Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße alle anwesenden
Kolleginnen und Kollegen herzlich; die Lage ist ja ziemlich übersichtlich.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Personalrahmenkonzept der
Bundesregierung zu zentralen Fragen der internationalen Personalpolitik.
Dazu wird der Staatsminister im Auswärtigen Amt
Günter Gloser einen einführenden Bericht vortragen. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Kabinett hat heute Morgen das Personalrahmenkonzept der Bundesregierung zu zentralen Fragen der internationalen Personalpolitik beschlossen.
Dieses Konzept ist im Laufe der letzten 18 Monate unter
Federführung des Auswärtigen Amtes gemeinsam im
Ressortkreis entwickelt und verhandelt worden. Das Personalrahmenkonzept definiert - natürlich im Rahmen
der jeweiligen personalwirtschaftlichen Möglichkeiten
und dienstlichen Erfordernisse - einen für alle Ressorts
anzustrebenden, gemeinsamen Mindeststandard für die
zentralen, den öffentlichen Dienst betreffenden Fragestellungen in der internationalen Personalpolitik.
Ich darf einige Regelungsinhalte dieses Konzeptes
vorstellen: erstens, die Umsetzung des Spiralmodells
- das betrifft den Wechsel zwischen nationaler und internationaler Karriere -, zweitens, die systematische Erfassung strategischer Zielpositionen in internationalen
Institutionen und die Erfassung geeigneter deutscher Bewerberzielgruppen, drittens, die Systematisierung der
Aus- und Fortbildung zum Erwerb internationaler Kompetenzen, viertens, die Ausdehnung der Nachwuchsförderung für internationale Karrieren und, fünftens, die
Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für
deutsche internationale Bedienstete.
Zweck des Personalrahmenkonzepts ist nicht, das Rad
neu zu erfinden. Vielmehr ist es der Versuch, aufbauend
auf den bisherigen Bemühungen und Vorschlägen nicht
zuletzt dieses Hauses festzuschreiben, was im Sinne eines Mindeststandards für alle Ressorts machbar ist und
kurzfristig realisiert werden kann. Dieses Konzept enthält den Auftrag an die Ressorts, die Zusammenarbeit
mit den nichtstaatlichen Sektoren - vor allem mit der
Privatwirtschaft, aber auch mit den wissenschaftlichen
Institutionen - im Bereich der internationalen Personalpolitik zu intensivieren. Der Ressortkreis beabsichtigt
- das ist der nächste Schritt - die Erarbeitung eines Konzepts zur Systematisierung der Zusammenarbeit mit den
nichtstaatlichen Sektoren zur Stärkung der deutschen
Präsenz in internationalen Organisationen und europäischen Institutionen.
Mit dem Kabinettsbeschluss hat sich die Bundesregierung das Ergebnis der gemeinsamen konzeptionellen Bemühungen der Ressorts zu eigen gemacht. Das
Kabinett ist sich darin einig, dass die Umsetzung des
Konzepts und die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen zu gegebener Zeit evaluiert werden sollen.
Mit der Billigung dieses Konzepts entspricht die Bundesregierung der langjährigen Forderung des Bundestages, eine langfristig angelegte deutsche Personalstrategie für eine verbesserte Positionierung deutschen
Personals in internationalen Organisationen auszuarbeiten und umzusetzen. Viele Forderungen aus dem Antrag
der beiden Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Deutsche
Personalpräsenz in internationalen Organisationen im
nationalen Interesse konsequent stärken“, den wir am
Freitag in diesem Haus diskutieren werden, haben in diesem Personalrahmenkonzept bereits Berücksichtigung
gefunden.
Das Personalrahmenkonzept ist das eine. Ich darf an
dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass die Umsetzung
dieses Konzepts für die Zukunft von viel größerer Bedeutung ist. Ein Punkt, der Parlament wie Regierung beschäftigen muss, ist, dass die Umsetzung dieses Konzepts unter Umständen nicht kostenneutral erfolgen
kann. Die konkreten finanziellen Auswirkungen sind
zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau abschätzbar.
Redetext
Diese werden davon abhängen, ob personeller Mehrbedarf durch interne Personalumschichtungen oder durch
die vom BMF zugestandene frühere Ausbringung von
Ersatzplanstellen abgedeckt werden kann oder nicht.
Eine Bestandsaufnahme der Kostenfrage wird von der
Bundesregierung zu gegebener Zeit vorgenommen.
Ohne dieser Bestandsaufnahme vorgreifen zu wollen,
ist mir zum Schluss eine grundsätzliche Aussage sehr
wichtig: Nicht nur im Hinblick auf die konzeptionelle
Seite - wie geschehen -, sondern auch im Hinblick auf
die Kostenseite sollten Bundesregierung und Bundestag
in der wichtigen Frage der personellen Positionierung
Deutschlands in den internationalen Organisationen mit
einer Stimme sprechen. Insbesondere mit Blick auf den
am Freitag zu diskutierenden Antrag der beiden Koalitionsfraktionen zur internationalen Personalpolitik sollte
in diesem Haus die Flexibilität bestehen, den Ressorts
eine Stellenausstattung zuzubilligen, die die erforderliche Vorbereitung sowie die flexible und zügige Präsentation von Kandidaturen in internationalen Organisationen
erlaubt. Dies können wir, wenn gewünscht, in der Diskussion über den aktuellen Antrag vertiefen.
Vielen Dank. - Fragen? - Frau Kollegin Enkelmann.
Die Bundesregierung hat sich entschieden, den Bundestag heute über das spannende Thema Personalrahmenkonzept zu informieren. War das aus Ihrer Sicht das
wichtigste Thema der Kabinettssitzung? Gab es möglicherweise auch andere wichtige Themen, die in der
öffentlichen Diskussion durchaus eine größere Rolle
spielen, wie zum Beispiel die Verlängerung des Bezugs
des Arbeitslosengeldes I oder die Aufstockung des
Arbeitslosengeldes II?
Frau Kollegin Enkelmann, diese Frage muss Staatsminister Gloser im Augenblick nicht beantworten. Denn
es gehört zu den Regularien der Befragung der Bundesregierung, dass zunächst ein Bericht der Bundesregierung über die Kabinettssitzung erfolgt und dazu Fragen
gestellt werden können. Wenn diese sich erschöpft haben, werde ich fragen, ob es zu anderen Themen der Kabinettssitzung
({0})
oder allgemein andere Fragen an die Bundesregierung
gibt. Ich werde auf Ihre Wortmeldung also im späteren
Verlauf des Nachmittags zurückkommen.
({1})
Gibt es Fragen zum Bericht des Staatsministers? Kollege Ruck.
Herr Kollege, im Gegensatz zu der vorherigen Wortmeldung bin ich sehr dankbar, dass dieses strategisch
sehr wichtige Thema heute im Kabinett beraten wurde.
Ich habe als einer der Autoren des Antrags, über den am
Freitag diskutiert wird, eine Frage dazu: Haben Sie im
Zusammenhang mit diesem Rahmenkonzept Erkenntnisse, in welchen internationalen Organisationen noch
besonderer Handlungsbedarf von deutscher Seite her besteht, das heißt, wo zum Beispiel das, was wir in die Organisationen einzahlen, und das, was wir an Personal
stellen, besonders auseinanderklaffen?
Herr Kollege Dr. Ruck, genau das ist die Zielsetzung
dieses Konzeptes. Die Analyse vor einigen Jahren hat
hinsichtlich der Präsenz und Positionierung deutschen
Personals gezeigt, dass wir nicht so aufgestellt sind wie
andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder
auch andere Staaten. Deshalb haben wir uns mit der
Frage beschäftigt, wie man das ändern kann.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass wir mit diesem Konzept nicht das Rad neu erfunden haben. Es hat
bereits in der Vergangenheit diverse Initiativen gegeben.
Es gab auch im Hohen Haus eine Diskussion darüber,
wie stark wir beispielsweise in den verschiedenen Generaldirektionen der Europäischen Kommission, aber auch
auf anderen Ebenen, also nicht nur auf der ganz hohen
Ebene der Generaldirektionen, sondern auch darunter,
vertreten sind und wie man eine entsprechende Personalförderung gestalten kann. Ich glaube, in der Vergangenheit sind erste Defizite ausgeräumt worden. Aber es gibt
natürlich in den supranationalen Organisationen noch
immer Bereiche, in denen wir besser positioniert sein
könnten.
Gibt es weitere Wortmeldungen? - Ich sehe keine.
Dann darf ich fragen, ob es zu anderen Themen der
heutigen Kabinettssitzung Fragen gibt. - Bitte schön,
Frau Enkelmann.
Ich gehe davon aus, dass der Staatsminister meine
Frage vorhin verstanden hat. Insofern brauche ich sie
nicht zu wiederholen.
Sehr geehrte Frau Kollegin, natürlich habe ich Ihre
Frage verstanden. Es wurden auch andere Themen erörtert; aber ich unterstreiche noch einmal, dass es vor dem
Hintergrund einer Parlamentsinitiative und einer Debatte
im Deutschen Bundestag über die Frage, wie wir in verschiedenen internationalen Organisationen aufgestellt
sind - um eine Zahl zu nennen: circa 56 000 Menschen
mit einer höheren Qualifikation sind in solchen internationalen Organisationen insgesamt tätig -, schon wichtig
ist, dies im Kabinett zu behandeln.
Auf Ihre Frage hin kann ich Ihnen konkret sagen: Das
von Ihnen angesprochene Thema Arbeitslosengeld I und
II ist im Kabinett nicht behandelt worden.
({0})
Gibt es sonst Fragen an die Bundesregierung mit
Blick auf die heutige Kabinettssitzung oder andere Fragen, unabhängig von unserer üblichen Fragerunde? Das ist nicht der Fall.
Dann bedanke ich mich, Herr Staatsminister Gloser,
und beende damit die Befragung der Bundesregierung.
Da mit einem so zügigen Ablauf des Tagesordnungspunkts 1 offenkundig keiner derjenigen Kolleginnen und
Kollegen gerechnet hat, die Fragen für die nun folgende
Fragestunde eingereicht haben, unterbreche ich die Sitzung jetzt für circa fünf Minuten. Ich werde dann die
Fragestunde aufrufen, in der wir mit den dringlichen
Fragen beginnen werden.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/6571, 16/6592 Wir beginnen mit den dringlichen Fragen. Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 des Kollegen Volker Beck
({0}) auf:
Welche Gründe - Erkenntnisse aus dem Besuch vom Vorsitzenden der Partei Die Linke, Oskar Lafontaine, unter anderem - und welche Neuausrichtung der Politik gegenüber der
kubanischen Regierung und Opposition sind mit der Ausladung der kubanischen Opposition zum Empfang der deutschen Botschaft auf Kuba am Nationalfeiertag verbunden
({1})?
Zur Beantwortung steht der Staatsminister im Auswärtigen Amt Günter Gloser zur Verfügung.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Beck - ({0})
- Ich nehme den Doktortitel wieder zurück. Es tut mir
leid, aber ich habe das so drin.
Zumindest darüber lässt sich offenkundig sofort eine
Verständigung herbeiführen. Wollen wir einmal abwarten, ob das so bleibt.
Man muss den Dialog gut vorbereiten.
Herr Kollege Beck, meine Antwort lautet wie folgt:
Bereits in den Vorjahren hat die deutsche Botschaft in
Havanna den Tag der Deutschen Einheit zweigeteilt begangen und die Veranstaltung für Regierungsvertreter
und das diplomatische Corps von der für Vertreter der
kubanischen Zivilgesellschaft zeitlich getrennt. Um vor
dem Hintergrund der sich abzeichnenden innenpolitischen Veränderungen in Kuba unsere volle Handlungsfähigkeit und unsere Einflussmöglichkeiten zu sichern,
werden beide Veranstaltungen in diesem Jahr weiter entzerrt. Zum einen gibt es in der Residenz des deutschen
Botschafters einen Empfang für die Regierung, zum anderen findet eine Woche später im Haus des Ständigen
Vertreters eine Veranstaltung für die Zivilgesellschaft
und für Dissidenten statt, an der auch der deutsche Botschafter teilnimmt. Von einer „Ausladung der kubanischen Opposition“ kann daher keine Rede sein.
Eine werteorientierte Außenpolitik gegenüber Kuba
kann aus Sicht der Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation am ehesten durch ein pragmatisches Vorgehen erreicht werden. Ich finde, nur so haben wir eine
Chance, auf die kommende Entwicklung in Kuba Einfluss zu nehmen. Dieser pragmatische Ansatz wird von
der großen Mehrheit der Dissidenten und zum Beispiel
auch von der katholischen Kirche auf Kuba akzeptiert,
da die Begrenzung des Einflusses der EU-Staaten nicht
im Sinne der berechtigten und von uns unterstützten Anliegen der Zivilgesellschaft sein kann.
({0})
Zusatzfrage, Kollege Beck.
Ich hatte in meiner Ausgangsfrage gefragt, ob es Erkenntnisse aus der Reise des Parteivorsitzenden der
Linkspartei gab, die zu dieser neuen Einladungspraxis
geführt haben. Darauf wurde leider nicht geantwortet.
Vielleicht könnten Sie das im Nachhinein noch beantworten.
Ansonsten wollte ich fragen: Wenn Ihre Ausführungen richtig sind, wie kommt es dann dazu, dass sich der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung mit den
Worten zitieren lässt:
Ich hoffe, dass die Menschenrechtsaktivisten in
Kuba das nicht als einen Versuch zur Systemstabilisierung begreifen. Als ehemaliger DDR-Bürgerrechtler wisse er,
- so Herr Nooke wie es wirkt, wenn man zur falschen Zeit auf der
Couch von Honecker sitzt.
In diesem Fall ist es die Couch von Fidel Castro.
Wenn man diese Einladungspraxis anders interpretieren muss als als Bückling gegenüber der kubanischen
Regierung - Sie haben ja zugestanden, Sie wollten sich
alle Handlungsmöglichkeiten offenhalten -, frage ich
Sie: Müssen wir nicht auch gegenüber der kubanischen
Opposition handlungsfähig sein, indem wir uns deutlich
Volker Beck ({0})
solidarisch mit denjenigen zeigen, die sich für Demokratie und Bürgerrechte in diesem Land einsetzen?
Herr Beck, erstens nehmen Delegationsreisen, die
jetzt stattgefunden haben, keinen Einfluss auf die Praxis
der Bundesregierung. Ich habe gesagt, dass diese Veranstaltungen bereits in der Vergangenheit in dieser Form
stattgefunden haben und wir eine weitere Entzerrung anstreben.
Zweitens ist es so - da gibt es kein Vertun -, dass die
Bundesregierung weiter für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit eintritt und das auch gegenüber den für
Kuba Verantwortlichen immer wieder erklärt hat.
Drittens glaube ich nicht, dass wir die Opposition desavouiert haben. Im Gegenteil, dieser pragmatische Ansatz ist ja der Grund, dass viele Dissidenten sagen: Wir
brauchen euren Einfluss. Wie solltet ihr Einfluss nehmen, wenn nicht noch irgendwo Gesprächsmöglichkeiten da sind? - Ich glaube, in bestimmten Punkten ist eine
diskrete Diplomatie notwendig. Das zeigt sich an verschiedenen Fällen, in denen wir interveniert haben und
es zur Freilassung von Gefangenen gekommen ist. Diese
Handlungsweise zu vergleichen mit Ereignissen, die irgendwo anders stattgefunden haben, entspricht nicht den
Tatsachen, entspricht nicht dem, wie die Bundesregierung, aber auch andere Mitgliedstaaten auf Kuba bzw. in
Havanna arbeiten.
Zweite Zusatzfrage.
Dazu hätte ich dann schon die Nachfrage, ob Sie
Herrn Nooke von diesem Ihrem Standpunkt inzwischen
überzeugen konnten oder ob Herr Nooke weiter zu seinen Äußerungen im Spiegel vom Montag dieser Woche
steht, die sich ja im Widerspruch zu der von Ihnen vorgetragenen Haltung des Auswärtigen Amtes befinden.
Noch einmal - ich wiederhole das gerne -: Wenn die
Mehrheit der Dissidenten und auch die katholische Kirche in Kuba, die ja eine ganz bestimmte, eine wichtige
Rolle spielt, zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Weg
der richtige ist, dann brauchen wir diese Kritik nicht anzunehmen. Insofern arbeiten wir, wie ich glaube, auch
im Sinne des Menschenrechtsbeauftragten. Ich hatte
nicht die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen; aber ich
nehme Ihre Anregung gern auf und werde mit ihm darüber sprechen.
({0})
- Herr Beck, das werde ich gerne tun.
Zusatzfrage, Kollege Gehrcke.
Herr Staatsminister, fühlt sich die Bundesregierung
durch das Buch Eiszeit in den Tropen, in dem der ehemalige Botschafter bei Fidel Castro, Herr Wulffen, darauf
aufmerksam gemacht hat, dass die allzu demonstrativen
Akte das Gegenteil bewirkt haben, in Richtung diskreter
Diplomatie bestätigt? Finden Sie nicht, dass eine diskrete Diplomatie auch die Unterstützung der Fraktionen
dieses Hauses erfordert bzw. dass deren Unterstützung
vorteilhaft ist?
Herr Kollege Gehrcke, haben Sie bitte Nachsicht,
dass ich nicht alle Bücher, die so am Markt sind, lese.
Zum Beispiel Fragestunden ermöglichen es mir nicht,
diese Literatur zur Vertiefung zu lesen. Aber noch einmal grundsätzlich: Es geht hier nicht in erster Linie darum, gegenüber den für Kuba Verantwortlichen deutlich
zu machen, was die Positionen Deutschlands sind, was
wir unter Rechtsstaatlichkeit, unter rechtlichem Gehör,
unter demokratischem Aufbau verstehen. Die Frage ist
natürlich, ob man massiv auftritt, was in der Vergangenheit möglicherweise zu entsprechenden Reaktionen der
kubanischen Regierung geführt hat: Sie hat sich stur gestellt und war für keine Gespräche und keinen Dialog zugänglich.
Wir müssen den richtigen Weg finden, auf der einen
Seite klar zu sagen, wofür Deutschland und die Europäische Union stehen - ich hoffe, dass auch die PDS, Die
Linke, dafür steht -, nämlich für Rechtsstaatlichkeit und
für eine entsprechende Rolle der Opposition, die hier im
Hause wunderbar praktiziert wird - das machen wir
deutlich -, und auf der anderen Seite mit den Verantwortlichen im Gespräch bleiben zu können, um in diesem Land Veränderungen herbeizuführen.
Weitere Wortmeldungen zu dieser Frage sehe ich
nicht. Ich bedanke mich bei Ihnen für die Auskünfte.
Den Fragesteller der zweiten zugelassenen dringlichen Frage sehe ich im Augenblick nicht.
({0})
- Wie schön. Dann haben wir das ordentlich abgeschlossen. Diese Frage wird schriftlich beantwortet.
Man könnte den Umfang der Befassung des Präsidenten im Übrigen auch dadurch einschränken, dass man
eine Frage, mit deren schriftlicher Beantwortung man
notfalls auch einverstanden ist, vorher nicht als außerordentlich dringlich anmelden würde.
({1})
- Ich erspare mir jetzt natürlich jeden Kommentar; diesen Hinweis wollte ich aber doch geben.
({2})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Frau Gleicke, ich kann mich nicht erinnern, überhaupt
jemals jemanden beschimpft zu haben, schon gar nicht
in diesem Zusammenhang.
Wir kommen jetzt zu den für diese Woche eingereichten Fragen und ihrer Beantwortung.
Ich beginne mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung.
Ist der Kollege Montag inzwischen da? - Jawohl, er
ist da. Wie schön.
Ich rufe zunächst die Frage 1 des Kollegen Montag
auf:
Plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Zwischenberichts zur Evaluation des Zweiten
Betreuungsrechtsänderungsgesetzes, nach dem unter anderem
ein signifikanter Rückgang des persönlichen Kontaktes zwischen dem Berufsbetreuer und dem Betreuten konstatiert
wurde, zeitnahe Veränderungen im Vergütungssystem für berufsmäßig geführte Betreuungen?
Herr Präsident, wir beide hatten uns zunächst freundlich begrüßt, wie sich das gehört. Er kam daher natürlich
zuerst zu mir, sodass Sie ihn nicht gleich sehen konnten.
({0})
Ich nehme das mit Respekt zur Kenntnis, will aber
darauf hinweisen, dass wir die knappen Redezeiten jetzt
nicht auch noch dadurch verringern sollten, dass jeder
ausdrücklich zu Protokoll gibt, wen er vorher ordentlich
begrüßt hat. - Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Montag,
meine Antwort auf Ihre Frage: Der Übergang von der
oftmals anonymen Verwaltung von Fällen zur persönlichen Betreuung ist ein zentrales Anliegen des Betreuungsrechts. Deshalb gibt es Anlass zur Sorge, dass sich
aus dem Zwischenbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, ISG, Anzeichen - ich
wiederhole: Anzeichen - eines Rückganges des persönlichen Kontaktes zwischen Berufsbetreuern und Betreuten
ergeben.
Ob dieser Rückgang auf das Pauschalisierungssystem, das Sie ja noch mitbeschlossen haben, zurückzuführen ist, kann allerdings noch nicht gesagt werden. Deshalb sind kurzfristige Änderungen am Vergütungssystem
keinesfalls angezeigt. Die Bundesregierung verfolgt allerdings die Entwicklung in enger Zusammenarbeit sowohl mit dem ISG als auch mit den Landesjustizverwaltungen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Montag? - Bitte.
Danke, Herr Präsident, für die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, als der Zwischenbericht dem
Rechtsausschuss zugesandt worden ist, hat die Bundesjustizministerin in einem Anschreiben ebenfalls auf
diese von Ihnen angesprochenen Anzeichen - sie sind
handfest - eines Rückgangs des persönlichen Kontaktes
zu den Betreuten hingewiesen. Sie schrieb den Abgeordneten daraufhin Folgendes:
Ein wesentlicher Reformansatz des Betreuungsrechts war es ja, die persönliche Betreuung im Gegensatz zur bloßen Verwaltung zu stärken. Es ist
daher zu erwägen, eventuell kurzfristig geeignete
gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen.
Dies habe ich sehr wohl als eine Ankündigung kurzfristig geeigneter gesetzgeberischer Maßnahmen verstanden und frage deswegen nach, ob die Bundesjustizministerin inzwischen davon Abstand genommen hat
und weiterhin zuwarten will, obwohl es handfeste Anzeichen dafür gibt, dass der persönliche Kontakt zwischen den Betreuern und den Betreuten abnimmt.
Herr Kollege Montag, wenn die Justizministerin etwas ankündigt, haben wir das natürlich alle sehr wohl im
Auge und auf der Agenda. Da Sie jedoch von handfesten
Anzeichen reden, möchte ich auf zwei Dinge hinweisen;
vielleicht beantworte ich damit vorweg gleich noch ein
paar Fragen.
Erstens. Das Zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz ist erst am 1. Juli 2005 in Kraft getreten. Zweitens.
Die Auswertungen des ersten Zwischenberichts befassen
sich ganz überwiegend mit Fragebögen aus dem Jahre
2004 - Stichtag 31. Dezember 2004 -, also aus der Zeit
vor Inkrafttreten des Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes, und aus dem Jahre 2005. Stichtag war der
31. Dezember 2005; das war also sechs Monate nach Inkrafttreten des Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes. Ich könnte das jetzt noch weiter ausführen, will
Ihnen aber noch Gelegenheit zu einer zweiten Frage geben.
Wir haben uns entschlossen, zunächst einmal noch intensiver und genauer einzusteigen, zumal noch - das
betrifft Ihre nächste Frage - ein weiterer Punkt hinzukommt, den wir berücksichtigen müssen. Wir haben es
nicht aus dem Auge verloren; da seien Sie versichert. Ich
persönlich stehe genau wie Sie im Wort.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Danke schön. - Ich komme noch einmal auf die Anzeichen zurück und beziehe mich selbstverständlich nur
auf den Erhebungsteil, der nach Inkrafttreten des neuen
Gesetzes zustande gekommen ist.
Stimmen Sie mir zu, Herr Staatssekretär, dass die Anzeichen, die sich aus der bisherigen Erhebung ergeben,
deswegen als handfest und signifikant zu bezeichnen
sind, weil wir dort lesen können, dass nicht nur die Betreuer behaupten, nunmehr ein viel geschäftsmäßigeres
und nicht so persönliches Verhältnis zu den von ihnen
betreuten Patienten zu haben - das könnte man ja noch
unter geschäftsmäßigem Verhalten abbuchen -, sondern
auch die Familienangehörigen der Betreuten sagen, dass
sich die persönlichen Kontakte seit Inkrafttreten des
neuen Gesetzes signifikant verringert haben? Stimmen
Sie mir zu, dass dies nicht ein weiteres Zuwarten, sondern ein alsbaldiges Eingreifen der Bundesregierung erfordern würde?
Voreiliges Handeln ist meistens schlechtes Handeln.
Ich stimme Ihnen zu, dass wir dies sehr sorgfältig
beobachten müssen, und wir werden es sehr sorgfältig
beobachten. Allerdings sollte auch das Hohe Haus wissen - nicht nur Sie; Sie wissen es ja -, dass die Bereitschaft der Berufsbetreuer, leider auch der Berufsbetreuungsvereine, sich an dieser Evaluation zu beteiligen,
nicht sonderlich ausgeprägt ist: 10 Prozent der angeschriebenen Berufsbetreuer haben auf unsere Fragen zu
dem Thema geantwortet. Das stimmt nachdenklich.
33 Prozent - bei der Wiederholungsbefragung 20 Prozent - der Betreuungsvereine haben geantwortet. Das
stimmt noch nachdenklicher, weil man bei den Betreuungsvereinen eigentlich eine etwas stärkere Beteiligung
hätte erwarten können.
Aus diesem Grund, Herr Kollege Montag, werde ich
jetzt Folgendes machen - ich selbst fange damit nächste
Woche an -: Ich werde unmittelbar mit den Betroffenen,
nämlich mit den Gerichten, mit den Berufsbetreuern und
den Betreuungsvereinen, in kleineren Zirkeln Gespräche
führen. Ich bin sicher, dass wir dann zu genaueren Erkenntnissen kommen; insbesondere dahin, ob wirklich
kurzfristige Maßnahmen zur Qualitätssicherung erforderlich sind.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Montag auf:
Welche Position vertritt die Bundesregierung zu dem von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten, von den
Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und SPD jedoch abgelehnten Gesetzentwurf ({0}), die Inklusivstundensätze für Berufsbetreuer jedenfalls insoweit zeitnah
anzuheben, als diese aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung
zum 1. Januar 2007 real abgesunken sind, um damit die Auskömmlichkeit der Vergütung, die Voraussetzung für eine qualifizierte und hochwertige Betreuungsleistung durch hauptamtliche Betreuer ist, sicherzustellen?
Meine Antwort lautet wie folgt: Die Vorläufigkeit und
die fehlende Belastbarkeit der Ergebnisse des Zwischenberichtes des ISG gelten insbesondere für die Angaben
der Berufsbetreuer zur Auskömmlichkeit der neuen Vergütungsregelung. Demgegenüber stammen die Angaben
über die Ausgaben der Länder aus den aktuellen Haushalten. Danach wurden in den Jahren 2005 und 2006 allein aus der Staatskasse bundesweit jeweils 70 Millionen
Euro mehr für Betreuung ausgegeben als im jeweiligen
Vorjahr, und zwar in erster Linie für die Betreuervergütung. Damit erhöhten sich die Ausgaben pro Jahr um
mehr als 15 Prozent, während in dem gleichen Jahr die
Zahl der Betreuungen nur um circa 3 Prozent stieg. Ob
dieser tatsächliche Mehraufwand der Länder auf verändertes Abrechnungsverhalten oder zu hohe Stundenansätze zurückzuführen ist, kann noch nicht gesagt
werden. Deshalb brauchen wir für eine fundierte Beurteilung der Auswirkungen der Pauschalierung eine breite
und zuverlässige Datenbasis. Angesichts der deutlich gestiegenen Betreuungsausgaben ist derzeit keinerlei Notwendigkeit zur zeitnahen Erhöhung der Stundensätze zu
erkennen; sie würde im Übrigen auch auf den erheblichen Widerstand der Länder stoßen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, danke schön für die Antwort auf
meine Frage. Vorneweg ist festzustellen, dass die von Ihnen genannten Zahlen - so vehement Sie sie vorgetragen
haben - nicht darüber hinwegtäuschen können, dass bei
der Reform des Betreuungsrechts für die Berufsbetreuer
Bruttostundensätze gesetzlich festgelegt worden sind.
Das bedeutet: inklusive der Mehrwertsteuer, zu einer
Zeit, als die großen Fraktionen in diesem Hohen Hause
- sowohl CDU/CSU als auch SPD - nicht davon gesprochen haben, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Die Erhöhung ist dann höher ausgefallen, als wir alle befürchtet
haben. Trotz aller Zahlen, die Sie genannt haben, bedeutet das: Bei den Stundensätzen - das ist ein Fakt, über
den man nicht hinweggehen kann - ist es durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu einer realen Absenkung
des Nettoeinkommens gekommen.
Deswegen haben wir Grünen einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der nichts anderes bewirken sollte, als diese
Mehrwertsteuererhöhung, die sich im Bruttostundensatz
versteckt, zu egalisieren. Wir wollten kein Mehr, sondern nur einen Ausgleich für den Teil, den Sie den Betreuern weggenommen haben.
Ich darf Ihnen das als Parlamentarischem Staatssekretär und Mitglied der Fraktion der SPD vorhalten und Sie
bitten, mir die Frage zu beantworten, wie Sie sich dazu
stellen, dass die Fraktion der SPD im Rechtsausschuss in
der Beratung des Gesetzentwurfs der Grünen zu Protokoll gegeben hat, dass sie grundsätzlich Verständnis für
das Anliegen des Gesetzentwurfs der Grünen hat und lediglich und ausschließlich auf den Zwischenbericht wartet. Dieser werde voraussichtlich Mitte 2007 vorliegen,
hieß es. Die Ablehnung des Gesetzentwurfs durch die
Fraktion der SPD beruhte allein auf diesem Umstand,
dass man noch auf den Zwischenbericht wartet. Dann
wolle man allerdings handeln.
Meine Frage lautet: Wenn diese Ankündigung das Papier wert sein soll, auf dem sie steht, heißt das dann, dass
dem Gesetzentwurf der Grünen - wir bringen ihn gerne
sofort wieder ein - und damit dem dahinterstehenden
Anliegen nachgekommen wird und Sie die reale Absenkung der Stundensätze wieder ausgleichen?
Herr Kollege Montag, ich darf zunächst feststellen,
dass sich Ihre Frage primär sehr deutlich auf ein Verhalten der SPD-Fraktion im Rechtsausschuss bezieht. Ich
bin stolz, dass ich dieser Fraktion angehöre, aber es steht
mir nicht zu, über die Motivationen der SPD-Fraktion im
Rechtsausschuss hier eine Äußerung abzugeben. Dafür
haben Sie sicherlich volles Verständnis.
Sie haben von einer realen Absenkung der Einkommen gesprochen. Um darüber Klarheit zu gewinnen,
müssen wir zunächst einmal das Einkommen vor Inkrafttreten des Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes mit den jetzigen Einkünften der Berufsbetreuer
vergleichen. Wenn es so schlecht ist, wie Sie es darlegen,
frage ich mich, warum nicht mehr als 10 Prozent der Berufsbetreuer auf unsere Fragen geantwortet haben, damit
wir entsprechend reagieren können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich setze mich als Abgeordneter
in erster Linie für die Interessen der Betreuten ein, also
der Menschen, die Hilfe Dritter bzw. des Staates bedürfen, und habe nicht so sehr die Interessen der Berufsbetreuer im Auge. Ich bin kein Sprecher der Berufsbetreuer
und kann Ihnen daher die Frage nicht beantworten, warum Ihnen nur 10 Prozent geantwortet haben. Das müssen Sie die schon selber fragen.
Eines möchte ich von Ihnen noch wissen. Wenn wir
den Berufsbetreuern einen Stundensatz von 40 Euro
- das ist ein beispielhafter Wert - inklusive 16 Prozent
Mehrwertsteuer zugesagt haben, der Staat dann aber die
Mehrwertsteuer auf 19 Prozent erhöht und weiterhin
40 Euro pro Stunde zahlt: Ist das für Sie eine reale Senkung des Einkommens oder nicht?
Herr Montag, der höchste Stundensatz eines Berufsbetreuers, der eine akademische Ausbildung hat, liegt
bei 44 Euro; das möchte ich hier klarstellen.
Man kann von einer realen Senkung nur reden, wenn
tatsächlich eine vorliegt. Aber wir wissen gar nicht, ob
es sich um eine reale Senkung handelt. Es sind schließlich 140 Millionen Euro in zwei Jahren mehr gezahlt
worden. Wir haben damals gemeinsam in der rot-grünen
Koalition zusammen mit der CDU/CSU und den Bundesländern nach bestem Wissen und Gewissen diesen
All-inclusive-Stundensatz festgelegt. Wir wollten damit
mehrere Ziele erreichen. Erstens. Der Berufsbetreuer
und die Betreuungsvereine sollten sich mehr um die zu
Betreuenden kümmern; hier liegen wir sicherlich auf einer Linie. Sie sollten ihre Zeit nicht für komplizierte Abrechnungen - zum Beispiel, wie lange sie für einen Brief
gebraucht haben, wie viele Kilometer sie gefahren sind
und wie lange die Anfahrt zum Betreuten gedauert hat verwenden. Dies ist der richtige Weg, denke ich. Dazu
stehe ich auch.
