Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere heutige
Tagesordnung eintreten, gibt es einige wenige amtliche
Mitteilungen. Der Kollege Dr. Norman Paech feierte
am 12. April seinen 70. Geburtstag und die Kollegin Ina
Lenke am 18. April ihren 60. Im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich beiden nachträglich herzlich und
wünsche alles Gute.
({0})
Bevor wir in die Beratungen unserer Tagesordnung
eintreten, müssen wir noch zwei Wahlen vornehmen.
Der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger hat sein Amt als
Schriftführer niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt
die SPD-Fraktion die Kollegin Doris Barnett vor. Sind
Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein.
Dann ist die Kollegin Doris Barnett damit zur Schriftführerin gewählt.
Außerdem hat die CDU/CSU-Fraktion mitgeteilt,
dass der Kollege Michael Hennrich aus dem Beirat bei
der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ausscheidet.
Als Nachfolger wird der Kollege Thomas Bareiß als ordentliches Mitglied vorgeschlagen. Können wir uns auch
darauf einigen? - Das sieht so aus. Dann ist auch hier
einvernehmlich der Kollege Thomas Bareiß in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Überfällige Strategien der Bundesregierung
zur Lösung der Welternährungskrise
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Leitlinien für den internationalen Arten- und
Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt
- Drucksache 16/8878 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksache 16/8875 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forderung nach einem Bericht der Bundesregierung über die Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser
- Drucksache 16/8889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und
Beamten in den Ländern ({7})
- Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508,
16/8189, 16/8910 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsfonds stoppen - Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einführen
- Drucksache 16/8882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von
Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und
bekämpfen
- Drucksache 16/8883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des
Bundeskindergeldgesetzes ({10})
sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschrift
- Drucksache 16/4670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands globale Verantwortung für die
Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern
- Drucksache 16/8884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({13})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung
und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur
Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Beck ({14}), Marieluise Beck ({15}),
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine unverzügliche Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur AntiFolter-Konvention der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/455, 16/360, 16/8790 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({16})
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 5 b und 5 c sollen ohne
Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. Der Ta-
gesordnungspunkt 13 - hier geht es um das Flächener-
werbsänderungsgesetz - wird abgesetzt. Die nachfolgen-
den Tagesordnungspunkte 15, 17, 19, 21 und 23 der
Koalitionsfraktionen rücken jeweils einen Platz vor. -
Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({17})
- Drucksache 16/8488 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18})
- Drucksache 16/8912 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Roth ({19})
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
- Drucksache 16/7375 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20})
- Drucksache 16/8913 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Roth ({21})
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom
13. Dezember 2007
- Drucksache 16/8300 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({22})
- Drucksache 16/8917 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({23})
Markus Löning
Rainder Steenblock
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestages und des Bundesrates
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 16/8489 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({24})
- Drucksache 16/8919 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({25})
Michael Link ({26})
Rainder Steenblock
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({27}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Intransparenz beenden - Eine lesbare Fassung
des Reformvertrags schaffen
- Drucksachen 16/7446, 16/8920 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({28})
Markus Löning
Rainder Steenblock
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Das Ratifizierungsverfahren zum Vertrag von
Lissabon aussetzen - Ein Sozialprotokoll vereinbaren
- Drucksache 16/8879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({29})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ich weise darauf hin, dass wir später über drei Gesetzentwürfe namentlich abstimmen werden. Außerdem mache ich auf mehrere Änderungs- und Entschließungsanträge aufmerksam.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch darüber herrscht offenkundig Einvernehmen. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel das Wort.
({30})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich möchte an diesem Tage
mit einem Wort des Dankes beginnen. Ich danke allen
für die vertrauensvolle Zusammenarbeit an einem - wie
ich glaube: großen - Projekt, einem Projekt, mit dem wir
uns nicht mehr und nicht weniger als eine neue Grundlage für Europa schaffen. Ich bin mir sicher: Es ist eine
Grundlage, die solide und von Bestand ist. Das ist eine
Überzeugung, die ich nicht nur mit der gesamten Bundesregierung teile. Die bisherige Debatte über den Vertrag von Lissabon in diesem Haus hat nahezu über alle
Fraktionsgrenzen hinweg eine grundlegende Einigkeit
offengelegt. Der neue Vertrag ist gut für Europa.
({0})
Er ist nicht nur gut für Europa, sondern er ist auch gut
für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Dies
zählt für uns in diesem Hause natürlich in ganz besonderer Weise. Diese Einigkeit in den Grundfragen der Europapolitik in Deutschland ist ein hohes Gut. Einigkeit
macht stark. Sie stärkt auch die Stimme der Bundes16452
republik Deutschland in der Europäischen Union. Das
wird sich in vielen Fällen zeigen; deshalb dieses herzliche Dankeschön.
({1})
Meine Damen und Herren, zusammen mit vielen anderen ist es uns gelungen, unter unserem Ratsvorsitz und
dann unter der portugiesischen Präsidentschaft Europa
aus seinem Stillstand herauszuführen. Es ist uns gelungen, die 27 Mitgliedstaaten zu einem Bekenntnis zusammenzubringen: Europa bekennt sich heute mit größerem
Nachdruck zu seinen unveräußerlichen Werten, die wir
in der Berliner Erklärung vom 25. März 2007 zum
Ausdruck gebracht haben. Der neue Vertrag macht die
Grundrechtecharta verbindlich. Die Europäische Union
ist jetzt nicht mehr nur eine Union von Frieden, Freiheit
und Sicherheit, sondern sie macht mit der Grundrechtecharta auch deutlich, dass sie sich zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell bekennt, in
dem wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung
miteinander vereint werden. Für uns in Deutschland, die
wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag der sozialen Marktwirtschaft begehen, ist dies eine ganz wichtige Botschaft: Unsere Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell
kennen. Das ist eine Stärkung unserer Stimme auch in einer globalen Zeit.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger müssen natürlich spüren,
dass die Europäische Union ihnen persönlich in ihrem
Lebensumfeld und in der Familie zugutekommt. Das
macht den Zusammenhalt in Europa und natürlich
auch in unserer Gesellschaft aus. Ich bin sehr froh, dass
es uns gelungen ist, dieses fundamentale politische Bekenntnis Europas zu sich selber zu erreichen. Dies ist
nach meiner Auffassung die tiefe Bedeutung dieses Vertragsabschlusses.
Wir haben in der Berliner Erklärung gesagt, wir Europäer seien zu unserem Glück vereint. Die Bundesregierung und dieses Parlament sehen heute in diesem neuen
Vertrag einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Ausgestaltung unserer gemeinsamen Zukunft. Wir sollten uns
ganz bewusst machen, was mit diesem Vertrag passiert
ist; denn anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag
von Lissabon kein Verfallsdatum. Er hat anders als
seine unmittelbaren Vorgänger keine Revisionsklausel.
Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge ist
heute nicht in Sicht. Wenn dieser Vertrag in Kraft tritt,
dann wird die Europäische Union auf sicheren Beinen
stehen. Dies ist meine Überzeugung und die vieler anderer.
Schauen wir uns die Dinge im Einzelnen an, bringt
dieser Vertrag erhebliche Fortschritte:
Erstens. Er sichert die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der 27 Mitgliedstaaten. Künftig werden
wir im Rat überwiegend mit Mehrheit statt mit Einstimmigkeit beschließen. Ich weiß, dass dies natürlich für
Deutschland auch bedeuten kann, dass es manchmal
schwieriger wird, eigene Interessen zu 100 Prozent
durchzusetzen. Umso wichtiger wird es sein, frühzeitig
für unsere Anliegen bei der Kommission, dem Europäischen Parlament und bei anderen Mitgliedstaaten zu
werben. Aber insgesamt ist es von Vorteil auch für uns;
denn Stillstand und Blockaden können so sehr viel besser überwunden werden.
({3})
Zweitens bekommen wir eine gerechtere Gewichtung der Stimmen. Bei Mehrheitsabstimmungen im Rat
wird die Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten - dies
ist für Deutschland natürlich wichtig - voll ins Gewicht
fallen. Es ist in einer Gemeinschaft demokratischer Staaten nur recht und billig, dass jede einzelne Stimme zählt.
Drittens erhält die Europäische Union eine Kompetenzordnung, die die Kategorien der Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten und der Union festlegt. Dies war eine
langjährige Forderung der Bundesregierung und der
deutschen Bundesländer. Außerdem wird zum ersten
Mal das Prinzip der Rückübertragbarkeit von Kompetenzen festgeschrieben. Sie kommt dann infrage, wenn die
Mitgliedstaaten glauben, dass etwas besser national erledigt werden kann.
Viertens. Der neue Vertrag erleichtert die Zusammenarbeit in einem ganz wichtigen Feld der Politik, nämlich
in der Innen- und Justizpolitik. So können wir die Außengrenzen Europas besser sichern und illegale Einwanderung nach Europa und nach Deutschland weiter eindämmen. In Zukunft werden auch gemeinsame operative
Ermittlungsgruppen in Europa möglich, und damit sind
wir für den Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität und gegen Terrorismus besser als bislang gerüstet.
Fünftens. Es werden die Grundlagen für einen gemeinsamen Klimaschutz und für eine solidarische Zusammenarbeit im Energiebereich geschaffen. Ich
denke, die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht,
dass wir bei diesen großen Zukunftsfragen in der Europäischen Union tätig werden können.
Der Vertrag von Lissabon erfüllt schließlich viele
weitere, ganz speziell auch deutsche Forderungen, die
aus Europa Schritt für Schritt stärker ein Europa der
Menschen, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger machen. Ich begrüße zum Beispiel ausdrücklich, dass die
Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung
nun der Europäischen Union vertraglich vorgeschrieben
wird. Das sichert unser Verständnis von Europa als einer
engen politischen Gemeinschaft, die aber kein Staat ist
und auch kein Staat sein wird, sondern ein Gebilde sui
generis, ein einzigartiges Gebilde.
({4})
Ich begrüße insbesondere, dass der Status der Kirchen
in einem eigenen Artikel festgeschrieben werden konnte.
Auch das ist für unser Werteverständnis von großer Bedeutung.
({5})
Schon diese wenigen Beispiele zeigen uns: Der Vertrag von Lissabon ist ein Gewinn für Deutschland. Er ist
in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Ich
sehe deshalb mit Freude, dass die Ratifizierungsverfahren auch in den anderen Mitgliedstaaten zügig voranschreiten. Ich bin heute hier zuversichtlich, dass der Vertrag am 1. Januar in Kraft treten kann. Ich sage aber
auch: Es ist wirklich höchste Zeit für Europa. Wir haben
uns jahrelang mit uns selbst beschäftigt. Die Phase der
Ungewissheit und der Lähmung muss vorbei sein. Es ist
wichtig, dass wir jetzt wieder den Blick nach vorne richten.
Da ist auf der einen Seite natürlich die spannende
Frage, was denn nun dieser neue Vertrag für die Organe
der Union, für den Rat, für die Kommission, für das
Europäische Parlament, für die Zusammenarbeit und für
das Verhältnis zu den nationalen Parlamenten und Regierungen bedeutet. Genau dafür werden wir im zweiten
Halbjahr dieses Jahres, nämlich unter der französischen
Präsidentschaft, die Weichen stellen; denn wir müssen
jetzt noch im Detail ausgestalten, wie das alles funktioniert. Wir wissen, dass das Europäische Parlament durch
diesen Vertrag gestärkt wird. Als gleichberechtigter Mitgesetzgeber wird es zum ersten und einzigen voll gültigen supranationalen Parlament der Welt für die Kompetenzen, die nach Europa übertragen werden. Die Arbeit
der Kommission wird an Effizienz und Konzentration
gewinnen. Die Kommission wird ab 2014 verkleinert.
Ich glaube, das ist richtig; denn wir haben immer wieder
erlebt: Je mehr Kommissare wir haben, desto mehr Zuständigkeiten werden gefunden. Deshalb ist diese Beschränkung nach meiner festen Überzeugung richtig.
({6})
Zu einer der wichtigsten Neuerungen zählt das Amt
des Präsidenten des Europäischen Rates. Der Vertrag
sagt, dass der Präsident der Arbeit des Europäischen Rates Kontinuität verleihen soll. Damit wird ihm in besonderer Weise, so ist es beschrieben, die Aufgabe der Konsensbildung unter den 27 Mitgliedstaaten zukommen,
genauso wie die Vertretung in der gemeinsamen Außenpolitik auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs.
Aber natürlich ist das in Bezug auf die bisher bekannte
Präsidentschaft, die ein halbes Jahr dauert und die es
auch weiter gibt, eine interessante Neuerung, die vielerlei Fragen aufwirft, die erst einmal geklärt werden müssen.
({7})
Außerdem wird natürlich das neugestaltete Amt des
Hohen Vertreters für Außenpolitik von großer Wichtigkeit sein. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik wird
praktisch Vizepräsident der Kommission sein. Damit
steht er zwischen diesen beiden Organen. Es wird viel
Aufmerksamkeit erfordern, wenn wir den Aufbau des
neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes in Angriff
nehmen. Der wird natürlich aus Menschen bestehen, die
aus den Mitgliedstaaten kommen - Deutschland wird
sich daran beteiligen -, aber gleichzeitig auch aus Vertretern, die heute in der Kommission in diesen Bereichen
arbeiten. Auch das wird eine spannende Sache werden.
Die Beschreibungen dieser neuen Ämter werden nach
der Konsultation der einzelnen Organe der Europäischen
Union im zweiten Halbjahr vorliegen, damit wir zu Beginn des Jahres 2009 in die Arbeit einsteigen und effizient handeln können.
Die Fundamente der Europäischen Union sind neu
gelegt. Sie müssen sich nun festigen, und das gibt Ruhe
und Kraft für die eigentlichen politischen Aufgaben. Ich
sehe unsere nächste große Herausforderung in Europa
darin, unsere eigenen, die europäischen Interessen in der
Welt deutlicher zu definieren und Strategien zu entwickeln, um diese Interessen in der Welt wirklich durchzusetzen.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten mit Recht Antworten auf die großen politischen Fragen, vor denen die
Mitgliedstaaten und die Union insgesamt stehen. Ich will
diese Aufgabe unter dem Begriff der politischen Gestaltung der Globalisierung zusammenfassen. Die Menschen erwarten von uns, dass wir den ökonomischen Ereignissen nicht hinterherlaufen, sondern dass wir für sie
einen Ordnungsrahmen finden. Der Grundgedanke der
sozialen Marktwirtschaft ist der Grundgedanke des geordneten Wettbewerbs. Diesen Gedanken müssen wir
auf die Europäische Union übertragen, weil wir als Nationalstaaten unsere Interessen in vielen Fragen allein
nicht mehr ausreichend durchsetzen können.
({8})
Was gehört dazu? Dazu gehört eine Wirtschaftsordnung mit menschlichem Gesicht. Dazu gehören geregelte und transparente Finanzmärkte. Dazu gehört eine
gestärkte, wertegebundene gemeinsame Außenpolitik,
die europäische Interessen und auch Standards durchsetzt. Dazu gehört die Sicherung der Energieversorgung.
Dazu gehört ein moderner Klima- und Umweltschutz.
Dazu gehören eine geregelte Migrations- und Integrationspolitik genauso wie der Schutz des geistigen Eigentums. Das ist notwendig, wenn wir ein Kontinent der Innovation bleiben wollen.
Unter diesen großen Aufgaben sind nicht wenige, bei
denen die Europäische Union in Zukunft stärker tätig
werden muss, als sie das heute tut. Sie hat den Auftrag,
dies immer dort zu tun, wo wir eine geschlossene und
entschlossene Gemeinschaft der 27 Mitgliedstaaten
brauchen, um ein Anliegen in der Welt durchzusetzen.
Wir sind gemeinsam 500 Millionen Einwohner in Europa. Wenn wir uns zu gemeinsamen Positionen zusammenfinden, kann man in der Welt daran nicht einfach
vorbeigehen.
({9})
Der Vertrag bietet auch eine Handhabe für den Fall,
dass wir uns einmal nicht einig sind, wenn wir gemeinsam handeln wollen. Deshalb gibt es das Instrument
der verstärkten Zusammenarbeit. Allerdings müssen
alle Mitgliedstaaten zustimmen, dass eine Gruppe dieses
Instrument nutzt. Ich sage allerdings auch: Es darf nicht
der normale Weg sein, dass wir in allen wichtigen Fragen nur die verstärkte Zusammenarbeit suchen. Vielmehr müssen wir uns schon bemühen, gemeinsame Positionen auszuarbeiten.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren, man kann fast sagen: Jahrzehnten, war der Weg der
Europäischen Union ein Weg, der zu immer mehr Integration, zu immer mehr gemeinsamem Handeln geführt
hat. Dies war zu Beginn nötig, um das gemeinsame
Werk überhaupt einmal auf die Füße zu stellen und zum
Laufen zu bringen. Ich glaube, dass wir in Zukunft stärker vor der Aufgabe stehen, zu entscheiden, wie das
richtige Gleichgewicht zwischen nationalen Aufgaben
und europäischen Aufgaben auszugestalten ist. Das
heißt, wir müssen überlegen, wo etwas am besten erledigt werden kann: in Brüssel, in Berlin, in Schwerin oder
in Mainz?
({10})
- Ich hätte auch „München“ sagen können. Das leuchtet
vielleicht mehr ein.
({11})
Nun kommt ein wichtiger Punkt: Der Vertrag macht
klar: Die Mitgliedstaaten sind Herren der Verträge. Das
heißt, wir, die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag, entscheiden, wann wir eine Aufgabe der europäischen Ebene geben und wann sie besser in der nationalen
Verantwortung bleibt. Hierfür ist in Deutschland der
Maßstab gesetzt, nämlich der Maßstab der Anwendung
des Subsidiaritätsprinzips, was nichts anderes heißt,
als dass die untere Ebene den Vorrang vor der oberen
hat, wann immer sie die Aufgabe richtig erledigen kann.
Es ist kein Geheimnis, dass dieser Grundsatz in der
Europäischen Union noch nicht immer zu hundert Prozent befolgt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass der
Vertrag von Lissabon uns hier völlig neue Möglichkeiten
gibt. Er räumt den nationalen Parlamenten zum ersten
Mal die Möglichkeit ein, sich früher, nämlich bevor Rat
und Europäisches Parlament mit den Verhandlungen beginnen, mit den Vorschlägen zu befassen, sie zu prüfen
und zu fragen: Ist ein Tätigwerden der Union an dieser
Stelle überhaupt nötig? - Mit der Antwort auf diese
Frage können dann die nationalen Parlamente frühzeitig
klare Signale an die Europäische Union senden.
Natürlich wird es vorkommen, dass die Organe der
Europäischen Union einen Vorschlag weiterverfolgen,
obwohl er nach Auffassung eines nationalen Parlaments
gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Aber in diesem
Fall eröffnet der neue Vertrag dem nationalen Parlament
den Klageweg zum Europäischen Gerichtshof. Wenn wir
dieses Instrument nutzen - der Erfolg hängt natürlich davon ab, ob wir es vernünftig nutzen -, dann wird hier
sehr schnell deutlich werden, dass die Europäische
Union stärker als bisher dazu aufgefordert ist, zu begründen, warum sie denn welche Zuständigkeit für sich beansprucht.
Ich glaube, dass wir gemeinsam - Bundesregierung,
Bundestag und Bundesrat - sehr gut daran gearbeitet haben, dass diese Parlamentsrechte von Anfang an wirkungsvoll angewandt werden können. Dass zum Beispiel die Klageerhebung vor dem Europäischen
Gerichtshof bewusst als Minderheitenrecht ausgestaltet
worden ist - das heißt: Bereits ein Viertel der Mitglieder
dieses Hauses kann vom nächsten Jahr an eine Subsidiaritätsklage bewirken -, ist ein Teil dessen. Das zeigt,
dass wir hier auch ein ganzes Stück näher an die Menschen herangerückt sind.
({12})
Wir sind gut beraten, von diesem neuen Recht auch
Gebrauch zu machen, es anzuwenden und europäische
Debatten damit künftig viel früher, als das in der Vergangenheit der Fall war, zu deutschen Debatten zu machen.
Ich kann also nur sagen: Packen wir den Stier bei den
Hörnern! Lassen wir uns darauf ein, die Subsidiaritätskultur in Europa wirklich weiterzuentwickeln! Deutschland hat mit seinem föderalen System sehr gute Erfahrungen gemacht, und das sollten wir auch in Europa
zeigen.
({13})
Meine Damen und Herren, nächstes Jahr - der Vertrag
tritt dann hoffentlich in Kraft - wird es 20 Jahre her sein,
dass Ungarn den Stacheldraht durchtrennte und in Berlin
die Mauer fiel. Die Europäische Union hat sich in dieser
Zeit zu einer Union erweitert, die fast Gesamteuropa
umfasst - bestehend aus Staaten, die in Demokratie,
Frieden und Freiheit leben können. Die Europäische
Union ist gewachsen, äußerlich durch die Erweiterungen
und innerlich jetzt durch die Reform des Vertrages. Das
macht uns als Kontinent handlungsfähig. Deshalb sage
ich: Europa wird nächstes Jahr stärker und selbstbewusster denn je sein. Wir Deutschen in seiner Mitte werden
davon großen Nutzen haben. Das ist jedenfalls, kurz gesagt, mein Verständnis von erfolgreicher Europapolitik
in Deutschland. Auf diesem Wege werden wir weitergehen. Ich danke noch einmal für Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, das ist eine der Debatten in
diesem Hohen Hause, bei der die Grenzen in Wahrheit
nicht zwischen Regierung und Opposition verlaufen.
Wir freuen uns darüber, und zwar gleich auf welcher
Seite dieses Hauses wir sitzen, dass mit der heutigen
Entscheidung eine Entwicklung einen guten Schlusspunkt finden wird. Das ist ein guter Tag für Deutschland;
es ist ein guter Tag für Europa. Das Wichtigste dabei ist,
dass die Bürgerinnen und Bürger davon etwas haben.
Ausdrücklich erkennen wir als liberale Opposition auch
den Beitrag an, den die Regierung Merkel/Steinmeier
hier geleistet hat.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn man in der Bevölkerung über Europa debattiert - der Vertrag ist ausführlich
dargestellt worden; ich muss nicht noch einmal alle Detailpunkte wiedergeben -, mit jungen Menschen oder
mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich über Bürokratie
ärgern, die nicht nachvollziehen können, warum uns in
Deutschland bestimmte Dinge aus Brüssel erreichen,
dann stellt man häufig fest, dass der eigentliche Grund,
warum wir Europa machen, in den Hintergrund rückt.
Für mich ist das besonders deutlich geworden in einer
außerordentlich bewegenden Stunde, die wir vor wenigen Wochen hier erleben durften, nämlich bei der Gedenkstunde anlässlich des vor 75 Jahren erlassenen Ermächtigungsgesetzes. Es gab hier, wie ich ausdrücklich
erwähnen möchte, zwei großartige Reden, nämlich vom
Bundestagspräsidenten und von Hans-Jochen Vogel.
Das, was Hans-Jochen Vogel uns als denen, die heute
Verantwortung tragen, da gesagt hat, ist in meinen Augen auch erhellend dafür, warum wir Europa machen
müssen.
({1})
Hans-Jochen Vogel sagte damals hier von diesem Platz
aus: Für meine Generation war Krieg die Normalität. Für
euch ist Frieden die Normalität. - Wir, die wir im Frieden leben, sollten nicht vergessen, dass das das größte
Geschenk der europäischen Geschichte ist. Hätte Europa
nicht mehr gebracht als Frieden, es hätte sich schon gelohnt, meine Damen und Herren!
({2})
Ich habe mir während der Rede der Bundeskanzlerin
- ihre Ausführungen unterstützen wir - ein bisschen die
Gesichter vor allen Dingen von den jungen Menschen
angesehen, die oben auf den Tribünen sitzen, die zuschauen und sich die Frage stellen, was diese europäischen Institutionen und Techniken - Hoher Kommissar
für Außenpolitik, doppeltes Mehrheitsprinzip, Subsidiaritätsklage - mit ihnen zu tun haben. Natürlich ist das auf
den ersten Blick unglaublich kompliziert; natürlich ist
das auch das, was uns im täglichen Geschäft beschäftigt.
