erreichen!
({10})
Die Bundesregierung hat, beginnend mit dem Koalitionsvertrag, ihre Klimaschutzpolitik aufgebaut. Ich
kann das Kompliment an Herr Paziorek zurückgeben. Er
war der Verhandlungspartner auf der Seite der CDU/
CSU-Fraktion. Mit einigen Kollegen aus den Fraktionen
haben wir all das, was wir jetzt machen, bereits im Koalitionsvertrag festgelegt - einschließlich der CO2-Ziele
im Automobilsektor.
Wir haben den Koalitionsvertrag dann umzusetzen
begonnen. Wir haben die Mittel zur energetischen Gebäudesanierung vervierfacht, nämlich auf 1,4 Milliarden
Euro. Der Haushaltsansatz steigt noch einmal um rund
200 Millionen Euro. Zusammen mit den Mitteln aus dem
Städtebauförderbereich wenden wir 600 Millionen Euro
zusätzlich für die energetische Gebäudesanierung in
Deutschland auf. Das ist ein Riesenerfolg der Großen
Koalition in der Umsetzung ihrer Klimaschutzziele.
({11})
Wir haben die Mittel für das Marktanreizprogramm
zur erneuerbaren Wärme im letzten Haushalt gegenüber dem, was vorher real ausgegeben wurde, um
80 Millionen Euro erhöht.
({12})
- Herr Fell, bei der Gelegenheit: Im Haushaltsentwurf
stehen jetzt 45 Millionen Euro weniger. Das haben Sie
zitiert. Sie müssen aber auch sagen, dass gleichzeitig aus
den Auktionierungsmitteln 280 Millionen Euro zusätzlich für den nationalen Klimaschutz zur Verfügung stehen. Davon sollen im nächsten Jahr 100 Millionen Euro
für die erneuerbare Wärme eingesetzt werden. Wir geben deshalb nicht 45 Millionen Euro weniger aus, sondern noch einmal 60 Millionen Euro mehr. Das ist die
Realität der Politik der Bundesregierung.
({13})
Sie betreiben bei der Veranstaltung Volksverdummung. Wir haben die Mittel für Forschung und Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien verdoppelt; unmittelbar nach Abschluss der Koalitionsvereinbarung
umgesetzt. Wir haben das Zuteilungsgesetz verabschiedet. Wir haben die Vorschriften zur Auktionierung verabschiedet. Wir gehen jetzt daran, im fünften Schritt im
Herbst ein integriertes Klimaschutz- und Energiepaket in
den Bundestag einzubringen. Das heißt, zur Halbzeitbilanz dieser Koalition haben wir entsprechend der Koalitionsvereinbarung den Klimaschutz weit nach vorne
gebracht. Wir sind mit dem Paket in Europa und weltweit führend.
({14})
- Sie haben nicht zugehört. Ich habe Ihnen gerade vorgelesen, dass wir all das - ({15})
- Sie können noch dreimal dazwischenrufen;
({16})
es bleibt dreimal falsch, Frau Kollegin. Mehr bekommen
Sie hier nicht heraus.
({17})
Klimaschutz und Energiepolitik gehören zu 100 Prozent auf die Habenseite dieser Großen Koalition.
({18})
Von daher, Herr Kollege Fell: Vielen Dank für Ihr Paket,
aber es gilt Wallenstein:
Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, Graf Isolan;
({19})
der weite Weg entschuldigt Euer Säumen.
Das ist das, was ich zu Ihrem Paket sagen kann.
({20})
Herr Minister, Frau Kollegin Höhn würde gern eine
Zwischenfrage an Sie richten.
Immer gern, aus persönlichen und grundsätzlichen
Gründen.
Wenn Herr Gabriel die ganze Zeit darauf gewartet
hat, ist es doch in Ordnung, wenn ich das auch bediene.
Herr Minister, können Sie bestätigen, dass der
30. Juni das Datum war, zu dem die Bundesregierung ihren Aktionsplan Effizienzprogramm mit konkreten
Maßnahmen an die EU hätte liefern müssen? Dieses Datum ist verstrichen, und die Bundesregierung hat diesen
Maßnahmenkatalog nicht abgeschickt.
Auf eine Frage von mir hat das Wirtschaftsministerium am Mittwoch in der Fragestunde erklärt, man habe
noch nicht einmal das Gutachten dazu, danach müsse es
zur Abstimmung in der Bundesregierung kommen, und
irgendwann im Herbst werde das weitergeleitet. Können
Sie bestätigen, dass das Aktionsprogramm nicht bis zum
30. Juni an die EU gemeldet worden ist, wie es hätte geschehen müssen?
Ich kann Ihnen bestätigen, dass die Europäische
Union in Person des EU-Umweltkommissars Stavros
Dimas die weit reichenden Beschlüsse der Bundesregierung zur Klimaschutzpolitik, die ich in einer Regierungserklärung hier für die Bundesregierung vor einigen
Wochen vorgestellt habe, für absolut federführend erachtet, er der Auffassung ist, dass diese die Europäische
Union voranbringen, und er deshalb kein Problem hat,
wenn wir ihm das Papier, in dem das niedergelegt wird,
ein paar Wochen später schicken. Die Europäische
Union hält uns für die absoluten Vorreiter im Bereich der
Energie- und Klimapolitik in Europa.
({0})
Das ist die Position der Europäischen Union, nachzulesen im Protokoll des Umweltrates, der letzte Woche in
Luxemburg stattgefunden hat.
Meine Damen und Herren, ich wollte auch noch etwas zu den erneuerbaren Energien, nämlich zu Biokraftstoffen und zum Wärmegesetz, sagen.
Wir werden ein Wärmegesetz im Rahmen eines
Klima- und Energiegesetzes umsetzen.
({1})
- Sie sagen, das hören Sie schon lange? Warum haben
die Grünen es denn nicht umgesetzt? Sie haben Geld dafür in den Haushalt eingestellt, diesen Etat mit dem Forschungsetat gegenseitig deckungsfähig gemacht, dann
das Geld in die Forschung geleitet und es nicht für regenerative Wärme zur Verfügung gestellt. Diese Politik haben Sie mitzuverantworten.
Wir werden das so machen, wie es die Kollegin vorhin in ihrer Rede gesagt hat, nämlich über eine Mischung: einmal ordnungsrechtlich im Gesetz und zum
anderen durch haushaltspolitische Maßnahmen, aber
nicht in einem Modell, wie wir es bei den erneuerbaren
Energien im Stromsektor hatten.
Die Biokraftstoffe haben wir deshalb steuerlich anders behandeln müssen, weil die Europäische Union uns
eine Überförderung vorgeworfen hat. Sie wissen, dass
jährlich eine Überprüfung stattfindet. Wenn es in diesem
Bereich zu einer Unterförderung kommt, wird das mit
Sicherheit korrigiert.
({2})
- Zunächst einmal haben wir erlebt, dass die Preise für
Biokraftstoffe analog zu den Ölpreisen gestiegen sind.
Hier liegt offensichtlich eine Form der Ölpreisbindung
vor. Von daher müssen Sie schon gestatten, dass wir uns
darum bemühen, die Haushalte im Griff zu behalten.
Zum Thema Kohle. Die Kollegin Höhn hat absolut
recht: Wir brauchen Kraft-Wärme-Kopplung. Hier muss
aber auch die Kohle einbezogen werden. Sie können die
deutsche Grundstoffindustrie, beispielsweise die Stahlindustrie und die Aluminiumindustrie, nicht auf Energie
aus Gaskraftwerken verweisen, weil der so produzierte
Grundlaststrom so viel kosten würde, dass diese Industrie auf europäischer und internationaler Ebene nicht
mehr wettbewerbsfähig wäre. Wir können uns um diese
Debatte nicht drücken. Das ist ein schwieriges Thema.
Das weiß auch ich. Ich weiß, dass die beiden Grundlastträger, die preiswert sind, Kohle und Kernenergie sind.
Aus der Kernenergie wollen wir aussteigen. Ihren Weg
aber, ganz aus der Kohleverstromung auszusteigen, dürfen wir nicht gehen - Ihre Politik in Bremen ist dafür ja
ein Beispiel -;
({3})
denn das führt dazu, dass am Ende die Laufzeiten für
Kernkraftwerke wieder verlängert werden.
({4})
Mit Ihrer Konzeption jedenfalls wird in den nächsten
zehn, 15 Jahren kein Stahlwerk, kein Aluminiumwerk,
weder die Deutsche Bahn noch die Zement- oder Keramikindustrie in Deutschland im Grundlastbereich so mit
erneuerbaren Energien versorgt werden können, dass sie
überhaupt noch den Hauch einer Chance hätte, im internationalen Bereich wettbewerbsfähig zu sein.
({5})
Hier liegt ein Unterschied zwischen uns, auf den ich
als Sozialdemokrat sehr großen Wert lege. Ich möchte
nicht, dass wir am Ende die Zustimmung zu unserer
Energie- und Klimapolitik in der Bevölkerung verlieren,
weil die Leute, die nicht Akademiker sind, die nicht im
öffentlichen Dienst arbeiten, die nicht A 13 aufwärts
verdienen, sondern in der Stahl-, Zement- oder Keramikindustrie usw. beschäftigt sind, Angst haben, dass sie ihren Job verlieren und ihre Familien nicht mehr ernähren
können. Das ist der Grund, warum ich gegen Ihre Politik
bin.
({6})
Eine letzte Bemerkung noch, weil ich die Kollegen
von der FDP nicht völlig unbeachtet lassen möchte: Ihren Redebeitrag, Herr Kauch, fand ich - das will ich offen sagen - ausgesprochen interessant. Es lohnt sich
nämlich, weiter darüber zu diskutieren, wie viel Ordnungsrecht und wie viel Markt wir brauchen. Ich habe
sehr wohl bemerkt, dass von Ihnen insbesondere beim
Thema Emissionshandel eine ganze Reihe an Vorschlägen gekommen sind, die dazu führen können, dass hier
ein Finanzmarkt entsteht, der transparent, harmonisiert
und auch funktionsfähig ist. Ich würde mir wünschen,
dass Sie es schaffen, die Mehrheit Ihrer Fraktion in diesem Bereich hinter sich zu bekommen. So kämen wir
dem einen Schritt näher, was Herr Paziorek am Ende seiner Rede geschildert hat: Dann hätten wir nämlich die
Chance, eine gemeinsame Position gegenüber internationalen Entwicklungen einzunehmen.
Die Frage, wie wir das europäische Emissionshandelssystem bestellen, wird uns im Deutschen Bundestag
mit ziemlicher Sicherheit noch beschäftigen. Es wird
nämlich nicht ganz einfach sein, einen wirklich transparenten Emissionshandel in Europa mit einheitlichen
Caps im Strommarkt, mit einer 100-prozentigen Auktionierung hinzubekommen, der von einer Institution überwacht wird, die für Marktpflege und Marktinformation
zuständig ist. Das wird ein großes Thema werden. Ich
würde mich freuen, wenn die Kooperation mit der FDP
an dieser Stelle so gut wird, wie sie damals offensichtlich gewesen ist.
Ich weiß nicht, ob ich nun noch eine Zwischenfrage
beantworten soll. - Wenn nicht, höre ich jetzt einfach
auf. Tschüs!
({7})
Ich gebe jetzt das Wort zu einer Kurzintervention zuerst dem Kollegen Hill und anschließend dem Kollegen
Fell. - Herr Minister, wenn Sie einverstanden sind, antworten Sie dann auf beide Kurzinterventionen zusammen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Herr Minister, ich
bitte Sie, folgende Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatten uns in der vergangenen Sitzungswoche
selbst aufgefordert, zur Kohle eine Position einzunehmen. Jetzt haben wir eine Position eingenommen; diese
scheint Ihnen aber nicht zu gefallen.
Ich möchte zunächst einmal auf die Braunkohle eingehen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es in den
Braunkohlerevieren genehmigte Abbaupläne gibt und
dass diese Abbaupläne im Rahmen des Bergrechts auch
nicht antastbar sind. Insbesondere in der Lausitz und in
Nordrhein-Westfalen sind für die nächsten 40 Jahre Felder erschlossen, die auch abgebaut werden. Sie wissen,
dass diese Kohle dort zur Verstromung geführt wird. Das
ist in unserem Papier auch so festgehalten. Wir stellen
also fest, dass die Braunkohle eine Perspektive bis 2050
hat und dass in diesem Zeitraum, gemeinsam mit den
Unternehmen und den Menschen, ein Umbau nicht nur
der Energiewirtschaft, sondern der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem Land zu erfolgen hat. Damit haben diese Unternehmen und diese Menschen eine
Perspektive.
Nun möchte ich zur Steinkohle kommen. Es gibt einen Beschluss, den Sie so gut wie ich kennen, nach dem
die Steinkohle bis 2018 noch eine Zukunft in diesem
Lande hat. Sie wissen aber ebenso gut, dass es auch nach
2018 einen Bedarf an Steinkohle geben wird. Es gibt
eine Vielzahl von Unternehmen, zum Beispiel Zulieferunternehmen, und Menschen in diesen Revieren, für die
die Steinkohle wichtig ist. Für sie ist es notwendig, wenigstens ein Bergwerk zu haben, damit ihre Technologie,
die wir exportieren wollen, weltweit zum Einsatz gebracht werden kann. Nur dort, wo es ein Referenzbergwerk gibt, wird dies möglich sein. Deswegen geben wir
diesen Unternehmen genauso wie den Kumpeln eine
Perspektive über 2018 hinaus.
Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf die Diskussion
zur Effizienz, die wir gestern geführt haben, zu sprechen
kommen. Wir haben das Ziel der Steigerung der Effizienz um 3 Prozent pro Jahr. Die uns vorliegenden
Gutachten machen deutlich, dass aufgrund des Zertifikatehandels voraussichtlich ab 2013 kein weiteres Kraftwerk mehr gebaut werden wird. Ich fordere Sie auf, die
Gutachten einfach einmal etwas genauer zu lesen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Sie haben Ihre drei Minuten überschritten.
({0})
Danke schön.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Fell.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Herr Umweltminister, Sie haben gerade gesagt, dass das Festhalten an
der Kohle auch aus sozialen Gründen und aus Kostengründen sinnvoll sei. Haben Sie den vor kurzem gefassten Beschluss des Stadtrates in München zur Kenntnis
genommen, der nach einer Anhörung über diese Frage
eine weitere Beteiligung der Stadtwerke München an
neuen Kohlekraftwerken abgelehnt hat? Die Gründe
dafür sind in einer umfangreichen Anhörung dargestellt
worden. Zum einen gibt es unkalkulierbare Finanzrisiken bei neuen Kohlekraftwerken, weil eine Verknappung
der Kohle auf dem Weltmarkt droht. Das wird dargestellt
in zwei wissenschaftlichen Gutachten, des Joint Research Center in Petten in Belgien und der Energy Watch
Group. Beide kommen zu dem gleichen Ergebnis, dass
die Verknappung der Kohle wesentlich näher bevorsteht, als es bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen dargestellt wurde. Übrigens wird das von der deutschen Steinkohlewirtschaft selbst bestätigt, die in ihrer
Maiinformation dargelegt hat, dass ab 2009 eine Verknappung der internationalen Kraftwerkskohle mit drastischen Preissteigerungen zu erwarten ist. Damit wird
der Trend bestätigt, den wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten, nämlich eine deutliche Preissteigerung
bei der Steinkohle.
Der zweite Grund für diese unkalkulierbaren Finanzrisiken liegt im Klimaschutz. Niemand weiß, welche
Kosten ab 2013 anfallen, wenn man bei der Verstromung
der Kohle wirklich Klimaschutzmaßnahmen anwenden
will.
Beides zusammen - das wissen Sie - führt für die
Kohle zu unkalkulierbaren Finanzrisiken. Es ist gut, dass
auch mit SPD-Beteiligung ein erster Beschluss auf
Stadtebene gefasst wurde, der feststellt, dass dies nicht
weiter tragbar ist. Zudem ist doch klar, dass die von Ihnen immer wieder propagierte Hoffnung, man könne mit
der Kohle auch eine CO2-freie Stromerzeugung erreichen, längst dabei ist, zu scheitern. Zwei große Gaskraftwerke in Norwegen, in denen CCS, also die Abscheidung von Klimagasen, verwirklicht werden sollte,
werden nicht mehr weiter gebaut. Die dortigen Betreiber
haben festgestellt: Das ist nicht finanzierbar; es ist technisch nicht realisierbar. Sie haben das Projekt beendet.
Viele andere CCS-Projekte werden wohl das gleiche
Ende nehmen.
Wir wissen ferner, dass ein Verzicht auf weitere Investitionen in die Kohle nicht bedeutet, dass wir dann zu
Kernkraftwerken übergehen müssen. Die erneuerbaren
Energien sind aufgrund der starken Wachstumsraten,
die Sie selbst dargestellt haben, in Verbindung mit Energieeffizienz- und -einsparmaßnahmen sehr wohl dazu
geeignet, eine umfassende, kostengünstige und das
Klima schützende Energieversorgung sicherzustellen.
({0})
Herr Minister, Sie können antworten.
Zuerst zum Kollegen Hill. Herr Hill, Sie haben eben
noch einmal eindrucksvoll bestätigt, dass es zwischen
Ihrer Position und der von Frau Bulling-Schröter, die für
die Linksfraktion gesprochen hat, einen großen Unterschied gibt.
({0})
Darauf will ich hinweisen.
Ihre Fraktionssprecherin hat mich und die Regierungskoalition mehrfach dazu aufgefordert, im Nationalen Allokationsplan und im Zuteilungsgesetz die Braunkohle deutlich schlechter zu behandeln, dafür zu sorgen,
dass wir gar kein neues Braunkohlekraftwerk mehr in
Deutschland in Betrieb nehmen, und schnellstens aus der
Braunkohle auszusteigen. Sie, Herr Hill, haben hier ein
Plädoyer - das ich für sehr vernünftig halte - dafür gehalten, dass man - Sie sagen bis 2050; ich weiß nicht, ob
man da Jahreszahlen festlegen kann - dafür sorgt, dass
alte Kraftwerke geschlossen werden, neue Braunkohlekraftwerke, die weniger CO2 ausstoßen, die alten ersetzen, und dass man den Beschäftigten dieser Kraftwerke
Perspektiven eröffnet.
Herr Hill, wenn Sie sich in Ihrer Fraktion einmal als
Redner für eine solche Debatte durchsetzen könnten,
dann würden wir nicht so viel Streit bekommen, wie die
- ansonsten von mir sehr geschätzte - Kollegin BullingSchröter mit mir bekommt, wenn sie das Gegenteil dessen erzählt, was Sie erzählen. Sie werden mir gestatten,
dass ich angesichts der öffentlichen Debatte, die Sie erzeugen, auf Widersprüche in Ihrer Fraktion hinweise.
({1})
Man könnte das doppelzüngig nennen, aber es liegt mir
natürlich fern, einen solchen Begriff zu verwenden.
({2})
- Ich weiß, dass es unangenehm ist, wenn man vorgeführt wird, und ich gebe zu, mir ist das auch schon passiert; aber heute müssen Sie es einmal ertragen.
Jetzt zum Kollegen Fell. Herr Fell, ich weiß nicht,
welche Gründe dazu geführt haben, das in München
nicht zu tun;
({3})
das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich kann Ihnen
nur sagen, dass wir in Deutschland preiswerten Grundlaststrom mit zwei Energieträgern sicherstellen können:
Das eine ist die Steinkohle, und das andere ist die Braunkohle.
({4})
Bei den erneuerbaren Energien werden wir - jetzt appelliere ich, ein bisschen auf die Grundrechenarten zu achten - bis zum Jahre 2020 - jetzt bin ich einmal ganz optimistisch - auf etwa 30 Prozent kommen.
({5})
Das ist ein riesiges, ambitioniertes Ziel. Sie hatten in der
Vergangenheit das Ziel von 20 Prozent. Wir sind mit der
Großen Koalition deutlich darüber in Richtung 30 Prozent. Dann bleiben 70 Prozent übrig, die sichergestellt
werden müssen.
Die Effizienzgewinne können Sie nicht einfach gegenrechnen, weil wir mit ihnen dafür sorgen wollen,
dass das Wirtschaftswachstum vom Energiewachstum
abgekoppelt wird. Das heißt, Sie müssen sagen, wie die
70 Prozent der Stromversorgung sichergestellt werden
können, die wir nicht aus erneuerbaren Energien gewinnen können. Dafür gibt es zwei Träger: Gas und Kohle.
Gas nutzen wir zu 10 Prozent im Bereich der Spitzenlast
und der oberen Mittellast. Warum? Weil Gas sehr teuer
ist.
Wenn wir das machen, was Sie wollen, verteuern wir
den Strom massiv. Wir können das Gas notfalls zwar besorgen - obwohl das derzeit ziemlich schwierig ist -, wir
bräuchten aber den Gasbestand ganz Italiens, um die
Stromgewinnung aus Kohle, die Sie nicht mehr wollen,
zu ersetzen. Sie können sich ungefähr vorstellen, wie
freudig Herr Putin oder Firmen wie Gazprom das zur
Kenntnis nehmen würden. Das wäre für die deutsche Industrie mit einer enormen Preissteigerung im Bereich
der Grundlast verbunden. Herr Fell, das will ich nicht
verantworten, das will die Große Koalition nicht verantworten.
Ihre Politik würde Herrn Hambrecht - der die Sorge
hat, dass es zu einer Deindustrialisierung kommt - zum
ersten Mal recht geben. Weil ich meine, dass er an dieser
Stelle unrecht behalten muss, können wir diese Politik
nicht mittragen. Das wäre industriepolitisches Abenteurertum, Herr Fell. Das ist das, was dabei herauskäme.
({6})
Sie verschweigen etwas. Ich war gestern bei der Vorstellung des Erfahrungsberichts zum Erneuerbare-Energien-Gesetz ganz offen. Ich habe gesagt: Ja, wir subventionieren das mit 3,2 Milliarden Euro. Die Förderung
wird bis zum Jahr 2020 auf 5 Milliarden Euro steigen.
Das ergibt für jeden Bundesbürger pro Monat heute
1 Euro, später 1,30 Euro und im Jahr 2020 1,40 Euro.
Ich halte das für preiswert, wenn man dagegenhält, was
das für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder bedeutet. Ich halte das für vertretbar.
Ich kann doch nicht so tun, als ob der Strom, den wir
aus erneuerbaren Energien gewinnen, bis 2020 auf jeden Fall grundlastfähig wäre. Herr Fell, wir produzieren
dann in unseren Netzen bis zu 50 000 Megawatt fluktuierender Energie. Mal ist der Wind da, mal nicht; mal ist
Stromerzeugung durch Fotovoltaik möglich, mal nicht.
Ihre virtuellen Kraftwerke werden im Jahr 2020 noch
nicht überall funktionsfähig und am Netz sein, und das
in einem Industriestaat wie Deutschland.
({7})
Sie werden Regelkraftwerke brauchen. Diese Regelkraftwerke müssen Sie im Zweifel mit Gas betreiben,
und das ist eine ziemlich teure Veranstaltung.
({8})
Sie wollen den Leuten vormachen, dass das möglich
wäre. Das geht aber nicht. Wir wollen 27 Prozent,
30 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewinnen. Wir dagegen wollen aber auch die Modernisierung der Stromgewinnung aus Kohle, und wir wollen,
dass diese Stromgewinnung mit einem geringeren CO2Ausstoß erfolgt.
Das ist der Grund, warum wir - Herr Fell, jetzt kommen wir zu den Zahlen - bis zum Jahr 2012 den Bau von
neun Kohlekraftwerken planen, sechs Steinkohle- und
drei Braunkohlekraftwerken. Herr Fell, wir wollen jetzt
keine Entscheidung darüber treffen - das können wir
auch gar nicht -, was nach 2013 passiert. Nach 2013
- insofern haben Sie recht - werden die Emissionsbudgets in Europa geringer sein.
({9})
- Ich habe Ihnen doch auch zugehört. Hören Sie mir jetzt
doch auch einmal zu; Sie müssen ja nicht der gleichen
Meinung sein.
({10})
Darum geht es im Parlament doch gar nicht.
Wir wissen, dass das dann nur noch unter zwei Bedingungen möglich sein wird: Entweder wir haben die CO2arme Kohletechnik - CO2-frei wird sie nicht sein -, oder
Sie müssen sich auf dem internationalen Markt im Rahmen des internationalen Kohlenstoffhandels Zertifikate
kaufen. Exakt das habe ich in der Regierungserklärung
gesagt. Kein Unternehmen wird in Deutschland in Kohlekraftwerke investieren - von den neun, die ich genannt
habe, einmal abgesehen -, solange es nicht weiß, wie die
Regeln zum europäischen Emissionshandelssystem nach
2013 aussehen werden.
Herr Minister, Ihre Zeit für die Beantwortung ist zu
Ende. Es tut mir leid.
Vielen Dank. Ich bin auch fertig.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Horst Meierhofer,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Gabriel, Sie können sicher sein, dass die
FDP wie ein Mann hinter unseren Beschlüssen zum
Emissionshandel steht, gerade hinsichtlich des Wärmebereichs. Wir haben das einstimmig beschlossen. Die
Umwelt- und die Energiepolitiker bei uns sind sich da
absolut einig.
({0})
Ich habe aber das Gefühl, dass das bei der Großen
Koalition nicht immer der Fall ist. Wenn man hört, was
von den Umweltpolitikern einerseits und den Wirtschaftspolitikern andererseits kommt, hat man nicht unbedingt das Gefühl, dass das gut abgestimmt ist. Deswegen glaube ich auch nicht, dass das angekündigte große,
allumfassende Konzept tatsächlich Wirklichkeit wird,
solange man es hinausschieben kann.
({1})
Ich finde interessant, was zum Beispiel die CDU/CSU
dazu sagen wird - das fand ich noch interessanter als den
Vorschlag von Frau Bulling-Schröter; um Sie zu unterstützen, kam jetzt vom Minister ein anderer Vorschlag -,
dass Kühlschränke anders besteuert werden sollen. Ich
kann mir vorstellen, dass es spätestens hierzu in der Koalition die eine oder andere Unstimmigkeit geben wird.
Das werden wir dann später sehen.
({2})
Heute in der Diskussion ist mir - zumindest bisher;
ich glaube, es spricht noch eine Kollegin aus dem Entwicklungshilfeausschuss - die internationale Dimension
ein bisschen zu kurz gekommen. Ich bezweifle, dass wir,
Herr Fell, in Deutschland allein - so schön es auch ist,
dass wir Vorreiter sind; das ist vollkommen wichtig das Klima werden retten können. Das werden wir nicht
mit Tempo 120 schaffen. Das werden wir nicht mit den
anderen Aktionen schaffen, auf die Herr Schwabe schon
hingewiesen hat.
({3})
Natürlich müssen wir Vorreiter sein. Aber wir müssen
auch überlegen, wie wir unser Geld am besten einsetzen
können, wie wir für den Klimaschutz, für den wir alle
einstehen, international am meisten erreichen können.
({4})
Da sind die Angebote, die von den Grünen und von der
Linken gemacht werden, sehr gering.
({5})
Ihnen geht es immer nur darum, die Fehler bei uns vor
Ort zu suchen und sich ansonsten nicht um den Rest der
Welt zu scheren.
({6})
Ich habe das Gefühl, dass wir uns über den PostKioto-Zeitraum unterhalten müssen. Mir geht es darum,
dass man festhalten muss, dass wir sowohl die Chinesen
als auch die Inder und die USA mit ins Boot holen müssen - diese Punkte sind heute deutlich zu kurz gekommen -, ansonsten wird es nicht funktionieren, und wir
werden keinerlei Möglichkeiten haben, dieses Problem
zu lösen.
Wir müssen - das hat Minister Gabriel gesagt - ein
allumfassendes Konzept, das bisher fehlt, schaffen. Mit
dem Emissionshandel würde uns das gelingen. Es wäre
hervorragend, wenn wir da gemeinsame Positionen finden. Dazu gehört übrigens auch der Luftverkehr. Auch
im Bereich Luftfahrt muss man sich Gedanken machen.
({7})
Das ist bisher leider viel zu wenig geschehen. Wir müssen im Bereich der Technologiezusammenarbeit viel
mehr tun.
Wir müssen auch bei der Förderung erneuerbarer
Energien, beispielsweise hinsichtlich des Exports, deutlich mehr tun. Gerade in dem Bereich, glaube ich, haben
wir Möglichkeiten, für die deutsche Wirtschaft - für den
Export und die Erneuerbare-Energien-Industrie - und für
das Klima weltweit etwas zu tun.
Ich glaube, wenn wir uns darauf verständigen, dienen
wir dem Klimaschutz am besten. Dann besteht auch
nicht das Problem, dass wir uns gegenseitig immer nur
vorhalten, wer das bessere Konzept hat. Es geht hier um
eine gemeinsame Aufgabe. Wir werden sie nicht bewältigen, wenn jeder immer nur mit Scheuklappen seine eigenen Ideen verfolgt. Wir sollten uns ein bisschen umfassender damit auseinandersetzen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich
hätte nie gedacht, dass der Tag kommt, an dem ich mich
freue, dass die Grünen in der Bundesregierung waren.
Sie nicken. Daher weise ich Sie darauf hin, dass die Betonung auf „waren“ liegt.
({0})
Außerdem freue ich mich nicht deshalb, weil Sie so
Großartiges geleistet hätten, sondern weil Sie dabei die
Unschuld der Oppositionspartei verloren haben. Sie
kämpfen hier einen Verzweiflungskampf um Ihr Profil,
das Ihnen dabei komplett abhanden kam. Der Pazifismus
war mit den ersten Kriegseinsätzen sofort erledigt. Dann
kam der sofortige Ausstieg aus der Kernenergie. Er war
dann aber nicht sofort. Ich muss Ihnen ehrlich sagen,
dass ich das nicht nachvollziehen kann. Denn angesichts
der Tatsache, dass die Grünen erzählen, wie riskant und
kritisch die Kernenergie ist, müsste man konsequent sein
und sofort aussteigen und kann nicht sagen: Das ist nicht
verantwortbar; aber für 20 Jahre können wir es natürlich
schon verantworten. Das war ausgesprochen inkonsequent.
({1})
Heute erleben wir, wie diese Inkonsequenz fortgesetzt
wird. Sie konzentrieren sich auf die erneuerbaren
Energien. Hier haben wir ein europäisches Ziel - federführend von der Kanzlerin festgelegt -: Die erneuerbaren Energien sollen 20 Prozent des Primärenergieverbrauchs ausmachen. Sie beantworten vorsichtshalber die
Frage nicht, wo die anderen 80 Prozent herkommen sollen.
Nun gibt es unter Ihnen den Kollegen Fell. Wenn man
lange genug nachbohrt, sagt er einfach: Den Primärenergieverbrauch können wir auch zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien abdecken. Lieber Kollege Fell, da leisten Sie der Erneuerbare-Energien-Branche einen
Bärendienst. Sie arbeiten an dieser Stelle mit Entwicklungen und Erfahrungskurveneffekten, die nicht real
sind.
({2})
Wenn wir sie politisch abbilden würden, dann würden
wir all das, was sich in diesem Bereich erfreulicherweise
entwickelt, sofort abwürgen.
Vieles von dem, was in Ihrem schönen, bunten Papier,
das Ihnen allerdings auch kein Profil verleiht, steht, hätten Sie in Ihrer Regierungszeit tun können. Heute haben
wir endlich erfahren, woran es lag, dass Sie das nicht getan haben: Schuld daran war nur die SPD.
({3})
Das ist das alte Lied, das Sie immer wieder anstimmen.
Ich frage Sie: Warum konnten Sie sich damals nicht
wenigstens in den Bereichen durchsetzen, von denen wir
heute wissen, wie sehr sie die Wirtschaft beleben? Das
gilt zum Beispiel für das Programm zur CO2-Gebäudesanierung. Im Jahre 2001 haben Sie dafür 360 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, 2003 waren es 520 Millionen Euro, und jetzt sind es 1,4 Milliarden Euro. Das
hätten Sie doch machen können. Wie der Regierungserklärung des Wirtschaftsministers zu entnehmen war,
macht dieses Programm mittlerweile bis zu 1 Prozent
unseres Wirtschaftswachstums aus. An dieser Stelle haben wir eindrucksvoll gezeigt, wie man Klimaschutz und
Wirtschaftswachstum miteinander verbinden kann. Das
zeichnet unsere Politik in ganz besonderer Art und
Weise aus.
({4})
- Herr Kollege, ich weiß, wie sehr es Sie ärgert, dass das
Thema Klimaschutz fest in schwarz-roter Hand ist. Daher unternehmen Sie jetzt den verzweifelten Versuch,
mit der kleinen Trommel hinter dem Musikchor herzulaufen und so zu tun, als seien Sie der Tambourmajor.
Das klappt aber leider nicht.
({5})
Nun noch eine Bemerkung zu dem, was wir heute
vom Rest der Opposition gehört haben. Bei der Linken
hieß es: Staat, Staat, Staat. Das ist nichts Neues. Sie hätten gerne ein Fünfjahresprogramm für Ökokühlschränke, die verbilligt abgegeben werden sollten. Eigentlich hätten Sie auch fordern können, den Trabant für
alle, damit auch keine großen Limousinen mehr gefahren werden.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Ausgesprochen gerne.
Danke schön, Herr Nüßlein. - Ich weiß nicht, warum
Sie meine Rede so lächerlich gefunden haben. Versuchen
Sie bitte einmal - ich weiß nicht, ob Sie das können -,
sich in die Situation eines Hartz-IV-Empfängers oder eines Arbeitslosengeldempfängers zu versetzen. Auch
diesen Leuten wird gesagt, dass sie Energie einsparen
sollen. Die Mehrheit in diesem Land will das auch; wir
sollten niemandem das Gegenteil unterstellen. Aber
viele Leute können es einfach nicht.
Ich persönlich habe mir vor kurzer Zeit eine Spülmaschine gekauft.
({0})
- Ja. - Ich habe mir die energieeffizienteste Spülmaschine gekauft. Als ich einen Preisvergleich gemacht
habe, stellte ich fest, dass sie ein paar Hundert Euro teurer als die anderen Maschinen war. Ich kann mir das leisten, und für mich ist das kein Problem. Für andere Menschen ist das aber ein Problem.
Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass auch sozial
schwache Familien mit weniger Einkommen in Zukunft
die Möglichkeit bekommen, Energie einzusparen. Noch
einmal: Der Zuschuss zu den Energiekosten, der bei Beziehern von Wohngeld übernommen wird, wird allerdings nicht erhöht. Sie müssen, wenn es im Winter kalt
ist - dieses Jahr war es ja nicht so kalt -,
Frau Kollegin, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen.
in der kalten Wohnung sitzen, weil sie die Energiepreise nicht mehr zahlen können. Was tun Sie dagegen?
({0})
Liebe Frau Kollegin, ich gewinne den Eindruck, dass
Sie versuchen, auch aus diesem Thema politisches Kapital zu schlagen und Ihrer Klientel Wohltaten in Aussicht
zu stellen bzw. vorzugaukeln, die es in dieser Form nicht
geben kann. Ich weiß nicht, woher es kommt und wohin
es führen soll, dass Sie fordern, der Staat solle Hartz-IVEmpfängern noch diesen oder jenen Zuschuss gewähren.
Ich stelle Ihnen die Gegenfrage: Was sagen wir all denen, die über der Hartz-IV-Schwelle liegen und jeden
Tag für ihr Geld arbeiten gehen müssen, um sich all das
auch leisten zu können?
Ich sage Ihnen noch etwas: Ich bin dafür, dass wir etwas für die Leute, die Sie angesprochen haben, tun. Sie
sollten allerdings unserem Weg folgen. Wir müssen die
CO2-Gebäudesanierung konsequent fortführen und überlegen, welche Änderungen wir im Mietrecht vornehmen
können. Hier muss ein Anreiz geschaffen werden, damit
Gebäude, die vermietet sind, saniert werden. Dies muss
steuerlich gefördert werden. Davon wollen Sie aber
nichts wissen,
({0})
weil das letztendlich die Hausbesitzer betrifft.
({1})
An dieser Stelle müssen wir ansetzen. Demjenigen, der
in einer unsanierten Platte wohnt, müssen sanierte und
isolierte Wohnräume zur Verfügung gestellt werden. Dadurch sparen wir staatlicherseits im Übrigen sehr viel
Geld. Denn der Staat zahlt für diese Leute die Nebenkosten, die andere selbst erwirtschaften müssen. Also macht
es Sinn, an dieser Stelle anzusetzen.
({2})
- Doch.
Bei der FDP das gleiche Spiel, nur umgekehrt: Markt,
Markt, Markt statt Staat, Staat, Staat. Da muss man sich
die Frage stellen, Herr Kauch, welcher Markt gemeint ist
und wie der Markt aussieht. Ich glaube, wir haben es
nach der Liberalisierung 1998 versäumt, uns intensiv mit
dem Energiemarkt zu beschäftigen. Auch der Emissionshandel wird am Ende nur funktionieren, wenn auf
dem Strommarkt Wettbewerb herrscht; sonst schütteln
sich unsere großen Konzerne, preisen ein und sagen: Das
war unser Beitrag zum Klimaschutz. Das kann es aus
meiner Sicht nicht sein. Deshalb muss man all das unterstützen, was unser Wirtschaftsminister Michel Glos an
dieser Stelle an Sinnvollem vorbereitet.
Zum Emissionshandel. Es ist uns gelungen, zu einer
Versteigerungslösung zu kommen, in einem sinnvollen
und von der EU begrenzten Rahmen. Wir werden die
entsprechenden Erlöse zielorientiert für den Klimaschutz
im In- und Ausland einsetzen. Das ist ganz wichtig; denn
es geht nicht nur um die Abschöpfung von Windfallprofits, sondern darum, das Geld sinnvoll einzusetzen. Es
geht im Übrigen auch darum, unsere Wirtschaft auf das,
was in der nächsten Handelsperiode auf uns zukommt,
vorzubereiten: Wir rechnen damit - der Minister hat es
schon gesagt -, dass 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden. Deshalb war es auch unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten sinnvoll, diesen Weg zu gehen.
Diese Leitschnur, Wirtschaft und Ökologie miteinander zu vereinen, wird uns auch bei der Kraft-WärmeKopplung und bei den erneuerbaren Energien weiterbringen. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie man
die Netzintegration auf Nachfrage- und Angebotsseite
hinbekommen kann. Wir werden Anpassungen an den
Stellen vornehmen, wo es im Interesse der erneuerbaren
Energien dringend geboten ist, zum Beispiel bei der Solarenergie, bei der wir feststellen können, dass wir die
Erfahrungskurve mit der derzeitigen Degression suboptimal abbilden. Das müssen wir tun, und das ist auch im
Interesse der Branche.