Es kommt noch etwas anderes hinzu, was wir sehr
sorgfältig beobachten. Es gibt eine Entscheidung des
Bundesfinanzhofs, wonach bestimmte Berufsbetreuer
der Gewerbesteuer unterliegen.
Ich dachte, Sie hätten von uns gelernt, dass gut Ding
Weile haben will und dass man alles mit ruhiger Hand
machen sollte. Wenn wir im Schweinsgalopp Gesetze
machen wollen, wie Sie es vorhaben, dann werden wir
unsere Ziele nie erreichen. Wir müssen alle Probleme in
Ruhe besprechen. Ich möchte, dass die Menschen, die
eine rechtliche Betreuung benötigen - das ist die Linie
meines Hauses, meiner Fraktion und der Großen Koalition -, eine intensive und qualitativ gute Betreuung bekommen. Dafür brauchen wir gute Berufsbetreuer und
gute Vereinsbetreuer. Diese müssen und sollen ein auskömmliches Einkommen haben. Aber man sollte nicht,
wenn sich irgendwo die Sonne verfinstert, gleich Änderungen vornehmen. Das ist weder mein Stil noch der der
Großen Koalition. Bitte gehen Sie davon aus, dass wir
das sehr genau beobachten werden.
Wir stehen übrigens in engem Kontakt mit dem Bundesverband der Berufsbetreuer/-innen und den Betreuungsvereinen. Wenn sich etwas ergeben sollte, was Reaktionen notwendig macht, werden wir es so machen,
wie es sich gehört, nämlich mit allen Beteiligten reden,
insbesondere mit den Bundesländern; denn aus den Justizhaushalten der Länder, die ohnehin zu den kleinsten
Haushalten gehören, müssen diese Kosten gedeckt werden. Daher ist es unsere vornehmste Pflicht, dies mit den
Bundesländern zu besprechen. Wir haben bereits gezeigt, dass derartige Gespräche möglich und ertragreich
sind.
Weitere Fragen liegen hierzu nicht vor. Dann schließen wir den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Justiz ab.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Peter Rzepka auf:
In welchem Umfang ist über die in der Presseerklärung
Nr. 07-058 vom 1. Oktober 2007 veröffentlichten steuerlichen
Sachverhalte von zwei gegenwärtigen Mitgliedern und einem
ehemaligen Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin sowie einem Berliner Rechtsanwalt durch den Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen gemäß § 30 der Abgabenordnung
hergestellt worden?
Bitte, Frau Hendricks.
Die Senatsverwaltung für Finanzen in Berlin hat dem
Bundesministerium der Finanzen den Sachverhalt mit
Schreiben vom 10. September 2007 ausführlich dargelegt. Dabei hat die Senatsverwaltung auch dargelegt,
dass die Voraussetzungen für eine Durchbrechung des
Steuergeheimnisses nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchstabe c
der Abgabenordnung erfüllt sind, und um Zustimmung
zur Durchbrechung des Steuergeheimnisses gebeten.
Diese Zustimmung wurde nach entsprechender Prüfung
des Sachvortrages schriftlich erteilt. Das gesetzlich erforderliche Einvernehmen mit dem Bundesministerium
der Finanzen ist also hergestellt worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Rzepka.
Frau Staatssekretärin, ich denke, wir sind uns darüber
einig, dass es sich hier um eine ganz gravierende Durchbrechung des Steuergeheimnisses durch den Berliner Finanzsenator im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzminister, wie Sie eben ausgeführt haben, handelt; denn
es geht um detaillierte Steuerdaten, die in einer mehrseitigen Presseerklärung des Berliner Finanzsenators
enthalten waren. Die Durchbrechung des Steuergeheimnisses ist, wenn die Durchbrechung nicht den Voraussetzungen des § 30 AO genügt, strafbewehrt. Die Untersuchungen dazu werden erst in Zukunft Klarheit bringen.
Im Übrigen legen die Untersuchungen der wissenschaftlichen Parlamentsdienste nahe, dass es sich um einen wirklich einmaligen Vorgang in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland handelt. Ich möchte deshalb wissen, wie das Verfahren über die Aussagen hinaus, die Sie eben gemacht haben, im Einzelnen abgelaufen ist und vor allem welche Funktionsträger des
Ministeriums, insbesondere in dessen politischer Spitze,
an der Herstellung des Einvernehmens beteiligt waren.
Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, dass das nur
auf Beamtenebene abgelaufen ist.
Herr Kollege, da muss ich Sie enttäuschen. Auch
wenn Ihre Vorstellungskraft dazu nicht ausreicht, aber
das ist auf Referatsebene abschließend gezeichnet worden. Die Leitung des Hauses ist nicht damit befasst gewesen. Das ist in der Tat auch vernünftig so, nämlich um
jeden Anschein einer politischen Beeinflussung auszuschließen.
Herr Kollege Rzepka.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie wirklich richtig
verstanden, dass in Fällen solcher gravierender Durchbrechungen des Steuergeheimnisses die Spitze des Hauses nicht beteiligt wird? Sie trägt letztlich die Verantwortung dafür. Das wissen Sie.
Die Spitze des Hauses trägt die politische Verantwortung. Das ist keine Frage. Das ist selbstverständlich so,
und das wird die Spitze des Hauses auch immer tun.
Aber das Einvernehmen ist in der Tat durch Zeichnung
auf Referatsebene erteilt worden, ohne dass die politische Spitze des Hauses damit befasst war. Das ist, wie
ich schon ausführte, so üblich, gerade um den Anschein
einer politischen Einflussnahme zu vermeiden.
Kollege Koppelin.
({0})
- Das mag wohl sein, aber Sie haben zunächst einmal zu
der beantworteten Frage zwei Zusatzfragen. Die haben
Sie jetzt gestellt.
({1})
- Ich rufe jetzt die Kollegen auf, die sich zum gleichen
Sachverhalt gemeldet haben. Ich nehme Sie, Herr
Rzepka, in die Reihe der Interessenten auf. Dann kommen wir zu einer friedlichen Lösung. - Herr Kollege
Koppelin.
Frau Staatssekretärin, warum hat Ihr Haus es in diesem Fall, in dem es sich um Abgeordnete des Berliner
Abgeordnetenhauses handelte, nicht für nötig gehalten,
gleichzeitig den Präsidenten des Abgeordnetenhauses
darüber zu informieren? Darf ich ergänzend fragen: War
Ihrem Haus nicht bekannt oder später bekannt gemacht
worden, dass die Abgeordneten zum Beispiel am
18. September und am 30. August dem Präsidenten des
Abgeordnetenhauses ihr Einverständnis zur Einblicknahme in die Steuerakten erklärt haben? Ist Ihnen auch
nicht das Schreiben des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 13. September an den Regierenden Bürgermeister bekannt gewesen, in dem er um Aufklärung der Sache gebeten hat? Finden Sie nicht, dass
sich auch die Leitung Ihres Hauses mit der Angelegenheit hätte intensiver befassen müssen?
Nein, ich finde nicht, dass wir, die Leitung des Hauses, uns mit der Angelegenheit hätten intensiver befassen müssen. Ich bleibe dabei, dass es vollkommen richtig ist, dies zur Vermeidung des Anscheins einer
möglichen politischen Beeinflussung zu unterlassen.
Deshalb haben wir das so gehandhabt. Ich selber war in
der vorigen Woche nicht im Dienst. Am 1. Oktober, als
die Veröffentlichung stattfand, hatte ich Urlaub. Ich will
mich davon aber nicht freizeichnen. Darum geht es auch
gar nicht. Es lag nicht etwa daran, dass ich in der Woche
Urlaub hatte. In der Woche zuvor, als die Entscheidungen fielen, war ich im Dienst. Die Veröffentlichung fiel
auf den 1. Oktober.
Es ist das übliche Verfahren. In diesem Fall handelt es
sich um den Sachverhalt, dass drei Abgeordnete wahrheitswidrige Behauptungen in der Öffentlichkeit aufgestellt haben, und zwar seit August fortwährend in der TaParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
gespresse und im Regionalfernsehen, und es ging darum,
schwerwiegenden Schaden hinsichtlich des Vertrauens
auf ordnungsmäßige Handlungen der Finanzverwaltung
zu entkräften. Die Abgeordneten hatten sich nicht bereit
erklärt, vollständig und umfassend auf ihr Steuergeheimnis zu verzichten, sondern nur - in Anführungszeichen gegenüber einzelnen Mitgliedern des Ältestenrates, nicht
gegenüber dem ganzen Ältestenrat. Aber wenn durch
wahrheitswidrige Behauptungen in der Öffentlichkeit
der Eindruck erweckt wird, als würde die Finanzverwaltung - hier des Landes Berlin; das kann natürlich auch in
einem anderen Land sein - nicht korrekt arbeiten, so
kann dieser Eindruck auch nur in der Öffentlichkeit zurückgewiesen werden.
§ 30 Abgabenordnung bietet gleichsam eine besondere Gegendarstellungsmöglichkeit der Finanzverwaltung, die selbstverständlich nur durch die oberste Finanzbehörde des Landes, hier der Senatsverwaltung von
Berlin, im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium erfolgen kann. Hier sind natürlich Hemmnisse eingebaut, aber die Senatsverwaltung von Berlin hat in einer umfänglichen Sachverhaltsdarstellung dargetan, dass
es notwendig war, so zu verfahren, und deswegen ist im
Bundesministerium der Finanzen das Einvernehmen erteilt worden.
({0})
Kollege Thiele, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten, das sei ein übliches
Verfahren. Dazu habe ich eine Frage: § 30 Abgabenord-
nung stellt das Steuergeheimnis sicher, und Amtsträger
haben das Steuergeheimnis zu wahren. Amtsträgern ist
es nach § 355 Strafgesetzbuch auch strafrechtlich verbo-
ten, das Steuergeheimnis zu verletzen. Das ist eben der
starke Ausfluss des Persönlichkeitsrechts des Einzelnen,
auch gegenüber der Steuerverwaltung als Eingriffsver-
waltung.
In § 30 Abgabenordnung ist dann im Einzelnen dar-
gelegt - Sie beziehen sich auf Abs. 4 Nr. 5 -, dass die
Offenbarung zulässig sei, wenn für sie ein zwingendes
öffentliches Interesses besteht, und ein zwingendes öf-
fentliches Interesse sei namentlich gegeben, wenn - ich
zitiere jetzt -
a) Verbrechen und vorsätzliche schwere Vergehen
gegen Leib und Leben oder gegen den Staat und
seine Einrichtungen verfolgt werden oder verfolgt
werden sollen,
b) Wirtschaftsstraftaten verfolgt werden oder ver-
folgt werden sollen, die nach ihrer Begehungsweise
oder wegen des Umfangs des durch sie verursach-
ten Schadens geeignet sind, die wirtschaftliche
Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der
Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftli-
chen Verkehrs oder auf die ordnungsgemäße Arbeit
der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen
erheblich zu erschüttern, oder
- jetzt kommt der Punkt, auf den Sie sich beziehen -
c) die Offenbarung erforderlich ist zur Richtigstellung in der Öffentlichkeit verbreiteter unwahrer
Tatsachen, die geeignet sind, das Vertrauen in die
Verwaltung erheblich zu erschüttern …
Wenn Sie sagen, das wäre das übliche Verfahren,
dann möchte ich Sie fragen: Wie häufig haben Sie denn
in der Vergangenheit das Einvernehmen zu einer solchen
Veröffentlichung von Steuergeheimnissen unter Bezug
auf diese Nr. 5 seitens des BMF überhaupt erteilt?
Herr Kollege Thiele, diese Frage kann ich Ihnen aus
dem Kopf nicht beantworten. Ich habe nur gesagt: Es ist,
wenn ein solcher Fall vorkommt, das übliche Verfahren,
dass auf Referatsebene abschließend gezeichnet wird,
um gerade den Anschein einer politischen Einflussnahme zu vermeiden. - Darum habe ich vom üblichen
Verfahren in der Art und Weise der Herstellung des Einvernehmens gesprochen. Ich habe nicht damit zum Ausdruck gebracht, dass es ein übliches im Sinne von häufiges und immer wieder vorkommendes Verfahren ist.
Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem von Ihnen
richtig zitierten § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchstabe c der Abgabenordnung so verfahren wird. Aber er ist natürlich dazu
da, damit er im Zweifelsfall angewandt werden kann,
und er lautet, wie Sie richtig sagen, wenn
die Offenbarung erforderlich ist zur Richtigstellung
in der Öffentlichkeit verbreiteter unwahrer Tatsachen, die geeignet sind, das Vertrauen in die Verwaltung erheblich zu erschüttern.
Ich kann Ihnen sicherlich demnächst nachliefern, wie
viele Veröffentlichungen von Steuersachverhalten es
zum Beispiel in den letzten fünf Jahren gegeben hat. Das
will ich gerne tun. „Üblich“ bezieht sich nur darauf - ich
sage es noch einmal -, auf welche Art und Weise das
Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium hergestellt wird.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Wellmann.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, Sie seien mit
diesem Vorgang nicht befasst gewesen. Diese Vorwürfe
wurden seit dem Jahre 2005 öffentlich erhoben; zuletzt
wurde darüber Mitte August dieses Jahres in einer Berliner Zeitung und in der Abendschau umfassend berichtet.
Darauf gab es nicht die geringste Reaktion der Berliner
Finanzverwaltung; man verlangte keine Richtigstellungen oder Erklärungen dazu. Sind Sie angesichts des tollkühnen Umgangs des Herrn Sarrazin mit den Vorschriften der Abgabenordnung bereit, sich mit diesem
Sachverhalt auseinanderzusetzen?
Sind Sie außerdem bereit, sich mit dem Umstand zu
beschäftigen, dass der Ältestenrat des Berliner Abgeordnetenhauses im August bereit war, diesen Vorgang
aufzuklären, dass der Parlamentspräsident dem Senat
mitgeteilt hat, er wünsche in der Sache strikte Vertraulichkeit, dass die Veröffentlichung gleichwohl mit
Schreiben der Berliner Finanzverwaltung vom 27. September angedroht wurde und dass den Betroffenen mit
Setzung der Frist 28. September - das war der frühestmögliche Tag des Eingangs dieses Schreibens - erklärt
wurde, dass der Vorgang veröffentlicht werde, falls sie
bis zu diesem Tag nicht hinreichend Stellung nähmen?
Sind Sie bereit, sich damit auseinanderzusetzen?
Ich bin sehr gerne bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Zunächst weise ich die Formulierung „tollkühner
Umgang“ des Berliner Finanzsenators zurück.
({0})
Der Berliner Finanzsenator hat nach Recht und Gesetz
und im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der
Finanzen gehandelt.
({1})
Ich kann darin keine Tollkühnheit erkennen.
Ich darf auf eine Unrichtigkeit in Ihren Einlassungen
hinweisen. Die Berliner Finanzverwaltung hat den Betroffenen am 20. September - nicht am 27. September! 2007 ein Übergabeeinschreiben - der Vorgang ist also jederzeit nachprüfbar - übersandt und somit Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben. Die Empfänger wurden auf
die beabsichtigte Durchbrechung des Steuergeheimnisses hingewiesen. Ihnen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 28. September, also acht Tage lang, eingeräumt. Eine Äußerung der Betroffenen erfolgte nicht,
und die Durchbrechung des Steuergeheimnisses erfolgte
dann am 1. Oktober 2007.
({2})
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Rzepka.
({0})
- Man hat eine friedliche Lösung gefunden. - Herr Kollege Rzepka, Sie haben das Wort.
Meine zweite Zusatzfrage eben war eine Unterfrage
zu meiner ersten Zusatzfrage, sodass ich die Möglichkeit
habe, das durch eine weitere Zusatzfrage zu vertiefen.
Frau Staatssekretärin, hier ist schon deutlich geworden, dass das Steuergeheimnis einen sehr hohen, auch
verfassungsrechtlich abgesicherten Rang hat und dass
vor diesem Hintergrund die Frage der Erforderlichkeit
der Veröffentlichung und der Verhältnismäßigkeit sehr
sorgfältig abgewogen werden muss. Ich habe der Kommentierung zu § 30 AO, aus dem der Kollege Thiele hier
schon zitiert hat, entnommen: Wenn ein Verfahren ansteht, in dem zuverlässige Externe herangezogen werden
können, um den Sachverhalt aufzuklären, dann ist es
nicht notwendig und unverhältnismäßig, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Der Kollege Wellmann und andere Kollegen haben
bereits angesprochen, dass sich der Ältestenrat des Berliner Landesparlaments am 24. August - übrigens in Anwesenheit einer Vertreterin des Berliner Senats - auf ein
Verfahren verständigt hat, wie der Konflikt zwischen
dem Parlament und der Regierung, in diesem Fall dem
Finanzsenator, beigelegt werden könne. Der Parlamentspräsident des Berliner Abgeordnetenhauses hat den Regierenden Bürgermeister am 13. September ausdrücklich
um größtmögliche Sorgfalt bei der Wahrung der Vertraulichkeit im Umgang mit den Steuerdaten der Betroffenen
gebeten.
Dies alles hat den Berliner Finanzsenator und das
Bundesfinanzministerium offenbar nicht gehindert, im
Einvernehmen die Veröffentlichung von Steuerdaten in
einem nie da gewesenen Umfang - ich bin seit über
30 Jahren im Bereich Steuern tätig - vorzunehmen.
Ich werde nachher noch mit weiteren Fragen auf Sie
zukommen.
Herr Kollege Rzepka, ich hatte Ihnen bereits dargelegt, dass der Berliner Finanzsenator mit Schreiben vom
10. September dieses Jahres dem Bundesministerium der
Finanzen den Sachverhalt ausführlich geschildert hat.
Das Bundesministerium der Finanzen hat nach Prüfung
des Sachverhalts das Einvernehmen schriftlich erteilt.
Das gesetzlich geforderte Einvernehmen - wie ich Ihnen
schon sagte - war damit gegeben.
Natürlich ist es ungewöhnlich, dass so etwas gegenüber Parlamentariern geschieht. Insofern gibt es dafür in
der Parlamentsgeschichte wahrscheinlich kein Beispiel.
Ich nehme an, dass das so ist; ich bin natürlich nicht sicher. Das auslösende Moment war natürlich, dass gerade
Parlamentarier - zwei Parlamentarier und ein ehemaliger
Parlamentarier - diejenigen waren, die das Ansehen der
Finanzverwaltung in der Öffentlichkeit nicht unbeschädigt gelassen haben - um das vorsichtig auszudrücken.
Abgeordnete haben natürlich eine besondere Verantwortung.
Wie sich jetzt auch in der Öffentlichkeit zeigt, ist das,
was der Finanzsenator veröffentlicht hat, zutreffend. Es
ist nicht so, dass der Vorwurf, der von den drei Betroffenen erhoben worden ist, nämlich dass die Finanzverwaltung sie mit irgendwelchen Sonderprüfungen überzogen
habe, weil sie sich im Petitionsausschuss um einen bestimmten Sachverhalt gekümmert hätten, hat erhärtet
werden können. Die Prüfungen, die in Rede standen - es
waren ganz unterschiedliche Sachverhalte -, sind ausnahmslos eingeleitet worden, bevor der Petitionsausschuss in dieser Angelegenheit überhaupt tätig geworden
war. Die Abgeordneten haben mit der Behauptung: „Wir
sind mit Sonderprüfungen überzogen worden, weil wir
als Abgeordnete tätig geworden sind“ also die Unwahrheit gesagt. Das ist mittlerweile der Öffentlichkeit klar
geworden. Es gibt einen Innenrevisionsbericht des
Finanzsenators - die Abgeordneten widersprechen dem
auch nicht -, nach dem die Prüfungen schon begonnen
hatten, bevor sie sich überhaupt als Abgeordnete um das
Thema gekümmert haben. Sie haben immer behauptet,
es sei so gewesen.
Insofern ist es von beiden Seiten ungewöhnlich, nämlich dass es gerade Abgeordnete sind, deren Steuergeheimnis aufgehoben wurde, dass es aber auch gerade
Abgeordnete sind, die in der Öffentlichkeit unisono die
Unwahrheit sagen, und zwar eine Unwahrheit, die dazu
geeignet ist, das Ansehen der Finanzverwaltung schwer
zu beschädigen.
Eine weitere Zusatzfrage, und zwar des Kollegen
Königshaus.
Frau Staatssekretärin, ich bin wirklich begeistert davon, wie Sie den Kollegen Sarrazin wegen seiner bekannt einfühlsamen Herangehensweise in Schutz nehmen. Was mich weniger gefreut hat, war Ihre Aussage:
Um den Anschein politischer Einflussnahme zu vermeiden, werde eine solch brisante Angelegenheit - wir haben eben gehört, welchen verfassungsrechtlichen Rang
der Schutz des Steuergeheimnisses hat - auf Referatsleiterebene behandelt. - Das ist nicht Wahrnehmung der
Verantwortung für eine verfassungsrechtlich relevante
Entscheidung; das ist organisierte Verantwortungslosigkeit.
Wie ist denn das - das ist jetzt meine Frage - bei Ihnen generell geregelt? Nach welchen Kriterien richtet es
sich eigentlich, ob die Leitungsspitze entscheidet oder
ob jeder Referatsleiter selbst entscheiden kann, wenn es
darum geht, eine solche Zustimmung zu erteilen oder
nicht?
Herr Kollege Königshaus, ich möchte darauf hinweisen, dass es in diesem Fall um die Anwendung des § 30
der Abgabenordnung ging. Selbstverständlich ist das
Steuergeheimnis von hohem Wert. Auch wenn es nicht
in der Verfassung steht, ist es gleichsam mit Verfassungsrang ausgestattet; vollkommen richtig. Aber es
gäbe die Ausnahmemöglichkeiten im § 30 der Abgabenordnung gar nicht, wenn man solche Ausnahmen nicht
zulassen dürfte. Also kann über eine solche Ausnahme
selbstverständlich auf der Referatsebene entschieden
werden. Das liegt nämlich durchaus im Verantwortungsbereich eines Referatsleiters.
Damit Sie sich eine Vorstellung machen können: Das
Bundesministerium der Finanzen hat circa 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in neun Abteilungen
und ungefähr 70 Referaten organisiert sind. Referatsleiter sind leitende Mitarbeiter des höheren Dienstes, die
über eine umfängliche Berufserfahrung verfügen, sonst
wären sie nicht Referatsleiter. Wenn man alles sozusagen
auf die Ebene der Spitze des Hauses ziehen würde, dann
könnte man sich gleich begraben lassen - wer auch immer.
Ordentliches Verwaltungshandeln in der Tradition der
deutschen Verwaltung beruht darauf, dass man sich auf
das rechtmäßige Handeln der Angehörigen der Verwaltung verlassen kann und verlassen können muss. Das ist
hier, wie auch in anderen Fällen, so geregelt.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Peter Rzepka auf:
Welche Gründe hat der Finanzsenator für seine Absicht
zur Veröffentlichung vorgetragen?
Herr Kollege Rzepka, die Senatsverwaltung für
Finanzen hat in ihrem Bericht dargelegt, dass die Voraussetzungen zur Durchbrechung des Steuergeheimnisses
nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchstabe c der Abgabenordnung
im Einzelnen erfüllt sind. Die von den Abgeordneten
und von dem Rechtsanwalt angestoßene und immer wieder neu angefachte öffentliche Debatte in Presse und
Fernsehen war geeignet, das Vertrauen in die gesetzmäßige Amtsführung der Finanzverwaltung erheblich zu erschüttern. Nach den Ergebnissen einer außerordentlichen
Prüfung durch die Innenrevision der Finanzverwaltung
treffen die in der Öffentlichkeit verbreiteten Behauptungen nicht zu, ausnahmslos nicht. Die Offenbarung ist in
diesem Fall das einzige Mittel, um das Vertrauen der
Öffentlichkeit in die gesetzmäßige Amtsführung der
Finanzbehörden wiederherzustellen. Von daher wäre
eine vertrauliche Mitteilung an den Ältestenrat des Abgeordnetenhauses kein geeignetes Mittel gewesen.
Die Betroffenen wurden mit Schreiben vom 20. September 2007 auf die beabsichtigte Durchbrechung des
Steuergeheimnisses hingewiesen. Ihnen wurde die gesetzlich vorgeschriebene Gelegenheit zur Stellungnahme
vor der Veröffentlichung eingeräumt.
Ihre Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich möchte noch einmal auf die
Abläufe im Bundesfinanzministerium zu sprechen kommen. Wann hat die politische Spitze des Hauses, der
Minister und die Staatssekretäre, von dem Vorgang, also
der beabsichtigten oder stattgefundenen Veröffentlichung, erfahren? Welche Richtlinien, Grundsätze gibt es
im Hause dafür, dass die politische Spitze bei derart gravierenden Vorgängen informiert wird?
Herr Kollege Rzepka, es liegt auch in der Verantwortung eines leitenden Mitarbeiters der Verwaltung, zu entscheiden, wann er etwas der politischen Leitung des
Hauses vorlegt. Dafür kann es keine eindeutigen Richtlinien geben. Es gilt zwar die Geschäftsordnung der
Bundesregierung, aber die ist selbstverständlich interpretationsfähig, weil man im Einzelnen natürlich unmöglich alle Vorgänge regeln kann. Deswegen liegt es in
der Verantwortung der jeweiligen Bediensteten eines
Ministeriums, zu entscheiden, wann sie eine Frage oder
Entscheidungsvorlage der politischen Spitze des Hauses
vorlegen wollen. Wenn sie von der politischen Leitung
des Hauses gebeten werden, etwas vorzulegen, machen
sie es natürlich. Das ist ja selbstverständlich. Ansonsten
müssen sie aber von sich aus entscheiden, ob sie einen
Vorgang so einschätzen, dass er der politischen Spitze
des Hauses vorgelegt werden sollte oder müsste. In diesem Fall haben sie sich dazu entschlossen, wie es in solchen Verfahren üblich ist, das auf der Ebene des Referates zu entscheiden und nicht die politische Spitze des
Hauses darüber zu unterrichten.
Ich habe davon am Montag dieser Woche in einer
Vorlage, die über mich an den Minister lief, erfahren.
Auslöser war eine Veröffentlichung in der Presse, in der
angekündigt wurde, man - so sage ich jetzt einmal wolle einen Strafantrag gegen Herrn Sarrazin und Herrn
Steinbrück stellen. Daraufhin habe ich mich nach dem
Hintergrund erkundigt. Ich habe dann am Montag die
elektronische Vorabkopie einer Vorlage, die im Haus
schon in der Bearbeitung und auf dem Weg zur Leitung
des Hauses war, bekommen. Anlass war die Veröffentlichung, dass der Minister mit einer Strafanzeige bedroht
sei.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben darauf hingewiesen,
dass sich die politische Spitze des Hauses mit diesen
Fällen besser nicht befasst, um den Eindruck einer politischen Einflussnahme zu vermeiden. Soll ich daraus
schließen, dass das eine Kritik an dem Berliner Finanzsenator ist, der die Veröffentlichung selbst veranlasst hat
und sich damit aus Ihrer Sicht dem Verdacht einer politischen Einflussnahme ausgesetzt hat?
In diesem Zusammenhang: Sie haben vorhin den Eindruck erweckt, als ob die Veröffentlichung richtiger
Steuerdaten - ich habe mir gar nicht vorstellen können,
dass es auch falsche sein können - weniger gravierend
sei. Muss der Bürger davon ausgehen, dass die Veröffentlichung richtiger Daten, die er der Finanzverwaltung
in Deutschland weitergibt und die dann in der Zeitung
nachzulesen sind, ein weniger gravierender Vorgang ist
als die Veröffentlichung von falschen Daten durch die
Finanzverwaltung?
Herr Kollege Rzepka, den zweiten Teil Ihrer Frage
verstehe ich überhaupt nicht. Ich habe nicht darauf hingewiesen, dass richtige Daten veröffentlicht worden
seien.
({0})
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Finanzverwaltung
durch die Veröffentlichung nachweisen konnte, dass die
Vorwürfe der drei Betroffenen allesamt unwahr waren.
Ich habe nicht gesagt, dass richtige Daten veröffentlicht
wurden. Im Gegenteil, durch die Veröffentlichung
konnte nachgewiesen werden, dass die andere Seite unwahre Behauptungen aufgestellt hatte. Das ist ein großer
Unterschied. Darauf lege ich Wert, auch für das Protokoll; aber das Protokoll ist ja sowieso sorgfältig, da mache ich mir keine Sorgen.
Zuständig für eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses nach § 30 der Abgabenordnung - egal nach welchem der genannten Buchstaben, die von Herrn Thiele
richtig zitiert worden sind - ist immer die oberste
Finanzbehörde des jeweiligen Landes, in diesem Fall
also der Finanzsenator von Berlin. Dazu wird das Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium hergestellt. Das muss nicht zwingend der Bundesfinanzminister oder die politische Leitung sein. Infolgedessen ist
natürlich klar, dass die Veröffentlichung, so sie denn wie
in diesem Fall für unabdingbar notwendig gehalten wird,
immer durch die oberste Finanzbehörde des Landes erfolgen muss. Niemand sonst kann das tun, weil niemand
sonst das darf. Deswegen kann der Finanzsenator von
Berlin, der mit einer solchen Veröffentlichung naturgemäß seine Pressestelle beauftragen muss, gar nicht nicht
befasst sein mit diesem Vorgang.
({1})
- Ja, klar. Der Minister oder Senator, der seine Pressestelle veranlasst, etwas zu veröffentlichen - die Pressestelle kann das ja nicht von sich aus machen -, muss als
Person unterrichtet sein. Das kann nicht anders sein.
Herr Kollege Königshaus, Sie haben die nächste
Frage.
Frau Staatssekretärin, Ihre letzte Bemerkung verstehe
ich nicht, denn wenn es richtig ist, dass das mehr oder
weniger auf Sachbearbeiterebene behandelt werden soll,
um politische Einflussnahme - Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen:
Das Einvernehmen! Bitte vermischen Sie doch nicht
alles!
Na gut. Wenn es hier um solche Sachverhalte geht,
die klargestellt werden sollen, dann ist es doch Aufgabe
der Pressestelle des Finanzamtes, das klarzustellen, und
nicht die Aufgabe des politisch verantwortlichen Senators.
Aber ich wollte eine andere Frage stellen.
Nein, Herr Kollege Königshaus! Die Durchbrechung
des Steuergeheimnisses
Frau Kollegin!
- nach § 30 der Abgabenordnung kann nur durch die
oberste Finanzbehörde eines Landes - also nicht durch
das Finanzamt - erfolgen. Das steht so in der Abgabenordnung.
Das hatten wir verstanden. Aber die Anordnung, das
zu veröffentlichen, muss nicht der Senator selbst geben.
Aber unabhängig davon: Wenn es denn so war, dass
eine umfangreiche Sachverhaltsdarstellung an den Referatsleiter gegeben wurde, der hier seine Zustimmungserklärung abgegeben hat, ist dann dort auch mitgeteilt
worden, was man konkret zu veröffentlichen denkt?
Denn es ist doch - so habe ich bisher die Zusammenhänge verstanden - so, dass all die Vorgänge, um die es
hier geht, nach Darstellung des Berliner Finanzsenators
deshalb nicht Folge eines Mobbings sein können, weil
die zeitlichen Zusammenhänge das nicht hergeben.
Wieso ist es denn dann erforderlich, dass man Daten aus
persönlichen Steuererklärungen veröffentlicht, wenn
man sich darauf beschränken könnte, schlichtweg die
rein zeitliche Abfolge darzustellen?
Das ist so geschehen, Herr Kollege Königshaus. Denn
es sind nicht etwa Daten aus der Steuererklärung bekannt gemacht worden, aus denen man schließen könnte,
dass der Betroffene soundso viel verdient und soundso
viel Steuern gezahlt hat. Das ist nicht Gegenstand der
Veröffentlichung gewesen.
({0})
- Nein. Das ist nicht Gegenstand der Veröffentlichung
gewesen. Gegenstand der Veröffentlichung waren der
zeitliche Ablauf der Handlungen und die Erklärung, warum sie stattgefunden haben.
Einer der Beteiligten hatte zum Beispiel Steuerschulden, und sein Konto wurde gepfändet. Ein anderer Beteiligter, der ein Baugeschäft betreibt, hat eine Aufforderung bekommen, eine Tabelle auszufüllen, damit
Schwarzarbeit bekämpft werden kann. Dazu hat die taz
einen interessanten Beitrag veröffentlicht. Diese Aufforderung war aber ein ganz normaler Vorgang. Denn die
Berliner Finanzverwaltung hat an über 700 Bauunternehmen ein Formschreiben mit der Bitte verschickt, über
die Subunternehmer, mit denen sie zusammenarbeiten,
Auskunft zu geben. Damit wurde einer Anregung des
Bundesrechnungshofes gefolgt. Die Berliner Finanzverwaltung handelte so, wie das in anderen Ländern schon
geschehen war.
Einer der Berliner Abgeordneten, der ein Baugeschäft
betreibt, hat, wie gesagt, genau die gleiche Aufforderung
bekommen, die auch die anderen 700 Bauunternehmer
in Berlin bekommen haben. Diese Aufforderung hat er
dann in der Abendschau in die Kamera gehalten und gesagt: Die überziehen mich mit Sonderprüfungen. - Er
hat das Zusenden dieses Formblatts im Fernsehen als
Sonderprüfungstatbestand dargestellt.
Mittlerweile ist aber festgestellt worden, dass die Behauptungen der Abgeordneten allesamt falsch waren.