Aber in Wahrheit ist es ein unglaubliches Glück, dass
wir zum ersten Mal in unserer Geschichte in einem Zustand leben, in dem um Deutschland herum nur befreundete Länder und Staaten sind, die unter demselben Dach
der Europäischen Union organisiert sind. Für einen Kontinent, auf dem Krieg das Normale war, ist das eine mittlere Sensation. Es ist großartig, was wir jetzt hier und
heute erleben, meine Damen und Herren!
({3})
Deswegen kann ich nur denen sagen, die heute mit
Maximalpositionen kommen - von Rechtsaußen und
von Linksaußen hört man ja Vieles, was man hätte besser machen sollen -: Das ist leicht gesagt. Jeder wird es
so sehen, dass einiges, hätten wir den Vertrag alleine erstellt, ohne auf die anderen 26 Staaten Rücksicht zu nehmen, anders gekommen wäre. Aber wir hätten auch fetzige Diskussionen erlebt. Erst recht erlebt man solche,
wenn sich 27 Staaten einigen müssen. Deswegen gilt,
wie ich denke, die Erkenntnis von Konrad Adenauer:
Wenn man das Beste in der Europapolitik nicht erreichen
kann - das Beste wäre eine Verfassung gewesen, und
zwar durch eine Volksabstimmung bestätigt -, ist man
gut beraten, das Zweitbeste zu machen. Das, was heute
vorliegt, ist das Zweitbeste. Es ist besser als alles andere,
was wir an Alternativen haben.
({4})
Ich ahne, dass es Stunden und Tage geben wird, wo
wir Deutsche die institutionellen Reformen, die die
Bundeskanzlerin hier zu Recht als Erfolg darstellt und
die wir heute loben - mehr Mehrheitsentscheidungen,
kleinere EU-Kommissionen -, verfluchen werden. Wir
werden nämlich erleben, dass es nicht für all unsere Auffassungen und Haltungen in Europa eine Mehrheit geben
wird. Wir werden unglaublich kräftige Diskussionen mit
mehr oder weniger lokalpatriotischer Ausprägung führen. Wir werden all das erleben. So stimmt das, was Sie,
Frau Bundeskanzlerin, sagten: Man kann Brüssel besser
machen, so wie man Mainz und München besser machen
kann.
({5})
- Jetzt, wo Sie es sagen, Frau Künast. Auch die Grünen
kann man besser machen.
({6})
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden noch einige sehr empfindliche Diskussionen darüber
führen. Das wird vor allem in Bereichen sein, die wir
uns zurzeit nur zaghaft anzusprechen trauen. Ich meine
die gesamte Entwicklung im Innen- und Rechtsbereich
sowie das Selbstverständnis, auch das rechtsstaatliche
Selbstverständnis. Das ist zum Glück in Deutschland außerordentlich sensibel ausgeprägt, wobei wir wissen,
dass dies in anderen Ländern nicht unbedingt zwingend
so der Fall ist.
Das, was wir heute beschließen, ist schlechter als eine
Verfassung mit Volksabstimmung, aber besser als die
Alternative, nämlich nichts zustande zu bringen. Vor allem ist es die Konsequenz aus der Erweiterung der
Europäischen Union. Natürlich fragen sich viele, ob einige Länder unbedingt dazukommen mussten, ob diese
Länder überhaupt schon die mitteleuropäischen Standards erfüllen. Aber die Erweiterung der Europäischen
Union liegt vor allem aufgrund unserer geografischen
Lage im deutschen Interesse, übrigens nicht nur im deutschen friedenspolitischen Interesse, sondern auch im
deutschen ökonomischen Interesse. Viele reden über die
Globalisierung. Dass wir einen Binnenmarkt mit etwa
500 Mil-lionen Bürgerinnen und Bürgern, also Teilnehmern dieses Binnenmarktes, bekommen, ist in Wahrheit
eine ausgezeichnete Antwort auf den wachsenden Wettbewerbsdruck in der Welt durch die Globalisierung.
Auch die ökonomischen Chancen steigen. Deutschland ist der Gewinner der Europäischen Union, auch
wenn wir viel dafür zahlen. Wir sind der Gewinner der
Europäischen Union, weil kein Land so abhängig ist
vom Export und damit auch vom großen europäischen
Binnenmarkt wie wir Deutsche. Etwas anderes haben
wir nicht.
({7})
Europa wird mit diesem Vertrag besser funktionieren.
Mehr überzeugte Europäer schafft er noch nicht. Das
hätte aus unserer Sicht ein Verfassungsvertrag mit einer
Volksabstimmung leisten können. Aber wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass dies nicht erreichbar war. Wir
alle wissen, dass das in anderen Ländern per Volksabstimmung gescheitert ist. Jetzt gibt es diesen Vertrag.
Wir als FDP-Fraktion werden aus innerster Überzeugung den Vorlagen einstimmig zustimmen.
Ich möchte nun noch zwei Bemerkungen machen,
von denen ich überzeugt bin, dass wir sie hier berücksichtigen sollten. Aus Sicht einer liberalen Partei, einer liberalen Fraktion ist es nicht erfreulich, dass sich beispielsweise der Gedanke eines freien und funktionierenden
Wettbewerbs, eines unverfälschten Wettbewerbs - das ist
eigentlich ein klassischer Gedanke der Gründer der sozialen Marktwirtschaft - in einer Protokollnotiz verstecken
muss. Das bedauern wir. Aus unserer Sicht hat dies einen
zu sehr wohlfahrtsstaatlichen Anstrich. Aber so ist es
nun einmal bei einem Kompromiss.
({8})
Dies hätten wir gerne anders gesehen. Aber das kommt
jetzt so und man muss es akzeptieren.
Natürlich ist aus unserer Sicht völlig klar - das wird
unsere Aufgabe sein, auch aufgrund unserer deutschen
Tradition der Währungsstabilität -, dass die Europäische
Zentralbank nicht irgendeine, sondern die entscheidende
Institution zur Wahrung der Stabilität des europäischen
Finanzmarktes ist. Von daher müssen wir mit Argusaugen darauf achten, dass die Europäische Zentralbank
nicht zum politischen Spielball von gelegentlichen Stimmungen wird. Wir wissen, andere Länder gehen an diese
Sache anders heran. Umso wichtiger ist es, dass wir
Deutsche unsere Währungskultur in Brüssel nachdrücklich vertreten.
({9})
Ich komme zum Schluss. Frau Bundeskanzlerin, Sie
haben völlig zu Recht auf die Chancen hingewiesen, die
jetzt, jedenfalls theoretisch, durch eine besser koordinierte Außenpolitik entstehen. Das beschäftigt und bewegt natürlich schon seit langer Zeit auch den Außenminister. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine
Institution. Wir hoffen, dass das mehr sein wird als eine
strukturelle Beruhigung. Das muss mit Leben und Seele
gefüllt werden. Nur dieses Amt eines europäischen
Quasi-Außenministers zu schaffen, ohne die Bereitschaft, in Europa zu einer gemeinsam koordinierten Außen- und Sicherheitspolitik zu kommen, wäre zu wenig.
Dahinter muss auch der Wille stehen, gemeinsam zu
handeln. Egal wer regiert, ob in Deutschland oder in anderen Ländern, es ist nicht gut, wenn wir in Europa, und
zwar noch in diesen Tagen, zulassen, dass andere außerhalb von Europa es schaffen können, uns in Europa außenpolitisch und sicherheitspolitisch zu spalten.
Das ist übrigens etwas, was bei der Raketenstationierung aus unserer Sicht zu kurz gekommen ist. Es ist
nicht nur für die NATO eine Frage, ob die USA in Polen
und in Tschechien Raketen stationieren, sondern es ist
auch eine europäische Frage; denn wenn wir es mit der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ernst meinen, können wir Zonen unterschiedlicher Sicherheit in
Europa nicht zulassen.
({10})
Wir haben ein Interesse an einer gemeinsamen Europaund Außenpolitik, das heißt an einer Außenpolitik, die
der Abrüstung verpflichtet ist und die nicht sehenden
Auges eine neue Aufrüstungsspirale zulässt.
Das ist das, was ich dazu beitragen wollte. Wir werden zustimmen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck.
({0})
Kurt Beck, Ministerpräsident ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wer die Geschichte Europas kennt,
wird feststellen: Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Mit dem Lissabon-Vertrag, der heute
vorliegt und der zum 1. Januar des kommenden Jahres in
Kraft treten wird, haben wir einen vorläufigen Abschluss
dieses Einigungsprozesses gefunden.
Freilich, es war ein langer Weg. Ich darf daran erinnern, dass Sozialdemokraten bereits im Jahr 1925 in ihMinisterpräsident Kurt Beck ({2})
rem Heidelberger Programm beschlossen haben: Unser
Ziel ist, die vereinigten Staaten von Europa zu erreichen.
Wenn einige dieser Gedanken Eingang in die Politik gefunden hätten, wäre uns vieles erspart geblieben.
({3})
Wir sind uns sicher einig, dass es ein zäher Prozess
ist, mit 27 Staaten Regelungen zu finden und Entscheidungen herbeizuführen, die die Interessen der großen
Staaten wie Italien, Frankreich, Großbritannien und
Deutschland genauso berücksichtigen wie die der kleinen und kleinsten Staaten Europas. Aber wer die Kraft
zum Interessensausgleich nicht findet, wird den Kerngedanken dieses Europas, das aus eigenständigen Staaten
zusammengesetzt ist und damit auch deren Geschichte
und besondere Bedürfnisse berücksichtigen muss, verfehlen.
Entscheidend ist deshalb Kompromissbereitschaft,
die freilich auf dem Weg zu der jetzigen Entscheidung
auch viele Rückschläge erlebt hat. Wir empfinden es als
einen Rückschlag, dass die Arbeit des Konvents, eine
europäische Verfassung nicht nur vorzulegen, sondern
auch ratifiziert zu bekommen, letztendlich in dieser
Form nicht erfolgreich war. Aber es ist anerkennenswert
- ich will das, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, auch Ihnen gegenüber ausdrücklich unterstreichen -, dass dieser Rückschlag eben nicht zu einer dauerhaften Lähmung Europas geführt hat, sondern
dass es gerade unter deutscher Ratspräsidentschaft möglich war, einen neuen Anlauf zu einem Prozess zu nehmen, der dann unter portugiesischer Ratspräsidentschaft
seinen Abschluss gefunden hat.
({4})
Dabei müssen wir uns immer wieder in Erinnerung
rufen, dass dieser vorläufige Abschluss natürlich keine
Öffnung enthält, die es ermöglicht, sofort wieder neue
Verhandlungen über Verträge zu führen. Aber es wird
damit eine Idee transportiert, mit der uns die Aufgabe
gestellt wird, an dem Gedanken einer weiteren Festigung
und einer weiteren Zusammenführung entlang der gemeinsamen Werte und Ziele dieses Europas zu arbeiten.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
bleibt deshalb das Ziel, eine europäische Verfassung zu
erreichen, eine große Vision, die wir auch weiter verfolgen werden.
({5})
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass mit
den Lissabonner Verträgen die groß gewordene Europäische Gemeinschaft handlungsfähig gemacht worden ist.
Es ist wohl wahr, was der Kollege Westerwelle angesprochen hat: Diese Handlungsfähigkeit setzt teilweise
sehr viel Insiderwissen voraus, wenn man die Mechanismen erkennen und durchschauen will. Dennoch gilt: Wir
haben eine Straffung der Kommission und eine Stärkung
der Parlamente erreicht - übrigens nicht nur des Europäischen Parlamentes, sondern auch des Deutschen Bundestages und der Landtage.
({6})
Frau Bundeskanzlerin, ich finde das Beispiel Mainz - der
Kollege Beckstein wird es mir verzeihen - schon gut gewählt. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.
({7})
Im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz ist auf dem
Hambacher Schloss der Gedanke eines gemeinsamen
Europas schon 1832 propagiert worden, zu einer Zeit, als
in Bayern noch Truppen gegen alles, was demokratisch
erschien, ausgesandt wurden.
({8})
Ich gebe zu, Herr Beckstein, das hat sich geändert.
Ich will auch unterstreichen, dass mit diesen Verträgen ausdrücklich betont worden ist, dass die Europäische Grundrechtecharta Teil dieser Wertegemeinschaft
ist. Aber an dieser Stelle muss man etwas Wasser in den
Wein gießen und feststellen: Das Opting-out von Großbritannien und Polen ist sicher keine sehr angenehme
Begleiterscheinung.
Ich will auch den Ansatz hervorheben, dass europäische Bürgerinnen und Bürger, wenn ihre Zahl mindestens 1 Million beträgt, ihrerseits eine Initiative auf den
Weg bringen können. Die Kommission wird sich dann
mit ihrem Anliegen befassen. Ja, 1 Million ist sehr viel;
die Hürden sind sehr hoch. Es ist aber ein neuer Gedanke, der die Idee der europäischen Bürgerschaft
transportiert. Auch da wird das letzte Wort noch nicht
gesprochen worden sein.
({9})
Unterstreichen will ich, dass wir uns alle wünschen,
die Europäische Gemeinschaft möge in ihrem außenpolitischen Handeln und Wirken stärker werden. Sie kann
nur stärker werden, wenn wir im Inneren einiger werden.
Deshalb gilt es, gemeinsame Werte immer wieder zu betonen und gemeinsame Haltungen zu den Konfliktsituationen dieser Welt im Rahmen vieler bilateraler Kontakte herbeizuführen. Mit dem Hohen Vertreter für den
außenpolitischen Bereich - ich hätte ihn lieber „europäischer Außenminister“ genannt - und seiner Verankerung
an der Spitze der Kommission ist auch dort ein Faktum
geschaffen worden. Ich bin davon überzeugt, dass sich
die große Bedeutung dieses Amtes zeigen wird. Aber
auch dort sind wir noch nicht am Ende eines Prozesses.
Wir haben diesen Prozess zunächst neu angestoßen und
neue Möglichkeiten eröffnet.
Dass dieser Vertrag für Europa und für die Menschen
gut ist, wurde uns in der Tat deutlich vor Augen geführt,
als wir uns an den Gedenktagen in den letzten Wochen
die Vergangenheit in Erinnerung zurückgerufen haben.
Uns ist deutlich geworden, was es bedeutet, wenn
man so eng miteinander lebt wie auf diesem Kontinent
mit so vielen Nationen und statt Miteinander Gegeneinander aufkommen lässt. Deshalb war es eine wirklich
entscheidende Idee, angesichts des Nationalismus, des
Ministerpräsident Kurt Beck ({10})
übertriebenen Interesses der einzelnen Staaten, was immer wieder zu Kriegen und Auseinandersetzungen, ja zu
angeblichen Erbfeindschaften zwischen Völkern geführt
hat, diesem europäischen Einigungsprozess mit dem Ziel
eines friedlichen Zusammenlebens, mit dem Ziel, souveräne Staaten auf Gemeinsamkeit zu verpflichten, und
dem Recht und der Freiheit dabei unverbrüchliche Bedeutung zukommen zu lassen.
({11})
Es war eine großartige Entscheidung, dass nach 1945
nicht das wieder getan worden ist, was 1871 und 1918
geschehen ist, nämlich dass man den jeweils Unterlegenen gedemütigt hat und damit eine neue Grundlage für
Auseinandersetzungen und jeweils am Ende, wie wir
wissen, auch für Krieg gelegt worden ist. Die großen
Ideen von Jean Monnet und Robert Schuman haben gegriffen. Wir Deutsche haben unsererseits verstanden,
dass wir ein gemeinsames Deutschland nur in einem gemeinsamen freien Europa erreichen können. Diese Idee
ist dann - es werden bald 20 Jahre her sein - Gott sei
Dank auch Wirklichkeit geworden. Diese Dimension
nicht immer wieder neu zu sehen und sie uns nicht in Erinnerung zu rufen, würde bedeuten, eine Kernvoraussetzung für die Gemeinsamkeit auf diesem Kontinent zu
vergessen, und das wäre sträflich.
({12})
Frieden und Freiheit sind ein Markenzeichen dieser
Gemeinschaft, ein Markenzeichen, von dem wir uns
wünschen, dass es auch ausstrahlt, dass deutlich wird,
dass dieses Beispiel Europas auch in anderen Teilen der
Welt nicht nur wahrgenommen werden sollte, sondern
dass es sich lohnt, auch bei scheinbar noch so unüberwindbaren Konflikten den Weg zum Miteinander zu suchen. Denn weiter auseinander, als wir in Europa waren
oder scheinbar waren, sind andere auf dieser Welt, die
gegeneinanderstehen, auch nicht. Es lohnt sich, diesen
Weg zu gehen und dafür auch Geduld und Kraft aufzuwenden.
({13})
Ich will auch auf die konkreten Erfolge dieses Europas eingehen. Zu Recht ist die wirtschaftliche Bedeutung dieser Europäischen Gemeinschaft genannt worden von den Römischen Verträgen im Europa der Sechs bis
zur heutigen Situation. Nur wenige Zahlen unterstreichen in der Tat die besondere Interessenlage der
Bundesrepublik Deutschland an diesem gemeinsamen
Wirtschaftsraum. Der Anteil Europas am gesamten deutschen Außenhandel lag 2007 bei 75 Prozent. 65 Prozent
davon entfielen auf die EU-Staaten. Auf die Länder der
Eurozone entfielen davon über 40 Prozent. Der dynamische und sich auch weiter positiv entwickelnde Handel
und die wirtschaftlichen Beziehungen mit den neuen
Beitrittsstaaten haben die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika in
ihrer Größenordnung schon übertroffen. Ökonomisch
können wir gar keinen besseren Weg gehen, als diese offene Europäische Gemeinschaft für unsere exportorientierte Wirtschaft zu nutzen.
Vielleicht erinnern wir uns für einen kleinen Moment
an die Bedenken bei der Einführung des Euro. Natürlich
wissen wir um die Sorgen vieler Menschen, um Teuerungseffekte und Ähnliches mehr. Wir sollten uns aber
auch in Erinnerung rufen, wie stabil diese Währung geworden ist und was diese Stabilität derzeit bedeutet. Das
wird uns klar, wenn wir zum Beispiel an die Rohstoffkosten denken, die auf Dollarbasis abgerechnet werden.
Die Einführung des Euro hat entscheidend dazu beigetragen, dass unsere Wirtschaft eben nicht aufgrund der
Entwicklungen in jüngster Zeit in eine tiefe Rezessionsphase geriet.
({14})
Freilich fehlt für uns an diesem Europa immer noch
ein ganz entscheidender Teil, nämlich das, was wir
soziales Europa nennen.
({15})
Die Verträge von Lissabon bieten allerdings eine
Chance, dieses zu erreichen.
({16})
Das ist ein Bewertungsunterschied zwischen uns und
denjenigen, die Ablehnung empfehlen. Sie geben uns
eine Chance, und wir müssen diese Chance nutzen. Ich
stimme allen zu, die sagen, dass wir die wirkliche soziale
Dimension, den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, nur durch gemeinschaftliche
Anstrengung sicherstellen können. Ansonsten würden
wir ständig in einer Konfliktsituation leben. Wer die Situation zwischen den USA und Mexiko betrachtet, weiß,
dass noch so hohe Zäune und noch so viele Polizisten
Migrationswanderungen und Ausgleichsbestrebungen
gegenüber sozialen Verwerfungen nicht aufhalten können.
({17})
Für uns gilt es, diese Chance zu nutzen, wenn dieser
Vertrag ratifiziert ist, und in den kommenden Jahren neben der ökonomischen die soziale Dimension dieses
Europas in den Mittelpunkt unserer Weiterentwicklungsbemühungen zu stellen.
({18})
Wir wollen keinen einheitlich organisierten Sozialraum,
aber einen Sozialraum, der von gleichen Ideen ausgeht:
Die Arbeitsbedingungen müssen anständig sein, und die
Menschen müssen die Chance haben, durch ihre eigene
Arbeit und Anstrengung für sich und ihre Familien zu
sorgen. Dann werden wir eine hohe Zustimmung zu diesem europäischen Prozess erlangen.
({19})
Ministerpräsident Kurt Beck ({20})
Wir sagen Ja zu einer sozialen Marktwirtschaft in
Europa, Ja zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte im
europäischen Binnenmarkt und Ja zur Stärkung der Mitbestimmungsrechte. Bei der Bildung europäischer Unternehmensstrukturen muss sichergestellt sein, dass die
Arbeit der Betriebsräte und die Mitbestimmungsabsicherung auf diese Ebene gehoben werden. Ansätze dafür haben wir gefunden; sie müssen weiterentwickelt werden.
({21})
Wer an Erfahrungen erinnert wird, die wir in jüngster
Zeit zum Beispiel mit Nokia gemacht haben, sieht
schnell ein, dass das nicht irgendwelche ideologischen
Forderungen sind, sondern Forderungen, die mit der
realen Situation von Millionen Menschen in dieser Gemeinschaft zu tun haben. Es darf nicht sein, dass heute
die Deutschen gegen die Rumänen und morgen die Rumänen gegen wen auch immer ausgespielt werden.
({22})
Ich will gar nicht verschweigen, dass es mir in besonderer Weise Sorge macht, wie sich die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs entwickelt hat.
({23})
Ansätze, die man spürt, beispielsweise in dem Fall
Rüffert, wo es um die Frage der Gültigkeit des Tariftreuegesetzes des Landes Niedersachsen ging, sehe ich
mit Sorge. Hier wurden entgegen dem Plädoyer des Generalanwalts Entscheidungen über die Auslegung der
Verträge getroffen, die die ökonomische Betrachtung absolut in den Vordergrund stellen, sodass der soziale Ausgleich dahinter deutlich zurücktritt. Solche Ansätze müssen wir durch eine Weiterentwicklung der Verträge
verhindern. Lissabon bietet eine Chance dafür.
({24})
Als Vertreter des Landes Rheinland-Pfalz erlaube ich
mir, morgen im Bundesrat eine Initiative dazu vorzulegen.
({25})
- Ich danke Ihnen für den Zuruf. Genau darauf wollte
ich jetzt zu sprechen kommen.
({26})
Sie können davon ausgehen, dass ein Sozialdemokrat
dieses Thema nie und nimmer vergessen wird.
({27})
Deshalb sage ich: Das, was in 22 Mitgliedstaaten Standard ist, muss auch in Deutschland Standard werden.
Wir brauchen Regeln, um das Prinzip „Guter Lohn für
gute Arbeit“ in ganz Europa durchzusetzen.
({28})
Das heißt unter diesem Gesichtspunkt: Wettbewerb
ja. Aber es heißt auch, dass wir keinen Wettbewerb um
die schnellere soziale Abwärtsspirale wollen, sondern einen Wettbewerb um die Teilhabe der Bürgerinnen und
Bürger von Malta bis Schweden erreichen wollen. Das
ist unsere Vorstellung von einem sozial gerechten
Europa.
({29})
Meine Damen und Herren, dieses Europa hat den
Menschen Chancen gebracht, und es wird an uns sein,
den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln und deutlich
zu machen, dass Europa auch ihrer Unterstützung bedarf: durch Teilhabe an der Europawahl, aber auch durch
Annahme der Entwicklungen auf dieser Ebene.
Deshalb sagen wir Ja zu einem Europa, das sich Frieden und Freiheit und dem Gebot der Subsidiarität verpflichtet weiß. Wir sagen Ja zu einem Europa, das ökonomischen Erfolg mit ökologischer Gerechtigkeit und
Vernunft, mit sozialem Ausgleich und mit sozialer Gerechtigkeit untrennbar verbindet.
({30})
Dieses Europa will in Frieden und Freiheit und in
Fairness mit anderen Teilen dieser Welt zusammenleben
und konkurrieren; ich glaube, das sollte unsere Zukunftsvision sein. Es sollte nicht der Versuchung erliegen, andere Kulturen und andere Kulturkreise zu kopieren. Vielmehr sollte dieses Europa eine eigene Identität
entwickeln, die durch die Vielfalt der Kulturen immer
wieder lebendig gehalten und angetrieben wird, und auf
diese Art und Weise zeigen, dass eine menschliche, soziale, ökologisch vernünftig handelnde, friedliche Gesellschaft erfolgreich mit anderen Teilen dieses Erdballs
konkurrieren kann.