({3})
Hier ist verschiedentlich über das Wärmegesetz gesprochen worden. Wir sind uns mittlerweile weitgehend
einig, dass wir es in einen größeren Kontext einfügen
müssen. Wir wollen darüber hinaus in den Bereichen,
wo es Sinn macht, nämlich bei Neubauten, aber auch bei
der Sanierung der Heizungen von großen Gebäuden
- Gebäuden mit mehr als 500 Quadratmetern Fläche -,
die Nutzung regenerativer Wärmequellen vorschreiben.
Denn - das ist vorhin angesprochen worden, Frau
Bulling-Schröter - auch im Bereich der Mietwohnungen
muss sich in diesem Land etwas tun.
Vielen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müssen wir den Kollegen von den Grünen und von
der FDP dankbar sein, dass wir heute die Gelegenheit
haben, ausführlich über den Klimaschutz zu debattieren
und die Maßnahmen darzustellen, die die Bundesregierung, auch auf Initiative meiner Fraktion, zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen hat.
Herr Meierhofer, schönen Dank, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass noch jemand aus dem Bereich der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung reden wird. Denn das zeigt, dass die Koalition dem internationalen Klimaschutz und der Bekämpfung des Klimawandels einen großen Stellenwert einräumt. Wir können
den Klimawandel nicht allein in Deutschland bzw. in
Europa bekämpfen; wir müssen international helfen. Wir
sind in der Verantwortung und in der Verpflichtung, den
Entwicklungs- und den Schwellenländern dabei zu
helfen; genau darum geht es.
Herr Kauch, jetzt komme ich zu Ihnen. Ich habe Sie
in der Zusammenarbeit bisher immer als einen realistischen und praktisch denkenden Menschen erlebt. Doch
eben haben Sie hier so getan, als sei alles ganz einfach:
Nehmen wir genug Geld in die Hand, und stellen wir in
Subsahara-Afrika Solaranlagen auf - dann haben wir das
Problem gelöst!
({0})
- Herr Kauch, ganz ehrlich: Ganz so einfach ist es nicht.
Wenn Sie sich ein bisschen mehr damit auseinandersetzen würden, dann wüssten Sie, dass wir schon jetzt technische und finanzielle Unterstützung zum Aufbau einer
nachhaltigen Energiewirtschaft in Afrika und Asien leisten und den Transfer klimafreundlicher Technologie in
die Entwicklungsländer durch marktwirtschaftliche Anreize und flankierende Instrumente fördern. Das ist seit
Jahren erklärtes Ziel der Bundesregierung. Das haben
wir schon unter Rot-Grün so gemacht; wir werden unsere Anstrengungen in diesem Bereich in den nächsten
Jahren noch verstärken.
({1})
Allein für die Region Subsahara-Afrika haben wir
rund 177 Millionen Euro für die finanzielle Unterstützung, den Aufbau und die Förderung erneuerbarer Energien bereitgestellt. Natürlich ist - gerade in Südafrika auch die Stromversorgung durch Sonnenenergie erfasst.
Um dem Vorwurf zu entgegnen, der an dieser Stelle
schnell gemacht wird, füge ich hinzu: Wir setzen mit unseren Programmen aus Gründen der Flächendeckung vor
allem auf die ländliche Elektrifizierung.
Die Gesamtsumme der laufenden Energievorhaben
für Afrika beträgt 386 Millionen Euro. Das ist doch kein
Pappenstiel. Dass man da immer noch etwas draufsatteln
kann, ist gar keine Frage. Zudem gehe ich davon aus - in
unseren Beratungen haben wir uns zumindest darauf verständigt -, dass wir die Einnahmen aus der Versteigerung der Emissionszertifikate auch für internationale
Maßnahmen zum Klimaschutz einsetzen werden. Der
Bundesumweltminister hat das gerade noch einmal erklärt. Natürlich werden wir das Geld vornehmlich für
Maßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern
einsetzen.
Ich möchte noch ganz kurz zum Antrag der Grünen
Stellung nehmen. Ich muss sagen, dass Sie sich wirklich
viel Arbeit gemacht haben. Sie hätten aber der Ordnung
halber zugeben müssen, Herr Fell, dass es nicht die Grünen waren, die zum Beispiel das Gebäudesanierungsprogramm durchgesetzt haben, sondern Rot-Grün,
({2})
und dass wir die Mittel dafür gerade aufgestockt haben.
Das ist eine Leistung der gegenwärtigen Koalition; das
sollte man auch erwähnen.
({3})
Sie haben in den Debatten, die wir in den letzten Wochen hier geführt haben, offenbar nicht richtig zugehört.
In Ihrem Antrag stehen Dinge, die durch Regierungshandeln längst erledigt sind und die wir bereits in unseren
Anträgen aufgeführt haben. Wenn Sie dies von uns abgeschrieben haben, empfinde ich es als Kompliment; das
müsste mich beruhigen. Nichtsdestotrotz bin ich enttäuscht. Ich gebe zu, dass es in der Opposition einfach
ist, immer noch mehr zu fordern. Aber letztlich müssen
wir doch bei dem bleiben, was praktikabel ist. In dieser
Debatte ist durchaus deutlich zum Ausdruck gekommen,
dass die gegenwärtige Bundesregierung beim Klimaschutz in Europa führend ist. Wir werden in dieser Beziehung auch weiterhin weltweit führend sein. Ich sehe
momentan jedenfalls keinen ernsthaften Konkurrenten,
der sich so intensiv mit Maßnahmen für den Klimaschutz in den Entwicklungsländern auseinandersetzt.
Ich will ein Beispiel aus Ihrem Antrag zitieren. Sie
haben auf den Tropenwaldschutz hingewiesen. Beim
G-8-Gipfel haben sich die beteiligten Staaten auf eine
Initiative der Weltbank zur Einrichtung einer Partnerschaft mit dem Ziel des Schutzes der Regenwälder geeinigt. Das wird in Ihrem Antrag nicht deutlich. Insofern
hat Sie die tatsächliche Politik der Bundesregierung und
anderer Länder überholt. Seien Sie ehrlich, und geben
Sie zu, dass wir Ihnen diesbezüglich mittlerweile einen
Schritt voraus sind. Wir werden darüber sicherlich wei11314
ter debattieren. Wie Sie sich heute geäußert haben, werden Sie wohl in Zukunft keine Schwierigkeiten damit
haben, unseren Anträgen zuzustimmen.
Schönen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5895 und 16/5610 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. - Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen
Engagements
- Drucksache 16/5200 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 16/5926, 16/5985 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
Petra Hinz ({1})
Dr. Barbara Höll
Christine Scheel
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5930 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Hinz ({3})
Jochen-Konrad Fromme
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Sibylle Laurischk, Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Freiheit wagen - Zivilgesellschaft stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Katrin Kunert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
- Drucksachen 16/5410, 16/5245, 16/5926, 16/5985 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
Petra Hinz ({5})
Dr. Barbara Höll
Christine Scheel
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements wird die Bedeutung all der Bürgerinnen und
Bürger in unserem Lande gewürdigt, die sich ehrenamtlich für das Gemeinwohl einsetzen. In diesem Gesetzentwurf wird die Wertschätzung für die Menschen ausgedrückt, die bereit sind, sich ganz persönlich für die
Gemeinschaft einzubringen. Jede Gemeinschaft lebt von
den Menschen, die mehr tun als ihre unmittelbare
Pflicht. Deshalb unterstützen wir diejenigen, die sich im
Ehrenamt engagieren.
({0})
Von Max Frisch stammt der wunderschöne Satz:
Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.
Es ist also nicht nur wünschenswert, sondern notwendig,
dass Bürgerinnen und Bürger in Ergänzung zum Staat
Gemeinwohlaufgaben übernehmen. Das heißt aber nicht,
dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht. Im
Gegenteil: Eine Politik, die bürgerschaftliches Engagement fördern will, muss die Rahmenbedingungen und
Förderinstrumente darauf ausrichten, dass die Rollen
und Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft ausjustiert werden.
({1})
Fragen des Gemeinnützigkeitsrechts und seine Bedeutung für das bürgerschaftliche Engagement werden
von uns heute also steuer- und finanzpolitisch bewertet.
Ich sage in aller Bescheidenheit: Es war ein guter Entwurf der Bundesregierung, des Bundesfinanzministers.
Die Gesetzesberatungen im Finanzausschuss und auch in
den anderen Ausschüssen haben zu weiteren - und ich
sage: guten - Verbesserungen geführt. Die Koalition hat
gute Arbeit geleistet.
({2})
Dass der Staat auf einen Teil seiner Einnahmen verzichtet, um in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu inEduard Oswald
vestieren, zeigt, wie sehr er das Ehrenamt unterstützt.
Darum ist dies alles keine Subvention, sondern eine Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Mein Dank gilt den engagierten Berichterstatterinnen
und Berichterstattern aller Fraktionen, die sich in den
letzten Wochen intensiv mit diesem Gesetzentwurf beschäftigt haben. Als Vorsitzender des Finanzausschusses
darf ich namentlich nennen: Petra Hinz, Christian Freiherr
von Stetten, Dr. Volker Wissing, Christine Scheel und
Dr. Barbara Höll. Ich danke auch den Mitgliedern des
Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ für
ihren wertvollen und unverzichtbaren Einsatz, den Kollegen Michael Bürsch und Klaus Riegert stellvertretend
für alle anderen.
({3})
Ich bedauere, dass es nicht gelungen ist, wie von mir in
der ersten Lesung erhofft, zu einer einstimmigen Lösung
zu kommen. Die Diskussion im Ausschuss und die Anhörung haben aber gezeigt, dass alle in unserem Parlament das Ehrenamt fördern und unterstützen wollen.
Dass es auf dem Weg dorthin unterschiedliche Sichtweisen gibt, muss man letztendlich akzeptieren.
({4})
Ein wichtiger Bestandteil des Maßnahmenkatalogs
zur Förderung des ehrenamtlichen Engagements ist die
Anhebung des sogenannten Übungsleiterfreibetrags
auf 2 100 Euro. Dadurch werden größere Gestaltungsspielräume für alle Vereine, Übungsleiter, Ausbilder und
Betreuer geschaffen. Wichtige ehrenamtliche Einsätze
können somit erweitert und bestehende Angebote verbessert werden.
Mit der steuerfreien Aufwandspauschale für alle,
die in Vereinen Verantwortung übernehmen, leisten wir
einen weiteren Beitrag zur Entlastung aller freiwillig
Engagierten. Steuerfrei bleiben damit künftig auch Einnahmen aus bisher nicht erfassten gemeinnützigen Tätigkeiten, zum Beispiel die Aufwandsentschädigung von
Vereinsvorständen und Feuerwehrgerätewarten. Auch
die Väter oder Mütter, die ihre Sprösslinge zum Fußballspiel fahren, und der Zeugwart, der die Trikots wäscht
- ohne ihn geht es auch nicht -, leisten gemeinschaftsdienliche Aufgaben und bekommen eine Aufwandsentschädigung. Sie müssen in Zukunft nicht mehr jeden
Cent einzeln gegenüber dem Finanzamt nachweisen.
Fast 2 Millionen Menschen werden von diesen Erleichterungen profitieren können.
Dass es gelungen ist, die Grenze für die Vermögensstockspende in Stiftungen auf 1 Million Euro anzuheben, bedeutet, dass wir zu einer nachhaltigen Stärkung
des Stiftungswesens in Deutschland kommen werden,
was sicherlich zu einer besseren Bewältigung von Gemeinwohlaufgaben führen wird.
({5})
Der Gesetzentwurf enthält mehr als nur geeignete
steuerrechtliche Anreize, den einzelnen Bürger zu bürgerschaftlichem Engagement zu ermuntern. Es werden
auch Maßnahmen getroffen, die zur weiteren Entbürokratisierung der Arbeit im gemeinnützigen Bereich beitragen. Auch die deutliche Anhebung des allgemeinen
Abzugsrahmens auf 20 Prozent des Gesamtbetrags der
Einkünfte trägt wesentlich zum Abbau bürokratischer
Hemmnisse bei.
Einen wesentlichen Aspekt haben wir in diesem Gesetzentwurf noch nicht geregelt. Auch dies müssen wir
offen ansprechen. Wir alle wissen, dass der unzureichende Versicherungsschutz ein Hemmnis für mehr ehrenamtliches Engagement darstellt. Dies hat sich inzwischen erfreulicherweise verbessert. Mehr als die Hälfte
der Bundesländer haben für ihre ehrenamtlich Engagierten Sammelverträge für eine Unfall- und Haftpflichtversicherung abgeschlossen.
({6})
- Das kann man nur begrüßen. - Ich glaube, für uns alle
gilt, dass derjenige, der sich für die Gemeinschaft engagiert, Anspruch darauf hat, mit den vielen Risiken nicht
alleingelassen zu werden.
({7})
Dass dies derzeit nicht der Fall ist, ist der Grund, warum
sich viele Menschen nicht ehrenamtlich engagieren. Wir
haben mit unseren Rechtspolitikern in der Koalition vereinbart, dass noch in diesem Jahr in einem zweiten
Schritt eine Verbesserung des außersteuerlichen Haftungsrechts auf den Weg gebracht wird. Wir werden in
den Fraktionen sorgfältig darauf achten, dass dieses Vorhaben umgesetzt wird.
Gemeinnützigkeit und bürgerschaftliches Engagement sind Fundamente unserer Demokratie insgesamt.
Das müssen wir in einer Debatte zu diesem Thema immer im Blick behalten. Jeder, der sich einbringt, macht
den Staat zu seiner eigenen Angelegenheit und stärkt unser Gemeinwesen. Darum glaube ich, dass wir durch unsere heutige Entscheidung nicht nur das Gemeinnützigkeitsrecht verbessern und damit unsere Gemeinschaft
stärken, sondern auch gegenüber allen Bürgerinnen und
Bürgern deutlich machen, dass das Ehrenamt auch eine
Bereicherung für das eigene Leben ist und Lebensqualität bedeutet. Wer sich engagiert, gewinnt.
({8})
Ich glaube, dass wir etwas Gutes geschaffen haben,
dem wir sicherlich alle gemeinsam zustimmen können.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing,
FDP-Fraktion.
({0})
Zuerst die Begrüßung; so machen wir das, Herr
Bürsch. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine
Demokratie ist ohne bürgerliches Engagement nicht
denkbar. Eine Regierung sollte sich deshalb nach Kräften bemühen, das Ehrenamt zu stärken. Gleichzeitig
sollte sie aber alles unterlassen oder beseitigen, was dem
Ehrenamt schadet oder es behindert.
Die Bundesregierung möchte mit ihrem Gesetzentwurf das Ehrenamt fördern. Das ist eine gute Absicht,
Herr Minister Steinbrück, die Anerkennung verdient.
({0})
In einigen Punkten enthält der Gesetzentwurf durchaus
brauchbare Ansätze.
({1})
Es ist mir ein Anliegen, allen ehrenamtlich Engagierten, die unsere Debatte verfolgen zu versichern, dass
jeder in diesem Hohen Haus größten Respekt vor Ihrer
Arbeit hat. Wir alle wollen Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen; denn Sie alle sind Vorbilder in unserer Gesellschaft.
Das betont meine Kollegin Sibylle Laurischk zu Recht
immer wieder.
({2})
Die im Gesetzentwurf enthaltene Erhöhung der steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden für Unternehmen
ist aus Sicht der FDP begrüßenswert. Das Gleiche gilt
für den vereinfachten Nachweis von Zuwendungen. Es
spricht für Ihre Einsichtsfähigkeit, dass Sie die Höchstgrenze für die steuerliche Begünstigung von Spenden
an Stiftungen von den ursprünglich vorgesehenen
750 000 Euro auf 1 Million Euro erhöht haben. Die FDP
hätte sich allerdings einen größeren Schritt gewünscht.
({3})
Mit der Vorgabe, dass die Länder künftig Schwerpunktfinanzbehörden mit Zuständigkeit für Gemeinnützigkeitsfragen benennen sollen, greifen Sie eine Forderung aus dem FDP-Antrag auf. Das ist isoliert betrachtet
zu begrüßen.
Sie tun einiges; manches davon ist sogar sehr hilfreich. Gleichzeitig unterlassen Sie aber vieles, und das
wiederum ist bedauerlich.
({4})
Die FDP ist überhaupt nicht damit einverstanden,
dass der Staat das bürgerschaftliche Engagement in zwei
Gruppen einteilt, wobei die einen gefördert werden und
die anderen nicht. Wir wollen keine ehrenamtlichen Organisationen erster und zweiter Klasse. Für die FDP gilt:
Das Ehrenamt ist grundsätzlich und in seiner Gesamtheit
unterstützenswert. Darin unterscheiden wir uns von Ihnen.
({5})
Sie führen die abschließende Auflistung in § 52 der
Abgabenordnung nahezu unverändert fort, obwohl gerade dieser Punkt in der Anhörung auf erhebliche Kritik
gestoßen ist. Aus unserer Sicht muss ein zukunftsfähiges
Gemeinnützigkeitsrecht offener gestaltet werden. Nur so
kann sich eine starke, selbstbewusste und unabhängige
Zivilgesellschaft frei fortentwickeln. Das ist ein Schritt,
den Sie couragierter hätten gehen müssen.
Sie wollen, dass künftig Mitgliedsbeiträge an Vereinigungen, die der Freizeitgestaltung einschließlich des
Sports und der Heimatpflege dienen, nicht mehr steuerlich abzugsfähig sind. Wie Musikvereine, Laienchöre
und Laienorchester mit einer solchen Vorschrift umgehen sollen, sagen Sie allerdings nicht. Sinnvoll wäre es
gewesen, die Differenzierung zwischen Mitgliedsbeiträgen und Spenden auch hier aufzugeben. Das wäre
ein Weg zur Vereinfachung. Vor allen Dingen brächte
das für alle Betroffenen Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Es ist schade, dass Sie sich davon nicht haben
überzeugen lassen, obwohl in der Anhörung auch dieser
Punkt heftig umstritten war und kritisiert wurde.
Den von Minister Steinbrück ursprünglich angekündigten Abzug von der Steuerschuld für gemeinnützige
Tätigkeiten in bestimmten Bereichen und bestimmtem
Umfang haben Sie ihm gestrichen. Offensichtlich haben
Sie sich den Gesetzentwurf noch einmal genau angeschaut. Von der Begeisterung, die in der ersten Lesung
von den Koalitionsfraktionen zu vernehmen war, ist
wohl nicht mehr viel übrig geblieben. Aber die nun vorgesehene Regelung, die Einführung eines Freibetrages
in Höhe von 500 Euro für nebenberufliche Einnahmen
aus bestimmten gemeinnützigen Tätigkeiten
({6})
- Frau Kollegin, ich komme darauf zu sprechen -, ist genauso wenig durchdacht.
({7})
Personen, die völlig unentgeltlich ehrenamtlich tätig
sind, erhalten nichts. Sie bevorzugen mit dieser Regelung vor allen Dingen die größeren gemeinnützigen Organisationen. An die vielen kleinen Vereine, die ihren
engagierten Helferinnen und Helfern keine Aufwandsentschädigung zahlen können, haben Sie nicht gedacht.
Das sind sehr viele, und diese gehen bei Ihnen leer aus.
({8})
Für die FDP ist das nicht zu rechtfertigen, ganz abgesehen davon, dass Sie dem Steuerrecht mit Ihren vielen
Ausnahmetatbeständen insgesamt keinen Gefallen tun.
Ihr Gesetzentwurf ist an manchen Stellen auch widersprüchlich. Sie wollen die Stiftungskultur in Deutschland befördern; das ist ein gutes Ziel. Sie erhöhen die
abziehbare Höchstgrenze auf 1 Million Euro; das habe
ich schon positiv hervorgehoben. Gleichzeitig behindern
Sie aber die Stiftungskultur, indem Sie den pauschalierten Sonderausgabenabzug für Zuwendungen an Stiftungen abschaffen und die Abzugsfähigkeit von Großspenden deutlich verschlechtern. Da fragt man sich, wie das
zusammenpassen soll. Das Schlimme ist: Wiederum sind
es die kleinen Stiftungen, die von Ihnen benachteiligt
werden; denn gerade kleine Stiftungen sind in besonderem Maße auf Großspenden angewiesen. Aber diese gehen bei Ihnen leer aus. Die FDP bedauert ausdrücklich,
dass die Förderung der Stiftungskultur in Deutschland
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nur halbherzig erfolgt.
({9})
Ich finde es ebenfalls schade, dass es Ihnen nicht gelungen ist, die problematischen Haftungsregelungen
strukturell zu verbessern. Es wäre dringend nötig - Herr
Kollege Oswald, Sie haben das zu Recht betont -, die
Haftungsregelungen zu überarbeiten. Aber Sie haben
uns am Mittwoch im Finanzausschuss erklärt, das gehe
nicht,
({10})
weil der Finanzausschuss nicht federführend sei. Das ist
eine tolle Begründung. Sie machen die Gesetze offenbar
nach der Salamitaktik, immer ein kleines Stückchen, je
nachdem, wie gerade die Zuständigkeitsverteilung ist.
({11})
Der Bürger darf sich das dann zu Hause als Puzzle zusammensetzen. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, bürgernahe Politik sieht anders aus.
({12})
Es ist schade, aber Ihr Gesetzentwurf wird dem Anspruch an ein modernes und umfassendes Regelwerk für
die Zivilgesellschaft nicht gerecht. Wenn Sie mit diesem
Ziel gestartet sind, dann muss ich sagen, dass Sie gescheitert sind. Von einer Reform kann hier keine Rede
sein. Sie drehen lediglich an bekannten Stellschrauben,
überarbeiten aber die Maschine nicht grundlegend.
Wenn ich mich daran erinnere, was die Enquete-Kommission erarbeitet hat und wie wenig Sie davon in diesen
Gesetzentwurf übernommen haben, dann muss ich sagen, dass Ihnen insgesamt kein großer Wurf gelungen
ist.
({13})
Der Gesetzentwurf bringt an einigen Stellen Verbesserungen,
({14})
kleine Organisationen werden aber nicht bessergestellt.
Die vielen kleinen Vereine müssen weiter auf die Reform warten. Ihr Gesetzentwurf, den Sie uns vorlegen,
ist kein Meilenstein und auch keine Reform. Sie haben
schon im Finanzausschuss gesagt, dass Sie selbst nicht
mehr den Anspruch erheben, eine Reform vorlegen zu
wollen. Es ist aber erforderlich, dass das Gemeinnützigkeitsrecht in Deutschland grundlegend reformiert wird.
Wenn man bedenkt, wie lange die Große Koalition nun
schon am Werk ist und wie wenig sie von dem aufgegriffen hat, was in Deutschland aufgegriffen werden muss,
dann sieht man, dass das kein großer Wurf ist. Das müssen Sie sich von der Opposition heute sagen lassen.
({15})
Ihr Gesetzentwurf enthält ein bisschen Licht, er enthält auch Schatten, einige Bereiche lässt er völlig im
Dunkeln. All den ehrenamtlich Engagierten, die von diesem Gesetzentwurf nicht profitieren - das sind viele -,
rufe ich an dieser Stelle zu: Halten Sie durch! Auf jede
Reformbemühung der Großen Koalition wird irgendwann eine echte Reform folgen. - Der Großen Koalition
kann ich nur sagen: Sie wollen vielleicht, können aber
keine große Reform machen. Ihr Wollen honorieren wir,
Ihr mangelndes Können kritisieren wir. Die FDP wird
sich bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
({16})
Ich gebe der Kollegin Petra Hinz, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es immer sehr schön, wenn Sie, Herr
Dr. Wissing, uns mehr oder weniger oberlehrerhaft etwas über bürgerschaftliches Engagement erzählen wollen, aber noch nicht einmal in der Lage sind, zwischen
bürgerlichem und bürgerschaftlichem Engagement zu
unterscheiden. Sie haben selbst nach der intensiven Beratung im Finanzausschuss immer noch nicht verstanden, dass es hier nicht um ein Reformwerk geht, sondern
um Gesetzesänderungen zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements.
({0})
Es nützt auch nichts, wenn Sie immer wieder Unwahrheiten behaupten. Dadurch wird das, was Sie sagen, weder wahrer noch intelligenter.
({1})
- Herr Dr. Wissing, man versteht Sie so nicht. Wenn Sie
sich zu Wort melden, beantworte ich Ihre Zwischenfrage.
({2})
Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich neben Beruf und
Familie - darauf kommt es heute an - zu engagieren, ist
nicht selbstverständlich und muss sehr sorgsam von
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gepflegt und unterstützt werden. Meine Fraktion hat immer wieder auf die
Verantwortung der Wirtschaft - damit meinen wir
sehr wohl den Arbeitgeber - aufmerksam gemacht. Wir
können hier Gesetze verändern und Dinge anstoßen,
aber auch die Gesellschaft hat ihre Verantwortung. Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, dürfen am Arbeitsplatz weder gemobbt werden, noch darf ihre innerbetriebliche Karriere erschwert oder verhindert werden.
({3})
Petra Hinz ({4})
Gute Beispiele gibt es in England und Amerika. Ohne
bürgerschaftliches Engagement gibt es keine Erfolgsleiter. Das wäre eine sehr schlechte Vita. Man muss sich in
der Gesellschaft engagieren, und dazu laden wir ein.
({5})
Mit der Verabschiedung des Gesetzes gehen wir einen
wichtigen und richtigen Schritt zur weiteren Stärkung
des bürgerlichen Engagements. Dass dies notwendig ist,
hat die Anhörung gezeigt. Der Weg von der EnqueteKommission - die Enquete-Kommission hat letztendlich
den Grundstein gelegt - über das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats hin zum vorliegenden Gesetzentwurf war ein sehr intensiver Prozess. Manche haben dazugelernt, andere weniger, manche überhaupt nicht. Für
die engagierten Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft hat sich dieser Weg gelohnt.
Wir beschließen in der heutigen zweiten und dritten
Lesung Steuermindereinnahmen in Höhe von 490 Millionen Euro. Das sind 50 Millionen Euro mehr, als der
Finanzminister veranschlagt hat. Steuermindereinnahmen - auch das möchte ich sagen - ist ein steuertechnischer Begriff. Er bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass der Staat den ehrenamtlich Engagierten und gemeinnützig Tätigen einen Bruchteil des Aufwandes zurückgibt. Ich habe bereits in der ersten Lesung auf diesen
Bruchteil aufmerksam gemacht. Ich möchte die Rechnung nicht wiederholen. Unter dem Strich sind es
17 Milliarden Euro im Jahr, die die ehrenamtlich und gesellschaftspolitisch interessierten und engagierten Menschen in unserer Gesellschaft an Wertschöpfung und
Synergien einbringen. Dafür sei an dieser Stelle Dank
gesagt.
({6})
Nun zum vorliegenden Gesetzentwurf. Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes wird eine
allgemeine Aufwandspauschale in Höhe von 500 Euro
im Kalenderjahr eingeführt. Herr Oswald, Sie haben
meine Beispiele bezüglich der Mütter und Väter vorweggenommen, die ihre Kinder und deren Freunde zum
Sportplatz bringen.
({7})
- Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ganz im Gegenteil: Dies zeigt mir, dass wir Finanzpolitiker wissen,
worüber wir reden, nämlich nicht nur über finanzielle
Dinge, sondern auch über das wirkliche Leben.
({8})
- Genau. - Insofern kann ich mir dieses Beispiel ersparen.
({9})
Wichtig ist, dass diejenigen Menschen, die sich engagieren, ihren Aufwand und ihre Kosten ohne große bürokratische Mühe geltend machen können.
Auch die Erhöhung der Übungsleiterpauschale um
rund 300 Euro von 1 800 Euro auf 2 100 Euro kann man
sehr differenziert sehen. In der Anhörung haben wir
dazu ein Sowohl-als-auch gehört. Trotzdem haben wir
uns entschieden, es so, wie es ursprünglich vorgesehen
war, im Gesetzentwurf stehen zu lassen.
({10})
Ein weiterer Punkt, über den im Zusammenhang mit
der Definition gemeinnütziger Zwecke nach der Abgabenordnung immer wieder diskutiert wurde, ist die
Frage: Ist dieser Definitionskatalog geschlossen, oder ist
er nicht geschlossen? Hier hatten die Vereine, die Verbände und die Organisationen ein großes Anliegen. Die
Frage, ob dieser Katalog geöffnet werden oder geschlossen bleiben soll, haben wir Finanzpolitiker gemeinsam
mit unseren ehrenamtlich und bürgerschaftlich engagierten Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv beraten. Wir
sind zu dem Ergebnis gekommen, diesen Katalog zu öffnen.
In diesem Zusammenhang haben wir mit den Grünen
im Finanzausschuss eine Diskussion geführt. Diese sagten, indem wir den Katalog öffneten, entstehe mehr Bürokratie und möglicherweise Willkür. Ich sage Ihnen,
Frau Haßelmann: Das ist nicht der Fall. Auch heute
muss jeder Einzelfall geprüft werden; auch heute muss
die Finanzbehörde jeden einzelnen Fall prüfen. Es ändert
sich fast nichts, nur eines: Sollten bestimmte gemeinnützige Vorhaben und Ziele nicht in diesem Katalog definiert sein - ich glaube eigentlich nicht, dass es solche
Vorhaben und Ziele gibt -, können diese überprüft und
dem Katalog hinzugefügt werden. Man kann jetzt - das
ist neu - die Gemeinnützigkeit und gleichzeitig die
Spendenabzugsfähigkeit anerkannt bekommen. Hier gehen die Gemeinnützigkeit und die Spendenabzugsfähigkeit also Hand in Hand. Hier entsteht weder Willkür
noch Bürokratie, ganz im Gegenteil.
Es gibt im Gesetzentwurf noch sehr viele gute Beispiele dafür, dass wir dafür sorgen, dass weniger Bürokratisierung, mehr Klarheit, eine größere Vereinfachung
und mehr Transparenz entstehen. Dies ist der erste
Schritt in einem weiteren Prozess.
In der Tat, dies ist keine Reform;
({11})
denn bürgerschaftliches Engagement lebt von den Menschen. Aus diesem Grunde muss man immer wieder auf
veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagieren.
({12})
- Lieber Herr Dr. Wissing, dies sollten Sie zur Kenntnis
nehmen. Kopfschütteln allein hilft nicht.
({13})
Petra Hinz ({14})
Richtig ist, dass wir während des Diskussionsprozesses, im Rahmen der Anhörung sowie im Austausch mit
den Fachleuten und all denjenigen, die mit diesem
Thema zu tun haben, vieles gelernt haben. Einiges muss
noch auf den Weg gebracht werden, zum Beispiel die
Klärung der Frage: Wie können wir diejenigen erreichen, die nicht von der Steuer erfasst werden, die nicht
die Möglichkeit haben, ihren Aufwand und ihre Kosten
im Rahmen der Einkommensteuererklärung geltend zu
machen?
({15})
Wir reden hier aber über ein Steuergesetz. Sie sollten
wissen, dass wir damit nur den Personenkreis erfassen
können, der Einkommensteuer zahlt. Ich bin davon überzeugt, dass der Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“, der Familienausschuss, der Sportausschuss und alle diejenigen, die damit zu tun haben, weiter daran arbeiten und auf dem richtigen Weg sind.
({16})
Ich möchte mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich bedanken für die gute Zusammenarbeit
und für das, was wir hinzulernen konnten, sowie bei Ihnen, Herr Oswald, dafür, dass Sie sich bei uns dafür bedankt haben, dass wir gut miteinander gearbeitet haben.
Danke schön.
({17})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frauen und Männer, erwerbstätig oder nicht, Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen und Rentner, Selbstständige - viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich
im sozialen, sportlichen und kulturellen Bereich. Sie tun
dies in erster Linie nicht, weil sie davon monetäre Vorteile hätten, ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie.
Nein, sie wollen teilhaben. Sie wollen gestalten, Menschen helfen, auch sich selbst dabei helfen und etwas
zum Zusammenleben in der Gesellschaft beitragen.
Wir sprechen heute über ein Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Man muss
zur Kenntnis nehmen, dass die oftmals vorhandenen
Hindernisse für ehrenamtliche Tätigkeit nicht im monetären Bereich liegen.
({0})
Es geht also nicht darum, dass Einzelne auf mehr Geld
hoffen. Deshalb glaube ich - das ist meine Hauptkritik -,
dass die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf einfach zu kurz gesprungen ist. Auch dem, was die
Enquete-Kommission erarbeitet hat, kann man entnehmen: Es ist notwendig, hier anders anzusetzen. Viele
Dinge, die in diesem Gesetzentwurf gemeinsam vereinbart wurden, sind zwar sicher richtig und gut, aber sie
können nur einen kleinen Schritt darstellen.
({1})
Auch ich habe es als sehr positiv empfunden - das
möchte ich vermerken -, dass insbesondere im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ gemeinsam diskutiert wurde und dass wir dort Verbesserungen
erreicht haben. Trotz der verschiedenen kritischen
Punkte, die die einzelnen Fraktionen zu Recht vertreten,
sind wir dort zu einer gemeinsamen Position gekommen.
({2})
Ich wiederhole: Das Handeln dort war gemeinschaftlich.
Ich glaube, dass auch das für das heutige Ergebnis nicht
unwichtig war.
Was ändert sich, wenn dieses Gesetz heute verabschiedet wird? Nehmen wir einmal den Verein „Paula
Panke“ in Berlin-Pankow. Dieser Verein ist eine Einrichtung, die unter anderem Angebote der flexiblen Kinderbetreuung, der sozialen und Rechtsberatung für Frauen,
der Begleitung und der Nutzung von Frauenzufluchtswohnungen macht. Dort arbeiten Frauen in Beschäftigungsmaßnahmen - 1-Euro-Jobberinnen, ALG-II-Bezieherinnen - und sehr viele Ehrenamtliche, insbesondere
Rentnerinnen.
Das Gesetz, das wir heute verabschieden werden,
nützt diesem Verein und den Menschen, die sich dort ehrenamtlich engagieren - Vereine wie diesen gibt es zu
Tausenden in unserem Lande -, sehr wenig.
({3})
Seit dem 1. Januar 2007 dürfen gemeinnützige Vereine durch wirtschaftliche Tätigkeit steuerfrei bis zu
35 000 Euro - zuvor waren es 30 000 Euro; die Grenze
ist also angehoben worden - erwirtschaften. Das ist eine
gute Maßnahme. Letztendlich ist es aber nicht mehr als
ein Inflationsausgleich, also eine Anpassung an die Realitäten. Gleichzeitig ist es gewissermaßen ein Eingeständnis, dass gemeinnützige Vereine immer häufiger
wirtschaftlich tätig sein müssen, um überhaupt überleben zu können.
Die Vereinheitlichung und Erweiterung des Katalogs
anerkannt gemeinnütziger Zwecke halte ich für etwas
sehr Positives. Das kann man nur unterstützen. Die damit verbundene Vereinfachung der Spendennachweise
ist auf alle Fälle eine Form der Entbürokratisierung.
Die Frage der Kostenpauschale ist wirklich ein Problem. Ein Verein wie „Paula Panke“ kann nicht zahlen.
Es ist daher egal, ob eine Frau ehrenamtlich oder abhängig beschäftigt ist. Ich wiederhole: Dieser Verein kann
nicht zahlen. Diese im Gesetzentwurf verankerte Maßnahme geht an den für diesen Verein Tätigen also wirklich vorbei. Ja, diese Maßnahme ist begrüßenswert; aber
sie ändert nichts an der prekären Finanzsituation vieler
gemeinnützig tätiger Vereine.
In diesem Zusammenhang möchte ich sagen - ich
kann hier nicht auf alle Punkte eingehen -, dass insbesondere wir Linke ein großes Problem mit der Aufstockung des Stiftungsbeitrags auf 1 Million Euro haben.
({4})
Ich finde, dass die zugrunde liegende Argumentation
nicht schlüssig ist. Einerseits führen Sie hier an, dass die
Erbschaftsteuer zu hoch sei, dass das nicht tragbar sei
usw. usf. Es gibt aufgrund der immer ungleicheren Verteilung von Vermögen und Einkommen in unserem
Lande Menschen, die tatsächlich nicht wissen - ich
zitierte in meiner ersten Rede über dieses Thema die
„Financial Times“ -, wohin mit ihrem Geld. Für diese
Menschen ist ein Anreiz geschaffen worden, Stiftungen
- steuerbegünstigt - Geld zukommen lassen zu können.
Ich frage mich: Warum können diese Personen nicht erst
einmal einen ordentlichen Beitrag über die Einkommensteuer zahlen?
({5})
Warum zahlen sie keine Vermögensteuer? Warum zahlen
sie keine höhere Erbschaftsteuer? Wenn sie das täten,
würde es die öffentliche Hand stärken.
Wir sind für private Stiftungen, wenn sie das Sahnehäubchen eines dementsprechend umgestalteten Steuersystems sind. Diese Stiftungen tun etwas im kulturellen
Bereich, im Forschungsbereich usw. Auch wir wollen ihnen das nicht absprechen. Aber es kann nicht sein, dass
die öffentliche Hand auf der einen Seite auf die genannten Steuermehreinnahmen verzichtet und sich auf der anderen Seite dreimal bedankt und eine Steuerbegünstigung ermöglicht.
Es gibt damit riesige verteilungspolitische Risiken.
Sie wissen, dass es verschiedene Formen der Stiftung
gibt. Wir freuen uns sicher alle gemeinsam, dass es seit
Ende der 90er-Jahre eine Vielzahl von neuen Bürgerstiftungen gibt. Das ist wirklich sehr gut. Aber es gibt auch
Stiftungen, die zu einem nicht unerheblichen Teil so gestaltet werden können und gestaltet werden, dass sie zur
steuerbegünstigten Versorgung der Familie dienen. Das
finde ich vor dem Hintergrund der unzureichenden Zahlung der eben genannten Steuern nicht in Ordnung.
({6})
Lassen Sie mich, da ja Eigenlob schlecht ist, Herrn
Dr. Röscheisen vom Deutschen Naturschutzring zitieren. Er hat im Rahmen der Anhörung gesagt:
Der Antrag der Linken ist aus einer Sicht geschrieben, die der Zivilgesellschaft offensichtlich sehr
nahe steht, weil sehr präzise die Bedürfnisse, die
der dritte Sektor in Deutschland hat, genannt wurden. Es werden im Antrag der Fraktion DIE
LINKE. Dinge genannt, die ganz entscheidend sind
und die in der Enquete-Kommission „Zukunft des
bürgerlichen Engagements“ präzise enthalten sind
und die bisher leider im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht aufgegriffen werden.
Weiter:
Sie wissen, dass wir im Lande eine große Politikmüdigkeit innerhalb der Wahlbevölkerung feststellen müssen. Das macht sich in der Wahlbeteiligung
klar. Hier ist im Antrag der LINKEN. ein Instrument genannt, das in der Enquete-Kommission
schon angeführt wurde, nämlich dass die Instrumente der direkten Demokratie gestärkt werden
müssen. Ich spreche von Volksbegehren, Volksinitiativen, Volksentscheiden auf Bundes- und Landesebene, dort, wo es noch nicht der Fall ist. Insgesamt
gesehen ein sehr guter Antrag, den wir voll unterstützen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie diese Anregungen
aufgreifen und deshalb auch unseren Antrag auch heute
unterstützen.