Niemand hat Steuerdaten veröffentlicht in dem Sinne,
dass die Höhe des Einkommens und die Höhe der Steuerschuld bekannt gemacht wurden. In der Veröffentlichung wurde nur dargestellt, wie die Abläufe waren.
Herr Kollege Wellmann.
Frau Staatssekretärin, wir sind uns darin einig, dass
dieser Vorgang nur dann nicht strafbar ist, wenn das Vorgehen der Finanzverwaltung angemessen war. So steht
es im entsprechenden Kommentar - Sie nicken -, und so
sagt es der Wissenschaftliche Dienst dieses Hauses.
Wie bewerten Sie die öffentliche Aussage des Geschäftsführers der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus
von Berlin, wonach die Veröffentlichung dieser Daten
überflüssig und unangemessen war? Können Sie wenigstens die heutigen Fragesteller beruhigen, indem Sie versichern, dass sie nicht bald Besuch von der Berliner
Finanzverwaltung bekommen?
({0})
Herr Kollege Wellmann, ich will die Worte des Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus von Berlin nicht kommentieren. Klar ist aber, dass nicht ein Einzelner einfach
feststellen kann, was angemessen und was nicht angemessen ist. Dafür gibt es im Zweifelsfall juristisch nachprüfbare Verfahren. Insofern ist eine solche politische
Äußerung kein Hinweis auf das Vorliegen eines strafbaren Verhaltens.
Im Übrigen darf ich Sie darauf aufmerksam machen,
dass jeder Bürger, sofern er im angemessenen Umfang
bei seiner Besteuerung mitwirkt, niemals irgendwelche
unangenehmen Fragen von seinem Finanzamt zu befürchten hat. Die Berliner Finanzverwaltung hat nachgewiesen, dass alles das, was ihr von den drei Betroffenen
vorgeworfen wird, nicht zutreffend ist. Bei einem Betroffenen ging es um nicht ausreichend nachgewiesene
Fahrtkosten im In- und Ausland. Er wurde aufgefordert,
das ordentlich darzulegen. Das ist aber keine Sonderprüfung, sondern Gegenstand eines normalen Besteuerungsverfahrens.
Bei einem anderen Betroffenen gab es aufgrund von
Steuerschulden eine Kontopfändung, und ein dritter
Betroffener sollte zur Bekämpfung von Schwarzarbeit
wie 700 andere Bauunternehmer auch eine Tabelle ausfüllen. Wollen Sie das ernsthaft als eine besondere Bedrängnis durch die Finanzverwaltung bezeichnen? Alle
drei Betroffenen haben gesagt, dass diese Vorgänge begonnen hatten, bevor sie im Petitionsausschuss tätig
wurden, was aber nach ihrer Aussage zu der Verfolgung
durch die Berliner Finanzbehörden geführt haben soll.
Das ist in sich so widersprüchlich und unlogisch, dass
man dies auch gegenüber der Öffentlichkeit zurückweisen musste. Es war natürlich nicht ausreichend, diese
Vorwürfe nur gegenüber dem Ältestenrat zurückzuweisen; denn die falschen Vorwürfe gegen die Berliner Finanzverwaltung sind nicht vertraulich gegenüber dem
Ältestenrat erhoben worden, sondern in aller Öffentlichkeit, so gegenüber Tageszeitungen und dem Regionalfernsehen.
Herr Kollege Thiele.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten gerade, dass es sich
um ein absolut ordentliches Verwaltungsverfahren handelt. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich hier um
einen absolut außergewöhnlichen Fall. Dieser absolut
außergewöhnliche Fall betrifft zudem Abgeordnete des
Berliner Abgeordnetenhauses, die durch ihre Arbeit im
Petitionsausschuss in einem Konflikt mit der Senatsverwaltung für Finanzen liegen. Das ist schon etwas Erstaunliches.
Ich habe vorhin aus der entsprechenden Vorschrift
- Sie haben sie selbst genannt - die Voraussetzung für
die Durchbrechung des Steuergeheimnisses zitiert. Wir
haben in Deutschland ein Steuergeheimnis. Dieses Steuergeheimnis ist durchbrochen worden. Nach der Vorschrift, die ich zitiert habe, über deren Wortlaut wir uns
einig sind, muss ein „zwingendes öffentliches Interesse“
gegeben sein, die Offenbarung muss zur Richtigstellung
erforderlich und insbesondere verhältnismäßig sein.
Nun wurden der Präsident des Abgeordnetenhauses
und die Finanzverwaltung aber parallel davon in Kenntnis gesetzt, dass die Abgeordneten bereit sind, der Aufhebung von Teilen des Steuergeheimnisses - nicht der
allgemeinen Aufhebung - zuzustimmen. Auch in der
Presseerklärung der Finanzverwaltung ist die allgemeine
Aufhebung nicht erfolgt; vielmehr wurden konkrete
Sachverhalte angesprochen. Warum hat man das nicht
abgewartet?
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass diese Aktion,
diese Veröffentlichung absolut unverhältnismäßig gewesen ist und mit dem Schutz des Steuergeheimnisses überhaupt nicht zusammenpasst.
Herr Kollege Thiele, natürlich handelt es sich um eine
Durchbrechung des Steuergeheimnisses, aber auf der gesetzlichen Grundlage des § 30 der Abgabenordnung.
Sonst wäre das ja gar nicht möglich; das ist ja selbstverständlich. Da es den § 30 der Abgabenordnung gibt, gibt
es auch eine rechtliche Grundlage für die Durchbrechung des Steuergeheimnisses. Auf dieser Basis haben
sowohl die oberste Finanzbehörde des Landes Berlin als
auch das Bundesministerium der Finanzen gearbeitet. Es
gibt keinen Grund, das nicht so zu sehen.
In einem anderen Zusammenhang sagte ich vorhin
schon einmal: Ja, es ist wahrscheinlich das erste Mal in
der Parlamentsgeschichte, dass zulasten von Abgeordneten oder ehemaligen Abgeordneten
({0})
Teile ihrer steuerlichen Sachverhalte veröffentlicht worden sind, natürlich nicht die gesamten Steuerdaten.
({1})
Es kommt aber auch nicht so häufig vor, dass drei Abgeordnete unwahre Tatsachenbehauptungen über die Berliner Finanzverwaltung oder eine andere Finanzverwaltung verbreiten. Abgeordnete haben eine besondere
Verantwortung. Insofern ist es auf beiden Seiten ein ungewöhnlicher Vorgang - das ist nicht zu bestreiten -,
zum einen, weil es sich um Abgeordnete handelt; zum
anderen, gerade weil Abgeordnete besonders sorgfältig
vorgehen sollten.
Als das Bundesministerium der Finanzen sein Einvernehmen erteilte, war ihm bekannt, dass die Betroffenen
einer Durchbrechung des Steuergeheimnisses, die geeignet gewesen wäre, das Vertrauen der Öffentlichkeit in
die Verwaltung wiederherzustellen, nicht zugestimmt
haben. Die Offenbarung allein gegenüber dem Ältestenrat des Berliner Abgeordnetenhauses wäre, selbst wenn
sie umfassend gewesen wäre - dazu waren die Betroffenen nicht bereit -, nicht geeignet gewesen, die in der Öffentlichkeit verbreiteten unwahren Tatsachenbehauptungen richtig zu stellen.
Ich muss es noch einmal deutlich sagen: Es wurden
unwahre Tatsachenbehauptungen über die Finanzverwaltung verbreitet, die dazu geeignet waren, das Vertrauen in das ordnungs- und rechtmäßige Handeln der
Berliner Finanzverwaltung nachhaltig zu erschüttern.
Die Veröffentlichung war notwendig, um das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürgern wiederherzustellen.
Herr Kollege Wieland.
Frau Staatsekretärin, grüne Parlamentarier sind nicht
beteiligt. Auch auf Senatsebene und in Ihrem Haus sind
Grüne nicht beteiligt. Deswegen: sine ira et studio.
Sie haben gerade überzeugend ausgeführt, dass es
überhaupt kein alltäglicher Vorgang ist, wenn man die
Steuerdaten von Abgeordneten veröffentlicht. Sie haben
gesagt, dass in dieser Frage, obwohl die Parteibücher gemischt waren, politisch kein Einfluss ausgeübt werden
sollte. Deswegen hat der Referatsleiter schlussgezeichWolfgang Wieland
net. Wer hat denn veranlasst, dass der Referatsleiter
schlusszeichnet? Der Brief des Senators ist doch wohl
auf der Chefebene angekommen und nicht über die Postverteilung gleich ins zuständige Referat gebracht worden.
Daraus ergibt sich meine Anschlussfrage: Warum
kam niemand auf die Idee, den Parlamentspräsidenten
sozusagen in seiner Schutzfunktion für die Parlamentarier einzuschalten?
({0})
Stellen Sie sich vor, hier würde so etwas geschehen. Da
würde man doch als Erstes erwarten, dass Präsident und
Präsidium eingeschaltet werden, bevor man einem Senator, den wir - das muss ich einmal sagen - nur als tollkühn kennen und der gar nicht anders bezeichnet werden
will, so einen Freifahrtschein ausstellt.
Zunächst, Herr Kollege Wieland: Es war kein Schreiben des Senators an das Bundesministerium der Finanzen. Infolgedessen ist es nicht auf der Leitungsebene
eingegangen. Es war schlussgezeichnet durch einen Berliner Beamten, dessen Namen ich im Moment nicht präsent habe. Aber es war jedenfalls nicht auf der Ebene eines Senators oder Staatssekretärs; deren Namen kenne
ich natürlich. Es war ein mir nicht bekannter Name; es
war ein Beamter. Ich weiß nicht, auf welcher Ebene,
aber mindestens unterhalb vom Staatssekretär; denn deren Namen sind mir bekannt. Ich habe das Schreiben erst
vorgestern zur Kenntnis genommen.
Ich sage noch einmal: Der Sachverhalt war auf, ich
glaube, 13 Seiten überzeugend dargelegt. Daraufhin hat
der verantwortliche Referatsleiter nach Prüfung des
Sachverhaltes sein Einvernehmen erteilt, und zwar,
wenn ich das richtig weiß, mit Schreiben vom
28. September dieses Jahres. Da möchte ich mich aber
nicht ganz festlegen. Danach ist ja veröffentlicht worden.
Der Referatsleiter hat nach meinem Dafürhalten in eigener Verantwortung entschieden, dass er schlusszeichnet. Er ist von niemandem dazu angewiesen worden; allenfalls vielleicht von seinem nächsten Vorgesetzten
innerhalb der zuständigen Steuerabteilung. Das könnte
ich nachprüfen. Jedenfalls ist er nicht von der Leitung
des Hauses, vom Staatssekretär oder wem auch immer
angewiesen worden, schlusszuzeichnen.
Herr Kollege Wegner.
Frau Staatssekretärin, andere Stellen - das hat Kollege Rzepka schon einleitend in dieser Runde gesagt werden letztlich den Straftatbestand zu klären haben.
Mich interessiert aber: Sie selbst haben eingestanden,
dass Sie, der Finanzminister und die parlamentarischen
Staatssekretäre, die politische Verantwortung tragen.
Mich würde in diesem Zusammenhang schlicht und ergreifend interessieren, ob Sie persönlich finden, dass die
Verhältnismäßigkeit in diesem Verfahren gewahrt ist
- das können Sie wahrscheinlich ganz kurz mit Ja oder
Nein beantworten -, insbesondere vor dem Hintergrund,
dass der Parlamentspräsident in Berlin versucht hat, einen Kompromiss zu finden. Er hat ein Angebot unterbreitet, dies auf andere Art und Weise zu klären.
Von daher lautet meine Frage an Sie: Finden Sie ganz
persönlich, dass das Verfahren verhältnismäßig war?
Würden Sie erstens bei einem ähnlichen Verfahren erneut so entscheiden, dass ein Beamter das unterzeichnen
darf? Würden Sie zweitens als Staatssekretärin bei einem Folgefall eine Unterschrift zur Durchbrechung des
Steuergeheimnisses geben?
Ad eins. Ich halte das Verfahren selbstverständlich für
verhältnismäßig. Wenn ich es für nicht verhältnismäßig
halten würde, könnte ich es natürlich nicht verantworten,
auch nicht politisch. Das ist doch klar.
Ad zwei. Ich bin weiterhin der Auffassung, dass auch
in Zukunft in einer ordnungsgemäßen Verwaltung auf
den jeweiligen Ebenen die jeweilige Verantwortung
übernommen werden soll.
Ad drei. Ich bin natürlich bereit, politische Verantwortung in Fällen zu übernehmen, in denen dies notwendig ist. Politische Verantwortung gibt es selbstverständlich immer; das ist klar. Aber ich folgere daraus nicht,
dass es in irgendwelchen Folgefällen oder vergleichbaren Fällen - das kann man besser sagen; von Folgefällen
kann man nicht reden - anders gehandhabt werden
sollte.
Noch einmal - ich bleibe bei der Auffassung -: Eine
ordnungsgemäße Verwaltung hat für sich, dass man in
ihr rechtmäßiges Handeln Vertrauen haben darf. Nicht
alles muss der politischen Leitung vorgelegt werden.
Wir sind damit am Schluss dieses Geschäftsbereiches.
Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller.
Ich rufe die Frage 5 des Kollegen Dr. Edmund Peter
Geisen auf:
Warum sieht die Bundesregierung in der Einführung der
doppelten Versicherungspflicht für Haupterwerbslandwirte
und Bezieher von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II
für den Bereich der landwirtschaftlichen Krankenkasse durch
§ 2 Abs. 1 Nr. 6 GKV-WSG eine notwendige Anpassung der
Regelungen der landwirtschaftlichen Krankenversicherung an
die der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung, obwohl bei der Beitragserhebung ganz unterschiedliche Parameter - tatsächlicher Lohn versus fiktiv errechnetes Einkommen
aufgrund bewirtschafteter Fläche, Flächenwert etc. - zugrunde gelegt werden und es dadurch zu extremen Nachteilen
für die Landwirte kommt?
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt wird es noch spannender. Aus einem bestimmten Grund lese ich Ihnen die Frage vor:
Warum sieht die Bundesregierung in der Einführung der doppelten Versicherungspflicht für Haupterwerbslandwirte und Bezieher von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II für den Bereich der
landwirtschaftlichen Krankenkasse durch § 2 Abs. 1
Nr. 6 GKV-WSG eine notwendige Anpassung der
Regelungen der landwirtschaftlichen Krankenversicherung an die der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung, obwohl bei der Beitragserhebung
ganz unterschiedliche Parameter ({0})
zugrunde gelegt werden und es dadurch zu extremen Nachteilen für die Landwirte kommt?
Wer diese schwierige Frage außer dem Fragesteller und
mir verstanden hat, dem spendiere ich nachher ein Glas
Milch.
({1})
Die Antwort ist ebenso spezifisch, Herr Dr. Geisen.
Hinsichtlich der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung besteht im SGB V seit Einführung des
Arbeitslosengeldes II ein Nebeneinander der Versicherungspflicht und damit auch Beitragspflicht von Arbeitnehmern und Beziehern von Arbeitslosengeld oder von
Arbeitslosengeld II. Eine Angleichung der Regelungen
im KVLG 1989 wurde durch das GKV-WSG nachgeholt. Mit der Einführung von § 2 Abs. 1 Nr. 6 KVLG
1989 wurde ein zusätzlicher Pflichtversicherungstatbestand für Personen geschaffen, die Arbeitslosengeld oder
Arbeitslosengeld II beziehen. Diese Einführung der
doppelten Versicherungspflicht auch in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung war aus Gleichbehandlungsgründen geboten; ansonsten hätte nämlich die
Arbeitsagentur nur bei Mitgliedern einer allgemeinen
Krankenkasse Krankenversicherungsbeiträge zu zahlen,
bei Mitgliedern einer landwirtschaftlichen Krankenkasse
hingegen nicht. Die zusätzliche Versicherungs- und Beitragspflicht der Arbeitslosengeld-II-Bezieher führt für
die betroffenen Landwirte jedoch nicht zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung.
Ihre Zusatzfragen, Herr Kollege.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrter Herr
Staatssekretär, ich habe diese Fragen natürlich aufgrund
aktueller Anlässe gestellt und bitte, nachprüfen zu lassen, ob der letzte Satz, den Sie gerade geäußert haben,
den Tatsachen entspricht. Dann hätten wir kein Problem.
Mir ist demgegenüber bekannt, dass es hier zu Doppelbelastungen kommt. Die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die gleichzeitig Landwirte sind, müssen zwei
Beiträge zahlen: zum einen als landwirtschaftliche Unternehmer den bisherigen Beitrag und zum anderen die
Beiträge, die ein ALG-II-Empfänger sonst auch entrichten muss. Dies genau ist das Problem.
Da ich solche Fälle kenne, in denen die Menschen
sehr darunter leiden, frage ich Sie, ob auch Sie solche
Fälle kennen und wie viele Fälle dieser Art es in den einzelnen Bundesländern gibt. Wie viele Haupterwerbslandwirte, die ALG-II-Empfänger sind, fallen unter diesen Personenkreis, der einer doppelten Abführung von
Krankenkassenbeiträgen unterliegt?
Herr Dr. Geisen, Sie sind Fachmann, und es geht hier
in der Tat um ein wichtiges Thema. Ich unterstreiche den
von mir genannten Kernsatz: Das führt zu keiner zusätzlichen finanziellen Belastung. Ich füge hinzu: Der Krankenversicherungsbeitrag der Arbeitslosengeld-II-Bezieher wird von der zuständigen Arbeitsagentur getragen.
Ich nehme aber Ihre Bitte gern auf, zu prüfen, ob im
Hause bekannt ist, ob es anders gelagerte Fälle gibt, und
werde Ihnen darüber schriftlich Auskunft geben.
Sie haben noch eine Zusatzfrage?
Meine zweite Frage stelle ich andersherum: Warum
war es laut einem Schreiben des Bundesministeriums für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an
den Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen unter anderem ein Ziel der gesetzlichen Änderung, dass sich für Haupterwerbslandwirte seit dem
1. April 2007 ein Nebeneinander der Versicherungspflicht in der landwirtschaftlichen Krankenkasse zum einen als landwirtschaftlicher Unternehmer und zum anderen als Arbeitslosengeld-II-Bezieher ergibt, der Landwirt
also unabhängig von seinem tatsächlichen Einkommen
aufgrund der Art der Beitragsberechnung den vollen Unternehmerbeitrag zahlen muss, obwohl er dieses Geld
nachweislich gar nicht hat, und gleichzeitig die Agentur
für ihn Beiträge abführt?
Ich stelle noch einmal fest: Aus Gründen der Gleichbehandlung war es wichtig, die doppelte Versicherungspflicht in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung
einzuführen. Für die möglicherweise Betroffenen ist jedoch zentral, dass daraus keine zusätzliche finanzielle
Belastung folgt, da der Krankenversicherungsbeitrag der
Arbeitslosengeld-II-Bezieher von der zuständigen Arbeitsagentur getragen wird.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Dr. Edmund Peter
Geisen auf:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wie verträgt es sich mit dem allgemein anerkannten Prinzip der Solidargemeinschaft, dass in der landwirtschaftlichen
Krankenversicherung ein Haupterwerbslandwirt einer bestimmten Beitragsklasse, der als ALG-II-Empfänger nachprüfbar kein bzw. kaum eigenes Einkommen hat, den gleichen
vollen Unternehmerbeitrag in die Krankenkasse zahlen muss
wie ein Haupterwerbslandwirt, der ein ausreichendes Einkommen erzielt, obwohl die landwirtschaftliche Krankenkasse zusätzlich über die Arbeitsagentur einen pauschalierten Beitrag
für den ALG-II-Empfänger erhält?
Hier geht es um dasselbe Thema, allerdings mit einer
anderen Ausdifferenzierung; das ist ebenfalls eine sehr
spezifische Angelegenheit.
Meine Antwort an Herrn Dr. Geisen lautet: Die Versichertengemeinschaft der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ist eine Solidargemeinschaft. Jeder Versicherte
ist verpflichtet, entsprechend seiner wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit zur Finanzierung des Systems beizutragen. Insofern unterscheidet sich die landwirtschaftliche Krankenversicherung nicht von der allgemeinen
gesetzlichen Krankenversicherung. Die Beiträge zur
landwirtschaftlichen Krankenversicherung werden wie
die Beiträge zur allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung auf Grundlage der beitragspflichtigen Einnahmen erhoben. Für eine Bedürftigkeitsprüfung ist dabei
kein Raum. Hinzu kommt, dass der zu zahlende Krankenkassenbeitrag, wenn ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht, berücksichtigt wird.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich habe dennoch eine Zusatzfrage: Wie hoch sind die
zusätzlichen Beitragseinnahmen der landwirtschaftlichen Krankenkassen, die auf diese Neuregelung, den
pauschalierten Beitrag der Arbeitsagentur, zurückzuführen sind?
Diese Frage werden wir Ihnen schriftlich beantworten. Das kann ich aus dem Stand nicht sagen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung
der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die
Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann.
Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Cornelia Behm auf:
Welche Ergebnisse haben die Verhandlungen der Bundesregierung mit der Republik Polen zum laut Bundesverkehrswegeplan 2003 geplanten Ausbau der Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße, HoFriWa, und dem von der
polnischen Seite geplanten Ausbau der Oder bisher erzielt?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin, ich
würde Ihre Fragen aufgrund ihres engen Zusammenhangs gerne gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 8 der Kollegin Cornelia
Behm auf:
Auf welchem Stand ist die Bearbeitung der die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße, HoFriWa, betreffenden
Fußnote im Bundesverkehrswegeplan 2003?
Zwischen dem Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung und dem polnischen Umweltministerium bzw. der Landesverwaltung für Wasserwirtschaft werden seit Mai 2004 Verhandlungen mit dem
Ziel der Abstimmung einer vertraglichen Regelung zum
weiteren Vorgehen hinsichtlich der Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße und der Grenzoder geführt.
Seitens des Bundesministeriums wurden folgende
Eckpunkte vorgeschlagen: Ausbau der HohensaatenFriedrichsthaler Wasserstraße zwischen Schwedt und der
Westoder sowie Baggerungen in der auf polnischem Gebiet liegenden Klützer Querfahrt für die Fahrt der Küstenmotorschiffe zwischen dem Hafen Schwedt und der
Ostsee; schrittweise Beseitigung der punktuell vorhandenen unzureichenden Fahrrinnentiefen der Grenzoder
zur Sicherung des Eisaufbruchs und der Eisabfuhr auf der
Grundlage der Entwicklung einer den heutigen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechenden deutschpolnischen Stromregulierungskonzeption; sofortige Aufnahme der Planungen zur Beseitigung der derzeit kritischsten Schwachstelle bei Reitwein und finanzielle Beteiligung Deutschlands an einer Initialbaggerung im auf
polnischem Territorium befindlichen Dammschen See
zur Sicherung des Eisbrechereinsatzes und der Eisabfuhr
aus der Grenzoder.
Die Zustimmung der polnischen Seite zu diesen Eckpunkten, die die Voraussetzung für die anschließende
Ausarbeitung eines förmlichen Vertrages ist, liegt derzeit
noch nicht vor. Damit sind auch die Voraussetzungen zur
Wiederaufnahme des Planfeststellungsverfahrens für den
Ausbau der Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße
im Hinblick auf die Fahrt von Küstenmotorschiffen zwischen Schwedt und der Ostsee noch nicht gegeben.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank für die Beantwortung dieser beiden Fragen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie auf
Ausbaumaßnahmen, die die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße betreffen, abgehoben. Ich würde gerne
wissen, inwieweit - in welcher Weise und mit welchen
Projekten - man der polnischen Seite, die ja die Oder
insgesamt ausbauen will, entgegengekommen ist und
wie Sie in Ihrem Hause einen Ausbau der Stromoder insgesamt bewerten.
Sie wissen, dass dieser Punkt in den Verhandlungen
einer der Hauptpunkte, die kontrovers sind, ist. Ich habe
schon bei der Beantwortung Ihrer Fragen auf den polnischen Teil hingewiesen. Ich habe über die Themen
Eisaufbruch und Eisabfuhr gesprochen. Das sind Maßnahmen, über die wir verhandeln. Wir bereiten eine vertragliche Regelung vor, in der beide Seiten Maßnahmen
miteinander vereinbaren. Es geht um die Grenzoder; von
daher ist das unsere Zuständigkeit, und nur über diese
Zuständigkeit können wir mit der polnischen Seite verhandeln.
Sie haben weitere Zusatzfragen.
Ich würde gerne wissen, welche finanziellen Vereinbarungen zu den Ausbaumaßnahmen getroffen worden
sind und wie sie sich zwischen den beiden Ländern aufteilen werden.
Ich durfte Ihnen darstellen, dass wir noch nicht zu
Vereinbarungen gekommen sind. Von daher ist eine
Konkretisierung noch nicht gegeben. Haben Sie bitte
Verständnis dafür, dass es, wenn die polnische Seite auf
das letzte Angebot, das wir ausgearbeitet haben, noch
nicht geantwortet hat, keinen Sinn macht, hier öffentlich
über nicht abgestimmte vertragliche Regelungen zu debattieren. Ich glaube, wir müssen - wie wir es bei anderen Verhandlungen auch machen - erst einmal versuchen, mit unseren polnischen Nachbarn zu einem
Einvernehmen zu kommen. Wenn das konkret wird,
wird man auch die Aufteilung der finanziellen Belastungen miteinander vereinbaren.
Sie haben noch zwei Zusatzfragen.
Darf ich noch einmal nachfragen: Eine Aufteilung der
finanziellen Belastung, der Kosten war überhaupt noch
nicht Gesprächsgegenstand?
Ich habe nur gesagt, dass ich über den Stand der Diskussionen nichts sage, weil die Verhandlungen vertraulich sein sollen. Dafür bitte ich um Verständnis. Wir haben zunächst einmal die fachliche Abarbeitung der
Verhandlungspunkte, die ich Ihnen eben vorgetragen
habe, auf der Tagesordnung.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich würde gerne wissen, ob und über welche Brückenbaumaßnahmen im Zusammenhang mit dem Ausbau der Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße verhandelt bzw. gesprochen worden ist.
Ich muss beichten, dass ich jetzt keine Detailkenntnisse habe. Ich habe nicht im Kopf und bin auch nicht
darauf vorbereitet, zu sagen, welche Brücken das im
Einzelnen betrifft. Ich müsste Ihnen das nachreichen.
Vielen Dank.
Herr Wieland, eine Zusatzfrage.
Wird denn über die Frage von Kanalgebühren verhandelt? Ist es richtig, dass die polnische Seite Kanalgebühren erheben will? Wie ist Ihr Standpunkt dazu?
Ich zitiere Ihnen einfach den entscheidenden Satz aus
dem Bundesverkehrswegeplan, der da lautet:
Dabei ist auch zu klären, wie auf die Erhebung von
Kanalgebühren - vergleichbar auf internationalen
Wasserstraßen - verzichtet werden kann.
Das ist unser Ausgangspunkt für die Verhandlungen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich schließe diesen Geschäftsbereich und rufe den
Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern
auf. Die Fragen beantwortet Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Peter Altmaier.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Wolfgang Wieland
auf:
Welche Behörden und Einrichtungen des Bundes protokollieren die IP-Adressen - Internet-Protocol-Adressen - oder
weitere Daten der Personen, die die Internetseiten dieser Behörden und Einrichtungen aufrufen?
Frau Präsidentin, ich möchte mit Ihrer Genehmigung
die Fragen 9 und 10 im Zusammenhang beantworten.
Dann rufe ich auch Frage 10 auf:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Auf welcher Rechtsgrundlage hat das Bundeskriminalamt
die IP-Adressen von Besuchern der Internetseite der Behörde
gespeichert, und auf welcher Rechtsgrundlage wurde von deren Internetprovidern Auskunft über die zugehörigen Anschlussinhaber verlangt?
Ich möchte Ihre Fragen wie folgt beantworten: Wir
müssen zunächst einmal zwischen der Speicherung von
IP-Adressen zu statistischen Zwecken bzw. aus IT-Sicherheitsgründen einerseits und der Speicherung von IPAdressen als erste Ermittlungsmaßnahme andererseits
unterscheiden.
Die generelle Speicherung der IP-Adressen zu Sicherheitsgründen oder aus statistischen Zwecken wird von
der überwiegenden Zahl der Ressorts und des nachgeordneten Bereichs vorgenommen. An diese generelle
Speicherung der IP-Adressen schließt sich keine Ermittlung der dahinter stehenden Personen an. Das heißt, es
findet keine Personalisierung, also keine Zuordnung der
Adresse zu einer konkreten Person, statt.
Es gibt Gründe für diese Speicherung. Sie wird zum
einen unter Sicherheitsgesichtspunkten zur Ermöglichung effizienter Reaktionen auf Angriffe aus dem Internet für erforderlich gehalten. Dies wird unter anderem in
dem vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik herausgegebenen Maßnahmenkatalog „Sicherheit von Webanwendungen“ vorausgesetzt. Unter
Statistikgesichtspunkten dient die Speicherung der IPAdressen dazu, feststellen zu können, wie das Internetangebot angenommen wird und welche Themenbereiche
besonders gefragt sind. Im Übrigen erhalten wir häufig
Anfragen von Parlamentariern zur Nutzungshäufigkeit
und zum Kosten-Nutzen-Verhältnis von Internetangeboten. Die Beantwortung setzt natürlich eine entsprechende Speicherung voraus.
Das BMJ und das BMBF haben die Speicherung infolge eines Urteils des Amtsgerichts Berlin vom
23. November 2006 und der Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 6. September 2007 nun allerdings gestoppt. Das bedeutet ganz konkret, dass beim Bundesministerium der Justiz derzeit weder IP-Adressen noch
andere personenbezogene Daten der Personen protokolliert werden, die die Internetseite dieses Ministeriums
aufrufen.
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Justiz werden IP-Adressen derzeit noch beim Bundesgerichtshof, beim Bundesfinanzhof, beim Bundesverwaltungsgericht, beim Bundespatentgericht und beim Deutschen Patent- und Markenamt für die Zwecke der
Abrechnung kostenpflichtiger Internetangebote und/oder
für die genannten statistischen Zwecke protokolliert. In
welcher Weise sich das Urteil des Landgerichts Berlin
vom 6. September 2007 auf diese Speicherungspraxis
auswirkt, wird zurzeit geprüft. Dies gilt im Übrigen auch
für alle anderen Ressorts der Bundesregierung und den
nachgeordneten Bereich.
Die nur anlassbezogene Speicherung von IP-Adressen als erste Ermittlungsmaßnahme durch das BKA beruht auf der kriminalistischen Erfahrung, dass sich Täter
bei manchen Straftaten, insbesondere bei solchen, die
ein großes öffentliches Interesse geweckt haben, regelmäßig über den Fortgang der Ermittlungen informiert
haben. Nur in solchen Fällen speichert das BKA die IPAdressen unter Berufung auf die allgemeine Ermittlungsbefugnis aus § 161 und § 163 Strafprozessordnung.
Diese Rechtsauffassung wird vom Generalbundesanwalt laut Vermerk vom 4. April 2005 gestützt. Das BKA
ist im Verantwortungsbereich der Bundesregierung die
einzige Behörde im nachgeordneten Bereich, die so verfährt.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, ich habe zunächst eine Frage zur
allgemeinen Speicherung. Dieses Urteil gibt es nun seit
einem Monat. Das BMJ, das fachlich zuständig ist, hat
auf dieses Urteil reagiert und speichert nicht mehr. Wer
prüft denn wie lange, ob das für Ihr Haus oder für die anderen Häuser Konsequenzen hat: jedes Ressort für sich,
oder gibt es eine fachliche Instanz, die das klärt?
Herr Kollege Wieland, da die Speicherpraxis und die
Speicherdetails von Ressort zu Ressort und von nachgeordneter Behörde zu nachgeordneter Behörde in vielen
Fällen unterschiedlich sind, macht es Sinn, dass dies zunächst einmal von jeder beteiligten Stelle in eigener Verantwortung geprüft wird.
Das ist also ein großes Beschäftigungsprogramm für
die Juristinnen und Juristen in allen Behörden.
Meine zweite Zusatzfrage bezieht sich auf das BKA.
Halten Sie es nicht für kritikwürdig, dass eine staatliche
Institution Informationen der Öffentlichkeit bewusst zur
Verfügung stellt, quasi ein Lockangebot macht, indem
sie sagt: „Hier kann man sich informieren“ - hier ging es
um die sogenannte militante Gruppe -, und dass derjenige, der davon Gebrauch macht, gespeichert wird und
hinterher geforscht wird, wer er denn ist, und er damit
rechnen muss, in die Falle gegangen zu sein, weil man
nämlich nunmehr polizeilich gegen ihn ermittelt? Kann
ein solches Vorgehen das Vertrauen in staatliches Handeln fördern? Kann auf dem Weg zu E-Government, den
wir ja gemeinsam beschreiten wollen, der Bürger beim
Kommunizieren eigentlich noch Vertrauen haben, wenn
er demnächst Trojaner befürchten muss und wenn er
schon jetzt befürchten muss, dass es, wenn er beim BKA
auch nur nachsieht, weitere Ermittlungsschritte gegen
ihn zur Folge hat?
Herr Kollege Wieland, ich möchte zunächst in aller
Form sagen, dass ich nicht glaube, dass irgendein Inter12100
netangebot staatlicher Stellen als Lockvogelangebot bezeichnet werden kann; vielmehr sind es Internetangebote, die sich an die Gesamtheit der Bürgerinnen und
Bürger richten und von denen auch in erfreulich wachsender Zahl Gebrauch gemacht wird.