Wenn es uns gelingt, daraus auch entlang konkreter
Themen eine Vision zu entwickeln - das ist, wie ich
glaube, unsere gemeinsame Hoffnung -, dann werden
wir von Generation zu Generation die Zustimmung finden, die notwendig ist, um diese europäische Idee unumkehrbar zu machen.
Vielen Dank.
({31})
Dr. Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke
engagiert sich für ein Europa des Friedens, der Freiheit,
der Demokratie, der sozialen und ökologischen Sicherheit und der Solidarität.
({0})
Wir sind in diesem Hause die Einzigen, die dem Vertrag
von Lissabon die Zustimmung verweigern. In der Gesellschaft und in Europa stehen wir mit unserer kritischen Haltung keineswegs allein da.
({1})
Auf der europäischen Ebene - auch in Deutschland haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre
Bedenken gegen den neoliberalen Geist des LissabonVertrages deutlich gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft für
Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab und fordert die SPD-Abgeordneten auf,
diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen. Die
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges
fordern, den EU-Vertrag nicht zu ratifizieren. Ob Pax
Christi oder Attac, sie alle weisen darauf hin, dass der
Lissabon-Vertrag nicht den Interessen der Mehrheit der
Menschen entspricht.
({2})
Wer also meint, nur die Linke habe Bedenken, irrt
gewaltig und sollte sich mit den Positionen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und anderen Initiativen und Verbänden auseinandersetzen.
({3})
Wenn Herr Kollege Beck der Ansicht ist - das hat er
nicht hier, aber an anderer Stelle gesagt -, dass man mit
einer Partei, die diesen EU-Vertrag ablehnt, nicht koalieren könne, dann sage ich als Antwort darauf ganz deutlich: Wenn sich Regierungsfähigkeit an der Akzeptanz
von Beihilfe zum Sozialdumping bemisst, dann wollen
wir nicht regierungsfähig sein.
({4})
Wieder liegt uns eine Vertragsänderung und keine
Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger der Union
vor. Der Verfassungsentwurf wurde von der französischen und der niederländischen Bevölkerung abgelehnt.
({5})
Der französische Altpräsident Giscard d’Estaing sagt
über den heute auf dem Tisch liegenden Vertrag, er unterscheide sich nur unwesentlich vom Verfassungsentwurf. Man merkt die Absicht und ist verstimmt.
Von einer Vereinfachung der EU-Verträge und von
mehr Transparenz kann leider keine Rede sein. Wir hätten dringend rechtzeitig eine lesbare Fassung gebraucht.
({6})
Glasnost auch für Europa! Einen Antrag dazu hat die
Linksfraktion vorgelegt; denn das gesamte Vertragswerk
ist für normale Menschen schwer verständlich. Europapolitik wird so zunehmend eine Auslegungssache für Juristinnen und Juristen. Ich frage Sie: Wie sollen sich
denn so die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen
Union mit Europa identifizieren können?
Die EU-Kommission finanziert Werbekampagnen,
um den Menschen, wie es heißt, Europa zu erklären. Ich
sage Ihnen: Solange Sie eine Politik über die Köpfe der
Bürgerinnen und Bürger hinweg machen und solange die
Menschen nicht das Gefühl haben, am Bau des europäischen Hauses beteiligt zu sein, so lange ist das herausgeschmissenes Geld.
({7})
Die Art und Weise des Zustandekommens dieses Vertrages spricht Bände. Es ist ein Vertrag der Regierenden,
nicht der Bürgerinnen und Bürger.
({8})
Wieder tagte eine Regierungskonferenz hinter verschlossenen Türen, wieder konnten sich die Bürgerinnen und
Bürger nicht an der Gestaltung der vertraglichen Grundlagen der Zukunft der Union beteiligen. Über das Ergebnis dürfen sie nicht mitentscheiden. Das Einzige, was sie
dürfen, ist, die Zeche zu bezahlen. Eine solche Politik
lehnen wir ab.
({9})
Europapolitik darf nicht länger eine Politik von Eliten
für Eliten sein. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen ihr Europa mitgestalten. Dafür müssen sie
über die Grundausrichtung europäischer Politik mitentscheiden können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
dass Sie die Bevölkerung von der Entscheidung ausschließen, zeigt, dass Sie dem Vertrag von Lissabon selber nicht über den Weg trauen;
({10})
sonst hätten Sie doch nichts zu befürchten. Wir Linken
wollen eine Volksabstimmung. Hier sind wir nicht allein.
({11})
- In Berlin stimmen wir mit dem überein, was ich hier
sage, Frau Künast. Das könnten Sie wissen.
({12})
Alle in der Europäischen Linkspartei zusammengeschlossenen 28 Parteien fordern Volksabstimmungen
über das Fundament des europäischen Hauses. Wir verweisen da auf Irland; das ist ein vernünftiger Weg.
({13})
Nicht nur die Linksparteien, auch die Friedenskoordination Berlin, die Initiative „Mehr Demokratie“ und
weitere Initiativen haben Unterschriften für ein Referendum in Deutschland zum Vertrag von Lissabon gesammelt. Diese Unterschriften werden heute dem Bundestag
übergeben.
Wir Linken sind engagierte Internationalisten, und
wir sind proeuropäisch.
({14})
Herr Kollege Bisky, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Westerwelle?
Ja.
Herr Kollege Bisky, Sie haben nachdrücklich für eine
Volksabstimmung geworben, Sie haben nochmals zum
Ausdruck gebracht, dass Sie eine Volksabstimmung für
die Legitimation des europäischen Hauses für nötig halten.
Aktuell steht ein Volksentscheid in Berlin an. Meine
Frage ist: Was ist davon zu halten, wenn Regierende ankündigen, dass sie sich um das Votum der Bürgerinnen
und Bürger nicht scheren werden?
({0})
Auf den Punkt gefragt: Werden Sie für den Fall, dass
sich die Berlinerinnen und Berliner für den Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof aussprechen,
({1})
zu dieser Entscheidung stehen und den Willen des Volkes da, wo Sie regieren, umsetzen?
({2})
Herr Westerwelle, das ist jetzt außerhalb dieser Thematik.
({0})
Ich werbe dafür, sich dagegen auszusprechen, dass der
Flughafen Tempelhof weiter betrieben wird.
({1})
Aber eine Volksabstimmung ist eine Volksabstimmung,
und man hat sich daran zu halten.
({2})
- Warten Sie Sonntagabend ab!
Ich möchte jetzt zum Thema Europa zurückkehren.
Wir Linken sind Internationalisten, und wir sind proeuropäisch.
({3})
Wir leben und arbeiten wie Sie, Herr Trittin, in Europa
und in Deutschland, und wir fühlen uns für die Entwicklung Europas mit verantwortlich.
({4})
Nach den wenig erfolgreichen und vor allem undemokratischen und intransparenten Regierungskonferenzen
von Amsterdam und Nizza wurde ein Konvent einberufen. Das haben wir begrüßt. Wir haben aktiv an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes mitgearbeitet,
ebenso an der Grundrechtecharta der EU. Sie sehen,
liebe Kolleginnen und Kollegen: Europa liegt auch uns
am Herzen. Die Linke ist für Europa. Es gibt aber genügend Gründe, heute mit Nein zu stimmen.
({5})
Dass wir als Linke den Vertrag von Lissabon in der
vorgelegten Fassung ablehnen, hat einzig inhaltliche
Gründe. Wir übersehen nicht, dass dieser Vertrag gegenüber dem Vertrag von Nizza durchaus Verbesserungen
bringt; das betrifft beispielsweise die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, die stark erweitert werden, und die Beteiligung der nationalen Parlamente, erste Schritte zu mehr direkter Demokratie. Wir
verleugnen das Positive nicht.
Der Vertrag von Lissabon bringt aber leider vor allem
gravierende Nachteile. Von diesem Reformvertrag geht
kein Friedenssignal aus.
({6})
Die Bestimmungen der gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik sind nun vor allem militärisch geprägt. Wir halten diese Ausrichtung für falsch und auch
für gefährlich.
({7})
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf schrittweise
Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten, Art. 42
Abs. 3, heißt doch im Klartext: ständige Aufrüstung.
({8})
Im Sinne einer friedlichen, demokratischen, sozialen und
ökologischen Entwicklung brauchen wir aber mehr Abrüstung.
({9})
- Da stimme ich Herrn Westerwelle ausdrücklich zu.
Für ebenso kontraproduktiv wie überflüssig halten
wir die Battle-Groups. Zur Terrorismusbekämpfung
taugen sie nicht, und weltweite Militärinterventionen
sind der falsche Weg, um Frieden zu erhalten oder herzustellen.
({10})
Wir bleiben dabei: Wir sagen Ja zur Selbstverteidigung,
aber außerhalb des Hoheitsgebietes der EU sollen militärische Operationen der EU nicht stattfinden.
({11})
Aufrüstung ist ein falsches Signal. Es muss Schluss
sein mit dem historischen Völkergemetzel der vergangenen Jahrhunderte. Um die Probleme der Europäischen
Union und die globalen Probleme zu lösen, brauchen wir
politische Mittel.
({12})
Wir wollen keine völkerrechtswidrigen Kriege, sondern
friedliche Lösungen politischer und sozialer Konflikte.
Das heißt, wir wollen ein vertraglich zu verankerndes
Verbot von Angriffskriegen, eine strikte Bindung an die
UN-Charta und die Einhaltung der international anerkannten Völkerrechtsnormen.
({13})
Frieden hat für uns Linke absolute Priorität.
({14})
Man hört, dass die Linke wegen ihrer friedlichen Außenpolitik angeblich nicht salonfähig ist. Wenn die Meinung
der anderen Parteien darin besteht, dass weitere kriegerische Lösungen anzustreben sind, dann sind wir froh,
nicht salonfähig zu sein.
({15})
Wenn die Salonfähigkeit durch Krieg definiert wird,
dann heben wir uns gerne davon ab. Zu einem solchen
Salon begehren wir keinen Einlass.
({16})
Mit der Einrichtung einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit für militärisch besonders anspruchsvolle
Staaten wird ein militärisches Kerneuropa auf den Weg
gebracht. Im Vertrag von Nizza war eine verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in sicherheits- und
verteidigungspolitischen Fragen durch Art. 27 b noch
explizit ausgeschlossen. Das hätte so bleiben müssen.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Regelungen,
die Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der
Menschen haben, sind uns sehr wichtig, weil durch sie in
das Leben von fast einer halben Milliarde Menschen eingegriffen wird. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen,
Herr Beck, dass die soziale Frage auch bei Ihnen eine
wichtige Rolle spielt.
Ein neoliberaler europäischer Binnenmarkt und eine
neoliberale Wirtschafts- und Währungspolitik, mit denen
vornehmlich auf Wettbewerbsfähigkeit und Preisstabilität gesetzt wird, haben den meisten Menschen in Europa mehr geschadet als genutzt.
({18})
Unsichere Jobs und massenhaft niedrige Löhne sind das
Ergebnis dieser Politik. Trotzdem ist der Vertrag von
Lissabon nicht grundlegend verändert worden. Zwar
wurde in Art. 3 EUV die soziale Marktwirtschaft als Ziel
der EU definiert, gleichzeitig wurde sie aber an die Wettbewerbsfähigkeit gebunden. In den Art. 119 und 120 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
wird das Ziel der sozialen Marktwirtschaft jedoch wieder zurückgenommen, indem von offener Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb die Rede ist. Dies ist nicht
nur widersprüchlich. Nun kann sich jede und jeder beliebig aussuchen, was gebraucht wird. Letztlich entscheiden die Gerichte. Wohin das führt, haben die jüngsten
drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu Viking,
Laval und Rüffert deutlich gezeigt: zu Lohndumping, zu
Sozialdumping und zu einem eingeschränkten Streikrecht.
({19})
Wir haben uns gefragt, wie der Vertrag wirtschaftlich,
sozial und politisch interpretiert wird. Unsere Befürchtungen sind durch die drei Urteile des Europäischen
Gerichtshofes bestärkt worden. Meine Damen und Herren, sagen Sie den Beschäftigten, was diese Urteile für
sie bedeuten. Die Befürchtungen der Linken waren und
sind begründet. Sie werden durch die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes vollauf bestätigt; denn
diese Urteile sind eindeutig gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtet. Diese Entwicklung ist verhängnisvoll.
({20})
Wir lehnen eine solche neoliberale Politik ab.
({21})
Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren,
einer Politik Vorschub zu leisten, die den Unternehmen
Extraprofite sichert, den Beschäftigten aber nicht einmal
Mindestlöhne gönnt.
({22})
Unsere Vorstellung von Europa ist nicht, dass Sozialabbau Gesetzescharakter erhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
ich bin sicher, dass auch manch eine oder manch einer in
Ihren Reihen von den arbeitnehmerfeindlichen Urteilen
des Europäischen Gerichtshofes kalt erwischt wurde.
Der Europäische Gerichtshof hatte den Vertrag von
Nizza auszulegen. Um solche Urteile in Zukunft zu vermeiden, muss der Vertrag von Lissabon geändert werden, zum Beispiel durch ein weiteres Protokoll zum Vertrag, das eine soziale Fortschrittsklausel beinhaltet.
({23})
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
Wir Linken wollen eine Europäische Union, die sich
in ihren Werten zur Sozialstaatlichkeit bekennt, und
zwar nicht nur theoretisch, sondern auch im Detail.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Bisky, ich zitiere aus dem Vertrag. Der Vertrag bekennt sich zu „Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger
Entwicklung, Solidarität“ sowie - jetzt kommt eine Passage für Herrn Westerwelle - „zu freiem und gerechtem
Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der
Menschenrechte“ und „zur Wahrung der Grundsätze der
Charta der Vereinten Nationen“. Das ist für mich der
Kern dieses Vertrages, und es ist der Grund, warum wir
diesem Vertrag zustimmen werden.
({0})
Durch diesen Vertrag wird Europa demokratischer. Die
Parlamente werden gestärkt. Die Bürger erhalten mehr
Rechte, und sie erhalten eine Charta von Grundrechten.
Man wundert sich gelegentlich, dass Europa dennoch
oft einen schlechten Ruf hat und so schlechte Reden wie
Ihre, Herr Bisky, eine solche Wirkung entfalten. Ich habe
darüber nachgedacht, wie es dazu kommen kann. Es gibt
ein verblüffendes Zusammenspiel zwischen nationalistischen Populisten auf der einen Seite und Neoliberalen
auf der anderen Seite.
({1})
Konservatives und neoliberales Schlechtreden von Europa befördert die Glaubwürdigkeit von solchen Polemiken wie Ihren. Das ist das Problem.
Man kann zum Beispiel nicht, verehrte Frau Bundeskanzlerin, zu Recht über die friedenstiftende Wirkung
dieses gemeinsamen Europas und darüber sprechen, wie
viel die Erweiterungsperspektive zur Friedensordnung
dieses Kontinents beigetragen hat, es aber gleichzeitig in
den eigenen Unionsparteien dulden, dass die Herren
Beckstein und Huber den Beitritt und die Beitrittsperspektive der Türkei bei jeder Gelegenheit zum Anlass
für innenpolitische Polemiken nehmen. Das diskreditiert
Europa.
({2})
Sie haben sich für einen geordneten Wettbewerb
ausgesprochen, verehrte Frau Bundeskanzlerin. Aber
wenn es um das Monopol von Eon, EnBW, RWE und
Vattenfall auf das Stromnetz geht, dann verteidigen Sie
dieses Monopol auch dann noch, wenn Eon es schon
selbst nicht mehr haben möchte.
({3})
Sie haben sich für mehr Klimaschutz eingesetzt.
({4})
Aber wenn in Europa der einfachen physikalischen Tatsache Rechnung getragen wird, dass bei einem großen,
schweren Auto mehr Sprit eingespart werden kann als
bei einem kleinen Auto, dann sprechen Sie von einer
„Kriegserklärung“ an die deutsche Industrie.
({5})
Das fasse ich mit den Worten zusammen: Sie reden
von Europa, blockieren aber national. Diese Doppelzüngigkeit hat Ihnen in Newsweek zu Recht die Überschrift „Europe’s Worst Double Talkers“ eingetragen.
Wenn wir die Europaskepsis überwinden wollen,
müssen wir mit dieser Politik, europäisch zu reden und
national zu blockieren, aufhören. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, müssen unsere Hausaufgaben in
Europa machen. Der Lissabonner Vertrag fordert den
Kampf gegen „soziale Ausgrenzung und Diskriminierung“ und verlangt die Förderung „sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes, die Gleichstellung von
Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen“. Ich führe das an, um deutlich zu machen,
dass Ihre ewigen Polemiken gegen Europa - das zeigt
insbesondere Ihr Verhalten beim Antidiskriminierungsgesetz -, gegen den Geist und den Wortlaut genau dieses
Vertrages gerichtet sind, meine liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU.
({6})
Wir müssen Deutschland endlich europakompatibel
machen. Herr Kollege Beck, Sie haben das RüffertUrteil angesprochen. Nach meiner Auffassung haben
Sie das falsch interpretiert. Das ist keine schlechte
Rechtsprechung. Vielmehr ist diese Rechtsprechung
Folge des Versagens der Großen Koalition. Weil Sie es
nicht geschafft haben, bestimmte Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, ist dieses Urteil ergangen.
Klagen Sie also nicht über das Gericht, sondern sorgen
Sie dafür, dass in Deutschland mit einer Politik Schluss
gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, unter Tarif bezahlt werden! Das ist Ihre
Hausaufgabe. Sie sollten nicht über das Gericht klagen.
({7})
Weil es bisher nicht gelungen ist, den in Europa einmaligen Zustand zu beenden, dass es keinen gesetzlichen
Mindestlohn in Deutschland gibt, können die Gleichen,
die hier gegen Europa wettern, in Berlin, wo die Linkspartei regiert, für die Bewachung landeseigener Gebäude
weiterhin 5,30 Euro pro Stunde zahlen. Das ist die Situation, für die auch Sie von der Großen Koalition ein Stück
weit verantwortlich sind.
({8})
Lieber Herr Beck, Sie sind über Mainz und Malta auf
Europa zu sprechen gekommen. Ich möchte einen Punkt
ansprechen, der mich sehr interessiert. Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen, dass die europäische Idee
gerade im Schoße der Sozialdemokratie entstanden ist
und dort sehr stark verankert ist. Sie haben den Beschluss von 1925 zitiert. Ich glaube, hier hat die Sozialdemokratie eine große Tradition zu verteidigen. Wenn
das aber so ist, werter Herr Beck: Wie wird sich denn das
Land Berlin am 23. Mai dieses Jahres im Bundesrat verhalten? Ich habe gestern mit Erschütterung zur Kenntnis
genommen, dass im Berliner Abgeordnetenhaus der Antrag meiner Fraktion, dass der Senat dem Vertrag von
Lissabon, für den Sie hier in aller Deutlichkeit gesprochen haben, zustimmen soll, von SPD und Linkspartei
gemeinschaftlich abgelehnt worden ist.
({9})
Da wir bei europäischen Inseln sind, kann ich dazu nur
sagen: Hic Rhodus, hic salta. Sie können nicht hier im
Bundestag ein glühendes und, wie ich finde, glaubwürdiges Bekenntnis zu Europa ablegen und sich dann von
Oskar Lafontaine in Berlin am Nasenring durch die Manege führen lassen. Das geht nicht, Herr Kollege Beck.
Sorgen Sie dafür, dass das nicht eintritt! Hier erwarte ich
Führung.
({10})
Der Vertrag von Lissabon ist sicherlich nicht perfekt.
Der Weg nach Europa wird noch lang sein. Aber in einem Punkt sind wir alle oder ist zumindest die große
Mehrheit einer Auffassung: Wenn es eine Antwort auf
die Frage gibt, wie man die Globalisierung gerechter,
ökologischer und demokratischer gestalten kann, dann
ist es dieses gemeinsame Europa. Es ist eine Antwort auf
diese Herausforderung. Dieses Europa demokratischer
und handlungsfähiger zu gestalten, ist der Kern des Vertrages von Lissabon. Deswegen stimmen wir Grünen
diesem Vertrag zu, auch die von uns mit gestellten Landesregierungen, die rot-grüne ebenso wie die schwarzgrüne.
({11})
Das Wort erhält nun die Kollegin Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages gewinnen die Bürgerinnen und Bürger Europas. Mein Kollege
Jo Leinen hat das dieser Tage sehr nachdrücklich unterstrichen: Es gewinnen die Parlamente, die Zivilgesellschaft, die Nationalstaaten, die Regionen und Europa
selbst. Deswegen bin ich froh, dass wir heute mit ganz
großer Mehrheit diesen Vertrag ratifizieren werden, wie
es schon einige unserer Nachbarn getan haben. Insbesondere freue ich mich, dass Frankreich bereits ratifiziert
hat, aber auch Polen, wo nur noch die Unterschrift des
Präsidenten aussteht.
({0})
Wir haben heute schon sehr viel über die Erfolge des
Lissabonner Vertrages gehört. Man kann es nicht genug
unterstreichen: Die Demokratie gewinnt. Wir haben als
Vertreter der Bürger und Bürgerinnen sowohl im Europäischen Parlament als auch im Deutschen Bundestag
und in den Regionen eine Stärkung über diesen Vertrag
zu erwarten. Aber auch die Bürgerinnen und Bürger selber gewinnen durch die Möglichkeit, ein Bürgerbegehren einzubringen und so die Agenda in der Europäischen
Union mitzubestimmen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz besonders
wichtig ist mir die Stärkung der sozialen Dimension.
Sie ist in der Zielsetzung zu finden, die im Lissabonner
Vertrag festgeschrieben ist, aber auch ganz konkret in
der Grundrechtecharta, in der eine ganze Reihe sozialer
Grundrechte enthalten sind. Deswegen ist die Kritik von
links, wir hätten es hier mit der Festschreibung des Turbokapitalismus zu tun und hier erfolge, wie im Antrag
der Linken zu lesen ist, die Festlegung auf die Grundsätze eines neoliberalen Finanzmarktkapitalismus und
den Verzicht auf Sozialstaatlichkeit, in keiner Weise
nachzuvollziehen. Was ist denn nun richtig? Auf der anderen Seite erklärt uns die FDP, dass in diesem Vertrag
zu viel Soziales enthalten sei und eine zu starke wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung erfolge.
Nach meiner Überzeugung kommt es hier vor allen
Dingen darauf an, was wir mit den neuen Grundlagen
des Vertrags tun. Der Vertrag von Lissabon schreibt erstmals fest, dass das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs nicht mehr Ziel, sondern Instrument der EU ist
und den Zielen der Vollbeschäftigung, des sozialen Fortschritts und der Preisstabilität dienen soll. Die Regelungen dieses Vertrages bieten beispielsweise für eine europarechtliche Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge
- ein Anliegen, das vielen Bürgern und, wie Sie sich vorstellen können, auch der SPD am Herzen liegt - eine
Grundlage. Die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dürfen nicht zulasten der Verbraucherinnen
und Verbraucher sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen.
({2})
Auch ich möchte gerne in diesem Zusammenhang auf
das jüngste EuGH-Urteil, das sogenannte RüffertUrteil, zurückkommen. Wir sind nicht glücklich über
dieses Urteil. Wir müssen uns in der Tat Gedanken darüber machen, ob nicht die Entsenderichtlinie nachgebessert werden muss. Was wir aber vor allen Dingen tun
müssen, ist, die Hausaufgaben bei uns zu erledigen.
({3})
Der Vertrag von Lissabon bietet den notwendigen Spielraum, um aus der Wirtschaftsunion eine soziale Union
zu machen, um die soziale Union der Wirtschaftsunion
an die Seite zu stellen. Das liegt an uns. Die wichtigste
Voraussetzung dafür in der ganz nahen Zukunft ist die
Einführung von Mindestlöhnen in allen Bereichen. Ich
bin sehr froh, dass Rheinland-Pfalz hierzu eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht hat.
({4})
Was sich an der Kritik der Linken am Lissabonner
Vertrag zeigt, ist nicht, Herr Bisky, linker Internationalismus oder EU-Freundlichkeit, sondern es ist Linksnationalismus und Schüren von Angst, was die Bürgerinnen und Bürger davon abhält, die Chancen dieses
Vertrages zu sehen und in Anspruch zu nehmen.