Danke schön.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Liebe
Kollegin Hinz, meine Kritik im Finanzausschuss zielte
darauf ab, dass ich den Eindruck hatte und mich darin
auch während des Verlaufs der Sitzung bestätigt fühlte,
dass Sie sich an einigen Stellen zu viel vom Finanzministerium haben diktieren lassen. Als es endlich so weit
war, dass die Anträge vorgestellt wurden und nur auf Intervention der Grünen hin klar war, dass nicht das
Finanzministerium Änderungsanträge der Fraktionen
vorstellt, sondern Sie als Fraktionen selber, war ich als
Neue im Parlament einigermaßen irritiert.
Lassen Sie mich betonen, dass wir eine Reform des
Gemeinnützigkeitsrechts als ersten Schritt zur Stärkung
des bürgerschaftlichen Engagements grundsätzlich
begrüßen. Das wissen auch die Fachabgeordneten aus
dem Unterausschuss für bürgerschaftliches Engagement
und die Abgeordneten aus dem Finanzausschuss. Wir
haben darüber lange diskutiert, in der Sache gerungen
und überlegt, was das Beste für die Vereine, Initiativen,
Verbände und die zahlreichen Menschen, ob jung oder
alt, ob Migrantinnen bzw. Migranten oder aus dem Herkunftsland Deutschland, die sich in diesem Land engagieren, ist.
Wir hätten uns zum jetzt vorliegenden Gesetzentwurf
an einigen Stellen Änderungen gewünscht, gerade was
die Verbesserung der Situation von kleinen gemeinnützigen Organisationen und Geringspenderinnen und -spendern und den gesamten Personenkreis derer, die sich engagieren, angeht, und nicht nur von Menschen, die über
höhere Einkommen verfügen. Darauf komme ich an anderer Stelle noch zu sprechen.
({0})
Ich hätte mir auch gewünscht, um das ganz deutlich
zu sagen, dass die Finanzpolitikerinnen und -politiker
und auch der Finanzminister, der mit den Vorschlägen ja
ziemlich vorgeprescht ist, an der einen oder anderen
Stelle den Rat der Fachpolitiker ein bisschen mehr berücksichtigt hätten. Die Stellungnahme des Unterausschusses für bürgerschaftliches Engagement weist an
einigen Stellen sehr deutlich darauf hin, wo man Stellschrauben und Mechanismen auch im positiven Sinne
für mehr Menschen hätte berücksichtigen können. Das
wissen der Kollege Bürsch, der Kollege Riegert und alle
anderen Kolleginnen und Kollegen, die im Fachthema
drin sind, genauso gut wie ich. Also können wir uns teilweise auf die Schulter klopfen, teilweise wissen wir,
wäre der Finanzminister nicht so vorgeprescht, dann hätten wir mehr Chancen gehabt, Dinge im positiven Sinne
zu verbessern.
({1})
Alle Koalitionsvertreterinnen und -vertreter werden
jetzt sagen: Es ist wunderbar; wir haben die Übungsleiterpauschale erhöht; darüber freuen sich die Menschen, die davon profitieren. - Wir haben aber die ganze
Zeit darum gerungen, dass der Personenkreis erweitert
wird. Da sind wir Grünen mit CDU/CSU, SPD, Linksfraktion und FDP einer Auffassung gewesen: Es ist eigentlich nicht zu vertreten, dass Rettungsdienste, Helferinnen und Helfer in der Gefahrenabwehr, Aktive im
Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Rechtsbetreuerinnen und Rechtsbetreuer - dazu gibt es übrigens eine
Empfehlung des Bundesrates - nicht von der Übungsleiterpauschale profitieren. Maßgeblich war die Frage der
Erweiterung des Personenkreises und nicht so sehr, ob
wir 2 100 oder 2 000 Euro steuerfrei stellen.
Das Problem ist dabei: Wenn sich der Finanzminister
öffentlich schon festgelegt hat und die Vereine glauben,
„Oh, es gibt so viel“, dann ist es natürlich schwer, davon
wieder herunterzukommen. Das hätten Sie eigentlich der
Fairness halber offen sagen müssen. Die Personen, die
jetzt nicht einbezogen werden, haben sich Hoffnungen
gemacht, dass sie nicht Übungsleiter zweiter Klasse
sind. Das ist, finde ich, ein Problem.
({2})
Es ist mir auch unverständlich, wie Sie in der Frage
der sogenannten Ehrenamtspauschale agieren. Es ging
im ursprünglichen Entwurf darum, dass die Menschen,
die sich freiwillig und unentgeltlich um Kranke, Alte
und Behinderte kümmern, einen Pauschalbetrag von der
Steuerschuld abziehen können. Da kann man schon fragen, warum das nur für diejenigen gilt, die sich um
Kranke, Alte und Behinderte kümmern, und nicht auch
für die, die Jugendarbeit oder anderes machen. In Fachkreisen wurde heftig diskutiert, und man kam zu dem
Schluss: Eigentlich muss man den Personenkreis massiv
erweitern; man kann es nicht so beschränken.
Dann haben Sie zu dem allgemeinen Pauschalbetrag,
den Herr von Stetten gleich bestimmt noch sehr positiv
kommentieren wird,
({3})
geregelt: Es gibt keinen Abzug von der Steuerschuld,
sondern nur noch einen Abzug von der steuerlichen
Bemessungsgrundlage. - Am meisten profitiert von der
Aufwandspauschale jetzt also, wer einen hohen Zufluss,
hohe Einnahmen hat. Wer keinen solchen hat, profitiert
nicht. Das war ein Punkt, den wir Fachabgeordnete eigentlich anders regeln wollten. Auch Menschen, die keinen hohen Zufluss haben, sollten entsprechend profitieren. Das wird in der Szene derer, die sich engagieren,
ganz bestimmt falsch verstanden werden.
Man kann das nicht positiv verstehen. Sie machen da
einen Fehler, indem Sie die Aufwandspauschale nur für
diejenigen vorsehen, die einen hohen Zufluss haben,
während die anderen in die Röhre gucken. Ich glaube,
dass das ein Problem ist.
Der dritte Bereich, den ich ansprechen will, ist die
zeitnahe Mittelverwendung. Dazu muss ich Ihnen ehrlich sagen, Herr Finanzminister: Da habe ich Ihren Starrsinn nicht verstanden. Was spricht eigentlich dagegen,
kleinen und mittleren Vereinen und Initiativen in der
Frage der zeitnahen Mittelverwendung entgegenzukommen? Es hätte keine müde Mark, keinen müden Euro an
Steuermindereinnahmen bedeutet, wenn wir die zeitnahe
Mittelverwendung in den Katalog aufgenommen hätten.
Bis heute fehlt aus meiner Sicht auch eine Begründung
dafür, dass wir das nicht getan haben. Deshalb wird an
dieser Stelle nach wie vor Kritik gerade von kleinen Organisationen geäußert.
({4})
Ich will zum Schluss kommen. - Trotzdem glaube
ich, dass die Gesetzesänderungen von vielen Menschen,
die sich engagieren, und von vielen Vereinen und Institutionen als sehr positiv empfunden werden, weil klar ist,
dass sie in der Arbeit im Detail Verbesserungen bringen.
Deshalb wird sich unsere Fraktion enthalten. Wir haben
die positiven Elemente überall zustimmend kommentiert, auch in die Szene derer hinein, die sich engagieren.
({5})
Wir werden das Gesetz nicht ablehnen, bestehen aber
darauf - wir hoffen, dass das dann auch so kommt -,
dass das nur ein erster Schritt ist und man sich nicht monatelang wechselseitig auf die Schulter klopft und sagt:
Wir haben im Gemeinnützigkeitsrecht etwas getan. Jetzt
müssen wir in den anderen Ressorts zum Thema „Lebendige Zivilgesellschaft/Bürgerschaftliches Engagement“
nichts mehr tun.
Also Kritik an einigen Punkten. Sie sollten das nicht
schönreden. Ich hoffe, dass die Fachkollegen das auch
nicht tun und vor Ort zu den Sachen, die sie nicht durchgesetzt haben, die den Menschen in Aussicht gestellt
worden waren, Rede und Antwort stehen.
Ich hoffe, dass wir in der Debatte in den Fachausschüssen das Thema „Bürgerschaftliches Engagement/
Lebendige Zivilgesellschaft“ befördern; denn wir haben
da im europäischen Vergleich noch einiges zu tun, um
die Menschen mitzunehmen und darin zu bestärken, dass
es etwas bringt, in einer lebendigen Zivilgesellschaft zu
leben, in der jede und jeder Lust hat, sich zu engagieren.
Danke.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Schiewerling,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
für die Ehrenamtlichen in Deutschland ein guter Tag.
Lange hat sich im Bereich von Ehrenamt und Gemeinnützigkeit nicht mehr so viel bewegt wie das, was wir
heute beschließen. Ich will das einmal in aller Deutlichkeit an den Anfang stellen. Auch wenn wir uns, die wir
uns im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ besonders hierfür einsetzen, mehr gewünscht hätten, so ist doch festzuhalten: Wir kommen heute einen
guten Schritt voran.
({0})
Meine Damen und Herren, Verbände und Vereine
sind wichtig; sie sind ein tragendes Element unserer Gesellschaft und unserer Demokratie. Ehrenamt macht unsere Gesellschaft reicher. Ehrenamt stärkt den sozialen
Zusammenhalt. Dieses vielfältige Netz des Ehrenamtes
gibt den Menschen und unserer Gesellschaft Sicherheit
und Kraft und ermöglicht Verbänden und Vereinen, in
Solidarität anderen Menschen zu helfen. Verbände und
Vereine sind Knotenpunkte in diesem sozialen Netz des
bürgerschaftlichen Engagements.
Vor 160 Jahren hat der damalige Sozialreformer und
Seelsorger Kolping gesagt:
Weil durchaus ein Mensch den anderen nötig hat,
deswegen ist die Menschheit ein zusammengehöriges Ganzes.
Er sagte dies zu einer Zeit, in der sich die Menschen zusammentaten, um in zahlreichen Verbänden und Organisationen als Selbsthilfebewegung dem Einzelnen Schutz
zu geben und ihre Interessen zu vertreten. Es geht um die
Beziehungen der Menschen untereinander und damit um
die Beziehungen in der Gesellschaft. Dieses ehrenamtliche Engagement in der Civitas, in der Bürgergesellschaft, ist weit früher entstanden, als der Staat die Daseinsfürsorge organisiert hat.
Das ehrenamtliche Engagement schafft bis auf den
heutigen Tag Identität und gibt Halt und Orientierung
auch demjenigen, der mit anderen sich freiwillig für andere einsetzt.
({1})
Deswegen ist das Ehrenamt weit mehr als nur eine private Angelegenheit. Deshalb ist es auch eine staatliche
Aufgabe, das Ehrenamt in seinen vielfältigen Facetten
zu stärken und zu fördern. Wer sich ehrenamtlich engagiert, freiwillig und unentgeltlich, gibt anderen Menschen eine Perspektive. Auch wenn die Pflegeversicherung die notwendige materielle Seite der Pflege
absichert, gibt der Besuch im Altenheim, der Besuch bei
den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen den Betroffenen Halt, tut ihnen gut und ist durch nichts zu ersetzen.
({2})
Meine Damen und Herren, Ehrenamt macht vielen
Menschen erst eine Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben möglich, gerade in einer Zeit zunehmender Materialisierung und auch Kommerzialisierung. Ich denke
dabei zum Beispiel an die Sportvereine, den Bereich der
Kulturschaffenden, die Bereiche Umwelt und Natur, an
den gewerkschaftlichen Bereich und an soziale Organisationen und Jugendverbände, nicht zuletzt im kirchlichen Bereich. Ehrenamt übernimmt Verantwortung für
Mitmenschen.
In manchen Bereichen - daran möchte ich heute besonders erinnern - setzen Menschen Leib und Leben ein
wie in der Gefahrenabwehr und im Katastrophenschutz.
Diesen Einsatz können sie aber nur bringen, wenn andere, beispielsweise die Arbeitgeber, dies ermöglichen.
Katastrophen halten sich nun einmal nicht an Arbeitszeiten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich ehrenamtlich in ihrer Freizeit engagieren, sind übrigens für viele
Betriebe sehr kostbar und sind meistens auch die engagiertesten.
Mit diesem Einsatz für den Nächsten wird unsere Gesellschaft menschlicher: das Ganze freiwillig, unentgeltlich und unabhängig. Ehrenamt bedeutet Wahrnehmung
von Selbstverantwortung und in besonderem Maße auch
Selbstbestimmung. Dieses Ehrenamt wird von Menschen aus allen Schichten und Bereichen unserer Gesellschaft geleistet. Es geht aber auch darum, möglichst
viele zu mobilisieren. Hier sehe ich noch große Aufgaben für Verbände und Vereine. Ich glaube nämlich, dass
wir noch viel mehr ehrenamtliche Kräfte gebrauchen
können.
Von daher ist es wichtig, dass der Staat eine Stärkung
dieser Strukturen unterstützt. Daher ist es wichtig, dass
die Übungsleiterpauschale angehoben wurde und ein
Freibetrag eingeführt wurde. Das ist ein erstes Zeichen,
dass diejenigen, die unmittelbaren Dienst an den Menschen leisten, auch ihre Aufwendungen und Erstattungen
absetzen bzw. steuerfrei behalten können.
Damit werden auch diejenigen berücksichtigt, die in
Vorständen von Vereinen Voraussetzungen für ehrenamtliche Arbeit schaffen und diese organisieren. Positiv ist
auch, dass wir die Zweckbetriebsgrenze für Vereine auf
35 000 Euro anheben konnten. Ich hätte mir gewünscht,
es wäre mehr.
Leider kann ich nicht auf alle Punkte eingehen. Einen
Punkt möchte ich betonen: Ehrenamt verlangt auch
Anerkennung. Was wir heute beschließen, ist die AnerKarl Schiewerling
kennung der unmittelbaren materiellen Aufwendungen.
Wir helfen mit, dass Ehrenamtliche ein kleines bisschen
mehr an finanzieller Entlastung erfahren.
({3})
Was Ehrenamtliche jedoch auch brauchen, ist das öffentlich ermutigende Wort sowie die unmittelbare Ansprache durch ihre Mitmenschen. Manche Menschen wissen
gar nicht, dass es gut ist, dass es sie gibt. Es sei denn,
dass wir es ihnen sagen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister Peer
Steinbrück.
({0})
Herr Präsident! Mehr sehr geehrten Damen und Herren! Dies ist ein sehr wichtiger Tag für das Ehrenamt, die
ehrenamtlich engagierten Menschen in Deutschland und
das Stiftungswesen. Deshalb möchte ich als Erstes all
denjenigen in allen Fraktionen des Deutschen Bundestages Dank sagen, die es ermöglicht haben, dass wir ein
solches Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements verabschieden können. Ich bedanke
mich sehr, dass es nach der ersten Initiative - Sie wissen,
dass ich diese unter die Überschrift „Hilfe für Helfer“
gestellt habe - innerhalb eines halben Jahres möglich
wurde, dass der Deutsche Bundestag in abschließender
Lesung einen Gesetzentwurf berät, mit dem er eine solche Unterstützung und massive Stärkung des Ehrenamts
in Deutschland organisiert. Deshalb mein ausdrücklicher
Dank an alle von allen Fraktionen dieses Hauses, die daran beteiligt gewesen sind.
Frau Hinz hat sehr richtig darauf hingewiesen, dass es
nicht um ein riesiges Reformvorhaben geht, sondern
ganz praktisch darum, das Ehrenamt und das Stiftungswesen in Deutschland zu stärken.
({0})
Das ist der Ansatz. Dass man darüber hinaus weitere Initiativen entwickeln kann, steht außer Zweifel.
Ich habe nicht ganz verstanden, Frau Haßelmann, warum es denn kritisch zu bewerten sein möge, dass der Finanzminister vorgeprescht sei. Vielleicht war es etwas
überraschend, dass ausgerechnet der Finanzminister bereit gewesen ist, sich dieser Frage anzunehmen; es ist
aber aus voller Überzeugung geschehen, aus einer Funktion heraus, in der Sie mich bereits früher kennengelernt
haben, Frau Haßelmann. Wenn das ein Vorpreschen gewesen sein soll, ist das vielleicht ein leichtes Indiz dafür,
dass Sie in dieser Fragestellung etwas langsamer waren.
({1})
Außerdem möchte ich - nicht krittelnd und schon gar
nicht den kooperativen Geist dieses Hauses verletzend darauf hinweisen, dass manche Hinweise, von Herrn
Wissing und vielleicht ebenso von den Linken und von
den Grünen, mich ein bisschen an einen Witz erinnern,
den ich in diesem Zusammenhang erzählen will, damit
das Ganze nicht so ernsthaft klingt. Ich weiß, dass ich
diesen Witz schon ein paar Mal erzählt habe. Diejenigen,
die ihn kennen, mögen weghören.
({2})
Ich nehme die Kurzform: Ein Mann geht im Frühjahr
an einem reißenden Fluss entlang und sieht am gegenüberliegenden Ufer eine Frau mit ihrem Kind. Das Kind
spielt am Ufer und fällt in den Fluss. Es wird von den
Fluten unter Wasser gedrückt und droht zu ertrinken. Der
Mann reißt sich den Mantel vom Leib, zieht die Schuhe
aus und springt hinterher. Unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte bekommt er mit Mühe das Kind am Schlafittchen zu fassen, reißt es aus dem Strom heraus und bringt
es zu der Mutter. Die Mutter schaut erst das Kind und
dann ihn an und sagt: „Und wo ist die Mütze?“
({3})
So kommen mir einige Einwendungen gelegentlich
vor. Wir haben hier viele Elemente zusammengetragen,
und Sie fragen quasi: „Und wo ist die Mütze?“ Könnte
es nicht zusätzlich noch das oder das sein? - Auch die
Beiträge von Frau Höll waren so.
Herr Minister, Ihr Witz hat offensichtlich Kollegin
Haßelmann zu einer Zwischenfrage angeregt.
({0})
Erlauben Sie sie?
({1})
Das erlaube ich nur, Herr Präsident, wenn auch sie einen Witz erzählt. Sie kann ihn ja in Frageform vortragen.
({0})
Die Frageform, Frau Haßelmann, lautet: Kennen Sie
schon den Witz? - Dann können Sie ihn erzählen.
Nein, wahrscheinlich will sie sagen, wo die Mütze ist.
({0})
Ich sehe, viele von Ihnen kennen nicht die Phase bei
Herrn Steinbrück, wenn er erst einmal anfängt, Witze zu
erzählen. Ich kenne sie, deshalb werde ich jetzt gar keinen
Witz erzählen; das kann er viel besser als ich. Aber auch
wenn wir gerade so launisch sind und Witze erzählen,
möchte ich noch etwas sagen, da Herr Steinbrück gerade
versucht, ein bisschen in Richtung der Oppositionsfraktionen auszuteilen.
Meine Bemerkung hinsichtlich des Vorpreschens bezog sich auf einen ganz sachlichen Hintergrund, und
zwar auf die Tatsache, dass Sie sich bei der Erhöhung der
Übungsleiterpauschale als Finanzminister so weit vorgewagt hatten - indem Sie angekündigt haben, sie werde
erhöht -, dass die Regierungsfraktionen dahinter nicht
mehr zurückkamen. Wir haben ja in den Fachausschüssen sehr intensiv darüber diskutiert, ob eine allgemeine
Aufwandspauschale, von der alle Menschen profitieren,
nicht doch einer Erhöhung der Übungsleiterpauschale
vorzuziehen ist. Sehr geehrter Herr Finanzminister, darauf bezog sich das „Vorpreschen“. Meinen Sie nicht
auch, dass dadurch, dass Sie sich in der Öffentlichkeit auf
die 2 100 Euro festgelegt haben, und dadurch, dass zum
Beispiel Herr von Stetten in der Begründung im Finanzausschuss sagte, die Vereine hätten das schon vorweg
vollzogen und deshalb würde man es bei der Erhöhung
auf 2 100 Euro belassen, ein gewisses Problem in der
parlamentarischen Möglichkeit, dieses Thema neu zu
diskutieren, entstanden ist?
Erstens. Vielen Dank, ich habe jetzt verstanden, was
Sie mit dem „Vorpreschen“ gemeint haben.
Zweitens. Wenn man eine Initiative ergreift, dann
muss man konkret werden, dann prescht man vor und
legt sich fest. Das ist nun einmal nicht zu vermeiden. Ich
glaube, dass das eine Möglichkeit ist, die einem Vertreter
der Exekutive offensteht. Es ist dann Ihre Verantwortung
als Souverän, dies im parlamentarischen Beratungsprozess zu verändern - warum nicht? Ich habe es vor dem
Hintergrund einer Reihe von Diskussionen über die
Wertschätzung der Aktivitäten von vielen Menschen in
Sportvereinen für richtig gehalten, die Übungsleiterpauschale zu erhöhen. Sie haben das an dieser Stelle
korrigiert. Es gibt eine andere Korrektur, auf die ich vielleicht noch zu sprechen komme.
Wichtig ist für mich, dass das Paket insgesamt erhalten geblieben ist. Wir wissen, unter dem Strich sind sogar noch 50 Millionen Euro mehr für das Ehrenamt an
Förderung herausgekommen - ich hatte 440 Millionen Euro gesagt, jetzt sind es 490 Millionen Euro. Dieser Prozess ist nicht immer ganz reibungslos, aber lautlos und erfolgreich verlaufen. Dafür spreche ich noch
einmal meinen Dank aus.
({0})
Ich hatte - wie selten vor Inkrafttreten eines Gesetzes die Möglichkeit, eine Art Praxistest zu machen, weil ich
sowohl am Verbandstag des Bundesverbands Deutscher
Stiftungen in Lübeck wie auch am zweiten Stiftertag in
Hamburg teilnehmen konnte. Einige von Ihnen wissen,
dass ich meine Ehrenamtsfahrten und -touren fortgesetzt
habe. Ich bin in Erfurt, in Köln, in München und in Berlin gewesen und kann nur bestätigen, dass diese Initiative, die jetzt dank Ihrer Hilfe verabschiedet wird, bei
den ehrenamtlich engagierten Bürgern und im Stiftungswesen sehr stark anerkannt und als richtig empfunden
wird. Ich kann deshalb nicht so ganz nachvollziehen,
dass das Stimmungsbarometer insbesondere bei den
Ausführungen von Herrn Wissing einen deutlich niedrigeren Wert anzeigte als bei dem, was - jedenfalls vor
dem Hintergrund der Zustimmung - die gemeinnützigen
Vereine sowie die ehrenamtlich engagierten Menschen
und Stiftungen äußerten.
({1})
Ich will in diesem Zusammenhang auch noch einmal
sehr deutlich sagen - ich hatte dazu schon am 10. Mai
Gelegenheit -: Wenn es das ehrenamtliche Engagement
in Deutschland nicht gäbe, dann wäre diese Gesellschaft
nicht nur ärmer; ich behaupte, sie würde nicht funktionieren.
({2})
Wir reden hier im Deutschen Bundestag oft über die
Notwendigkeit der gesellschaftlichen Integration. Gerade während meiner gezielten Besuche in eher sozial
benachteiligten Stadtvierteln, nicht nur in NordrheinWestfalen, sondern auch anderswo, habe ich erneut die
Erfahrung gemacht, dass es - gerade mit Blick auf
Jugendliche, die weit davon entfernt sind, die Chance
auf einen gerechten Zugang zu Bildungseinrichtungen
zu haben, oder die vor dem Hintergrund ihres sozialen
Milieus derartig gehandicapt sind, dass sie möglicherweise die vorprogrammierten Verlierer dieser Gesellschaft sind - begeisterungswürdig ist, zu sehen, dass
zum Beispiel pensionierte Lehrer ehrenamtlich Hausaufgabenbetreuung machen, Sprachunterricht erteilen, dass
es viele ehrenamtlich engagierte Menschen gibt, die diesen Jugendlichen Hilfestellung bei Bewerbungen geben
und die sich dafür engagieren, dass sozial gefährdete
Stadtteile wieder stabilisiert werden, wieder einen eigenen Stolz entwickeln und präsent sind im öffentlichen
Raum, und zwar nicht über Graffiti und Gewalt, sondern
über ein gemeinsames Auftreten und gemeinsame Programme, an denen sowohl diejenigen teilnehmen, die einen Migrantenhintergrund haben, als auch diejenigen,
die in diesen Stadtvierteln einheimisch sind. Ich möchte
an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich unterstreichen,
dass dieses Engagement einen enormen Stellenwert hat,
wenn es darum geht, Fliehkräfte in dieser Gesellschaft
zu binden.
({3})
Es gibt ein Missverständnis, von dem ich weiß, dass
die Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, sehr sensibel
darauf reagieren: Sie reagieren sehr sensibel, wenn wir
den Eindruck vermitteln, dass wir beim Hauptamt sparen und das Ehrenamt auf Umwegen an seine Stelle
setzen wollen. Ich möchte betonen, dass das bürgerschaftliche Engagement nicht der preiswerte soziale Reparaturbetrieb für das ist, was wir seitens der Politik und
des Staates nicht hinkriegen; das kann nicht sein.
({4})
Eine vitale Bürgergesellschaft ist für mich immer
auch Ausdruck von Freiheit und einer vom Staat unabhängigen Solidarität. Die staatlich organisierte Solidarität muss hinzutreten. Neben einer vitalen Bürgergesellschaft muss es einen handlungsfähigen Staat geben.
Beides ergänzt sich.
({5})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wissing von der FDP?
({0})
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Minister, was Sie über das Ehrenamt gesagt haben, ist - das haben Sie sicherlich am Applaus gemerkt Konsens in diesem Haus. Ich will eine Frage zum Gesetzentwurf stellen. Sie haben ursprünglich vorgehabt,
dass 300 Euro von der Steuerschuld abgezogen werden
können, wenn man im Jahr eine bestimmte Anzahl von
Arbeitsstunden ehrenamtlich leistet. Dieser Vorschlag ist
im Gesetzentwurf gestrichen worden. Halten Sie das für
eine Verbesserung des Gesetzentwurfs oder für eine Verschlechterung?
Herr Wissing, wie Sie erstens wissen, geht diese
Streichung nicht zulasten des Gesamtvolumens des Pakets. Zweitens wissen Sie aus meinen vorherigen Einlassungen, dass diese 300 Euro auf den mildtätigen Bereich
zentriert waren; schlicht und einfach, weil eine Ausweitung auf andere Bereiche - Kultur, Sport und was sonst
noch - ins Uferlose geführt hätte. Sie wissen, dass das
mit Einnahmeverlusten in einer Größenordnung von
1,1 Milliarden Euro verbunden gewesen wäre. Das ist
Ihnen bekannt.
Insofern konnte ich die Auffassung der Koalitionsfraktionen im Rahmen der Debatte darüber nachvollziehen. Es wurde gesagt: Wenn Steinbrück das aus nachvollziehbaren finanziellen Gründen, weil das nicht
ausufern darf, auf den mildtätigen Bereich beschränkt,
kommt eine Unwucht hinein, der Vorwurf einer Ungleichbehandlung. Vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass wir Ungleichbehandlungen vermeiden wollen,
streichen wir diesen Punkt, erhöhen aber zum Beispiel
den Freibetrag von 420 Euro auf 500 Euro, was Gegenstand des verbesserten, des im parlamentarischen Verfahren überarbeiteten Gesetzentwurfs ist. Daran kann ich
nichts Nachteiliges erkennen. Die Formulierung, dass
ich daran gescheitert sei, scheint mir eine, wenn nicht
zwei Oktaven zu hoch zu sein.
({0})
Aus Zeitgründen kann ich nicht auf alle Punkte eingehen. Ich will aber daran erinnern, dass die Novelle des
Stiftungsrechts im Jahr 2000 wichtig war. Die Anerkennung dafür ist groß. Das hat zu einer solchen Vielzahl
von Stiftungsgründungen geführt, wie wir sie uns nie
hätten vorstellen können.
({1})
Das ist mir bei den Verbandstagen, die ich besucht habe,
bewusst geworden. Ich will meine Ausführungen dazu
nicht wiederholen.
Wir haben den Höchstbetrag für die Ausstattung von
Stiftungen von 370 000 Euro erhöht, und zwar nicht nur
auf 750 000 Euro, sondern auf 1 Million Euro. Man
kann immer sagen, man hätte gerne noch mehr. Dazu
mache ich immer den Witz mit der Mütze, Herr Wissing.
Natürlich kann man sagen, 1,5 Millionen wären besser.
Das würde aber zu einem Überbietungswettbewerb führen: Der Nächste würde 2 Millionen und der Übernächste 3 Millionen fordern. Diejenigen, die ich gesprochen habe, sind mit 1 Million sehr zufrieden.
An einem Brief, den ich vom Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski bekommen habe, sieht
man, wie das ankommt. Er traf einen Stifter, der ihm gesagt hat: Ich habe davon gehört, dass Sie die Grenze von
370 000 Euro nicht nur auf 750 000 Euro, sondern auf
1 Million Euro erhöht haben. So spare ich ja Steuern.
Die eingesparten Steuern lege ich obendrauf.
({2})
Dieses Beispiel von dem Stifter, der mir namentlich
nicht bekannt ist, den ich an dieser Stelle aber als namenlosen Stifter würdigen möchte, soll der Abschluss
meiner heutigen Rede sein. Wenn dieses Gesetzespaket
ein solches Verhalten auslöst, wenn das für die Menschen ein Anlass ist, noch mehr zu tun,
({3})
dann hat der Deutsche Bundestag auf Initiative der Bundesregierung - sie ist, wenn ich das so sagen darf, ein
wenig vorgeprescht - etwas Richtiges und Gutes für das
Ehrenamt und das Stiftungswesen in Deutschland in
Gang gebracht.
Herzlichen Dank.
({4})
Als nächster Redner hat Kollege Christian von
Stetten, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir als letztem Redner der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bemerkung, dass ich im Finanzausschuss schon lange keine Gesetzesberatung mehr erlebt
habe, die von so viel Zielorientiertheit, Offenheit und
auch Respekt gegenüber den anderen Fraktionen geprägt
war wie die zum Thema Ehrenamt, das uns allen, glaube
ich, ein großes Anliegen ist. Das ist ein gutes Zeichen.
Denn wir zeigen dem Bürger damit, dass wir es ernst
meinen und nicht nur in Sonntagsansprachen darüber reden. Wir zeigen, dass wir parteiübergreifend ein gemeinsames Ziel haben. Wir unterstützen gemeinsam mit unserer generellen Arbeit im Bundestag und insbesondere
mit diesem Gesetzentwurf die ehrenamtlich Tätigen, die
Vereine, die mildtätigen Organisationen und die vielfältigen Stiftungen in unserem Land.
({0})
Herr Finanzminister Steinbrück, Sie haben die entsprechenden Passagen aus unserem Koalitionsvertrag in
einen Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Stärkung des
bürgerschaftlichen Engagements umgesetzt und in den
Bundestag eingebracht. Wir, das Parlament, haben - gestatten Sie mir diese Bemerkung - Ihren Gesetzentwurf
etwas verbessert und im Finanzausschuss, zum Teil mit
Zustimmung der Oppositionsfraktionen, mit Änderungsanträgen eindrucksvoll verabschiedet.
Der Staat verzichtet durch diese Gesetzesänderungen
- das ist mehrfach betont worden - auf jährliche Steuereinnahmen in Höhe von insgesamt fast einer halben Milliarde Euro. Aber wir sind uns, glaube ich, alle einig,
dass dieses Geld gut angelegt ist. Die kulturelle und soziale Bedeutung der Vereine ist in den letzten Jahren
noch einmal stark gestiegen. Wer sich in unseren funktionierenden Vereinen aufhält, spürt eine Art Wärme,
zum Teil fast schon familiäre Atmosphäre. Vereine sind
in vielen Fällen schon fast eine Art Familienersatz geworden und leisten insbesondere zur Integration der ausländischen Jugendlichen in unserem Land einen enormen Beitrag.
({1})
Es ist besonders hervorzuheben, dass die Übungsleiter in unseren Sportvereinen schon längst mehr sind als
nur durchtrainierte Vorturner für die Kinder. Sie kümmern sich immer mehr um die persönlichen Probleme
der ihnen anvertrauten Jugendlichen. Viele Kinder erfahren im Verein erstmals die Wichtigkeit von Pünktlichkeit, Fairness und auch Kameradschaft untereinander.
Jeden Euro, den wir in die Unterstützung der Übungsleiter und der Ehrenamtlichen stecken, bekommt unsere
Gesellschaft doppelt zurück.
({2})
Da die einzelnen Gesetzesänderungen schon ausführlich erläutert wurden, möchte ich auf Kollegin
Haßelmann eingehen. Sie beklagen, dass Sie etwas mehr
Zeit gebraucht hätten, um zusätzliche Fortschritte beim
Bürokratieabbau und in Haftungsregelungen zu erzielen.
Daher sind Sie alle eingeladen, nachdem wir heute die
steuerlichen Verbesserungen verabschiedet haben, gemeinsam mit uns an dem Thema weiterzuarbeiten, um
die Bürokratie- und Haftungsfragen zügig zu klären
und sobald wie möglich im Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf gemeinsam zu verabschieden.
Bei der Anhörung ist ein großes Interesse zum Tragen
gekommen, dies zügig zu machen.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir heute dieses steuerliche Etappenziel erreicht haben. Der Bürger braucht in
Steuerfragen Rechtsanwälte und Rechtsbeistände. Die
Vereine brauchen in steuerlichen Fragen Rechtssicherheit; das ist ganz wichtig. Dieses Gesetz soll die Bürger
und die Betroffenen sofort entlasten. Deswegen wollen
wir das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres
in Kraft treten lassen, und deswegen ist es wichtig, dass
wir den Gesetzentwurf heute mit einer möglichst breiten
Mehrheit im Bundestag verabschieden.
({3})
Der Finanzminister hat es angesprochen: Heute ist ein
guter Tag für das Ehrenamt. Auch die Verbesserungen
bei den Spendenabzugsmöglichkeiten und die Erhöhung des steuerlich begünstigten Vermögensstocks bei
den Stiftungen auf 1 Million Euro werden nach meiner
festen Überzeugung einen neuen Stiftungsboom in
Deutschland auslösen. Wir sind - das ist europaweit bekannt - schon das Land der Ehrenamtlichen. Jetzt werden wir auch zum Land der Stifter und der Stiftungen.
Das ist ein guter Tag für die ehrenamtlich Engagierten.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Bürsch, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Vertreter von gemeinnützigen Verbänden! Ausdrücklich begrüße ich Hans-Peter Kröger, den Präsidenten des Deutschen Feuerwehrverbandes, stellvertretend
für die 23 Millionen Menschen, für die wir heute etwas
beschließen. Wir Engagementpolitiker lieben es kurz,
kompakt und konkret. Deshalb habe ich um ein einminütiges Schlusswort zu dieser Debatte gebeten.
Mein Schlusswort lautet folgendermaßen: Als Vorsitzender der Enquete-Kommission, die ich bis 2002 geleitet habe, ist mir noch gewärtig, was wir damals mit unseren 200 Empfehlungen im Auge hatten. Im Grunde
waren es drei Bereiche: erstens den Schutz der Engagierten - hier haben wir in der letzten Legislaturperiode mit
der Unfallversicherung einen großen Schritt gemacht -,
zweitens den Nachteilsausgleich und drittens die allgemeine Förderung und Ermöglichung des Engagements.
Das, was wir heute beschließen, ist ein enormer Schritt
in Sachen Nachteilsausgleich - das sage ich aus der
Sicht des Unterausschusses und der früheren EnqueteKommission - und gleichzeitig auch ein Schritt zur Ermöglichung und Förderung des Engagements.
Mein Fazit lautet: Das ist ein gutes Werkstück. Es
bringt uns voran. Insofern sage ich auch im Namen des
Unterausschusses allen Beteiligten Dank. Es ist mit viel
Leidenschaft gerungen worden. Dieser Minister nimmt
nicht nur, sondern er gibt auch; das ist gewöhnlich nicht
so.
({0})
Es wurden nicht alle Wünsche erfüllt. Daher bleibt auf
dem Gebiet des bürgerschaftlichen Engagements noch
viel zu tun. Insbesondere die Vertreter des Engagements
bitte ich, nach dem alten IKEA-Grundsatz zu handeln:
Entdecke die Möglichkeiten! In diesem Paket sind viele
Maßnahmen enthalten, die ihnen nutzen können.
Ich fasse zusammen. Gesetz: gut. Minister: sehr gut.
Bürgerengagement: Hier bleiben wir dran. Viel Glück!
({1})
Ich möchte noch ein kurzes Nachwort sagen: Viele erwarten immer wieder Sternstunden des Parlaments.
({2})
Ich plädiere dafür: Es darf auch einmal nur eine Minute
sein.
Vielen Dank.
({3})
Lieber Kollege Bürsch, ich will Sie nicht enttäuschen,
aber es waren zweieinhalb Minuten.
({0})
So schnell vergeht eine Minute.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5926, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5200 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD bei Enthaltung der drei Oppositionsfraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor in dritter Lesung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5981. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von FDP und Linkspartei und Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5926
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/5410 mit dem Titel „Mehr Freiheit wagen - Zivilgesellschaft stärken“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linkspartei bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Neinstimmen der
FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5245
mit dem Titel „Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Kerstin
Andreae, Hüseyin-Kenan Aydin und weiterer Abgeordneter
Ergänzung des Untersuchungsauftrages des
1. Untersuchungsausschusses
- Drucksachen 16/5751, 16/6007 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({3})
Christine Lambrecht
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({4})
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
damit gleich zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
auf Drucksache 16/6007, den genannten Antrag auf
Drucksache 16/5751 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen bei Enthaltung der Koalitionsfraktionen angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf:
a) Beratung des Antrages der Abgeordneten
Michael Stübgen, Ulrich Adam, Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kurt
Bodewig, Franz Thönnes, Dr. Lale Akgün, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ostseekooperation weiter stärken und Chan-
cen nutzen
- Drucksache 16/5910 -
b) Beratung des Antrages der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Niels Annen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Tourismusregion Ostsee voranbringen
- Drucksache 16/5906 -
c) Beratung des Antrages der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Christian Ahrendt,
Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Zukunftschancen des Ostseeraums - Wirtschaft, Ökologie, Kultur und Tourismus
- Drucksache 16/5251 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem
Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das
Wort.
({7})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir nach langer Zeit im Deutschen Bundestag wieder über Ostseepolitik debattieren.
Berlin hat eigentlich schon immer einen Blick zur Ostsee
gehabt, wie uns das Kurt Tucholsky in einem kleinen
Vers seines Gedichtes „Das Ideal“ beschrieb:
Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn aber abends zum Kino, da hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit …
Ende August findet die 16. Ostseeparlamentarierkonferenz hier in Berlin statt. Erstmalig ist damit die
Bundesrepublik Deutschland, der Deutsche Bundestag
Gastgeber. Als derzeitiger Vorsitzender des Ständigen
Ausschusses der Konferenz freue ich mich, dass wir,
was die Präsenz von Ministern bei dieser Tagung angeht,
nicht unbescheiden sein müssen: Die Wertschätzung
wird deutlich durch den lettischen Außenminister, Artis
Pabriks, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Bundesarbeits- und -sozialminister Franz Müntefering und
Umweltminister Sigmar Gabriel.