Ich habe vorhin gesagt - wenn Sie genau zugehört
hätten, wüssten Sie das -, dass es bei manchen Straftaten, insbesondere solchen, die großes öffentliches Interesse geweckt haben, möglich ist, dass die Täter sich auf
diesem Wege informieren. Ich halte es für nachvollziehbar, dass man in solchen einzelnen, abgegrenzten Fällen
zu ermitteln versucht, wer hinter einer bestimmten IPAdresse steht. Jedenfalls wird diese Praxis bislang auch
von der Generalbundesanwaltschaft gestützt. Wir gehen
davon aus, dass sie auf einer einwandfreien Rechtsgrundlage beruht.
Sie haben noch zwei Zusatzfragen.
Ich brauche nur noch eine. - Ist es denn zutreffend,
Herr Staatssekretär, dass, bezogen auf diese militante
Gruppe, über einen bestimmten zeitlichen Korridor hinweg versucht wurde, sämtliche Personen, die die entsprechende Seite angeklickt haben, zu ermitteln, dass
dies laut Presse nicht möglich war, weil es zum Teil nur
sieben Tage gespeichert wurde, aber dass man bei denen,
bei denen es möglich war, recherchiert hat, welche Person dahinter steht, und sich dann überlegt hat, ob man
von polizeilicher Seite aus ermittelt oder nicht?
Herr Kollege Wieland, ich kann Ihnen die Frage, bei
wie vielen IP-Adressen konkret recherchiert wurde, an
dieser Stelle nicht beantworten, bin aber gerne bereit,
das schriftlich nachzuliefern.
Frau Kollegin Stokar, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Website des BKA war bei mir
bislang unter „Favoriten“ abgelegt. Ich finde sie höchst
informativ, und von Zeit zu Zeit mache ich mich als innenpolitische Sprecherin sachkundig, indem ich auf die
Website des BKA zurückgreife.
Ich muss jetzt das Geständnis ablegen, dass mich
nach Rostock und den Auseinandersetzungen um den
G-8-Gipfel auch die Internetseite zur militanten Gruppe
interessiert hat. Daher meine Frage an Sie als Staatssekretär: Zähle ich jetzt zu den Verdächtigen? Bin ich
jetzt beim BKA als gefährliche Linksextremistin gespeichert, oder hat die Analyse meines Zugriffs auf die
BKA-Website in diesem Fall vielleicht ergeben, dass ich
tatsächlich ein Informationsinteresse hatte?
Frau Kollegin, da Sie nach allen mir bekannten Informationen bei den Vorgängen in Heiligendamm nicht im
Umfeld krimineller Handlungen, sondern sehr wohl
staatstragend in Erscheinung getreten sind,
({0})
können Sie davon ausgehen, dass Sie weder beim BKA
noch irgendwo sonst als Verdächtige geführt werden.
Herr Staatssekretär -
Nein, Frau Stokar, diese Frage kann ich nicht mehr
zulassen. Sie haben nur eine Zusatzfrage.
({0})
- Gut, machen Sie das.
Die Frage 11 des Kollegen Christian Ströbele wird
schriftlich beantwortet.1) Deswegen können wir auch
diesen Geschäftsbereich verlassen. Herr Staatssekretär,
vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung auf. Die Fragen wird
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Andreas Storm
beantworten.
Ich rufe die Frage 12 der Kollegin Cornelia Pieper
auf:
Inwiefern ist es auf der Grundlage der Föderalismusre-
form I möglich oder beabsichtigt, seitens der Bundesregie-
rung auf die Ausgestaltung von Schulabschlüssen oder einer
bundeseinheitlichen Lehrerbildung Einfluss geltend zu ma-
chen, und beabsichtigt die Bundesregierung, im Rahmen der
Föderalismusreform II die bundesstaatlichen Kompetenzen
für den Bildungsbereich wieder zu erweitern?
Ich beantworte die Frage der Abgeordneten Pieper
wie folgt: Die Bundesregierung sieht in der von Bundes-
tag und Bundesrat beschlossenen Modernisierung der
bundesstaatlichen Ordnung, der Föderalismusreform I,
einen wesentlichen Schritt zur Verbesserung der Trans-
parenz in der Kompetenzverteilung zwischen Bund und
Ländern. Für die Schulpolitik, nach der Sie gefragt
haben, waren die Länder schon vor der Föderalismusre-
form I zuständig. Die in Art. 91 b des Grundgesetzes neu
formulierten Möglichkeiten des Zusammenwirkens von
Bund und Ländern im Bildungswesen stellen moderne
Steuerungsinstrumente dar, die auf Vergleichsdaten, em-
pirische Bildungsforschung und gemeinsame Empfeh-
lungen setzen. Der föderale Wettbewerb und die damit
verbundene Vielfalt der Regelungen in den Ländern ma-
chen Vergleichbarkeit erforderlich, um in Deutschland
1) Die Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet.
Mobilität zu gewährleisten. Dazu braucht es keine erweiterten Bundeskompetenzen. Vielmehr verlangt es
Absprachen zwischen den Ländern, die der Bund mit Instrumenten der Bildungsforschung und der Leistungsvergleiche unterstützt. Dies gilt in gleicher Weise für
Schulabschlüsse wie für die Lehrerausbildung.
Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, im
Rahmen der Föderalismusreform II, die primär auf die
Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
zielt, die Kompetenzaufteilung in der Bildungspolitik zu
thematisieren.
Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, was Sie gerade ausgeführt haben,
ist mir nicht neu. Wenn das aber die Position der Bundesministerin für Bildung und Forschung ist, dann muss
ich Sie fragen, warum sie dann in der Öffentlichkeit vehement bundesweit einheitliche, vergleichbare Schulabschlüsse und einheitliche Schullehrbücher gefordert hat
und - wie ich meine, zu Recht - auch bei der Lehrerausbildung bundeseinheitliche Regelungen fordert, weil die
KMK, die nach der Föderalismusreform I in der gesamtstaatlichen Koordinierung im Bildungsbereich mehr Zuständigkeiten gewonnen hat, auf diesem Gebiet versagt
hat.
Was die Ministerin in der Öffentlichkeit fordert, widerspricht dem, was Sie eben ausgeführt haben. Meine
Frage ist, warum sie das fordert. Plant sie einen Bildungsgipfel, um in dieser Frage gemeinsam mit den
Ländern voranzukommen?
Frau Abgeordnete Pieper, das widerspricht sich natürlich nicht. Frau Ministerin Annette Schavan hat mit ihren Äußerungen zu den von Ihnen genannten Themen einen Prozess angestoßen, der das Zusammenwirken der
Länder und das Finden einheitlicher Standards bereits
jetzt erkennbar beschleunigt hat. Das wird auch in der
Antwort auf die folgende Frage zum Thema Abitur deutlich werden.
Darüber hinaus ist in der Tat im Zusammenhang mit
der für den Herbst geplanten Nationalen Qualifizierungsinitiative geplant, im Herbst 2008 einen gemeinsamen Bildungsgipfel mit den Ländern zu veranstalten, der
aber im Hinblick auf die Themen weit über schulpolitische Fragen hinausgehen wird.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wenn ich es richtig
sehe, dann hat die Bundesregierung darauf gedrängt
- das wissen Sie so gut wie ich -, dass die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung zukünftig nicht mehr
für Bildung, sondern nur noch für Forschung zuständig
ist. Damit hat der Bund in der Schulpolitik seinen Einfluss auf die Länder zurückgenommen. Sie haben das
beschrieben.
Mit dem, was Sie jetzt vorhaben, planen Sie, in der
Schulpolitik wieder verstärkt Einfluss auf die Länder zu
nehmen, weil eine Qualitätsoffensive in der Bildung notwendig ist. Deswegen frage ich noch einmal: Meint die
Bundesregierung nicht, dass es für die Durchsetzung
dieses Ziels angesichts des europäischen Harmonisierungsprozesses im Bildungsbereich - ich denke in diesem Zusammenhang an den Bologna-Prozess - besser
wäre, wenn der Bund verbindliche Bildungsstandards
und bundesweit vergleichbare Schulabschlüsse nicht nur
mit den Ländern bespricht, sondern auch durchsetzt?
Frau Abgeordnete Pieper, die Bundesregierung ist
nicht der Auffassung, dass es hier zu einer erneuten Veränderung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und
Ländern im Bildungsbereich kommen sollte, weil der
Bund in der Tat sehr wichtige Instrumente hat. Ich habe
sie genannt: die Bildungsforschung sowie darüber hinaus Leistungsvergleiche zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungsstandorts Deutschland im internationalen Vergleich. Ich möchte daran erinnern, dass zu
diesem Thema morgen im Deutschen Bundestag die Debatte über den ersten nationalen Bildungsbericht stattfindet, der gemeinsam von Bund und Ländern alle zwei
Jahre neu aufgelegt werden wird. Mit seinen Instrumenten kann der Bund wichtige Impulse für die bildungspolitische Reform der Bundesländer und für gemeinsame Handlungen geben.
Damit kommen wir zu Frage 13 der Kollegin Pieper:
Wie sind die Aussagen unterschiedlicher Mitglieder der
Bundesregierung zu werten, die sich in jüngster Vergangenheit zugunsten einer einheitlichen Regelung bei der Planung,
Entwicklung und Durchführung von Abiturprüfungen ausgesprochen haben?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Die Frage der Frau Abgeordneten Pieper nach bundeseinheitlichen Regelungen von Abiturprüfungen beantworte ich wie folgt: Die Forderung nach einer einheitlichen Regelung von Abiturprüfungen wurde von Herrn
Ministerpräsident Oettinger erhoben. Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan unterstützt diesen Vorschlag
und geht davon aus, dass die Ständige Konferenz der
Kultusminister der Länder noch im Oktober Beschlüsse
fassen wird, die den Weg zu vergleichbaren Bildungsstandards in allen 16 Bundesländern ebnen werden und
die längerfristig auch zu einheitlichen Anforderungen
bei Abiturprüfungen führen können. Im Übrigen wird
auf die Antwort auf Frage 12 verwiesen.
Ihre erste Nachfrage.
Auf der Jahrestagung der Helmholtz-Gemeinschaft
hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Ansprache ein Zentralabitur in Mathematik und in den anderen Kernfächern gefordert. Ich begrüße diese Äußerung. Heißt das,
dass die Bundesregierung diese Aufgabe zur Chefsache
macht? Anders formuliert: Wie wollen Sie auf die Entscheidungen der Bundesländer Einfluss nehmen, die sich
zum Teil weigern, ein Zentralabitur einzuführen?
Frau Abgeordnete Pieper, die nächste Tagung der
Kultusministerkonferenz findet am 18. Oktober statt.
Dabei wird über Anträge beraten, die zum Ziel haben,
gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und
Forschung im Rahmen der bereits in der Vorfrage angesprochenen empirischen Bildungsforschung die schriftlichen Abiturprüfungsaufgaben in den Fächern Deutsch
und Mathematik der Jahre 2006 und 2007 hinsichtlich
der bisher erreichten Vergleichbarkeit untersuchen zu
lassen. Eine solche Untersuchung wird für den beschriebenen Prozess wichtige Impulse bringen.
Darüber hinaus liegt ein Antrag vor, der länderübergreifende Bildungsstandards nicht mehr wie bisher in
erster Linie für die Jahrgangsstufen vier, neun und zehn,
sondern auch für den Abschluss der allgemeinen Hochschulreife, also für das Abitur, zum Ziel hat. Dies macht
deutlich, dass die wesentlich von der Bundesbildungsministerin mitgetragene Diskussion in den letzten Wochen
bereits erste wichtige Erfolge zeitigt.
Sie verzichten auf eine zweite Nachfrage.
Die Fragen 14 und 15 der Kollegin Hirsch werden
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Schluss des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ich
danke dem Parlamentarischen Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur
Verfügung.
Die Fragen 16 und 17 des Kollegen Markus Kurth
werden schriftlich beantwortet. Die Fragen 18 und 19
der Kollegin Lötzsch werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Jörg Rohde auf:
In welchen konkreten Leistungsbereichen der Eingliederungshilfe sieht die Bundesregierung Einsparpotenziale für
den Fall, dass sie bei der für diese Legislaturperiode angekündigten Reform der Eingliederungshilfe unter anderem auch
das Ziel verfolgt, den fallzahlbedingten Anstieg der Kosten
der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zu bremsen
bzw. zu stoppen, und, sollte sie dieses Ziel nicht verfolgen,
warum nicht?
Frau Präsidentin, ich würde gerne die Fragen 20 und
21 im Zusammenhang beantworten, wenn Sie einverstanden sind.
Herr Rohde, sind Sie damit einverstanden? - Das
scheint der Fall zu sein. Dann rufe ich auch die Frage 21
des Kollegen Jörg Rohde auf:
Welche Modelle einer Entlastung sind für die Bundesregierung denkbar, für den Fall, dass sie vor dem Hintergrund
des von Experten erwarteten Kostenanstiegs für Leistungen
der Eingliederungshilfe von 11,8 Milliarden Euro im Jahr
2005 auf circa 14,5 Milliarden Euro im Jahr 2010 es für notwendig ansieht, die Kommunen als Kostenträger der Eingliederungshilfe an dieser oder anderer Stelle finanziell zu entlasten, und, sollte dies nicht der Fall sein, wie sollen bei
gleichzeitigem Anstieg der Kosten Effizienz und Leistungsfähigkeit der Eingliederungshilfe zusätzlich ausgebaut werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Rohde, der Bundesregierung sind die
Ausgabensteigerung der Eingliederungshilfe und die damit verbundene Belastung von Ländern und Kommunen
bekannt. Die Gründe für die Zunahme der Leistungen
der Eingliederungshilfe sind vielfältig. Sie sind unter anderem auf folgende Entwicklungen zurückzuführen: Die
Lebenserwartung behinderter Menschen nähert sich der
nichtbehinderter Personen an. Aufgrund der modernen
Medizin leben mehr Menschen mit einem hohen Grad an
notwendiger Unterstützung und Hilfe. Die Zahl behinderter Kinder nimmt im Vergleich zur sinkenden allgemeinen Geburtenrate nicht ab. Nach den Verbrechen des
NS-Regimes an Menschen mit Behinderungen nimmt in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Zahl der Jahrgänge älterer behinderter Menschen weiter zu. Außerdem ist eine verstärkte Zunahme der Zahl der Menschen
mit seelischer Behinderung zu verzeichnen.
Wichtige gesetzliche Maßnahmen, die die Eingliederungshilfe betreffen, sind schon mit dem Gesetz zur Einordnung des Bundessozialhilfegesetzes in das Sozialgesetzbuch ergriffen worden, zum Beispiel durch die
Stärkung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“,
durch einheitliche Einkommensgrenzen, durch grundsätzlich einheitliche Zuständigkeiten der überörtlichen
Träger der Sozialhilfe und durch das trägerübergreifende
Persönliche Budget.
Darüber hinaus wurde im damaligen Vermittlungsverfahren vereinbart, die Problematik in einer Länderarbeitsgruppe mit Bundesbeteiligung zu behandeln. In der
Koalitionsvereinbarung vom November 2005 ist deutlich gemacht worden, dass an dem eingeleiteten Paradigmenwechsel - mehr Teilhabe der Menschen mit Behinderung - in der Politik der Bundesregierung festgehalten
werden soll und dass die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe eine gemeinsame Aufgabe von Ländern,
Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen
sein muss. Nur so können in breitem Konsens die Ziele
einer effizienten und leistungsfähigen, aber auch humanen Eingliederungshilfe auf Dauer erreicht werden.
Sie haben die Möglichkeit zu insgesamt vier Nachfragen. Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Von einigen mache ich
sicher Gebrauch. - Herr Staatssekretär, vielen Dank. Wir
stimmen in der Analyse weitgehend überein. Sie hatten
als einen Punkt das trägerübergreifende Persönliche
Budget genannt, das eine Möglichkeit bieten würde,
über den Wettbewerb attraktive Angebote zu schaffen
und die Kosten zu dämpfen. Mit welchen gesetzlichen
Mitteln soll denn die Form der Leistungserbringung als
trägerübergreifendes Persönliches Budget vor dem Hintergrund erreicht werden, dass es trotz eines langjährigen
Modellversuches nur sehr wenige Fälle in Deutschland
gibt? Wie können wir da vorankommen?
Herr Kollege Rohde, die notwendige Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe steht mehr denn je unter
dem Eindruck des Paradigmenwechsels, den ich geschildert habe. Ich glaube, man muss mittel- und langfristig
zu einer personenzentrierten Eingliederungshilfe kommen, die die eigenverantwortliche und selbstbestimmte
Teilhabe behinderter hilfebedürftiger Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort umfassend unterstützt.
Ich sage Ihnen aber auch: Bei diesen Fragen sind überwiegend die Länder in der Verantwortung. Die Koalitionsvereinbarung spricht hier ausdrücklich nur von
einer Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. Wir
haben gesetzlich eine Menge gemacht. Diese Regelungen müssen jetzt umgesetzt werden. Wir führen regelmäßig Gespräche, auch mit den Obersten Landessozialbehörden. Aber die Verantwortung liegt überwiegend da.
Deswegen habe ich in meiner Antwort gesagt, dass hier
die kommunalen Träger bzw. die Kommunen und die
Länder mit den Organisationen der Behinderten gefordert sind.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich versuche jetzt, zwei Fragen zu verbinden. Sie haben einmal die Obersten Landessozialbehörden in der
KOLS erwähnt. Werden Sie denn einen Entwurf für die
Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe aus der
KOLS in die Beratung einbeziehen, oder legen die Referenten der Bundesregierung einen eigenen Entwurf vor,
auf dessen Grundlage weiter beraten wird? Ich versuche,
zu ergründen, wie die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe vorankommt. Das tue ich auch vor dem Hintergrund, dass die Behindertenverbände gerade aus einem Gespräch mit der Behindertenbeauftragten zu dem
Thema der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe
ausgestiegen sind. Wir als Opposition sind natürlich sehr
neugierig, wie die nächsten Schritte aussehen könnten.
Noch einmal: In der Verantwortung sind zunächst einmal andere. Diese müssen sich entsprechend bewegen.
Die Bundesregierung tut das, was sie tun kann. Ich habe
Beispiele genannt. Wir setzen die Maßnahmen in dieser
Legislaturperiode um. Alles andere ist nur möglich,
wenn es zu einem Konsens mit den Beteiligten kommt.
Da haben andere eine größere Verpflichtung. Sie fragen
hier den Falschen.
Haben Sie noch eine Nachfrage?
Würden Sie der Analyse zustimmen, dass die Bundesregierung jetzt auf das wartet, was andere erarbeiten? Im
Koalitionsvertrag steht es nun einmal so, und die Bundesregierung wartet. Ist das das Wesentliche Ihrer Analyse?
Die Bundesregierung hat eine ganze Menge gemacht.
Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht. Sie selbst
haben das Beispiel der Budgets genannt und haben beklagt, dass das nur für wenige gilt. Das Problem mit der
Eingliederungshilfe ist, dass es hier andere Zuständigkeiten gibt und sich andere bewegen müssen. Es gibt
keine Bringschuld der Bundesregierung; sie muss hier
nicht tätig werden. Wir beteiligen uns an den entsprechenden Gesprächen und Konferenzen. Wir sagen: Es ist
ganz wichtig, die Behindertenorganisationen als Sachverständige in eigener Sache massiv mit einzubeziehen,
aber es ist nicht so, dass wir den ersten Schritt machen
müssen. Wir haben schon viele Schritte gemacht.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Damit sind
die Fragen zur Fragestunde erschöpft.
Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der Aktuellen Stunde um 15.30 Uhr.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen FDP und DIE
LINKE
Haltung der Bundesregierung zu Veränderungen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I und bei der Rente ab 67 und entsprechenden Äußerungen des Bundesministers für
Arbeit und Soziales Franz Müntefering
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer die politische Diskussion in unserem Land in den
letzten Tagen verfolgt, der muss sich ernsthaft die Frage
nach der Regierungsfähigkeit des Koalitionspartners
SPD stellen.
({0})
Wo Führung gefragt wäre, wo angesichts eines erkennbar an Kraft verlierenden Aufschwungs nicht ein Nachlassen der Anstrengungen, sondern eine Verstärkung der
Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik geboten
wäre, lautet das Kommando des angeschlagenen und um
seine Zukunft kämpfenden SPD-Vorsitzenden Kurt
Beck: Vorwärts, Leute, es geht zurück!
({1})
Wir werden Zeugen eines zunächst noch parteiinternen
Wahlkampfes zulasten der Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung. Kurt Beck, der politische Prügelknabe der letzten Monate, tätigt im Streben nach einem
guten Wahlergebnis auf dem kommenden Parteitag in
diesen Tagen ein Geschäft zulasten Dritter.
Weil das Signal zur Umkehr ganz offensichtlich bei
einer großen Zahl von SPD-Mitgliedern und auch SPDKollegen in diesem Hause verfängt, stellt sich für uns
die drängende Frage, die wir mit dieser Aktuellen
Stunde klären wollen: Ist die Geschäftsgrundlage der
Koalition, wie der erste Geschäftsführer der Union,
Norbert Röttgen, gestern feststellte, gefährdet, weil der
Juniorpartner in der Koalition,
({2})
die SPD, mit sich selbst um den richtigen Kurs ringt?
Hat diese Bundesregierung noch die ordnungspolitische
Orientierung und auch die innere Kraft, das im Interesse
dieses Landes und seiner Menschen Notwendige zu tun
und die Notwendigkeit dieses Handelns auch dann zu erklären, wenn dieses Handeln unpopulär ist? Wir erwarten, dass die Bundesregierung hier und heute dazu klar
Stellung bezieht. Ich finde es einen Skandal, Herr Parlamentarischer Staatssekretär - bei aller persönlichen Verehrung -,
({3})
dass der zuständige Minister Franz Müntefering heute
hier nicht erschienen ist, sondern kneift und diesem Parlament nicht Rede und Antwort stehen will.
({4})
Hat also die Koalition noch den Willen zur Gestaltung
von Reformen,
({5})
oder geht sie den einfachen Weg, den Weg des geringsten
Widerstandes, und schüttet, trunken von arbeitsmarktpolitischen Erfolgen, die, Herr Kollege Brauksiepe, zwar
erfreulich, aber am allerwenigsten Ergebnis der Politik
dieser Koalition sind, erneut das Füllhorn sozialer Wohltaten aus?
({6})
Wir wollen wissen: Wie steht die Bundesregierung zu
den Vorschlägen des SPD-Vorsitzenden, der in populistischer Manier das beiseitezuräumen bereit ist, was bislang
ein Knackpunkt der Arbeitsmarktpolitik der Regierung
Schröder war, nämlich die Verkürzung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengelds I - ungeliebt zwar von den Genossen, aber doch tapfer verteidigt vom fachlich zuständigen
Minister und Vizekanzler, Franz Müntefering?
Denn das muss klar sein, und das kann man auch
nicht schönreden: Was Kurt Beck vorschlägt, ist keine
Weiterentwicklung der Agenda 2010, sondern das ist die
Rolle rückwärts mit Anlauf und Schlusssprung und ein
kapitaler politischer Fehler dazu.
({7})
Die Klärung dieser Fragen ist auch deswegen dringlich, weil ein Arbeitsminister und Vizekanzler, der nicht
mehr die Kraft hat, in einer zentralen Frage der Arbeitsmarktpolitik seine Partei hinter sich zu versammeln,
keine Legitimation mehr hat, auch nur noch einen Tag
im Amt zu verbleiben.
({8})
- Da brauchen Sie nicht zu lachen. - Wer wie Franz
Müntefering, den manche von Ihnen gerne spöttisch als
Nachlassverwalter von Gerhard Schröder bezeichnen,
die Hartz-Reformen ohne Wenn und Aber verteidigt hat,
der kann nach einem anderslautenden Parteitagsbeschluss - und der ist mit Händen greifbar - nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen. Was wir in diesen Tagen
erleben, ist der Anfang vom Ende des Mannes, der früher einmal als das personifizierte soziale Gewissen der
SPD galt.
({9})
Wenn man nun sieht, dass bei der SPD Feuer unter dem
Dach ist, dann soll doch nicht vergessen werden, dass derjenige, der zuerst gezündelt hat, ein Ministerpräsident der
CDU war. Es war Jürgen Rüttgers, der selbsternannte Arbeiterführer aus Düsseldorf, der den gedanklichen Systembruch mit der Reformpolitik, für die die Verkürzung
der Bezugszeit des Arbeitslosengeldes I steht, vollzogen
hat. Schon dieser Vorschlag war falsch; denn es geht hier
nicht, wie Jürgen Rüttgers dieser Tage im Frühstücksfernsehen uns glauben machen wollte, um die Frage, ob man
eine verlängerte Zahlung des Arbeitslosengeldes besser
am Lebensalter oder an der Beitragszahlungsdauer festmacht.
({10})
Man kann in einem umlagefinanzierten System, in dem
in jedem Jahr die Einnahmen auch wieder ausgegeben
werden, also mithin keine Rücklagen gebildet werden,
für Beitragsleistungen der Vergangenheit keine neuen
Ansprüche begründen. Das funktioniert nicht und ist
auch nicht bezahlbar nach dem Motto „Das können wir
uns wieder leisten“. Ich sage hier sehr deutlich: Wer eine
an sich mögliche Beitragssenkung unterlässt, der bewirkt auf Dauer das Gleiche wie eine Beitragserhöhung.
({11})
Wer wie die Große Koalition die Rentenbeiträge erhöht, wer als Folge einer verkorksten Gesundheitsreform
das Steigen der Krankenversicherungsbeiträge zu verantworten hat, wer die Beiträge zur Pflegeversicherung
erhöhen will und die Mehrwertsteuer schon angehoben
hat, der hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit,
dort, wo Beitragssenkungen möglich sind, das Geld
nicht für alle möglichen Wohltaten anderweitig auszugeben, sondern den Menschen in diesem Land ihr Geld,
ihre Beiträge, zurückzugeben.
({12})
Eine Senkung auf nicht nur 3,9, sondern mindestens
auf 3,5 wenn nicht gar auf 3,2 Prozent ist machbar.
Herr Kollege Kolb, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Diese Senkung ist dann machbar, wenn Wahlgeschenke à la Beck,
die alleine bei der Verlängerung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I ein Volumen von 0,1 Beitragspunkten ausmachen, unterbleiben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die wichtigste Aufgabe dieser Regierung ist es,
Arbeit zu schaffen und Arbeit zu erhalten.
({0})
Dies hat das Bundeskabinett bei seiner Klausurtagung in
Meseberg noch einmal ausdrücklich bestätigt. Die
Frankfurter Rundschau hat es letzten Donnerstag auf
den Punkt gebracht: Uns geht es um Perspektive statt
Frührente. Das haben wir uns für die Älteren mit den Reformen am Arbeitsmarkt vorgenommen. Das haben wir
auch erreicht.
Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist so gut wie seit
zwölf Jahren nicht mehr. Das Wachstum kann seine Wirkung entfalten. Früher - ich rede von der Zeit vor 1998 wäre selbst bei einem Wachstum, wie wir es derzeit verzeichnen können, die Beschäftigungsschwelle kaum
überschritten worden. Heute schlägt die gute Konjunktur
voll auf den Arbeitsmarkt durch. Mit 3,5 Millionen ist
die Zahl der Arbeitslosen um fast 700 000 geringer als
vor einem Jahr. Die Zahl der Erwerbstätigen ist mit fast
40 Millionen auf Rekordhöhe. Es gibt rund 1 Million offene Stellen; die Hälfte davon könnte sofort besetzt werden.
Das sind feste Schritte in eine klare Richtung. Wer
Arbeit hat, wird sie ziemlich sicher behalten. Wer Arbeit
sucht, hat große Chancen, auch eine zu finden. Das gilt
- das sage ich hier mit allem Nachdruck - gerade auch
für die Älteren. Meist sind das gut qualifizierten Kräfte,
die noch ein Drittel oder ein Viertel ihres Arbeitslebens
vor sich haben. Die Chancen der Älteren am Arbeitsmarkt haben sich deutlich verbessert. Auch das ist ein
Erfolg der Arbeitsmarktreform und der Initiative
„50 plus“.
({1})
Es geht uns dabei auch - das sage ich ausdrücklich um einen Mentalitätswechsel. Gesellschaftliches Ziel
muss es sein, die Älteren im Erwerbsleben und im Arbeitsmarkt zu halten. Das ist eine Frage von gerechter
Teilhabe und von Würde. Sie sind kein altes Eisen, sondern in aller Regel alte Hasen.
Immer mehr Betriebe sehen das ganz genauso. Die
Chancen der Älteren lassen sich an handfesten Zahlen
klar und deutlich ablesen. In absoluten Zahlen: Wir haben 528 000 erwerbstätige Ältere mehr als 1998. Die Erwerbstätigenquote Älterer lag noch 1998 bei 37,7 Prozent. Im zweiten Quartal dieses Jahres lag sie bei
52 Prozent. Das ist eine rasante Steigerung und ein ganz
deutlicher Erfolg.
({2})
Wir wollen, dass sich diese Quote bis 2010 - das ist unser Ziel - auf mindestens 55 Prozent erhöht. Das bedeutet Arbeit für noch einmal mindestens 600 000 Ältere.
Wenn Ältere arbeitslos werden, ist das für sie nicht
das Ende. Das war früher meist anders: Ein kurzer Sozialplan und die anschließende Frühverrentung bedeuteten oft das Ende aller Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
({3})
- Ich will etwas erklären.
({4})
In diesem Jahr sind bislang rund 1 Million Menschen
über 50 Jahren arbeitslos geworden. In diesem Jahr sind
aber auch 1 235 000 Ältere aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet worden. Wer sich die Zahlen zu diesem Thema
anschaut, muss feststellen, dass wir bei der Arbeitslosigkeit Älterer einen deutlich stärkeren Abbau zu verzeichnen haben als im Durchschnitt aller anderen Altersgruppen.
({5})
Den Satz: „Ich bin schon über 50, ich finde ja doch
nichts mehr!“, hört man immer seltener, weil er immer
weniger stimmt.
({6})
Zu dem, was hier eben gesagt worden ist, will ich ausdrücklich sagen: Die durchschnittliche Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld I beträgt bei den 50- bis 55-Jährigen im
Durchschnitt rund sechs Monate - mir ist klar, was
„Durchschnitt“ heißt -, bei den 55- bis 60-Jährigen rund
sieben Monate und bei den 60- bis 65-Jährigen rund elf
Monate. Ich sage ganz leise und gelassen: Das ist ziemlich weit weg von der Grenze 12 oder 18 Monaten. Auch
das muss man einmal schlicht zur Kenntnis nehmen.
({7})
Darum sage ich: Die Ziele sind richtig. Die Richtung
stimmt. Die Älteren haben eine Perspektive auf Arbeit.
Wir haben die falsche Praxis der Frühverrentung beendet
und mit der Initiative „50 plus“ neue Chancen auf Arbeit
geschaffen.
({8})
Ich will die Chance nutzen, die Arge Vogtlandkreis zu
grüßen, die es mit ihrem Projekt „Vital ab 50“ geschafft
hat, über 540 Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, und das in einer Region mit einer
Arbeitslosigkeit von 15 Prozent. Der Vorwurf, Ältere
fänden überhaupt keine Arbeit, ist schlicht Unsinn. Das
ist nicht wahr und wird immer weniger wahr.
Wir haben die Basis für eine nachhaltige Senkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gelegt; Herr Kolb
hat das angesprochen. Innerhalb eines Jahres senken wir
den Beitrag um 2,6 Prozentpunkte ab und entlasten die
Beitragszahler um 19 Milliarden Euro. Herr Kolb, Sie
können ja einmal nachschauen, wie sich der Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung während Ihrer Regierungsbeteiligung entwickelt hat. Er ging immer steil nach oben,
nie nach unten. Wir hingegen senken den Beitrag; damit
das einmal klar ist.
({9})
Wir haben es erreicht, dass die Gefahr, in die Falle der
Langzeitarbeitslosigkeit zu geraten, deutlich gesunken
ist. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen belegen
das. Ich finde es faszinierend, dass uns jetzt Zahlen und
Untersuchungsergebnisse vorliegen, die belegen, dass
wir das, was wir mit der Absenkung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes erreichen wollten, auch erreichen: ein anderes Verhalten bei den betroffenen Menschen und ein anderes Verhalten bei den beteiligten Betrieben.
({10})
Gerade Ältere profitieren überproportional von der guten
Entwicklung.
Chancen schaffen, darin liegt der Schlüssel zu einer
guten und zukunftsfähigen Politik. Neben der Chance,
tatsächlich bis zum Rentenalter arbeiten zu können, wollen wir aber auch eine gute materielle Absicherung im
Alter. Die gesetzliche Rente bleibt dabei das Kernstück.
Das haben wir durch die schrittweise Anhebung des
Renteneintrittsalters erreicht. Hinzu kommt die betriebliche oder private Vorsorge. Wir fördern das ganz kräftig.
Der Übergang ist schon heute flexibel geregelt. Es gibt
Ausnahmen für langjährig Versicherte, und einige haben
die Möglichkeit, abschlagsfrei früher in Rente zu gehen.
Hinzu kommen weitere Möglichkeiten wie Altersteilzeit, Teilrenten oder Wertkonten. Vielleicht gibt es noch
die eine oder andere sinnvolle zusätzliche Idee. Das werden wir sehen. Darüber werden wir in der nächsten Zeit
diskutieren.