({5})
Das Gleiche ist über Ihre völlig abstruse Behauptung zu
sagen, dass dieser Vertrag zu einer Militarisierung der
EU beitragen würde. Das Ziel der Abrüstung und ein
umfassender Sicherheitsbegriff mit den Komponenten
der zivilen Konfliktprävention sind hier ausdrücklich genannt. Aber es macht in der Tat Sinn, die militärischen
Fähigkeiten zu optimieren.
({6})
Was nützt es denn, wenn wir unglaublich viel Geld ausgeben, aber Doppelstrukturen vorhalten und nicht die
entsprechenden Fähigkeiten haben, wenn wir im Rahmen unserer internationalen Verantwortung auch militärische Sicherung vornehmen müssen? Deswegen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie wirklich in den
Vertrag! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Berliner Kollegen der Linken sich doch dazu durchringen
können, der Ratifizierung des Vertrages zuzustimmen;
denn dieser Vertrag ist eine gute Grundlage für das Handeln der EU.
Europa gelingt gemeinsam, und auch Europa sozial
gelingt gemeinsam. Lassen Sie es uns anpacken.
({7})
Michael Link ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und geehrte
Kollegen! Der Bundestag ist heute zum zweiten Mal seit
2005 zusammengekommen, um einen Vertrag zu ratifizieren, der den misslungenen Vertrag von Nizza weiterentwickeln soll. Wir beschäftigen uns heute mit der Vertiefung dessen, was wir immer angestrebt haben,
nämlich mit der Vertiefung der Zusammenarbeit in der
Europäischen Union.
Wir haben gemeinsam viele Fortschritte in diesem
Vertrag erreicht. Auch von meiner Seite ausdrücklich ein
Kompliment an die in mancher Situation wirklich sehr
schwierige, aber unter dem Strich doch gelungene Verhandlungsführung der Bundesregierung, bei der wir
uns im Detail, in den Ergebnissen oft etwas anderes erwartet hätten, bei der aber doch Vieles gelungen ist.
({0})
Die Fortschritte im Einzelnen sind erwähnt worden;
ich will darauf nicht mehr eingehen. Ich will aber auf jeden Fall - das muss angesprochen werden - etwas zu der
Militarismuskeule sagen, die gerade von der PDS - Pardon, von der Linkspartei - wieder ins Spiel gebracht
wurde: Die EU, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, erhält im neuen Vertrag die Aufgabe, die
Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern.
Sie erhält quasi die Verfassungsaufgabe, den Frieden zu
erhalten. Mit Fug und Recht kann man insoweit sogar
von einer friedenspolitischen Querschnittsklausel im
Vertrag reden. - Das sind nicht meine Worte, sondern
das ist ein Zitat aus dem schönen Buch Die EU und ihre
Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse von Sylvia-Yvonne Kaufmann. Mit der Militaris16466
Michael Link ({1})
muskeule muss Schluss sein. Das ist kein Punkt, mit
dem man Wahlkampf machen sollte. Hier geht es um ein
zu wichtiges Thema, als dass wir es im Vorgriff auf den
Europawahlkampf im nächsten Jahr instrumentalisieren
sollten.
({2})
Die EU, wir alle erfüllen mit der Ratifizierung dieses
Vertrages quasi unsere Bringschuld, auch was die Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente angeht. Die
nationalen Parlamente bekommen durch diesen Vertrag
die Rolle der Wächter der Subsidiarität zugewiesen.
Erfüllen wir aber auch unsere Holschuld, diese
Rechte ernst zu nehmen? Dazu gehört natürlich, dass wir
bei der Art und Weise, wie die Kompetenzen verteilt
sind - uns als FDP gefällt dieser ganze Bereich inhaltlich
nicht so gut -, gemeinsam sehr genau hinschauen. Die
Kompetenzen werden durch diesen Vertrag in vielen Bereichen nämlich nicht klarer. Im Gegenteil: Das in Art. 5
des Vertrages von Lissabon verankerte Subsidiaritätsprinzip ist schwächer als die bisher gültige Regelung im
Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll. Schon von vornherein sind neue Konflikte zwischen den verschiedenen
Ebenen angelegt. Ich weise darauf hin: Auch das Subsidiaritätsprinzip selber wird völlig unterschiedlich ausgelegt. Die deutsche Auslegung, wonach in der Regel auf
der „niederen“ Ebene entschieden wird und erst danach
die „höhere“ Ebene ins Spiel kommt, wird von vielen
Partnern in der EU so nicht geteilt.
Wir als FDP verbinden mit der heutigen Zustimmung
zu diesem Vertrag die eindeutige Erwartung, dass eine
Subsidiaritätsrechtsprechung durch den Europäischen
Gerichtshof entwickelt wird, durch die Kompetenzen
klarer abgegrenzt werden, als es durch den jetzigen Vertrag geschieht.
Heute erleben wir nur eine Zäsur. Kein Prozess geht
zu Ende; vielmehr beginnt ein neuer Prozess. Mit der
Ratifizierung dieses Vertrages beginnen wir mit einer
neuen Praxis. Wir wollen, dass diese neue Union eher
weniger als mehr reguliert.
({3})
Wir wollen, dass es zum Normalfall wird, dass dieses
Parlament sich mit den entsprechenden Fragen befasst
und politisch mandatiert, bevor die entscheidenden
Ministerratssitzungen stattfinden und im deutschen Namen abgestimmt wird.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, dieses Parlament darf nicht
nur als Notar deutscher Ministerratsentscheidungen tätig
werden.
({5})
Wir als FDP fordern, dass der Deutsche Bundestag eine
Europafragestunde einführt, die diesem Teil der Gesetzgebung und damit unserer eigenen Gesetzgebung gerecht wird.
Wir wollen eine EU, die die neuen Möglichkeiten der
Mehrheitsentscheidungen auch im Innen- und Rechtsbereich - im Prinzip begrüßen wir sie - nutzt. Wir wissen
aber, dass Mehrheitsentscheidungen immer dann schnell
an Grenzen stoßen müssen, wenn Grundrechte ins Spiel
kommen.
Wir wollen eine EU, die mit dem Verweis auf den
Kampf gegen den Terrorismus nicht in Datensammelwut
verfällt. Wir wollen eine EU, die ihren Haushalt so umbaut, dass nicht weit über die Hälfte des Haushalts in
Subventionen vergraben wird und die nur 1 Prozent für
transeuropäische Verkehrsnetze ausgibt. Wenn es schon
nicht gelungen ist, eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik zu bekommen, wollen wir zumindest
eine EU mit einem Europäischen Auswärtigen Dienst, in
dem unser nationaler auswärtiger Dienst auf Augenhöhe
mitwirkt. Gerade mit Blick auf unsere französischen
Freunde - Außenminister Kouchner nimmt an unserer
heutigen Debatte teil - hoffe ich ganz besonders, dass
wir gemeinsam mit der französischen Präsidentschaft im
zweiten Halbjahr Konkretes erreichen können. Wir werden die Bundesregierung gern unterstützen, wenn es darum geht, einen funktionsfähigen Europäischen Auswärtigen Dienst zu schaffen.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss.
Lassen Sie mich wiederholen: Wir wollen insbesondere
eine Europäische Union, die das, was bisher für Erfolg
gesorgt hat, nicht riskiert. Ein wichtiges Erfolgsprinzip
war der freie und unverfälschte Wettbewerb. Wir haben vonseiten der Bundesregierung und eben auch von
Frau Schwall-Düren sehr deutlich gehört, dass man den
freien und unverfälschten Wettbewerb, der jetzt nur noch
eine Protokollnotiz ist, nur als Instrument, nicht aber als
Ziel ansieht. Das ist ein gefährlicher Weg.
Herr Kollege.
Noch im Zukunftsprogramm der CDU von 1998 hieß
es: Wettbewerb ist das entscheidende Ordnungsprinzip
für die Europäische Union. - Leider können wir bei der
CDU hier keine klare Linie in Richtung soziale Marktwirtschaft mehr erkennen.
({0})
Für uns bleibt Wettbewerb das entscheidende Ordnungsprinzip, damit wir die Europäische Union auch in Zukunft auf einem Erfolgskurs halten können.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Günther Beckstein.
({0})
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Vertrag von Lissabon ist nach meiner Überzeugung ein Fortschritt für Europa. Europa wird ein
Stück weit handlungsfähiger und auch ein Stück weit
demokratischer. Die von vielen Seiten befürchtete Lähmung Europas - die Volksabstimmungen in einigen
Ländern sind gescheitert, und gleichzeitig ist die Erweiterung der EU erfolgt - ist vermieden worden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass eine
Einigung erreicht worden ist. Die Einigung auf ein konkretes und umfassendes Mandat für die Regierungskonferenz beim EU-Gipfel im Juni 2007 hat die Grundlage
für einen raschen und erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über den Reformvertrag ermöglicht.
Ich stehe nicht an, der Bundesregierung Anerkennung für diesen großen Erfolg auszusprechen. Ich stehe
auch nicht an, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, hier ein öffentliches Lob auszusprechen. Sie haben ganz persönlich
einen großen Anteil daran gehabt, dass dieser Durchbruch in Europa erzielt worden ist.
({2})
Es ist zwar ungewöhnlich, dass öffentliches Lob aus
Bayern kommt,
({3})
aber es war eine herausragende Leistung, und dann muss
sie auch anerkannt werden.
({4})
Weil der Freistaat den Vertrag von Lissabon insgesamt positiv bewertet, werden wir am 23. Mai im Bundesrat diesem Vertragswerk auch zustimmen. Es geht darum, die grundlegende Ordnung in der Europäischen
Union für Frieden, Freiheit und Sicherheit zu erweitern,
was die Geltung der Grundrechte und Grundwerte angeht, aber natürlich auch die Wettbewerbsordnung, die
durchaus soziale Werte aufweist.
Auch dass wir eine gemeinsame Währung haben, ist
ein Erfolg. Theo Waigel hat dafür gesorgt, dass die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen worden sind.
Wir können in der aktuellen Situation froh darüber sein,
dass wir in der EU einen so großen Anteil am Export in
die Eurozone haben.
Das will ich hier hervorheben: Diese Dinge sind positiv.
({5})
Aber ich will auch ganz deutlich machen, dass Europa
kein einheitlicher starker Staat werden darf. Die EU ist
kein Bundesstaat; sie soll und darf kein solcher werden.
Es darf nicht die Staatlichkeit der Bundesrepublik
Deutschland, aber auch nicht die Staatsqualität der Länder beeinträchtigt werden.
({6})
Ich empfehle jedermann, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag nachzulesen,
in dem das Bundesverfassungsgericht uns allen ins
Stammbuch geschrieben hat, was der Ewigkeitsgarantie
des Grundgesetzes unterliegt. In ähnlicher Form gilt das
auch für die Länder.
Wir müssen ganz deutlich machen, dass nicht jedes
Problem in Europa ein Problem für Europa ist, das der
Regelungskompetenz der Europäischen Union unterliegt.
({7})
Es gibt aber ganz eindeutig Bereiche, in denen mehr
Europa gut ist. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist es gut, wenn Europa stark ist und mit einer
Stimme sprechen kann, sodass wir auch in der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika unserem
Partner gegenüber etwas selbstbewusster auftreten können. Wenn Europa einheitlich spricht, hat es mehr Einfluss auf die USA, und das kann der Politik für die ganze
Welt nur guttun; die vergangenen Jahre haben das gezeigt.
({8})
Henry Kissinger hat immer gesagt, er vermisse die
eine Telefonnummer, die er anrufen könne, wenn er die
Haltung Europas wissen wolle. Dass es sie in der Zukunft geben wird, halten wir für einen Fortschritt; denn
in diesen Bereichen brauchen wir mehr Europa.
Dieses „Wir brauchen insoweit mehr Europa“ kann
ich auch für den Bereich der Menschenrechte nur bestätigen. Es wäre gut gewesen, wenn im Zusammenhang
mit dem olympischen Fackellauf - Stichwort „Tibet“ die Haltung in Paris nicht anders gewesen wäre als die in
Deutschland. Wir hätten mehr Chancen auf die Durchsetzung einheitlicher Menschenrechtsstandards, wenn
die EU hier mit einer Stimme sprechen würde.
({9})
Darum ist es gut, wenn wir hier Fortschritte haben.
Wir brauchen auch mehr Europa im Kampf gegen den
Terror. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war als Ländervertreter jahrelang Mitglied der europäischen Innen- und
Justizministerrates. Ich kann nur sagen: Wenn die Grenzkontrollen wegfallen, muss es im Bereich der Polizei
und der Sicherheit eine stärkere Zusammenarbeit geben.
Wir brauchen dann ein gemeinsames Vorgehen im
Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus. Darum wird
die Frage der Polizei- und Justizzusammenarbeit immer
wichtiger. Dafür bietet der Vertrag den richtigen Rahmen.
({10})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch - ich
stimme Ihnen, Herr Kollege Beck, da durchaus zu mehr Europa bei der Gestaltung der Globalisierung.
Wir Europäer haben ein Interesse daran, dass bei der
Produktion von Waren und Dienstleistungen möglichst
weltweit faire, das heißt auch vergleichbare Bedingungen herrschen, dass keine Ausbeutung von Kindern
Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein ({11})
erfolgt, dass Mindeststandards für Arbeitnehmer nicht
nur in Europa, sondern auch in anderen Ländern und
Wirtschaftsräumen der Welt eingehalten werden, die mit
uns konkurrieren. Solche Fragen können in den internationalen Gremien sehr viel besser und nachdrücklicher
geregelt werden, wenn wir mit einer Stimme sprechen.
Das ist zum Beispiel in der WTO ganz offensichtlich.
Das gilt aber auch für den Umgang mit geistigem
Eigentum. Hier muss das Urheberrecht für Schutz und
Respekt sorgen. Copy-Products stellen ein erhebliches
Problem für die Wirtschaft und die Arbeitnehmer in
Deutschland dar. Hier kann ein gemeinsames Vorgehen
Europas nur nützlich und richtig sein.
Ich füge hinzu: Natürlich muss auch die Bändigung
der globalen Finanzmärkte ein Ziel sein. Dass es hier
Defizite gibt, hat ja selbst Herr Ackermann vor kurzer
Zeit überraschenderweise eingeräumt. Es ist völlig offensichtlich, dass ein europäisches Land hierbei weniger
Möglichkeiten hat als ein Europa, das mit einer Stimme
spricht. All diese Fortschritte erkenne ich an.
({12})
Selbstverständlich erfordern auch globale Probleme
wie die Erderwärmung, also der Klimawandel, einheitliches europäisches Handeln. Zugleich müssen wir aber
aufpassen, dass dieses einheitliche Handeln nicht einseitige Belastungen für die deutsche Wirtschaft mit sich
bringt. Wir wissen, dass unsere französischen Freunde
ihre eigenen Interessen immer sehr massiv vertreten. Wir
wollen, dass der Wahrnehmung unserer Interessen zumindest dieselbe Bedeutung zugemessen wird.
({13})
Es ist aber auch völlig eindeutig, dass nicht jedes Problem in Europa ein Problem für Europa sein darf. In diesem Zusammenhang habe ich einige kritische Anmerkungen zu machen. Es gibt viele Bereiche, für die es in
der Tat bei uns - davon bin ich überzeugt - ortsnähere
und bessere Lösungen gibt. Wir können gerne darüber
streiten, ob die in Mainz, Schwerin oder in München gefundenen besser sind.
Sie, lieber Herr Kollege Beck, haben eben mit großem Stolz vom Hambacher Fest gesprochen. Sie waren
allerdings außerordentlich fahrlässig im Umgang mit der
historischen Wahrheit. Sie haben versucht, einen Gegensatz zwischen den Ereignissen in Hambach und in Bayern herzustellen. Zu jener Zeit war die Pfalz ein stolzer
Teil des Freistaates Bayern!
({14})
Ich habe gerade noch einen Beitrag aus Wikipedia erhalten - das sind die Vorteile moderner Kommunikationsmittel -: Hier wird dargestellt, wie die Pfälzer ihre Sonderrechte, die sie im Freistaat Bayern hatten, aus Angst,
sie in einem Land wie Rheinland-Pfalz zu verlieren, verteidigen wollten.
({15})
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Beck, dass noch
heute mancher, der in der Pfalz lebt, der guten Zeit beim
Freistaat Bayern nachtrauert.
({16})
Das gilt insbesondere, wenn man sich die Haushaltssituation in Rheinland-Pfalz und im Freistaat Bayern, die
Bildungschancen oder die Erfolge im Exzellenzwettbewerb der Hochschulen vor Augen führt.
Herr Ministerpräsident, möchten Sie diese wichtigen
historischen Zusammenhänge durch die Antwort auf
eine Zwischenfrage weiter vertiefen?
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident ({0}):
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Danke, Herr Präsident. - Herr Ministerpräsident, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es zum Zeitpunkt des Hambacher Festes noch keinen Freistaat Bayern, sondern ein Königreich Bayern gab? Einen Freistaat
Bayern gibt es erst seit 1918.
({0})
Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident ({1}):
Geschätzter Herr Kollege, ich habe diese Zwischenfrage längst erwartet.
({2})
Sie ermöglicht mir die weitere Bemerkung, dass im
Königreich Bayern die Pfalz nur als eine Provinz angesehen worden ist.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf
die Kompetenzen - das war der ernste Hintergrund - zurückkommen. Selbstverständlich müssen wir sehen, dass
der Vertrag von Lissabon die Kompetenzen leider nur
sehr schwammig regelt, woraus Gefahren entstehen können, nämlich dass die EU in manchen Bereichen äußerst
umfangreiche Regelungen vornehmen kann, die wir besser auf nationaler Ebene oder auf der Ebene der Länder
geregelt sehen. Für bestimmte Bereiche ist meiner Meinung nach zu Unrecht eine Kompetenz für die Europäische Union vorgesehen. Warum muss die EU eine Kompetenz im Bereich des Sports, des Tourismus oder der
Daseinsvorsorge haben? Ich finde, dass eine kommunale
Wasserversorgung nicht von Brüssel aus in Gefahr gebracht werden darf.
({4})
Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein ({5})
Das Gleiche gilt für den Bereich Asyl oder Zuwanderung, wofür es in den verschiedenen Nationen in Europa
höchst unterschiedliche Interessen gibt. Aus meiner
Sicht ist es falsch, wenn das alles einheitlich von Brüssel
aus geregelt werden sollte. Von daher müssen wir auf
diese Fragen mehr achten.
({6})
Meine Damen und Herren, der Vertrag von Lissabon
hat auch in einem weiteren Bereich Fortschritte gebracht, was ich für unabdingbar notwendig halte, nämlich dass rechtzeitig die Bürgerinnen und Bürger über
die nationalen Parlamente bei der Beantwortung der
Frage, was von Europa aus geregelt wird, eingebunden
werden. Wir alle haben doch in der Vergangenheit immer wieder beklagt, dass das, was im Deutschen Bundestag und im Bundesrat nicht durchsetzbar war, über
die Seilschaften in Brüssel auf den Weg gebracht worden
ist. Wenn wir es dann umsetzen mussten, war der Zorn
der Bürger groß. Hier ist es notwendig, dass frühzeitig
eine große Transparenz erfolgt. Diese Transparenz wird
durch frühzeitige Information und Mitwirkungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente, auch des Bundesrats,
hergestellt. Dadurch sind wir an Gesetzgebungsvorhaben
und europäischen Vorhaben frühzeitig beteiligt. Das ist
ein Stück Fortschritt. Damit wird ein Stück mehr Transparenz - Transparenz ist die Voraussetzung für Bürgernähe - erreicht.
Es gibt auch einen weiteren Fortschritt im Bereich der
Subsidiarität. Die Subsidiarität als Ordnungsprinzip ist
eine der entscheidenden Fragen; dies entspricht auch der
Mentalität Europas. Europa ist gekennzeichnet durch
eine ganz besondere Betonung der Individualität des
Menschen. Anders als zum Beispiel in der chinesischen
Kultur ist die Persönlichkeit des Einzelnen der Mittelpunkt der staatlichen Ordnung. Dazu zählt auch, dass
ortsnahe Regelungen besser sind als zentrale Regelungen. Dieses Prinzip der Subsidiarität wird in Europa jedenfalls vom Prinzip her anerkannt. Aus diesem Grunde
gibt es Klagerechte für den Deutschen Bundestag, für den
Ausschuss der Regionen und für den Bundesrat. Ich halte
es für wichtig - das will ich hier öffentlich erklären -, dass
man im Bundesrat übereingekommen ist, dass, wenn ein
Land eine Klage einreichen will, diese Klage auch eingereicht wird. Ursprünglich wollten wir ja das Klagerecht für jedes Land als eigenes Recht. Das bedeutet: Im
Normalfall wird, wenn ein Land eine Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Europäischen Gerichtshof einreichen will, Klage erhoben.
Ich sage hierzu: Bayern wird der Wächter der Subsidiarität sein
({7})
und wird auch nicht zögern, beim Europäischen Gerichtshof Klagen einzureichen; denn wir wollen keinen
überbordenden Zentralismus in Europa haben.
({8})
Meine Damen und Herren, wir sind für diese grundlegende Friedensordnung und auch für diese Wirtschafts- und Sozialordnung in Europa. Der Lissabonner Vertrag bietet hierfür einen geeigneten Rahmen. Es
wird an uns allen liegen, dafür zu sorgen, dass dieser
Rahmen in einer bestmöglichen Weise ausgefüllt wird,
um Transparenz, Bürgernähe, mehr Demokratie und
mehr Respekt vor der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Nationen und Länder in Europa Realität werden
zu lassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die
Europäische Union bei den Bürgern ein Stück mehr ankommt.
Wir wollen Europa, aber nicht als eine überbordende
Bürokratie. Wir erleiden zu viel Bürokratie in Europa.
Wenn über ein fußballfeldgroßes FFH-Gebiet nicht in einem Landratsamt, in der Staatsregierung in München
oder im Bundesumweltministerium in Berlin, sondern in
Brüssel und Straßburg entschieden wird, von Leuten, die
dieses Stück Landschaft niemals gesehen haben, dann ist
das ein Fehler. Wir wollen die Friedensordnung in
Europa; aber dafür müssen Subsidiarität und Eigenstaatlichkeit von Bund und Ländern die Grundlage sein.
Unter diesen Umständen und Voraussetzungen stimmen wir zu und werden in der Zukunft die Wächter der
Subsidiarität sein.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Gästetribüne verfolgt der französische Außenminister Bernard
Kouchner diese Debatte und die Entscheidung des
Deutschen Bundestages zum Lissabonner Vertrag. Sehr
geehrter Herr Minister, ich begrüße Sie und Ihre Delegation herzlich im Deutschen Bundestag.
({0})
Wir freuen uns, dass Sie gerade heute in Berlin sind, und
sehen im Übrigen, insbesondere mit Blick auf die bevorstehende französische Präsidentschaft, der Fortführung
der bewährt guten Zusammenarbeit zwischen unseren
beiden Ländern mit Sympathie entgegen. Herzlich willkommen!
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Minister Kouchner, Sie sind gerade Zeuge
einer Debatte geworden, die den Unterhaltungswert des
deutschen Föderalismus gezeigt hat. Das hat man in
Frankreich in dieser Form sicher nicht.
({0})
Sie sind aber auch Zeuge eines historischen Moments
geworden. Denn dass ein bayerischer Ministerpräsident
sich aus München zu solch einer Debatte aufmacht, um
die deutsche Bundesregierung zu loben, ist ein historisches Ereignis, das den Integrationsgedanken in
Deutschland in seiner positiven Entwicklung ausgesprochen deutlich macht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist
sehr deutlich geworden, warum der Vertrag von Lissabon ein großer Fortschritt für die Handlungsfähigkeit
Europas ist, ein großer Fortschritt für die Demokratie in
Europa, für dieses Friedensprojekt, das wir alle im Deutschen Bundestag unterstützen, auch wenn wir zum Vertrag unterschiedliche Positionen haben.
Jetzt geht es darum, die Aufgaben, die aus diesem
Vertrag folgen, ernst zu nehmen. Der Vertrag ist ein
- das haben wir immer gesagt - wichtiger Schritt zur
Vertiefung der Handlungsfähigkeit. Aber mit diesem
Vertrag kommt natürlich sehr viel Arbeit auf das Parlament, auf die Regierung und auch auf die Bürgerinnen
und Bürger zu; denn es geht darum, wie wir das neu zu
gestaltende Verhältnis zwischen den Nationalstaaten,
den nationalen Parlamenten und der Europäischen Union
konkret ausgestalten wollen.