In den letzten 20 Jahren hatten wir einen beispiellosen
Prozess des friedlichen Zusammenwachsens der Länder
an der Ostsee, nicht zuletzt dadurch, dass es eine intensive Kooperation gibt. Der Veränderungsprozess, der
stattgefunden hat, mündete in der EU-Osterweiterung im
Mai 2004. In den 1970er-Jahren waren gerade einmal
3 Prozent der Küsten des Ostseeraums EWG-Gelände.
Heute sind 95 Prozent der Küsten EU-Gebiet. Die Ostsee ist damit zu einem EU-Binnenmeer geworden, zu einem Meer, das verbindet und nicht mehr trennt. Die Ostseeregion gehört heute zu den am stärksten entwickelten
und integrierten Regionen Europas. Das gut funktionierende Netzwerk von vielen Akteuren war bei der Integration der neuen EU-Mitgliedstaaten von zentraler Bedeutung. Nun sind Russland, Norwegen und Island die
einzigen Nicht-EU-Mitgliedstaaten im Ostseerat.
Alle Ostseeanrainer haben inzwischen eine gute Position im Wettbewerb der europäischen Regionen. Ob im
Ranking der weltweit wettbewerbsfähigsten Länder oder
beim überdurchschnittlichen Wachstum innerhalb der
EU, bei den Innovationen oder beim Vergleich der Leistungsfähigkeit in der Informationsgesellschaft, man findet stets nordische Länder, die baltischen Staaten und erfreulicherweise im Hinblick auf die Innovationen auch
Deutschland auf den vorderen Plätzen.
Der Wettbewerb in Europa und die Herausforderungen in der Ostseeregion nehmen zu. Die Menge der
Transportgüter steigt. Abwässer und Schadstoffe verschmutzen die Ostsee zunehmend. Sie wieder zu reinigen und umfassend zu schützen, wird lebenswichtig für
alle Ostseeanrainer sein. Ab 2011 haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU. Bereits heute
haben Zehntausende Grenzgänger in den wachsenden
grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten eine Beschäftigung.
Die Zusammenarbeit im Ostseeraum unter energiepolitischen Gesichtspunkten, Arbeitsmärkte und soziale
Wohlfahrt sowie die integrierte Meerespolitik stehen auf
der Tagesordnung der 16. Ostseeparlamentarierkonferenz. Der Antrag der Koalitionsfraktionen stützt die
Politik der Bundesregierung in der Ostseeregion. Er forParl. Staatssekretär Franz Thönnes
dert aber ebenso neue Schwerpunktsetzungen. Er ist damit auch eine Leitorientierung für die Delegation des
Deutschen Bundestags in der Ostseeparlamentarierkonferenz. Ich möchte einige Punkte im Einzelnen erläutern.
Wir brauchen eine integrierte und nachhaltige Meerespolitik. Maritime Wirtschaft, Seeverkehr, Küstenschutz, Offshore-Energie, Fischerei und Meeresumwelt
müssen als Einheit gesehen werden. Wir brauchen faire
Wettbewerbsbedingungen in der Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft und im Schiffbau. Gerade da gibt es Chancen für ein Wachstum der maritimen Wirtschaft und
neue Beschäftigung. Die Prüfung einer „Task Force
Meerespolitik“ beim Ostseerat gehört dazu.
Die Ostsee ist ein sensibles und gefährdetes Meer.
Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Sicherheit der
Seeschifffahrt. Deshalb fordern wir die Prüfung einer
Lotsenpflicht für Öltanker und andere Schiffe mit gefährlicher Ladung. Für enge Schiffspassagen wie Kadetrinne und Öresund ist eine allgemeine Lotsenpflicht
zu prüfen. Unkalkulierbare Risiken können und dürfen
wir uns diesbezüglich nicht leisten.
Gerade unter ökologischen Gesichtspunkten erwarten wir die Unterstützung aller Bemühungen zur Vermeidung und Reduzierung von Schiffsemissionen sowie die
Realisierung der Landstromversorgung in den Häfen.
Lebenswichtig für die Ostsee ist die Bekämpfung der
Eutrophierung. Ebenso brauchen wir eine nachhaltige
Fischwirtschaft und die Bekämpfung illegaler Fischerei.
Der Ostsee darf nicht die Luft zum Atmen genommen
werden.
({0})
Erfolgreiche Ostseepolitik ist nur mit Russland möglich. Dies ist insbesondere für die Politik der nördlichen
Dimension von zentraler Bedeutung. Ostseepolitik ist
diesbezüglich ganz konkret praktizierte Entspannungsund Sicherheitspolitik.
Über Infrastrukturvorhaben in und auf der Ostsee
hat unter allen Ostseeanrainern eine gegenseitige Information hinsichtlich möglicher ökonomischer, ökologischer und sozialer Folgen zu geschehen. Wenn Umweltverträglichkeitsprüfungen im Rahmen internationaler
Verpflichtungen hinzukommen, schafft das Vertrauen
und Akzeptanz.
Wir fordern die Bundesregierung zudem auf, die
Weiterführung des transeuropäischen Netzes über die
deutschen Ostseehäfen hinaus nach Skandinavien zu unterstützen, um eine effiziente Verbindung von Meer zu
Meer - also auch vom Mittelmeer zur Ostsee - zu gewährleisten und damit die deutschen Seehafenhinterlandanbindungen zu fördern. Wir unterstützen ausdrücklich die gute Vereinbarung, die zur Fehmarnbeltquerung
getroffen wurde. Auch sie ist ein Projekt, das in dieses
Netz hineingehört, die Länder enger zusammenbringen
wird und in Zukunft als internationales PPP-Referenzvorhaben zu verfolgen ist.
Es sind die „Motorways of the Sea“ als umweltfreundliche Kurzstreckenverkehre in der Ostsee zu fördern, damit zur notwendigen Entlastung der überfüllten
Straßen beigetragen und die Höhe des Schadstoffausstoßes aller Verkehrsträger verringert wird.
Grenzüberschreitende Arbeitsmärkte müssen Thema
im Ostseerat werden. Wir brauchen bei der Mobilitätsförderung an stark frequentierten Grenzübergängen
Informationszentren wie beispielhaft in der Region
Sonderjylland/Schleswig, die dazu beitragen, dass die
Beschäftigten in steuer- und sozialrechtlichen Fragen
ausführliche Beratung erhalten. Die Ostseeregion gewinnt in dem Maße an wirtschaftlicher Kraft, wie sie den
dort arbeitenden Menschen soziale Sicherheit gibt.
Gute Zukunftsverbindungen sind gute Kontakte junger Menschen untereinander. Gerade deshalb fordern
wir, die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung der
den Jugendaustausch fördernden Ostseejugendstiftung
in Kiel zu prüfen und bei anderen für eine Förderung zu
werben. Die Investition in die Jugend dieser Region ist
die beste Zukunftsinvestition in diese Region.
({1})
Dazu gehört auch, dass der Bildungsbereich eine
zentrale Rolle spielen muss. Das gilt für den Studentenaustausch, für den Aufbau virtueller Forschungs- und
Wissenschaftsverbünde in der Ostseeregion und auch für
die Universitäten, die Netzwerke aufbauen und Exzellenzzentren entwickeln müssen, die international wettbewerbsfähig sind. Hier gilt das Gleiche. Durch die Bildungsinvestitionen wird eine gute Zukunft gesichert.
Eine sichere und saubere Ostsee, eine ökonomisch
starke und innovative Ostseeregion, stabile Gesellschaften mit sozialer Verantwortung, ein zukunftsträchtiges
und nachhaltiges Netzwerk - das sind die Maximen für
eine erfolgreiche Entwicklungsstrategie. In diesem
Sinne werden auch die Ostseeparlamentarier im August
ihren Beitrag hier in diesem Hause leisten.
Die Stärkung der Ostseekooperation ist ein guter
Leuchtturm, eine gute Orientierung. Achten wir jetzt
auch auf die Fahrrinnenmarkierungen in der Seeschifffahrt, dann dürfte auch im politischen Geschehen eine
gute Ostseepolitik immer eine Handbreit Wasser unter
dem Kiel haben und am Ende auch erfolgreich sein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Nun hat Kollegin Christel Happach-Kasan, FDPFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Thönnes, das mit der Handbreit Wasser
unter dem Kiel ist bei der Ostsee bekanntlich nicht so
sehr das Problem. Das bekommt man dort immer hin.
Vielen Dank aber für die nette Einleitung mit Kurt
Tucholsky.
Ich freue mich, dass wir heute, an diesem Freitag,
nach 13 Uhr eine solche Debatte über die Ostsee, über
dieses nordeuropäische Meer, führen können, einem
Meer, bei dem das geschieht, was Willy Brandt gesagt
hat: Es wächst zusammen, was zusammengehört.
Dies ist ein wundervoller Einstieg in die Sommerpause, und ich lade Sie alle sehr herzlich ein, wenn Sie
noch keine Sommerpläne haben: Die Ostsee und die
Strände der Ostsee in Schleswig-Holstein und auch in
Mecklenburg-Vorpommern sind hervorragend geeignet,
dort einen Sommerurlaub zu verbringen. Denen, die
noch kein Quartier haben, darf ich versichern, dass auch
im Hinterland genügend Raum zur Verfügung steht.
Zur Zeit der Hanse war die Ostsee eine blühende Region in Europa. Olaus Magnus, der schwedische Kartograph, hat 1529 auf einer Karte einmal dargestellt, welche Qualitäten und Werte sich in diesem Ostseeraum
befinden. Er wollte damit den Papst animieren, die katholische Kirche dort zu stärken. Das ist ihm bekanntlich
nicht gelungen. Wir haben aber ein wunderschönes Kartenwerk.
Lübisches Recht galt in den norddeutschen und
nordeuropäischen Städten - nicht nur in Lübeck, Riga,
Tallinn und Nowgorod - und hat das Rechtswesen im
norddeutschen Raum entscheidend geprägt. Die Schönheit der Städte, die heute Ziele touristischer Exkursionen
bzw. Reisen sind, zeugt vom Reichtum der vergangenen
Jahrhunderte. Und dies ist gut.
Wir erinnern uns alle an die grausame Zeit des Kalten
Krieges. Wir erinnern uns aber auch daran, dass die Politik von Michail Gorbatschow diesen beendet hat. Wir erinnern uns auch daran, dass Hans-Dietrich Genscher der
erste Politiker im westlichen Raum gewesen ist, der
erkannt hat, welche Chancen die Politik Michail
Gorbatschows gebracht hat.
Die Singende Revolution in den baltischen Ländern
war eine machtvolle Demonstration für die Freiheit und
hat dazu beigetragen, dass dieser Raum jetzt das ist, was
er ist, nämlich ein gemeinsamer, zusammengefügter
Wirtschaftsraum.
Die Ostseeparlamentarierkonferenz, die diesmal in
Berlin tagen wird, tagt seit 1991. Der Ostseerat wurde
1992 von Hans-Dietrich Genscher und Uffe EllemannJensen gegründet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen Ihnen
einen umfangreichen Antrag vor, in dem wir unsere
Vorstellungen zur Entwicklung des Ostseeraumes in
Deutschland in den verschiedenen Bereichen der Umweltpolitik, der Schiffssicherheit, der Wirtschaftspolitik
und auch der Kulturpolitik aus deutscher Sicht darstellen.
Wir müssen erkennen, dass die Ostsee ein sehr junges
und sensibles Meer ist. Diese Ostsee braucht Schutz. Sie
ist gerade einmal 5 000 Jahre alt und damit den Kinderschuhen letztlich noch lange nicht entwachsen. Sie
braucht unsere besondere Fürsorge.
({0})
Weil sie nur 5 000 Jahre alt ist, gibt es keinen einzigen
Organismus, der speziell an die Situation in der Ostsee
angepasst ist. Deswegen ist die Ostsee ein solch sensibles Meer, und wir müssen besonders sorgfältig mit ihr
umgehen.
Bei der Diskussion über den Meeresschutz haben wir
schon einiges zu diesem Thema gehört. Den illegalen
Fischfang wollen wir gemeinsam einschränken. Wir
müssen ihn massiv bekämpfen; denn es kann nicht sein,
dass Fischer, die legal Fischfang betreiben, durch illegale Fischer benachteiligt werden.
({1})
Bei aller guten Zusammenarbeit im Rahmen der Delegation der Ostseeparlamentarierkonferenz bin ich
gleichwohl enttäuscht über den Antrag, den die SPD und
die CDU/CSU vorgelegt haben, Herr Kollege Thönnes.
Er könnte aus meiner Sicht allenfalls als Entwurf durchgehen. Es ist garantiert kein Antrag, hinter den sich die
Delegation der Ostseeparlamentarier auf der Konferenz
stellen kann. Er enthält zu viele Ungereimtheiten und ist
absolut unausgegoren. Es wird nicht klar, warum der
Lachs erwähnt wird, aber der Schweinswal nicht. Wir
wissen auch nicht, was ihr hinsichtlich der Förderung
der Nutzung der Wasserenergie vorhabt. Deswegen müssen wir diesen Antrag ablehnen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Wir verstehen auch nicht, warum die Ablehnung der
Industriefischerei, die sonst Standard ist, ebenfalls nicht
im Antrag enthalten ist. Insofern können wir mit diesem
Antrag nicht leben.
Gleichwohl sind wir der Meinung, dass der Antrag
zum Tourismus in der Ostseeregion ausgesprochen gut
ist. Diesem Antrag werden wir zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Veronika Bellmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Staatssekretär, nicht nur die
Berliner haben eine sinnliche Beziehung zur Ostsee,
sondern das ist auch von den Sachsen bekannt. Der
Sachse liebt das Reisen sehr, sagte man. An der Ostsee
hieß es in der Sommerzeit immer „SOS“: Sachse, Ostsee, Sommer.
({0})
Das war immer eine gute Verbindung und ist es Gott sei
Dank auch heute wieder. Es ist zu begrüßen, dass die
Deutschen wieder ihr eigenes Land als Urlaubsland entdecken.
Die Ostsee als Meer ohne Grenzen: Das ist eine
schöne Bezeichnung für etwas, das mehr verbindet als
trennt. Es ist aber auch ein schönes Wortbild für eine Region, in der gute nachbarschaftliche Beziehungen herrschen. Denn was das Baltikum betrifft, hat sich die
Situation insbesondere nach der EU-Osterweiterung in
den letzten Jahren geändert, wohlgemerkt: zum Guten.
Weil aber nichts so gut ist, dass es nicht noch verbessert
werden könnte, haben wir einen sehr umfangreichen Antrag vorgelegt.
Der Antrag „Ostseekooperation weiter stärken und
Chancen nutzen“ trägt mit seinen 26 Punkten der geänderten Situation nach der EU-Osterweiterung im Ostseeraum Rechnung. Die inhaltlichen Punkte hat Herr Staatssekretär Thönnes bereits ausführlich erläutert. Ich
möchte darüber hinaus auf den Rahmen der Kooperation
eingehen.
Die Ostseeregion gehört zu den am stärksten entwickelten und integrierten transnationalen Regionen Europas. Das Netzwerk der Zusammenarbeit ist beispielhaft und einmalig in Europa. Die Integration der neuen
Mitgliedstaaten ist hierdurch erheblich gefördert und befördert worden. Denn mit der EU-Osterweiterung 2004
hat sich das Kooperationsfeld erheblich verändert. Russland, Norwegen und Island sind nunmehr die einzigen
Nicht-EU-Staaten im Ostseerat. Der Ostseerat, der immerhin auf Initiative Deutschlands und Dänemarks gegründet worden ist und dem mittlerweile die gesamte EU
angehört, gibt Ostseeanrainern die Möglichkeit der Kooperation auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet.
Er ist Impulsgeber und Projektbegleiter für Politik der
sogenannten nördlichen Dimension und bietet damit den
politischen Rahmen für die Zusammenarbeit der EU mit
ihren nördlichen Nachbarn.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen soll das Ziel bekräftigen, die Ostseekooperation weiter zu stärken und
die darin liegenden ökonomischen und politischen Chancen der Zusammenarbeit zu fördern. Auch hierbei können wir die Dynamik aus der deutschen Ratspräsidentschaft nach dem Motto „Deutschland bewegt Europa“
durchaus nutzen. Das gilt auch für den Ostseerat mit den
Treffen der Regierungschefs, der Außenminister und der
Fachminister auf Regierungsebene und auch für die
1991 ins Leben gerufene Ostseeparlamentarierkonferenz
als Zusammenschluss von elf nationalen Parlamenten,
der Baltischen Versammlung, dem Nordischen Rat und
dem Europäischen Parlament.
Aber zunächst richten sich unsere Forderungen an die
Bundesregierung, die wir mit dem vorliegenden Antrag
auffordern, im Ostseerat darauf hinzuwirken, dass er
nicht nur zielstrebig als aktive Koordinierungsebene der
Zusammenarbeit fungiert, sondern sich insbesondere
dem Schutz der Ökosysteme der Ostseeregion verpflichtet sieht.
Die Ostsee gilt noch als sauberstes und sicherstes
Binnenmeer Europas. Das muss sie auch bleiben. Das
geht aber nicht im Alleingang, sondern bedarf koordinierter Anstrengungen bei der Vermeidung von Havarien
und Schiffsunfällen, dem Schutz der Fischbestände und
umweltfreundlicher Energiepolitik. Insofern sind die
Ziele der Lissabonstrategie der EU mit denen der sozialen Gerechtigkeit und der Umwelt zu verbinden. Wir
müssen aber auch die Umweltstandards beim Ausbau
der transeuropäischen Netze beachten.
Damit bin ich bei einem Thema, das mich immer sehr
bewegt. Das ist die Verkehrsinfrastruktur. Zu einem
touristischen Ziel oder zu einem Lieferort kommt man
nur über eine funktionierende Infrastruktur. Die Hafenzufahrten sind ebenso wichtig wie die landseitigen Hinterlandverbindungen. Aber auch eine Verbindung von
Meer zu Meer, also von der Ostsee zum Mittelmeer,
halte ich für wichtig. Die bereits angesprochene Verbindung von Meer zu Meer halte ich als ostdeutsche Abgeordnete gerade deshalb für besonders wichtig und
empfehlenswert, weil mit dem TEN-Projekt 22 bereits
eine elektrifizierte Schienenverbindung ab Prag bzw. eigentlich ab Dresden geplant, im Bau bzw. teilweise
schon fertiggestellt ist. Diese sollte im Hinblick auf eine
Meer-zu-Meer-Verbindung ab Prag über Dresden, Berlin
bis nach Rostock als wichtigster ostdeutscher Ostseehafen weitergeführt werden.
({1})
Die derzeit vorgesehene Südostausrichtung des TENProjektes 22 von Prag über Budapest nach Athen und
Sofia könnte durch eine weitere Verzweigung zur Adria
als Mittelmeerarm erweitert werden.
Ich halte deshalb die Weiterentwicklung der Ostseekooperation in Bezug auf Wirtschaftswachstum und
Wettbewerbsfähigkeit für unabdingbar. Zukunftsträchtig
und nachhaltig muss dieses Netzwerk sein. Genau das
fordern wir in unserem Koalitionsantrag: die Ostsee als
Meer ohne Grenzen. Insofern sollten noch vorhandene
Grenzen der Zusammenarbeit überwunden werden. Ich
bin überzeugt, dass unser Antrag dazu beitragen kann.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Dietmar Bartsch, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Bellmann, lassen Sie mich zuerst eine Korrektur vornehmen. Bei uns in Vorpommern hieß „SOS“ etwas anderes,
nämlich „Sommer ohne Sachsen“. Das war damals ein
erstrebenswertes Ziel. Aber das ist heute nicht mehr der
Fall. Nun ist es ganz anders.
({0})
Ich will zu Beginn auf den FDP-Antrag zu sprechen
kommen, mit dem die Liberalen den Finger in die
Wunde legen. Dort wird festgestellt, dass es ein weiteres
West-Ost-Gefälle gibt, und zwar zum Nachteil des Ostens. Es geht um den Salzgehalt der Ostsee. Dieser wird
gen Osten zunehmend niedriger. Aber wie so oft in der
Politik wird aus dieser Feststellung keine Schlussfolgerung gezogen.
({1})
Ganz sachlich ist zunächst festzustellen: Der Antrag
der FDP, aber auch der der Großen Koalition enthält
viele unterstützenswerte Vorschläge. Ich nenne als
Stichworte: mehr Sicherheit auf den Seewegen, die Bekämpfung des illegalen Dorschfangs und die Verbesserung des Walfangs. Die Qualitätsoffensive für den Tourismusstandort Ostseeküste ist ebenfalls vernünftig
genauso wie die Zurückdrängung der Meeresverschmutzung durch Emissionen des Schiffsverkehrs. Weiterhin
stelle ich fest, dass Sie die Forderung unseres damaligen
Umweltministers Wolfgang Methling nach einer Lotsenannahmepflicht in der Kadetrinne - dafür wurde er 2001
auf Bundesebene noch sehr gerügt - nach dem Tankerunglück der „Baltic Carrier“ aufgegriffen haben, genauso wie seine Forderung, die sogenannten Einhüllentanker auszumustern. Das finde ich sehr gut. Sie
haben den Ratschlag „Von der Linken lernen heißt siegen lernen“ beherzigt. Ich kann nur sagen: Weiter so!
({2})
- Die Sowjetunion war früher; das ist nun anders. Deshalb habe ich das korrigiert.
Beim Lesen des FDP-Antrags entsteht bisweilen der
Eindruck, als ob Sie bis zum Schluss nicht ganz sicher
waren, ob es nicht doch ein gigantisches Verkehrswegekonzept oder nur ein Ostseeraumkonzept werden sollte.
Die Koalitionsfraktionen bleiben in Ihrem Antrag im
Kern dabei stehen - das sei klar gesagt -, zwischenstaatlichen Handlungsbedarf, wenn auch auf wichtigen Feldern zu benennen. Zumindest was die Konkretheit betrifft, ist der FDP-Antrag deutlich weiter, deutlich besser.
Der Koalitionsantrag wird von uns deshalb insbesondere für das kritisiert und abgelehnt, was er nicht enthält.
Das Entscheidende ist: Der Antrag blendet die Menschen in der Region nahezu völlig aus. Es gibt keine
Vorschläge für einen wirksamen Schutz vor Lohn- und
Sozialdumping. Es gibt kein Wort zur Arbeits- und Beschäftigungssituation in den Ländern der Ostseeregion.
Sie, Herr Thönnes, haben mehrfach auf die Ostseeparlamentarierkonferenz Bezug genommen. Aber gerade die
letzte, die 15., hat festgehalten, dass es eine Diskussion
über sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
geben sollte. Das aber wird leider ausgeblendet.
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass - ich darf das zitieren -:
vor dem Hintergrund wachsender Zahlen von
Grenzpendlern an stark frequentierten Grenzübergängen für Pendler Informations-Zentren eingerichtet werden, die dazu beitragen, dass die Beschäftigten in steuer- und sozialrechtlichen Fragen
ausführliche Informationen erhalten.
Das können Sie doch nicht im Ernst meinen. Tiefer kann
man als Regierungspartei in sozial- und beschäftigungspolitischen Fragen kaum sinken.
({3})
Als Vorpommer sage ich Ihnen: Die Menschen in der
Ostseeregion brauchen Arbeit, von der sie leben können
- da sind wir uns hoffentlich einig -, und sie brauchen
Einkünfte, die nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ein würdiges Leben auch im Alter sichern. Aus
Hungerlöhnen dürfen nicht Hungerrenten werden. Wir
brauchen existenzsichernde Löhne und gerechte und höhere Renten anstelle von Lohnkürzungen.
({4})
Ihre Angebote für die Entwicklung der Ostseeregion zeigen erneut: Der Aufbau Ost ist eben nicht
Chefsache bzw. heute Chefinnensache. Die Bundesregierung hat sich offensichtlich von dem Ziel, für
gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zu sorgen, verabschiedet. So wundert es nicht, dass
Sie immer von einer Region ausgehen. Sie wissen genau,
dass zwischen Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern gewaltige Unterschiede bestehen. Schauen
Sie sich allein die Arbeitslosenquote an. In Mecklenburg-Vorpommern ist sie mit 15,8 Prozent fast doppelt
so hoch wie in Schleswig-Holstein. Das ist nicht eine
Region. Deswegen sind die Anträge der Koalition für
uns nicht zustimmungsfähig.
({5})
Die Fraktionen der Großen Koalition und auch der
FDP betonen zu Recht den friedlichen und auch friedensstiftenden Charakter der wachsenden Ostseekooperation. Ich kann Sie nur ermuntern, im Rahmen der
Haushaltsberatungen, die im Herbst beginnen, ernsthaft
zu erwägen, im Verteidigungshaushalt ein Konversionsprogramm aufzulegen, damit es uns gelingt, die Wirtschaftsentwicklung gerade in Mecklenburg-Vorpommern zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen.
({6})
Eine letzte Bemerkung sei mir zum Tourismus gestattet, gerade weil unlängst der gewaltige G-8-Gipfel
stattgefunden hat. Für den Tourismus sind Tornadoflüge
wenig hilfreich. Zu dieser Zeit waren so wenig Touristen
in Heiligendamm und Umgebung wie noch nie. Noch
nie wurde in Mecklenburg-Vorpommern in so kurzer
Zeit so viel Schrott - damit meine ich nicht nur den unsinnigen Sicherheitszaun - produziert und wurden Millionenbeträge verpulvert wie anlässlich des G-8-Gipfels.
Wenn Sie dieses Geld für die Tourismusförderung eingesetzt hätten, dann hätten Sie eine richtige Maßnahme ergriffen.
Ich bedanke mich.
({7})
Ich erteile Kollegen Rainder Steenblock, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben an dieser Stelle vor zwei Wochen über das übergeordnete Thema, nämlich das Grünbuch der Europäischen
Union zum Meeresschutz, gesprochen. Das ist im
Grunde das Dach, unter dem die heutige Debatte stattfindet, obwohl die Ostseekooperation noch mehr Facetten
hat.
Ich muss schon sagen: Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute vorlegen, zeugt von einem erheblichen Lernergebnis aus der ersten Debatte. Der Antrag,
den Sie damals vorgelegt haben, war hart an der Grenze
zur Peinlichkeit. Der heutige Antrag ist schon sehr viel
umfassender, gerade was das Bemühen angeht, ökosystemare Zusammenhänge darzustellen, aber auch was die
politischen Implikationen der Ostseepartnerschaft angeht. Trotzdem - da gebe ich dem Kollegen Bartsch
recht - zeichnet sich dieser Antrag durch eine ganze
Reihe von schwarzen Löchern aus. Die Koalition kann
oder will nicht das aufschreiben, was in der Koalition
diskutiert worden ist. Deshalb werden wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Ich werde einige Punkte benennen, die nach unserer
Meinung zeigen, dass der Antrag zu kurz greift. Die Diktion in dem Antrag ist sehr ökologisch. Das Wort Nachhaltigkeit taucht in fast jedem Satz auf. Man muss aber
aufpassen, dass aus diesen Begriffen Konsequenzen folgen, und es darf nicht bei der Wortakrobatik bleiben. Das
heißt zum Beispiel - Franz Thönnes hat es gerade gesagt -,
dass ein Ziel die nachhaltige Fischerei ist; darüber sind
wir uns alle einig. Aber wenn die Bundesregierung die
Fangquoten für diese bedrohten Tierarten entgegen den
Empfehlungen aller Sachverständigen sehr hoch ansetzt,
kann mit Recht nicht von Nachhaltigkeit gesprochen
werden; denn man tut genau das Gegenteil.
({0})
Diese Inkonsequenz gibt es auch an anderen Stellen.
An einer Stelle bedauere ich es ganz besonders, dass
Sie dazu nichts sagen: Das ist der ganze Bereich der
Energiepolitik. Die Ostseepipeline ist eines der zentralen
Projekte im Ostseeraum, was die Energiesicherheit angeht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Ja, gerne.
Lieber Kollege Rainder Steenblock, als SchleswigHolsteiner, die wir beide sind, haben wir doch sicherlich
das gemeinsame Ziel einer nachhaltigen Fischerei in der
Ostsee. Ich denke, dass man bei der Fischerei nicht nur
auf die Quoten achten sollte, sondern auch sehen muss,
in welcher Größenordnung illegaler Fischfang stattfindet.
Wenn wir sehen, dass ein Drittel des in der Ostsee gefangenen Dorschs illegal gefischt wird, teilen Sie dann
nicht auch meine Auffassung, dass es erste Priorität sein
muss, diesen illegalen Fischfang zu unterbinden, und
dass darauf - insbesondere in einem Antrag, in dem man
sich um eine Ostseekooperation bemüht - alle Anstrengungen gerichtet sein müssen? Teilen Sie nicht auch die
Auffassung von Holger Ortel, der in der gestrigen Debatte zum Meeresschutz sehr richtig gesagt hat, dass wir
zu Lösungen für diejenigen Fischer, die aus einer gewissen gesellschaftlichen Not heraus illegalen Fischfang betreiben, kommen müssen, damit sie anders handeln können? Vor diesem Hintergrund gibt es Initiativen, die
Anlandung der Fische zu kontrollieren, um so illegalen
Fischfang zu unterbinden. Meinen Sie nicht auch, dass
es wichtiger ist, den illegalen Fischfang zu unterbinden,
als den legal Fischenden die Möglichkeit ihres Broterwerbs zu nehmen?
Nein, liebe Kollegin Happach-Kasan, die Einschätzung, in diesen Fragen eine Priorisierung vornehmen zu
müssen, teile ich nicht. Beides ist richtig, und beides ist
wichtig.
({0})
Aber das gegeneinanderzustellen, führt zu einer absurden Situation.
({1})
Wir müssen - darin sind wir uns alle einig - zum einen die illegale Fischerei bekämpfen. Um das hinzubekommen, benötigen wir ein Maßnahmenbündel im Hinblick auf Überwachungsstrukturen. Dann brauchen wir
Verhandlungen bezüglich der Quoten in der Fischerei,
die zu einem Ergebnis führen. Die illegale Fischerei ist
natürlich ein Ausdruck dessen, dass die Fischer zurzeit
keine Alternative haben; eine solche müssen wir ihnen
geben. Dies ist aber auch ein Zeichen kriminellen Handelns. Das muss man sehr deutlich machen; ich will das
nicht entschuldigen. Es muss also Alternativen geben.
Zum anderen haben wir mit der in der Vergangenheit
betriebenen Fischereipolitik und den Quoten, die wir
festgelegt haben, die Substanz, von der die Fischer leben, nämlich den Fischreichtum in Nord- und Ostsee,
kaputt gemacht. Durch die Art und Weise, wie die Meere
im Augenblick befischt werden, wird den Fischern die
Existenzgrundlage entzogen. Wenn wir auch in Zukunft
eine Fischerei haben wollen, dann brauchen wir eine Reduzierung der Fangquoten. Beides gehört zusammen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zusammenhang
mit der Ostsee ist die Energie ein zentrales Thema. Ich
bedauere es sehr, dass in den vorliegenden Anträgen
nichts zur Ostseepipeline und zu Energiefragen steht.
Die Ostseepipeline ist - als Partner der rot-grünen Regierung waren wir zum Schluss, im Endspurt daran beteiligt - kein Kooperationsprojekt. So sollte man die
Ostseekooperation nicht betreiben; denn man hetzt mit
diesem Projekt alle im Ostseeraum beteiligten Kooperationspartner gegeneinander auf.
({3})
Wenn eine Ostseekooperation so funktionieren soll,
wie wir uns das wünschen, dann wäre es sinnvoll, die
Frage der Pipeline nicht bilateral, sondern innerhalb dieses Kooperationsrahmens und mit der EU im Hintergrund zu lösen. Wenn die EU-Staaten an dieser Stelle an
einem Strang ziehen und keine Bilateralität besteht, sondern Kooperationsstrukturen entwickelt werden, dann
wird die Ostseekooperation erfolgreich werden. Man
sollte hier ein deutliches Wort sagen: So geht es nicht; so
spaltet man den Ostseebereich. Wir werden darüber auf
der Parlamentarierkonferenz diskutieren.
Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen - hier
geht es um ökonomische, aber vor allen Dingen auch um
ökologische Aspekte -, der völlig ausgeblendet wird.
Das sind die Munitionsaltlasten. Das hat auch etwas
mit der Ostseepipeline zu tun. Das hat aber auch mit vielen anderen Projekten - auch mit der Fischerei - etwas
zu tun. Die Senfgasgranaten und andere Munition in der
Ostsee, die Fischer immer wieder herausholen, sind lebensbedrohlich und können ökologische Katastrophen
verursachen.
In der Ostsee liegen 400 000 Tonnen Munition und
chemische Kampfstoffe. Das wird auf allen politischen
Ebenen zurzeit viel zu stark verdrängt. Wir Deutsche haben eine besondere historische Verpflichtung, dieses
Problem zu lösen. Das werden wir nicht allein schaffen,
sondern nur in Kooperation mit den anderen Ostseeländern. Was wäre besser, als dass sich die Ostseekooperation aufgrund einer Initiative Deutschlands des Themas
Munitionsaltlasten endlich einmal annimmt? So zynisch
es klingen mag: Durch dieses Projekt könnten in dieser
Küstenregion Arbeitsplätze geschaffen werden.
({4})
Zur Entsorgung dieser Masse an Munition sind neue
Technologien und Entsorgungsstrukturen notwendig.
Zur Beseitigung der Rüstungsaltlasten in der gesamten Region - gerade im mittel- und osteuropäischen
Raum; ich erinnere an all das, was sich in der Ukraine
befindet - bedarf es innovativer Strukturen. Wir, der
Deutsche Bundestag, müssen uns dem Thema der Entsorgung von alter Munition, von chemischen Kampfstoffen, in Zukunft stärker widmen.
({5})
Auf diesen Punkt sind Sie leider nicht eingegangen; der
Kollege Bartsch hat es angesprochen.
Ein weiterer Punkt, zu dem Sie leider gar nichts gesagt haben, ist die Sozialpolitik in dieser ganzen Region.
Angesichts der Erfahrungen, die die Skandinavier gemacht haben, angesichts der unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in den baltischen Staaten, in Polen und in Deutschland könnte man mit Blick auf
Europa, aber auch darüber hinaus - ich sage das, weil
auch die Russen dazugehören - im Rahmen der Ostseekooperation einmal Strategien entwickeln, wie man bezüglich sozialer Systeme, sozialer Sicherheit und der Reintegration in die Arbeitswelt voneinander lernen kann.
Die Ostseekooperation ist eine Chance, Politik für die
Menschen in der Ostseeregion zu machen.
({6})
An dieser Stellschraube muss gedreht werden.
Um den Tourismus und die ganze Ostseeregion als
Wirtschaftsraum weiterzuentwickeln, bedarf es einer
besseren Infrastruktur, auch was den Verkehr angeht.
Wie wir alle wissen, ist dieser Wirtschaftsraum bereits
sehr erfolgreich. Das unterstützen wir auch alle.
Die Koalition hat einige Projekte angedacht. Um ein
aktuelles Beispiel zu nennen, greife ich einmal das Projekt der Fehmarnbeltquerung auf. Die Fehmarnbeltquerung ist für die Ostseeregion eine Jobvernichtungsmaschine. In Mecklenburg-Vorpommern wird viel
kaputt gemacht. Die Bevölkerung auf Fehmarn ist einhellig gegen dieses Projekt, weil es Arbeitsplätze vernichtet und den Tourismus dort ganz massiv bedroht.
Frau Happach-Kasan, Sie kennen diese Diskussion aufgrund Ihres Wohnortes sehr gut. Die ganze Region befindet sich im Widerstand gegen dieses Projekt, weil dadurch Arbeitsplätze vernichtet werden und weil es dem
Tourismus dort schadet. Angesichts dessen kann man
sich doch nicht ernsthaft hier hinstellen und sagen: Wir
brauchen diese Infrastrukturen. Nein, diese Infrastrukturen brauchen wir nicht.
({7})
Natürlich brauchen wir Verkehre in der Ostseeregion. Wir müssen die Fährverkehre weiterentwickeln.
Der Scandlines-Verkauf war vielleicht die Möglichkeit,
ein Unternehmen zu schaffen, das die Fährverkehre vernünftig bewirtschaften kann.
Die Bahntransporte in dieser Region müssen ebenfalls verbessert werden. Wenn man von Berlin nach Tallinn mit der Bahn fast einen Tag unterwegs ist, dann ist
das absurd.
Wir sollten unser ökologisches Wissen auf die Verkehrsinfrastrukturen in dieser Region anwenden. Wenn
wir das tun, dann wird diese Region zukunftsfähig. Im
Moment sind wir dabei, alte Fehler zu wiederholen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Eckhardt Rehberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ostseekooperation hat einen Vorgänger, und
zwar die Hanse. Herr Kollege Bartsch, das unterscheidet
vier Fraktionen im Deutschen Bundestag von der Fraktion Die Linke: Ostseekooperation heißt, dass wir etwas
verbinden wollen; wir wollen nicht das Trennende in den
Vordergrund schieben, sondern das Verbindende. Natürlich sind Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern unterschiedlich geprägt. Aber was uns verbindet, das sind die Chancen im Ostseeraum.
Sie sind eine Partei, die herummäkelt, die nur die Risiken benennt, die das Trennende in den Vordergrund
stellt. Wir wollen das Gemeinsame, das Verbindende in
den Vordergrund stellen. Ich finde, hierfür ist der Antrag
der richtige Ansatz.
({0})
Zu den Chancen im Ostseeraum: Ich lebe in Mecklenburg-Vorpommern in einer Boomregion. In Finnland, Polen, Russland, den baltischen Staaten ist das
Wirtschaftswachstum größer als 6 Prozent. Die Seeverkehrsprognose der Bundesregierung sagt für die deutschen Ostseehäfen wegen der Entwicklung im Ostseeraum, insbesondere wegen der Entwicklung in den
baltischen Ländern und in Russland, Wachstumsraten
von 5, 6, 7 Prozent voraus. Natürlich gibt es an dieser
Stelle Konkurrenzsituationen.
({1})
Das ist auch gut und richtig so. Frau Kollegin Bellmann
ist auf die Chancen eingegangen, die es bietet, wenn wir
die neuen Länder als Bindeglied zwischen dem Mittelmeer und der Ostsee verstehen.