Ich will hier ausdrücklich sagen, dass unsere Ziele
völlig klar bleiben: Teilhabe statt bloßer Alimentierung.
({11})
Arbeit schaffen, statt Arbeitslosigkeit zu verlängern.
({12})
Perspektiven auf Beschäftigung statt Frührente.
({13})
Das wollte ich hier für die Bundesregierung erklären.
Nun will ich noch eines sagen, Herr Kolb: Was auf
dem SPD-Parteitag beschlossen wird, bleibt abzuwarten.
Das wissen Sie genauso wenig wie ich. Das muss der
Parteitag erst einmal beschließen. Welche Positionen
dann in der Koalition verhandelt und verabredet werden,
ist eine Frage der Koalition. Das ist immer so bei Koalitionsregierungen; auch das wissen Sie ganz genau. Für
uns gilt gegenwärtig, was in der Koalitionsvereinbarung
steht. Dort steht nichts von der Verlängerung. Aber es
gilt natürlich auch das, worauf sich Koalitionspartner
verständigen. Einer der Koalitionspartner hat vor langem
einen Parteitagsbeschluss gefasst. Er hat ihn bis heute in
keine Koalitionsabsprache eingebracht.
({14})
Deswegen sage ich Ihnen ausdrücklich: Das, was ich
hier geschildert habe, sind Erfolge der Politik dieser
Bundesregierung und der Vorgängerregierung.
({15})
Ich finde, die Reformen, die wir eingeleitet und umgesetzt haben, tragen jetzt sehr gute Früchte und zeigen Erfolge. Das gilt es festzuhalten. Alles andere wird die Diskussion in der Zukunft zeigen.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
({16})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn der alte Satz der Öffentlichkeitsarbeiter, dass
selbst schlechte Nachrichten in irgendeiner Form gute
Nachrichten sind, Wahrheit hat, dann kann die SPD momentan wahrhaftig die Sektkorken knallen lassen. Seit
Tagen ist der Pressespiegel meiner Fraktion voll mit Berichten über Sozialdemokraten, die mal stolz auf die
Agenda 2010 und mal stolz auf ihren Vorsitzenden sind.
Bundesminister Müntefering - er ist heute leider nicht
anwesend; aber wir haben eben gehört, dass ALG I in
der Kabinettssitzung nicht einmal ein Thema war, also
ist es nicht verwunderlich - ist wahlweise im Streit mit
seinem Vorsitzenden, auf der Suche nach einem Kompromiss oder kurz vor dem Rücktritt. Die SPD sieht sich
einerseits auf dem Weg zu neuen Ufern, während andere
in derselben Partei das Ende der ach so erfolgreichen
Agenda 2010 nahen sehen. Kurt Beck spricht derweil
selbst von einer Weiterentwicklung der Agenda.
Keine Angst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ich werde hier nicht auf den Weg von Herrn Kolb
einschwenken. Dass wir hier gemeinsam eine Aktuelle
Stunde beantragt haben, hat ausschließlich organisatorische und keine inhaltlichen Gründe.
({0})
Mir geht es eher darum, einmal nüchtern zu schauen,
was fern von jeder Aufregung tatsächlich hinter dieser
aktuellen Diskussion steht. Einiges dabei scheint mir
viel Lärm um nichts zu sein. Was ist geschehen? Teile
der SPD - nicht unbegründet ist die Vermutung: eine
Mehrheit der SPD - will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern, genauer: Arbeitslose, die älter als
45 Jahre sind, sollen ALG I 15 Monate und über 50-Jährige sollen ALG I 24 Monate beziehen können. Die
Union kontert in Person des Parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktion, Kollege Norbert Röttgen,
mit einer Verbalattacke, die laut Spiegel zu den deftigsten gehörte, die aus der Union im Laufe der über zweijährigen Tätigkeit der Großen Koalition an die SPDSpitze gerichtet wurden. Wieso eigentlich? Der laut
Umfragen bekannteste Sozialdemokrat von NordrheinWestfalen, CDU-Ministerpräsident Rüttgers, hat mit seiner Forderung versucht, die SPD links zu überholen.
Übrigens, Herr Kolb, ich habe in dieser Frage keine großen Proteste von Ihrem Kollegen Herrn Pinkwart gehört.
({1})
Die CDU hat die Forderung von Herrn Rüttgers aufgegriffen und auf ihrem Parteitag 2006 beschlossen: Wer
länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat,
soll mehr staatliche Unterstützung bekommen als die,
die nur für kurze Zeit Beiträge geleistet haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion,
sind Sie denn jetzt darüber entsetzt, dass Kurt Beck
christdemokratische Parteitagsbeschlüsse für richtig
hält? Wollen Sie die Leute wirklich glauben machen,
dass die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer
sich deshalb verbessert hat, weil es aufgrund des kürzeren ALG-Bezugs weniger Frühverrentung gibt? Es waren doch nicht die Arbeitslosen, die sich auf diese Art
und Weise den Beschäftigungsabbau über Sozialpläne
von der Bundesanstalt für Arbeit subventionieren ließen;
vielmehr waren es die Arbeitgeber, die dieses System
missbraucht haben. Als Dank dafür haben Sie die Bedingungen für Arbeitnehmer verschärft und die Arbeitgeber
damit belohnt, dass Sie die Erstattungspflicht aus dem
AFG herausgestrichen haben.
Nein, hier geht es um etwas anderes. Nicht weniger
als das Ende der Agenda 2010, dieses allein selig machenden und gerade jetzt so erfolgreichen Programms,
sehen Sie da heraufziehen, und da muss man kontern.
Das Ende der Agenda 2010 wegen einer verhältnismäßig
geringfügigen Änderung beim Arbeitslosengeld I? So
harmlos war das nie, was Sie mit der Agenda 2010 beschlossen haben. Der massive Eingriff in die sozialen
Sicherungssysteme wird nicht dadurch rückgängig gemacht, dass man ein bisschen mehr ALG für Ältere
zahlt.
Solange Arbeitnehmer dank einer auf steil gestellten
Rutsche des sozialen Abstiegs befürchten, sich - egal,
was auch immer sie vorher verdient haben - nach nur einem Jahr auf Sozialhilfeniveau wiederzufinden, sind sie
in diesem Land erpressbar und leichte Opfer für Lohnabbau, Streichung von betrieblichen Sozialleistungen
und Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich.
({2})
Während im letzten Jahr, Ihrem Boomjahr, die Gewinne
der Unternehmen und die Einkünfte aus Kapitalvermögen real um 5,2 Prozent stiegen, hatten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit ihrer harten Hände Arbeit ein Wachstum von 7,5 Prozent erwirtschaftet hatten,
real 0,7 Prozent weniger in den Taschen. Das sind die
gewollten Folgen der Agenda 2010.
Sie sind stolz auf den Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Über die Qualität dieser
Arbeitsplätze schweigen Sie sich aus. Es boomt vor allem die Zeitarbeit, wo Löhne teilweise ein Drittel unter
dem liegen, was die Kollegin oder der Kollege in der
Stammbelegschaft verdient. Die Agenda 2010 hat mit
verschärfter Zumutbarkeit - nein, mit einem Zwang zur
Arbeit - die Vorraussetzung für ein solches Lohndumping
geschaffen. Sie wird aber nicht dadurch beerdigt dass Sie
für einige ein bisschen länger Arbeitslosengeld zahlen
oder dass Sie die übelsten Härten der Rente mit 67 abzufedern versuchen. Auch bei der Rente mit 67 gilt: Es gibt
Volker Schneider ({3})
keine Verbesserung, es gibt nur einen Abschied von diesem Konzept.
Besten Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ja, es ist richtig, die CDU hat auf ihrem Bundesparteitag in Dresden vor einem knappen Jahr beschlossen, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes stärker an
die Beitragszahlung zu koppeln. Jemand, der jahrzehntelang Beiträge in die Sozialversicherung gezahlt hat,
sollte beim Arbeitslosengeld in einer gestuften Weise
bessergestellt werden als derjenige, der nur kurz gearbeitet und eingezahlt hat. Dies erschien uns als eine Frage
der inneren Gerechtigkeit im System und als leistungsgerechter als das, was wir augenblicklich haben.
Noch wichtiger: Wir wollten die Freibeträge zur Altersvorsorge, zum sogenannten Altersschonvermögen erhöhen. Derjenige, der ein Leben lang persönlich Vorsorge getroffen hat, soll, wenn er im höheren Lebensalter
langzeitarbeitslos wird, nicht bestraft werden, indem
man ihm die Ersparnisse weitgehend nimmt. Dies erschien uns ebenfalls als eine Frage der Leistungsgerechtigkeit.
({0})
Aber wir haben hinzugefügt: Weil wir keine zusätzlichen Lasten für die Beitragszahler, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber, wollen,
müssen wir das kostenneutral gestalten. Das ist der Beschluss. Er wurde sehr wohl, Kollege Andres, in die
Koalition eingeführt, nämlich im Januar vergangenen
Jahres. Seinerzeit bissen wir auf Granit. Wir haben unsere Meinung gebildet, übrigens die CSU in genau der
gleichen Weise wie die CDU.
Wenn man seine Meinung inzwischen geändert hat
und jetzt Raum für Diskussionen sieht, warum sollte
man im Besitz einer gefestigten Meinung nicht gesprächsbereit sein? Ich sage allerdings noch einmal: Für
uns gibt es in allen Gesprächen über den politischen
Kurs eine klare Priorität. Gerechte Leistungen für Arbeitslose sind sehr wichtig. Aber für die Union hat es
oberste Priorität, die Arbeitslosigkeit abzubauen bzw. zu
verhindern und in Deutschland neue Arbeitsplätze zu
schaffen.
({1})
Dabei sind wir bisher nicht gerade erfolglos gewesen:
1,1 Millionen weniger Arbeitslose als vor zwei Jahren,
700 000 weniger als im vergangenen Jahr und
555 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr
innerhalb eines einzigen Jahres; mittlerweile gibt es in
Deutschland 27 Millionen sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse. Besonders schön ist: Bei
den über 50-Jährigen sind 282 000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse entstanden. Das ist
keine schlechte Bilanz, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({2})
Allerdings sind wir von unserem Ziel noch sehr weit entfernt.
Zu den wichtigsten Entscheidungen, die in Deutschland getroffen wurden, um wieder Wachstum zu generieren und Beschäftigung zu schaffen, gehört die Entscheidung, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung
kräftig, nämlich von bisher 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent,
zu senken.
({3})
Es ist in der Großen Koalition bereits beschlossene Sache, ihn noch weiter zu senken, und zwar auf 3,9 Prozent, also um zusätzliche 0,3 Prozentpunkte.
Wir von der Union rufen Ihnen zu: Wir müssen uns
noch einmal mit dem Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung beschäftigen und alle Finanzressourcen, die sich
uns aufgrund der günstigen Entwicklung bei der Bundesagentur für Arbeit bieten, nutzen, um diesen Beitragssatz noch kräftiger und nachhaltiger als bisher auf
3,5 Prozent zu senken.
({4})
Das hat für die Union oberste Priorität. Das ist angebotsund nachfrageorientierte Politik. Wir stärken dadurch die
Nettokaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und wir begrenzen die Lohnnebenkosten der Arbeitgeber und verbessern auf diese Weise ihre Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt.
In Zahlen heißt das: Für den Durchschnittsarbeitnehmer würde sich aus dieser Senkung des Beitragssatzes
ein Kaufkraftvorteil von 450 Euro netto pro Jahr ergeben. Für seinen Arbeitgeber würde das eine Senkung der
Kosten um ebenfalls 450 Euro pro Jahr bedeuten. In der
volkswirtschaftlichen Summe stärken wir dadurch den
Konsum bzw. die Nachfrage und machen das Angebot
leistungsfähig. Das ist der richtige Weg, um in Deutschland mehr Beschäftigung und mehr Arbeitsplätze zu
schaffen.
Ich bedanke mich.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I ist
falsch.
({0})
Das weiß Herr Beck, und das wissen auch diejenigen,
die Herrn Beck unterstützen.
({1})
Als Herr Rüttgers diesen Vorschlag im Herbst letzten
Jahres gemacht hat, hat Herr Beck ihn als Unsinn bezeichnet und deutlich gemacht, dass dieser populäre Vorschlag dem Stimmenfang dienen soll; das wissen Sie.
({2})
Aber das weiß nicht nur die SPD, sondern das weiß
auch die CDU.
({3})
Sie erschrecken sich jetzt zu Tode. Denn Sie haben
gedacht, Sie könnten auf Ihrem Parteitag beschließen,
was Sie wollen, weil Sie davon ausgingen, dass Ihre
Freunde von der Sozialdemokratie, zum Beispiel Franz
Müntefering, schon dafür sorgen würden, dass Sie die
Suppe, die Sie sich eingebrockt haben, nicht auslöffeln
müssen.
({4})
Aber jetzt stehen Sie da und müssen auf einmal selbst
Position beziehen. Ich muss sagen: Das finde ich richtig.
Herr Weiß, Ihnen möchte ich eine Frage stellen. Auf
der einen Seite sind Sie für die Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I. Auf der anderen Seite sagen Sie,
dass alles, was erwirtschaftet wird, zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung genutzt werden
muss. Wollen Sie uns etwa erzählen, es sei gerecht, dass
die Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I auf Kosten der Jüngeren geht? Dann müssten wir beide uns tatsächlich einmal über Ihren Gerechtigkeitsbegriff unterhalten.
({5})
Ich will deutlich sagen: Wir Grüne sind überhaupt
nicht der Auffassung, das Hartz IV für sich genommen
oder die Agenda 2010 als Paket sakrosankt sind. Auch
ich finde, dass es Veränderungsbedarf gibt; dazu will ich
noch etwas sagen. Aber was ich absurd finde, ist, dass
Sie ausgerechnet eine Regelung verändern wollen, die
bewiesenermaßen erfolgreich ist. Tatsächlich hat die
Verkürzung des ALG I die Wirkung gezeigt, die wir uns
alle gewünscht haben: Die Arbeitslosigkeit bei den Älteren geht stärker zurück als im Durchschnitt, und zwar
fast doppelt so stark. Und genau in diesem Moment wollen Sie dieses Instrument einkassieren. Diese Logik
müssen Sie uns erklären.
({6})
Es gibt natürlich einen Grund. Sie sind völlig verzweifelt über die Umfragewerte der SPD. Kurt Beck hat
gedacht, das Projekt „ALG I verlängern“ ist das Projekt
„82 Prozent für die SPD“. Ich kann Ihnen nur sagen:
Wenn Sie das geglaubt haben, dann müssen Sie sich
schon jetzt darauf einstellen, dass das in die Hose gegangen ist; denn laut Forsa-Umfrage von heute Morgen
wurde Ihnen noch ein Prozentpunkt weniger attestiert.
({7})
Sie sagen immer, es geht Ihnen darum, der Lebensleistung der älteren Menschen Respekt zu zollen; das sei
ein Ausdruck von Gerechtigkeit. Das, was Sie mit Ihrem
Vorschlag erreichen, ist maximal gefühlte Gerechtigkeit.
Denn wirklich helfen, wirklich Sicherheit geben heißt
doch nicht, das Arbeitslosengeld I sechs Monate länger
zu zahlen. Sicherheit bietet ein Arbeitsplatz. Sie wollen
versuchen, diesen Menschen den Anspruch auf einen
Arbeitsplatz mit der sechsmonatigen Verlängerung des
ALG I abzukaufen. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu
tun.
({8})
Lassen Sie mich jetzt noch Folgendes sagen, was mir
besonders wichtig ist: Sie investieren in eine falsche
Politik, weil die Kinder, die jetzt in Kindergärten und
Schulen schlecht gefördert werden, nicht das bekommen, was sie brauchen, um später im Leben tatsächlich
Teilhabe zu haben, um Jobs auszufüllen. Wenn 30 Prozent einer Jahrgangskohorte das Bildungssystem ohne
Schulabschluss oder mit einem schlechten Schulabschluss
verlassen, wenn 40 Prozent einer Jahrgangskohorte ohne
Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen versuchen, wie soll es dann funktionieren, dass die immer
kleiner werdende Gruppe der Erwerbstätigen die Älteren
finanziert und auch noch diejenigen, die, weil sie
schlecht ausgebildet sind, auf dem Arbeitsmarkt nicht
Fuß fassen können? Das kann nicht funktionieren. Gerechtigkeit ist, wenn wir etwas für die jungen Menschen
tun.
Politik heißt eben auch, Prioritäten setzen. Die Behauptung, man kann das eine tun, ohne das andere zu
lassen, ist letztlich nichts anderes, als sich schützend vor
eine Politik zu stellen, die ihre Erfolglosigkeit schon bewiesen hat.
({9})
Sie setzen die falschen Prioritäten.
Wenn wir an der Agenda 2010 etwas verändern müssen, dann geht es vor allen Dingen darum, die Regelsätze
für Kinder anzuheben. Es ist nicht möglich, ein Kind für
2,50 Euro am Tag gesund zu ernähren. Wir müssen tatsächlich - da gebe ich Ihnen recht, Herr Weiß - über die
Altersvorsorge reden. Wir können nicht propagieren, die
Menschen müssen individuell vorsorgen, ihnen dieses
Geld aber, wenn sie arbeitslos werden, wegnehmen. Das
kann nicht funktionieren.
({10})
Ich finde, dass der Vorschlag von Kurt Beck einen
schalen Beigeschmack hat.
Kollegin Pothmer, Sie müssen bitte zu Ihrem letzten
Satz kommen.
Ich komme zum Schluss. - Denn unter dem Mantel
der Gerechtigkeit werden hier Populismus und persönliche Eitelkeit vertreten. Ich erinnere mich übrigens noch
an folgenden Satz von Herrn Beck: „Waschen Sie sich
mal, rasieren Sie sich mal, dann wird das schon was mit
dem Job!“
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Der Kopf sollte nicht nur zum
Haareschneiden da sein.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden heute zum wiederholten Mal über die
Arbeitslosigkeit. Das aktuelle Problem ist die Verlängerung des Bezugs von ALG I. Wir sind ein reiches Land
und haben trotzdem 3,5 Millionen Arbeitslose. Arbeit
gibt dem Menschen Würde, Hoffnung, das Gefühl, gebraucht zu werden, Sicherheit. Arbeit ist der Kern der
menschlichen Entwicklung.
Wir reden und reden von der Arbeitslosigkeit und verwalten sie jedes Jahr und immer wieder mit Milliarden
und Abermilliarden Euro. Jetzt wollen Sie auch noch die
Arbeitslosigkeit verlängern und entsprechend bezahlen.
({0})
Sie zäumen das Pferd von hinten auf, reagieren auf Wirkungen und bekämpfen nicht die Ursachen. Das ist ein
Kardinalfehler.
({1})
Ziel sollte es sein, dass jeder, der arbeiten möchte, auch
eine Arbeit bekommt. Darüber, und nicht darüber, wie
wir die Arbeitslosigkeit bezahlen und verlängern, sollten
wir uns den Kopf zerbrechen.
Als Unternehmer kann ich Ihnen ein paar Tipps dafür
geben, wie man Arbeitsplätze schafft: Machen Sie ein
einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem!
({2})
Wir brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt, bei dem man
Leute einstellen kann, wenn man Aufträge hat, und wieder entlassen kann, wenn man keine Aufträge hat.
({3})
Bauen Sie die Bürokratie ab, und machen Sie keine Unternehmensteuerreform, durch die 21 neue Berichtspflichten entstehen!
({4})
Das brauchen wir, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Stattdessen reden wir darüber, wie die Bezugsdauer
des ALG I auf 20 oder 24 Monate verlängert und wie
dies bezahlt werden kann. Wer weiß, wohin diese Diskussion noch führt. Überbieten sich Schwarz und Rot in
den nächsten zwei Jahren bis zur Bundestagswahl im
Wettbewerb mit Verteilungsgeschenken? Auch Herr
Beck hatte zum ALG I einmal eine andere Haltung.
Wenn die SPD den Wahlkampf jetzt schon eröffnet hat
und glaubt, sich die Menschen mit einfachen populistischen Versprechungen gewogen zu machen, dann frage
ich mich, ob wir hier bald über eine Bezugsdauer des
ALG I von 30 oder 40 Monaten reden.
({5})
Die BA sammelt jährlich Beiträge in Milliardenhöhe
ein.
({6})
Da es durch die gute Weltkonjunktur, die endlich auch
Deutschland erreicht hat, nun mehr versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und weniger Arbeitslose
gibt - worüber wir uns sehr freuen -, hat auch die BA
Überschüsse. Diese Überschüsse hat die BA aber nicht
erwirtschaftet, sondern eingesammelt. Genau dieses
Geld sollte zur weiteren Senkung der Lohnnebenkosten
und nicht zur Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I
genutzt werden.
({7})
Der Hinweis auf die Kosten für die Verlängerung in
Höhe von 1 Milliarde Euro, den die Befürworter der
Verlängerung hier vorbringen, taugt doch nichts. Das Argument hält doch nicht von Mittag bis um 12 Uhr stand.
Sobald die Konjunktur nachlässt - die ersten Anzeichen
spüren wir ja schon -, fliegen Ihnen die Kosten um die
Ohren. Dann werden wir wieder hier stehen und uns darüber unterhalten, dass es 5 Millionen Arbeitslose gibt.
Wer ist dann schuld? Natürlich die Konjunktur.
Eine Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I ist der
falsche Weg. Dadurch entstehen mehr Arbeitslose. Das
ist eine rein populistische Maßnahme des Parteivorsitzenden Beck. Es geht hier nicht um die Sache, sondern
um reine Parteipolitik - letztlich zulasten der Arbeitslosen.
({8})
Sie werden zum Spielball gemacht. Schlimm ist so etwas.
Nehmen Sie das freie Geld und senken Sie die Lohnnebenkosten! Machen Sie richtige Reformen, die den
Namen auch verdient haben! Sorgen Sie für mehr Investitionen, und schaffen Sie dadurch mehr Arbeitsplätze!
Hören Sie auf, die Arbeitslosigkeit zu verwalten und,
wie in diesem Fall, auch noch zu verlängern! Mit diesem
Vorschlag machen Sie den Beck - Verzeihung: den Bock zum Gärtner und wundern sich, warum hinterher die Rosen abgefressen sind.
({9})
In diesem Sinne ein herzliches „Glück auf!“ aus dem
Erzgebirge.
({10})
Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diskussionen in den Koalitionsfraktionen sind die Höhepunkte
eines tristen Oppositionslebens.
({0})
Ich habe das während der schwarz-liberalen Opposition
auch immer genossen. Es gab sozusagen einmal einen
Sieg, dann war die Rakete aber verraucht und das alte
Elend war wieder da.
({1})
So wird es Ihnen auch ergehen. Der Triumph des Augenblicks ist nichts gegenüber dem Glanz der Dauer.
({2})
Deshalb sind wir froh und glücklich, dass wir diese
erfolgreiche Bundesregierung tragen und stützen können.
({3})
Wir tragen sie sogar auf den Händen.
Jeder, der Gerd Andres ansieht, wird aber verstehen,
dass wir zwischendurch eine Pause machen müssen.
({4})
In dieser Pause haben wir natürlich auch Verbindung mit
dem Volk.
({5})
Wir sind ja auch Volksvertreter und nehmen das auf, was
in der Bevölkerung, in den Gewerkschaften und in den
Betriebsräten gedacht wird.
Es gibt nicht nur die 50 Prozent, die jetzt dank unserer
Politik Erfolg haben, sondern es gibt auch welche im
Dunklen. Über vielen Arbeitnehmerexistenzen liegt ein
Schatten; denn sie haben die Sorge, dass ihre Chancen
dann, wenn sie älter sind und arbeitslos werden, nicht
mehr so groß sind. Das schlägt sich übrigens auch in einer erhöhten Sparquote während der Erwerbszeit nieder,
was wir beim Konsum zu spüren bekommen. Aber das
schlägt sich auch in fehlender Lebensqualität bei diesen
Menschen nieder. Wir als Parlamentarier nehmen das
ernst, was in der Bevölkerung, bei den Arbeitnehmern
und bei den Betriebsräten gedacht wird. Ich finde, es ist
eine schöne Sache, dass die SPD auf ihrem Bundesparteitag Seite an Seite mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund eine Initiative starten wird.
({6})
Ich wundere mich über die Grünen. Wenn Rot-Grün
im Jahre 2005 Erfolg gehabt hätte, wären wir heute bei
32 Monaten, und wir würden darüber streiten, ob wir die
32 Monate auf 24 Monate reduzieren oder ob wir das
Ganze verlängern. Also, Sie waren schon einmal klüger.
({7})
- Ja, das ist dieser Wechsel. Thea Dückert hatte noch ein
soziales Herz. Aber das ist durch die liberalen Avancen
in diesem Bereich verschwunden.
Damals haben wir gemeinsam gesagt: Wir haben bei
den Älteren längst noch nicht die Eingliederungsquote,
die wir uns wünschen. Wir spüren das Empfinden der
Menschen, und das wollen wir adressieren. Das war unsere gemeinsame Politik.
({8})
Ich denke, Sie sollten das nachprüfen. Da es mit Jamaika
doch nichts wird, müssen Sie sich bei denen nicht anwanzen.
({9})
Meine Damen und Herren, manche sagen, wir hätten
unsere Meinung geändert. Ich kann das für mich nicht
sagen. Die Fraktion hat das damals, 2005, in großer Geschlossenheit mit Rot-Grün beschlossen. Wir haben den
Vorschlag von Herrn Rüttgers abgelehnt; denn, Herr
Kollege Weiß - das wissen Sie genauso gut wie ich -,
bei dem Rüttgers-Vorschlag handelt es sich um ein schönes Plakat. Auf den ersten Blick erscheint es gut, aber
das Kleingedruckte würde vor den Verbraucherverbänden keinen Bestand haben,
({10})
weil er nämlich die Verbesserung für die Älteren von den
Jüngeren und von den Frauen bezahlen lassen will. Sie
haben eben selbst noch gesagt - wenn ich in Ihre Seele
schaue, muss ich sagen: zähneknirschend -, Aufkommensneutralität sei Ihnen von der Fraktionsführung vor12112
gegeben worden. Aber ich weiß, in Ihrem Herzen möchten Sie mit uns diese Verbesserung vornehmen.
({11})
Wenn wir die Beschlüsse fassen, dann, denke ich, werden wir schon miteinander ins Gespräch kommen.
({12})
Der Rüttgers-Vorschlag hat bei uns keine Chance,
weil wir allen helfen müssen. Die Jüngeren brauchen die
Unterstützung genauso wie die Älteren. Ich denke, wir
hatten mit dieser Politik gemeinsam Erfolg und können
jetzt Sorgen von den Älteren nehmen. Das sollte unser
Ziel sein, damit kein Schatten über dem Erwerbsleben
der Älteren liegt und sie wieder mehr Hoffnung miteinander schöpfen, sodass sie auch wieder kaufkräftiger
werden und damit in die Gesellschaft integriert werden.
Übrigens hat Kurt Beck nicht etwa einen Alleingang
gemacht. Er hat das aufgegriffen, was aus der Bevölkerung und den Gewerkschaften kommt.
({13})
Wir sind dankbar, dass er das getan hat. Ich denke, Sie
werden sich wundern. Wir werden miteinander einen
Weg finden. Dann können die Leute die launigen FDPReden hören, die für das Kabarett sind. Aber für das Leben haben sie dann die Politik der SPD und der Koalition, auf die sie bauen können.
Danke.
({14})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Werner Dreibus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese gemeinsam beantragte Debatte - in den Beiträgen ist schon deutlich geworden, dass die Gemeinsamkeit damit auch zu Ende ist - hat einen sehr
komplizierten Titel, der - je nach Designfassung - drei
oder vier Zeilen lang ist.
Man hätte dieser Debatte auch eine sehr kurze Überschrift geben können: Links wirkt, die Linke wirkt.
({0})
Ein bisschen ausführlicher könnte man sagen: Je stärker die Linke, desto sozialer wird unser Land. Zumindest
was die politischen Debatten betrifft, sind wir schon ein
Stückchen weiter. Aber ich füge hinzu: Reden ist Silber,
Handeln wäre Gold.
({1})
Ich will Ihnen in meinem kurzen Beitrag noch einige
konkrete Vorschläge machen, wie Sie in den nächsten
Tagen und Wochen bei entsprechenden Anträgen, die
wir einbringen werden, handeln können. Wir werden dabei sehr genau darauf achten, ob Sie nur reden wollen
- zu welchem Zweck auch immer: Wahlen, Wahlergebnisse, Umfragen im Blick - oder ob es Ihnen wirklich
um die Themen und die Menschen geht.
({2})
Erlauben Sie mir eine Bemerkung zu Herrn Stiegler.
Es ist leicht gesagt, dass Sie ernst nehmen, was die Menschen Ihnen vortragen. Ich bin schon sehr gespannt: Wir
werden sicherlich in den nächsten Tagen und Wochen
eine ganze Reihe interessanter Vorschläge von Ihnen hören, wenn Sie tatsächlich aufnehmen, was die Menschen
Ihnen sagen. Dann müssten Sie eigentlich allen Umfragen
entsprechend einen Antrag einbringen, die Rente mit 67
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
({3})
Sie müssten eigentlich Ausländseinsätze wie in Afghanistan, worüber am Freitag abgestimmt wird, ablehnen,
wenn Sie wirklich ernst nehmen, was die Menschen in
unserem Land sagen.
({4})
Ich befürchte, dass das hohle Rhetorik ist, die nicht einmal sonderlich gut gelungen ist.
({5})
Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Revision
der Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung - und zwar
eine viel umfassendere als die jetzt eingeleitete - längst
überfällig ist. Es ist viel zu viel Zeit verstrichen, und Sie
haben mehrfach Gelegenheit gehabt, zumindest Schritte
in diese Richtung, über die zurzeit in Teilen der SPD diskutiert wird, einzuleiten.
Ich erinnere zum Beispiel an den 23. November 2006,
als wir in der Debatte zum Haushalt 2007 in unserem
Antrag, mit einem konkreten Finanzierungsvorschlag
verbunden, genau das gefordert haben, worüber derzeit
in der SPD diskutiert wird. Sie alle, wie Sie hier sitzen,
haben das unisono abgelehnt.
({6})
Ich erinnere an unseren Antrag zu diesem Thema mit
der Überschrift „Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
verlängern“ vom 21. November 2006. Die erste Beratung erfolgte in diesem Haus am 22. März 2007. In dieser Debatte haben Sie das alles unisono als Teufelswerk
verdammt, ganz anders, als sich das heute auf Ihren Parteiveranstaltungen und in der Öffentlichkeit anhört.
Wir werden in den nächsten Wochen die zweite Beratung dieses Antrags und eine namentliche Abstimmung
durchführen. Dann werden wir sehen, inwieweit Ihren
Reden auch tatsächlich Taten folgen.
({7})
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu der
Frage, ob die Arbeitsmarktreformen wirken. Es ist nicht
zu bestreiten - ich laufe schließlich nicht mit Scheuklappen durch die Welt, wie es mir manche unterstellen -,
dass die Arbeitslosigkeit zum Glück zurückgeht, wenn
auch noch lange nicht so, wie wir alle es uns wünschen.
Die Erwerbsquote steigt. Ich will aber einige Tatsachen
in Erinnerung rufen. Ein Beispiel ist die Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung vom
Juni 2007 mit der Überschrift „Viel Lärm um nichts? Arbeitsmarktreformen zeigen im Aufschwung bisher
kaum Wirkung“. In einer, wie ich finde, fachlich sehr
fundierten Studie wird im Vergleich zu vorherigen Aufschwungperioden in den 90er-Jahren und zu Beginn dieses Jahrzehnts nachgewiesen, dass die Situation vor den
Arbeitsmarktreformen eher besser war.
Als letztes Beispiel nenne ich einige Zahlen. Die Zahl
der Arbeitslosengeld-II-Empfänger über 55 Jahre ist von
581 000 im Februar 2006 bis Mai 2007 auf 651 000 gestiegen. Gegenwärtig gibt es über 13 Prozent mehr
ALG-II-Empfänger über 55 Jahre als im Februar 2006.
Das zeigt, dass die Arbeitsmarktpolitik in diesem Zeitraum kein Erfolgsmodell ist.
({8})
Wir laden Sie herzlich ein - Links wirkt -, in den
nächsten Tagen und Wochen unseren dazu vorliegenden
Anträgen zuzustimmen. Wir werden sehen, ob aus Reden tatsächlich Handeln wird.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die niedrigsten Arbeitslosenzahlen
seit zwölf Jahren, zusätzliche Milliardeneinnahmen der
Bundesagentur für Arbeit - das lässt den Vorschlag des
CDU-Parteitages von Dresden im Dezember 2006, der
im Übrigen von Herrn Beck im Rahmen der Koalitionsausschusssitzung am 10. Januar 2007 noch vehement abgelehnt wurde,
({0})
in neuem Licht erscheinen. Warum sollte man also das
zusätzliche Geld nicht einsetzen und zum Beispiel die
Bezugsdauer beim ALG I ausweiten? Warum sollte man
nicht insbesondere Ältere finanziell abfedern? Das ist so
gut gemeint wie verständlich. Mehr als 80 Prozent der
Bundesbürger denken so. Hinter dem Mehr an Geld verschwindet aber oft, dass weniger Arbeitslose und vor allem weniger ältere Arbeitslose nicht nur einer guten
Konjunktur, sondern auch einer guten Politik geschuldet
sind, was Sie, Herr Dreibus, freundlicherweise zugestehen. Die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung ist
hierdurch belegt. Eine Änderung ist nur dann angezeigt,
wenn hier Regelungsbedarf besteht.