Ich möchte gerne noch folgende Punkte ansprechen.
Erster Punkt. Für den Deutschen Bundestag - das
haben viele Kollegen schon gesagt - ist mit den Subsidiaritätsklagerechten eine neue Möglichkeit eröffnet
worden, europäische Politik mitzubestimmen. Wir halten es für richtig und gut, dass neben der Ausweitung der
Kontrolle durch das Europäische Parlament auch die nationalen Parlamente Möglichkeiten haben, in stärkerem
Maße europäische Politik mitzugestalten. Das schafft
eine Verbreiterung der Legitimation und ist eine Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger auf nationaler
Ebene in diesem Prozess mitzunehmen.
Aber eines sage ich auch sehr deutlich: Wir müssen
uns diese neuen Rechte erarbeiten. In den Strukturen, in
denen wir bisher gearbeitet haben - ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, wie wir zum Teil europäische Rechtsetzungsverfahren im Parlament durchgewunken haben -, ist der Deutsche Bundestag noch nicht in
der Lage, seine Subsidiaritätsrechte wahrzunehmen. Die
heutige Abstimmung ist eine Verpflichtung für uns,
diese Rechte im Deutschen Bundestag wahrzunehmen
und dafür zu kämpfen, dass entsprechende Maßnahmen
umgesetzt werden können.
({2})
Zweiter Punkt. Dieser Bereich ist heute ebenfalls
schon angesprochen worden; aber ich möchte ihn noch
einmal aufgreifen. Die Frage ist, wie wir im Hinblick auf
das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in das Projekt Europäische Union, das so erfolgreich war, einen Schritt vorankommen; denn an dieser
Stelle besteht durchaus noch Nachholbedarf. Die Frage
der sozialen Gerechtigkeit, die wir ernst nehmen müssen, ist auf diesem Wege ein zentraler Punkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es geht
nicht an, dass man über diesen Punkt locker hinwegwischt. Auf all diese Vorurteile, die gegen das angeblich
neoliberale Europa geschürt werden - ich will gar nicht
behaupten, dass Sie diese Vorurteile mit Ihrer Politik immer bestärken -, muss man sehr sensibel und sehr politisch reagieren. Das Wegwischen dieser Befürchtung
schürt nur Ängste und vergrößert das Misstrauen. Wir
werden das Vertrauen der Menschen nur gewinnen,
wenn sie Europa als Schutzmacht ihrer ganz persönlichen Interessen erleben.
({3})
Die sozialen Grundrechte - sie sind im Grundrechtekatalog enthalten - müssen der Rat, das Europäische
Parlament und die nationalen Parlamente in die Praxis
umsetzen. Ansonsten werden wir eine Haltung der Bürgerinnen und Bürger zu Europa bekommen, wie sich in
Frankreich in dem Ergebnis der Volksabstimmung gezeigt hat. Dort wurde der europäische Integrationsgedanke von der rechten und der linken Ecke instrumentalisiert und so Befürchtungen geweckt. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es war in
Frankreich eben nicht allein die versammelte Linke, die
diesen Vertrag bekämpft hat, sondern es war zum großen
Teil die organisierte Rechte und die Rechtsextremen, die
diesen Vertrag bekämpft haben. Das muss man deutlich
sagen.
({4})
Sie reden von Internationalismus. Aber wenn ich mir
anschaue, wie zum Beispiel der Internationalismus in Irland gefeiert wird, und wenn ich sehe, dass unter der
Führung des „Sozialisten“ Rupert Murdoch eine Volksunion von Le Pen bis Lafontaine Veranstaltungen machen könnte, um den europäischen Integrationsgedanken
für rechten und linken Populismus zu instrumentalisieren, dann muss ich sagen: Das ist genau der Internationalismus, der Europa schadet.
({5})
Herr Kollege Steenblock, Ihre Redezeit.
Eine Abschlussbemerkung, liebe Frau Präsidentin.
Wir sollten die Gesetzgebung der Europäischen
Union in Zukunft nicht mehr so darstellen - leider klang
das bei dem Kollegen Beckstein auch so an -, als seien
Lobbygruppen am Werke. Nein, der Rat, die nationalen
Parlamente und das Europäische Parlament machen die
Gesetzgebung. Wir sollten ehrlich und offen mit diesen
Fragen umgehen und es nicht zulassen, dass die Europäische Union für einen regionalen Populismus missbraucht wird.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass in der heutigen Debatte deutlich wird:
Wir stimmen in wesentlichen europapolitischen Fragen
überein. Die Gemeinsamkeit zu suchen, ist zwar notwendig; aber dennoch sollten wir dem Streit nicht aus dem
Weg gehen. Dann kann man auch immer wieder selbstkritisch überprüfen: Sind die eigenen Argumente überzeugend genug, auch wenn die Absurdität der Argumente der anderen manchmal kaum noch zu unterbieten
ist? Gestern hat Kollege Wieland im Innenausschuss so
schön gesagt: Solange in einem europäischen Vertrag
nicht steht: „Hartz IV muss weg“, wird die Linkspartei
niemals zustimmen. - Das macht deutlich, wie verantwortungslos sie mit diesem Bereich umgeht.
({0})
Zwei kurze Anmerkungen zum Ministerpräsidenten
des Freistaats Bayern. Wenn ich zum einen historisch
richtig informiert bin, bedurfte es der Initiative der
Sozialdemokraten, dass der Freistaat, auf den die Bayern
zu Recht stolz sind, auf den Weg gebracht werden
konnte.
({1})
Dies ist ein sozialdemokratischer Erfolg. Zum anderen
hat mich die Rede von Ministerpräsident Beckstein ein
wenig enttäuscht; denn er hat sehr lange erklärt, was die
Bayern und die CSU nicht wollen. Es ist aber sehr wenig
Zeit darauf verwandt worden, deutlich zu machen, was
man eigentlich mit dem Vertrag von Lissabon, mit dieser
neuen, stärker gewordenen Europäischen Union will.
({2})
Wir sollten nicht beim Feiern bleiben, sondern einen
Blick in die Zukunft wagen. Wir brauchen neue Impulse,
damit dieser Integrationsprozess, den Ministerpräsident
Beck als offen dargestellt hat, auch erfolgreich weitergehen kann. Wir haben den Frieden im Inneren Europas
erreicht. Das ist leider für allzu viele eine Selbstverständlichkeit. Dass es aber keine Selbstverständlichkeit
ist, merken wir dann, wenn wir uns die Situation im
Westbalkan vor Augen halten. Wenn wir dieses europäische Friedensprojekt nicht vor Jahrzehnten auf den Weg
gebracht hätten, drohten vielleicht auch uns Verhältnisse
wie im Westbalkan. Aber es geht heute nicht mehr allein
darum, deutlich zu machen, was wir alles im Inneren erreicht haben. Die große Aufgabe muss vielmehr sein, zu
erklären: Wie können wir denn im globalen Maßstab
Frieden, Freiheit, Sicherheit und Solidarität erfolgreich
auf den Weg bringen? Welchen Beitrag können wir als
Europäerinnen und Europäer leisten?
({3})
Meines Erachtens muss Europa auch ein Gefühl von
Heimat, von Beheimatung, von Vertrauen entwickeln.
Wir brauchen also mehr europäisches Selbstbewusstsein. Wir sollten nicht nationale Abgrenzung pflegen
und die alten nationalen Forderungen in den Mittelpunkt
rücken. Es geht nicht mehr allein um nationales Interesse. Wir müssen unsere Werte offensiv vertreten und
dürfen nicht in den globalen Mainstream von Ideen einstimmen, die von der Geschichte schon längst als überholt dargestellt worden sind. Ich darf an die neoliberale
Idee erinnern. Darüber redet heute keiner mehr; denn es
hat sich gezeigt: Dieses Projekt ist gescheitert, weil es
die Menschen nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Gemeinsinn und Solidarität führen konnte.
Wir als Europäerinnen und Europäer müssen deutlich
machen: Es geht uns um Freiheit, es geht uns um Solidarität, es geht uns um noch stärkere ökologische Nachhaltigkeit. Das ist der Dreiklang, für den wir stehen.
({4})
Das müssen wir im globalen Wettbewerb der Ideen
selbstbewusster nach außen tragen.
Eine Anmerkung in Richtung der jungen Mitgliedstaaten. Mit diesem Reformvertrag überwinden wir endgültig die Teilung Europas, weil zum ersten Mal die
Staaten Mittelosteuropas gleichberechtigt dabei waren.
Sie haben mitberaten, sie haben mit abgestimmt, sie haben ihre Ideen eingebracht. Das macht deutlich: Wir sind
ein gemeinsames Europa - nord-, süd-, ost- und westübergreifend. Dies ist ein großer Erfolg.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss deutlich machen, was
das für unser nationales Parlament bedeutet; denn es ist
viel darüber geredet worden, dass der Bundestag gestärkt wird. Das stimmt. Aber für viele ist das zu abstrakt. Deswegen ein kurzes Beispiel zum Schluss: Die
Brückenklausel hat es schon vor Jahren gegeben. Wo
war Bayern als Wächter, als wesentliche Bereiche der
Innen- und Justizpolitik, die Migrations- und Asylpolitik, von der Einstimmigkeit in das Mehrheitsprinzip
übertragen worden sind? Der Bundestag war damals nie
damit befasst. Jetzt haben wir die Chance, dass der Bundestag mit der Bundesregierung sowohl dann in der Verantwortung steht, wenn wir von der Einstimmigkeit auf
das Mehrheitsprinzip übergehen, als auch dann, wenn
neue Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die europäische Ebene übertragen werden.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den
höchst sensiblen Bereich der justiziellen Zusammenarbeit bei Strafverfahren. Hier brauchen wir einen
selbstbewussten Bundestag, der sich frühzeitig einbringt.
Das haben wir in einem Beschluss des Europaausschusses einmütig zum Ausdruck gebracht. Ich bedanke mich
ausdrücklich bei dem Kollegen Silberhorn, der dazu beigetragen hat, dass wir das klären konnten.
({6})
Bei all dem Lob zum Vertrag von Lissabon muss ich
dennoch sagen: Dieser Vertrag wird nicht automatisch
Michael Roth ({7})
alles richten, was wir als notwendig erachten. Soziale
Gerechtigkeit, Solidarität und tragfähige soziale Standards kommen nicht von selbst. Der Klimaschutz kommt
nicht von selbst. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft, die
bäuerliche Strukturen enthält, die natürliche und gentechnikfreie Lebensmittel garantiert, kommt nicht von
selbst, und auch eine gerechte Handelsordnung sowie
faire Chancen für die Entwicklungsländer kommen nicht
von selbst. Dafür brauchen wir politische Mehrheiten.
Dafür müssen wir kämpfen. Dazu lädt uns der Vertrag
von Lissabon ein.
Vielen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche,
fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir
in Deutschland unserem eigenen Volk nicht mehr trauen,
sitzen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
heute hier, um über seine Zukunft zu entscheiden. Es ist
aber nicht nur so, dass wir unserem Volk nicht mehr zutrauen, selbst über seine Zukunft zu entscheiden, wir halten es anscheinend auch für dämlich und vergesslich.
Das scheint mittlerweile Konsens in Europa zu sein. Da
das Volk in Frankreich und in den Niederlanden die geplante EU-Verfassung abgelehnt hat, fragt man es im
zweiten Durchgang einfach nicht mehr und winkt das
Kind unter einem anderen Namen durch: Reformvertrag.
So eine Verhöhnung des Volkswillens brauchen wir
uns zum Glück nicht vorwerfen zu lassen. Bei uns in
Deutschland werden die Bürger prinzipiell nicht gefragt,
schon gar nicht in Europaangelegenheiten - siehe Einführung des Euros oder Erweiterung des SchengenRaums im vergangenen Dezember. Für beide Entscheidungen hätte es im Volk nie eine Mehrheit gegeben, und
das wissen Sie alle.
Dieser Vertrag von Lissabon, der in beschönigender
Weise Reformvertrag genannt wird, unterscheidet sich
im Wesentlichen nicht vom gescheiterten Verfassungsvertrag, von jenem Vertrag, der dank des aufrechten
Politikers Peter Gauweiler und seines Anwalts Professor
Schachtschneider
({0})
auch von Deutschland nicht ratifiziert wurde. Das Bundesverfassungsgericht untersagte es dem Bundespräsidenten nicht ohne Grund, diesen Vertrag zu unterschreiben. Daher wird nun peinlichst genau das Wort
Verfassung gemieden.
Mit diesem Reformvertrag wird eine verbindliche
Verfassung für über 500 Millionen Menschen geschaffen. Allerdings ist das eine Verfassung, die nicht demokratisch legitimiert ist, die von einem europäischen Volk
ausgeht, das es gar nicht gibt, und deren Inhalte zutiefst
demokratiefeindlich sind. Der Europäische Rat wird
durch das vereinfachte Änderungsverfahren ermächtigt
- ermächtigt! -, fast das gesamte bestehende Unionsrecht zu ändern. Davon betroffen sind Wirtschafts-,
Währungs-, Sozial-, Landwirtschafts-, Umwelt-, Arbeits-, Steuer-, Justiz-, Verkehrs- und Kulturpolitik. Eine
Zustimmung des Europäischen Parlaments ist nicht mehr
notwendig.
Wo bleibt die Mitsprache der nationalen Parlamente? Wo bleibt die Volkssouveränität? Ein angehängtes Protokoll gibt es bloß über die Anwendung der
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Danach können der Bundestag usw. die Flut von
Entwürfen von Europavorschriften dahin gehend prüfen,
ob diese Grundsätze verletzt wurden. Wenn ja, können
sie innerhalb von acht Wochen, aber nicht später, eine
Stellungnahme abgeben. Dass in dieser Zeit auch die
Landtage die Vorlagen geprüft haben und der Bundesrat
darüber beschlossen hat, ist wohl eher illusorisch.
Wo wir das Europäische Parlament ansprechen:
Deutschland hat derzeit ein Sitzkontingent von 99. Das
wird reduziert auf 96. Angesichts der Tatsache, dass
Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung Europas stellt,
stünden Deutschland mindestens 150 Abgeordnete zu.
Dieses Parlament wird aber nicht durch das Prinzip gewählt, das Bismarck 1871 in Deutschland eingeführt hat:
das gleiche Wahlrecht.
Künftig wird die für Deutschland entscheidende Politik von 27 Staats- und Regierungschefs bestimmt, von
denen mindestens 26 nicht deutsch sind. Wie sich das
mit dem Leitsatz aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes
- „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ - verträgt, ist
mir schleierhaft.
Was wird noch verschwiegen? Zum Beispiel, dass der
Reformvertrag ermöglicht, europäische Steuern zu
schaffen. Wenn ein Staat die Möglichkeit hat, Steuern zu
erheben, dann tut er dies auch. Das Milliardengrab EU
und die finanzielle Belastung für uns Deutsche werden
damit eine noch gewaltigere Dimension annehmen. Das
wird ein neues Versailles für Deutschland.
({1})
Genau diese Tatsache verschweigen Sie dem deutschen
Volk.
Durch diesen EU-Reformvertrag legitimieren Sie
Brüssel, allmächtig und ungehindert über deutsche Interessen zu entscheiden. Dieser Vertrag ist ein neuerliches
Ermächtigungsgesetz.
({2})
Gerade wir in Deutschland sollten hier ganz vorsichtig
sein.
({3})
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal durch das Portal
dieses Gebäudes zu gehen. Dort steht in Stein gemeißelt
„DEM DEUTSCHEN VOLKE“. Hören Sie auf diese Inschrift!
({4})
Entscheiden Sie sich für Deutschland! Sichern wir die
Zukunft und die Souveränität Deutschlands! Nicht weniger erwarten die Bürger heute von uns.
Herr Kollege, die Kollegin Hendricks würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Deutsche, Christen und Demokraten können diesem
Vertrag nicht zustimmen.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte nur ganz kurz auf meinen Vorredner,
Herrn Kollegen Nitzsche, eingehen.
({0})
- Doch.
({1})
Auffällig ist für mich Folgendes: Sie bezeichnen sich als
rechtskonservativ oder was auch immer. Ihre Argumente
gegen den Reformvertrag sind allerdings in den meisten
Punkten nahezu identisch mit den Argumenten der Linken. Darüber sollten Sie und die Linken einmal nachdenken.
({2})
Für Deutschland und für Europa ist heute ein besonderer Tag.
({3})
Herr Kollege Stübgen, lassen Sie uns einen Augenblick warten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte
Sie, dem Redner die Chance zu geben, durchzudringen.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Nach langer Zeit
und nachdem der Verfassungsprozess längst totgesagt
war, haben wir es dank der Initiative der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundesregierung im Rahmen
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geschafft, die
Grundlagen dafür zu legen, dass wir diesen Reformvertrag heute ratifizieren werden; das muss an dieser Stelle
einmal gesagt werden. Wir haben die sehr große Chance,
dass dieser Reformvertrag auf europäischer Ebene zum
1. Januar 2009 in Kraft treten wird.
Herr Kollege Stübgen, die Kollegin Hendricks würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Stübgen, ich bin ganz sicher, dass Sie
mit mir einer Meinung sind, dass die Rede des Herrn
Nitzsche eine ahistorische Beleidigung dieses demokratischen Parlaments war.
({0})
Frau Kollegin, da sind wir völlig einer Meinung.
({0})
Ich will allerdings wiederholen, was ich zu Beginn gesagt habe: In den meisten inhaltlichen Punkten sind die
Argumente nahezu identisch. Ich habe die Äußerungen
der Linken aber nicht mit denen des Herrn Kollegen
Nitzsche gleichgesetzt.
Die Europäische Union gibt sich mit diesem Vertrag
das Rüstzeug, um die Herausforderungen der Zukunft
meistern zu können. Europa wird mit diesem Vertrag demokratischer, effizienter und transparenter.
Was bedeutet „demokratischer“? Wir bekommen in
der Europäischen Union - das ist für einen Völkerbund
singulär - erstmalig ein Parlament mit vollwertigen parlamentarischen Rechten.
Herr Kollege Stübgen, ich muss Sie noch einmal fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen, diesmal des
Kollegen Dehm?
Nein.
({0})
Aber die Chance, die sich mit diesem Vertrag ergibt,
bedeutet in erster Linie eine Herausforderung und einen
Anspruch für das künftige Europäische Parlament. Jeder
von Ihnen kennt sicherlich mindestens eine Entschließung des Europäischen Parlamentes, die man doch als
recht merkwürdig bezeichnen kann, nicht hinsichtlich
der politischen Zielsetzung, sondern hinsichtlich der Tatsache, wie weltfremd und abgehoben dort manchmal etwas beschlossen wird. Wenn man sich aber anschaut,
dass dieses Europäische Parlament bisher so gesetzt war,
dass es zwischen Straßburg und Brüssel hin und her vagabundiert und ihm fundamentale parlamentarische
Rechte vorenthalten wurden, dann muss man sich nicht
wundern, wenn solch ein Parlament wundersame Beschlüsse fasst. Ich bin überzeugt, dass das Europäische
Parlament in der Lage sein wird, diese Herausforderungen anzunehmen und seine Möglichkeiten als Machtzentrum der europäischen Politik voll auszufüllen.
Das europäische System wird mit diesem Vertrag effizienter. Die Zahl der Kommissare wird reduziert. Der
Ratspräsident wird für mehrere Jahre gewählt, die
Rechte des Kommissionspräsidenten werden gestärkt
und vieles mehr. Das heißt, die Europäische Union, die
europäische Administration und die europäischen Institutionen werden in Zukunft in der Lage sein, Politik aus
einem Guss zu machen. Aber auch hier muss ich anmerken: Auch hier sind die neuen Chancen, die sich durch
diesen Vertrag ergeben, für die europäischen Institutionen in erster Linie Herausforderung und Anspruch.
Uns nützt es zum Beispiel in Zukunft nicht viel, wenn
wir auf der einen Seite einen Hohen Vertreter für
Außen- und Sicherheitspolitik haben werden - der
Volksmund wird ihn einfach den „europäischen Außenminister“ nennen, ob das nun im Vertrag steht oder nicht und wenn auf der anderen Seite die Regierungen in den
entscheidenden und wichtigen europapolitischen Fragen
trotzdem öffentlich munter durcheinanderreden werden.
Es wird wichtig sein, dass sich die Europäische Union
und die Regierungen in der Europäischen Union dahin
gehend entwickeln, dass sie weniger effektorientierte außenpolitische Aktionen starten, sondern mehr integrative, sachorientierte europäische Aktionen. Aber auch
hier beginnt der Prozess erst, auch hier werden wir vorankommen.
({1})
Die europäische Politik wird mit diesem Vertrag
transparenter. Wir haben nicht nur horizontal, sondern
auch vertikal eine Demokratisierung der Europäischen
Union erreicht; denn nach zaghaften Anfängen beim
Maastrichter Vertrag vor 17 Jahren wird erstmalig die
besondere Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union in diesem Vertrag festgeschrieben.
Wir als nationale Parlamente haben volle Informationsrechte, also das Recht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt
informiert zu werden. Wir als nationale Parlamente haben in der europäischen Politik in Zukunft auch Mitwirkungsrechte.
Ich will nur auf einen Punkt kurz eingehen. Es gibt
zum Beispiel die Möglichkeit, dass 50 Prozent der Parlamente innerhalb von acht Wochen eine Rüge für ein
Rechtsetzungsvorhaben der Kommission äußern. Damit
ist die Kommission verpflichtet, sich mit diesem Vorhaben noch einmal zu beschäftigen. Jedes nationale Parlament hat die Möglichkeit, gegen ein Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union Klage zu führen.
Hier ist Folgendes wichtig: Ich glaube - das wird eine
besondere Herausforderung für Deutschland und auch
für den Deutschen Bundestag sein -, dass wir der Wirkung und der effektiven Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips Vorschub leisten müssen. Das Subsidiaritätsprinzip steht seit 16 Jahren im Maastrichter Vertrag.
Wenn wir aber einmal ernsthaft überprüfen, wie es denn
gewirkt hat, ob und wieweit die Europäische Kommission, der Europäische Rat und auch der Europäische Gerichtshof dieses Prinzip verinnerlicht haben und danach
leben, dann müssen wir feststellen, dass dieser Prozess
noch nicht weit vorangekommen ist. Wenn nicht wir den
Prozess der Implementierung des Subsidiaritätsprinzips
voranbringen, dann wird es niemand tun. Das wird in
Zukunft für uns als deutsches Parlament eine wichtige
Aufgabe sein.
Meine Fraktion stimmt dem Vertrag zu. Heute ist ein
guter Tag für Deutschland, für Europa und weit darüber
hinaus.
Ich danke Ihnen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Nitzsche hat in seiner Rede einen Vergleich gezogen zwischen dem Vertrag von Lissabon und dem Ermächtigungsgesetz aus der NS-Zeit. Ich halte das für
undemokratisch, für falsch und bitte Sie, Herr Kollege
Nitzsche, dies zu überdenken.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Diether Dehm.
Frau Präsidentin! Herr Nitzsche darf den Vertrag von
Lissabon durchaus mit dem Ermächtigungsgesetz vergleichen; aber er darf den Vertrag von Lissabon mit dem
Ermächtigungsgesetz nicht gleichsetzen. Denn wenn
man den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazizeit vergleicht, stellt man fest, dass Welten dazwischen liegen.
Wir kritisieren den Lissabon-Vertrag, würden ihn aber
niemals in die Nähe von Nazigesetzgebung rücken. Vergleichen und Gleichsetzen sind grundverschiedene
Dinge. Er hat Lissabon-Vertrag und Ermächtigungsgesetz gleichgesetzt. Das ist das, wovon wir uns distanzieren.
Er hat die Rechte und die Linke gleichgesetzt. Ich
möchte bei dieser Gelegenheit den Kollegen Stübgen
- wir kennen uns aus dem Ausschuss und wissen voneinander eigentlich etwas mehr - ganz herzlich bitten,
zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir den Lissabon-Vertrag ablehnen, dann deshalb, weil wir mehr Grundgesetz,
mehr Sozialstaatlichkeit, mehr Verbot eines Angriffskrieges und mehr demokratischen Rechtsstaat wollen.