Lassen Sie mich nun eine kleine Anmerkung zur Fehmarnbeltbrücke machen. Ich persönlich halte das Ergebnis für akzeptabel: kein deutsches Geld, kein deutsches Risiko für die Brücke. Ich sage Ihnen als jemand,
Herr Kollege Steenblock, der in Mecklenburg-Vorpommern zu Hause ist, sehr offen und ehrlich: Wir werden
weniger Probleme mit der Brücke haben als zum Beispiel die Lübecker. Wenn Sie sich die Strukturen für Güterverkehre ansehen, dann stellen Sie fest, dass es aus
Richtung Mitteleuropa ein Umweg von 200 Kilometern
ist, wenn man über die Brücke fährt, was auch Auswirkungen auf die Ruhezeiten für Fahrer hat. Ich sage Ihnen: Ich sehe das mit großer Gelassenheit. Die gerade
verkaufte Reederei Scandlines sieht das ebenfalls mit
großer Ruhe und Gelassenheit.
Wir haben für uns dafür zu sorgen, Kollege Bartsch,
dass wir unsere Seehafenhinterlandanbindungen - da ist
die A 14 ein sehr guter Schritt für den westdeutschen,
aber auch für den ostdeutschen Raum - ertüchtigen. Die
Schiene nach Rostock und Stralsund wird bis 2013 ertüchtigt. Darüber zu reden, das hätte ich mir von Ihnen
gewünscht, und nicht die dauernde Herummäkelei. Wir
haben, was die Entwicklung im Ostseeraum betrifft, eine
Chance.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heilmann von der Fraktion Die Linke?
Aber gerne.
Herr Kollege. Sie haben gesagt, dass Sie das Ergebnis
der Fehmarnbeltquerung als ein gutes Ergebnis empfinden. Ein Ergebnis ist ja, dass 25 Jahre lang zur Refinanzierung Maut erhoben werden soll. In allen dänischen
Zeitungen stand, dass darüber hinaus auch weiterhin
Mautgebühren erhoben werden. Halten Sie es für ein gutes Verhandlungsergebnis, wenn dort offensichtlich ein
Projekt gebaut wird, das über den ganzen Zeitraum, in
dem es steht, mautpflichtig ist? Ist das für Sie ein gutes
Ergebnis, dass die Benutzer bei jeder Fahrt über die Brücke mindestens 60 Euro zahlen müssen, auch über die
25 Jahre hinaus?
Herr Kollege, es ist deswegen ein gutes Ergebnis,
weil die Bundesrepublik Deutschland mit der Brücke
kein Risiko eingeht.
({0})
Ob bei 29 angemeldeten prioritären TEN-Projekten
und einem Volumen von 8 Milliarden Euro in der kommenden Förderperiode wirklich 20 Prozent von den
8 Milliarden Euro als Zuschuss in den Bau der Brücke
hineinfließen, werden wir alle in Ruhe abwarten.
Was die deutschen Hinterlandanbindungen angeht,
sage ich Ihnen ganz offen und ehrlich: Ich glaube, dort
ist sowieso eine Ertüchtigung notwendig, sowohl was
die Straße als auch was die Schiene betrifft. Hier hat
Bundesverkehrsminister Tiefensee im Auftrag der Bundesregierung klar Kurs gehalten. Von daher sage ich:
Dieses Ergebnis ist zu akzeptieren, insbesondere wenn
man die Vorgeschichte, nämlich die Absichtserklärung
des damaligen Bundesverkehrsministers Stolpe und des
dänischen Verkehrsministers Hansen aus dem Juni 2004,
kennt.
Darüber, ob das alles letztlich Realität wird, liebe
Kolleginnen und Kollegen, werden wir uns im Zuge einer Debatte über die jeweiligen Staatsverträge noch einmal in Ruhe unterhalten müssen. Für mich war das
Wichtigste: kein Risiko für den deutschen Steuerzahler.
({1})
Hier wurde über die Nachhaltigkeit der Fischerei
hart debattiert. Herr Kollege Steenblock, die illegale
Fischerei ist neben den Kormoranen das Hauptproblem
der Fischer. Lassen Sie mich aus der größten polnischen
Zeitung „Gazeta Wyborcza“ zitieren, wo der Vorsitzende
der polnischen Fischereiorganisation, Herr Habulek,
Folgendes ausführt: „Es existiert in Polen keine Kontrolle der Fischerei.“ Weiter heißt es in diesem Artikel,
dass die polnische Dorschfangquote im Jahr 2004 für
die Ostsee 16 000 Tonnen betrug. Jetzt kommt es: Im
gleichen Jahr wurden in Polen Dorschprodukte in einer
Menge von 52 000 Tonnen exportiert. Der polnischen
Zeitung zufolge entspricht dies für das Jahr 2004 - neuere Daten liegen mir leider nicht vor - einer Anlandung
von 70 000 bis 100 000 Tonnen Dorsch in Polen, und
das bei einer Quote von 16 000 Tonnen.
Die illegale Fischerei ist also eines der Hauptprobleme. Wir können uns über Quoten unterhalten, wie wir
wollen - 100 Tonnen, 500 Tonnen -: Hier liegt das
Grundproblem, und das ist, glaube ich, nicht nur an der
polnischen Ostseeküste so, sondern auch anderswo.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen. Wir
alle miteinander sind gut beraten, die positive Entwicklung im Ostseeraum im Deutschen Bundestag noch viel
deutlicher darzustellen. Wir reden oft über die Kontakte
von Süddeutschland nach Oberitalien. Mit dem entsprechenden Grünbuch zur Meerespolitik und mit der Debatte über das Thema „Maritime Wirtschaft stärken“ haben wir es gemeinsam geschafft, den maritimen Raum
viel stärker in den Fokus des Deutschen Bundestages zu
rücken. Bereichert wurde die Debatte durch Initiativen
aller Fraktionen, und dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Christian Ahrendt, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt viel zum Thema Ostsee gehört. Da
überwiegend Abgeordnete gesprochen haben, die aus
Norddeutschland kommen, haben wir uns auch ein bisschen selbst beleuchtet. Wir vergessen an der Stelle, dass
wir Partner brauchen, um unsere Vorhaben im Ostseeraum umzusetzen und um die Chancen, die sich uns da
bieten, zu nutzen. Deswegen sollte die Aufmerksamkeit
noch auf einige andere Punkte gelenkt werden.
Wir alle wissen, dass der Norden das Tor zur Welt ist.
Die Ostsee ist das Tor nach Skandinavien und zum Baltikum. Die maritime Wirtschaft, die ein ganzes Stück weit
über dieses Tor funktioniert, stellt in Deutschland
220 000 Arbeitsplätze. Der Umsatz, der über die maritime Wirtschaft generiert wird, beträgt rund 54 Milliarden Euro. Wenn man sich anschaut, wer von diesem
Kuchen ein Stück abbekommt, stellt man fest, dass beispielsweise Baden-Württemberg und auch Bayern jeweils knapp 20 Prozent erhalten. Die maritime Wirtschaft ist also nicht nur ein Thema für Norddeutschland,
sondern die maritime Wirtschaft ist letztlich ein Thema
für ganz Deutschland. Deswegen müssen wir in ganz
Deutschland ein Interesse daran haben, hier weiter voranzukommen.
({0})
Die Schnittstelle, über die die maritime Wirtschaft
funktioniert, sind in erster Linie die Häfen. Es kommt
also darauf an, dass wir die Häfen vernünftig mit dem
Hinterland - dazu zählen tatsächlich Bayern und BadenWürttemberg - verbinden.
({1})
Herr Bartsch, Sie haben mit Ihrer Partei in Mecklenburg-Vorpommern acht Jahre Verantwortung getragen.
({2})
Mit einem der wichtigsten Verkehrswege, der A 14 von
Wismar nach Magdeburg, ist man in dieser Zeit gerade
mal 15 Kilometer vorangekommen. Der Bau der Fehmarnbeltquerung wird für Mecklenburg-Vorpommern
nur dann von Bedeutung sein, wenn zeitgleich der Bau
der A 14 fertiggestellt wird.
({3})
Das Gleiche gilt auch aus schleswig-holsteinischer
Sicht. Die Fehmarnbeltquerung nützt nichts, wenn man
nicht parallel dazu die A 20 über Hamburg mit einer
vierten Elbquerung nach Stade führt. Das heißt, wir
brauchen die Verkehrswege, um den Warentransport aus
dem Süden zur Ostsee und wieder zurück zu organisieren.
Ich nenne noch eine eindeutige Zahl. Beim Transport
auf der Straße entstehen 80 Prozent der Kosten, beim
Seeweg sind es nur 20 Prozent. Das ist der entscheidende Punkt, über den man nachdenken muss. Vor diesem Hintergrund brauchen wir die entsprechenden Verkehrswege.
({4})
Wenn man sich die Anträge anschaut, die uns vorliegen - darin geht es auch um viele andere Fragen, etwa
die Munitionsbergung in der Ostsee; Herr Steenblock,
Sie haben das angesprochen -, stellt man fest: Es gibt
nur eine Möglichkeit, um die Debatte zu einem sinnvollen Ergebnis zu führen, nämlich die, dass wir heute gemeinsam dem Antrag der FDP zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Hiller-Ohm,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Ostseetourismus boomt.
Nach der Karibik und dem Mittelmeer hat sich die Ostsee zur drittgrößten Kreuzfahrtregion der Welt gemausert. Ähnlich positiv sieht es bei der Zahl der Übernachtungen rund um die Ostsee aus.
Mit unserem heute vorgelegten Antrag „Die Tourismusregion Ostsee voranbringen“ wollen wir diesen Aufwärtstrend nachhaltig festigen und den Ostseetourismus
weiter stärken.
({0})
Potenziale hierfür sind reichlich vorhanden.
Das Mare Balticum war schon zu Zeiten der Hanse
kein trennendes, sondern ein verbindendes Meer. Es gab
erbitterte Kriege und Seeschlachten - ja -, aber es gab
auch Kaufleute, die das Meer für ihre Handelsbeziehungen entdeckten und dazu beitrugen, dass sich rund um
die Ostsee eine gemeinsame Kultur entwickelte. Der
machtvolle Städtebund der Hanse, dem meine Heimatstadt Lübeck als „Königin der Hanse“ vorstand, prägte
über 300 Jahre das wirtschaftliche und kulturelle Leben.
Diese Identität ist bis heute spürbar und macht das Einmalige der Ostseeregion aus, das auch die vielen Touristinnen und Touristen wie ein Magnet anzieht.
Mein Vorvorgänger im Deutschen Bundestag, der
ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein
Björn Engholm, hat diese Idee schon sehr früh aufgenommen, ganz sicher noch vor Herrn Genscher.
({1})
Als es noch die Trennung in Ost und West gab, hat sich
Engholm bereits ganz stark und nachhaltig für ein Zusammenwachsen der Ostseeregion eingesetzt.
({2})
Beispiele hierfür sind die Initiative Ars Baltica, die unterschiedlichste kulturelle Aktivitäten in den Ostseeländern fördert und die Vielfalt und Lebendigkeit dieses
Kulturraums belegt, oder auch die Wiederbelebung der
Hansetage, die heute jährlich in einer der vielen Hansestädte abgehalten werden.
Diese und viele andere Initiativen haben sich insbesondere auf den Kulturtourismus positiv ausgewirkt. Das
belegen die vielen Studien- und Kulturreisen von
Deutschland in die anderen Anrainerstaaten der Ostsee
und umgekehrt. All das muss sich aber noch stärker im
Tourismusmarketing niederschlagen. Wir wollen die gemeinsame kulturelle Identität noch sichtbarer und touristisch noch erlebbarer machen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Austausch
war schon für unsere hanseatischen Vorfahren der
Schlüssel zum Erfolg. Wir sollten uns an ihnen ein Beispiel nehmen. Die touristische Zusammenarbeit zwischen Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern
und auch Hamburg ist durchaus noch ausbaufähig. Auch
international gibt es noch Reserven zur Verbesserung der
Kooperation mit den Anrainern. Aus Konkurrenten um
Gäste müssen Verbündete werden, wenn wir uns im internationalen Wettbewerb als Ostseeregion langfristig
erfolgreich aufstellen wollen.
Die Voraussetzungen sind gut: Die Ostsee ist die
Boomregion im Güter- und Personenverkehr. Das belegen die Umschlagszahlen in den Häfen wie zum Beispiel
in Lübeck, Rostock und Kiel. Schiffe zählen zwar zu den
umweltverträglicheren Verkehrsmitteln. Wenn man aber
das starke Wachstum der Ostseeverkehre betrachtet,
wird schnell klar, dass Sicherheit und Umweltschutz im
Schiffsverkehr immer wichtiger werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heilmann von der Fraktion Die Linke?
Nein. - Wir setzen uns deshalb in unserem Antrag für
bessere Luft und weniger Schiffslärm in den Häfen und
auf See ein. Wir fordern die Bundesregierung auf, hier
ihre internationalen Bemühungen zu verstärken. Wir
müssen uns auch auf eine Zunahme des Sport- und Freizeitschiffsverkehrs einstellen. Deshalb wollen wir auch
hier die Standards erhöhen und vor allen Dingen einheitlichere Standards schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem
20-Punkte-Programm bringen wir dem Ostseetourismus frischen Wind in die Segel. Unterstützen Sie unseren Antrag, und machen Sie Urlaub an der Ostsee!
Schöne Ferien!
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Klimke, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schiffssicherheit, Fischerei, Häfen und Werften sind das eine,
was man mit der Ostsee verbindet. Aber wenn man den
Deutschen auf der Straße fragt, was ihm zur Ostsee einfällt, dann sagt er in erster Linie: Urlaub. Insofern ist es
gut, dass wir den touristischen Aspekt in Bezug auf die
Ostseeregion hier noch einmal betonen können und auch
in die Beratungen der Ostseeparlamentarierkonferenz
einbringen werden.
Die Kollegin Hiller-Ohm hat es eben schon deutlich
gemacht: Die Ostsee ist eine einmalige Perle, ein ungeschliffener Diamant in Bezug auf den Tourismus. Ich
scheue mich nicht, das Potenzial der Ostsee mit dem des
Mittelmeeres oder auch der Karibik zu vergleichen.
({0})
Denn die Ostseeregion bietet wunderbare, unberührte
Natur, herrliche Strände, historische Bäderarchitektur,
die Hansestädte und viele Gebäude der berühmten Backsteingotik, die hohen touristischen Wert haben. Die
Schönheit dieser Region liegt auch darin begründet, dass
die Küste nicht zugebaut ist; außerdem haben wir ein
ganz besonderes Licht wie in den weißen Nächten in
St. Petersburg. Zudem gibt es viele Kulturveranstaltungen und zahlreiche Festivals.
Ganz wichtig ist, dass man im Ostseeraum auch in der
Zeit nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nicht die
Fehler gemacht hat, die zum Beispiel am Mittelmeer gemacht worden sind, wo die Küste zugebaut worden ist,
wo aus Fischerdörfern Bettenburgen wurden und unberührte Küstenabschnitte mit touristischen Anlaufstellen
übersät worden sind.
Die Ostsee bietet nach wie vor ein sehr großes Naturerlebnis. Dieses sollten wir gemeinsam mit den Tourismuspolitikern in den anderen Ostseeanrainerstaaten
bewahren. Außerdem sollten wir das Einzigartige der
Ostsee fördern, indem wir die Rahmenbedingungen für
eine nachhaltige, qualitativ hochwertige, aber auch behutsame Entwicklung schaffen.
({1})
Dazu brauchen wir mehr Kooperation im Marketing,
bessere und schnellere Verkehrsanbindungen - das gehört einfach dazu, auch wenn wir über die Fehmarnbeltbrücke noch an anderer Stelle diskutieren werden;
die Verkehrsinfrastruktur muss eindeutig verbessert werden - und mehr Partnerschaften, also ein noch stärkeres
Miteinander der Menschen.
Erster Punkt. Im Rahmen eines länderübergreifenden Marketings sind Strategien der Ostseeanrainer notwendig, zum Beispiel im Bereich des Kreuzfahrttourismus. Warum sollen Südamerikaner und Asiaten nicht
sehr viel mehr über die Möglichkeiten einer Kreuzfahrt
auf der Ostsee statt in der Karibik oder im Mittelmeer informiert werden? Das wäre ein ganz wichtiger Punkt.
Zweiter Punkt. Eine wichtige Voraussetzung, die bislang fehlt, sind verlässliche Touristenzahlen in diesem
Bereich. Eine Grundlage für ein gutes Marketing ist zu
wissen, wie sich die Touristenströme in den letzten Jahren entwickelt haben; Ankunfts-, Übernachtungs- und
Umsatzzahlen müssen dazu erhoben und veröffentlicht
werden.
Mein dritter Punkt umfasst - ich habe es eben angesprochen - die Verkehrsträger. Man mag dazu stehen,
wie man will; aber durch die Ostseeautobahn, Kollege
Rehberg, bieten sich für Mecklenburg-Vorpommern
ganz neue touristische Möglichkeiten. Dadurch konnten
neue Quellmärkte erschlossen werden, nicht nur für den
14-Tage-Urlaub, sondern auch für Wochenendreisen und
Tagesausflüge. Das ist mit einem Verkehrsträger wie der
Autobahn besser erreichbar als mit einer einfachen
Landstraße. Das wissen wir.
Es geht aber nicht nur um Straßen, es geht auch um
die Schiene. Wir brauchen ein dichteres Schienennetz,
und wir müssen versuchen, die Ostsee stärker an die
europäischen Verkehrsnetze anzuschließen.
Letzter Punkt. Ich habe es gerade angesprochen: Wir
wollen die Städtepartnerschaften und den Jugendaustausch stärker voranbringen, um die menschliche und die
kulturelle Verbindung, das Kennenlernen und das Wiedersehen zu fördern.
({2})
Das sind die wesentlichen Punkte, die in unserem Antrag eine Rolle spielen. Ziel ist, die Ostsee noch attraktiver und bekannter zu machen. Ich freue mich ganz besonders, dass die FDP das auch so sieht und unserem
Antrag zustimmt.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/5910 mit dem Titel „Ostseekooperation weiter stärken und Chancen nutzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5906 mit
dem Titel „Die Tourismusregion Ostsee voranbringen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5251 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({0}), Klaus Ernst,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente
- Drucksache 16/5903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rentenpolitik in den letzten 15 Jahren heißt im Ergebnis:
zusätzliche Lasten für Arbeitnehmer und zukünftige
Rentnergenerationen, Entlastung der Arbeitgeber.
({0})
Das wird langfristig einschneidende Folgen für Einkommen und Vermögen der zukünftigen älteren Generationen haben.
Berechnungen prognostizieren selbst unter der Annahme ununterbrochener Erwerbsverläufe und unter voller Ausnutzung der Fördermöglichkeiten ein
sinkendes Niveau des Nettoeinkommens im Alter,
sodass aufgrund einer zunehmenden Einkommensungleichheit ein steigendes Armutsrisiko im Alter
befürchtet werden muss.
Dieser Satz entstammt nicht etwa meiner Feder, er ist
dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD zum Altenbericht entnommen.
({1})
Das ist ein bemerkenswerter Erkenntniszuwachs, wodurch die Frage der Sicherheit von Renten, lieber Kollege Tauss, ein wenig relativiert wird.
({2})
Um die Dramatik dessen deutlich zu machen, was
sich da anbahnt: Auch wer ein Leben lang gearbeitet und
dabei die Riesterförderung ausgeschöpft hat, ist deshalb
noch lange nicht zwingend vor Armut im Alter geschützt. Wer aktuell mit 45 Beitragsjahren in Rente geht
und sein Leben lang immer Durchschnitt verdient hat
- für 2007 wurde das Durchschnittsentgelt in der Rentenversicherung vorläufig auf 2 457 Euro festgesetzt -,
würde als Mann im Westen aktuell eine Rente von immerhin noch 1 061 Euro erhalten. Um eine Rente auf
dem Niveau der Grundsicherung zu erhalten - da wären,
Miet- und Heizkosten eingerechnet, aktuell 664 Euro anzusetzen -, müsste der gleiche Rentner 28 Beitragsjahre
nachweisen können. Dank fortgesetzten Reformmurkses werden dies künftig 37 Jahre sein.
Wer von einer Dreiviertelstelle, also einem Einkommen von 1 843 Euro leben muss, würde dieses Grundsicherungsniveau, selbst wenn er ununterbrochen arbeiten
würde, erst nach 48 Beitragsjahren erreichen. Nur am
Rande sei erwähnt, dass eine Verkäuferin im Einzelhandel in NRW bei Vollzeitbeschäftigung zwischen 1 411
und 2 006 Euro verdient. Wie es mit deren Rentenansprüchen aussieht, lässt sich leicht ausrechnen.
Das Vertrauen der Menschen in die gesetzliche Rentenversicherung haben Sie mit einer solchen Politik
gründlich zerstört. Im Januar dieses Jahres hatten laut
Allensbach 88 Prozent der Bevölkerung kein oder wenig
Vertrauen in die Zukunft der gesetzlichen Rente. Leider
ist das nicht nur ein ungutes Gefühl, sondern entspricht
harten Daten und Fakten. Die Politik hat sich von dem
Ziel, den Menschen im Alter ein Leben in Würde zu ermöglichen, verabschiedet. Für uns Linke ist das ein
Skandal.
({3})
Stattdessen lautet der einzige handlungsleitende
Grundsatz: Die Beiträge zur Rentenversicherung sollen
aktuell nicht über 20 Prozent und im Jahr 2030 nicht
über 22 Prozent steigen. 1992 ging man davon aus, dass
es für die Sicherung eines angemessenen Rentenniveaus ab dem Jahr 2040 eines Beitragssatzes in Höhe
von 26 bis 28 Prozent bedürfe. Seinerzeit war die Politik
der Auffassung, dass dies Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zugemutet werden könne. Die Linke vertritt auch
heute diese Auffassung.
Kollege Stiegler hat die Linke gestern hier im Haus
heftig dafür angegriffen und dabei zumindest nicht dem
Eindruck entgegengewirkt, wir wollten Arbeitgeber und
Arbeitnehmer stärker belasten. Das ist natürlich schlicht
ein Schmarren; denn die Arbeitnehmer zahlen bereits
heute und nicht erst 2030 9,95 Prozent für die Rentenversicherung und nach Abzug der staatlichen Förderung
weitere 3 Prozent für die Riesterrente. Im Jahr 2030 werden es 11 Prozent plus 3 Prozent sein. Das macht 14 Prozent. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass
sie, weil sie künftig ein deutlich niedrigeres Rentenniveau erwarten müssen, weitere 3 Prozent für die private Vorsorge aufbringen müssen. Insgesamt sind das
also 17 Prozent. Die Arbeitnehmer würden durch unsere
Forderungen also nicht belastet, sondern entlastet.
Richtig ist: Wir wollen die Parität wiederherstellen.
Das würde die Arbeitgeber belasten, weshalb Herr
Stiegler gleich wieder 1 Million Arbeitsplätze in Gefahr
sieht. Die Frage der Lohnnebenkosten wird da wieder
bemüht. Ich möchte das ganz kurz an einem Beispiel aus
einer arbeitsintensiven Branche verdeutlichen: Bei uns
im Saarland verdient ein Heizungsinstallateur aktuell
10,97 Euro pro Stunde. Die Lohnzusatzkosten würden
bei einem Anstieg des Beitrags auf 28 Prozent im Vergleich zu einem Anstieg auf 22 Prozent - dieser Beitragssatz ist in Ihren Modellen angedacht - um 49 Cent
höher liegen. Der Ehrlichkeit halber rechnen wir 14 Cent
für die unproduktiven Zeiten wie Urlaub usw. hinzu. Zusammen macht das also 63 Cent. Herr Stiegler behauptet
also, dass aufgrund dieser 63 Cent 1 Million Arbeitsplätze verloren gehen würden.
Ich mache folgendes Gegenbeispiel auf: Der Lohn für
die Handwerkerstunde liegt nach Berücksichtigung des
Gewinnzuschlags und der allgemeinen Geschäftskosten
ohne Umsatzsteuer bei 40 Euro. Vor der Mehrwertsteuererhöhung kostete die Handwerkerstunde 46,40 Euro,
jetzt kostet sie 47,60 Euro. Das ist eine Differenz von
1,20 Euro. Nach der simplen Logik von Herrn Stiegler
entspricht das rund 2 Millionen zusätzlicher Arbeitsloser.
Volker Schneider ({4})
Das Problem ist also nicht, dass wir uns höhere Renten nicht erlauben können, sondern dass wir sie politisch
nicht wollen. Die Linke will höhere Renten.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Jahr 1987 hat die damalige - übrigens unionsgeführte Bundesregierung bei der Prognos AG ein Gutachten in
Auftrag gegeben, um die Auswirkung des absehbaren
demografischen Wandels in Deutschland auf die Rente
zu untersuchen. Prognos hat damals vorausgesagt, dass
der Beitragssatz, wenn wir nichts ändern, bis zum
Jahr 2030 auf mindestens 36,6 Prozent
({0})
oder sogar auf 41,7 Prozent steigen würde.
Diese Zahlen machen deutlich: Es musste gehandelt
werden. Die jungen Menschen - einige Schulklassen
sind auf der Besuchertribüne anwesend - werden die Solidarität aufkündigen, wenn sie von ihren Löhnen neben
der Steuer, dem Beitrag zur Krankenversicherung und
anderen Sozialversicherungen 40 Prozent an die Rentenkasse zahlen müssen.
({1})
Damit die Solidarität der Generationen auch in Zukunft möglich ist, bauen wir zu Recht schrittweise das
System der deutschen Altersversorgung um. Wir haben
gesetzlich festgelegt - gerade um den Jungen die Lust an
der Rente nicht ganz auszutreiben -, dass der Beitragssatz nicht über 22 Prozent steigen darf und dass neben
die gesetzliche Rente eine zweite und dritte Säule der
Alterssicherung treten: eine betriebliche sowie eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge, die zusammen Lebensstandardsicherung im Alter garantieren und das Absinken in Altersarmut verhindern werden. Das ist die
klare Antwort an Die Linke, die diesen Antrag vorgelegt
hat. Zu diesem Reformweg gibt es, wenn man Generationensolidarität ernst nimmt, keine seriöse Alternative.
({2})
Die OECD hat uns Deutsche in ihrer jüngsten Studie
ausdrücklich für diesen Weg gelobt. Sie schreibt:
Deutschland hat in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den meisten OECD-Ländern umfassende
Strukturreformen im Rentensystem beschlossen
und so wichtige Fortschritte auf dem Weg zur
Nachhaltigkeit des Systems gemacht.
Wer in der Rentenpolitik die Uhr zurückdrehen will,
provoziert bewusst einen Kampf der Generationen gegeneinander und zerstört das Solidarprinzip, das die
Grundlage unserer Sozialversicherungssysteme bildet.
Das ist in Wahrheit die Absicht der Linken. Sie wollen
nicht die Rente sichern, Sie wollen die Grundlagen unserer Sozialversicherung kaputtmachen, indem Sie das Solidarprinzip bewusst infrage stellen.
({3})
Würde man dem vorliegenden Antrag folgen, würde
das für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland bedeuten, dass sie über 50 Milliarden Euro
mehr bezahlen müssten und dass wir aus der Bundeskasse über 10 Milliarden Euro zusätzlich in die Rentenkasse geben müssten. Um es klar und eindeutig zu sagen: Eine Umsetzung dieses Antrages würde ein
finanzielles Fiasko für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land wie auch für die Bundeskasse bedeuten.
Der Weg, die Alterssicherung der Zukunft nicht nur
auf eine, sondern auf drei starke Säulen zu stellen - gesetzliche Rente, Betriebsrente und private Vorsorge -, ist
richtig und übrigens auch sicherer. Die OECD führt in
ihrer Studie aus, dass der Wechsel von einer Säule auf
drei Säulen eine sehr gute Entscheidung ist und dass dies
mehr OECD-Länder machen sollten, weil so die Risiken
und Lasten im System viel besser verteilt werden.
Im Klartext: Der Antrag fordert eine Rolle rückwärts
in der Rente. Das würde ein Mehr an Unsicherheit für
künftige Rentnerinnen und Rentner bedeuten. Das Dreisäulenmodell sorgt für mehr Sicherheit. Die Große Koalition geht deswegen auch einen konsequenten und erfolgreichen Weg des weiteren Aufbaus der zweiten und
dritten Säule der Alterssicherung.
({4})
- Herr Kollege Tauss, egal wann oder wo angefangen
worden ist: Wichtig ist, dass angefangen worden ist. Wir
setzen diesen erfolgreichen Weg gemeinsam fort.
Der Anteil der Beschäftigten mit einer Betriebsrentenanwartschaft liegt heute bei 65 Prozent; vor etlichen
Jahren lag er noch deutlich unter 50 Prozent. Dieser Zuwachs bei den Betriebsrentenanwartschaften in den letzten Jahren ist wesentlich auf die steuer- und beitragsfreie
Entgeltumwandlung zurückzuführen. Deshalb werden
wir diesen erfolgreichen Weg fortsetzen. Wir fördern die
Betriebsrente in einem Ausmaß, gerade auch für die Geringverdiener, wie es früher nicht der Fall war. Deswegen haben wir beim Aufwuchs der Betriebsrente diesen
Erfolg, und den wollen wir fortführen.
({5})
Die Inanspruchnahme der Riesterrente, also der privaten kapitalgedeckten Vorsorge, hat sich vor allen Dingen
in den letzten zwei Jahren rasant entwickelt. Allein von
April 2006 bis März 2007 sind 2,3 Millionen Riesterverträge abgeschlossen worden,
({6})
Peter Weiß ({7})
sodass wir heute einen Bestand von 8,5 Millionen Verträgen haben.
({8})
Auch hier setzt die Große Koalition klare Akzente. Ab
dem nächsten Jahr wollen wir zum Beispiel den Förderbetrag, den der Staat einem Arbeitnehmer pro Kind
schenkt, auf 300 Euro jährlich erhöhen, um damit möglich zu machen, dass gerade Familien mit Kindern einen
Vertrag für eine Riesterrente abschließen können.
Dass die Förderung zielgerichtet wirkt, belegen übrigens aktuelle Auswertungen des Personenkreises der
Zulagenempfänger. Geringverdiener, Frauen und Förderberechtigte mit Kindern sind demnach deutlich überrepräsentiert, also Personengruppen, die in der Regel erst
mithilfe der Zulagenförderung durch den Staat in die
Lage versetzt werden, sich eine zusätzliche Altersvorsorge aufzubauen.
Bei der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung in der letzten Woche sind die ersten Ergebnisse einer Studie zur Altersvorsorge in Deutschland
vorgestellt worden.
({9})
Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung hat zu
Recht zusammenfassend ausgeführt, dass die künftigen
Rentnerinnen und Rentner im Durchschnitt geringere
Anwartschaften aus der gesetzlichen Rente haben, dass
dies aber im Wesentlichen durch einen deutlichen Anstieg der Höhe ihrer Anwartschaften in anderen Systemen, vor allem in der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge, ausgeglichen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
in der Rentenpolitik keine Rolle rückwärts machen. Was
Die Linke verspricht, ist ein nicht gedeckter Scheck auf
die Zukunft,
({10})
den die Jugendlichen künftig als Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer einlösen müssen.
({11})
Unsere Politik ist eine andere. Wir wollen in unserem
Land zusammen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein zukunftsfähiges System mit einer starken
staatlichen Unterstützung und Förderung aufbauen, damit Altersarmut auch in Zukunft ein Fremdwort bleibt.
Mit diesem Schlusswort möchte ich Ihnen allen am
letzten Sitzungstag des Deutschen Bundestages vor der
Sommerpause gute Erholung wünschen und Ihnen sagen: Der Weg, den wir in den letzten Jahren in der Rentenpolitik beschritten haben, indem wir die Rente auf
drei starke Säulen gestellt haben, ist zukunftssicher.
Wenn man diesen Weg geht, kann man auch beruhigt in
den Urlaub fahren.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Heinrich
Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sowohl das Ziel des Antrags der Linken, ein Nettoniveau der gesetzlichen Rentenversicherung von 70 Prozent, als auch die damit verbundene Konsequenz, ein
Beitragssatz der Rentenversicherung von 28 Prozent,
sind als nicht mit dem aktuellen Diskussions- und Erkenntnisstand vereinbar abzulehnen. Kollege Schneider,
auch die Begründung dieser Forderung der Linken, im
neuesten OECD-Bericht zur Entwicklung der Rentensysteme in der OECD werde vor künftiger Altersarmut
in Deutschland gewarnt, ist bei näherem Hinsehen obsolet.
Man kann an einem nicht vorbei: Die von Ihnen vorgeschlagene Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge
auf 28 Prozent wäre trotz all Ihrer rhetorischen Versuche
der Marginalisierung, die Sie unternommen haben, letzten Endes stark wachstumshemmend und würde
Arbeitsplätze in Deutschland vernichten.
({0})
- Herr Schneider, hinzu kommt, dass auch Sie nicht
mehr als 100 Prozent verteilen können. Wenn wir zulassen, dass der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung auf 28 Prozent steigt, wenn der Beitragssatz der
Krankenversicherung schon heute 15 Prozent beträgt
- Tendenz: stark steigend -, wenn der Beitragssatz der
Pflegeversicherung erhöht wird und wenn jeder Bürger
aus seinem Arbeitseinkommen auch noch Steuern zahlen
soll, dann wird es mit Blick auf diese 100 Prozent wirklich schon eng.
({1})
Herr Kollege Schneider, auf Seite 13 des OECD-Berichts wird ganz klar konstatiert, dass die Höhe der
Renten in Wirklichkeit vom Wirtschaftswachstum, von
der Lohnentwicklung und von der Inflation bestimmt
wird. Dem ist aus meiner Sicht zuzustimmen. Die Vermeidung von Altersarmut kann effektiv nur über die
Schaffung von Wachstum und mehr Arbeitsplätzen erreicht werden. Die beliebige Anhebung des Beitragssatzes der Rentenversicherung und der Lohnersatzquote ist
im Kern nur eine Scheinlösung.
Wenn für die Linken gilt, je mehr, desto besser, dann
frage ich Sie, warum Sie nicht gleich einen Beitragssatz in
Höhe von 30 Prozent fordern. Dann ließen sich sogar Versorgungsniveaus von mehr als 70 Prozent finanzieren.
Ihre Forderung ist willkürlich und macht aus meiner
Sicht keinen Sinn.
({2})
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schneider?
Sehr gerne. Das gibt mir die Gelegenheit, einen
Schluck Wasser zu trinken.
Herr Kollege Kolb, Sie haben gerade gesagt: Es kann
doch nicht sein, dass die Rentenbeiträge bis zum
Jahr 2040 auf 28 Prozent steigen. Würden Sie mir konzedieren, dass die Arbeitnehmer schon jetzt einen Rentenversicherungsbeitrag von 12,95 Prozent zahlen? Denn wir
müssen die 4 Prozent, die zahlt, wer einen Riestervertrag
abschließt - diese werden vermehrt um die staatliche
Förderung -, realistischerweise draufrechnen.
Wenn wir das Defizit, das wir in der zukünftigen
Rente haben werden, zusätzlich absichern wollten, zum
Beispiel durch Betriebsrenten, kämen weitere 3 Prozentpunkte drauf. Im Jahr 2030 soll der Rentenversicherungsbeitrag bei 11 Prozent liegen. Dann komme ich auf
11 Prozent plus zweimal 3 Prozent gleich 17 Prozent für
die Arbeitnehmer und 11 Prozent für die Arbeitgeber macht zusammen 28 Prozent. Können Sie mir erklären,
warum es des Teufels sein soll, wenn man diese
28 Prozent zu gleichen Teilen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilt - dass also beide 14 Prozent zahlen -,
und warum es besser sein soll, wenn die Arbeitnehmer
17 Prozent zahlen, während die Arbeitgeber nur 11 Prozent zahlen?
Das macht die Sache nicht besser. Aber Tatsache ist,
dass bei einer paritätischen Belastung, wie man sie bei
einem Anheben des Rentenversicherungsbeitrages hätte,
die Lohnnebenkosten stiegen. Ich gehe nicht so weit
wie Oskar Lafontaine, der, wenn ich mich recht erinnere,
vor zwei Tagen im „Handelsblatt“ im Zusammenhang
mit Lohnnebenkosten von „Wortdreck“ gesprochen hat.
Ich meine, dass die Lohnnebenkosten für die Kalkulation der Unternehmen eine Schlüsselrolle spielen, wenn
es darum geht, über das Maß der Beschäftigung zu entscheiden, das wir in unserem Lande erreichen können.
Deswegen ist der Weg, den die rot-grüne Koalition in
der letzten Legislaturperiode beschritten hat, richtig.
({0})
- Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Kollege Tauss. - Es
ist richtig, von der paritätischen Finanzierung abzurücken
({1})
und auf dem Wege der Riesterrente eine durch die Arbeitnehmer selbst finanzierte private Zusatzvorsorge
einzuführen. Ihr Modell dagegen wird - das ist meine
feste Überzeugung - für die Unternehmen am Schluss
teurer und verringert damit die Möglichkeiten, mehr Beschäftigung in unserem Lande zu erreichen.
({2})
Ein Zweites: Mit den Maßnahmen, die Sie in Ihrem
Antrag fordern, würden Sie jede Möglichkeit der individuellen Gestaltung der Vorsorge ersticken. Vielleicht
will jemand im Alter gar nicht 70 Prozent Lohnersatz
zur Verfügung haben, oder vielleicht will jemand mehr
haben. Warum soll allen die gleiche Form der Altersvorsorge per Gesetz aufgezwungen werden? Sie wissen:
Wer im Alter ein Eigenheim nutzen kann, braucht weniger liquide Mittel als jemand, der das nicht hat. Doch die
Möglichkeit, Wohneigentum zu erwerben, wird durch einen Rentenversicherungsbeitrag von 28 Prozent, wie er
nach Ihrem Modell vorgesehen ist, deutlich eingeschränkt.
Das führt mich zu einem weiteren Punkt: Die Altersvorsorge über die gesetzliche Rente stellt sich insbesondere für Geringverdiener als ein vergleichsweise
schlechtes Geschäft dar, da das Umlageverfahren in Zukunft keine Rendite mehr oder allenfalls noch geringe
Renditen erbringt - je nachdem, welche Berechnungsmethode man zugrunde legt. In der privaten, geförderten
Vorsorge ist dagegen weiterhin eine Rendite zu erwarten, gerade für Geringverdiener, wie folgendes Beispiel
zeigt: Wer als Alleinstehender bis zu 1 500 Euro brutto
verdient und in die geförderte, private Altersvorsorge
47 Euro monatlich bzw. 564 Euro jährlich investiert, erhält ab 2008 154 Euro Zuschlag und kommt damit auf
eine Ansparsumme von fast 720 Euro pro Jahr. Für Familien mit Kindern erhöht sich die Zulage je nach Kinderzahl: Bei einem Kind muss ein Alleinstehender nur
noch 381 Euro jährlich, das sind 31,75 Euro monatlich,
investieren, um auf die entsprechende Ansparsumme zu
kommen. Das zeigt, der Hebel und damit auch die Rendite ist in der privaten, geförderten Vorsorge ungleich
höher.