Um 3,7 Prozentpunkte ist die Arbeitslosenquote der
55- bis 64-Jährigen binnen Jahresfrist gefallen: von rund
1,1 Millionen im September 2006 auf gut 900 000 im
September 2007. Die Zahl der über 55-jährigen Arbeitslosen im September 2007 ist damit - das muss man verinnerlichen - um 20 Prozent niedriger als im September
2006. Dieser Wert liegt noch über dem Rückgang der
Gesamtarbeitslosigkeit, die sich im selben Zeitraum um
16,4 Prozent verringert hat; Herr Staatssekretär Andres
hat bereits darauf hingewiesen. Ein Grund dafür ist, dass
die Zeit bis zum Renteneintritt nicht mehr im selben
Maß wie früher durch Arbeitslosigkeit und damit durch
den Bezug von Arbeitslosengeld überbrückt wird. Der
treibende Faktor hierfür sind reformbedingte Verhaltensänderungen bei den Arbeitnehmern genauso wie bei den
Firmen. Hinzu kommen Vermittlungserfolge der Argen.
Die Arbeitsmarktreformen haben zumindest zweierlei
bewirkt. Zum einen trägt die kürzere Bezugsdauer beim
Arbeitslosengeld I, verbunden mit dem nachfolgenden
Arbeitslosengeld II, dazu bei, dass sich auch ältere Arbeitslose sehr viel früher und intensiver um eine neue
Stelle bemühen. Es ist also zweifellos ein starker mobilisierender Effekt eingetreten, wie Erkenntnisse der Bundesagentur für Arbeit und die Ausführungen der Kollegin Pothmer belegen. Befragungen des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigen zum Beispiel, dass den Betrieben infolge der Arbeitsmarktreform
zunehmend mehr Initiativbewerbungen vorliegen und
die Bewerber flexibler sind. Das erleichtert den Betrieben die Stellenbesetzung und hilft bei der Schaffung von
Arbeitsplätzen. Zwar ist der Druck auf die Betroffenen
höher als zuvor. Aber die Gefahr, für lange Zeit arbeitslos zu sein, ist nach neuesten Daten deutlich gesunken.
Zum anderen ist die Nutzung von Frühverrentungsmodellen zulasten der Sozialverssicherungssysteme nun
weniger attraktiv. Auf das Erfahrungspotenzial von Arbeitnehmern, die die 50 überschritten haben, können wir
künftig zunehmend weniger verzichten. Die demografische Entwicklung und der zunehmende Fachkräftebedarf
sind nun einmal Tatsachen, an denen wir nicht vorbeikommen. Auf längere Sicht liegt in dieser Gruppe eine
unserer wichtigsten Personalreserven.
Änderungen beim Arbeitslosengeld I sind, wenn
überhaupt, nur kostenneutral denkbar. Dazu einige Zahlen: Die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von ursprünglich 6,5 Prozent auf 3,9 Prozent zum
Jahreswechsel bringt einem Arbeitnehmer mit einem
Durchschnittseinkommen von etwa 2 000 Euro eine Ersparnis von immerhin 300 Euro pro Jahr. Würde der Beitrag von 6,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesenkt, entspräche
das einer Ersparnis von rund 400 Euro. Davon hat jeder
Arbeitnehmer etwas. Herr Kolb, das haben Sie bereits
zutreffend festgestellt. Die Mehrkosten für eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere könnten demgegenüber bis zu 0,3 Beitragspunkte
betragen. Das entspricht rund 2 Milliarden Euro. Alles,
was aus einer vorteilhaften Situation heraus und vielleicht auch voreilig geschieht, könnte uns auf die Füße
fallen, solange aus dem positiven Trend auf dem Arbeitsmarkt keine langfristig gute Entwicklung geworden
ist, die Ältere in Beschäftigung bringt und Langzeitarbeitslosigkeit aufbrechen hilft.
({1})
Meiner Ansicht nach ist es deshalb geboten - ich
komme nun zu der von Ihnen angemahnten Perspektive,
Herr Niebel -, zunächst die weitere Haushaltsentwicklung bei der Bundesagentur für Arbeit abzuwarten, um
eine genauere Prognose der Gewinnerwartungen zu haben. Entscheidend ist auch, welche konjunkturelle Entwicklung die wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute
für die nächsten Jahre für Deutschland voraussagen. Unser wichtigstes Ziel muss es sein, die Arbeitslosigkeit
gerade Älterer dauerhaft zurückzudrängen. Wir wollen
Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit finanzieren.
({2})
Auch ältere Arbeitnehmer gehören in den Arbeitsmarkt. Die große Mehrheit von ihnen möchte nicht alimentiert werden, sondern eine aktive Rolle spielen. Dieses Ziel, das wir erreichen wollen, werden sicherlich
mehr als 80 Prozent der Bürger unterstützen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zuallererst dürfen wir uns ganz
herzlich bei den Initiatoren dieser Aktuellen Stunde bedanken,
({0})
weil sie uns die Möglichkeit gibt, die Erfolge der Großen
Koalition, aber auch der Vorgängerregierung gerade in
der Arbeitsmarktpolitik herauszustellen.
({1})
Die Arbeitslosigkeit geht in diesem Land zurück. Seit
Monaten sinken die Arbeitslosenzahlen deutlich. Im
September hatten wir den niedrigsten Stand seit zwölf
Jahren. Der Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnissen ist uns besonders wichtig.
Heute gibt es davon 550 000 mehr als im letzten Jahr.
Das kann sich sehen lassen. Es sind mehr Menschen in
Arbeit, Menschen, die wieder auf eigenen Beinen stehen. Das ist unser Ziel, und dafür kämpfen wir.
({2})
Wir haben die Chance genutzt, den Arbeitsmarkt zu
reformieren. Das ist es, was wir tapfer verteidigen, Herr
Kolb. Für die Erfolge, die wir am Arbeitsmarkt erzielt
haben, müssen wir uns nicht schämen. Sie sollten uns
bei unseren Bemühungen helfen, weil das mehr Menschen eine Perspektive geben könnte.
({3})
Gerade bei den Älteren können wir Erfolge verzeichnen. Im September 2007 waren in der Gruppe der über
50-Jährigen im Vergleich zum Vorjahr über 200 000
Menschen weniger arbeitslos. Wir wollen dafür sorgen,
dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verbessert. Den Menschen muss durch den Aufschwung
und die wirtschaftliche Entwicklung eine Perspektive
gegeben werden. Davon müssen alle profitieren.
Gleichwohl sehen wir, dass die Verunsicherung gerade bei den Älteren nach wie vor groß ist. Darüber dürfen wir nicht einfach hinweggehen. Deshalb ist der Vorschlag von Kurt Beck, dem Sicherheitsbedürfnis gerade
älterer Menschen Rechnung zu tragen, richtig.
({4})
Das Signal, dass wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen und nicht kalt über sie hinweggehen, ist ein notwendiges Signal. Die SPD macht sich über die nachhaltige
tiefe Verunsicherung gerade der Älteren Gedanken. Die
Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt ist zwar besser
als noch vor einigen Jahren, dennoch haben sie nach wie
vor schlechtere Chancen als Jüngere, eine Arbeit zu finden. Deshalb halte ich es für richtig, wenn wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes mindestens für einen
Übergangszeitraum verlängern.
({5})
Bei diesem Punkt möchte ich ganz deutlich sagen,
dass wir schon einmal im Sommer 2005 eine solche Regelung gefordert haben, sogar ein Gesetz vorgelegt haben, aber dieses Gesetz am Widerstand vieler Bundesländer, leider CDU/CSU-geführter Länder, gescheitert
ist. In diesem Punkt muss ich ausnahmsweise meinem
sehr geschätzten Kollegen Weiß widersprechen, der
zwar richtig herausstellt, dass auch die CDU die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere fordert, aber nicht erwähnt, dass dieser Vorschlag
nie in den Koalitionsausschuss eingebracht worden ist.
Minister Müntefering hat die Kanzlerin ausdrücklich
aufgefordert, das einzubringen. Aber das ist nicht Gegenstand der Beratungen des Koalitionsausschusses geworden. Insofern sage ich ganz deutlich: Nicht nur die
Lippen spitzen, sondern auch pfeifen! Wir erwarten von
der Kanzlerin Führungsstärke, damit sie genau dieses
Thema behandelt.
({6})
Richtig ist im Übrigen - das ist völlig korrekt -, dass
das Thema im Koalitionsvertrag eine Rolle gespielt hat.
In diesem Zusammenhang ist darüber diskutiert worden.
Damals gab es noch die 24-Monate-Regelung. Unsere
Vorschläge haben aber keine Mehrheit gefunden. Wir
müssen heute sagen, dass die Stimmung und die Situation in diesem Land so sind, dass wir mit dem Anliegen
Älterer ernsthafter umgehen müssen.
({7})
Zu den Linken muss man ganz deutlich sagen: Als
wir dieses Gesetz verabschiedet haben, lagen Lafontaine
und andere noch in der Hängematte. Da haben die noch
gar nicht daran gedacht, eine solche Regelung zu verabschieden.
({8})
Deshalb sollten Sie die Backen nicht so aufblasen. Sie
sollten sich beim Wort nehmen lassen.
Für uns jedenfalls ist wichtig, dass es nicht allein darum geht, wie lange jemand in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Wir müssen besonders das höhere
Risiko für Ältere am Arbeitsmarkt berücksichtigen. Deshalb stellt unser Vorschlag auch besonders auf das Alter
ab und nicht auf die Zeit, in der jemand Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat. Zahlung des Arbeitslosengeldes I für Ältere verlängern - ja, für Jüngere kürzen - nein. Das will ich hier ganz deutlich sagen. Eine
Kürzung für jüngere Arbeitslose kommt für uns nicht infrage, weil wir die Arbeitslosenversicherung zu einer
Beschäftigungsversicherung weiterentwickeln müssen.
({9})
Wir müssen dafür sorgen, dass auch diejenigen, die erst
eine kurze Zeit Beiträge gezahlt haben, aber eine langfristige Unterstützung brauchen, gefördert werden, damit
sie eine lange Erwerbsbiografie erreichen können. Wir
müssen vorsorgende Arbeitsmarktpolitik betreiben und
nicht so tun, als wäre die Arbeitslosenversicherung eine
Ansparversicherung. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Beschäftigungsfähigkeit dauerhaft gesichert und erweitert wird, und für dieses Ziel treten wir ein.
({10})
Die Arbeitslosenversicherung muss deshalb aus meiner Sicht eine solidarische Risikoversicherung bleiben
und zu einer Beschäftigungsversicherung weiterentwickelt werden. Wer den Leistungsumfang der Arbeitslosenversicherung kennt, der weiß, dass nicht allein die
Einzahlungsdauer der Maßstab für den Leistungsanspruch sein kann. Uns allen muss klar sein, dass auch in
Zukunft nicht das lange Alimentieren den Menschen
weiterhilft, sondern dass im Vordergrund Anstrengungen
stehen müssen, die Menschen in Arbeit zu halten und so
zu fördern, dass eine nachhaltige Beschäftigung möglich
ist.
({11})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn ich heute in dieser Aktuellen Stunde als
Unionspolitiker rede, dann habe ich so ein bisschen das
Gefühl: Ich weiß nicht, an welcher Diskussion ich hier
wirklich teilnehme.
({0})
Denn der Hintergrund für die heutige Aktuelle Stunde ist
ja eigentlich eine parteiinterne Diskussion der SPD.
({1})
Geht es heute - keiner hat es gesagt - um einen Machtkampf zwischen Beck und Müntefering? Geht es um einen Kurswechsel bei der SPD? Geht es um parteipolitische Profilierung? - Ich weiß das alles nicht und werde
deswegen in dem Kaffeesatz auch gar nicht weiter lesen.
({2})
Sie als unser geschätzter Koalitionspartner haben ja noch
drei Wochen Zeit, darüber zu diskutieren und zu einem
vernünftigen Ergebnis zu kommen.
Dass die FDP und die Linke Arm in Arm diese Veranstaltung beantragen, ist auch nichts Neues mehr. Opposition macht ja dann Spaß, wenn man hier viel reden darf,
aber nichts entscheiden muss.
({3})
Sie wollen hier Unruhe in die Diskussion bringen,
({4})
und deswegen meine ich,
({5})
dass wir als größerer Koalitionspartner der Großen Koalition heute einfach einmal in Ruhe hier auftreten und
ein paar Punkte festhalten sollten:
Erstens. Vielleicht stimmen wir darin noch überein,
Herr Kolb, dass es vorrangiges Ziel ist und bleibt, mehr
Arbeitsplätze zu schaffen, Menschen in Arbeit zu bringen und in Arbeit zu halten.
({6})
Dass wir da auf einem guten Weg sind, sollte Sie als Opposition eher beunruhigen; denn wir haben eine Menge
erreicht. Die Arbeitslosenquote ist im September 2007
auf einem Stand wie seit zwölf Jahren nicht mehr in einem September. Da hat sich etwas bewegt. Vor allem ist
die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
seit April letzten Jahres monatlich gestiegen. Die Zahlen
liegen Monat für Monat über denen des jeweiligen Vorjahresmonats. Das war übrigens unter der Vorgänger12116
regierung über einen Zeitraum von fünf Jahren anders.
Damals ging die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten von Monat zu Monat zurück. Das haben
wir, seitdem wir mit in der Regierung sind, entscheidend
verändert.
({7})
Wir sind da schon auf einem guten Weg, und wir halten
daran fest. Wir müssen den anhaltenden Aufschwung auf
dem Arbeitsmarkt stärken. Das ist unsere erste Aufgabe.
Zweitens. Wir wollen - das gehört implizit dazu, und
ich sage es ganz bewusst - keine Bewirtschaftung des
Arbeitsmarktes, und wir wollen keine neuen Anreize für
Frühverrentung.
Drittens. Wir werden alles tun, was Wachstum und
Arbeitsplätze voranbringt. Dazu gehört neben der Sanierung des Haushalts und der Reduzierung der Neuverschuldung auch, dass wir die Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik nicht erhöhen. Dazu gehört weiter die
Bündelung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
- das haben wir uns in der Großen Koalition vorgenommen - und vor allem auch die Senkung des Beitrages zur
Arbeitslosenversicherung.
({8})
Ich erinnere nur daran, wie Sie als FDP vor etwa anderthalb Jahren in diese Diskussion eingestiegen sind. Ich
sage jetzt einfach nur: Ich finde es großartig, was wir
bisher erreicht haben. Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent zum 1. Januar
2007 auf 4,2 Prozent gesenkt und peilen jetzt an - das
haben wir verabredet -, ihn zum 1. Januar nächsten Jahres auf 3,9 Prozent zu senken.
({9})
Ich sage ganz offen: Ich glaube, dass wir uns darauf einigen werden, dass der Arbeitslosenversicherungsbeitrag
ab 1. Januar 2008 bei 3,5 Prozent liegen wird. Das sind
3 Prozentpunkte weniger und bedeutet eine Senkung der
Lohnnebenkosten.
({10})
Auch das ist ein Erfolg dieser Regierung.
({11})
Ich will mich auch der Frage zuwenden - das ist die
eigentliche Frage, über die diskutiert wird -, wie lange
und unter welchen Bedingungen das Arbeitslosengeld I
gezahlt wird, bevor jemand Arbeitslosengeld II erhält.
Ich darf einfach einmal festhalten: Es gibt mehr Dynamik im Bereich des Arbeitslosengeldes I. Wie wir inzwischen wissen, finden die Vermittlungen immer schneller
statt, und es sind immer weniger Menschen, die von
ALG I in ALG II wechseln. Auch das ist ein Ergebnis
dieser Politik. Man muss das wissen.
Der Arbeitsmarkt für Ältere ist in Bewegung geraten,
nicht nur durch die allgemeine Entwicklung, sondern
auch durch die Initiativen, die wir ergriffen haben. Dazu
sind vorhin einige Zahlen genannt worden. Ich will sie
aus Zeitgründen nicht wiederholen. Man muss auch wissen: Wer jetzt Arbeitslosengeld II bezieht, hat von einer
Änderung der in Rede stehenden Regelung nichts. Warum sollte diese Frage dennoch diskutiert werden? Nicht
wegen der Umfragen, Herr Stiegler. Ich glaube, das ist
der falsche Ansatz. Es gibt schon eine Partei, die das jeden Morgen macht, nämlich die PDS bzw. Die Linke.
Ihre Vertreter halten jeden Morgen ihre Finger in den
Wind und fragen: Was ist heute populär?
Die Frage, ob man Arbeitslosengeld I lieber länger
oder kürzer bekommen möchte, kann ich, ohne dass ich
jemanden frage, recht schnell beantworten. Da ist die
Mehrheit klar. Genauso klar sind die Antworten auf die
Fragen „Wollen Sie lieber mehr oder weniger Lohn?“
oder „Wollen Sie lieber mehr oder weniger Zinsen auf
ihr Bankguthaben?“. Das ist zu einfach.
Ich habe auf dem Parteitag der CDU - das muss jetzt
von Ihnen akzeptiert werden - für diesen Beschluss gestimmt.
({12})
- Ja, war ich immer schon, Herr Stiegler. Wir waren
doch zusammen im Vermittlungsausschuss. - Mir war
nämlich Folgendes bewusst: Viele Menschen, die in Arbeit waren, hatten die gefühlte Unsicherheit, dass sie relativ schnell in Hartz IV landen. Diesen Menschen hätte
ich gern ein Stückchen gefühlte Sicherheit und ein
Stückchen Gerechtigkeit gegeben. Deswegen finde ich
den Rüttgers-Vorschlag besser.
Kollege Meckelburg, Sie müssen Ihren zweiten Gedanken kürzer fassen.
Ich komme zum Schluss.
Gefühlte Sicherheit, gefühlte Gerechtigkeit, das ist
das Thema. Wenn wir es wirklich schaffen, eine Sachdebatte über die Daten - die brisanteste Rede heute hat der
Staatssekretär gehalten; was er gesagt hat, bringt richtig
Bewegung in die Diskussion - zu führen, dann sind wir
auf dem richtigen Weg. Herr Stiegler, ich kann Ihnen
nicht empfehlen, den Weg des Populismus zu beschreiten. Die Linke hat dort bereits eine Marathondistanz zurückgelegt. Die holen Sie nicht mehr ein. Lassen Sie uns
weiter gemeinsam verantwortungsvoll Politik machen!
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Wolfgang
Grotthaus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich den Einstieg in der Form suchen, dass ich ein Wort aufgreife, das Kollege Kolb in
seinen Ausführungen benutzt hat,
({0})
nämlich „Regierungsfähigkeit“. Dieses Wort geistert
auch durch die Gazetten. Wer diesen Punkt aufgreift, um
die Regierungsfähigkeit infrage zu stellen, der kennt innerparteiliche Demokratisierungsprozesse nicht. Wäre
Ihre Partei betroffen, hätte ich für Ihre Bemerkungen
Verständnis: Dort, wo ich herkomme, finden Ihre Parteiveranstaltungen in einer Telefonzelle statt.
({1})
Daher muss in Ihrer Partei kein Demokratisierungsprozess durchgeführt werden.
({2})
Bei uns findet etwas ganz Normales statt: Eine Partei
klärt ihre strategische Ausrichtung in wichtigen politischen Fragen. Deshalb ist es richtig, eine Parteitagsentscheidung herbeizuführen. Ich glaube, dies ist bei der
SPD nicht anders als in allen anderen Parteien.
Bei dem heute Diskutierten geht es uns nicht um populistische Ausführungen oder Vorschläge, wie sie vorhin ein, von meiner Seite aus gesehen, links sitzender
Kollege gemacht hat, sondern um ein Ringen in der
Frage, ob das Arbeitslosengeld I wieder länger gezahlt
werden soll und ob damit möglicherweise der Trend zur
Frühverrentung befördert wird oder ob es bei dem jetzigen System bleibt. Zur Frühverrentung könnte ich Ihnen
jetzt eine halbe Stunde lang etwas erzählen,
({3})
weil ich als Betriebsratsvorsitzender dies unterstützt
habe. Heute - das sage ich in aller Deutlichkeit - bereue
ich, dass es so weit gekommen ist, weil wir nämlich Kolleginnen und Kollegen, von denen sich Arbeitgeber trennen wollten, aus dem Arbeitsprozess entfernt und dies
zulasten der Allgemeinheit aus den Sozialkassen finanziert haben.
({4})
Es stellt sich die Frage, ob wir mit einer Veränderung des
Arbeitslosengeld-I-Bezugs bestimmten Dingen dieser
Art Vorschub leisten,
({5})
und diese Frage müssen wir neu diskutieren.
Auf den ersten Blick spricht alles für die Beibehaltung des ALG-I-Bezugs in der jetzigen Form. Ich will
dies auch deutlich machen. Wir haben sehr gute Zahlen
zur Integration Älterer in das Berufsleben. Ende der
90er-Jahre waren nur 38 Prozent der über 55-Jährigen
erwerbstätig; heute sind es bald mehr als die Hälfte dieser Gruppe. Positiv! Von 2002 bis 2006 ist die Zahl der
Beschäftigten, die über 50 Jahre alt sind, um 550 000 gestiegen. Von den über 50-Jährigen waren im September
2007 gegenüber dem Vorjahr etwa 200 000 weniger arbeitslos. Ich finde, das sind sehr gute Zahlen, auch wenn
die beiden Fraktionen, die die Aktuelle Stunde beantragt
haben, dies so nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Manchmal habe ich das Gefühl: Es passt Ihnen nicht,
dass mehr Menschen in Arbeit sind.
({6})
Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Trotzdem, Frau Pothmer, gibt es noch Menschen, die
über 50 Jahre alt sind und nicht innerhalb von 12 oder
18 Monaten einen neuen Job finden.
({7})
Dies wird sich ändern. Der demografische Wandel wird
die Unternehmer bzw. die Unternehmen zwingen, vermehrt Ältere in den Betrieben zu halten; durch bessere
Bildungsangebote können sie in den Betrieben auch flexibler eingesetzt werden.
Dies bedarf jedoch - so sage ich in Übereinstimmung
mit vielen in der SPD-Fraktion - einer Übergangszeit.
Wir wollen, dass noch mehr ältere Menschen im Arbeitsmarkt verbleiben oder in den Arbeitsmarkt integriert
werden. Deshalb muss die Qualifizierungsseite deutlich
aufgewertet werden.
({8})
Wir wollen keine Rückkehr zur Frühverrentung. Deshalb
werden wir uns damit beschäftigen, ob wir die Wiedereinführung der Erstattungspflicht für Arbeitgeber bei der
Entlassung langjährig beschäftigter Arbeitnehmer in die
Diskussion bringen. Wir werden uns auch damit zu beschäftigen haben, wie wir die Humanisierung von Arbeitsplätzen insbesondere für ältere Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter vorantreiben können.
({9})
Sie sehen: Es geht bei unserer Diskussion nicht nur
um den Arbeitslosengeld-I-Bezug, sondern auch um die
Absicherung von Arbeitsplätzen für ältere Menschen,
um eine schnellere Integration, aber auch - das sage ich
in aller Deutlichkeit - um ein Stückchen mehr sozialer
Sicherheit. Dabei - dies ist unstrittig - steht in der Prioritätenliste die schnellere Vermittlung an erster Stelle; erst
danach kommt die Alimentierung.
Lassen Sie uns als SPD also erst einmal diskutieren!
Dabei wird die SPD ihre Schwerpunkte selbst bestimmen. Die SPD wird Kompromisse finden. Danach wird
innerhalb unserer Fraktion, innerhalb unserer Partei alles
seinen geregelten Gang gehen. Dies ist - das sage ich in
aller Deutlichkeit - keine Abkehr von der Agenda 2010,
({10})
sondern eine Diskussion aufgrund der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Würden wir diese
Veränderung nicht aufgreifen und diskutieren, würden
wir politisch sträflich handeln.
({11})
Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung zum
Kollegen Dreibus machen. Herr Kollege Dreibus, Sie
können noch so viele namentliche Abstimmungen beantragen - wir werden erst dann entscheiden, wenn wir für
uns eine Meinung gefunden haben.
({12})
Wenn wir dies auf dem Parteitag beschlossen und dies
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner beraten haben, dann werden wir - nicht in Ihrem Sinne, sondern in
unserem, dem Sinne der Koalition - entscheiden.
({13})
Von daher: Warten Sie ab! Wir werden die richtigen Entscheidungen auf unserem Parteitag treffen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn ich für mich ein Resümee der bisher vorgebrachten sachlichen Argumente zum Thema
der heutigen Aktuellen Stunde, die sich nun langsam
dem Ende zuneigt, ziehe, dann will ich das unter folgendem Motto tun - so jedenfalls habe ich die Debatte heute
verstanden -: Was ökonomisch auf Dauer falsch ist,
kann politisch auf Dauer nicht richtig sein.
Ökonomisch ist es auf Dauer falsch, Menschen, die
leider ihre Arbeit verloren haben, länger mit staatlichen
Transferleistungen zu stützen und ihnen dadurch das Gefühl zu vermitteln, dass man nach dem Motto leben
könne: Ich habe noch etwas Zeit; ich werde schon noch
etwas finden; irgendwie wird es schon gehen.
Ökonomisch richtig ist es, vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an - und de facto eigentlich schon davor Gas zu geben, sich um eine neue Stelle zu bewerben und
alles dafür zu tun, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu
kommen. Das ist auch aus menschlicher Sicht der einzig
richtige Weg für die Betroffenen.
Die Zahlen beweisen: Die verkürzte Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld I hat zu einem deutlichen Rückgang
der Zahl älterer Arbeitsloser in Deutschland geführt; das
haben wir hier heute ja einvernehmlich festgestellt. Insgesamt haben wir 694 000 Arbeitslose weniger als noch
im September letzten Jahres. Die Diskrepanz von
14 Prozent weniger in den neuen Bundesländern und
18 Prozent weniger in den alten Bundesländern zeigt,
dass wir bei unserer Arbeit unterschiedliche Gewichtungen berücksichtigen müssen.
Wir haben heute 300 000 Arbeitslose über 50 Jahre
weniger als vor einem Jahr. Deshalb hat Bundesminister
Müntefering recht, wenn er sagt: Diese Fachkräfte, die
50-Jährigen und Älteren, die noch ein Drittel ihres Lebens vor sich haben, sind nicht alt. Sie werden wieder
gebraucht. Sie werden auch nicht mehr entlassen, sondern eher eingestellt. Das heißt, die Initiative „50 plus“
beginnt zu wirken.
Natürlich bestreitet niemand, dass dort, wo das ökonomische Umfeld noch keine ausreichende Zahl an
Arbeitsplätzen hergibt, zusätzliche Beschäftigungsbemühungen notwendig sind, um vor allen Dingen Langzeitarbeitslosen die Perspektive einer Beschäftigung zu
geben. Aber selbst in meinem Wahlkreis Bautzen-Weißwasser, wo wir seit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit einer sich auf hohem Niveau verstetigenden Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, sinken seit
Monaten erstmals die Arbeitslosenzahlen. Ich hoffe,
auch die strukturell benachteiligten Regionen bekommen den Wirtschaftsaufschwung in unserem Land noch
stärker zu spüren.
Leugnen kann aber niemand, dass sich vieles auf dem
Arbeitsmarkt zum Positiven wendet.
({0})
Weil die Ökonomie zeigt, dass unsere Entscheidungen
richtig waren, darf die Politik heute und jetzt keine
Rückwärtsrolle machen, denn noch einmal: Was ökonomisch auf Dauer falsch ist, kann politisch auf Dauer
nicht richtig sein.
Auch die Bundesagentur bestätigt uns, dass der Rückgang der Zahl der älteren Arbeitslosen in Deutschland
darauf zurückzuführen ist, dass nach der Hartz-IV-Reform ältere Arbeitslose nicht mehr wie früher bis zu
32 Monate Arbeitslosengeld erhalten. Viele hatten diese
Möglichkeit genutzt, wie wir wissen, um die Zeit bis
zum Renteneintritt durch Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Das war eine Möglichkeit, die aber für niemanden
befriedigend war. Das hat sich nun geändert: Die Zahl
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist bei der
Gruppe der über 55-Jährigen um 6,7 Prozent angestiegen. Das ist doch ein erfreuliches Ergebnis. Finden Sie
nicht auch? Offensichtlich nutzen ältere Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes den derzeitigen Wirtschaftsaufschwung stärker als jüngere. Das treibt mich um.
Flexible, ehrgeizige junge Leute fackeln nicht lange,
wenn sie vor Ort keine Chance sehen, und ziehen dortMaria Michalk
hin, wo Ausbildungs- und Arbeitsplätze sind. Zunächst
ist das gut, aber auf Dauer hat das zur Folge, dass Regionen ausbluten. Das muss uns zu denken geben. Das wollen wir nicht hinnehmen.
({1})
Deshalb sage ich: Die Möglichkeit zu eröffnen, die Zeit
der Arbeitslosigkeit zu verlängern, wäre Gift für Jung
und Alt. Die zielgenaue, ganz auf die Person ausgerichtete Arbeitsvermittlung muss weiter gestärkt werden.
Wer Arbeitsangebote ablehnt, kann nicht auf die Solidargemeinschaft bauen. Deshalb sollten wir lieber die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung senken als neue Umverteilungsmechanismen beschließen.
Man kann Vergleichbares auch aus Matthäus, Kapitel 24, herauslesen - ich will das einmal tun, das kann
uns ja nicht schaden -, dessen Worte ein Kommentator
so zusammengefasst hat, dass sie auch auf unsere derzeitige Situation angewendet werden können:
Verführung ist für die Gemeinde gefährlicher als
Verfolgung. Verfolgung eint die Gemeinde, Verführung spaltet sie.
({2})
Verfolgung lässt das Echte hervortreten, Verführung
das Unechte triumphieren.
Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um mehr Arbeitsplätze in diesem Land zu schaffen.
Dann brauchen wir diese Diskussion nicht mehr zu führen. Ich bitte Sie deshalb, uns auf diesem Weg weiter zu
unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zu Beginn auf Herrn Kolb zurückkommen.
({0})
Herr Kolb, ich bin immer wieder schwer beeindruckt,
wie Sie in der Lage sind, Ihre eigene Verantwortung bis
1998 zu verdrängen.
({1})
Wenn Sie sich einmal die Abgaben- und die Steuerquote
bis 1998 anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir - mit
Sicherheit Rot-Grün, aber auch die Große Koalition sehr erfolgreiche Regierungen sind.
({2})
Sie führen immer den mündigen Bürger an. Aber Sie
führen ihn immer nur dann an, wenn es darum geht, die
Lebensrisiken zu individualisieren, mit dem Hinweis
darauf, dass der Einzelne es besser kann als die Allgemeinheit.
({3})
Jetzt gibt es Umfragen zum Thema Arbeitslosengeld I, nach denen diese mündigen Bürger zu 80 Prozent
den Vorschlag, das Arbeitslosengeld I auf 24 Monate zu
verlängern, für in Ordnung halten. Daraufhin sprechen
Sie dem Bürger die Qualität ab, mündig genug zu sein.
Das ist natürlich ein Unfug, den Sie da betreiben.
({4})
Sie benutzen sozusagen den mündigen Bürger immer
nur dann, wenn es um Individualisierung und Privatisierung geht. Das muss hier einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Der Vorschlag, den Kurt Beck gemacht hat, ist natürlich absolut anders als das, was die Union beschlossen
hat. Frau Pothmer, Sie haben gesagt, wir hätten uns dem
Parteitagsbeschluss der Union anschließen können.
Natürlich nicht! Denn der Vorschlag der Union entsolidarisiert. Er stellt darauf ab, dass jemand, der länger Arbeitslosenversicherungsbeitrag eingezahlt hat, mehr
herausbekommt und die Jüngeren das letzten Endes bezahlen. Er sieht also eine Umverteilung vor. Das ist nicht
unsere Position. Wir wollen nicht mitmachen, wenn der
Charakter der solidarisch-paritätischen Arbeitslosenversicherung geändert werden soll. Darum geht es uns
nicht. Kurt Beck hat gesagt, dass für eine bestimmte
Gruppe der Bevölkerung, nämlich für ältere, vor allem
für nichtqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein besonders hohes Risiko besteht. Dieses Risiko
ernst zu nehmen und, auch vor dem Hintergrund von
langjähriger Beschäftigung, festzustellen, dass sie eine
größere Solidarität verdient haben als andere, ist völlig
legitim.
({5})
Ich sehe da auch überhaupt keinen Systemwechsel, wie
er unterstellt wird.
Im Titel der Aktuellen Stunde war auch von der Rente
mit 67 die Rede. Dazu ist wenig gesagt worden. Aber da
gibt es ja die eine oder andere Befürchtung, das werde
jetzt aufgeweicht. Ich sage dazu sehr deutlich: Wenn
man sich Gedanken darüber macht, wie Menschen gesund und qualifiziert bis ins Renteneintrittsalter kommen, dann ist das kein Aufweichen einer Reform, sondern die Grundlage dafür, dass diese Reform überhaupt
ziehen kann.
({6})
Das hat die SPD in Arbeitsgruppen erarbeitet, und sie
wird dem Parteitag dazu einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten.
Da geht es nicht um ein Aufweichen, wobei ich diejenigen, auch seitens des Koalitionspartners, die etwas kritischer hinschauen, daran erinnere, dass wir im Gesetz
eine Vorbehaltsklausel haben, nach der wir uns in 2010
die arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Situation
der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anschauen wollen, um dann vor diesem Hintergrund zu
entscheiden, ob die Rente mit 67 ab 2012 kommt. Ich
zweifle nicht daran, dass wir das hinbekommen. Ich
zweifle aber auch nicht daran, dass wir tatsächlich mehr
darauf hinarbeiten müssen, dass wir die Humanisierung
der Arbeitswelt in den Griff bekommen.