Dies, Kollege Stübgen, hat nichts, aber auch gar nichts
mit dem wirrköpfigen Chauvinismus des Kollegen Nitzsche zu tun, mit dem Sie uns bitte nicht gleichsetzen!
({0})
Vergleichen können Sie uns; aber dann werden Sie feststellen, dass es zwischen uns und Herrn Nitzsche, der
aus Ihrer Fraktion ausgesondert worden ist, keinerlei
Nähe gibt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und verschonen Sie uns bitte mit diesem „Rot gleich Braun“ und
„Links gleich Rechts“! Solche Gleichsetzungen haben
keinen Bestand.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein erfreulicher Tag für Europa. Das zeigt sich
an dem europäischen Geist, in dem die Debatte über die
Ratifizierung des Vertrages von Lissabon geführt wird.
Es ist allerdings eine beschämende Stunde, wenn
durch die Rede von Herrn Nitzsche in diesem Haus der
Geist von NPD-Gedankengut Einzug gehalten hat; das
müssen wir gemeinsam feststellen.
({0})
Wer den Begriff „deutsche Christen“ verwendet und
nicht weiß, dass die Deutschen Christen der Teil der
evangelischen Kirche waren, der sich bei den Nazis angebiedert, sich ihnen unterworfen hat - im Gegensatz
zur Bekennenden Kirche, die Widerstand leistete -, der
zeigt nicht nur Geschichtslosigkeit, sondern ein gnadenloses Maß an Dummheit.
({1})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Heute ist ein guter Tag für Europa, weil wir die Demokratisierung durch die Parlamentarisierung durchsetzen. Es ist erfreulich, dass einer der Väter dieses Werkes,
Professor Jürgen Meyer, der den Bundestag in zwei
Konventen vertreten hat, heute bei uns ist; er sitzt auf der
Tribüne. Jürgen Meyer, herzlichen Dank für die Arbeit,
die du geleistet hast!
({2})
Was wir vollenden, wurde in der Regierungszeit von
Gerhard Schröder auf den Weg gebracht, und das ist
auch gut so.
Wir werden eine neue europäische Wahrhaftigkeit in
Parteipolitik in diesem demokratisierten Europa erleben.
Das heißt, dass wir weiterhin Kompromisse schließen
und neue Konsense stiften müssen, über Partei- und Ländergrenzen hinweg. Ein Beispiel dafür ist, dass EVP und
SPE für 2009 einen geschätzten polnischen Kollegen als
gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Präsidenten
des Europäischen Parlaments auf den Schild heben.
Das sollte auch der Deutsche Bundestag begrüßen. Es
zeigt auf der anderen Seite, dass es in Europa auch neue
Konflikte zwischen den Parteien gibt. Ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin. Der inoffizielle Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Elmar Brok, erklärte: Die Wiederwahl Berlusconis ist eine gute
Nachricht für die konservative Parteienfamilie in
Europa.
({3})
Die Wiederwahl von Silvio Berlusconi ist eine schlechte
Nachricht für alle europäischen, föderalistischen Demokraten.
({4})
Ich habe bisher nicht geglaubt, dass es für europäische Christdemokraten eine gute Nachricht sein kann,
dass wirtschaftliche und politische Macht in einem
Nachbarstaat in einer Hand vereint werden und dass eine
Pressekonzentration im öffentlichen und privaten Bereich stattfindet, wie sie mit unserer Verfassung unvereinbar wäre.
({5})
Ich habe mir auch nicht vorstellen können, dass die Beschimpfung und Delegitimierung von unabhängigen Gerichten jetzt zu einer Partei gehört, die Mitglied der
christdemokratischen Parteienfamilie in Europa ist. Das
Axel Schäfer ({6})
ist für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in
diesem Hause schlichtweg inakzeptabel.
({7})
Ich sage auch: Für uns ist heute - Kurt Beck hat zu
Recht darauf hingewiesen -, da wir den Vertrag von Lissabon ratifizieren, ein stolzer Tag, weil ein Teil unserer
geschichtlichen Identität - besser: unserer Visionen - zur
Wirklichkeit wird. Fast auf den Tag genau vor 63 Jahren
haben amerikanische Soldaten das KZ Buchenwald in
der Nähe von Weimar befreit. In diesem KZ haben demokratische Sozialisten, einige Liberale und fortschrittliche Konservative - auch die gab es - ein Manifest verabschiedet, in dem sie gesagt haben: „Wir wollen die
Vereinigten Staaten von Europa. Für Deutschland ist es
nach diesem Krieg das Wichtigste, dass wir eine Freundschaft mit unseren französischen und polnischen Nachbarn haben.“ Das gelingt ein Stück besser mit der Wirklichkeit dieses Vertrages, den wir heute ratifizieren.
({8})
Es ist gut, dass in dieser Woche zuerst der polnische
Sejmmarschall hier war und dass heute der französische
Außenminister, Bernard Kouchner, anwesend ist. Mit
ihm gemeinsam - ich freue mich, dass er hier ist - habe
ich fünf Jahre lang im Europäischen Parlament diese Arbeit leisten können. Herzlich willkommen!
({9})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
stimmen diesem Vertrag heute aus voller Überzeugung
zu, weil er die Staatsräson gemäß unserem Grundgesetz,
die in der Präambel niedergelegt ist, auf der europäischen Ebene Wirklichkeit werden lässt, wonach wir
Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa
dem Frieden der Welt dienen.
({10})
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgeset-
zes, Art. 23, 45 und 93. Der Innenausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8912,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8488 anzuneh-
men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/8924 vor, über den wir zuerst
abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände-
rungsantrag ist bei Zustimmung der Linken mit den rest-
lichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung
der Fraktion der Linken mit den restlichen Stimmen des
Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses
Gesetzentwurfs die Zustimmung von zwei Dritteln der
Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind
mindestens 408 Stimmen. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
wird Ihnen später mitgeteilt.
Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen nun zur
Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/8913, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7375 abzulehnen.
Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die
Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.1)
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der beiden bereits
durchgeführten namentlichen Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Ände-
rung des Grundgesetzes bekannt, Drucksachen 16/8488
und 16/8912: Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben ge-
stimmt 520, mit Nein haben gestimmt 8, Enthaltungen 49.
1) Ergebnis Seite 16479 C
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 576;
davon
ja: 519
nein: 8
enthalten: 49
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({10})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({11})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Bernward Müller ({14})
Bernd Neumann ({15})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({16})
Klaus Riegert
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({17})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({18})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({19})
Andreas Schmidt ({20})
Ingo Schmitt ({21})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({22})
Lena Strothmann
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({23})
Gerald Weiß ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({25})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding ({26})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({27})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gabriele Frechen
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Günter Gloser
Angelika Graf ({28})
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({29})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({30})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({31})
Frank Hofmann ({32})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({33})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({34})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({35})
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({36})
Michael Müller ({37})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({38})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({39})
Michael Roth ({40})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({41})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({42})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({43})
Silvia Schmidt ({44})
Heinz Schmitt ({45})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({46})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({47})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({48})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({49})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({50})
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({52})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({53})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({56})
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({57})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({58})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth ({59})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
DIE LINKE
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Georg Nüßlein
Marion Seib
Willy Wimmer ({60})
DIE LINKE
Heike Hänsel
fraktionslos
Enthaltung
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({61})
Volker Schneider
({62})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
fraktionslos
Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich
fest, dass die nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit, das heißt mindestens
408 Jastimmen, erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
({63})
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Grundgesetzes, Drucksachen 16/7375 und 16/8913, lautet:
Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 53, mit
Nein haben gestimmt 515, Enthaltungen 4. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 572;
davon
ja: 53
nein: 515
enthalten: 4
Ja
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({64})
Volker Schneider
({65})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Fraktionslose Abgeordnete
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({66})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({67})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({68})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({69})
Dirk Fischer ({70})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({71})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({72})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({73})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({74})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Karl A. Lamers
({75})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({76})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({77})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({78})
Stefan Müller ({79})
Bernward Müller ({80})
Bernd Neumann ({81})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({82})
Klaus Riegert
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({83})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({84})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({85})
Andreas Schmidt ({86})
Ingo Schmitt ({87})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({88})
Lena Strothmann
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({89})
Gerald Weiß ({90})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({91})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding ({92})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({93})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Günter Gloser
Angelika Graf ({94})
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({95})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({96})
Gerd Höfer
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Iris Hoffmann ({97})
Frank Hofmann ({98})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({99})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({100})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({101})
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({102})
Michael Müller ({103})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({104})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({105})
Michael Roth ({106})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({107})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({108})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({109})
Silvia Schmidt ({110})
Heinz Schmitt ({111})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({112})
Swen Schulz ({113})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({114})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({115})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({116})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({117})
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({118})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({119})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({120})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({121})
Volker Beck ({122})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({123})
Dr. Anton Hofreiter
Ute Koczy
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({124})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({125})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth ({126})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthaltung
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Willy Wimmer ({127})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Hans-Christian Ströbele
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem
Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007. Ich
weise darauf hin, dass uns einige Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung vorliegen.1) Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/8917, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/8300 anzunehmen. Ich weise darauf
hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit
Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses
Gesetzentwurfs jetzt bei der zweiten Beratung und
Schlussabstimmung die Zustimmung von zwei Dritteln
der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist. Das sind
mindestens 408 Stimmen.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union, Drucksache 16/8917, fort.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstim-
men der Linken angenommen.2)
Wir kommen nun zur Abstimmung über drei Ent-
schließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/8927? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der FDP mit den restlichen Stimmen
des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/8926? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist bei Zu-
stimmung der Linken mit den restlichen Stimmen des
Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8925? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten
Gesetzentwurf über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angele-
genheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für
1) Anlagen 3 und 4
2) Anlage 5
die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8919,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8489 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/8921? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist bei Zustimmung der Fraktion der Linken mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
ebenfalls mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Intransparenz beenden - Eine lesbare Fassung des Reformvertrags schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8920, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7446 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/8879 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss sowie an den Ausschuss für Arbeit und Soziales
zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich würde jetzt gerne noch das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt geben.
({128})
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von
Lissabon vom 13. Dezember 2007 bekannt: Abgegebene
Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 515, mit Nein haben gestimmt 58, Enthaltungen 1. Gemäß § 48 Abs. 3
unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die nach
Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2
des Grundgesetzes erforderliche Zweidrittelmehrheit,
das heißt mindestens 408 Jastimmen, erreicht ist. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 515
nein: 58
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({129})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({130})
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({131})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({132})
Dirk Fischer ({133})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({134})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({135})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({136})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({137})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Karl A. Lamers
({138})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({139})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer ({140})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({141})
Stefan Müller ({142})
Bernward Müller ({143})
Bernd Neumann ({144})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({145})
Klaus Riegert
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({146})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({147})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({148})
Andreas Schmidt ({149})
Ingo Schmitt ({150})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Thomas Strobl ({151})
Lena Strothmann
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({152})
Gerald Weiß ({153})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({154})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding ({155})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({156})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Günter Gloser
Angelika Graf ({157})
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({158})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({159})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({160})
Frank Hofmann ({161})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({162})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({163})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({164})
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({165})
Michael Müller ({166})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({167})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({168})
Michael Roth ({169})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({170})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({171})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({172})
Silvia Schmidt ({173})
Heinz Schmitt ({174})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({175})
Swen Schulz ({176})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({177})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({178})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({179})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({180})
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({181})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({182})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({183})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({184})
Volker Beck ({185})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({186})
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({187})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({188})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Claudia Roth ({189})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Silke Stokar von Neuforn
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Herbert Frankenhauser
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Georg Nüßlein
Marion Seib
Willy Wimmer ({190})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({191})
Volker Schneider
({192})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
Fraktionslose Abgeordnete
Gert Winkelmeier
Enthaltung
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
({193})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2008
- Drucksache 16/8750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({194})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({195})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Ministerin Dr. Annette Schavan.
({196})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht
2008 zieht Bilanz über 2007. Diese Bilanz zeigt: Dynamik in der Wirtschaft und Bewegung auf dem Arbeitsmarkt wirken sich positiv auf den Ausbildungsmarkt
aus. Mit rund 625 900 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen zum Stichtag 30. September 2007
wurde nicht nur erstmals seit 2001 die Marke von
600 000 wieder deutlich überschritten; es ist auch die
zweithöchste Vertragszahl seit der Wiedervereinigung.
({0})
Das ist auch das Ergebnis konsequenter Politik für
Wachstum und Beschäftigung.
Wer Wachstum und Beschäftigung fördert, fördert
die Zukunftschancen der jungen Generation, kommt
zu mehr Ausbildungsplätzen. Das ist die zentrale Botschaft des Berufsbildungsberichts 2008.
Die Zahl der neuen Verträge ist somit in den letzten
zwei Jahren um 75 800 gestiegen, die Zahl der zum
30. September unversorgten Bewerberinnen und Bewerber gegenüber dem Vorjahr um 41 Prozent auf
29 100 gesunken.
({1})
Das sind die zentralen Zahlen. Ich füge hinzu: Hinter jeder Zahl steckt ein junger Mensch mit seinen Talenten,
auch mit seiner Erwartung, am Ende der Schulzeit in die
nächste Phase seiner Bildungsbiografie einsteigen zu
können und von dieser Gesellschaft eine wirkliche
Chance zu bekommen. Deshalb war es richtig, dass wir
gemeinsam mit den Sozialpartnern, speziell der Wirtschaft, den Ausbildungspakt um weitere drei Jahre verlängert haben.
({2})
Einher mit dieser positiven Bilanz geht übrigens eine
Stimmung in den Unternehmen, die dafür gesorgt hat,
dass man sich in den Unternehmen nicht mehr allein mit
der Frage beschäftigt, wie man mehr Ausbildungsplätze
schaffen kann, sondern längst auch mit der Frage, wie
der eigene Fachkräftebedarf in Zukunft gedeckt werden kann. Das betrifft vor allem hochinnovative Unternehmen, das betrifft aber auch das Handwerk in
Deutschland. Alle spüren, wie wichtig es ist, jetzt wirklich jedem Jugendlichen eine Chance zu geben und Ausbildung für alle zu ermöglichen, weil der Fachkräftebedarf schon in wenigen Jahren deutlich ansteigen wird.
({3})
Die Gründe hierfür sind: Eine hohe Zahl von Arbeitnehmern wird in Rente gehen. Darüber hinaus ist bereits
deutlich ein Rückgang der Zahl der Schulabsolventen erkennbar. Schon in diesem Jahr werden rund 33 000 weniger Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen als
im vergangenen Jahr.
Die Bevölkerungsentwicklung und die anhaltende
Dynamik in der Wirtschaft führten zu erhöhtem Fachkräftebedarf. Das wird auch in diesem Jahr die Chancen
der Schulabsolventen weiter erhöhen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
({4})
Klar ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Es gibt nach wie vor Problembereiche, um die wir uns
mit unserer modernen Berufsbildungspolitik kümmern.
Erster Problembereich sind die Altbewerber. Bis ins
letzte Jahr hinein ist feststellbar: Die Hälfte, exakt
52 Prozent all derer, die sich um einen Ausbildungsplatz
bewerben, haben dies bereits mehrfach getan. Deshalb
ist es richtig gewesen, dass wir im Rahmen der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung hier mit der Einführung eines Ausbildungsbonus und der Erhöhung der
sozialpädagogischen Ausbildungshilfen einen besonderen Akzent setzen. Wir tragen somit an dieser wichtigen
Schnittstelle Sorge dafür, dass bis zum Jahre 2010 - das
ist das Ziel der Bundesregierung - jeder dieser Jugendlichen eine Chance auf reguläre Ausbildung bekommt.
({5})
Bereits in diesem Sommer können erste Verträge abgeschlossen werden.
Der zweite Problembereich liegt an der Schnittstelle
Schule/Ausbildung. Wir kennen die immer wieder geäußerten Hinweise auf mangelnde Ausbildungsreife. Es
ist wichtig, an der Schnittstelle, am Übergang von der
Schule in die Ausbildung, Jugendliche über unsere verschiedenen Institutionen und institutionellen Hilfen auch
ein Stück zu begleiten. Ich nenne das Stichwort Ausbildungspaten. Diese tragen Sorge dafür, dass diejenigen,
die noch nicht genügend vorbereitet sind oder die sich
noch nicht darüber im Klaren sind, was auf sie zukommt,
davon überzeugt werden, dass Aufstieg durch Bildung
geschieht, vor dem Aufstieg der Einstieg steht und der
Einstieg eigene Anstrengungen verlangt. So muss die
Begleitung von Jugendlichen aussehen.
({6})
Der dritte Problembereich ist die Durchlässigkeit.
Auch hier haben wir in der Qualifizierungsinitiative konkrete Initiativen ergriffen. Wir sagen aus Überzeugung:
Berufliche Bildung und Allgemeinbildung sind gleichwertig. Wir sagen aus Überzeugung vor allem mit Blick
auf andere europäische Länder: Berufliche Bildung, also
duale Ausbildung, ist das Flaggschiff unseres Bildungssystems.
({7})
Wir haben in Deutschland eine im europäischen Vergleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit, weil wir berufliche Bildung und diese Art der Fachkräfteausbildung
haben. Das ist beste Vorbeugung gegen Jugendarbeitslosigkeit.
({8})
Die Gleichwertigkeit muss sich auch im Zugang zu
weiteren Phasen der Bildungsbiografie erweisen. Deshalb gibt es ein Aufstiegsstipendium und eine Regelung
des Hochschulzugangs für diejenigen, die qualifiziert
aus der beruflichen Bildung kommen, die Meister oder
Techniker sind. Das ist der nächste wichtige Schritt, um
die Gleichwertigkeit noch einmal deutlich zu konkretisieren.
Jeder weiß, wir haben strukturschwache Regionen,
in denen Ausbildungskapazitäten nicht in dem erforderlichen Maße vorhanden sind. Dies mache ich an einer
Zahl deutlich: Alleine in den neuen Bundesländern sind
seit 1998 150 000 Ausbildungsplätze seitens des Bundes finanziert worden.
({9})
Bedingung für duale Ausbildung ist natürlich, dass
die strukturellen Voraussetzungen gegeben sind. Davon
können wir nicht überall ausgehen. Deshalb war es richtig, Jobstarter und anderes auf den Weg zu bringen, um
klarzumachen: Zukunftschancen der jungen Generation
müssen in allen Regionen Deutschlands vorhanden sein.
({10})
Frau Ministerin, der Kollege Seifert würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben vier Problemfelder benannt und nicht erwähnt, dass Menschen mit Behinderungen und andere benachteiligte Gruppen sehr große
Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Und wenn sie einen Ausbildungsplatz finden, dann
finden sie höchstens einen Sonderausbildungsplatz, was
dazu führt, dass die Übernahmemöglichkeiten wesentlich geringer sind. Wieso sehen Sie es nicht als Schwerpunkt Ihrer zukünftigen Arbeit an, dass dort etwas geändert werden muss?
Ich war ja noch nicht fertig.
({0})
Ich hatte vier Punkte genannt und war bei den strukturschwachen Regionen. Natürlich gibt es daneben eine
Menge weiterer Einzelprobleme, zum Beispiel die Frage
des Übergangs von sonderpädagogischen Einrichtungen
in entsprechende Einrichtungen der beruflichen Bildung.
Hier gibt es vor allem im Bereich der freien Träger eine
Menge erfolgreiche Initiativen. Ich bin davon überzeugt,
dass in Bezug auf den Fachkräftebedarf alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen. Unsere Förderprogramme schließen das ein. Es handelt sich also nicht um
einen Schwerpunkt, der neu gesetzt werden muss, sondern um einen, der, wenn Sie sich die Zuschusspolitik
anschauen, schon immer gesetzt war. Dies wurde natürlich regional unterschiedlich genutzt. Es ist unbestritten,
dass Menschen mit Behinderungen Probleme hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektiven haben. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Abgaben und die Abgabenpolitik. Zahlt man eine Abgabe, wenn man eine
bestimmte Quote nicht erreicht, oder ist es nicht wichtiger, zu sagen, die Abgabe ist der leichtere Weg gegenüber der tatsächlichen Bereitschaft, Menschen mit
Behinderungen einzustellen? Dazu steht die Bundesregierung. Es gibt eine Menge Initiativen, das zu fördern
und entsprechende Strukturen aufzubauen. Das ist unbestritten, und da besteht sicherlich auch Konsens in diesem Hause.
({1})
Meine Damen und Herren, in der Berufsbildungspolitik müssen wir neben dem, was wir national tun, was wir
jetzt in der Qualifizierungsinitiative umgesetzt haben
und was wir dabei sind, mit Blick auf „Dual mit Wahl“
umzusetzen, vor allem die europäische Arbeit - Berufsbildungs-PISA - in den Blick nehmen. Wir müssen in
den nächsten Jahren erreichen - das ist für den gemeinsamen Bildungsraum Europa wichtig -, dass das, wovon
wir hier überzeugt sind, in Europa entsprechend Anerkennung findet. Wir wollen, dass Auszubildende einen
Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Land absolvieren können. Wir wollen, dass das, was in Deutschland
Flaggschiff des Bildungssystems ist, auch im europäischen Vergleich die Anerkennung findet, die es braucht.
Deshalb halte ich es für richtig, dass wir uns in Deutschland auf das europäische Berufsbildungs-PISA einlassen
und uns aktiv und offensiv an dem europäischen Qualifikationsrahmen und analog einem Qualifikationsrahmen
in Deutschland beteiligen.
Vielen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Meinhardt,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Uns liegt wieder einmal ein Bericht vor, allerdings zum letzten Mal in dieser Form. In der Pressemitteilung des Ministeriums heißt es: künftig nur noch Daten, Trends, Bewertungen - Schluss. Wir sind sehr froh
darüber. Denn wir haben schon vor zwei Jahren hier angemerkt, dass es enorm wichtig ist, einen kurzen, prägnanten und knackigen Berufsbildungsbericht zu bekommen, und dass das ein wirklich guter Beitrag wäre.
Deswegen freuen wir uns, wenn das im Jahre 2009
- auch als eine Maßnahme des Bürokratieabbaus - endlich Realität wird.
({0})
Man darf ja am Beginn seiner Rede auch einmal etwas
Positives sagen.
({1})
Der Berufsbildungsbericht nämlich ist ein deutliches
Alarmsignal. Wenn Sie, Frau Ministerin, sagen, dass wir
mit 626 000 Ausbildungsverhältnissen, einem Plus von
50 000, seit 2001 zum ersten Mal wieder die 600 000erGrenze überschritten haben, dann ist das von den Zahlen
her richtig. Aber man muss auch hinter die Zahlen
schauen.
({2})
Wir müssen uns klarmachen, dass in diesem Jahr zuerst
einmal ein Aufwuchs in Höhe von 29 000 bei den außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen stattgefunden hat. Das
heißt, kein Aufwuchs in unserer Hauptförderlinie, sondern ein Plus bei den außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen. Der restliche Aufwuchs kommt in allererster
Linie in den Ländern Nordrhein-Westfalen - plus 14 Prozent -, Baden-Württemberg - plus 16 Prozent - und Niedersachsen zustande; in der Summe sind das
28 000 Ausbildungsplätze. Der Aufwuchs ist also in den
Ländern zu verzeichnen, in denen es bereits ein intelligentes Ausbildungsbonussystem gibt. Damit ist das
auch ein Erfolg der jeweiligen Landesregierung. Dem
geneigten Beobachter wird dabei wahrscheinlich nicht
entgangen sein, dass in all diesen Ländern liberale Wirtschafts- oder Innovationsminister in der Verantwortung
stehen.
({3})
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in allererster Linie müssen wir der Wirtschaft und dem Handwerk
dafür danken,
({4})
dass trotz des Abbaus von Arbeitsplätzen ein deutlicher
Aufwuchs bei den Ausbildungsplätzen erreicht werden
konnte. Dies ist ein dankenswerter Einsatz. Der Mittelstand steht zu seinem Wort.