Zum Schluss will ich auf den Anlass für Ihren Antrag
eingehen: den OECD-Bericht mit der Überschrift „Renten auf einen Blick“. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass
in diesem Bericht vor fataler Altersarmut in Deutschland gewarnt werde. Mein Eindruck ist ein anderer: Erstens steht in dem Bericht, dass die finanzielle Tragfähigkeit des deutschen Rentensystems gesichert ist. Das
ist, wie eingangs erwähnt, entscheidend. Denn leere Versprechungen, wie sich die Renten im Falle hoher Rentensteigerungen entwickeln würden, standen in den Rentenversicherungsberichten der letzten Jahre genügend.
Diese Versprechungen waren aber nicht finanzierbar.
Zweitens zeigt der Bericht, dass die Altersvorsorge in
Deutschland, wenn man die Summe aus gesetzlicher
Rente und geförderter Zusatzversorgung betrachtet, sehr
wohl eine Lohnersatzrate erreicht, die im Durchschnitt
der OECD-Länder liegt. Das muss am Ende der Vergleichsmaßstab sein. In Ländern wie den Niederlanden
wird zudem die Lebensstandardsicherung über BetriebsDr. Heinrich L. Kolb
renten in die Berechnung einbezogen. Würde man für
Deutschland die Betriebsrenten mit berücksichtigen,
stünden wir im Vergleich noch besser da. Bereits heute
macht die gesetzliche Rente nur noch 67 Prozent der
Bruttoalterseinkommen der gesetzlich Versicherten aus.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Der vorgelegte
Antrag beruht in seiner Analyse auf bewussten Auslassungen von Tatsachen und auf Überspitzungen. In den
Forderungen ist er völlig kontraproduktiv. Er würde eine
Zunahme der Arbeitslosigkeit und auf diesem Wege verstärkte Altersarmut verursachen. Er führt zu mehr Bevormundung und zu weniger Freiheit. Er will den Menschen den letzten Spielraum in ihrer Lebensgestaltung
nehmen. Er ist deshalb abzulehnen.
Ich wünsche Ihnen ebenfalls eine gute und erholsame
Sommerzeit. Genießen Sie die Tage bei hoffentlich besserem Wetter als heute.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Amann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erst vor zwei oder drei Wochen haben wir hier
über fast das gleiche Thema geredet - ebenfalls auf Antrag der Linken. Heute versuchen Sie mit einem Antrag,
der absolut nichts Neues enthält, die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause um jeden Preis zu verlängern.
({0})
Es mag ja sein, dass Sie lieber hier im Plenum sitzen, als
in Ihren Wahlkreis zu fahren, aus Angst, Sie könnten
dort Kontakt mit der Realität bekommen oder gar einem
Bürger begegnen.
({1})
Wir Sozialdemokraten haben diese Angst nicht. Im Gegenteil: Ich freue mich darauf, in den nächsten Wochen
mit meinen Wählerinnen und Wählern Gespräche zu
führen. Ehrlich gesagt zeigen die meisten Menschen in
meinem Wahlkreis mehr Verständnis und sogar Zustimmung für die Rentenpolitik dieser Regierung als Sie.
({2})
Sie versuchen wieder einmal, den Menschen Angst und
Schrecken einzujagen. Dabei gibt es kaum ein Thema,
das sich für Panikmache weniger eignet als dieses. Es
geht darum, wie unsere materielle Versorgung aussieht,
wenn wir alt sind und unseren Lebensunterhalt nicht
mehr selbst verdienen können.
Sie berufen sich auf eine aktuelle Studie der OECD
und stellen deren Aussagen auf den Kopf. Aber, wie gesagt, das ist nichts Neues; wir haben darüber erst vor
Kurzem diskutiert.
({3})
Denn die Kernaussage der OECD-Studie, Herr
Schneider, ist ein Lob für die Rentenpolitik dieser Regierung,
({4})
insbesondere für den mutigen Schritt der Anhebung des
Renteneintrittalters auf 67 Jahre.
In der Begründung Ihres Antrags heißt es:
Infolge der rot-grünen Rentenpolitik kann die gesetzliche Rente in Zukunft den Lebensstandard der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter und
bei voller Erwerbsminderung nicht mehr sichern.
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht. Das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente wird in den nächsten Jahren abnehmen. Es wäre unehrlich und unredlich, dies zu
verschweigen. Aber das ist keine Folge rot-grüner Rentenpolitik - auch nicht rot-schwarzer Rentenpolitik -,
sondern eine Folge der dramatischen demografischen
Veränderungen in unserem Land, welche das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung an seine
Grenzen führen. Die angesprochene demografische Entwicklung also - das Absinken der Geburtenrate und die
steigende Lebenserwartung in unserem Land - ist die
wirkliche Ursache, weshalb mein Jahrgang und nachfolgende Altersgruppen nicht mehr die gleiche Absicherung durch die gesetzliche Rente erwarten können wie
die heutigen Rentner. Das Umlageverfahren benötigt,
damit es funktioniert, eine klassische Bevölkerungspyramide mit einer breiten Basis von jungen Menschen im
Arbeitsleben und einer schmalen Spitze von Rentenbeziehern. Genau im Hinblick darauf greift der von Ihnen
im Antrag kritisierte Nachhaltigkeitsfaktor korrigierend
ein. Er berücksichtigt nämlich das Zahlenverhältnis von
Beitragszahlern zu Rentenbeziehern durch die Einführung des sogenannten Rentnerquotienten; das ist die
Zahl der Rentner im Verhältnis zur Anzahl der Beitragszahler.
Steigt der Rentnerquotient, so erhöhen sich die Renten in einem geringeren Ausmaß als die Bruttolöhne.
Diese Orientierung der Rentenanpassung am Rentnerquotienten ist sinnvoll, da die Entwicklung dieser Maßzahl in einem umlagefinanzierten System einen direkten
Einfluss auf den Beitragssatz hat.
({5})
Dabei gibt es übrigens auch eine Sicherungsklausel,
mit der dafür gesorgt wird, dass die Anwendung des
Nachhaltigkeitsfaktors nicht zu einer Absenkung des
Rentenwertes führt. Der Nachhaltigkeitsfaktor ergibt
sich also aus der Logik des Umlageverfahrens.
Wir haben sowohl im Plenum als auch im Ausschuss
wiederholt versucht, Ihnen die Funktionsprinzipien der
umlagefinanzierten Rentenversicherung zu erläutern.
({6})
Es ist uns nicht gelungen. Ich finde, wir sollten zukünftig nicht noch mehr wertvolle Zeit dieses Hohen Hauses
dafür verwenden. Ich habe deshalb einen Vorschlag für
Sie. Die Deutsche Rentenversicherung Bund bietet in
Zusammenarbeit mit dem Deutschen Volkshochschulverband bundesweit Kurse zur Altersvorsorge an. Über
500 Volkshochschulen in der Bundesrepublik beteiligen
sich daran. Eine davon muss in Ihrer Nähe sein.
({7})
Besuchen Sie doch einen dieser Kurse. Dann können wir
uns vielleicht manche Debatte hier im Plenum sparen.
Die Autoren des vorliegenden Antrags schlagen eine
andere Lösung vor. Sie wollen die Deckelung des Beitragssatzes aufheben. Mit anderen Worten: Die durch die
demografische Entwicklung entstehenden Finanzierungslücken sollen einfach dadurch gestopft werden,
dass der Beitragssatz immer weiter angehoben wird.
({8})
Wer das ernsthaft fordert, der macht Kinder zu Leibeigenen ihrer Eltern und Großeltern; denn die Jungen werden
dann einen immer höher werdenden Anteil ihres Bruttolohns für die Rente der Ältern ausgeben müssen und
nicht mehr für sich selbst vorsorgen können, geschweige
denn eine Familie gründen, ein Haus bauen oder die Erziehung ihrer eigenen Kinder finanzieren können.
({9})
Darüber hinaus ist das auch ökonomischer Unsinn.
Unser Ziel muss es sein, die Lohnnebenkosten in
Deutschland zu senken. Wer so leichtfertig für eine Steigerung der Lohnnebenkosten eintritt, der darf sich
anschließend nicht über die daraus resultierende Massenverlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland beklagen.
({10})
Natürlich müssen wir wachsam sein und verhindern,
dass die Altersarmut wieder in unser Land zurückkehrt.
Da wir wissen, dass das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente in den kommenden Jahrzehnten aus den genannten Gründen nicht gehalten werden kann, müssen
wir natürlich Anstrengungen unternehmen, um diese Lücke zu stopfen. Meine Vorredner haben es bereits gesagt:
Wir tun das. Die gesetzliche Rentenversicherung wird
durch staatlich geförderte private Altersvorsorge und
betriebliche Altersvorsorge ergänzt.
Dabei will ich betonen, dass auch für uns Sozialdemokraten die gesetzliche Rente weiterhin die tragende
Säule bleibt. Über 8 Millionen Riester-Verträge gibt es,
und die Zahl steigt weiter an. Genauso massiv fördern
wir auch die betriebliche Altersvorsorge. Ich bin froh,
dass die Beitragsfreiheit der Entgeltumwandlung auch
über das Jahr 2008 hinaus beibehalten wird. Deshalb bescheinigt auch die OECD ausgerechnet in der von Ihnen
zitierten Studie, dass derjenige, der in Deutschland seine
gesetzliche Rente mit privater und betrieblicher Altersvorsorge ergänzt, keine Angst vor Altersarmut haben
muss.
({11})
Wenn ich mehr Redezeit hätte, dann könnte ich Ihnen
jetzt noch etwas über die erfolgreiche Wirtschaftspolitik
dieser Regierung erzählen, durch die die Arbeitslosigkeit
zum Sinken gebracht wird. Dies ist ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für stabile Renten.
({12})
Ich könnte Ihnen auch noch etwas von der 2003 eingeführten Grundsicherung für Ältere als letztem Sicherheitsnetz zum Schutz vor Altersarmut
({13})
und von unseren Anstrengungen zur Familienpolitik
- Stichwort: Elterngeld, Kinderbetreuung - erzählen, um
den genannten demografischen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Aus Zeitgründen will ich aber nur noch einen wichtigen Punkt ansprechen - ich bitte da auch die Kollegen
von der CDU/CSU, genau hinzuhören -: Nur ordentliche
Löhne führen zu anständigen Renten.
({14})
Wer also Altersarmut verhindern will, der muss heute etwas gegen Dumpinglöhne unternehmen und einen Mindestlohn einführen.
({15})
Jetzt schlage ich aber vor, dass wir diese Debatte hier
beenden und in unsere Wahlkreise fahren. Verzichten Sie
darauf, in den Sommerferien noch mehr unsinnige Anträge aufzuschreiben! Reden Sie stattdessen mit den
Menschen, besuchen Sie einen der Volkshochschulkurse,
und stellen Sie sich der Realität!
Sie werden feststellen, dass die meisten Menschen
von uns Politikern nicht erwarten, dass wir ihnen Dinge
versprechen, von denen jeder weiß, dass sie nicht realisierbar sind, sondern sie erwarten, dass wir uns der Realität stellen und das tun, was notwendig ist, um die Zukunft zu meistern.
({16})
Ein bisschen muss die Sommerpause noch warten.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte spricht nun die
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem heutigen Antrag „Wiedereinführung der
Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente“
stellt die Linke den Kern ihres rentenpolitischen Programms vor. Sie wollen, wie das „Handelsblatt“ zu
Recht kommentiert, „Zurück in die Zukunft“. Um dieses
Ziel zu erreichen, schlagen Sie eine Rückkehr zu den
Rentenformeln von 1992 - aus der Regierungszeit von
Blüm und Kohl - vor. Ich frage mich, warum Sie nicht
stattdessen zu dem Stand von 1989 zurückkehren wollen. Denn am 9. November 1989 wurde eine große Rentenreform mit dem Übergang vom Brutto- zum Nettolohnprinzip beschlossen. Das wäre doch ein noch
besserer Ansatzpunkt für Sie gewesen.
({0})
- Da war ich auch noch nicht hier.
Sie wollen zurück zu einem Nettorentenniveau von
70 Prozent des Erwerbseinkommens. Um dieses Ziel zu
erreichen, schlagen Sie einen Beitragssatz für die gesetzliche Rentenversicherung von 28 Prozent vor. Eine
solche Maßnahme wird bei der jüngeren Generation sicherlich einen Freudentaumel hervorrufen. Die mittelständischen Betriebe, die heute Arbeitsplätze schaffen,
werden darüber bestimmt in wahre Begeisterungsstürme
fallen. Übertragen auf andere soziale Sicherungssysteme
erreichen Sie damit spielend ein Abgabenniveau von
50 Prozent vor Steuern auf Löhne und Einkommen.
Als Kronzeugen für diese unsägliche Politik bemühen
Sie die jüngst veröffentlichte OECD-Studie zur Rentenpolitik im Ländervergleich. Die OECD hat zu Recht auf
die fehlende Armutssicherung im deutschen Rentenrecht
aufmerksam gemacht und entsprechende Korrekturen
angemahnt.
({1})
- Dazu komme ich noch. - Sie hat keine pauschale Bewertung vorgenommen.
Was Sie - auch Herr Schneider - ansprechen, ist unseriös. Ich zitiere eine wesentliche Aussage aus der
OECD-Studie:
Deutschland hat mit den Reformen der vergangenen Jahre die finanzielle Nachhaltigkeit des Systems deutlich erhöht.
({2})
Sie, Herr Schneider und Herr Lafontaine, wollen dagegen das Rad zurückdrehen.
({3})
Mit uns ist eine solche Rattenfängerpolitik nicht zu machen.
({4})
Wir Grünen stehen für Strukturreformen, die ältere
Beschäftigte nicht auf Kosten der Allgemeinheit aus
dem Arbeitsmarkt ausgrenzen. Wir stehen für Verbesserungen, die die Anrechnung von Kindererziehungszeiten
und Pflege in der Rentenpolitik bewirkt haben. Wir stehen für eine eigenständige Alterssicherung von Frauen.
Es ist antiquiert, zur Rentenformel aus dem Jahre
1992 zurückkehren zu wollen. Mir wäre es peinlich,
Herr Schneider, wenn ich einen solchen Vorschlag gemacht hätte.
({5})
Die Menschen wollen nicht, dass Politik ihnen etwas
vorgaukelt. Wir brauchen Veränderungen an den
Schwachstellen der aktuellen Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. An dieser Stelle wende ich mich zur anderen
Seite des Hauses.
({6})
Wir brauchen in der Rentenpolitik Maßnahmen, die individuell vor Armut schützen, von der, wie wir wissen, vor
allem die Geringverdienenden betroffen sind. Notwendig sind auch eine Angleichung der Rentenwerte zwischen Ost und West und weitere Schritte zu einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen.
({7})
Wir müssen die Rentenversicherung schrittweise zu
einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln.
Viele Selbstständige - etwa solche in unsteten Jobs - haben keine Alterssicherung. Sie brauchen eine Erwerbstätigenversicherung.
Als ersten Schritt erwarten wir von der Großen Koalition die Rücknahme der Halbierung der Rentenversicherungsbeiträge von Langzeitarbeitslosen. Das war
eine katastrophale Entscheidung, die zwar dem Bundeshaushalt 2 Milliarden Euro eingebracht hat, aber die
langzeitarbeitslosen Menschen auch im Alter schlechterstellt.
({8})
Ich finde es beschämend, dass sogar bei einer guten
Konjunkturlage an dieser Stelle gespart wird.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt, über den wir heute
nicht gesondert diskutieren - wir haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt -: Langzeitarbeitslose dürfen
nicht zwangsweise mit Abschlägen vorzeitig in Rente
geschickt werden. Wenn die Große Koalition langfristig
die Rente mit 67 einführen will - was wir auch unterstützt haben -, dann darf sie nicht die Langzeitarbeitslosen mit 63 zwangsweise in Rente schicken. Das hat zur
Folge, dass sie 14 Prozent weniger Rente bekommen.
Das ist absolut unsozial, und Sie werden es zurücknehmen müssen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren
von der Linksfraktion, Ihre Konzepte sind rückwärtsgewandt, nicht finanzierbar und unseriös. Sie nehmen
keine Rücksicht auf die Zukunftsperspektiven der jungen Generation. Die Jungen müssen durch steigende Sozialabgaben die Zeche zahlen, ohne die Sicherheit zu haben, selbst später einmal eine auskömmliche Rente zu
erhalten. Eine solche Politik ist billiger Populismus und
rückwärtsgewandt. Das werden wir nicht akzeptieren.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5903 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung
und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/
24/EG
- Drucksache 16/5846 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Alfred
Hartenbach das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor allem liebe Rechtsfreundinnen und Rechtsfreunde! Denn hier sind nur noch wirkliche Fans dabei.
Der Deutsche Bundestag hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit dem komplexen Thema der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen im Strafverfahren befasst. Einzelne Problembereiche waren immer wieder
Gegenstand heftiger Diskussionen. Es hat sich gezeigt:
Das geltende Recht bedarf einer umfassenden Revision.
Deshalb und weil es konkrete verfassungsgerichtliche
Vorgaben zum Kernbereichsschutz sowie europäische
Rechtsakte umzusetzen gilt, hat die Bundesregierung
eine eingehende und sorgfältige Überarbeitung vorgenommen und ein ausgewogenes Gesamtkonzept entwickelt, über das heute in erster Lesung beraten wird.
({0})
Wir verbessern die Arbeitsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden im Interesse der Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger. Das ist die eine Seite. Die andere nicht minder wichtige Seite stellt sicher, dass für
Bürgerinnen und Bürger, die von einer solchen Maßnahme betroffen sind, ein deutlich besserer Rechtsschutz besteht als bisher und dass vor allem das Vertrauensverhältnis zu den Berufsgeheimnisträgern einem
besonderen Schutz unterliegt.
Dieses Gesamtkonzept setzt gleich beim Anlasstatenkatalog an, also bei der Liste der Delikte, die Anlass für eine Telekommunikationsüberwachung sein
können. Wir beschränken den Katalog konsequent auf
schwere Straftaten. Delikte wie die Beihilfe eines Zivilisten zur Fahnenflucht streichen wir. Neu nehmen wir
schwere Straftaten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität auf, zum Beispiel schwere Steuerdelikte nach
§§ 370 ff. der Abgabenordnung. Unser Entwurf bezieht
nicht nur die Telekommunikationsüberwachung ein,
sondern erfasst auch andere heimliche Ermittlungsmaßnahmen wie die verdeckten Ermittler, die Schleppnetzfahndung und die längerfristige Observation.
Einhergehend damit erweitern wir insbesondere den
Schutz von Berufsgeheimnisträgern, der im geltenden
Recht nur unzureichend geregelt ist.
({1})
- Ihnen würde ich sowieso kein Geheimnis anvertrauen. Unter welchen Voraussetzungen beispielsweise die Observation eines Journalisten zulässig ist, können Sie dem
geltenden Recht nicht ohne Weiteres entnehmen. Wir
schaffen dafür und für alle anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen verbindliche Rechtsgrundlagen. Der
Kernbereich privater Lebensgestaltung und das Gespräch zwischen Mandant und Verteidiger, aber auch das
Umfeld der Geistlichen und der Abgeordneten sind abhörfreie Zonen, es sei denn, jene sind selbst als Täter
oder Teilnehmer in eine schwere Tat verstrickt. Alles,
was in diesem Bereich gleichwohl mitgelauscht wird,
darf nicht verwertet werden.
({2})
Etwa aufgenommene Gespräche sind unverzüglich zu
löschen. Die Löschung ist zu dokumentieren.
({3})
Wir verstärken den Grundrechtsschutz darüber hinaus durch Verfahrenssicherungen. Bei allen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen wird es in Zukunft Benachrichtigungspflichten geben. Die Einhaltung kontrollieren
die Gerichte. Hier gibt es in der Praxis noch Defizite, die
wir abstellen können und abstellen werden. Wer von einer verdeckten Ermittlungsmaßnahme betroffen ist, soll
das grundsätzlich erfahren und sich dagegen nachträglich wehren können. Die Neuregelung wird dafür kein
besonderes Rechtsschutzinteresse mehr verlangen. Auch
das ist wichtig. Die Zuständigkeit für die Anordnung einer verdeckten Ermittlungsmaßnahme konzentrieren wir
beim Ermittlungsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft.
Das bringt spezialisierte Richter mit mehr Erfahrungswissen, mehr Zeit und mehr Sensibilität für die problematischen Fälle.
Der Gesetzentwurf wird außerdem die Richtlinie zur
Vorratsdatenspeicherung umsetzen. Der Gesetzentwurf beachtet die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 16. Februar 2006 und setzt nicht mehr als die
Mindestvorgaben der Richtlinie hinsichtlich der Speicherungsdauer und der zu speichernden Datenarten um.
Ich will dazu nur so viel sagen: Schon heute speichern
die TK-Unternehmen Verbindungsdaten, um nachweisen
zu können, dass sie die Leistungen, die sie in Rechnung
stellen, auch erbracht haben. Seit jeher können die Strafverfolgungsbehörden diese Verbindungsdaten abfragen.
Die neue Speicherpflicht brauchen wir, weil viele TKUnternehmen immer mehr zu Flatrates übergehen und
deshalb immer weniger Verbindungsdaten speichern.
Anfragen der Strafverfolgungsbehörden gehen daher ins
Leere.
Verbindungsdaten sind keine Inhaltsdaten. Gesprächsinhalte werden also zu keinem Zeitpunkt gespeichert, auch keine Angaben über Websites, die jemand
besucht hat. Wir können auf die Telekommunikationsüberwachung und auf andere verdeckte Ermittlungsmaßnahmen nicht verzichten. Abgehört, beobachtet oder mit
seinen Daten gespeichert zu werden, sind aber Grundrechtseingriffe, die niemand hinnehmen muss, wenn es
dafür nicht eine solide Rechtfertigung gibt. Deshalb
müssen wir an die Strafverfolgungspraxis strenge Anforderungen stellen.
({4})
Das bringt Belastungen für die Praxis vor allem der Länder mit sich. Dies ist jedoch nach unserer Auffassung sowohl notwendig als auch tragbar. Der Gesetzentwurf hat
vonseiten der Opposition, aber auch von den Ländern
bisher nur wenig Kritik erfahren. Herr Ströbele wird das
gleich grundsätzlich ändern.
({5})
Ich bin aber zuversichtlich, dass es uns gelingen wird,
den Gesetzentwurf zügig zu verabschieden und somit zu
einer rechtsstaatlich sicheren und guten Lösung zu kommen.
Vielen Dank. Ich wünsche allen einen schönen Sommer.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Jörg van Essen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Telefonüberwachung ist für die FDP-Bundestagsfraktion immer besonders wichtig gewesen, nicht
nur für die Fraktion insgesamt, sondern auch für mich
persönlich. Seit ich dem Deutschen Bundestag angehöre,
frage ich in jedem Jahr die Zahl der Telefonüberwachungen ab, weil ich diese Zahl für wichtig halte und
weil wir politisch kontrollieren müssen, wie die Justiz
mit den Instrumenten, die wir ihr zur Verfügung stellen,
umgeht. Eines muss man sagen: Wenn man die Zahlen
betrachtet, dann stellt man fest, dass wir in jedem Jahr
erhebliche Steigerungsraten haben.
({0})
Das hat Gründe, zum Beispiel den, dass Straftäter sehr
viel mehr Telefone zur Verfügung haben und immer
mehrere Handys besitzen, damit Überwachungen erschwert werden; aber es gibt auch Entwicklungen, die
Sorge machen müssen. Deshalb bin ich der Auffassung,
dass wir uns als Politiker ständig mit dieser Frage beschäftigen müssen.
Weil das so ist, haben wir in der Vergangenheit immer
wieder angemahnt, dass es zu einer Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung kommen muss. Die
Bundesregierung legt jetzt einen Entwurf vor. Ich will
bei der ersten Lesung deutlich machen, dass es einige
Punkte gibt, die wir ausdrücklich begrüßen. Ein besonders großes Defizit - Herr Staatssekretär, Sie haben es
angesprochen - war bisher immer die nachträgliche
Benachrichtigung der Betroffenen. Nur dann hatten
sie überhaupt die Möglichkeit, sich mit der Tatsache,
dass sie überwacht wurden, auseinanderzusetzen. Dass
das jetzt verbessert wird, wird von uns ganz ausdrücklich begrüßt. Es wird auch begrüßt, dass es eine Verbesserung der Rechtsbehelfsmöglichkeiten gibt. Auch das
ist ganz sicherlich ein Fortschritt. Es gibt noch einen
dritten Punkt, den Sie, Herr Staatssekretär, ebenfalls angesprochen haben. Ich finde es gut, dass wir in Zukunft
am Sitz der Staatsanwaltschaft einen Ermittlungsrichter
haben, der spezialisiert ist, der weiß, wo er aufpassen
muss und welchen Staatsanwaltskollegen er ein bisschen
genauer auf die Finger schauen muss. Auch das wird mit
Sicherheit zu einer Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit
beitragen.
Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen: Rechtsstaatlichkeit. Genau diese müssen wir gewährleisten.
Die Telefonüberwachung ist für die Strafverfolgung
ganz außerordentlich wichtig. Wenn man wie ich
14 Jahre Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt war, dann
weiß man auf der einen Seite, wie wichtig diese Erkenntnisse insbesondere bei den Deliktsfeldern sind, bei denen es kein Anzeigeverhalten gibt, beispielsweise bei
den Drogendelikten. Auf der anderen Seite weiß man
aufgrund der praktischen Erfahrung: Wenn man Telefon11348
gespräche überwacht, dann sind auch sehr viele persönliche Gespräche darunter. Das heißt, es wird intensiv in
die Intimsphäre eingegriffen. Deshalb muss es Kontrollen und Grenzen geben.
Die Bundesregierung hat sich in einem Punkt anders
entschieden, als es unsere Intention war. Sie hat wieder
einen Straftatenkatalog aufgestellt. Wir haben schon
einmal darüber diskutiert. Es gibt die rechtliche Auffassung, dass das notwendig war. Wir werden dazu eine
Anhörung durchführen. Für mich wird insbesondere
wichtig sein, die Frage zu klären, ob diese Notwendigkeit tatsächlich besteht. Denn eines ist klar: Die bisherige Erfahrung mit Straftatenkatalogen war, dass sehr
schnell wieder Forderungen kamen, diesen Katalog zu
erweitern. Genau das ist nicht unsere Intention. Wir wollen ihn vielmehr auf die Fälle beschränken, in denen eine
Telekommunikationsüberwachung wirklich notwendig
ist. Wir Berichterstatter sollten gemeinsam überlegen, ob
es einen besseren Weg gibt als den, den die Bundesregierung jetzt in ihrem Entwurf vorschlägt.
({1})
Ein Punkt, über den wir sicherlich ganz besonders intensiv nachdenken müssen, ist der Schutz der Berufsgeheimnisträger. Schon im Zollfahndungsdienstgesetz haben Sie
eine Lösung in Form einer Verhältnismäßigkeitsprüfung
durchgesetzt. Wir stehen dem außerordentlich kritisch
gegenüber und werden deshalb den Sachverständigen in
der Anhörung, die auf uns zukommt, auch diese Frage
stellen und sehen, ob das der richtige Weg ist oder nicht.
Ich möchte zum Schluss ein paar Aspekte zur Vorratsdatenspeicherung ansprechen. Ich finde es schade,
dass die Telekommunikationsüberwachung und die Vorratsdatenspeicherung miteinander kombiniert worden
sind; denn es handelt sich eigentlich um zwei unterschiedliche Felder. Es ist gut, dass der Rechtsausschuss
die Anhörung zu diesen beiden Bereichen getrennt hat.
Auch das macht deutlich, dass dies offensichtlich zwei
unterschiedliche Felder sind.
Wenn man sich der Frage der Vorratsdatenspeicherung stellt, dann hat man auf eines hinzuweisen: Es hat
hier im Deutschen Bundestag bei der Beratung über den
Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten für
die Jahre 2001 und 2002 einen einstimmigen Beschluss
gegeben, dass die Bundesregierung entsprechende europäische Vereinbarungen über eine Vorratsdatenspeicherung nicht unterzeichnet. Die Bundesregierung hat sich
nicht daran gehalten. Ganz besonders ärgert mich, dass
die dann doch verabschiedete europäische Richtlinie
nicht nur eins zu eins im Gesetzentwurf umgesetzt worden ist, sondern darüber hinausgeht.
({2})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Verpflichtung, die uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt
hat, nämlich bei der Umsetzung besonders grundrechtsschonend vorzugehen. Auch das wird deshalb Gegenstand der Anhörung sein. Wir werden auch diese Frage
stellen.
Frau Präsidentin, es blinkt auf dem Rednerpult, und
zwar zu Recht. Mir bleibt deshalb nur noch, Ihnen, Frau
Präsidentin, aber auch allen Kolleginnen und Kollegen
ein Stück Erholung zu wünschen. Wir alle wissen, dass
wir auch in der parlamentarischen Sommerpause viele
Termine haben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich trotzdem erholen können.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am letzten Tag vor der Sommerpause hätte man auch
ein weicheres Thema wählen können als die Telekommunikationsüberwachung und die Vorratsdatenspeicherung. Wenn man sich die Kritiker anhört und die Beißreflexe, die damit ausgelöst worden sind, ansieht, wird
es einem ganz schwindlig; ich werde darauf gleich näher
eingehen.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass die CDU/CSU
diesen heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf begrüßt und ihm zustimmt. Wir beugen uns natürlich besseren Einsichten. Deswegen haben wir schon
gestern quasi wie bei der Vorratsdatenspeicherung den
Vorratsbeschluss gefasst, eine Anhörung - sie wird in
zwei Teilen stattfinden; Herr van Essen, Sie haben es gerade angesprochen - durchzuführen. Wir haben quasi in
vorauseilendem Gehorsam und in der Annahme, dass
der Gesetzentwurf heute an die zuständigen Ausschüsse
überwiesen wird, eine solche Anhörung beschlossen.
Dass die bisherigen strafprozessualen Instrumente
nicht mehr so gut funktioniert haben, zeigt sich an einem
ganz einfachen Phänomen. Verabredungen zu Verbrechen und Terror setzen Kommunikation voraus. Ganz
klar: Man muss miteinander reden. Die Indianer haben
früher über Rauchzeichen und Buschtrommeln kommuniziert. Man konnte der Frage nachgehen, was die durch
Rauchzeichen verursachten Wölkchen bedeuten. Aus
Western ist bekannt, dass man gekabelt hat, dass man
sich also der Telegrafie bedient hat.
Inzwischen hat die Technik natürlich Fortschritte gemacht; das unterscheidet sie von Ihrer Auffassung, Herr
Montag. Die Fortschritte der Technik sind der Grund dafür, dass die Polizei dem Verbrecher eigentlich immer
hinterherhechelt.
({0})
- Das ist wie beim Doping, ja. Dr. Jürgen Gehb
({1})
Mittlerweile gibt es Handys. Möglicherweise wird es mit
der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs nicht einmal
sein Bewenden haben. Man wird auch darüber nachdenken müssen - der Innenminister fordert es immer wieder,
und zwar zu Recht -, ob Online-Überwachungen sinnvoll sind; schließlich bedienen sich Kriminelle und insbesondere Terroristen des Internets.
({2})
Das ist ganz einfach.
Nun will ich ein paar Takte zur Begrifflichkeit sagen.
Wenn ein Unwissender Kritik an diesen Dingen übt,
dann habe ich dafür noch Verständnis. Der Datenschutzbeauftragte hat geschrieben - Herr Kilger hat etwas
Ähnliches auf dem Anwaltstag gesagt -, dass die
Unschuldsvermutung nicht mehr gilt, dass Menschen
unter Generalverdacht gestellt werden. Die Begrifflichkeit wird da völlig durcheinandergeworfen.
({3})
- Herr Ströbele, ich weiß: Wer die Begriffe nicht beherrscht, der kann auch eine Diskussion nicht beherrschen.
({4})
Der Begriff der Unschuldsvermutung hat mit der Ermittlung nichts zu tun. Unschuldsvermutung bedeutet in
einem strafgerichtlichen Verfahren, dass der Angeklagte
erst nach rechtskräftiger Verurteilung festgesetzt werden
darf.
({5})
In unserem Rechtssystem gibt es sowieso Ausnahmen
davon. Beispielsweise wird Untersuchungshaft angeordnet, wenn noch keine rechtskräftige Verurteilung stattgefunden hat. Deswegen hat der Begriff der Unschuldsvermutung dort gar nichts zu suchen.
({6})
Ein ermittelnder Beamte muss nach dem Legalitätsprinzip jedem Verdacht nachgehen. Die Schuld ist zu diesem
Zeitpunkt noch nicht bewiesen.
({7})
Etwa bei einer vermeintlichen Trunkenheitsfahrt fordert ein Polizist den Fahrer des Autos auf, einen Alkoholtest zu machen oder sich Blut abnehmen zu lassen.
Gilt die Unschuldsvermutung hier denn etwa nicht? Das
hat mit Unschuld doch gar nichts zu tun. Wenn der Alkoholtest negativ ausfällt, kann der Fahrer einfach weiterfahren. Stellen Sie sich einmal vor, man würde behaupten, die Errichtung eines Gerichtsgebäudes stellte die
Menschheit unter Generalverdacht, weil eine Person
möglicherweise zu Unrecht verurteilt wird. Also: Das alles ist dummes Zeug. Die Unschuldsvermutung hat im
Ermittlungsverfahren nichts zu suchen.
Ich komme auf den anderen Punkt, Generalverdacht, zu sprechen. Am Eingang Wilhelmstraße 68 des
Deutschen Bundestages, den viele von uns täglich nutzen, befindet sich ein Überwachungsmonitor. Käme jemals jemand auf die Idee, „Dadurch werden die Passanten unter Generalverdacht gestellt“ zu sagen?
({8})
Auf diese Idee kommt doch kein Mensch.
Es wurde behauptet - zumindest von vermeintlichen
Kennern der Materie -, dass Handygespräche im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung abgehört werden.
Dazu muss ich sagen: Alle, die diese Auffassung vertreten, sind von einer signifikanten Faktenabstinenz gekennzeichnet. Sie sind von einer signifikanten Faktenabstinenz gekennzeichnet.
({9})
- Wie heißen Sie eigentlich? Sie rufen immer wieder dazwischen. Sie sind ein interessanter Mann. Sagen Sie
einmal, wie Sie eigentlich heißen.
Das ist der Kollege Schneider.
Das tapfere Schneiderlein.
Wie kann man solche Behauptungen aufstellen und
die Bevölkerung damit in eine Hysterie versetzen? Ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Diejenigen, die das tun, sind
genauso schlimm wie diejenigen, die die Menschheit
glauben machen wollen, dass man durch eine Neuregelung der Kommunikationsüberwachung einen hundertprozentigen Schutz schaffen kann. Das ist natürlich auch
nicht der Fall.
({0})
Wir bewegen uns bei Ermittlungsverfahren und bei
Eingriffen in Freiheitsrechte der Bürger - der Herr
Staatssekretär hat es gesagt - auf einem verminten Gelände, in einem Spannungsfeld. Das ist doch ganz klar.
Zwei Interessen stehen einander geradezu unversöhnlich
gegenüber: Auf der einen Seite steht das Recht, unbeobachtet, unabgehört zu leben, und auf der anderen Seite
gilt die verfassungsrechtlich verbürgte Pflicht des Staates, Schutz zu gewähren. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. März 2003
- Seite 299 des 113. Bandes - ausdrücklich, und zwar
immer und immer wieder, festgestellt. Herr Kollege
Ströbele, wenn Sie es nachlesen wollen: Die einschlägige Passage befindet sich auf Seite 316. Es geht also um
die Spannung zwischen Schutzpflicht des Staates und
Wahrung von Freiheitsrechten.
Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages, jedenfalls ein großer Teil - die Überwachungsexperten auf der
linken Seite des Hauses blende ich ein bisschen aus -,
wir als demokratische Parteien müssen doch um die
beste Lösung ringen. Das ist doch ganz klar.
({1})
- Herr Tauss, Sie machen das immer lautstark, wenn
auch nicht immer mit besonderer Sachkunde.
({2})
Deswegen ist es doch gar nicht schlimm, wenn wir
heute diesen Gesetzentwurf an die Ausschüsse überweisen. Herr Montag, ich freue mich schon, Sie lassen ja
keine Gelegenheit aus, mich anzusprechen, selbst wenn
ich Ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit zuhöre.
({3})
Wir werden das diskutieren und auch prüfen, ob dieser Gesetzentwurf den Notwendigkeiten nicht ein wenig
hinterherhinkt. Den einen ist er zu viel, den anderen zu
wenig. Manche sagen, dann ist er wahrscheinlich genau
richtig. Warten wir doch einmal das Gesetzgebungsverfahren ab.
Damit möchte ich meine Rede beenden.
({4})
- Herr Ströbele, von Ihnen Applaus zu bekommen, ist
besonders schön.
({5})
Auch ich möchte nicht versäumen, Ihnen schöne
Sommertage zu wünschen. Ich gehe heute Abend auf das
Sommerfest des Bundespräsidenten. Darauf freue ich
mich sehr. Wir sehen uns dann in alter Frische Anfang
September in diesem Hohen Hause wieder.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung will mit diesem Gesetz die Telefonüberwachung erweitern und auf die Spitze treiben. Ihr
Gesetzentwurf, Herr Gehb, sieht vor, dass künftig alle
sogenannten Verkehrsdaten festgehalten werden, also
wer mit wem telefoniert, E-Mails austauscht, welche
Homepages aufgerufen werden. Alle diese Daten, und
zwar von allen 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern,
sollen protokolliert und gespeichert werden.
({0})
Das bedeutet noch mehr Beobachtung und Schnüffelei,
und zwar in einem Ausmaß, das kaum noch Kontrollen
zulässt. Die Linke fordert deshalb alle Demokraten auf,
sich dem entschieden zu widersetzen.
({1})
Meine Damen und Herren, weil Telefonüberwachung
immer ein Eingriff in die Grundrechte ist, müssen äußerst enge und eindeutige Bestimmungen die Verhältnismäßigkeit der Mittel sicherstellen.
({2})
Unschuldige dürfen nicht betroffen werden. Der
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung muss frei
von Überwachung bleiben. Eine effektive richterliche
Kontrolle ist unverzichtbar. Aber keine dieser Forderungen, keine einzige, erfüllt der vorliegende Gesetzentwurf, den wir deswegen als verfehlt und verfassungswidrig ablehnen.
({3})
Die Koalition erweitert in der Strafprozessordnung
den Katalog derjenigen Taten, die ein Abhören rechtfertigen sollen. Es reicht bereits der Verdacht. Sie unterlässt
es aber, die richterliche Kontrolle zu stärken. Dabei
funktioniert sie schon heute nicht. In aller Regel verwenden die Gerichte nur formelhafte Begründungen und kopieren häufig die fehlerhaften Anträge der Staatsanwaltschaft in ihre Anträge. Dies hat jedenfalls das MaxPlanck-Institut für Strafrecht in seiner Studie veröffentlicht und wurde hier schon einmal diskutiert. Außerdem
werden Hintertürchen eingebaut, die den Abgehörten
das Recht nehmen, wenigstens im Nachhinein informiert
zu werden. Die Benachrichtigung unterbleibt - hier widerspreche ich meinen Vorrednern -, wenn - ich zitiere „anzunehmen ist, dass die abgehörte Person kein Interesse an einer Benachrichtigung hat“. Ich frage Sie: Was
sind das eigentlich für Personen, die daran kein Interesse
haben? Das ist ein Gummiparagraf, der keinen Grundrechtsschutz gibt und auf jeden Fall weiterdiskutiert werden muss.