({7})
Ich zweifle nicht daran, dass Weiterbildung und Qualifizierung für den Beruf ein individuelles Recht sein müssen.
({8})
Ebenso zweifle ich nicht daran, dass wir immer noch
eine Lösung für die finden müssen, die aus langer Arbeit
heraus kaputt sind. Da müssen wir unsere Antworten
schon noch einmal überprüfen.
All das haben wir uns auf die Agenda gesetzt, und es
ist im Einklang mit dem, was wir gemeinsam gemacht
haben. Ein Wackeln oder Zaudern gibt es da nicht.
Lassen Sie mich noch eines an die Linksfraktion, insbesondere an den Kollegen Dreibus, gerichtet sagen: Wir
sind an der Stelle nicht getrieben. Der Kollege Stiegler
und andere haben darauf hingewiesen, wie wir schon
2005 mit dem Thema der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I umgegangen sind.
({9})
Sie werden uns auch nicht damit treiben, dass Sie über
ein solches Thema erneut namentlich abstimmen lassen.
Denn eines ist völlig klar: Sozialdemokraten sind verlässliche Partner.
({10})
- Herr Dreibus, wir werden auf dem Parteitag unsere
Position deutlich machen. Wie sich das für einen verlässlichen Partner gehört - es ist mir schon klar, dass Sie an
dieser Stelle nicht so gut mitreden können -, werden wir
nach Erreichen dieser abgestimmten Mehrheitsposition
der SPD mit dem Koalitionspartner sprechen und anschließend entsprechend handeln. So sind wir im Gegensatz zu Ihnen.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Vorlagen zu Birma auf
Drucksachen 16/6600 und 16/6611 zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkte 2 und 3 aufzurufen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 2 und 3
auf:
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD und der FDP
Menschenrechte und Demokratie in Birma
durchsetzen
- Drucksache 16/6600 ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu
Birma/Myanmar stärken
- Drucksachen 16/5608, 16/6611 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Harald Leibrecht
Monika Knoche
Kerstin Müller ({1})
Zu dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD
und FDP liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Kollege Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den erschreckenden Ereignissen der vergangenen Wochen ist die Lage in Myanmar weiterhin
besorgniserregend. Durch die Gewaltanwendung der Militärregierung gegen die weit überwiegend friedlich demonstrierenden Menschen - die Rede ist von weit über
30 000 Teilnehmern am Wochenende des 22./23. September - sind nach bestätigten Angaben bisher 13 Tote
zu beklagen. Aber wahrscheinlich ist die Zahl der Opfer
viel höher. Es gab Hunderte Verletzte.
Besonders besorgniserregend ist - auch das ist nicht
zu akzeptieren -, dass inzwischen auch eine große Anzahl einfach Beteiligter und Zuschauer der Demonstrationen durch das Militärregime in Haft genommen werden. Dies geschieht unter Zuhilfenahme der verhängten
nächtlichen Ausgangssperren. Die verhafteten Bürger
werden an unbekannten Orten festgehalten.
Das Regime in Myanmar hat mit einer regelrechten
Verhaftungswelle auf die Meinungsäußerungen des Volkes reagiert. Es gab wahrscheinlich mehr als 3 000 Festnahmen. Klöster wurden abgeriegelt und durchsucht.
Das Regime hat die Lage nun wieder in seinem stählernen Griff. Die sogenannte Safran-Revolution ist vorerst
gescheitert.
Unsere Informationen über das weitere Vorgehen der
Militärregierung zeigen: Das Regime geht wie vor den
Unruhen von einer Position der Stärke aus. Es will das
Heft des Handelns beim Übergang zu einer, wie es das
Regime nennt, disziplinierten Demokratie nicht aus der
Hand geben. Das an Vorbedingungen geknüpfte Gesprächsangebot an Oppositionsführerin Aung San Suu
Kyi ist dabei möglicherweise nur taktischer Natur. Ein
schneller Systemwechsel, wie von einigen Teilen der aktiven Auslandsopposition gefordert, erscheint in jedem
Falle in weite Ferne gerückt.
Die Bundesregierung hat die willkürlichen Verhaftungen scharf verurteilt und die Regierung von Myanmar
aufgefordert, die Verhafteten freizulassen. Das gilt - das
will ich hier unterstreichen - auch für die seit langem
festgehaltene Friedensnobelpreisträgerin San Suu Kyi.
Auch die Europäische Union hat in diesem Sinne an die
Regierung von Myanmar appelliert.
Die Militärregierung muss wissen, dass ihr Verhalten
nicht folgenlos bleiben wird. Der Sicherheitsrat ist mit
dieser Angelegenheit befasst. Die Bundesregierung hat
sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass beim Treffen der
europäischen Außenminister am kommenden Montag in
Luxemburg über zielgerichtete Sanktionen gegen das
Regime in Myanmar beraten wird.
Unsere Position ist klar: Sanktionen müssen gezielt
gegenüber dem Militär wirken. Sie dürfen dabei die notleidende Bevölkerung nicht noch weiter treffen. In der
gegenwärtigen Situation bestehen unsere Optionen zum
einen in der Verschärfung der bestehenden Sanktionen
gegen das Regime in Myanmar und zum anderen in der
Verhängung neuer, zusätzlicher Sanktionsmaßnahmen.
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich den Beratungen der Außenminister insoweit nicht vorgreifen
kann oder will. Ich möchte aber deutlich sagen, dass die
Europäische Union dem Militärregime bereits vor zwei
Wochen klar bedeutet hat, dass Gewalt gegen Unbewaffnete und gegen friedliche Demonstranten nicht ohne
Konsequenzen auch vonseiten der EU bleiben wird.
Die Bundesregierung setzt sich darüber hinaus dafür
ein, dass die Nachbarn Myanmars auf das Militärregime
einwirken. Aus unserer Sicht sind die Nachbarn der eigentliche Schlüssel zur Lösung des Problems. Mit
„Nachbar“ ist China gemeint, aber auch Indien und
Russland. Auch die ASEAN kann in dieser Frage eine
wichtige Rolle spielen. Derzeit erfolgen in den relevanten Staaten hierzu Demarchen der Vertreter der Europäischen Union gegenüber den dortigen Regierungen. Daneben nutzen wir aber auch unsere bilateralen Kontakte.
Ein gewaltsames, militärisches Vorgehen gegen die
eigene Bevölkerung ist aus Sicht der Bundesregierung
nicht akzeptabel. Ich möchte dem Deutschen Bundestag
versichern, dass sich die Bundesregierung beim Rat der
Außenminister mit Nachdruck in diesem Sinne positionieren wird.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Harald Leibrecht.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Mit Abscheu haben wir die furchtbaren Bilder
und Berichte, die uns aus Birma erreichten, gesehen und
gehört. Mit roher Gewalt und erschreckender Brutalität
wurden friedliche Demonstranten, darunter viele Mönche, niedergeknüppelt. Zahlreiche Tote sind zu beklagen.
Einmal mehr wurde deutlich, welch menschenverachtendes Regime seit vielen Jahren in Birma an der Macht ist.
Dass die Situation dort vor allem in letzter Zeit sehr
angespannt war, wusste jeder, der mit Menschenrechtsorganisationen und Oppositionellen in Birma in Kontakt
stand. Dass sich inzwischen sowohl der Menschenrechtsrat als auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit diesem Thema beschäftigt haben, ist zwar ein
wichtiges Signal; dass aber am Ende nicht viel dabei herausgekommen ist, ist wahrlich ein Armutszeugnis.
({0})
Die mehr als schwache Resolution wird von der burmesischen Militärdiktatur wohl kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn als ernsthafte Drohung wahrgenommen werden.
Neben anderen asiatischen Ländern unterhalten vor
allem China und Indien enge Beziehungen zur Militärregierung in Birma und haben durchaus Möglichkeiten
zur Einflussnahme auf das Regime. Doch gerade wegen
der Haltung der UN-Vetomacht China hat es in der Resolution nicht einmal zu einer Verurteilung der schrecklichen Niederschlagung, sondern nur zu einem wachsweichen Bedauern gereicht. Was die Menschen in Birma,
die seit Jahrzehnten unter der brutalen Militärdiktatur
leiden, jetzt brauchen, sind Taten und nicht schwammige
Resolutionen.
Ich habe auf Basis meiner Kleinen Anfrage zur Situation in Birma bereits vor einigen Monaten den Antrag
„Den Gemeinsamen Standpunkt der EU gegenüber
Birma/Myanmar stärken“ eingebracht; denn wir müssen,
was Birma betrifft, gemeinsam handeln. Das ist gerade
jetzt wichtig, wo sich die Emissäre der Europäischen
Union, der UNO, der ASEAN und der USA in Birma,
wie es scheint, die Klinke in die Hand geben, ohne sich
zuvor auf eine gemeinsame Haltung verständigt zu haben.
Es reicht nicht, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu
warten und zu hoffen, dass sich die Militärregierung eines Tages in Wohlgefallen auflöst. Die Bevölkerung ist
völlig verarmt, während sich die Generäle die Taschen
vollstopfen und das Land vollends ausplündern.
Der sogenannte burmesische Weg zum Sozialismus,
den das Regime 1962 eingeschlagen hat, hat das Land
wirtschaftlich wie moralisch ruiniert. Von der „Reisschüssel Asiens“, wie das Land einmal genannt wurde,
hat sich Birma zu einem bitterarmen Land zurückentwi12122
ckelt, in dem nach Angaben des World Food Programme
viele Menschen, vor allem Kinder, chronisch unterernährt sind. Beim Bertelsmann Transformation Index,
der sich unter anderem mit Korruption beschäftigt, rangiert Birma auf Platz 113 von 119 Ländern. Auf der
„Rangliste der Pressefreiheit“ von Reporter ohne Grenzen reicht es zu einem unrühmlichen 164. Platz von insgesamt 168. Eine Regierung, die fast die Hälfte des
Staatshaushalts für das Militär, aber weniger als 2 Prozent für das Gesundheitswesen ausgibt, hat sich wahrlich
selbst diskreditiert.
({1})
Sanktionen sind - das wissen wir alle - kein Allheilmittel. Doch sie können, wenn sie richtig angewendet
werden, den Druck auf das Regime erhöhen. Nur wenn
wir unmissverständlich signalisieren, dass wir zu schärferen Maßnahmen gegen die Mitglieder der burmesischen Militärregierung und deren Clans bereit sind, können wir auf eine Veränderung der Lage in Birma hoffen.
({2})
Deutschland und die EU sollten den Kreis der Personen
aus dem Militärregime ausweiten, die mit Reisebeschränkungen belegt werden. Diktatoren und deren Angehörige dürfen kein Visum für unser Land oder Europa
bekommen. Sie sind hier nicht willkommen.
({3})
Staatliche Gelder im Ausland und Auslandskonten von
Regierungsmitgliedern müssen eingefroren werden. Regierungseigene Betriebe sollten keine Kredite mehr aus
der Europäischen Union erhalten.
Das sind Beispiele für einige gezielte Maßnahmen gegen das Regime - wenn auch nur Nadelstiche -, die wir
unbedingt durchführen müssen. Doch ganz gleich, welche Maßnahmen letztendlich beschlossen werden: Sie
greifen nur dann, wenn China, Indien und die ASEANStaatengemeinschaft mitziehen.
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die demokratische Opposition wieder Möglichkeiten bekommt, am öffentlichen und politischen Leben in Birma teilzunehmen.
Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin und
Symbolfigur der demokratischen Opposition, muss endlich aus ihrem seit Jahren fast durchgängig bestehenden
Hausarrest freigelassen werden.
({4})
Wichtig ist auch die Unterstützung der Arbeit der
politischen Stiftungen. Diese leisten unter schwierigen
Bedingungen eine wichtige Arbeit. An dieser Stelle
möchte ich jedoch die Friedrich-Ebert-Stiftung bitten,
die Äußerungen ihres Delegationsleiters richtigzustellen,
({5})
der laut Spiegel-Online von gestern bei einer Veranstaltung der Stiftung in Rangun sagte:
„Die Medien dramatisieren das hier ziemlich.“
Und: Die Generäle hätten nur mit äußerster Zurückhaltung Gewalt angewendet.
Angesichts von mindestens 13 Toten, die es bei der Niederschlagung der Proteste gab, ist dies eine zynische Äußerung.
Über allen Maßnahmen - ob von internationalen Organisationen oder Stiftungen - muss der Grundsatz stehen, gemeinsam zu handeln. Weiterhin gibt es Staaten,
die umfangreiche Militärhilfe an Birma leisten. Sie liefern dem Regime Waffen, das diese dann gegen die eigene Bevölkerung einsetzt. Dies gilt es zu verurteilen.
Die Europäische Union sollte sich außerdem einmal genau anschauen, welche Firmen auf welche Art und
Weise Geschäfte mit Birma machen, und überprüfen, ob
hier nicht zum Beispiel gegen das EU-Waffenembargo
verstoßen wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Nachrichten aus Birma werden spärlicher, weil das Militärregime versucht, jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu
kappen. Bezüglich des Gesprächsangebotes der Militärs
an die Oppositionsführerin warne ich vor verfrühter
Euphorie. Die Erfahrungen mit dem burmesischen Regime mahnen zur Vorsicht. Ernstgemeinte Gespräche
wären zu begrüßen. Doch wer Oppositionelle und politische Gegner brutal niederknüppelt und ermordet, hat
wenig mit politischem Dialog, Rechtsstaatlichkeit oder
gar Demokratie im Sinn. Wir dürfen die Menschen in
Birma, die sich unter größter Lebensgefahr für Freiheit,
für Demokratie und vor allem für bessere Lebensbedingungen einsetzen, nicht im Stich lassen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Holger Haibach hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie
sich ein Land vor, in dem es keine Meinungsfreiheit,
keine Versammlungsfreiheit, keine Religionsfreiheit,
keine Bewegungsfreiheit, keine Rechte für Frauen und
keine Rechte für Minderheiten gibt, ein Land, in dem ein
Regime Kindersoldaten rekrutiert, Kinderarbeit zumindest duldet, in dem es Fälle von extralegaler Tötung, Tod
in der Haft, Verschwindenlassen, Vergewaltigung, Folter, Missbrauch von Gefangenen und Haft ohne Gerichtsurteile aus politischen Gründen gibt. Stellen Sie
sich ein Land vor, in dem ein Regime es zulässt, dass die
ehemalige Reisschüssel Asiens - dies wurde eben schon
angesprochen - sich zu einem der schwierigsten Länder
hinsichtlich der Nahrungsversorgung der Bevölkerung in
Asien entwickelt hat, ein Land, in dem das Regime es
zulässt, dass über 1,6 Millionen Menschen durch das
World Food Programme ernährt werden müssen, ein
Land, das weniger als 2 Prozent - auch das wurde schon
erwähnt - für das Gesundheitswesen ausgibt, aber mehr
als 40 Prozent des Staatshaushaltes für das Militär, in
dem es jedes Jahr 97 000 neue Fälle von Tuberkulose
gibt, Malaria die häufigste Todesursache ist und 70 Prozent der Menschen in Ansteckungsgebieten leben, ein
Land, in dem es in jedem Jahr wegen Aids 37 000 Todesfälle und 600 000 Ansteckungsfälle gibt, ein Land,
das nach einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation
den Platz 190 von 191 einnimmt. Dieses Land, meine
sehr geehrten Damen und Herren, ist Birma, das Land,
über das wir heute reden.
Wir reden heute nicht zum ersten Mal über Birma. Ich
erinnere daran, dass der Deutsche Bundestag am 6. Juni
2003 in einer einstimmig gefassten Resolution die sofortige Freilassung der Oppositionsführerin Aung San Suu
Kyi forderte. Damals hatte ich ebenfalls die Gelegenheit
und die Ehre, hier sprechen zu dürfen. Heute Morgen
habe ich mir meine Rede noch einmal angeschaut; im
Grunde genommen könnte ich sie jetzt noch einmal halten, weil sich die Verhältnisse kaum verändert haben;
wenn sie sich überhaupt verändert haben, dann zum
Schlechteren. Die Ereignisse der letzten Tage, die hier
schon zur Sprache gekommen sind, zeigen eines ganz
deutlich - was ich damals gesagt habe, kann ich heute
wiederholen; es stimmt immer noch -: Der Deutsche
Bundestag kann und darf an dieser Stelle nicht schweigen, sondern muss mit denen sein, die in ihrem Land für
Demokratie und Menschenrechte eintreten.
({0})
13 bestätigte Tote, 200 unbestätigte Tote, mehrere
Tausend Menschen, die verhaftet worden sind, das Abschalten des Internets - die Nachrichten kommen immer
spärlicher zu uns. Aber immerhin, es ist eine andere
Situation als noch vor 15 oder 20 Jahren, als wir vielleicht überhaupt keine Information über die Situation in
diesem Land bekommen hätten.
Die Frage lautet: Was können wir tun? Der Antrag,
der heute von drei Fraktionen dieses Hauses unterstützt
wird, zeigt den Weg auf, den wir gehen müssen. Nach all
den Jahren der Sanktionen ist die Frage durchaus erlaubt, ob dieser Weg richtig ist und ob wir die richtigen
Mittel gefunden haben. Wenn ich mir die Situation in
Birma anschaue, kann ich diesen Eindruck nicht unbedingt gewinnen. Nun sagen die einen, man müsse anders
mit den Sanktionen umgehen und sie vielleicht sogar
aufheben, während andere dies für falsch halten, da
Sanktionen, auch wenn sie nicht immer eine große Wirkung entfalten, einen symbolischen Akt darstellen, in
dem klar wird, worum es eigentlich geht.
Es ist schon wahr: Europa und Deutschland sind nicht
die größten Handelspartner des Regimes in Birma. Aber
auch wir haben eine moralische Verantwortung. Deswegen ist es nach meiner Überzeugung richtig, zu sagen:
Sanktionen, die sich gegen dieses Regime richten - gegen das Regime und nicht gegen die Bevölkerung; das
muss man ganz klar auseinanderhalten -, sind berechtigt,
und wir unterstützen das Bestreben der Bundesregierung, diese weiterhin zu verstärken. Das muss unsere
Antwort auf diese Frage sein.
({1})
Es ist ebenfalls richtig, dass wir darüber hinaus auf internationaler Ebene nach Möglichkeiten suchen müssen,
Einfluss zu nehmen. Natürlich sind Länder wie China,
Indien und die ASEAN-Staaten - dies ist schon dargestellt worden - wichtige Partner für Birma. 70 Prozent
des Imports und 90 Prozent des Exports, wenn ich es
heute Morgen richtig gehört habe, tätigt Birma mit asiatischen Staaten. Daher kommt diesen Ländern eine
große Verantwortung zu.
Auch ich bedauere es außerordentlich, dass im Sicherheitsrat keine klare Verurteilung der Machthaber in
Rangun oder in der neuen Hauptstadt, in der sie sich jetzt
aufhalten, möglich war. Darüber hinaus bedauere ich es,
dass es im Menschenrechtsrat - dies sage ich als Menschenrechtspolitiker - nicht zu einer klaren Verurteilung
gekommen ist. Zwar hat man erklärt, dass das Vorgehen
der Machthaber missbilligt wird; eine Missbilligung ist
immerhin etwas mehr als Bedauern. Aber man hat nicht
gesagt, dass die dort stattfindenden Menschenrechtsverletzungen und deren Straflosigkeit ein Ende haben müssen. Das ist nicht Teil des Resolutionstextes gewesen.
Dies halte ich bei einem Gremium, das eigentlich dazu
da ist, über die Menschenrechte in der Welt zu wachen,
für außerordentlich bedauerlich.
({2})
Bei all dem Negativen, was man über die Situation in
Birma sagen kann, darf man aber nicht die positiven Aspekte vergessen, die es durchaus gibt. Es ist beachtlich,
dass sich eine Organisation wie die ASEAN, die sich bis
jetzt immer streng an das Prinzip der Nichteinmischung
hielt, zweimal sehr deutlich dazu geäußert hat, was in
Birma passiert ist. Dass das überhaupt möglich war, hat
sicherlich auch damit zu tun, dass die ASEAN-Staaten
insgesamt versuchen, sich mehr als bisher dem Modell
der Europäischen Union anzunähern und so etwas wie
eine Verfassungscharta zu schaffen, in der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eine große Rolle spielen
sollen.
Über diese mündlichen Verlautbarungen hinaus muss
das Ganze aber auch an Taten zu erkennen sein. Das
wird der entscheidende Lackmustest. Hier kommt es
sehr stark auf China, Indien und die ASEAN-Staaten an.
An die ganze Welt muss das Signal ausgehen - das ist
eine weitere Aufgabe, die wir der Bundesregierung mit
auf den Weg geben müssen -, dass wir diese Staaten auffordern, das Ihrige zu tun, um die Situation in Birma zu
verbessern. Dieses ganz klare Zeichen muss vom heutigen Tag ausgehen.
({3})
Man kann natürlich fragen: Muss man alles schwarzsehen, oder gibt es auch in Birma positive Signale? Die
Tatsache, dass der stellvertretende Arbeitsminister als
Gesprächspartner gegenüber der Opposition bzw. Aung
San Suu Kyi benannt worden ist, ist auf den ersten Blick
sicherlich ein positives Zeichen. Aber ich glaube, Kollege Leibrecht hat recht, wenn er vor Euphorie warnt.
Wir müssen genau beobachten, ob das nur eine kurzfristige Aktion ist, um die internationale Öffentlichkeit zu
beruhigen, oder ob das von Dauer ist und die Regierung
tatsächlich den Willen hat, sich mit der Opposition im eigenen Lande konstruktiv auseinanderzusetzen. Das wird
die Zukunft erweisen. Wir werden abwarten müssen, ob
es tatsächlich so kommt, wie wir es uns erhoffen.
Natürlich haben wir Aufgaben und eine Verantwortung, die über die Frage von Sanktionen und über die
Frage, welche politischen Maßnahmen getroffen werden
können, hinausgehen. Es geht vor allem um die humanitäre Hilfe zur Unterstützung der Bevölkerung. Hier befinden wir uns ganz eindeutig in einem Dilemma: Auf
der einen Seite wäre dieses Land durchaus in der Lage,
sich selbst zu ernähren, wenn es denn vernünftig geführt
würde. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem Regime zu tun, das sogar internationalen Organisationen
wie dem World Food Programme, die zumindest die absolut notwendigen Dinge des täglichen Lebens bereitstellen wollen, den Zugang zu Gebieten, in denen Minderheiten leben, verwehrt. Birma ist reich an verschiedenen
Bodenschätzen. Eigentlich wäre dieses Land also in der
Lage, mit seinem Haushalt zurechtzukommen. Trotz alledem müssen wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit das eine oder andere tun; darauf wird der Kollege Klimke sicherlich noch zu sprechen kommen.
Bei aller Kritik an der Haltung Chinas, die ich, sowohl was die UN-Resolution als auch was den Menschenrechtsrat betrifft, voll und ganz teile, kann man eines feststellen: China hat geholfen, als es um die
Einreise des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs
Ban Ki-moon nach Birma ging. Ich glaube, an diesem
Punkt muss man sagen: Hier gibt es ganz offensichtlich
zumindest eine gewisse Form der Verantwortung. Natürlich hat China eigene Interessen, was den Zugang zum
Meer, die Bodenschätze und viele andere Aspekte angeht. Aber ich glaube, dass es hier zumindest ein gewisses Mindestmaß an Verantwortung gibt. Dass das mehr
sein könnte, bestreitet niemand. Dass man Druck ausüben muss, bestreitet auch niemand. Aber an dieser
Stelle wirken wir nur mittelbar. Wir sind nicht diejenigen, die das Heft des Handelns in der Hand haben. Das
entbindet uns allerdings nicht von unserer moralischen
Pflicht, etwas zu unternehmen.
Genauso wie die Bemühungen der Regierung von
Birma einer kritischen Überprüfung daraufhin unterzogen werden müssen, ob sie von Dauer sind und aufrechterhalten werden, muss man auch beobachten, wie die
Äußerungen, die von den ASEAN-Staaten getroffen
worden sind, zu ihrer Politik der kommenden Wochen
und Monate passen, vor allem vor dem Hintergrund,
dass sich diese Organisation im November dieses Jahres
in ihrer Charta zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit bekennen will.
Ich denke, unsere Aufgabe ist, die Bundesregierung
zu unterstützen und ihr den Rücken zu stärken, wenn sie
dafür kämpft, dass in Birma eines Tages demokratische
und friedliche Verhältnisse herrschen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile Michael Leutert das Wort für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist völlig klar: Auch die Linke verurteilt die Ereignisse und Zustände in Birma ohne Wenn und Aber. Die
Liste der Menschenrechtsverletzungen - Todesstrafe,
Folter, Hinrichtungen, auch extralegale Hinrichtungen,
fehlende Meinungsfreiheit, Zwangsarbeit, Zwangsumsiedlung, Kindersoldaten - ist lang, sodass wir uns hier
noch viele Stunden mit Birma beschäftigen könnten.
Wir haben heute zwei Anträge zu Birma vorliegen, in
denen es wieder um Verurteilung und Sanktionen geht.
Sanktionen haben natürlich das Problem - dies ist angesprochen worden -, dass sie nur bedingt erfolgreich sind
und hin und wieder die Falschen treffen. Ich möchte deshalb aufzeigen, was wir über Sanktionen und Verurteilung hinaus ganz praktisch tun können. Ich stelle Ihnen
die Frage: Stimmen bei uns im Hinblick auf Birma Wort
und Tat überein? Ich muss leider zu dem Ergebnis kommen: Auch das ist ein trauriges Kapitel. Pro Asyl hat
- das dürfte bekannt sein - mitgeteilt, dass im ersten
Halbjahr 2007 77 Menschen aus Birma in Deutschland
Asyl beantragt haben. Noch Anfang des Jahres lag die
Anerkennungsquote bei circa 98 Prozent. Seit Anfang
des Sommers hagelt es Ablehnungen.
Man muss die Frage stellen: Was ist im Februar oder
März dieses Jahres passiert? Dazu gibt es einen interessanten Artikel vom 9. Oktober dieses Jahres auf SpiegelOnline, in dem es genau um diese Sache geht. Doch zuvor noch einmal zu Pro Asyl. Pro Asyl schreibt, es gebe
eine neue Entscheidungsgrundlage des Auswärtigen
Amtes für Asylverfahren. Darin heiße es:
Nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes stellt
eine abweichende politische Überzeugung in
Myanmar keinen Straftatbestand dar und führt nicht
unmittelbar zu Repressalien und Verfolgung …
({0})
Das ist dieses Jahr im März herausgegeben worden.
Jetzt stellt sich einfach die Frage: Wie kommt das
Auswärtige Amt im März 2007 zu dieser neuen Bewertung? Es grenzt doch an Zynismus, so etwas über ein
Land zu schreiben, in dem eine Verfassung nicht einmal
existiert - ich muss das nicht weiter ausbreiten. Interessant an besagtem Spiegel-Online-Artikel ist, dass dort
steht, dass die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung - eine
Stiftung mit ehrenwerten Zielen; das will ich nicht bestreiten - Gespräche in Birma geführt hat, eines im September 2006 und, komischerweise, eines im Februar
2007. Nun kann das alles Zufall sein. Aber merkwürdig
ist es schon: Die politischen Verhältnisse verändern sich
nicht, im Februar gibt es Gespräche, und im März
schätzt das SPD-geführte Außenministerium die Lage
völlig anders ein, jeder Realität widersprechend.
Ich muss diesen Zusammenhang deshalb herstellen,
weil ich in den letzten zwei Jahren in anderen Fällen
mitbekommen habe, dass so etwas hier gang und gäbe
ist. Ich erinnere an Usbekistan: 2005 sind in Andischan
mehr als 800 Menschen niedergemetzelt worden. Trotzdem zahlt die Bundesregierung auch 2006 mehrere Millionen Euro Wirtschaftshilfe. Warum?
({1})
Die Bundeswehr unterhält einen Flughafen in Termes,
der für die Verlegung von Truppen wichtig ist. Der Fall
Zammar ist bekannt - der Untersuchungsausschuss tagt
ja noch -: Im Juni 2002 werden Ermittlungsverfahren
gegen syrische Geheimdienstler eingestellt, und im November 2002 fahren Ermittlungsbeamte von BKA und
BND in den syrischen Folterknast, um den Deutschsyrer
Zammar dort zu vernehmen. Kann es da einen Zusammenhang geben?
({2})
Diese Frage möchte ich hier gerne in den Raum stellen.
Damit kommen wir zu den ganz praktischen Schritten, die man machen könnte - abseits von Verurteilung
und Sanktionen, die natürlich wichtig sind -: Wäre es
möglich, dass die von mir zitierte Einschätzung des Auswärtigen Amtes zurückgezogen wird
({3})
und dass Asylbewerber aus Birma anerkannt werden?
Zurückziehen ist eigentlich zu wenig: Die Bundesregierung müsste sich für diesen Fehltritt entschuldigen!
({4})
Waffenlieferungen im Zusammenhang mit China und
Indien sind angesprochen worden; damit bin ich beim
nächsten Punkt. Es ist richtig, China und Indien dafür zu
kritisieren. Auch wir kritisieren das. Es geht nicht, dass
ein solches Regime, eine solche Militärdiktatur, durch
Waffenlieferungen unterstützt wird.
Amnesty International berichtet aber zum Beispiel von
folgender Sache - Indien liefert demnächst einen Militärhubschrauber an das Regime in Birma; ich zitiere -:
Zentrale Komponenten des Systems - an dessen Entwicklung deutsche Unternehmen beteiligt waren stammen aus europäischen Staaten: Hydraulische
Einheiten, Getriebe und Treibstofftanks kommen
aus Großbritannien, Motoren aus Frankreich und
Bremssysteme aus Italien. Aber auch die möglichen
Waffensysteme des Hubschraubers stammen aus Europa. So wird der ALH mit Raketenwerfern aus Belgien, Geschützen und Raketen aus Frankreich und
Selbstschutzausrüstung aus Schweden angeboten.
Wäre es nicht möglich, dass wir hier im Bundestag
beschließen, dass sich die Regierung dafür einsetzen
soll, dass diese Untergrabung des EU-Waffenembargos
unterbleibt, und dass deutsche Firmen natürlich mit
Sanktionen belegt werden, wenn sie daran beteiligt sind?
({5})
Das wären doch konkrete Schritte, die wir hier heute beschließen könnten.
Wenn das, was ich gerade angesprochen habe, in die
Beschlusstexte einfließen würde, dann würden Wort und
Tat meines Erachtens übereinstimmen und dann würde
auch die Linke den vorliegenden Anträgen zustimmen.
Ich danke.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Kerstin Müller
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den hoffnungsvollen Tagen der Demokratiebewegung herrscht leider Friedhofsruhe in Birma. Die Junta
hat gezeigt, dass sie weiterhin bereit ist, über Leichen zu
gehen, um ihre Macht zu sichern. Ich erinnere an 1988:
3 000 friedliche Protestierer sind damals im Kugelhagel
gestorben. Jetzt spricht man von 13 Toten. Tatsächlich
sind es wahrscheinlich viele Hundert Tote, darunter viele
Mönche. Die Oppositionsbewegung spricht davon, dass
mehr als 6 000 Menschen inhaftiert wurden. Die Razzien
dauern an. Man erfährt leider nur noch sehr wenig, weil
das Internet gekappt und jede journalistische Berichterstattung brutal unterbunden wurde. Der systematische
Einsatz von Zwangsarbeit und eine riesige Armee von
400 000 Soldaten, die 40 Prozent des Staatshaushalts
verschlingt - all dies dient der Sicherung der Macht und
der Ausplünderung der Ressourcen.
Ich schließe mich den Vorrednerinnen und Vorrednern
an: Wir alle, der gesamte Deutsche Bundestag, müssen
gegenüber der Militärjunta ein ganz deutliches Zeichen
setzen: Erstens. Wir verurteilen diese brutale Niederschlagung der friedlichen Massendemonstrationen.
Zweitens. Wir fordern die Freilassung aller politischen
Gefangenen, vor allen Dingen der Oppositionsführerin
Aung San Suu Kyi. Drittens. Wir fordern einen friedlichen Übergang zur Demokratie und einen echten Dialog
des Regimes hierüber, wie es Aung San Suu Kyi einmal
formuliert hat.
({0})
Kerstin Müller ({1})
Herr Gloser, damit bin ich beim Rat der Außenminister am Montag, dem Sie ja nicht vorgreifen wollen. Insofern haben wir noch viel Spielraum, hier Vorschläge dafür zu machen, was dort beschlossen werden könnte. Ich
denke, das Vorgehen der Junta muss ganz klar verurteilt
werden; das dürfte unumstritten sein. Klar muss auch
sein, dass sich die Europäische Union gemeinsam und
geschlossen dafür einsetzen muss, dass endlich auch der
Sicherheitsrat das Vorgehen der Junta und die schweren
Menschenrechtsverletzungen in Birma verurteilt.
({2})
Wir brauchen ein internationales Waffenembargo - und
nicht nur eines der Europäischen Union. Wir brauchen
eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen die Militärjunta, wobei klar ist, dass die bisherigen Sanktionen leider
ins Leere laufen, weil einerseits Investitionen in den Rohstoffsektor größtenteils ausgespart werden - wie wir
heute im Ausschuss gehört haben, soll das jetzt verändert
werden - und weil sie andererseits in verschärfter Form
von China, aber auch von Indien und den ASEAN-Staaten
unterlaufen werden.