({5})
Handlungsnotwendigkeiten gibt es einige. Im dritten
Jahr unserer Initiative steuern wir auf mehr als
50 Prozent Altbewerber zu, 385 000 in absoluten Zahlen. Anders formuliert: Im dritten Jahr der Altbewerber16488
misere kommt jetzt der erste Akt der Bundesregierung
mit dem sogenannten Ausbildungsbonus.
Ich sage ausdrücklich: Der Ausbildungsbonus ist
grundsätzlich eine gute Idee. Er muss aber intelligent angepackt werden. Wir alle haben gestern wieder die Kritik
des ZDH-Generalsekretärs vernehmen können, und zwar
in Bezug auf die Justierung der Zielgruppe der Altbewerber. Er sagt ganz klar: höchstens Realschulabschluss,
zwei Jahre ohne Ausbildungsplatz und lernbeeinträchtigt
oder sozial benachteiligt. In Baden-Württemberg haben
wir sogar gesagt: höchstens Hauptschulabschluss. Aber
was macht die Bundesregierung daraus?
({6})
Ich glaube nicht, dass das die richtige Zielrichtung ist;
vielmehr müssen wir näher justieren und besser bestimmen. Sie machen daraus: ein Jahr ohne Ausbildungsplatz
und Realschulnote Vier; damit sei man ein schlechter
Schüler, wenn man diese Note in Deutsch oder in Mathe
hat. Das heißt, mit der Note Ausreichend ist man nach
dieser Definition jemand, der zu den Altbewerbern zählen kann. Darüber hinaus stellt man die Entscheidung
vor Ort der Flexibilität der Arbeitsagenturen frei. Ich
glaube, dass das der falsche Weg ist.
({7})
- Nein, Herr Tauss, ich glaube, dass das wirklich der falsche Weg ist. Denn wir müssen genau beschreiben, wen
wir mit einer solchen Maßnahme erreichen wollen.
({8})
Warum haben wir es denn in Baden-Württemberg - das
ist ja immerhin unser beider Land - von 2005 auf 2006
geschafft, die Zahl der Altbewerber von 2 700 auf 700
zu reduzieren?
({9})
- Nein. Wir haben es geschafft, weil wir in BadenWürttemberg einen Ausbildungsbonus eingeführt haben,
der genau dieser Justierung entspricht: ein Jahr Wartezeit
und maximal Hauptschulabschluss, aber nicht mit Note
Vier. Mit einer so festgelegten Zielgruppe kann man effektiv arbeiten. Wir brauchen eine genaue Zielgruppendefinition. Gibt es sie nicht, können die entsprechenden
Maßnahmen die Betroffenen nicht erreichen.
({10})
Nebenbei bemerkt: Die Bundesregierung braucht für
die Finanzierung dieses Ausbildungsbonus pro Bewerber zwischen 4 000 und 6 000 Euro. In Niedersachsen
werden dafür zwischen 2 500 und 3 000 Euro benötigt.
Baden-Württemberg hat die Zahl der Altbewerber um
75 Prozent reduziert und zahlt 3 200 Euro aus. Ich weiß
wirklich nicht, warum die Bundesregierung fast den
doppelten Betrag pro Auszubildenden braucht. Zwei
Länder machen es vor, dass es mit ungefähr dem halben
Betrag funktionieren kann.
({11})
Wir dürfen einen zweiten großen Block nicht aus dem
Fokus verlieren, nämlich die vorbereitende Ausbildungsberatung, die unglaublich wichtig ist. Die Abbrecherquote bei der Ausbildung beträgt im Moment
25 Prozent; sie ist in diesem Bereich eine der höchsten
Quoten. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir
zu einer vorbereitenden und richtig justierenden Ausbildungsberatung kommen. Denn jeder Cent, der hier richtig angelegt ist, wird am Schluss gespart. Mit einer guten
Beratung kann man den Jugendlichen eine gute Perspektive geben.
Es ist wichtig, die Flexibilisierung voranzutreiben.
Das bedeutet eine große Vielfalt von Ausbildungsberufen. Wir müssen es hinbekommen - das Modell „Dual
mit Wahl“ ist schon angesprochen worden -, dass wir im
Rahmen einer intelligenten Modularisierung - Grundmodule, Kernmodule, Spezialmodule - zu einer flexibleren Vorgehensweise kommen. Das heißt aber definitiv
nicht, dass wir eine Atomisierung der Ausbildung wollen. Wir wollen aber auch keine Zentralisierung auf Teufel komm raus in Richtung auf immer weniger Ausbildungsberufe. Wir brauchen hier eine gewisse
Bandbreite. In dem Berichtszeitraum haben wir gemerkt,
dass die Dynamik bei Berufen mit einer zweijährigen
Ausbildungsdauer letztendlich dazu führt, dass es für
diejenigen, die einen Hauptschulabschluss haben, wieder
eine größere Perspektive gibt.
Schauen wir uns einmal die Steigungsraten bei den
Berufen mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer an:
Fachlagerist plus 33 Prozent, Maschinen- und Anlagenführer plus 33 Prozent, Teilezurichter plus 16 Prozent,
Verkäufer plus 15 Prozent.
({12})
All diese Berufe mit einer zweijährigen Ausbildungsdauer bieten den Schülern mit einem Hauptschulabschluss eine Perspektive.
({13})
Das ist dringend notwendig.
({14})
Wir Liberale sind der Überzeugung - dieser Punkt ist
für uns wichtig -: Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung bedeutet, dass
wir alle zu einem Imagewechsel unseren Beitrag leisten
müssen. Eine Ausbildung zu machen, ist etwas Gutes.
Diese Botschaft muss man an die jungen Menschen weitergeben. Ein größerer Stellenwert der beruflichen Ausbildung tut unserem Land deswegen gut, weil diejenigen, die über die Ausbildung in das Berufsleben
eintreten, etwas mitbringen, was unser Land dringend
braucht: eine Kultur der Selbstständigkeit.
Vielen Dank.
({15})
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Willi
Brase das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über den Berufsbildungsbericht.
Ich möchte aber zu Beginn eine Initiative von jungen
Menschen, von Landesschülervertretungen und von jungen Gewerkschaftern erwähnen, die das Grundrecht
auf Ausbildung einfordern. Für die SPD-Fraktion ist
diese Initiative eine weitere Ermutigung, sich für die
Schaffung von qualifizierten Ausbildungsplätzen in ausreichender Zahl einzusetzen. Für uns ist diese Initiative
Handlungsauftrag; denn die jungen Leute drücken damit
aus, dass sie auch zukünftig eine qualifizierte Ausbildung wollen. Deshalb werden wir uns weiterhin dafür
einsetzen.
({0})
Die Ministerin, Frau Schavan, hat deutlich auf die
Zahlen und die Entwicklung hingewiesen. Ich will sie an
einer Stelle etwas ergänzen: Auch wir nehmen positiv
zur Kenntnis, dass es neben den neuen eingetragenen
Ausbildungsverhältnissen im Bereich BBiG und HwO
noch 120 000 junge Leute gibt, die in einer Ausbildung
nach Landesrecht - und nicht nur zwei Jahre, sondern
vielfach auch drei Jahre - tätig sind. Wer sich den Berufsbildungsbericht genau anschaut, wird sehen, wie
viele hochqualifizierte Ausbildungen dort durchgeführt
werden. Das zählt mit dazu. Man könnte sagen: Wir bieten jährlich in der Bundesrepublik weit über
700 000 gute und vernünftige Möglichkeiten für die jungen Leute an. Das ist richtig so.
({1})
In der Debatte wird häufig auch die Frage der Ausbildungsreife angesprochen; das war hier immer Thema
und wird es auch zukünftig bleiben. Die SPD-Fraktion
sagt: Wir brauchen die Berufsorientierung und Berufsvorbereitung nicht nur für besonders betroffene Gruppen, wie das derzeit häufig noch der Fall ist, sondern
wollen sie für alle. Wir wollen keine Stigmatisierung
einzelner Gruppen mehr, die am Ausbildungsmarkt nicht
zurande kommen, sondern für alle in diesem Land eine
vernünftige Berufsorientierung.
({2})
Deshalb halten wir es auch für richtig, dass ein entsprechendes Programm für Schülerinnen und Schüler
mit Mitteln in Höhe von 15 Millionen Euro in Zusammenhang mit den überbetrieblichen Ausbildungsstellen
des Handwerks und der Industrie auf den Weg gebracht
wird und dass die gesetzlich vorgesehene Finanzierung
von 50 : 50 geregelt ist. Ich sage hier sehr deutlich:
Wenn dieses Programm gut angenommen wird, wenn
jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern nicht nur
von der Hauptschule, sondern möglicherweise auch von
anderen Schultypen 14 Tage lang eine Orientierung, was
Beruflichkeit, Branchenentwicklung in der Region und
Perspektiven angeht, gegeben wird und dieses Programm gut umgesetzt wird, dann ist dies eine Aufforderung, das in Zukunft für alle auf den Weg zu bringen.
({3})
In der letzten Sitzungswoche haben wir über den
Ausbildungsbonus diskutiert. In diesem Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, dass wir in der Benachteiligtenförderung, was die Berufsausbildungsvorbereitung angeht, immer noch eine Vielfalt von
Maßnahmen haben. Wer sich den Berufsbildungsbericht
genau ansieht, wird feststellen, dass es jede Menge Landesprogramme gibt. Wir haben manche ESF-geförderten
Programme. Wir haben das BVJ und das BGJ bis hin zu
den Programmen der Agentur für Arbeit.
Wir halten den Beschluss des Hauptausschusses des
Bundesinstituts für Berufsbildung, eine nationale Bildungsinitiative im Sinne eines Schul- und Berufsabschlusses für alle zu starten, für absolut richtig; denn er
enthält gute Vorschläge. Wir wollen den Lernort Betrieb
stärker mit einbeziehen. Dazu gibt es gute konkrete Beispiele. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist; denn
mit einer vernünftigen Berufsorientierung und einer vernünftigen Berufsvorbereitung stärken wir das Selbstwertgefühl der jungen Menschen. Wir brauchen ausbildungsbegleitende Hilfen. Diese weiten wir aus. Wir
werden Abbrüche vermeiden. Die Antrags- und Durchführungsbestimmungen müssen entrümpelt werden. Ich
glaube, dieser Initiative gebührt der entsprechende Respekt.
({4})
Die duale Ausbildung in der Bundesrepublik
Deutschland lebt davon, dass wir auf vielen Ebenen eine
gute Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten haben.
Es ist richtig, wenn wir sagen: Diese Zusammenarbeit zu
hegen und zu pflegen, ist nicht verkehrt. Gerade bei der
Neuordnung von Ausbildungsordnungen haben wir über
Jahrzehnte von dieser guten Zusammenarbeit gelebt.
Wenn die Fachverbände gemeinsam Ausbildungsordnungen entwickeln und sie dann im Konsens mit der
Bundesregierung und dem Verordnungsgeber durchsetzen, dann war und ist das ein guter Weg. Es ist aber nicht
so gut, wenn der Verordnungsgeber bei der einen oder
anderen Ausbildungsordnung dieses Prinzip gegen den
Willen der Fachverbände verlässt.
({5})
Deshalb ist unsere Bitte an das Wirtschaftsministerium,
die Praxis an dieser Stelle etwas zu überprüfen. Die
Konsensbildung in der beruflichen Bildung ist ein so hohes Gut, dass wir es nicht leichtfertig aufs Spiel setzen
dürfen. Das wäre der falsche Weg.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, CDU/CSU,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, haben in der
letzten Legislaturperiode zu diesem Thema einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir gefordert ha16490
ben, dass da, wo es im Verfahren klemmt, möglicherweise ein Schlichtersystem eingeführt wird. Ich will das
heute ausdrücklich anmahnen, weil ich glaube, das ist
der bessere Weg.
({7})
Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte. Unser Ziel
muss es sein, Partner und Strukturen vor Ort zu stärken
sowie das Berufsprinzip beizubehalten. Wir müssen dafür sorgen, dass die jungen Leute das erhalten, was sie
wollen, nämlich eine qualifizierte Ausbildung, die ihre
Beschäftigungsfähigkeit fördert, die einen Einstieg in
den Beruf und eine Zukunftsperspektive bietet.
In diesem Zusammenhang führen wir auch eine Debatte über die zweijährige Ausbildung. Wer sich den Berufsbildungsbericht genau anschaut, wird feststellen,
dass einige dieser zweijährigen Ausbildungsgänge inzwischen nur noch gerade einmal 10, 15 oder 20 Ausbildungsverhältnisse vorweisen. Wenn wir in Richtung
„Berufsfamilie“ gehen wollen, was wir bejahen und für
richtig halten, dann sollten wir auch die zweijährigen
Ausbildungsordnungen überprüfen. Ich glaube, sie sind
fehl am Platz und bieten keine vernünftige Zukunftsperspektive für die jungen Leute.
({8})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Berufsbildungsbericht - das ist eben schon angesprochen worden - ein
Stück weit verändert wird. Wir gehen davon aus, dass
die Vorschläge des Hauptausschusses mit diesen Änderungen in Einklang stehen. Der Ausschuss hat gefordert,
dass der Berufsbildungsbericht einen politischen Teil erhält, der auch klare politische Aussagen enthalten soll.
Das ist Aufgabe der Bundesregierung; daran sollte man
nicht vorbeigehen. Inhaltlich sollte er gestrafft und thematisch so aufgebaut werden, dass die Schwerpunkte
noch deutlicher und noch schneller zu erkennen sind.
Außerdem sollte die Präsentation verbessert und damit
die Nutzerfreundlichkeit gesteigert werden. In diesem
Sinne sollten wir tätig werden. Die SPD-Fraktion wird
diese Bemühungen unterstützen.
({9})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wir bitten
darum, dass man sich die Initiativen, die in den einzelnen Regionen im Bereich der beruflichen Bildung auf
den Weg gebracht wurden und als präventives Handeln
verstanden werden können, genau anschaut und unterstützt. Einige Initiativen führen zu einer Verbesserung.
Ich habe sie hier, im Plenum, schon mehrfach erwähnt.
In Nordrhein-Westfalen haben wir ein Projekt auf den
Weg gebracht, um die Vielfalt der eben angesprochenen
Maßnahmen im Übergangsbereich ein Stück weit in
den Griff zu bekommen. Häufig ist es so, dass den jungen Leuten, die zur Berufsberatung in die Agentur für
Arbeit kommen, ein Angebot gemacht wird, das sie nicht
genau nachvollziehen können. Der eine wird in Richtung
Schule - BVJ oder BGJ, das ausläuft - geschickt, der andere erhält eine Maßnahme der Agentur für Arbeit, und
der Dritte kommt in eine vom ESF geförderte Maßnahme und erhält mehr Geld. Diese Zufälligkeit und
diese Vielfalt der Maßnahmen haben wir in einem symbolischen Projekt aufgelöst. Wir haben sozusagen alles
in einen Topf geschüttet. Vor Ort soll nun geschaut werden, was der einzelne braucht. Das ist Individualisierung
im positiven Sinne, um den Wünschen der jungen Leute
besser gerecht werden zu können.
({10})
Ich glaube, dass dieses Projekt richtig ist. Es wird in drei
Regionen Nordrhein-Westfalens durchgeführt. Ich
würde mich freuen, wenn wir dieses Projekt bundesweit
übernehmen, wenn die Ergebnisse gut sind.
Die berufliche Bildung in Deutschland ist nicht nur
dazu da, Versorgung auf den Weg zu bringen. Die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung, vor allem die
qualitative Weiterentwicklung, ist ein Aspekt von Innovation. Und weil das so ist, müssen wir die berufliche
Bildung nach vorne bringen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nele Hirsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung! Mit Ihrer Berufsbildungspolitik schaffen Sie keine
Zukunft, wie Sie hier behauptet haben, Frau Ministerin,
sondern zerstören sie.
({0})
In erster Linie merken das die betroffenen Jugendlichen. Herr Brase, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen wollen
und deshalb eine Petition gestartet haben, mit der sie fordern, dass das Recht auf Ausbildung im Grundgesetz
verankert wird.
({1})
Am Dienstag wurde die Petition übergeben. Viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Parlament waren dabei. Mehr als 72 000 Unterschriften sind zusammengekommen. Quer durch alle Fraktionen - mit Ausnahme
der FDP, die leider nicht vertreten war - wurde gesagt:
Ja, das ist ein richtiges und wichtiges Anliegen.
Heute diskutieren wir über den Berufsbildungsbericht
2008. Dieser Bericht ist ein deutlicher Beleg dafür, wie
die Bundesregierung dieses von den Jugendlichen geforderte Grundrecht mit ihrer Politik mit Füßen tritt. Wenn
Sie, Herr Kollege Brase, Ihre schönen Worte vom Dienstag, die Sie hier wiederholt haben, ernst nehmen würden,
dann dürften Sie nicht auf ein „Weiter so!“ setzen, sondern müssten für eine klare Abkehr von der bisherigen
Berufsbildungspolitik eintreten.
({2})
Stattdessen hören wir die üblichen hohlen Phrasen:
Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt habe sich entspannt, der Ausbildungspakt sei ein Erfolg, und die Bundesregierung habe im letzten Jahr neue, innovative Impulse auf den Weg gebracht. Alle drei Behauptungen
sind falsch. Alle drei Behauptungen sind auch eine Veralberung der jungen Menschen und der 72 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Petition für ein
Grundrecht auf Ausbildung.
({3})
Lassen Sie mich zunächst auf Ihre erste Behauptung
eingehen: auf die angebliche Entspannung auf dem
Ausbildungsmarkt. Ich kann nur wieder einmal an Sie
appellieren, sich den Berufsbildungsbericht jenseits der
Schönfärberei der Bundesregierung einmal genauer anzusehen und folgende Zahlen zur Kenntnis zu nehmen:
385 000 Jugendliche in diesem Land tragen den Stempel
Altbewerberin bzw. Altbewerber. Allein im letzten Jahr
konnten 100 000 Jugendliche ihren Ausbildungswunsch
nicht realisieren. Nur noch 24 Prozent der Betriebe bilden aus. Nicht einmal jeder dritte Jugendliche mit Migrationshintergrund findet einen Ausbildungsplatz. Es
kommt zu zusätzlichen Benachteiligungen von Frauen
und - darauf hat mein Kollege Ilja Seifert hingewiesen von jungen Menschen mit Behinderung. Das ist wahrlich
keine Entspannung. Vor allem ist das alles andere als ein
Grundrecht auf Ausbildung.
({4})
Herr Kollege Brase, wenn Sie die Forderung dieser
Petition unterstützen, dann müssen Sie für das politische
Ziel eintreten, das die Linke schon seit Jahren verfolgt:
({5})
Alle jungen Menschen müssen das Recht auf ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen haben.
({6})
Ihre zweite Behauptung lautet: Der Ausbildungspakt
ist ein Erfolg. Auch hierzu sagt die Linke deutlich Nein.
Richtig ist: Der Ausbildungspakt ist einer der Gründe für
die heutige Misere. Gerade durch diesen Pakt - Herr
Tauss, Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln ({7})
wurde den Betrieben die Legitimation verschafft, sich
aus ihrer Verantwortung für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zurückzuziehen. Das wird daran deutlich, dass die Quote der betrieblichen Ausbildung Jahr
für Jahr gesunken ist.
Frau Kollegin, der Kollege Hinsken würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte sie nicht zulassen.
Nein, sie möchte sie nicht zulassen.
({0})
Ich möchte insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen appellieren - da der Ausbildungspakt vor allem auf Sie zurückgeht -, endlich zuzugeben, dass der Ausbildungspakt für Sie in Wahrheit nur
der Vorwand war, damit Sie sich von Ihrer Forderung
nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage verabschieden konnten.
({0})
Sie hatten nicht den Mut, sich den Unternehmen in den
Weg zu stellen und ihre Verantwortung für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einzufordern. Die Gewerkschaften beteiligen sich an diesem staatlich legitimierten Ausbildungsabbau nach wie vor nicht. Sie
fordern wie die Linke: weg mit dem Ausbildungspakt
und her mit einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage!
({1})
Ihre dritte Behauptung, die Bundesregierung habe im
letzten Jahr innovative Vorschläge zur Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems vorgelegt, ist ebenfalls falsch. In Ihrer Qualifizierungsinitiative und in den
Leitlinien des Innovationskreises sind erstens lediglich
Ankündigungen ohne jedes Fundament enthalten. Da lesen wir von einem Berufsbildungs-PISA, von einer besseren Benachteiligtenförderung und von der Öffnung des
Zugangs zu Hochschulen auch für die berufliche Bildung. All diese Ziele sind richtig. Wie Sie konkret vorgehen wollen, das sagen Sie aber nicht.
({2})
Auf der anderen Seite machen Sie Vorschläge, die
eindeutig unsozial sind. Das beste Beispiel ist hier der
Ausbildungsbonus, den Sie planen und über den wir in
der letzten Sitzungswoche diskutiert haben. Das Problem ist nicht allein, dass die Unternehmen damit für ihren jahrelangen Rückzug aus der Bereitstellung von
Ausbildungsplätzen auch noch belohnt werden.
({3})
Nein, es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Mit der
Einführung eines Ausbildungsbonus unterstützen Sie die
Schmalspurausbildung. Wenn ein Unternehmer für eine
dreijährige und für eine zweijährige Ausbildung die gleiche Prämie erhält, dann wird er sich natürlich für eine
zweijährige Ausbildung entscheiden; das ist ganz klar.
Das ist Schmalspurausbildung per Gesetz. Auch dazu
sagt die Linke Nein.
({4})
Bei der Petitionsübergabe hat einer der Jugendlichen
etwas sehr Wichtiges gesagt. Ich möchte ihn hier deshalb
zitieren: Ein Recht auf Ausbildung ist für die Zukunft
von uns Jugendlichen sehr wichtig, und die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diese Forderung. Ich
verstehe nicht, warum sich nicht auch im Bundestag dafür eine Mehrheit findet. - Die ehrliche Antwort auf
diese Frage wäre, dass die Mehrheit im Bundestag die
Interessen der Unternehmen vertritt und eben nicht die
Interessen der Mehrheit der Gesellschaft und deshalb
auch nicht die Interessen der ausbildungsplatzsuchenden
Jugendlichen.
({5})
Sie haben nicht den Mut, das zuzugeben. Die Linke
macht bei dieser Politik nicht mit. Wir sagen nicht „Weiter so“ und instrumentalisieren die Petition für ein
Grundrecht auf Ausbildung als ein Ja zur bisherigen Berufsbildungspolitik, sondern wir sehen sie als das, was
sie ist, als ein klares Nein zu dem, was bisher in der Berufsbildungspolitik passiert ist, und ein klares Nein zu
Ihrer unsozialen Politik. Die Jugendlichen haben unsere
Unterstützung.
Besten Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
tatsächlich eine leichte Verbesserung auf dem Ausbildungsmarkt,
({0})
die auch der Konjunktur geschuldet ist;
({1})
das ist sicherlich richtig. Trotzdem dürfen wir uns und
die Jugendlichen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
noch lange nicht über dem Berg sind und dass wir in der
Berufsausbildung nach wie vor strukturelle Probleme
haben. Es sind nicht nur konjunkturelle Probleme, die
verhindern, dass Ausbildungsplätze geschaffen werden.
Frau Hirsch, es geht bei der Entscheidung, ob Betriebe
ausbilden oder nicht, nicht allein ums Geld. Vielmehr
muss man sich die Strukturen anschauen. Aus diesem
Grund ist Ihr ewig gleicher Vorschlag einer Ausbildungsplatzumlage nicht das Allheilmittel. Deswegen haben wir uns damals anders entschieden.
({2})
Natürlich kann man den Ausbildungspakt kritisieren. Auch wir tun das, aber aus anderen Gründen. Es
stimmt nicht, dass mit dem Pakt nichts erreicht wurde.
Damit wurde etwas erreicht, aber die Ziele sind uns nicht
ambitioniert genug. Man muss nicht nur neue, sondern
auch zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, weil
bisher nicht diejenigen gegengerechnet werden, die wegfallen. Das ist unter anderem ein Problem.