Bei der Vorratsdatenspeicherung wird festgehalten,
wer mit wem spricht, egal ob Ärzte, Anwälte oder Politiker, wo er sich zum Zeitpunkt des Gesprächs aufhält,
welche Internetseiten er besucht und welche E-Mails
verschickt werden. All das wird gespeichert, ohne den
Verdacht genau zu begründen, einfach auf Vorrat.
({4})
Die Behörden, vor allem die Geheimdienste, die Zugriff
darauf haben, Herr Gehb, können daraus ein ausführliches Profil über die politischen, sozialen und sonstigen
Interessen und Kontakte erstellen.
({5})
Im Übrigen hat der Datenschutzbeauftragte von
Schleswig-Holstein vor wenigen Tagen ein Gutachten
dazu veröffentlicht. Darin heißt es, dieses Gesetz ist ein
- so wörtlich - Grundrechtseingriff mit maximaler
Streubreite. So hat er das bezeichnet. Ich meine, er hat
recht damit.
Die Speicherfrist beträgt sechs Monate. Allein bei der
Telekom fallen pro Tag rund 200 Millionen Datensätze
an. Hinzu kommen mehrere hundert Millionen E-Mails,
angeklickte Homepages usw. Alles ausgedruckt, würde
dies Aktenordner füllen, die aneinandergereiht von Berlin nach München reichen würden. Das haben Datenschutzbeauftragte ausgerechnet.
({6})
Hier kann man nur noch fragen: Wie krankhaft misstrauisch muss eine nach Allmacht strebende Regierung sein,
um so etwas zu wollen?
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Das A und
O einer demokratischen Gesellschaft ist das freie Gespräch. Die Bürger und Bürgerinnen müssen die Garantie dafür haben. Deswegen werden wir die Beratung
dieses Gesetzentwurfs sehr kritisch begleiten und Gegenentwürfe vorlegen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächster Redner ist nun der Kollege Hans-Christian
Ströbele für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, wie soll man es denn nennen,
wenn der Staat von den Telekommunikationsunternehmen verlangt, in Zukunft von allen Nutzern der Telekommunikation die Verbindungsdaten zu speichern zum Zweck der Strafverfolgung, zum Zweck der Feststellung von Gefährdern, zu geheimdienstlichen Zwecken? Wie soll man dies anders interpretieren, als dass
der Staat in Zukunft davon ausgeht, dass alle 70 oder
80 Millionen Telekommunikations- und Internetuser
potenzielle Straftäter oder potenzielle Gefährder sind?
Sonst macht das doch keinen Sinn.
({0})
Das muten Sie uns mit diesem Gesetzentwurf zu. Das
aber ist ein Paradigmenwechsel, den wir nicht mitmachen, weil wir weiterhin davon ausgehen, dass nicht alle
80 oder 70 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, potenzielle Straftäter und
potenzielle Gefährder sind. Nur dann, wenn es einen
konkreten Verdacht dafür gibt, dass jemand eine Straftat
begangen hat oder eine schwere Gefährdung darstellt,
kann man in sein Telekommunikationsgeheimnis eingreifen.
Deshalb lehnen wir Ihren Vorschlag generell ab.
Schon gar nicht sind wir damit einverstanden, dass
diese EU-Richtlinie genutzt wird, um über die Strafverfolgungsinteressen auch Gefährderabwehrinteressen
oder geheimdienstliche Aufgaben zu verfolgen.
({1})
Zur Überwachung der Telefone. Verehrter Herr Kollege Hartenbach, Sie wussten es schon einmal besser. Ich
erinnere mich an die Zeit der rot-grünen-Koalition. Vor
zwei, drei Jahren haben wir zusammengesessen und da
haben Sie noch vehement die Lösung verteidigt, die wir
in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen hatten, nämlich dass in Zukunft Telefonüberwachung nicht nach einem Katalog von Straftaten angeordnet werden kann,
sondern ausschließlich aufgrund einer grundsätzlichen
Festlegung, nach der nur bei allerschwersten Straftaten
eine Telefonüberwachung in Betracht kommt. Wir haben
das in unserem Gesetzentwurf so definiert: Nur dann,
wenn ein Verbrechen vorliegt, wenn also aufgrund der
äußeren Umstände der Tat eine Mindeststrafe von einem
Jahr zu erwarten ist, ist das gerechtfertigt, aber nicht
dann, wenn nur eine beliebige Katalogstraftat
vorliegt. - Das kann auch nicht richtig sein. Das führt zu
völlig unzulänglichen Ergebnissen. Dann muss man
auch dauernd neu über den Straftatenkatalog diskutieren.
Jetzt haben Sie zum Beispiel eine Tat nach § 177 Abs. 2
Nr. 2 StGB - besonders schwere sexuelle Nötigung - in
den Katalog geschrieben. Sie haben aber die mit einer
Mindeststrafe von fünf Jahren bedrohte schwere Vergewaltigung unter Einsatz von Waffen nicht aufgenommen. Das haben Sie herausgelassen, sodass man eigentlich nur zu der Überzeugung kommen kann, die schwere
Straftat sehen Sie als nicht so aufklärungswürdig an wie
die weniger schwere. Deshalb lehnen wir diese Vorschläge ab.
({2})
Wir wollen erreichen, dass die Zahl der Telefonüberwachungen in Deutschland wieder zurückgeht. Es gibt
Sachverhalte, bei denen man gerne Weltmeister ist. Ich
möchte aber nicht, dass Deutschland weiter Weltmeister
bei der Telefonüberwachung bleibt.
({3})
Diesbezüglich haben wir eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht.
Wir haben nicht nur als Ersatz für den Straftatenkatalog eine andere Lösung vorgeschlagen, sondern wir haben auch gesagt, alle Telefonkommunikation, die den
Kernbereich der privaten Lebensführung betrifft,
darf nicht überwacht werden, und zwar niemals. Sie haben gesagt, es müssen vorher Anhaltspunkte dafür bestehen, dass „allein“ - so steht es im Gesetzentwurf - über
solche Inhalte gesprochen wird. Diese Anhaltspunkte
werden Sie nie haben.
({4})
Natürlich wird auch einmal während eines Liebesgeflüsters oder während eines Ehestreits über das Wetter, über
Hitze oder andere Dinge gesprochen, die nicht zu diesem
engsten Lebensbereich gehören. Das heißt, die Beschränkung, die hier in den Gesetzentwurf geschrieben
wurde, stellt im Ergebnis eine Placeboregelung dar.
Wir wollen, dass alle Berufsgeheimnisträger vor solcher Überwachung sicher sind und dass alle Telefongespräche, die den internsten Bereich der privaten Lebensführung betreffen, frei von solcher Überwachung
bleiben.
({5})
Schließlich wollen wir auch, dass die Richter in Zukunft - das ist ja heute nicht der Fall - verpflichtet werden, die Gründe für eine Telefonüberwachung in jedem
einzelnen Fall aufzulisten,
({6})
damit nachprüfbar ist, was warum angeordnet wird, und
damit der Richter nicht einfach nur Vorlagen der Staatsanwaltschaft abhakt.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Er soll sich vielmehr selber Gedanken machen und
diese Überwachung selber verantworten.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der SPD:
Lesen Sie unseren Gesetzentwurf noch einmal genau
durch und überlegen Sie sich, ob Sie nicht die Passagen
in Ihr Gesetzeswerk übernehmen können, die von RotGrün stammen und zu der Zeit, als Ihnen der Bürgerrechtspartner Die Grünen noch nicht abhanden gekommen war, auch für Sie selbstverständlich waren.
({0})
Letzter Redner in der Debatte ist nun der Kollege
Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Vermutlich ließen sich meine drei Minuten Redezeit allein damit füllen, die Kritiker dieses Gesetzentwurfs zur
Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung aufzuzählen. Darunter fallen nicht nur die üblichen Verdächtigen wie die Humanistische Union oder die Landes- und Bundesdatenschützer. Diesmal zählen auch
Großunternehmen zu den Kritikern, zum Beispiel der
Branchenverband BITKOM und der Internetdienstleister
Google.
Google erwägt, seinen E-Mail-Dienst in Deutschland
zu schließen, wenn der Zwang, Kundendaten zu erheben
und zu speichern, Gesetz wird. Peter Fleischer, weltweit
zuständig für die Google-Nutzerdaten, bezeichnete eine
rein deutsche Kontrolle der E-Mail-Daten ohnehin als
nutzlos, weil die Anwender dann auf E-Mail-Adressen
im Ausland ausweichen könnten. Insofern widerspricht
dieser Teil des Gesetzentwurfs nicht nur dem Recht auf
informationelle Selbstbestimmung, sondern ist noch
nicht einmal wirklich wirksam. Das war ein Detail, wenn
auch kein unwichtiges.
Ich kritisiere diesen Gesetzentwurf prinzipiell, weil er
den Geist des Grundgesetzes aushöhlt.
({0})
Vor dem Hintergrund einer scheinbaren Gefahr soll die
Gesellschaft große Teile ihrer Freiheit aufgeben. Mit der
stets wirksamen Keule vom internationalen Terrorismus
soll der Widerstand gegen Telefonüberwachung, RFIDChips, Vorratsdatenspeicherung, verdeckte Internetkontrollen durch Trojaner und anderes mehr aufgeweicht
werden, zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit.
Zu den Plänen der Bundesregierung sagt der Strafrechtler Professor Peter-Alexis Albrecht:
Der Rechtsstaat ist mitten drin in der Auflösung,
weil es eine Herstellung von Sicherheit in dem
Maße, wie es der Politik vorschwebt, nicht gibt.
Wenn man diese Sicherheit herstellt, hat man die
Staatssicherheit, und die haben wir in der DDR abgeschafft,
({1})
und nun bekommt die Bundesrepublik noch ein
Schlimmeres …
Zitatende. Es war ein Zitat; hören Sie bitte zu, liebe Kollegen!
Professor Albrecht nennt es „Sicherheitsstaat“, ich
nenne es Überwachungsstaat. Diese Gesellschaft ist auf
schnurgeradem Weg zum gläsernen Bürger. Die bürgerlichen Freiheitsrechte werden dem Sicherheitswahn geopfert. Den Menschen wird suggeriert, dass sie ständig und
überall von Terroristen bedroht werden. Union und SPD
arbeiten beharrlich an einer neuen Bedrohungslüge.
Die Menschen werden außerhalb der Parlamente Widerstand gegen ihre Überwachung und Bevormundung
leisten. Der Protest muss aus der Gesellschaft kommen.
Der Linken kommt hierbei die Verantwortung zu, der
Bevölkerung die Fakten zu nennen und sie über die damit verbundenen Gefahren aufzuklären und zu informieren.
Uns liegt hier ein Gesetz vor, das von Datenschützern
und Verfassungsrechtlern gleichermaßen kritisiert wird
und das, wie so viele seiner verwandten Vorgänger, vor
dem Verfassungsgericht vermutlich nur schwer bestehen
wird. Die bisher von Experten abgegebenen Stellungnahmen lassen genau dies erwarten. In der jetzigen Form
ist dieses Gesetz auf jeden Fall ein erneuter Angriff auf
das Grundgesetz.
Wie formulierte es Burkhard Hirsch so treffend: Herr
Minister Schäuble „respektiert nicht den Geist der Verfassung, sondern testet ihre Belastbarkeit.“ Dies sollte
eine demokratische Gesellschaft nicht widerstandslos
hinnehmen.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Joachim Stünker hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben1). Damit sind wir am Ende der Ausspra-
che zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5846 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b so-
wie Zusatzpunkt 16 auf:
32 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Planungen für Bundeswehr-Ehrenmal am
Bendlerblock aussetzen - Würdigung der
Toten in unmittelbarer Reichstagsnähe
- Drucksachen 16/5593, 16/5932 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Siebert
Dr. Rainer Stinner
Paul Schäfer ({1})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Norman Paech,
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
1) Anlage 2
Ein Mahnmal - Kein Ehrenmal - Gegen
Kriege - Mahnmal für die Opfer der gegenwärtigen Kriege
- Drucksache 16/5891 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das würdige Gedenken der Toten in Friedenseinsätzen braucht eine breite Debatte
- Drucksache 16/5894 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister der Verteidigung, Herrn Dr. Franz Josef
Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als ich zu Beginn meiner Amtszeit in Afghanistan, konkret in Kabul, vor einem Grabmal für deutsche
Soldaten gestanden habe, habe ich mir die Frage gestellt:
Was machen wir eigentlich in Deutschland, um diejenigen zu ehren und ihnen ein würdiges Andenken zu bewahren, die im Einsatz für die Bundeswehr, im Auftrag
auch dieses Parlamentes, ihr Leben gelassen haben?
Wir haben vor ein paar Wochen den Anschlag in Kunduz erleben müssen, bei dem drei deutsche Soldaten ums
Leben gekommen sind. Als ich jetzt wieder in Mazar-i-Sharif war, haben wir einen Gedenkstein für die
vier Soldaten enthüllt, die damals bei dem Anschlag mit
dem Bus ums Leben gekommen waren.
Ich habe die Idee der Errichtung eines Ehrenmals für
die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und
die zivilen Angehörigen im Frühjahr des Jahres 2006
öffentlich gemacht. Wir haben im Verteidigungsausschuss bereits viermal darüber debattiert, ebenso im
Haushaltsausschuss und im kulturpolitischen Ausschuss
dieses Hauses. Ich begrüße ausdrücklich, dass wir auch
im Plenum des Deutschen Bundestages über eine solch
wichtige Frage sprechen.
Ich denke, unsere Soldatinnen und Soldaten sind einsatzfähig und leistungsfähig; aber sie üben, auch im Auftrag dieses Parlamentes, einen Beruf aus, der mit Risiko
für Leib und Leben verbunden ist. Sie schwören und geloben, das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes
tapfer zu verteidigen. Sie stehen in einem besonderen
Treueverhältnis zu diesem Staat. Da in der über 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr bereits 2 600 Soldatinnen und Soldaten und zivile Angehörige, im Auftrag dieses Parlamentes, im Einsatz für die Bundeswehr ihr
Leben verloren haben, bin ich der Auffassung, dass es an
der Zeit ist, ihnen ein ehrendes und würdiges Andenken
zu bewahren und ihnen ein Ehrenmal zu errichten.
({0})
Wir haben dazu eine namhafte Findungskommission
eingerichtet. Diese Findungskommission hat eine Ausschreibung durchgeführt. Daraufhin gab es sechs aus
meiner Sicht hervorragende Entwürfe. Die Findungskommission hat sich einstimmig dafür entschieden, den
Entwurf von Herrn Professor Andreas Meck zu favorisieren, mit der Perspektive, dass das Ehrenmal möglichst
im Jahre 2008 errichtet wird und dass hier der Angehörigen der Bundeswehr, die im Einsatz für die Bundeswehr
ihr Leben gelassen haben, gedacht wird und sie gewürdigt werden. Mein Eindruck in dieser Debatte ist, dass
eine große Mehrheit des Deutschen Bundestages diese
Idee vom Grundsatz her für richtig erachtet und die Errichtung eines Ehrenmals für die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Angehörigen der Bundeswehr unterstützt.
({1})
Es gibt eine Diskussion - ich spreche das ganz offen
an - im Hinblick auf die Frage des Standortes. Hier gibt
es teilweise unterschiedliche Auffassungen. Da wir aber
alle Soldatinnen und Soldaten und zivilen Angehörigen
der Bundeswehr, die seit Bestehen der Bundeswehr im
Einsatz für diese Bundeswehr ihr Leben verloren haben,
im Blick haben, denke ich, dass es richtig ist, dieses Ehrenmal an dem Ort zu installieren, der in der Bundeshauptstadt für die Bundeswehr steht, und das ist der
Bendlerblock und das Bundesverteidigungsministerium.
Ich will unterstreichen, dass wir vor ein paar Wochen
der ersten Opfer gedacht haben, also derjenigen, die vor
50 Jahren beim Iller-Unglück ums Leben kamen,
15 Wehrpflichtige. Wir gedenken ferner derjenigen, die
bei Starfighter-Abstürzen ums Leben kamen, und derjenigen, die in anderer Art und Weise im Einsatz für die
Bundeswehr ums Leben kamen. Daher denke ich, dass
es richtig ist, dass wir das Ehrenmal an dem Ort, der für
die Bundeswehr steht, dort, wo die grundlegenden politischen Entscheidungen - auch die Entscheidungen dieses
Parlamentes - für die Soldatinnen und Soldaten umgesetzt werden - und das ist der Bendlerblock -, errichten.
Das Ehrenmal soll sich einfügen in andere Denkmäler
und Gedenkstätten, auch in der näheren Umgebung. Hier
ist besonders die Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu
erwähnen, die ebenfalls im Bendlerblock beheimatet ist.
Die Bedeutung des militärischen Widerstandes gegen
das NS-Regime ist für das Traditionsverständnis der
Bundeswehr besonders zu berücksichtigen. Deshalb ist
es unsere Auffassung - obwohl es am Anfang Diskussionen gab, ob man das Ehrenmal nicht besser anderswo errichten sollte und dies der falsche Ort wäre -, dass der
Ehrenplatz der Bundeswehr der richtige Ort für das Ehrenmal wäre. Es wäre dann für alle Bürgerinnen und
Bürger öffentlich zugänglich von der Hildebrandstraße,
in etwa eine Viertelstunde von diesem Parlament entfernt.
({2})
Meine Damen und Herren, ich denke, wir werden
auch - darüber wollen wir im Einzelnen noch sprechen einen namentlichen Bezug zu den Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern, die im Einsatz für
die Bundeswehr ihr Leben verloren haben, herstellen.
Der Entwurf von Professor Meck versinnbildlicht den
unmittelbaren Bezug zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Er entspricht dem Besonderen des soldatischen
Dienens, dem Einsatz von Leib und Leben, und unterstreicht die unaufhebbare Bindung der Bundeswehr an
die Ordnung unseres Grundgesetzes. Deshalb werbe ich
sowohl in der Öffentlichkeit als auch hier dafür, diesen
Entwurf zu unterstützen. Ich bin überzeugt, dass er ein
würdiges und ehrendes Gedenken ermöglicht und geradezu insinuiert, was eigentlich unser gemeinsames Anliegen sein sollte, nämlich denjenigen ein ehrendes und
würdiges Andenken zu bewahren, die in einem gefährlichen Einsatz, aber auch im Dienst für Frieden und Freiheit ihr Leben lassen mussten.
Deshalb bitte ich Sie, die Konzeption von Professor
Meck für ein Ehrenmal am Bendlerblock zu unterstützen. Ich denke, unsere Soldatinnen und Soldaten haben
es verdient, dass wir ihnen ein ehrendes und würdiges
Andenken bewahren. Ich möchte mit dem Satz schließen, den wir in dieses Ehrenmal einmeißeln wollen: Den
Toten unserer Bundeswehr - Für Frieden, Recht und
Freiheit.
Besten Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Rainer Stinner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Ihr Anliegen wird in diesem Haus
geteilt. Dessen können Sie sicher sein. Das haben Sie
auch an dem Beifall unserer Fraktion gesehen, als Sie Ihr
Anliegen vorgetragen haben.
Die Trennungslinie, die Diskussionslinie verläuft an
einer anderen Stelle. Es geht um die Frage, welche Funktion ein solches Ehrenmal hat. Wenn es darum geht, dass
die Bundeswehr ihrer Toten gedenkt, kann man in der
Nähe des Verteidigungsministeriums, also an dem Ort
der exekutiven Gewalt, ein Ehrenmal bauen, an dem
jährlich - das meine ich gar nicht negativ - ritualisiert
Kranzniederlegungen stattfinden. Das kann man machen; dann geht es um das Gedenken der Bundeswehr.
Herr Minister, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, uns geht es aber um etwas völlig anderes. Uns geht
es darum, dass die breite Öffentlichkeit mit folgenden
Fragestellungen konfrontiert wird - ich sage das so deutlich -: Wie vertritt Deutschland eigentlich seine Interessen? Welche Rolle spielt die Bundeswehr dabei? Ist in
jedem Einzelfall ein Auslandseinsatz angemessen oder
nicht? Wir brauchen unbedingt eine breite öffentliche
Diskussion über diese Fragen. Wir brauchen eine Diskussion über die Rolle der Bundeswehr.
Wir brauchen auch eine öffentliche Diskussion darüber, dass wir als Parlament Entscheidungen fällen, die
mit Risiken für Leib und Leben der Soldaten verbunden
sind. Das muss von der breiten Öffentlichkeit getragen
werden. Herr Minister, für uns steht also die Öffentlichkeit im Vordergrund, und zwar sowohl, wenn es um den
Entscheidungsprozess geht, als auch, wenn es um das
Ergebnis dieses Prozesses geht.
Sehr geehrter Herr Minister, ich muss Ihnen deutlich
sagen: In beiden Fällen haben Sie eine völlig falsche
Vorgehensweise gewählt. Sie haben die Planungen ausgeschrieben, ohne eine öffentliche Anhörung durchzuführen, also ohne öffentliche Anteilnahme. Das kann
man zwar so machen, aber bedenken wir doch einmal,
welche Rolle die öffentliche Diskussion über die Gestaltung des Holocaust-Mahnmals gespielt hat. Es gibt eine
Verbindung zwischen der Diskussion über die Art des
Gedenkens und dem Inhalt des Gedenkens. Es geht um
die Frage, wie wir etwas tun. Diese Diskussion ist ganz
wichtig. Sie ist auch notwendig, wenn es um das Gedenken an die Soldatinnen und Soldaten geht. Das wollen
Sie aber nicht. Das haben Sie nicht gemacht. Ich frage:
Warum eigentlich?
Herr Minister, Sie haben es versäumt, über das Weißbuch - ein kleiner Einschub - eine öffentliche Debatte
herbeizuführen, Öffentlichkeit herzustellen. In diesem
Zusammenhang versäumen Sie es ein weiteres Mal. Man
könnte fast das Gefühl haben, Sie scheuen die öffentliche Debatte.
Genauso schlimm wäre es, wenn Sie nicht in der Lage
wären, zu erkennen, welche Bedeutung die öffentliche
Diskussion für Ihr eigenes Anliegen hat. Die öffentliche
Diskussion ist in Ihrem Sinne; denn sie fördert Ihr Anliegen. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie das nicht berücksichtigen.
Ich glaube übrigens, dass die öffentliche Diskussion
über den Entwurf, der jetzt vorliegt, zu einer anderen Lösung geführt hätte. Man kann zwar über Geschmack
streiten, aber hinsichtlich Größe und Monumentalität
wird der Entwurf von vielen in der Bevölkerung sicherlich nicht geteilt. Also auch in dieser Beziehung wurde
Öffentlichkeit nicht hergestellt.
Genauso wichtig ist aber die Öffentlichkeit für das Ergebnis, nämlich für den Standort. Sie haben darauf hingewiesen, Herr Minister. Zum Glück ist der Bundestag
das weltweit am meisten besuchte Parlament. Darauf
können wir alle stolz sein.
({0})
Warum nutzen wir nicht die Chance, dass Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, Deutsche und Ausländer, an diesen Ort kommen, um dieses Anliegen in die
Öffentlichkeit zu tragen? Einen idealeren Standort - die
Nähe des Bundestages - für das, was wir wollen - öffentlicher Diskurs, öffentliche Debatte, öffentliche Auseinandersetzung -, gibt es in ganz Deutschland nicht.
({1})
Denken wir an Washington. Ist das Vietnam Veterans
Memorial im Pentagon angesiedelt? Ist es nicht. Ist das
neue Memorial für die letzten Gefallenen im Pentagon
angesiedelt? Ist es nicht. Sie sind an einem öffentlich
sichtbaren, deutlich plakativen Ort angesiedelt. Das sollten wir hier auch tun.
Aber auch inhaltlich ist es geboten, dieses Ehrenmal
in der unmittelbaren Nähe des Bundestages anzusiedeln.
Denn, Herr Minister, nicht Sie, sondern letztendlich wir
- wir Abgeordneten, zu denen ja auch Sie gehören schicken die Soldaten in Auslandseinsätze. Sie setzen
das operativ bzw. exekutiv um; das ist gar keine Frage.
Aber hier im Parlament wird die Entscheidung getroffen.
Wir haben eine Parlamentsarmee. Das ist ein Fortschritt. Deshalb mein Appell an die Parlamentarier hier
im Raume: Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum begeben wir uns der Chance, das Ehrenmal in unserer
Nähe zu gestalten?
Aus dem Gesagten ergibt sich ganz klar für uns alle:
Herr Minister, stoppen Sie Ihre Planungen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, stimmen Sie unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist nun der Kollege Jörn Thießen für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ruf nach einer breiten sicherheitspolitischen Debatte gehört zu den Lieblingsrufen dieses Parlamentes,
auch wenn er am Freitagnachmittag als Dienst zu ungünstiger Zeit erschallt. Er erschallt aber stets dann,
wenn darüber Klage geführt wird, dass sich nur wenige
Menschen in unserem Land mit den Dimensionen unserer Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen. Die Diskussion über ein Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin gehört zu dieser Debatte. Das begrüßen wir. Manchmal ist
es so, dass einem nicht alles passt, was in einer solchen
Debatte gesagt wird. Schon deswegen lohnt sie sich.
Herr Minister, das Ehrenmal wird auf Ihre Initiative
hin in Berlin gebaut. Sie haben dazu das volle Recht; das
streiten wir nicht ab. Im Grundsatz unterstützen wir Sie.
Da Sie aber auf den Entwurf eingegangen sind und für
den Entwurf um Unterstützung geworben haben, gestatten Sie mir einige Bemerkungen. In der Broschüre zum
Ehrenmal der Bundeswehr findet sich der folgende Satz:
„Seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 sind mehr
als 2 600 ihrer Soldaten im Dienst ums Leben gekommen …“. Das sind bedrückende Zahlen, die uns allen zu
denken geben. Denn jeder gefallene Soldat und jeder getötete Zivilist liegt all denjenigen auf dem Gewissen, die
für die Bundeswehr Verantwortung tragen und den Einsätzen, besonders denen im Ausland, zugestimmt haben.
Das stimmt. Denn diese Menschen zahlen einen erschütternden Preis für unser Engagement in den Kriegs- und
Krisengebieten dieser Welt. Es ist aller Mühen wert, uns
an sie zu erinnern und uns zu mahnen.
So bedrückend diese Zahl von 2 600 Toten ist, Herr
Minister, so schwer ist der Satz zu verstehen, diese seien
im Dienst ums Leben gekommen. Denn das sind sie
eben nicht. Hier liegt ein Zahlendurcheinander vor, auf
das ich aufmerksam machen möchte, und auf das auch
Hans-Ulrich Jörges im „Stern“ zu Recht hinweist. Das
mag kleinlich klingen; aber das ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Die allermeisten dieser
2 600 Menschen kamen eben nicht im Dienst ums Leben, sondern während der Zeit ihres Dienstes in der Bundeswehr. Das ist ein Unterschied.
Wenn in der Begründung zu lesen ist, dass unsere
Partner und Verbündeten ehrende Gedanken an Soldaten
haben und dass wir uns dem anschließen wollen, weil es
zur kulturellen Identität gehört, dann ist das wahr. Das
Ehrenmal aber, über das wir heute sprechen, stellt gerade
die Gefallenen nicht in sein Zentrum. Warum sonst wird
auf alle Toten der Bundeswehr verwiesen? Von den
2 600 stellen die Gefallenen eine verschwindend kleine
Minderheit dar. Das unterscheidet diesen Plan für ein
Ehrenmal elementar vom Invalidendom oder vom Altare
della Patria, auf den es sich beruft. Dieses Ehrenmal ist
ein deutscher Sonderweg.
Humanität und Religion machen keinen Unterschied
zwischen Toten, keinen Unterschied zwischen Gefallenen und Unfallopfern, zwischen denen, die an schweren
Krankheiten gestorben sind, und denen, die sich umgebracht haben. Das Ehrenmal aber, über das wir heute diskutieren, will ja kein Zeichen allgemeiner Humanität
oder Religiosität sein; hier hat sich der Staat herauszuhalten. Das Ehrenmal - das nehme ich ihm auch ab will in würdiger Form aller Toten der Bundeswehr gedenken, also all derjenigen, die in Ausübung ihres
Dienstes im Inland wie im Ausland ihr Leben verloren
haben.
Für diese Interpretation spricht auch der künstlerische Entwurf, auf den Sie, Herr Kollege Dr. Jung, hingewiesen haben: die zerbrochenen Erkennungsmarken.
Hier liegt die Verwirrung. Die Hälfte der Erkennungsmarken wird nämlich den Gefallenen abgenommen, also
denjenigen, die getötet worden sind. Sie sind im Ersten
und Zweiten Weltkrieg ein Zeichen massenhaften Sterbens gewesen. Passt das zu diesem Ehrenmal? Gedenken
wir an diesem Ort 2 600 gefallener Soldaten? Nein. Für
Frieden, Recht und Freiheit sind in Ausübung ihres
Dienstes nur wenige gestorben, die hier geehrt werden
sollen. Die anderen starben während ihrer Zeit als Angehörige der Bundeswehr, mehrheitlich ohne direkten Bezug zu ihrem Auftrag. Das ist ebenso tragisch und
ebenso traurig, aber das gehört nicht in dieses Ehrenmal.
Diese Unterscheidung ist deswegen so wichtig, weil
die Entscheidung, die wir heute treffen, auch in zehn, 20
und 30 Jahren noch lesbar sein muss. Diese beabsichtigte Botschaft, die wir teilen, Herr Minister, braucht
starke Zeichen, damit sie am Ende nicht fehlinterpretiert
wird oder das gesamte Kunstwerk unlesbar macht.
Lieber Kollege Stinner, im Original heißt es: Über
Geschmack lässt sich nicht streiten; das glaube auch ich.
Der Künstler hat sich Gedanken gemacht. Das soll er
auch tun. Er hat sich für ein starkes Zeichen entschieden.
Aber dieses Zeichen ist in seiner Symbolik aufdringlich,
und es lädt zu Fehlinterpretationen ein. Denn eine zerbrochene Erkennungsmarke ist kein allgemeines Zeichen für den Tod, sondern ein Zeichen für diejenigen,
die auf dem Felde gefallen sind.
Ich verstehe gut, dass Sie, Herr Minister, nicht allein
derjenigen gedenken wollen, die in Auslandseinsätzen
umgekommen sind; daher teile ich das Ansinnen, keine
Unterscheidungen zu treffen. Aber ich bitte Sie, noch
einmal darüber nachzudenken, ob durch diese Symbolik
nicht alle Gestorbenen in die Gruppe der Gefallenen vereinnahmt werden. Das wäre dann eher ein Kriegerdenkmal, und das will, glaube ich, gar keiner von uns. Diese
naheliegende Fehlinterpretation ist für mich das größte
Manko des geplanten Ehrenmals am Bendlerblock.
Der Begriff Parlamentsarmee ist in diesem Hause oft
erwähnt worden. Der Inhalt dieses Ausdrucks ist bei uns
allen völlig unumstritten: Wir als Parlament sind nicht
der IBuK, der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt - das ist der Kollege Dr. Jung -, aber wir tragen
mehr Verantwortung für die Streitkräfte als viele andere
Parlamente, auch als die unserer Verbündeten.
Weil das so ist, appelliere ich in Anlehnung an das,
was Sie, lieber Herr Dr. Stinner, gesagt haben, an uns
alle: Machen wir uns gemeinsam auf den lang verabsäumten Weg, in unmittelbarer Nähe des Parlaments einen Ort zu schaffen, an dem wir derjenigen gedenken,
die von uns in Einsätze entsandt worden sind, und derjenigen, die als zivile Mitarbeiter und als Mitarbeiter von
Hilfsorganisationen starben. Ich rege an, dass wir uns
auf einen solchen Gruppenantrag verständigen; denn
hier tragen wir gemeinsam Verantwortung. Die Verantwortung ist groß. Das ist bitter. Aber es ist notwendig.
Hier, beim Parlament, das ist der richtige Ort, und an
diesem Ort sollten wir eine Gedenkstätte schaffen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Lukrezia
Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Ausübung Ihrer Befehls- und Kommandogewalt, so
haben wir vorgestern im Ausschuss für Kultur und Medien erfahren dürfen, haben Sie, Herr Minister, die Errichtung eines Bundeswehr-Ehrenmals am Antretplatz
Ihres Dienstsitzes beschlossen. Ein Totengedenken, ein
zentraler Ort der Erinnerungskultur, per Befehls- und
Kommandogewalt - man mag das kaum glauben. Aber
damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen.
Sie ließen einen Ehrenmal-Wettbewerb durchführen,
im Geheimen, und haben der Öffentlichkeit lediglich das
Ergebnis präsentiert. Herr Minister, damit haben Sie bei
einem so wichtigen Stück politischer Kultur auf eklatante Weise gegen das Transparenzgebot der demokratischen Ordnung verstoßen. Nicht dass ich Ihnen das
Recht abspräche - aber es geht um die Sensibilität, darum, wie man mit der Erinnerungskultur in diesem Land
umgeht.
Daher ist den Anträgen der FDP-Fraktion und der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen insoweit zuzustimmen, als die Planungen sofort auszusetzen bzw. zurückzustellen sind. Parlament und Öffentlichkeit, die
bisher nicht angemessen oder überhaupt nicht in die
Pläne einbezogen wurden, müssen über dieses Vorhaben
diskutieren können. Sie müssen zum Beispiel die Frage
stellen, ob ein solcher Gedenkort wirklich ein Ehrenmal
sein soll. Der Begriff „Ehre“ legt doch nahe, dass es wieder ehrenvoll sein soll, in einen Krieg zu ziehen und zu
sterben. Wollen wir tatsächlich wieder sagen - wie der
römische Dichter Horaz -: „Süß und ehrenvoll ist es,
fürs Vaterland zu sterben“? Und wer denkt an die Ehre
der Männer und Frauen und Kinder, die in diesen Kriegen - von den deutschen Soldaten oder ihren Verbündeten - getötet werden?
Ausdrücklich soll mit dem Ehrenmal der 69 Soldaten
gedacht werden, die ihr Leben in Auslandseinsätzen
verloren haben. Die große Mehrheit der Deutschen beharrt darauf, dass die Bundeswehr, wie es im Grundgesetz festgelegt ist, einen Verteidigungsauftrag hat, und
lehnt den Einsatz der Bundeswehr im Ausland ab. Diese
Mehrheit ist nicht an einem Ehrenmal interessiert, sondern an einer Politik, die dem Verfassungsauftrag nachkommt und sich aus Kriegseinsätzen und Kriegsbeteiligungen im Ausland heraushält. Nein, wir brauchen kein
Ehrenmal, das den Soldatentod verklärt.
Wir brauchen stattdessen ein Mahnmal: für sämtliche
Opfer der gegenwärtigen Kriege, besonders für die Opfer aus der Zivilbevölkerung, aber auch für die umgekommenen Soldaten. Wir brauchen ein Denkmal, das
das Nachdenken über den Sinn der Opfer ermöglicht. Jeden Tag hören wir aus Afghanistan namenlose Zahlen
der zivilen Opfer: heute acht, gestern 14, davor 25; Männer, Frauen, Kinder. Wie viele sind es seit Beginn des
Krieges insgesamt? Wir wissen es nicht. Wir kennen ihre
Namen nicht, nicht ihre Schicksale. Darf - muss - ihrer
nicht auch gedacht werden? Und was ist mit dem Verteidigungsauftrag der Bundeswehr, wie er im Grundgesetz
festgelegt ist? Darf - muss - seiner nicht auch gedacht
werden? Was wir brauchen, ist ein Mahnmal, an dem der
Opfer gedacht wird. Es muss von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden; es muss in der Nähe des Parlaments stehen - auch da stehen wir den Forderungen in
den Anträgen der Kollegen von der FDP und den Grünen
nah -; vor allem kann es nur als Aufruf gegen den Krieg
zu verstehen sein.
({0})
Das ist das, was wir in unserem Antrag fordern. Bedenken Sie diese Forderungen! Ich bitte um Zustimmung.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland gibt es auch heute noch Tausende von
Kriegerdenkmälern, mit denen nicht nur der Kriegstoten
gedacht wird, sondern mit denen der Krieg sehr oft auch
beschönigt und verherrlicht und mit denen ein verqueres
Heldengedenken demonstriert wird. Heute muss es um
den Bruch mit einer solch demokratiefernen Tradition
gehen.
({0})
Vor drei Jahren hatte ich die Gelegenheit, in Suchumi
in Abchasien vor einem Gedenkstein für neun Mitglieder
der United Nations Observer Mission in Georgia zu stehen, die am 8. Oktober 2001 im Kodori-Tal abgeschossen worden sind. Die Umgekommenen waren Ukrainer,
Russen, Georgier, Pakistani, ein Schweizer und ein
Deutscher. Es waren vier Soldaten - vier unbewaffnete
Militärbeobachter - und fünf Zivilisten, acht Männer
und eine Frau. Übrigens wurde damals von diesem ersten Bundeswehrsoldaten, der durch gegnerische Einwirkung ums Leben gekommen ist, wenig Aufheben gemacht; er wurde nach Deutschland regelrecht
zurückgeschmuggelt.
Seit Anfang der 90er-Jahre sind 69 Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen ums Leben gekommen - Gott
sei Dank bisher keiner in einer Kampfsituation. Seit
1996 sind zwei deutsche Diplomaten und sechs Polizisten
im Ausland ums Leben gekommen. Im Rahmen von
Auslandseinsätzen von Durchführungsorganisationen der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit wurden seit 1996
25 Todesfälle bekannt. Unbekannt ist der Bundesregierung bisher die Zahl der bei humanitären und internationalen Organisationen tätigen, nicht entsandten Deutschen, die ums Leben gekommen sind, sowie die Zahl
der Nichtdeutschen, die bei deutschen humanitären Organisationen ums Leben gekommen sind.
Wenn Menschen im Rahmen des Friedensauftrags
des Grundgesetzes zu Tode kommen, sind Politik und
Gesellschaft eindeutig in der Pflicht, ihrer öffentlich und
beständig zu gedenken. Das geschieht, wenn etwas passiert ist, bisher nur in Momenten, einige Tage danach am
Flughafen Köln-Bonn. Die Voraussetzung eines solchen
dauerhaften Gedenkens ist eine breite Debatte. Minister
Jung hat mit seiner Initiative einen Anstoß hierfür
gegeben, aber durch die Art und Weise des Vorgehens
eine breitere Debatte und Initiative zunächst erschwert
und damit auch eine wirklich öffentliche Erinnerung.