Die EU-Sanktionen haben eine eher symbolische
Funktion; Herr Haibach, Sie haben das angesprochen.
Ich denke aber trotzdem, dass wir uns zum jetzigen Zeitpunkt für eine Verschärfung aussprechen sollten, wie
dies die Opposition fordert, weil dies in einem solchen
Moment auch ein Zeichen der internationalen Solidarität
ist, wohl wissend, dass es Symbolik ist.
({3})
Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Sie haben sich hier,
Herr Haibach, sehr klar für eine Verschärfung der Sanktionen ausgesprochen. Ich verstehe nicht, warum Sie als
Koalition sich in Ihrem Antrag um eine klare Ansage herumdrücken. Da taucht nämlich das Wort „Sanktion“
überhaupt nicht auf. Ich meine, wenn die Bundesregierung für eine Verschärfung der Sanktionen ist, wenn,
Herr Gloser, die Bundesregierung sich am Montag dafür
einsetzen wird, dass das passiert, dann, finde ich, muss
das auch klipp und klar im Bundestag festgestellt werden, und dann gehört das in den Antrag.
({4})
Wir stimmen dem Antrag der FDP zu; es ist ein sehr
guter Antrag. Es liegt jetzt ein Änderungsantrag vor.
Wenn Sie dieser Meinung sind, dann können Sie den
Koalitionsantrag an dieser Stelle sinnvoll ergänzen.
({5})
Ich will ganz klar sagen: Verschärfte Sanktionen dürfen natürlich nicht zu einer politischen Ersatzhandlung
werden. Wir alle wissen, China ist der Schlüssel. China
ist zurzeit noch der Garant für das Überleben des Regimes. Es liefert Waffen, darf im Gegenzug die Ressourcen des Landes plündern und erhält den strategisch
wichtigen Zugang zum Indischen Ozean. Das ist der eigentliche Grund, warum China bisher jede Resolution
gegen die Junta im Sicherheitsrat - so auch jetzt wieder verhindert hat. Seine erklärte Nichteinmischungspolitik
ist dabei nichts anderes als knallhart kalkulierte Machtund Interessenspolitik.
Deshalb darf sich die internationale Gemeinschaft
nicht nur auf die Sanktionen gegenüber Birma konzentrieren, sondern muss eine ganz deutliche Sprache gegenüber China sprechen. Da liegt der Schlüssel. Ist es
bereit, internationale Verantwortung zu übernehmen,
und würdig, nächstes Jahr zur Olympiade die Welt zu
Gast zu haben, oder ist China weiterhin, wie 1989 auf
dem Tiananmen-Platz, entschlossen, für seine Interessen
über Leichen zu gehen, diesmal in Birma? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das ist die Frage, und
diese Frage muss die Europäische Union China ganz entschlossen und klar stellen, und zwar in dem kleinen Zeitfenster, das uns bis zur Olympiade bleibt.
({6})
Die ASEAN-Staaten wurden erwähnt. Wir brauchen
also eine internationale diplomatische Initiative. Die
ASEAN-Staaten haben ja für ihre Verhältnisse relativ
scharf Kritik geübt. Genau daran muss meines Erachtens
die internationale Gemeinschaft anknüpfen; sie muss
versuchen, eine entsprechende Initiative auf den Weg zu
bringen.
Ich glaube, das Beispiel Darfur hat gezeigt, dass
Druck und Diplomatie sich nicht ausschließen. Das hat
bei China Wirkung gezeigt. In Darfur haben sie einen
Kurswechsel eingeleitet.
In diesen Tagen warnen die burmesischen Mönche,
dass sie, sollte China eine Verurteilung der Junta im Sicherheitsrat wieder ablehnen, zu einem Olympia-Boykott aufrufen werden. Ich meine, wir müssen uns dem
Boykott nicht anschließen. Dafür ist, finde ich, jetzt der
Zeitpunkt noch nicht da. Aber wir müssen ganz klar das
Zeitfenster bis zur Olympiade für diplomatische Initiativen nutzen, damit es zu einer klaren Bewegung hin zu
einer demokratischen Entwicklung auch in Birma
kommt.
({7})
Im Antrag der Koalition vermisse ich Aussagen zu
den EU-Sanktionen, zum Waffenembargo und zu einer
notwendigen Resolution des Sicherheitsrates. Deshalb
haben wir einen Änderungsantrag eingebracht. Dem
können Sie, wenn Sie eigentlich dieser Meinung sind,
wie hier betont, zustimmen.
Ich will auch noch - wie der Kollege von der Linken sehr klar auf das Thema Asylanerkennung zu sprechen
kommen. Es wurde uns heute im Ausschuss gesagt, Herr
Gloser, heute würde man sicherlich zu einer anderen Bewertung der Lage kommen. Das kann doch nicht sein.
Wir haben hier in den letzten Tagen ein brutales Niederschlagen einer Demokratiebewegung beobachtet und
diskutiert. Da kann es doch nicht sein, dass es eine solche Auskunft des Auswärtigen Amtes gibt, die dazu
führt - das steht in allen Asylbescheiden drin; ich habe
Kerstin Müller ({8})
früher viel damit zu tun gehabt; das ist für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wie in Stein gemeißelt -, dass der Schalter umgelegt wird und die Leute
nicht mehr anerkannt werden. Angesichts dessen erwarte
ich vom Auswärtigen Amt, dass das eingestellt wird,
einfach eingestellt wird, aus dem Verkehr gezogen wird.
({9})
Das können Sie. Dazu brauchen Sie noch nicht einmal
den Außenminister. Das ist ja nun wirklich eine Sache,
bei der man zeigen kann: Wir liegen hier falsch; wir
müssen heute zu einer anderen Bewertung kommen.
Auch das ist eine ganz konkrete Form der internationalen Solidarität, die die Exilopposition, aber auch die Demokratiebewegung von uns erwarten kann. Dass wir geflohenen Burmesen - sie haben es schwer genug - Asyl
gewähren, ist eine Form der praktischen Solidarität.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich hoffe, dass wir das in Zukunft gemeinsam deutlich machen werden.
({0})
Der Kollege Detlef Dzembritzki hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Ereignisse der letzten Wochen in Birma haben der
Welt eindringlich die Natur eines Militärregimes vor Augen geführt, das dieses Land seit vielen Jahren beherrscht und unterdrückt und eine positive Entwicklung
verhindert. Dafür, dass Birma endlich in den Fokus der
internationalen Aufmerksamkeit gerückt ist, haben die
Menschen einen hohen Preis gezahlt: Tote, Verwundete,
Massenverhaftungen und Menschenrechtsverletzungen
sind zu beklagen.
Die Lage der burmesischen Bevölkerung ist nicht erst
seit einigen Monaten so schlimm; das ist bereits seit
Jahrzehnten der Fall. Deswegen, Frau Kollegin Müller,
erkläre ich eindeutig, dass ich für Ihre Aussagen in Sachen Asyl viel Verständnis habe und dass wir uns nicht
damit abfinden können, dass im Februar 2007 eine solche Aussage, wie sie vom Kollegen Leutert getroffen
worden ist, möglicherweise der Maßstab für zukünftiges
Handeln sein sollte. Ich hätte 2007 eine solche Entscheidung nicht für richtig gehalten, um das deutlich zu sagen. Denn ich finde, es ist richtig, dass wir in dieser
Frage nicht das Trennende, sondern die Gemeinsamkeiten betonen.
In diesem Zusammenhang habe ich mich - ich habe
dabei meine Freundinnen und Freunde von den Grünen
im Blick - über die scheinbare Häme in Sachen FES gewundert, lieber Kollege Trittin. Der Friedrich-Ebert-Stiftung irgendwelche Dinge zu unterstellen, die darauf hinauslaufen könnten, sich mit den Ereignissen in Birma
zu identifizieren, oder als Schutzbehauptung anzuführen,
dass das irgendwie zu rechtfertigen sei, ist geradezu absurd.
({0})
Selbst in Spiegel-Online wird das festgestellt:
Die Friedrich-Ebert-Stiftung als Unterstützer eines
Regimes, das auf unbewaffnete Demonstranten
schießen lässt? Das Mönche verprügeln und ermorden lässt? Das ist absurd. Denn die FES hat wesentlich zur Stärkung der Regimekritiker beigetragen:
Sie half, den Radiosender der burmesischen Exilopposition in Oslo aufzubauen. Und im Land unterstützt sie Projekte, die der Opposition nahe stehen.
Herr Hauswedell, der erwähnte pensionierte Diplomat, hat klipp und klar gesagt, dass er falsch zitiert worden ist und diese Aussagen so nicht getroffen hat. Ich
will nicht verschweigen, dass es schwierig ist, in solchen
Situationen die richtigen Schritte zu unternehmen. Aber
ich denke, dass von uns allen die wichtige Arbeit, die
von der Stiftung geleistet wird, nicht infrage gestellt
werden sollte.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller
zulassen?
Ja, das ist ein wichtiger Punkt.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Dzembritzki. - Es ist klar, dass ich
der FES oder der SPD nicht unterstelle, das Regime unterstützen zu wollen. Darum geht es nicht. Trotzdem will
ich noch einmal nachhaken; denn auch die FAZ und andere Zeitungen haben berichtet, dass eine Vermittlungsinitiative unter der Leitung des früheren Asienbeauftragten der Bundesregierung Hauswedell, die sozusagen
unter dem Dach der FES und parallel zu den Bemühungen der UNO, aber auch zu den Diskussionen um schärfere Sanktionen erfolgt ist, bei Briten, Franzosen und Italienern zu Erstaunen und scharfer Kritik geführt hat. Ich
zitiere: „Wie kann man in dieser Lage ein Zeichen der
Annäherung setzen wollen?“
Teilen Sie meine Auffassung, dass - selbst wenn die
Absicht grundsätzlich richtig war - der gewählte Zeitpunkt einer Annäherung bzw. einer Vermittlungsinitiative an der Europäischen Union und der UNO vorbei unpassend war?
Verehrte Frau Kollegin, wichtig ist mir, zuallererst
festzuhalten, dass sich Herr Hauswedell selbst geäußert
hat und die ihm unterstellten Äußerungen zurückgewiesen hat. Wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt darüber diskutieren, dann ist sicherlich festzuhalten, dass die Situation, verursacht durch die stattgefundenen Ereignisse im
Lande, schwierig ist. Es gibt kein Missverständnis darüber, dass es zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht
sinnvoll ist - das gilt für beide Institutionen -, Vermittlungsvorschläge zu machen. Vielmehr kommt es darauf
an, dass die Länder der Europäischen Union gemeinsam
handeln.
Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Es ist
sicherlich schwierig, darüber ohne Missverständnisse zu
diskutieren. Sie selbst haben eben darauf hingewiesen,
dass Sanktionen, wenn sie so unterlaufen werden, wie es
in Birma der Fall ist, nicht wirken. Im Gegensatz zu Ihnen bezweifle ich sogar den symbolträchtigen Charakter
solcher Sanktionen. Wir müssen konstatieren, dass wir
mit allen Maßnahmen, die wir seit 1996 ergriffen haben,
keine Verbesserungen für die Menschen in Birma erreicht haben. Wichtig ist, dass wir trotz des vorhandenen
Problemdrucks Entscheidungen treffen, die uns Kontakte zu den Menschen sowie insbesondere zur Opposition und zu den Institutionen im Lande ermöglichen
- ich denke in diesem Zusammenhang auch an die Minderheiten -, die sich hier um einen Dialog bemühen. Im
Augenblick findet kein Dialog statt. Es kommt im Augenblick nicht darauf an, darüber nachzudenken, was
man nicht machen will. Vielmehr müssen wir Chancen
eröffnen, den Dialog in diesem Land zu führen.
Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass der
Schlüssel zur Problemlösung in Birma/Myanmar in der
Region selbst liegt. Wir müssen von europäischer Seite
dazu beitragen, dass Länder wie China oder Indien sich
in ihrem Verhalten gegenüber diesem Land grundsätzlich ändern und ihre Interessen nicht mehr zulasten der
dort lebenden Menschen wahrnehmen. Deswegen wird
es darauf ankommen, China als Vetomacht im UNSicherheitsrat dazu zu bewegen, eine andere Regionalpolitik zu betreiben. Hoffen lässt, dass die ASEAN-Länder - anders als vor Jahren - nicht mehr den Standpunkt
vertreten, dass es hier um Nichteinmischung geht. Vielmehr hat Birma deutliche Signale bekommen. Ich erinnere daran, dass es nicht den Vorsitz in der ASEANRegion übernehmen durfte. Indonesien hat sich im Gegensatz zu anderen Ländern massiv dafür eingesetzt, das
Thema Birma/Myanmar auf die Tagesordnung der IPU
zu setzen. Die IPU hat sich damit intensiv auseinandergesetzt und eine Resolution zur Missbilligung der Zustände in Birma verabschiedet. Es ist ein gutes Signal,
dass man innerhalb der Region verstärkt Verantwortung
übernimmt.
({0})
Die Europäische Union hat Sanktionen ausgesprochen, aber sechs Länder der Europäischen Union treiben
- ich bedauere das sehr, ich denke, hier müssen wir uns
an die eigene Nase fassen - laut Amnesty-InternationalBericht, auf den Sie zu Recht verwiesen haben, quasi
Handel, auch Waffenhandel, mit Birma/Myanmar. Das
konterkariert alle unsere Bemühungen, die wir Parlamentarier unternehmen; denn sie sind dann nicht mehr
als Lippenbekenntnisse und helfen den Menschen im
Land in keiner Weise. Aus diesem Grunde wird es wichtig sein, bei den Regierungsgesprächen bzw. den Außenministergesprächen darauf hinzuweisen, dass man nur
vorankommen wird, wenn man Sanktionen solidarisch
umsetzt und gemeinsam trägt.
Nur mit gemeinsamem Handeln werden wir uns eine
Chance erarbeiten, auf die regionalen Akteure wie China
und Indien Einfluss zu nehmen; denn ohne deren Mithilfe und Mittun wird es nicht zu einer Veränderung in
Birma/Myanmar kommen.
Vielen Dank.
({1})
Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz aller Warnungen, trotz aller Appelle und trotz Drohungen seitens der Europäer, der USA und auch der
UNO haben die Generäle ab dem zehnten Tag der Demonstrationen begonnen, mit Gewalt den Aufstand der
Gewaltlosen niederzuknüppeln. Im Moment ist es offensichtlich ruhig in den Straßen von Rangun, aber wir sollten uns nicht täuschen lassen: Auch heute noch gibt es
Prügeleien im Geheimen, auch heute noch wird gefoltert, und auch heute noch werden Todesopfer in Kauf
genommen. Wir wissen, dass die Junta nicht davor zurückscheut, am Rande der Stadt Internierungslager einzurichten, deren humanitäre Zustände katastrophal sein
sollen.
Doch was zeigt sich darin, außer der Dummheit, die
jeder Brutalität innewohnt? Etwa Stärke, etwa Überlegenheit? Von wegen. Die Eskalation der Gewalt ist
nichts anderes als der Beweis der Ohnmacht eines Regimes, das das Land seit Jahrzehnten ausgebeutet hat, jeden Kredit verspielt hat, das ehedem reichste Land Südostasiens - das muss man immer wieder deutlich machen wirtschaftlich völlig ruiniert und Parteien und Gewerkschaften zerschlagen hat. Es hat sich aus Angst vor dem
Volk auf Anweisung der Götter aus der Hauptstadt
Rangun in den Dschungel zurückgezogen. Die Armee ist
bis an die Zähne bewaffnet. Tausende von Menschen
sind ins Gefängnis geworfen worden, und man hat die
Menschen zu Zwangsarbeit im Straßenbau und in Steinbrüchen verurteilt. Mit welchem Erfolg?
Viele der jungen Mönche und viele andere Teilnehmer der Demonstrationen, die sich dem Militär todesmutig entgegengestellt haben, waren beim Aufstand 1988
kaum geboren. Sie kennen nichts anderes als diese raffgierige Bande von Soldatenkönigen, wie sie die RegieJürgen Klimke
rung ironisch nennen. Sie haben keinerlei Kontakte ins
Ausland, keine Vorstellung von Wohlstand, von Demokratie oder Pressefreiheit. Sie wollen sich aber auch
nicht an das Gegenteil gewöhnen. So pathetisch es
klingt: An der sogenannten Safranrevolution zeigt sich,
dass sich der menschliche Drang nach Freiheit nicht
aberziehen und sich auf Dauer auch nicht unterdrücken
lässt. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass wir die
aufbegehrende Bevölkerung Myanmars unterstützen,
und zwar mit allen Mitteln, die Deutschland und die EU
haben.
({0})
Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag leistet dazu einen Beitrag. Er ist eine unbedingt notwendige Reaktion auch des Deutschen Bundestages auf
diese Vorkommnisse. Insbesondere der Verweis auf die
Resolution des UN-Menschenrechtsrats zeigt, dass das
Vorgehen der Militärregierung verurteilt wird. Wir unterstützen in diesem Zusammenhang auch den UN-Sondergesandten Gambari, dem es anscheinend gelungen ist,
das Militärregime davon zu überzeugen, den Arbeitsminister als Gesprächspartner der Friedensnobelpreisträgerin zu installieren. Das ist ein großes Zeichen; denn zum
ersten Mal wird sie als offizielle Gesprächspartnerin der
Militärs anerkannt. Ihre Auftritte im Fernsehen unterstreichen das. Von besonderer Bedeutung ist auch die
EU-Troika. Sie hat gegenüber China einen Erfolg erzielt,
den ich unserem Außenminister, der im Rahmen der
UN-Vollversammlung sehr eindringlich mit dem chinesischen Außenminister über Myanmar gesprochen und
die Haltung Deutschlands und der EU deutlich gemacht
hat, zuschreibe.
Von entscheidender Bedeutung zur Ausgestaltung der
diplomatischen Möglichkeiten sehe ich vor allen Dingen
die Frage der Sanktionen. Das Auswärtige Amt verfolgt
im Rahmen einer Kompromisslinie innerhalb der Europäischen Union eine Strategie von Sanktionen und Anreizsystemen. In diesem Zusammenhang wird auch von
einer Verschärfung der Sanktionen gesprochen. Verschärfung ja, aber dann direkt gegen das Militär und
hundertprozentig von allen auf internationaler Ebene,
nicht aber gegen die Menschen.
({1})
Insofern wundere ich mich ein bisschen über Ihren Antrag, Frau Müller, in dem Sie von den Grünen als die
selbst ernannten Hüter der Menschenrechte von einer
- unspezifizierten und undefinierten - Verschärfung der
EU-Sanktionen gegenüber Myanmar sprechen und darin
offensichtlich auch die Menschen einbeziehen wollen.
Da kann ich nur fragen: Wissen Sie, welche dramatischen Folgen die bisherigen Sanktionen für die Zivilbevölkerung haben? Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Es geht dabei nicht um die Frage: Sanktionen - ja
oder nein? Es geht um die Frage: Wie schütze ich die
Zivilgesellschaft?
Zuallererst ist die Militärjunta für die dramatische
Lage der 56 Millionen Menschen in Myanmar verantwortlich. Krankheiten, fehlende Elementarbildung und
die Vernichtung der natürlichen Ressourcen sind nur einige Probleme, mit denen die Menschen zu kämpfen haben. Wenn Sie mit der Myanmar Community hier in
Deutschland sprechen, werden Sie hören, dass mit den
Sanktionen in den letzten Jahren nicht unbedingt das erreicht wurde, was man erwartet hatte und was man erreichen wollte. Die Entwicklungsfähigkeit der Zivilbevölkerung wurde behindert, und damit wurde auch eine
nachhaltige Stärkung der oppositionellen Kräfte unmöglich gemacht.
Wenn nicht alle mitmachen, dann läuft es eben darauf
hinaus, dass die Generäle nach New York, nach London
oder nach Frankfurt reisen, auch wenn es ihnen möglicherweise verboten ist. Sie müssen aber auch gar nicht
reisen, weil ja in Singapur alles zur Verfügung steht:
Krankenhäuser, Universitäten und Banken. Es wurde
schon erwähnt, welche Firmen die Handelsbeschränkungen unterlaufen haben. Wenn Global Player wie zum
Beispiel Total einträgliche Ölgeschäfte mit den Militärs
in Myanmar machen, dann muss man feststellen, dass
auch die Wirtschaftssanktionen der EU nichts oder nur
wenig erreicht haben. Meine Damen und Herren, die
Sanktionen müssen die Machthaber treffen - ich sage es
noch einmal - und nicht die Menschen.
({2})
Wie könnte eine neue Linie aussehen, die ganz eindeutig die Situation der entwicklungspolitischen Lage in
Myanmar berücksichtigt? Wie behalten wir einen Fuß in
der Tür und bleiben weiter im Gespräch, auch mit der
Militärjunta? Deutschland muss dazu beitragen, dass die
Anreizmechanismen, die es in Art. 3 des Gemeinsamen
Standpunktes der EU gegenüber Myanmar ja gibt, genutzt werden, weil damit Myanmar eine Perspektive gegeben wird und gleichzeitig die zivilen Strukturen gestärkt werden. Deswegen sollte die Bundesregierung auf
der Sitzung des Europäischen Rates am 15. November
dafür eintreten, dass Art. 3 des Gemeinsamen Standpunktes vollständig erhalten bleibt. Die diversen deutschen NGOs und Stiftungen müssen ebenso wie die EU
und die UNO durch das Entwicklungsministerium befähigt werden, mehr und größer angelegte Projekte im
Interesse der Menschen durchzuführen. Art. 3 erlaubt
uns, mehr zu tun im Bereich Bildung, im Bereich der humanitären Hilfe, im Bereich von Biodiversität und auch
bei der Streitschlichtung innerhalb der Zivilgesellschaft.
Wir stärken damit die Mobilisierung von unten, die möglicherweise auch auf die mittleren Führungsebenen und
die jüngeren Mitglieder der Militärjunta durchschlagen
könnte.
Grundsätzlich halte ich es auch für notwendig, Mehrparteiengespräche, ähnlich wie sie im Zusammenhang
mit Nordkorea geführt worden sind, auch gegenüber
Myanmar durchzusetzen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren, die
Mönche haben keine anderen Waffen genutzt als ihre
leeren Reisschüsseln, die sie im Angesicht der Soldaten
umgedreht haben. In keiner anderen Geste zeigt sich
deutlicher ihre moralische Macht. Lassen Sie uns den
Menschen helfen und sie nicht durch Sanktionen deutlich weiter isolieren. Wie immer das Kräftemessen ausgeht, noch blutiger oder vielleicht doch einem Kompromiss für die Menschen: In Wahrheit haben die
Menschen, in Wahrheit hat das Volk schon gewonnen.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Gloser das Wort. Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte auf die
Ausführungen der Kollegin Müller und des Kollegen
Leutert eingehen.
Diese Pressemeldung war unvollständig. Der generellen Anfrage lag ein bestimmter Sachverhalt zugrunde.
Man hat darauf geantwortet, ohne dem Motto „Wenn
man einen Asylantrag stellt, dann hat das in dem entsprechenden Land keine Konsequenzen“ zu folgen. Vielmehr hat man ausdrücklich festgestellt - ich zitiere -:
Nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes stellt
eine abweichende politische Überzeugung in
Myanmar keinen Straftatbestand dar und führt nicht
unmittelbar zu Repressalien und Verfolgung, sie
kann aber zur Folge haben, dass Betroffene von
myanmarischen Sicherheitsdiensten unter Beobachtung gestellt werden. Wird dann eine Straftat - wie
beispielsweise eine Missachtung des Versammlungsverbotes - begangen, müssen Betroffene hingegen mit erheblichen Drangsalierungen und einer
unnachsichtigen Strafverfolgung rechnen.
Es ist also nichts verharmlost worden. Es ist nur eine
sehr abstrakte Frage zu einer ganz bestimmten Situation
gestellt worden.
Im Übrigen wurde noch vor den Unruhen, bereits im
August, aufgrund entsprechender Berichte die Grundlage für die Bearbeitung von Anträgen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geändert. Daher
bitte ich, nicht zu behaupten, hier sei eine Grundlage geschaffen worden. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge muss jeden Einzelfall, losgelöst von abstrakten Beantwortungen, beurteilen. Das Auswärtige Amt
übernimmt keine rechtliche Beurteilung. Insofern war
immer die Möglichkeit gegeben, aktuelle Gegebenheiten
in Myanmar zu berücksichtigen.
Zur Erwiderung hat die Kollegin Müller das Wort.
Herr Kollege Gloser, mir ist sehr wohl bewusst, dass
es sich um eine Einzelauskunft handelt. Diese Einzelauskunft liegt mir vor.
Entscheidend dafür, dass es sich hierbei um eine Einzelauskunft, gleichzeitig aber auch um eine Grundsatzentscheidung handelt, ist die Antwort auf die Frage 2.
Darin wird festgestellt, dass der Fall des Stanley Van
Tha nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes eine Ausnahme darstellt. Bis dato, jedenfalls seit 2004 - das war
ein Einschnitt -, war es so, dass man sich aufgrund des
Falles dieses Menschen, der aus der Schweiz abgeschoben wurde und sodann in seiner Heimat zu 19 Jahren
Haft verurteilt wurde, sowohl in der Schweiz als auch in
Deutschland überwiegend zu Anerkennungen entschloss. Allerdings hat die Feststellung des Auswärtigen
Amtes, dies sei eine Ausnahme gewesen, zu einer grundsätzlichen Änderung der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - bisher sind es
nur 77 Personen, die in diesem Jahr einen Antrag gestellt
haben - geführt.
Der Pressesprecher des Auswärtigen Amtes hat schon
gesagt, man müsse auch andere Erkenntnisquellen hinzuziehen. Ich sage Ihnen: Als ehemalige Staatsministerin
und als Rechtsanwältin, die entsprechende Fälle bearbeitet hat, weiß ich, dass eine solche Auskunft des Auswärtigen Amtes für das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge hinsichtlich der Anerkennung wie in Stein
gemeißelt ist. Das hätte man wissen müssen.
Meine Rede enthielt eine Bitte: Wenn man die jetzige
Anerkennungspraxis nicht will, dann muss man diese
Auskunft korrigieren. Wenn Sie meine Meinung teilen,
dann soll die Koalition dem folgen. Darüber würden wir
uns freuen.
({0})
Jetzt spricht für die SPD die Kollegin Christel
Riemann-Hanewinckel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte und auch die Auseinandersetzung über die
verschiedenen Punkte zeigen, dass es gut gewesen wäre,
wenn wir es in diesem Hause geschafft hätten, einen interfraktionellen Antrag zustande zu bringen. Wir haben
durch eine intensive Diskussion festgestellt, dass es eine
ganze Reihe von Punkten gibt, in denen wir offensichtlich einer Meinung sind. Wir sind nicht nur einer Meinung in der Beurteilung der Situation in Birma, sondern
auch in der Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen. Ich habe aus dem, was alle Rednerinnen und Redner
gesagt haben, herausgehört, dass wir zum Teil ratlos
sind, welche Mittel und Möglichkeiten die Weltgemeinschaft hat, um tatsächlich Veränderungen herbeizuführen, und dass es gleichzeitig darum gehen muss, dass
möglichst viele das Gleiche sagen und für das gleiche
Ziel arbeiten und kämpfen.
Ich habe mich bei der Vorbereitung meiner Rede gefragt: Was ist zu tun? Was können wir von uns aus und
von hier aus tun?
Natürlich können und müssen wir alle Gremien, die
weltweit etwas zu sagen haben und Veränderungen bewirken können, ansprechen. Die Vereinten Nationen, der
Sicherheitsrat, der Menschenrechtsrat, der ASEANStaatenbund, die Europäische Union, die Bundesregierung und auch der Deutsche Bundestag müssen sich einmischen. Offenbar wird weiterverhandelt, ob es nicht
doch noch gelingt, einen Antrag auszuarbeiten, mit dem
wir uns alle einverstanden erklären können.
Ich möchte jetzt zu einzelnen Punkten etwas sagen,
die mich hier sehr erregt und geärgert haben. Herr
Leutert, ich beziehe mich auf das, was Sie zur FriedrichEbert-Stiftung und zu den Auswirkungen, die eine Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung haben soll, gesagt haben. Es tut mir leid, aber für mich ist das, was Sie
hier betrieben haben, Denunziation.
({0})
Sie wissen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Wenn
Stiftungen in einem Land wie Birma arbeiten, in dem die
Menschenrechte verletzt werden - die Friedrich-EbertStiftung war die erste vor Ort und arbeitet intensiv an diesem Problem und mit denen, die unterdrückt werden -,
dann kann man doch nicht unterstellen, dass sich eine
Veranstaltungsreihe, die schon im Jahr 2006 begonnen
hat - es hat jetzt bereits eine dritte Veranstaltung stattgefunden -, so auswirkt, dass der Botschafter oder das Auswärtige Amt den Lagebericht entsprechend verändert.
Wenn Sie diese Vermutung oder diesen Verdacht vor einem halben Jahr gehabt hätten, dann wäre es an Ihnen gewesen, genau das anzusprechen und den Lagebericht
schon da zu kritisieren.
Ich kann Ihnen nur sagen: In meiner Zeit als Bundestagsabgeordnete im Petitionsausschuss - dabei ging es
vor allen Dingen um Asylbewerber - war es sehr oft so
- leider ist das offenbar die Achillesferse eines jeden
Auswärtigen Amtes, egal unter welcher Führung -, dass
die Lageberichte nicht der Realität entsprochen haben.
Das habe ich erlebt, als Hans-Dietrich Genscher Außenminister war, das habe ich erlebt, als Joschka Fischer
Außenminister war, und das erleben wir jetzt offenbar
auch an diesem Punkt, beim Lagebericht mit Blick auf
Birma. Aber das berechtigt Sie noch lange nicht, finde
ich, solche Vermutungen auszusprechen, zumal es schon
Richtigstellungen vonseiten der Friedrich-Ebert-Stiftung
gibt. Wir könnten jetzt hier noch eine halbe Stunde darüber diskutieren. Es gibt nämlich noch mehr Punkte, die
bei Spiegel-Online und bei der FAZ falsch dargestellt
worden sind. Ich bin immer wieder überrascht, wie
schnell wir uns, wenn es uns in den Kram passt, auf Zeitungsmeldungen berufen und behaupten, dass sie die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen.
({1})
Ich frage mich noch etwas anderes: Müssen wir nicht
auch unser Engagement im Blick auf die Nichtregierungsorganisationen, die in Birma sind, verstärken? Wir
wissen, dass mit 3 Millionen Euro Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden - die können vor Ort arbeiten -, weil es keine bilaterale Zusammenarbeit gibt;
es ist auch richtig, dass sie jedenfalls zurzeit nicht stattfindet.
Ich frage mich aber auch: Wie sieht es eigentlich aus
mit den Wirtschaftsunternehmen aus sechs europäischen
Staaten, darunter Deutschland, die Bauteile und Technologie für einen Militärhubschrauber nach Indien liefern?
Dabei wissen wir ganz genau, dass dieser Militärhubschrauber nach Birma verkauft werden soll. Damit läuft
in gewisser Weise auch das europäische Waffenembargo
ins Leere. Ich weiß, dass wir die Wirtschaft nicht zu
reglementieren haben, aber wir können zumindest anstoßen, dass die Wirtschaft sich auch Gedanken darum
macht, was mit den Teilen, die sie in Länder liefert, dort
passiert, wo massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden.
Zur Asylpraxis Deutschlands haben sich meine Vorrednerinnen und Vorredner schon geäußert. Ich gehe davon aus, dass die Asylpraxis sich sofort ändern wird,
weil sie sich ändern muss, weil dieser Lagebericht die
Realität in Birma nicht wiedergibt.
({2})
Wenn wir eine Lösung für Birma suchen, dann - auch
das ist schon gesagt worden - führt an Indien und vor allen Dingen an China kein Weg vorbei. China hält bisher
der Militärregierung aus wirtschaftlichen und politischen
Gründen den Rücken frei.
Ein knappes Jahr vor den Olympischen Spielen will
die Volksrepublik ja ein weltoffenes Image bekommen.
Menschenrechte, Religionsfreiheit, Pressefreiheit und
Gewaltlosigkeit können dann keine leeren Worte bleiben. Deshalb ist es an uns, auch China gegenüber die
deutliche Erwartung auszusprechen, dass es sich, auch
im Verbund der ASEAN-Staaten, anders verhält. Die
Staatengemeinschaft sollte die Zeit vor der Olympiade
nutzen und China dringend dazu auffordern, seinen Einfluss auf Birma nachhaltig zu nutzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir dürfen
nicht - das werden wir auch nicht tun - die Hoffnung
aufgeben, dass sich die Situation in Birma ändert und
dass sich mithilfe von Dialogen und eines Kampfes ohne
Waffen, also eines Verhandelns mit Argumenten, aber
eben auch mithilfe von Sanktionen das Regime in Birma
eines anderen besinnt, damit das gesamte Land, das ja
sehr reich ist, aber dessen Bevölkerung das Regime bettelarm gemacht hat, endlich auf den Weg der Demokratie
kommt.
Vielen Dank.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wir stimmen zunächst über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP auf Drucksache 16/6600 mit dem Titel
„Menschenrechte und Demokratie in Birma durchset12132
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
zen“ ab. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/6608? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/6609? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/6600
mit der soeben beschlossenen Änderung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
Ich komme zu Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Birma/Myanmar stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6611, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/5608 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und FDP und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 11. Oktober,
9 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den
Abend!
Die Sitzung ist geschlossen.