Wir brauchen keine bloße „Ressort-Erinnerung“. Eine
öffentliche und gemeinsame Erinnerung an jene, die im
Rahmen des Friedensauftrages des Grundgesetzes und
im Dienste der Menschenwürde im Ausland ums Leben
gekommen sind, ist überfällig. Das sind neben Soldaten
auch Entwicklungshelfer, humanitäre Helfer, Polizisten
und Diplomaten. Angemessen dafür ist in der Tat nur ein
Ort im Umfeld des Bundestags.
Unverzichtbar für einen solchen Schritt in der deutschen Erinnerungskultur ist eine breite öffentliche Debatte. Wir glauben, mit unserem heutigen Antrag einige
gute Vorschläge gemacht zu haben. Nach meiner Einschätzung der heutigen Diskussion sowie der Diskussion
im Ausschuss ist diese Initiative nicht nur wünschenswert, sondern auch als gemeinsame Initiative möglich.
Es wäre eine Initiative zur Fortentwicklung einer demokratischen Erinnerungskultur, die den Friedensauftrag
des Grundgesetzes nicht ideologisch missbraucht, sondern ernst nimmt.
Ich danke Ihnen.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gert
Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich noch einmal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Dienstag zurückkommen. Falls die Koalitionsfraktionen und andere Befürworter der Einsätze in Afghanistan noch immer
triumphieren sollten, sage ich Ihnen nur eines: Dieses
Urteil war ein klassischer Pyrrhussieg. Der Kater nach
der Euphorie wird fürchterlich sein. Nicht der Linken
wurde eine schallende Ohrfeige versetzt,
({0})
wie der Herr Kollege Kolbow gesagt hat, sondern dem
gesamten Parlament und damit uns allen - Sie haben es
nur noch nicht gemerkt -; denn im Kern wurden wir alle
mit dem Spruch des Zweiten Senats kalt entmachtet. Ich
hoffe sehr, dass dies außer Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ und Christian Bommarius von der
„Berliner Zeitung“ möglichst schnell auch andere erkennen. Carte Blanche für die Exekutive bei Auslandseinsätzen, urteilt Prantl zutreffend. Dem Parlament und dem
Volk ist der Rechtsweg versperrt, sobald die Bundesregierung für das Etikett „Friedenseinsätze im euro-atlantischen Raum“ hier im Hause eine Mehrheit findet.
Nun zum sogenannten Ehrenmal; ich nenne es richtigerweise Mahnmal. Wir Abgeordnete sollten uns nicht
weiter zu Statisten degradieren lassen. Deshalb stimme
ich den vorliegenden Anträgen der Linken und der FDP
zu, dem Bundesminister der Verteidigung die Planungen
für ein Ehrenmal an seinem Dienstsitz zu entziehen. Der
Minister irrt nämlich. Nicht er, sondern wir, die Parlamentarier, tragen die Verantwortung für das Leben der
Soldaten. Hier ist auch der innere Zusammenhang mit
dem Urteil von Dienstag. In Anlehnung an den Leiter
der Gedenkstätte Deutscher Widerstand sage ich: Ein
Denkmal muss ein Stachel im Fleisch des Parlaments
sein. Es muss uns täglich daran erinnern, dass wir über
Leben und Tod entscheiden, wenn es um Auslandseinsätze geht. Es geht um ein Mahnmal, einen Ort der Mahnung zur Reflexion. Trauerfeiern, wie kürzlich in KölnWahn, möchte ich möglichst nicht mehr erleben.
Ich will auch nicht, dass der Minister mit seinen Plänen einer Gedenkstätte für alle seit 1955 im Dienst Gestorbenen eine unzulässige Kontinuität konstruiert. Die
frühere Bundeswehr war zur Verhinderung von Kriegen
da. Die heutige ist zur Kriegsführung da.
({1})
Die bisher 69 bei Auslandseinsätzen ums Leben gekommenen Soldaten sind Opfer dieser fatalen Politik.
Deswegen brauchen wir ein Mahnmal in unmittelbarer Nähe zum Reichstagsgebäude,
({2})
dort, wo - jedenfalls noch - die Entscheidungen fallen,
und zu dem die Öffentlichkeit stets freien Zugang hat. Es
muss ein Mahnmal sein, das ausschließlich die Namen
der Gefallenen aufführt, damit die Bevölkerung sehen
kann, wie viele Opfer eine Außenpolitik fordert, die sich
auf das Instrument Bundeswehr stützt.
({3})
Danke schön. Im Übrigen wünsche ich Ihnen noch
schöne Sommerferien und gute Erholung.
({4})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungs-
punkt 32 a. Beschlussempfehlung des Verteidigungsaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Planungen für Bundeswehr-Ehrenmal am Bend-
lerblock aussetzen - Würdigung der Toten in unmittelba-
rer Reichstagsnähe“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5932, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5593 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der Fraktion Die Linke bei Ablehnung der
Fraktion der FDP und Enthaltung der Grünen angenom-
men.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Tagesordnungspunkt 32 b sowie Zusatzpunkt 16. In-
terfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5891 und 16/5894 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/5891 soll ebenfalls fe-
derführend im Verteidigungsausschuss beraten werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a und 33 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen
ausschließen
- Drucksache 16/5429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({1}), Klaus Ernst, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Zwangsverrentung stoppen - Beschäftigungsmöglichkeiten Älterer verbessern
- Drucksache 16/5902 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Irmingard ScheweGerigk, Gerald Weiß ({3}), Heinz-Peter
Haustein, Anton Schaaf und Volker Schneider ({4}) haben ihre Reden zu diesem Tagesordnungs-
punkt zu Protokoll gegeben1). Damit erübrigt sich eine
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/5429 und 16/5902 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 34:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({5}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping,
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
1) Anlage 3
Schutz des Welterbes im Konflikt um die
Waldschlösschenbrücke in den Vordergrund
stellen
- Drucksachen 16/4411, 16/5712 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Christoph Waitz
Katrin Göring-Eckardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir in der Arbeitsgruppe
Kultur und Medien der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
sind der Meinung, dass der Welterbetitel nicht nur ein
schönes Etikett ist.
({0})
Es geht um die Rechtspflicht zur pfleglichen Behandlung eines überlieferten und herausragenden Kulturgutes.
Die Dresdner haben die umsichtige und pflegliche
Behandlung ihres Erbes in all den Jahrzehnten, auch in
den letzten Jahren, meisterhaft realisiert.
({1})
Sie machen alles sehr gründlich, und es wird gut. Im
Streit um die Waldschlösschenbrücke sind sie ebenfalls
sehr gründlich, und wir hoffen, dass auch er gut enden
wird.
Die Besucher von Dresden interessieren sich zunächst
einmal überhaupt nicht für das Völkerrecht und die Entscheidungen der Gerichte, wenn sie zum Beispiel am berühmten Barockufer flanieren. Sie vergleichen die an
den Straßenrändern aufgestellten Bilder der zerstörten
Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem, was sich ihnen heute zeigt, und erfreuen sich daran.
({2})
Das gesamte Ensemble rund um die wieder aufgebaute
Frauenkirche, die Möglichkeit der Elbe, über die Elbwiesen „atmen“ zu können und nicht in Betonufern eingezwängt zu sein, und vieles andere mehr - das ist es,
worauf die Dresdner stolz sind und was die Besucher bewundern.
Niemand bezweifelt die Tatsache, dass auch eine zukunftsweisende Flussquerung gebraucht wird. Die Kunst
der nächsten Stunden und Tage besteht darin, den vorliegenden Kompromiss so in das gültige Planfeststellungsverfahren einzubringen, dass sowohl dem Bürgerentscheid als auch der Forderung der UNESCO Rechnung
getragen wird und die Brücke endlich gebaut wird,
({3})
ohne dass noch mehr Zeit verloren geht und das Vorhaben letzten Endes wegen der Verzögerung nicht zustande kommt. Das würde dem Bürgerentscheid widersprechen. Ob das gelingt oder eine Wunschvorstellung
bleibt, sollte nicht nur Völkerrechtler, Gerichte, Planer
und uns Kulturpolitiker in Spannung halten, sondern
auch eine Spannung hervorbringen, die zur Zusammenarbeit zwingt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Mücke?
Gerne.
Frau Kollegin Michalk, Sie haben gerade gesagt, es
komme auf die nächsten Stunden und Tage an, um einen
Kompromiss zu erreichen, der den vorliegenden Bürgerentscheid mit dem Erhalt des Welterbetitels in Einklang
bringt. Sie haben dazu ausgeführt, dass es möglich sei,
eine andere Brücke zu planen, um eine Einigung mit der
UNESCO herbeizuführen. Habe ich das richtig verstanden?
Ich habe ausdrücklich gesagt, dass dies im Rahmen
des bestehenden, gültigen Planfeststellungsverfahrens
möglich sein muss. Ob das gelingt, ob das Realität wird
oder ob das nur eine Wunschvorstellung ist, weiß ich
nicht. An dieser Stelle geht meine Rede weiter.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Mücke?
Gerne.
Bitte, Herr Mücke.
Ich habe selber an der Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees in Christchurch teilgenommen und habe
die Diskussion verfolgen können. Die überwiegende
Mehrzahl der dort versammelten 21 Mitgliedstaaten hat
über den vorgelegten alternativen Brückenentwurf gar
nicht diskutiert, sondern hat in einer oberflächlichen Betrachtung einem Tunnel den Vorzug gegeben. Nun ist
aber klar, dass ein Tunnel dazu führte, dass ein neues
Planfeststellungsverfahren notwendig wäre. Wo sehen
Sie die Möglichkeit, einen Kompromiss mit der
UNESCO zu finden, wenn sich die Bürger für eine Brücke entschieden haben, während die UNESCO eigentlich einen Tunnel möchte?
Lieber Herr Kollege, die Tragik in diesem Spannungsfeld ist, dass eine Tunnellösung bei dieser Konstellation nicht möglich und aus technischen Gründen vor
Ort nicht praktikabel ist. Deshalb diskutieren wir über
eine Brücke. Wenn wir nicht zusammenkommen, ist das
wirklich tragisch.
Ich habe von Spannung gesprochen. Bürgerentscheide vor Ort sind nicht gering zu schätzen. Das haben
wir hier im Haus wiederholt festgestellt. Wir in den
neuen Bundesländern kennen sie erst seit 17 Jahren. Die
Freiheit, Bürgerentscheide durchzuführen, wurde hart
erkämpft. Das gehört zu unserer Zivilisation genauso
wie internationale Abkommen zum Schutz von Kulturgütern; diese sind ein Fortschritt. Wir dürfen Abkommen, die wir unterzeichnet haben, nicht leichtfertig über
Bord werfen
({0})
nach dem Motto: Wir sparen uns die Zuschüsse, und
Dresden verliert den Welterbetitel. - Genau das ist der
Spannungsbogen. Wir versuchen seit Monaten, die
Spannung zu kanalisieren. Es ist tragisch, dass dieses
Spannungsverhältnis fortbesteht.
Die UNESCO ist jedoch nicht absolut; das kam vielleicht schon in meiner Antwort zum Ausdruck. Sie darf
die legitimen Bedürfnisse der Menschen vor Ort nicht
einseitig dominieren.
({1})
Die Dresdner und die Pendler stehen täglich im Stau,
nicht die Delegierten der UNESCO. Denkmalschutz
bedeutet nicht Stillstand, sondern schließt moderne Entwicklungen ein. Das praktiziert Deutschland als Geburtsland der Denkmalpflege an vielen Stellen eindrucksvoll.
Nun liegt der Vorschlag für eine Lösung auf dem
Tisch. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern endlich
um das Wie. Es verhält sich wie in einem Ehestreit:
Wenn sich die Partner im Streit hochgeschaukelt haben,
wissen sie eigentlich gar nicht mehr - das wollen sie
auch nicht wahrhaben -, wer eigentlich die explosive
Stimmung verursacht hat; das ist schade. Sie müssen
dann Luft holen und innehalten. In der Ehe ist der Kitt
die Liebe. Der Kitt im Streit um eine Brücke und den
Welterbetitel ist meiner Meinung nach die Vernunft,
nicht die Rechthaberei. Da ich weiß, dass die Sachsen
vernünftige Leute sind, ist mein Optimismus ungebrochen. Ich vertraue darauf, dass vernünftige Leute vernünftige Maßnahmen realisieren werden.
Viele fahren in den Sommerferien nach Dresden. Ich
wünsche ihnen dort viel Freude und einen schönen
Ferientag.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Christoph Waitz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Das UNESCO-Welterbekomitee hat auf seiner Sitzung in Christchurch eine klare Frist gesetzt. Bis
zum 1. Oktober soll eine Alternative zu der geplanten
Waldschlösschenbrücke vorgelegt werden. Hält die Stadt
Dresden jedoch - gezwungenermaßen - an der aktuellen
Brückenplanung fest, ist der Welterbetitel verloren.
({0})
- Vielen Dank, Herr Tauss. - Dies ist die Ausgangslage.
Zur Ausgangslage gehört aber auch, dass die maßgeblichen deutschen Gerichte die Umsetzung des Bürgerentscheids vom Februar 2005 zum Bau der Brücke bestätigt haben. Die Rechtslage ist also eindeutig.
({1})
Die oder - präziser gesagt - eine Brücke muss gebaut
werden. Dazu verpflichtet der Bürgerentscheid. Es sollte
selbstverständlich sein, dass alle Beteiligten diese
Rechtslage akzeptieren.
Allerdings steht der Bau dieser Brücke der Auffassung der UNESCO entgegen, die die aktuelle Brückenplanung mit dem Welterbestatus des Dresdner Elbtals für
unvereinbar hält. Die Bundesrepublik Deutschland hat
sich in einem völkerrechtlichen Vertrag verpflichtet, die
Welterbestätten gemäß der UNESCO-Welterbekonvention zu schützen. Über das Lindauer Abkommen sind
alle Länder - das betrifft auch den Freistaat Sachsen - an
diese völkerrechtliche Verpflichtung gebunden. Auch
wenn die Gerichte eine verpflichtende Wirkung der
Welterbekonvention für die Stadt Dresden abgelehnt haben, war den Dresdnern immer klar - es sollte ihnen zumindest klar gewesen sein -, dass die Eintragung einer
Region oder eines Ortes nicht nur mit einer Ehre und
Auszeichnung verbunden ist, sondern, wie in diesem
Falle, eine besondere Verpflichtung und eine Teilaufgabe der Planungssouveränität bedeutet.
Dass der Verlust des Welterbetitels weit über Dresden
hinaus für die Bundesrepublik ein Schaden wäre, brauche ich nicht zu betonen. Es sieht in dieser Konstellation
nach einem klassischen Dilemma aus: entweder die Brücke oder das Weltkulturerbe. So ist es aber nicht zwangsläufig. Ich bin der Überzeugung, dass ein Ausweg aus
diesem Dilemma möglich ist, wenn es den politischen
Willen dazu gibt, und zwar unter drei Voraussetzungen.
Erstens. Die Brücke muss gebaut werden. Zweitens. Die
Brücke, die gebaut werden muss, muss anders sein als
die derzeit geplante. Die dritte Voraussetzung ist - das
ist wahrscheinlich die Voraussetzung, die am schwersten
zu erfüllen ist -, dass alle Beteiligten nach vorne
schauen müssen und sich nicht daran festbeißen dürfen,
wer im Vorfeld Fehler gemacht hat und wer vermeintlich
der Schuldige ist.
Meiner Ansicht nach ist es mittlerweile irrelevant,
welche Fehler in der Vergangenheit begangen wurden.
Ich bin auch der Überzeugung, dass nicht nur in Dresden, sondern auch auf der Seite der UNESCO einiges
schiefgelaufen ist. Auch wir sind nicht davon entbunden,
uns selbst in die Pflicht zu nehmen; denn die früheren
Bundesregierungen und den Deutschen Bundestag trifft
in diesem Fall eine Mitschuld. Wir müssen uns angesichts der aktuellen Situation eingestehen, dass es ein
Versäumnis war, die UNESCO-Welterbekonvention
nicht in nationales Recht umzusetzen. Das ist eine Aufgabe, die wir nun dringend angehen müssen. Aber diese
Fragen zählen im Moment nicht.
Es wird behauptet, dass die Umsetzung des Bürgerentscheids zum Bau der Brücke bis zum 27. Februar des
folgenden Jahres begonnen sein muss. An diesem Tag
erlischt die Bindungswirkung des Bürgerentscheids.
({2})
Bis dahin lässt sich aber realistisch betrachtet ein neues
Planfeststellungsverfahren oder auch ein Planänderungsverfahren für eine andere Brücke an derselben Stelle
nicht zum Abschluss bringen. Das ist das entscheidende
Problem. Wie lösen wir diesen Konflikt? Es gibt eine
Möglichkeit, eine bindende Vereinbarung zu treffen, mit
der die Beteiligten die Bindungswirkung des Bürgerentscheids aufrechterhalten. Eine solche Möglichkeit
besteht im Rahmen eines Verwaltungsvertrags, den die
Stadt Dresden mit dem zuständigen Regierungspräsidium vereinbaren müsste und mit dem die Bindungswirkung des Bürgerentscheids ausreichend verlängert werden könnte, um allen Beteiligten Zeit zu verschaffen, um
eine planerische Lösung dieses Problems zu finden.
Man muss den Kompromiss aber auch wollen. An
dieser Kompromissbereitschaft zweifle ich mit Blick auf
die Regierung des Freistaates Sachsen. Problematisch ist
in meinen Augen das Verhalten des sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt. Er hat als Ministerpräsident die Verpflichtung, sich an die völkerrechtliche Bindung, die die Bundesrepublik Deutschland eingegangen
ist, zu halten. Er müsste vermittelnd wirken, schürt stattdessen aber mit seiner Haltung den Streit.
({3})
Wo ein politischer Wille ist, da ist ein Weg. Wenn die
politisch Verantwortlichen kompromissbereit sind, dann
ist es möglich, eine Brücke am Dresdner Waldschlösschen zu bauen und zugleich den Welterbetitel zu erhalten. Genau das müssen wir erreichen.
Vielen Dank.
({4})
Nun hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute über einen Antrag abzustimmen, den
meine Fraktion vor zehn Monaten in dieses Hohe Haus
eingebracht hat; leider ist er heute ganz und gar nicht
überholt. Im Gegenteil: Jetzt geht es um unsere letzte
Chance, durch bundespolitisches Handeln im Streit um
den Brückenbau in Dresden eine nationale Blamage zu
verhindern.
Auf der UNESCO-Konferenz in Christchurch wurde
ein Fall der Kulturnation Deutschland verhandelt. Nicht
zufällig war in Neuseeland immer von Deutschland die
Rede, wenn Dresden gemeint war. Insofern hat das Komitee uns drei Monate Zeit gegeben, eine Alternative für
die von der UNESCO nicht akzeptierte Waldschlösschenbrücke vorzulegen.
Im Gegensatz zu dem, was wir schon alles über die
UNESCO hören mussten, nämlich sie sei arrogant, stur
und zu keinerlei Kompromissen bereit, hat sie klar signalisiert: Eine Elbquerung und der Erhalt des Weltkulturerbetitels sind möglich. Beides ist zu haben; es muss
jetzt nur gewollt werden. Am 1. Oktober läuft die Frist
ab.
Deshalb müssten Sie unserem Antrag heute eigentlich
zustimmen, in dem nichts anderes gefordert wird, als unverzüglich Gespräche zwischen Bund, Land und Kommune anzustreben, um eine Alternativlösung zu finden.
Bedenken Sie die Wirkung, wenn Sie, das Parlament, zu
dieser Forderung heute einfach Nein sagen. Es kann
doch dem Rest der Republik nicht egal sein, wie in Dresden und Sachsen bestimmte Leute - das sage ich hier
ganz bewusst; der Kollege von der FDP hat den Ministerpräsidenten genannt - mit dem kostbaren Gut „Weltkulturerbe“ umgehen.
({0})
Natürlich wissen wir, dass sich eine Mehrheit 2005 in
einem Bürgerentscheid für jenen Brückenentwurf ausgesprochen hat, den die UNESCO als mit dem Weltkulturerbe unvereinbar eingestuft hat. Wir wissen aber auch,
dass den Bürgern damals nicht bekannt war, dass sie mit
ihrer Entscheidung auch für oder gegen den Erhalt des
Titels „Weltkulturerbe“ für das Elbtal und das spektakuläre Stadtpanorama stimmen würden.
({1})
Natürlich wissen wir auch, wie die Gerichte gesprochen
haben, meinen aber, dass sich derartige Probleme nicht
allein vor Gericht lösen lassen.
({2})
Mediation in einer nationalen Kulturfrage muss möglich
sein. Das, was der amtierende Dresdner Bürgermeister
Lutz Vogel dazu gesagt hat, ist gerade schon zitiert worden: Wenn ein politischer Wille vorhanden ist, gibt es
natürlich auch einen Weg.
Denken Sie bitte an die vielen Bürgerinnen und Bürger Dresdens, die sich seit Monaten für eine Alternativlösung einsetzen. Was haben sie nicht alles gemacht: Sie
haben demonstriert, Unterschriften gesammelt, öffentlich appelliert, um Gehör gebeten, einen Architekturwettbewerb durchgeführt, gewissermaßen alles in ihrer
Macht - oder auch Ohnmacht - Stehende getan. Bei einer Repräsentativumfrage im Auftrag der „Sächsischen Zeitung“ haben sich in der vorigen Woche 65 Prozent der Befragten gegen den sofortigen Start des Baus
der geplanten Brücke ausgesprochen. Diese Bürgerinnen
und Bürger Dresdens wollen den Weltkulturerbetitel
nicht verlieren und erwarten Hilfe aus dem Parlament
und der Regierung für Dresden. - Das ist die eine Sache.
Die andere Sache geht weit über Dresden und Sachsen hinaus. Wenn es uns nämlich insgesamt nicht gelingt, unser kulturelles Erbe zu schützen, dann gefährden
wir vieles: Wir gefährden unsere Chancen für andere
deutsche Weltkulturerbestätten. Wir gefährden unsere
Glaubwürdigkeit als reiche Kulturnation gegenüber den
vielen armen, für die es unendlich mühevoller ist, ihre
Denkmäler zu erhalten. Schließlich gefährden wir unseren Ruf als völkerrechtlicher Partner im Weltverbund
UNESCO.
({3})
Das wollen wir nicht. Das wollen Sie doch alle nicht.
Insofern müsste das alles dazu führen, dass Sie sich
unserem Anliegen anschließen und dem Antrag zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Frau Kollegin, ich wollte Sie unterbrechen; aber Sie
haben es offensichtlich nicht registriert. - Die Redezeit
von Frau Jochimsen ist allerdings zu Ende, Herr Mücke.
Ich bitte um Verständnis.
Da die Kollegin Katrin Göring-Eckardt und der Kol-
lege Wolfgang Thierse ihre Reden zu Protokoll gegeben
haben1), erteile ich nun als letztem Redner in dieser Debatte das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem ich bei der ersten Debatte zu diesem
Antrag sehr temperamentvoll auftreten musste, kann ich
mich heute außerordentlich versöhnlich zeigen; denn die
Angelegenheit, über die wir hier debattieren, ist ent-
schieden. Die Frist für den Einspruch gegen die Ent-
scheidung der Vergabekammer ist vorgestern abgelau-
fen. Die Baulose sind zugeteilt - bis auf eines, für das
noch eine Entscheidung des OVG Bautzen abgewartet
1) Anlage 4
wird. Die Baustellen werden unverzüglich eingerichtet.
Sobald das geschehen ist, beginnt der Bau der planfestgestellten Brücke.
({0})
Das zur gegenwärtigen Situation.
Die Rechtsgrundlage für diesen Ablauf ist so sonnenklar, wie es keine andere Rechtslage in Deutschland
überhaupt sein kann.
Unsere Rechtsgrundlage ist ein gültiger Bürgerentscheid. Der Stadtrat von Dresden weigert sich kontinuierlich, diesen Bürgerentscheid umzusetzen. Deshalb
vollzieht das Regierungspräsidium nun eine Ersatzvornahme. Diese Ersatzvornahme wurde vom OVG Bautzen, vom Sächsischen Verfassungsgericht und vom
Bundesverfassungsgericht als rechtmäßig bestätigt.
Demzufolge ist es eine Aufforderung zum Rechtsbruch,
wenn man sagt, diese Ersatzvornahme dürfe nicht ausgeführt werden.
({1})
Lassen Sie mich jetzt noch auf ein paar hier geäußerte
Einwände eingehen.
Frau Jochimsen, Sie sagten, den Bürgern sei bei dem
Volksentscheid nicht bekannt gewesen, dass sie das
Weltkulturerbe aufs Spiel setzen.
({2})
Darf ich Ihnen dazu etwas entgegnen? Ich weiß nicht, ob
Ihnen bekannt ist, dass, als die Stadt Dresden ihre Bewerbung zur Aufnahme in die Weltkulturerbeliste abgegeben hat, bereits ein rechtskräftiger Stadtratsbeschluss
vorlag, den sie auch der UNESCO mitgeteilt hat und aus
dem die Absicht, genau an dieser Stelle genau diese Brücke zu bauen, hervorging.
({3})
Auf der Basis dieses Antrags ist 2004 die Zugehörigkeit
zum Weltkulturerbe erklärt worden.
Auf Intervention des New Yorker Nobelpreisträgers
Günter Blobel hin hat die UNESCO bei gleicher Rechtslage - der Volksentscheid hatte die ursprüngliche
Rechtslage, die durch eine andere Mehrheit im Stadtrat
zwischenzeitlich ausgehebelt worden war, lediglich wiederhergestellt - im Jahr 2006 der Stadt Dresden gedroht,
ihr diesen Titel zu entziehen und man hat das Dresdner
Elbtal auf die Rote Liste gesetzt. Mit anderen Worten:
Die UNESCO und niemand anders war es, wer seine
Meinung geändert hat.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Mücke?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Vaatz, ich halte in meinen Händen das
Abstimmungsbuch zum Bürgerentscheid. Dieses Abstimmungsbuch umfasst 16 Seiten. Die Argumente der
Gegner und der Befürworter des Brückenbaus füllen jeweils acht Seiten. Diese Broschüre ist in den Briefkasten
jedes Dresdener Haushalts geworfen worden.
Das bestätige ich.
Auch die Gegner der Waldschlösschenbrücke haben
in diesem Abstimmungsbuch nicht festgehalten - ich
habe es gerade noch einmal nachgelesen -, dass die Entscheidung für den Bau der Brücke den Verlust des Welterbetitels nach sich zieht. Daraus schließe ich, dass sich
auch die Gegner des Baus gar nicht vorstellen konnten,
dass die UNESCO ihre Meinung zum Brückenbau ändern könnte. Wie sehen Sie diesen Sachverhalt?
Die Gegner wie die Befürworter der Brücke sind
nicht davon ausgegangen, dass eine Weltorganisation
wie die UNESCO sich, wie man im juristischen Sprachgebrauch sagt, „treuwidrig“ verhalten könnte.
({0})
Dieses Verhalten der UNESCO ist der eigentliche Kritikpunkt, der in Dresden so unermesslich viel Unheil angerichtet hat. Das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Jochimsen?
Ja, gerne.
Herr Abgeordneter, welchen Begriff haben Sie gerade
in Bezug auf die UNESCO angewandt?
„Treuwidriges“ Verhalten.
- „Treuwidrig“. Ich weise diesen Begriff weit zurück.
({0})
Ja, das nehme ich zur Kenntnis, Frau Jochimsen!
Ich meine, die Kollegen der FDP haben vorhin gesagt
Frau Kollegin, Sie wollten eine Frage stellen.
Was heißt „treuwidrig“? Woher haben Sie die Beweise, dass sich die UNESCO „treuwidrig“ verhalten
hat?
Die UNESCO hat sich so verhalten, weil sie im
Jahre 2004 im Wissen um die Absicht der Stadt Dresden,
diese Brücke zu bauen - die Umsetzung dieses Vorhabens war rechtskräftig -, den Welterbetitel erteilt und
diesen Titel dann auf Intervention eines einzelnen Herrn
bei gleicher Rechtslage wieder infrage gestellt hat. Das
nenne ich „treuwidriges“ Verhalten.
({0})
Herr Kollege, die Uhr ist angehalten. - Ich frage Sie,
ob Sie eine weitere Zwischenfrage von Frau Jochimsen
zulassen?
Ausnahmsweise, Frau Präsidentin.
Sind Sie ganz sicher, dass der Grund dafür, dass man
gedroht hat, diesen Titel abzuerkennen, nicht ist, dass
der UNESCO nicht übersetzte Unterlagen, unvollständige Unterlagen oder beim falschen Gremium eingereichte Unterlagen vorlagen?
Sie wissen ganz genau, dass eine Person bei der
UNESCO ausgereicht hat, zu sagen: „Jetzt stellt ihr sie
auf die Rote Liste“? Das wissen Sie genau?
Jawohl, Frau Professor Jochimsen, das weiß ich genau. Ich möchte ergänzen: Natürlich ist es so, dass jede
Kommune einen Weltkulturerbeantrag stellen kann,
wenn sie meint, dass sie weltkulturerbewürdig ist. Die
UNESCO kann aber keineswegs bei der Aufnahme in
die Weltkulturerbeliste eine Automatik gelten lassen.
Das heißt: Die Denkmalschutzorganisation ICOMOS
wird in diesem Fall beauftragt, den Antrag auf Aufnahme in die Weltkulturerbeliste zu evaluieren. Das bedeutet, dass jedem einzelnen Punkt, der dort angegeben
wird, auf den Grund gegangen werden muss, ob er zutreffend ist oder nicht. Der zuständige Gutachter von
ICOMOS, Herr Yokilehto aus Finnland, ist persönlich
vom damaligen Landeskonservator Glaser an die Stelle
geführt worden, wo die Brücke gebaut werden soll. Dort
sind ihm sämtliche Fachfragen beantwortet worden.
Darauf hat er sein befürwortendes Gutachten aufgebaut,
Frau Professor. Das ist dazu zu sagen.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?
Selbstverständlich.
Bitte sehr.
Herr Kollege Vaatz, es ist ein ernstes Thema. Ich bedaure sehr, dass Sie eingangs Ihrer Ausführungen mit
dem „Augen zu und durch“ ganz offensichtlich wieder
eine Chance für den Freistaat Sachsen vertan haben, zu
Kompromissen zu kommen. Sie haben sich auf die
UNESCO bezogen. Als Vorstandsmitglied der deutschen
UNESCO-Kommission sage ich: Ihr Vorwurf der Treuwidrigkeit ist schlicht inakzeptabel an dieser Stelle.
({0})
Es gab mit „up“ und „down“ in der Tat einen Übersetzungsfehler.
({1})
- Ihr solltet bei diesen Dingen ein bisschen vorsichtiger
sein, wenn ihr über Kulturpolitik weiter mitreden wollt.
Es ist in der Tat so, dass es einen Übersetzungsfehler
gegeben hat. Wissen Sie aber, dass zu keinem Zeitpunkt
dieser - durchaus bekannte - Übersetzungsfehler mit
„up“ und „down“ betreffend den „river“ von den Planungsbehörden in irgendeiner Form richtig gestellt worden ist, sodass dieses Missverständnis in der Tat zu einer
Fehlbeurteilung der UNESCO geführt hat? Insofern
kann dieser Fehler nicht in der Form, wie von Ihnen charakterisiert, der UNESCO vorgeworfen werden. Würden
Sie mir da zustimmen? Ich fürchte nein.
Die Missverständnisse, die im internen Bearbeitungsverkehr der UNESCO aufgetreten sind, hat die
UNESCO selber zu vertreten. Mehr kann ich dazu nicht
sagen.
({0})
Ich würde jetzt gerne fortfahren, denn ich habe gegenüber Herrn Waitz noch ein Thema zu klären. Lieber Herr
Waitz, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der
UNESCO-Beitritt auf eine Ratifizierung durch den
Deutschen Bundestag zurückzuführen ist. Sie wissen
aber, dass unsere Verfassung für solche Fälle ein Transformationsgesetz vorsieht. Das heißt, das Ganze muss in
nationalstaatliches Recht umgesetzt werden. Es ist wirklich tragisch, dass das bisher nicht geschehen ist.
({1})
- Verehrter Herr Kollege Tauss, es ist anders.
({2})
Das Problem ist Folgendes: Die Argumentation geht
davon aus, dass mit der Antragstellung auf Aufnahme in
die Weltkulturerbeliste ein Souveränitätsverzicht der
Stadt Dresden geleistet worden wäre.
({3})
Dieser Souveränitätsverzicht der Stadt Dresden kann
nur von einer Institution geleistet werden, die diese Souveränität hat.
({4})
Wenn der Stadtrat lediglich, ohne das Volk zu befragen,
({5})
Souveränität nach außen abtritt, dann ist ein solcher Antrag, wenn es die direkte Demokratie gibt und wenn über
diesen Sachverhalt direktdemokratisch entschieden werden darf, schlichtweg nicht zulässig.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Herr Kollege
Mücke. Lassen Sie sie zu?
({0})
Bitte.
Herr Kollege Vaatz und liebe Kollegen, das ist meine
letzte Frage. Dann bin ich auch schon fertig. Mit Ihrer
Genehmigung, Frau Präsidentin, möchte ich kurz aus
dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum
Thema völkerrechtliche Einordnung zitieren:
Die Welterbekonvention, in der die Idee eines internationalen Kulturgüterschutzes zum Ausdruck
kommt, bietet nach Konzeption und Wortlaut keinen absoluten Schutz gegen jede Veränderung der
eingetragenen Stätten des Kultur- und Naturerbes.
Die Vertragsstaaten des Übereinkommens haben
ausdrücklich die Souveränität der Staaten, in deren
Hoheitsgebiet sich die geschützten Stätten befinden, und die bestehenden Eigentumsrechte anerkannt … die Erfüllung des Schutzauftrages ist zuvörderst Aufgabe der Vertragsstaaten;
Herr Kollege, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Ich komme sofort dazu.
der Schutzauftrag konkretisiert sich in seiner internationalen Dimension in der „Einrichtung eines
Systems internationaler Zusammenarbeit …
({0})
Herr Kollege, ich muss Sie unterbrechen. Sie merken,
dass viele Kollegen andere Termine haben. Sie haben
das Recht zur Frage. Aber ich bitte Sie wirklich, Ihre
Frage konzentriert zu formulieren.
Für mich ist die Frage, ob die Ausführung des Bundesverfassungsgerichts nur belangloses Richtergeschwätz
ist oder ob das eine verbindliche rechtliche Auslegung
zur völkerrechtlichen Einordnung dieser Frage ist.
({0})
Es scheint in diesem Raum Kollegen zu geben, die die
Auffassung tragen, die Sie gerade als eine mögliche dargestellt haben. Ich gehöre nicht dazu. Für mich ist das
eine verbindliche Feststellung des höchsten deutschen
Gerichts.
({0})
Letzte Bemerkung. Uns, den Brückenbefürwortern,
und der Sächsischen Landesregierung wird in aller Regel
Kompromissunwilligkeit vorgeworfen.
({1})
Ich möchte ergänzend dazu noch Folgendes sagen: Als
die UNESCO begonnen hat, Anstoß an der Brücke zu
nehmen, hat sie eine Befassung mit diesem Thema bei
ihrer Vollversammlung in Vilnius in Aussicht gestellt.
Die Stadt Dresden hat daraufhin, weil sie vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen wollte, weil sie Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft zeigen wollte, den eigentlich schon beschlossenen Baubeginn im März
ausgesetzt und gesagt: Wir warten bis zu dem Beschluss
in Vilnius.
Daraufhin hat die Stadt Dresden in Vilnius Gelegenheit gehabt, ihre Vorstellungen vorzutragen. Der Bürgermeister Feßenmayr bekam ganze vier Minuten, um die
Belange der Stadt vorzutragen. Daraufhin wurde beschlossen, Dresden auf die Rote Liste zu setzen.
Wer ist hier eigentlich stur?
({2})
Wer ist störrisch?
({3})
Wer ist nicht kompromissbereit?
({4})
Meine Damen und Herren, bitte überlegen Sie das in
Ruhe.
Wenn die Brücke fertig ist, lade ich Sie ein, zur Einweihungsfeier zu kommen. Ich hoffe, wir alle erleben
das noch.
Vielen Dank.
({5})
Ich wünsche allen natürlich noch eine angenehme
Sommerpause, natürlich auch Ihnen, Frau Präsidentin.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich spüre die Nervosität und weiß, dass viele von Ihnen noch andere Termine haben, dass Züge und Flugzeuge nicht auf jeden
einzelnen warten. Gleichwohl muss ich Ihnen sagen: Es
liegt noch die Bitte einer Kollegin zu einer Kurzintervention vor. Wir alle sollten ihr noch die Möglichkeit geben, diese vorzutragen, und wir sollten ihr auch zuhören.
({0})
Je konzentrierter wir die letzten Minuten sind, desto
schneller geht es.
Frau Kollegin Volkmer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Entgegen den Darlegungen von Herrn Vaatz möchte ich Folgendes noch einmal ganz deutlich machen: Die Dresdener haben beim
Bürgerentscheid nicht gewusst, dass durch ihre Stimme
für die Brücke der Welterbetitel für Dresden verloren
geht.
({0})
- Sie haben das in einem Satz gesagt. - Das zeigt sich
ganz klar daran, dass so bekannte Dresdner wie Ludwig
Güttler mehrfach erklärt haben, dass sie heute ein anderes Abstimmungsverhalten zeigen würden als damals
beim Bürgerentscheid.
65 Prozent der Dresdner haben sich in der vorigen
Woche ganz klar gegen den sofortigen Baubeginn
({1})
und gegen den Bau dieser Brücke ausgesprochen. Da
muss man schon fragen: Wer handelt hier gegen den
Willen der Dresdner Bürger?
({2})
Der Stadtrat mit Sicherheit nicht; denn dieser Stadtrat
hat die Interessen der Bürger vertreten. Gegen den Willen der Dresdner Bürger handelt der Ministerpräsident
Milbradt. Gegen den Willen der Dresdner Bürger handelt das Regierungspräsidium in Dresden.
Das ist nicht nur gegen den Willen der Dresdner Bürger, sondern auch gegen die Interessen Deutschlands;
denn es ist eine Schande, dass dann, wenn von der
UNESCO zum ersten Mal ein Welterbetitel aberkannt
wird, gerade eine deutsche Stadt betroffen ist, noch dazu
eine sächsische Stadt, noch dazu Dresden, da Dresden
immer gern als die Kulturhauptstadt dastehen möchte.
({3})
Jetzt sehe ich keine Wortmeldungen mehr. Damit ist
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Schutz des Welterbes im Konflikt um die Waldschlösschenbrücke in den Vordergrund stellen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5712, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/4411 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
bei Ablehnung durch die Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Sie haben sehr
lange ausgeharrt. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Sie haben sich eine angenehme Sommerpause verdient. Ich
wünsche Ihnen erholsame Tage.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf Dienstag, den 11. September 2007, 10 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.