({3})
Natürlich müssen in den Ausbildungspakt noch andere Unternehmen als die kleinen und mittleren Unternehmen aufgenommen werden, die auch in den letzten
Jahren dankenswerterweise viele Ausbildungsplätze geschaffen haben. Man muss auch sagen: Wir stehen deswegen in diesem Jahr besser da, weil es viele außerbetriebliche Ausbildungsplätze gibt; Herr Meinhardt hat
darauf hingewiesen. Das heißt, auch die öffentliche
Hand ist eingestiegen. Das ist in diesem Fall nicht
schlecht. Trotzdem müssen wir sehen, dass es nicht nur
im dualen System neue Ausbildungsplätze gegeben hat,
sondern auch außerbetriebliche Ausbildungsplätze. Wir
stellen höhere Anforderungen an die Wirtschaft, die immer wieder den Fachkräftemangel beklagt. Ihr müssen
wir klar und deutlich sagen, dass sie ausbilden und für
ihren Nachwuchs sorgen muss.
({4})
Ich jedenfalls lasse mir als einer Abgeordneten, die
schon seit 20 Jahren - zunächst in einem Landesparlament - Berufsbildungspolitik für die Jugendlichen macht
und die als eine der wenigen und auch im Gegensatz zu
Ihnen eine berufliche Ausbildung hat, nicht vorwerfen,
dass mich dieses Thema nicht kümmert. Das brauche ich
mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, Frau Hirsch.
({5})
Wir müssen über die Zukunft reden. Das künftige
Jahr wird als schwierig prognostiziert. Im Berufsbildungsbericht wird damit gerechnet, dass etwa 1 Million
junger Menschen inklusive Altbewerber und Schulabbrecher einen Ausbildungsplatz suchen werden. Ihnen
steht voraussichtlich ein Angebot von 620 000 Ausbildungsplätzen gegenüber. Diese Lücke schließt man nicht
mit einem Ausbildungsbonus, der auch noch Mitnahmeeffekte produziert.
Priska Hinz ({6})
({7})
Wir müssen das Hauptproblem sehen: Wir haben zu wenig Ausbildungsplätze, und wir haben ein zu großes
Übergangssystem. 43 Prozent der Jugendlichen landen
in einem Schulberufssystem, das keinen Abschluss bietet, oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen und in
sonstigen Qualifizierungsmaßnahmen, die keinen Abschluss bieten. Was antwortet uns die Regierung auf
unsere Anfrage, was sie gegen diesen Wildwuchs im
Übergangssystem macht? Sie hat uns geantwortet, dass
es sich im Übergangssystem um Jugendliche handelt,
deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung
in einem anerkannten Ausbildungsberuf noch nicht erwarten lässt.
Das ist entweder bare Unkenntnis oder Ignoranz oder
Zynismus.
({8})
Man kann doch nicht sagen, dass 43 Prozent der Jugendlichen nicht ausbildungsreif sind. Da müssten Sie eigentlich nacharbeiten, Frau Schavan.
Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Das
Übergangssystem muss dahin gehend verändert werden,
dass jeder Ausbildungsschritt zu einer anerkannten Qualifikation führt, die in einer Ausbildung angerechnet
wird. Nur dann werden wir das Problem verringern, dass
die jungen Menschen im Schnitt 20 Jahre alt sind, wenn
sie mit einer Ausbildung beginnen. 20 Jahre - und dann
reden wir über das G 8 und eine Verkürzung der Studienzeiten! Scheinbar interessiert es uns aber nicht, dass
junge Leute erst mit 20 eine Berufsausbildung beginnen.
Das ist eine Verschwendung von Lebenszeit, eine Dequalifizierung von jungen Leuten, die wir uns sozial und
ökonomisch nicht leisten können.
({9})
Wir Grünen wollen integrierte Maßnahmen statt
immer nur eins drauf: Ausbildungsbonus, EQJ, neue Berufsorientierungsprogramme in überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Berufsvorbereitende Maßnahmen müssen auf jene konzentriert werden, die sie wirklich nötig
haben, weil sie noch nicht ausbildungsreif sind. Dazu gehört, dass das Dickicht der Vorbereitungs- und Qualifizierungsmaßnahmen von Bund, Ländern, Kommunen
und BA gelichtet wird. Das, Frau Schavan, wäre eine
Aufgabe für die Nationale Qualifizierungsinitiative.
Zweitens. Die im Übergangssystem erworbenen
Kompetenzen müssen zertifiziert und anerkannt werden.
Keine Berufsfachschule darf ohne Abschluss enden.
BVJ, BGJ und wie sie alle heißen führen ins Nirwana,
sie machen die jungen Leute schulmüde und führen
dazu, dass die jungen Leute keine Lust mehr auf Ausbildung haben.
Drittens. Alle ausbildungsreifen Jugendlichen müssen
eine vollwertige Ausbildung absolvieren können. Wir
schlagen vor, die duale Ausbildung um öffentlich bereitgestellte Ausbildungsplätze zu ergänzen, die in einer
stärkeren Kooperation von Berufsschulen, überbetrieblichen Zentren und Betrieben entstehen sollen. Das ist
keine klassische duale Ausbildung; aber es ist nach
dem Prinzip der dualen Ausbildung - auf das es uns ankommt - aufgebaut: starke Praxisverschränkung mit theoretischer Ausbildung.
Viertens. Wir brauchen mehr Produktionsschulen.
Hamburg ist ein super Beispiel: In Hamburg sollen mehr
Produktionsschulen eingerichtet werden, bei denen das
BVJ und das BGJ integriert werden, also die Berufsvorbereitung in einen Abschluss mündet. Diese Schulen haben viel höhere Erfolgsquoten.
Fünftens. Wir brauchen eine Berufsorientierung, die
nicht nur zwei Wochen in drei verschiedenen Berufsfeldern bedeutet, wir brauchen eine Berufsorientierung an
den allgemeinbildenden Schulen, von Anfang an und
- am heutigen Girls’ Day kann ich das deutlich sagen genderorientiert; denn die Frauen haben immer noch das
eingeengte Berufswahlspektrum ihrer Mütter und Großmütter im Kopf.
Das sind strukturelle Vorschläge, mit denen wir, wie
wir glauben, Verbesserungen erreichen können. Spätestens wenn der nationale Bildungsbericht vorgelegt wird,
Frau Kollegin!
- werden wir dieses Thema wieder auf der Tagesordnung haben.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Grundrecht auf Ausbildung ist ein interessantes
Thema. In unserer Verfassung ist die freie Berufswahl
festgelegt. Die freie Berufswahl ist ein wirksames und
wichtiges Instrument. Ich denke, dass auch die jungen
Menschen, die heute Teilnehmer an dieser Debatte sind,
wissen: Es geht hier nicht um Worte, sondern um Taten.
Wir müssen zwischen der Politik, den Akteuren in der
Ausbildung, den Sozialpartnern, der Wirtschaft und den
Gewerkschaften eine Allianz für Bildung schmieden, damit Fakten gesetzt und nicht nur Worte gesprochen werden.
Der Berufsbildungsbericht enthält drei Botschaften,
die mir heute wichtig sind:
Erste Botschaft. Die Ausbildung folgt, wenn auch
zeitversetzt, dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich die Jahre
2005 und 2008 anschaut, dann stellt man Folgendes fest:
Im März 2005 hatten wir 5,2 Millionen Arbeitslose. Wir
haben darüber diskutiert, ob die 6 Millionen erreicht
werden. Wie reagiert ein Land, Deutschland, das, wie in
der Weimarer Zeit, unweigerlich auf 6 Millionen Arbeitslosen zumarschiert? Kann man überhaupt noch
Vollbeschäftigung erreichen? Im März 2008 hatten wir
3,5 Millionen Arbeitslose. Das heißt, die Zahl der Arbeitslose ist von 2005 bis 2008 um 1,7 Millionen gesunken.
({0})
Zum Vergleich: 2005 wurden jeden Tag 2 000 Arbeitsplätze vernichtet, heute werden unter dem Strich jeden Tag 1 400 Arbeitsplätze neu geschaffen. Die Zahl
der Erwerbstätigen beträgt 40 Millionen. Das heißt, im
Vergleich zu 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen um
etwa 1 Million angestiegen. Wir können wieder realistisch - wenn auch in die Zukunft gerichtet - über die
Vollbeschäftigung diskutieren. Das heißt, die Lage hat
sich insgesamt verbessert.
Auch die Zahl der Ausbildungsplätze entwickelt sich
so wie die Zahlen auf dem Arbeitsmarkt. Das erkennt
man an der Zahl der Arbeitslosen bis zu 25 Jahren. Auch
diese Zahl sank, nämlich von 665 000 auf 364 000. Das
ist ein Rückgang um 45 Prozent. Wenn man auch die
Ausbildungsplätze mitzählt, die nicht besetzt werden
können, haben wir ein Ausbildungsplatzangebot von
644 000. Auch das ist ein Spitzenstand seit der deutschen Einheit. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren
eine duale Ausbildung. 1,5 Millionen Auszubildende befinden sich in 500 000 Ausbildungsbetrieben, die sich
verantwortlich im Sinne der Verfassung unserer Gesellschaft für junge Menschen engagieren. 85 Prozent dieser
Ausbildungsplätze stellt der Mittelstand; sie befinden
sich also bei den kleinen und mittleren Unternehmen.
({1})
Kluge Unternehmer, die weiter denken als bis zum
nächsten Golfplatz, wissen, dass sie nicht nur in Maschinen, sondern auch in Menschen investieren müssen.
({2})
Zweite Botschaft des Berufsbildungsberichtes. Wir
schaffen Brücken statt Warteschleifen. Bis 2002 wurden im von uns kritisierten JUMP-Programm Ersatzmaßnahmen finanziert - mit insgesamt 5,2 Milliarden
Euro. Durch Einstiegsqualifizierungen, wie das Sonderprogramm EQJ, haben wir jetzt erreicht, dass die Weitervermittlung bei 75 Prozent liegt, während sie beim
JUMP-Programm bei 30 Prozent lag. Das heißt, wir haben eine erfolgreiche Brücke in den Arbeitsmarkt gebaut. Das spart Geld, aber auch Lebenszeit der jungen
Menschen.
Ähnlich wie das Sonderprogramm EQJ und andere
Einstiegsqualifizierungen wird auch der Ausbildungsbonus seine Wirkung als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt
mit Sicherheit erfüllen. Es gibt 385 000 Altbewerber.
Natürlich müssen mit dem Ausbildungsbonus klare Kriterien verbunden sein - darüber werden wir miteinander
sprechen, bevor er letztendlich verabschiedet wird -:
Man muss länger als zwölf Monate aus der Schule entlassen sein und mehrere erfolglose Bewerbungen geschrieben haben, es muss ein zusätzlicher Ausbildungsplatz sein, und ein Vermittlungshemmnis gehört auch
dazu. - Ich denke, dass auch eine Verrechnung von Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus - also kein
Entweder-oder - möglich sein muss.
({3})
Dies werden wir im parlamentarischen Verfahren entsprechend den Kriterien der Arbeitergeber, der Kammern und des DGB gemeinsam verhandeln, um dann mit
dem Ausbildungsbonus ein gutes Konzept aufbauend auf
dem EQJ zu verabschieden.
Dritte Botschaft. Wir sind noch nicht am Ziel.
1,57 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre sind ohne
eine berufliche Qualifizierung. Das ist allerdings eine
Zahl von 2005, die jetzt in den Berufsbildungsbericht
aufgenommen worden ist. Jeder Dritte davon hat einen
ausländischen Hintergrund.
Wir müssen auch einmal mit der mystischen Überhöhung der Hartz-Arbeitsmarktreformen aufhören. Meine
Erfahrung ist, dass die Berufsberatung kurz- und kleingeschossen wurde. Es ist gut, dass wir gemeinsam in der
Großen Koalition mit der Berufsberatung wieder einen
wichtigen Punkt gesetzt haben.
({4})
Das hat die Konsequenz, dass dem aktuellen Berufsbildungsbericht zufolge die Abbrecherquote - anders, als
es Kollege Meinhardt dem älteren Bericht entnommen
hat - in den letzten Jahren von 25 Prozent auf
19,8 Prozent gesunken ist. Das bedeutet in absoluten
Zahlen 45 000 weniger junge Menschen, die eine Ausbildung abbrechen, als noch vor wenigen Jahren.
Wir brauchen gerade auch für junge Menschen ausländischer Herkunft ein Gutscheinsystem für ausbildungsbegleitende Hilfen, damit sie bereits bei der Bewerbung Gutscheine für die Sprachförderung und andere
Möglichkeiten vorlegen können. Dies wird auch die Förderpraxis verbessern.
Der Berufsbildungsbericht zeigt, dass Arbeitsmarkt
und Ausbildung in Bewegung sind. Die Große Koalition
baut Brücken. Wir nähern uns dem Ziel: Arbeit und Ausbildung für alle.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Linke bemüht sich konsequent
und krampfhaft darum, die Fakten und die Realität zu
verdrängen und möglichst schnell zu verwischen. Fakt
sind 640 000 neue Ausbildungsplätze,
({0})
von denen 76 000 in den letzten zwei Jahren entstanden
sind. Das muss man berücksichtigen, und dafür muss
man sich auch einmal bedanken. Daran waren die Handwerksbetriebe ebenso beteiligt wie die Industriebetriebe.
Für Einstiegsqualifizierungen wurden 43 000 Plätze zur
Verfügung gestellt. Damit werden von der Bundesregierung benachteiligte Jugendliche gefördert. Das ist ein
optimales Programm.
Die Ausbildung für Behinderte wurde bereits angesprochen. Es gibt Schulen für blinde Menschen, in denen
in hervorragender Weise duale Ausbildungen vermittelt
werden.
Die eigentliche Botschaft des Berufsbildungsberichts
2008 lautet: Wir brauchen einen jeden Jugendlichen für
die Entwicklung unserer Industrie und unseres Handwerks.
({1})
Genau deshalb beschäftigt sich der Berufsbildungsbericht auch mit Problemen. So ist unter anderem festgestellt worden: Je schlechter das Zeugnis ausfällt und je
älter die Jugendlichen sind, desto schlechter sind die
Möglichkeiten des Einstiegs in einen Ausbildungsplatz
oder am Ausbildungsmarkt. Wir wollen aber jedem ausbildungswilligen Jugendlichen eine Chance bieten. Die
Große Koalition ermöglicht das durch 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze. Auch das muss berücksichtigt
werden.
Wir brauchen Qualifizierung, weil wir auch in den
nächsten Jahren Exportweltmeister bleiben wollen.
Schon heute ist in vielen Bereichen ein Facharbeitermangel zu verzeichnen. Herr Schleyer vom Zentralverband des Deutschen Handwerks hat in der vergangenen
Woche darauf hingewiesen, dass in den Boombranchen
Fachkräfte gesucht werden. Wie wir wissen, sinken die
Geburtenraten in Europa. Darauf müssen wir reagieren.
Notwendig ist eine langfristige Planung, wie sie der
Berufsbildungsbericht bietet. In dem einen oder anderen
Betrieb vermisse ich allerdings eine langfristige Planung.
({2})
In der Industrie sind verstärkt langfristige Planungen
notwendig. Es geht nicht an, dass im Januar Ingenieure,
Techniker oder Facharbeiter entlassen werden und man
im Mai wieder nach ihnen schreit.
({3})
Einige Betriebe haben darauf reagiert und planen langfristig. Ein Jahr bevor ein älterer Kollege ausscheidet,
wird ein neuer Facharbeiter oder Ingenieur eingestellt.
Das kommt nicht nur dem Betrieb zugute, sondern auch
demjenigen, der qualifiziert wird. Die Qualifizierung ist
unbedingt notwendig, weil sich auch der Wissensstand
verändert. Täglich werden neue Patente angemeldet. Unsere Facharbeiter beherrschen die komplizierte Regelungstechnik zum Beispiel unserer Heizungsanlage im
Reichstag oder in Ihrem Auto. Im Zerspanungsbereich
ist es ähnlich. Qualifizierte Zerspanungsmechaniker arbeiten an computergesteuerten Maschinen. Die Arbeit
unserer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und
komplizierter geworden. Deshalb brauchen unsere Jugendlichen zusätzliche Hilfen. Genau das wird im Berufsbildungsbericht 2008 aufgezeigt. 200 neue Berater
wurden eingestellt. Das ist ein Wert! Die Ministerin
sprach davon, dass in Zukunft hauptamtliche Ausbildungspaten eingestellt werden sollen. Ich führe in
meinem Wahlkreis seit etwa anderthalb Jahren an drei
unterschiedlichen Schulen mit circa 15 vorwiegend ehrenamtlichen Paten wöchentliche Beratungen für Schüler und Schülerinnen durch. Es handelt sich um Pensionäre und Rentner, die Erfahrung haben. Diese Experten
aus unterschiedlichsten Gewerken helfen bei Bewerbungsgesprächen und fahren im Rahmen der wöchentlichen Betreuung mit den Schülern zu den Betrieben, um
Hilfestellung zu geben; das ist wichtig. Im Berufsbildungsbericht wird ein Ausbau dieses Systems empfohlen.
({4})
Zusammenfassend halte ich fest: Erstens. Zukünftig
müssen unsere Betriebe langfristiger planen; das ist ein
wichtiger Punkt. Zweitens. Der demografische Wandel
wird den Qualifikationsdruck natürlich noch weiter
erhöhen. Drittens. Die jungen Männer und Frauen brauchen deshalb in den kommenden Jahren eine Ausbildungschance. Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten. Mit unserem Bericht sind wir auf dem
richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Als wir vor einigen Monaten
über die Ausbildungssituation diskutiert haben, mussten
wir eine dramatische Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt feststellen. Viele junge Menschen litten unter Perspektivlosigkeit. Es handelt sich hier nicht um eine theoretische Veranstaltung, bei der man Zahlen vergleicht.
Wenn man damals junge Menschen im Bundestag empfangen und gefragt hat: „Wie schaut es bei euch aus?
Wer hat denn schon einen Ausbildungsvertrag in der Tasche?“, dann musste man nicht selten feststellen, dass
von 25 Jugendlichen vielleicht nur zwei, drei oder vier
einen Ausbildungsvertrag vorweisen konnten. Alle anderen hatten kaum etwas vorzuweisen. Man konnte bei
solchen Gelegenheiten hautnah miterleben, wie deprimierend es für junge Menschen, die nach der Schule
einen Platz in der Arbeitswelt suchen, ist, wenn sie feststellen müssen, dass ein solcher Platz in dieser Gesellschaft nicht vorhanden ist. Das ist eine schreckliche
Erfahrung und für junge Menschen nur schwer zu verstehen.
Wir können heute sagen - das ist die wichtigste Botschaft -, dass sich die Situation auf dem Ausbildungs16496
markt deutlich entspannt hat. Die Gesichter der jungen
Menschen, die wir heute empfangen, sind glücklicher,
weil viele Erfolg hatten und in diesem Jahr eine Ausbildung beginnen konnten oder können, die ihnen einen
Platz in der Arbeitswelt sichert. Liebe Kollegin Hirsch,
deswegen habe ich umso weniger Verständnis für Ihre
Anmerkungen. Sie haben mit keinem Wort erwähnt, was
der Mittelstand und das Handwerk für die jungen Menschen leisten, genauso wenig wie das Engagement der
Wirtschaft, auf das die Tatsache zurückgeht, dass wir uns
heute über positive Zahlen - seit 2001 wurden erstmals
wieder über 600 000 Ausbildungsverträge geschlossen,
das beste Ergebnis seit der Wiedervereinigung - freuen
können. Jedes Jahr geben die deutsche Wirtschaft und
der Mittelstand 30 Milliarden Euro für die Ausbildung
junger Menschen aus, so viel wie nie zuvor.
({0})
Wir sagen dazu: Gott sei Dank. Aber Sie haben das alles
nicht erwähnt. Ich danke an dieser Stelle all denjenigen,
die sich hier engagieren.
Die Hälfte der Ausbildungsplätze wird von Unternehmen zur Verfügung gestellt, die weniger als 50 Mitarbeiter haben. Das heißt, der klassische Mittelstand leistet
hier den höchsten Beitrag und übernimmt Verantwortung; das ist notwendig.
({1})
Leider Gottes sind das genau diejenigen, die Sie eigentlich gar nicht haben wollen. Diese Leistungsträger in der
Gesellschaft, die dafür sorgen, dass junge Menschen
eine Ausbildung bekommen, sind diejenigen, die Ihnen
mit Ihrer Ideologie nicht in den Kram passen.
({2})
Meine Damen und Herren, selbstverständlich brauchen wir weitere Anstrengungen. Um die Ausbildungssituation zu verbessern, brauchten wir bessere Rahmenbedingungen. Dazu gehörte als Erstes ein modernes
Berufsbildungsgesetz und als Zweites eine gemeinsame
Offensive, die Signale für den Aufschwung setzt. Die
erste Rahmenbedingung, ein Berufsbildungsgesetz, haben wir gemeinsam im Jahre 2005 geschaffen. In dieses
Gesetz haben wir wirkungsvolle Instrumente eingebaut,
etwa die Verbundausbildung, die es Unternehmen, die
aufgrund einer hohen Spezialisierung allein nicht in der
Lage sind, einen jungen Menschen umfassend auszubilden, erlaubt, diese Ausbildung zusammen mit anderen
Unternehmen zu leisten. Außerdem haben wir die Stufenausbildung geschaffen, die für theorieschwache Leute
eine Ausbildung in zwei Schritten ermöglicht, sodass
auch sie eine Chance auf eine vollwertige Ausbildung
und damit auf einen vollwertigen Arbeitsplatz bekommen.
An dieser Stelle kann man etwas leicht kritisch anmerken: Wir hatten gesagt, alle Ausbildungsberufe
müssten daraufhin überprüft werden, ob es eine zweistufige Ausbildung geben kann und ob man nach zwei Jahren schon einen Teilerfolg erreichen kann, der auch zu
einem vollwertigen Arbeitsplatz führt. Wir haben leider
bis heute nicht alle Berufe überprüfen können. Leider
Gottes gibt es noch nicht für alle Berufe diese Stufenausbildung. Daher rege ich an, dass wir gemeinsam dafür
sorgen, dass es hier schneller vorwärts geht und dass die
Wirtschaft schneller an die Überprüfung herangeht, sodass damit auch schneller mehr Ausbildungsplätze in
Deutschland geschaffen werden.
({3})
Bevor ich auf die gemeinsame Offensive zu sprechen
komme, mache ich hier noch einen Einschub: Frau
Hirsch, Sie haben den Ausbildungspakt einen großen
Flop genannt. Nein, er ist ein großer Erfolg. 2004 ist er
gestartet, und 2007 wurde er von der Bundesregierung
Gott sei Dank verlängert.
({4})
Inzwischen ist die Zahl der zugesagten neuen Ausbildungsplätze von 30 000 auf 60 000 verdoppelt worden;
2006 waren es sogar fast 70 000. Beim EQJ wurde die
Zahl der Plätze von 25 000 auf 40 000 fast verdoppelt.
Der einzige Fehler beim Ausbildungspakt ist, dass sich
die Gewerkschaften bis heute verweigert haben, mitzumachen, wenn es darum geht, Ausbildungsplätze für die
jungen Menschen in Deutschland zu generieren,
({5})
nachdem Politik und Wirtschaft gemeinsam dazu beigetragen haben.
({6})
Abschließend zu der gemeinsamen Qualitätsoffensive
im Hinblick auf die überbetrieblichen Bildungsstätten:
Jetzt ist wichtig, dass wir die Förderung der frühzeitigen
Berufsorientierung im Übergang von der Schule ins Berufsleben etwas stärker ins Visier nehmen. Wir wissen,
dass es in jedem Ausbildungsjahr 20 Prozent Abbrecher
gibt, weil sich junge Leute leider Gottes mangels Wissens für einen falschen Ausbildungsplatz entschieden
haben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident. - In der
Zahl der Altbewerber sind 40 000 Ausbildungsabbrecher
enthalten. Könnten wir diese Zahl deutlich verringern,
indem wir mit dieser Qualitätsoffensive den Übergang
von der Schule ins Berufsleben besser gestalten, hätten
wir etwas Gutes für die jungen Menschen und für die
Ausbildungssituation in diesem Land geleistet.
Danke schön.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich hätte mir ein bisschen mehr Flexibilität bei den Gewerkschaften gewünscht, was den Pakt angeht. Aber wir sollten es auch nicht geringschätzen. Bei
einer ganzen Reihe von Tarifverträgen etwa in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg wurde mit
maßgeblicher Unterstützung beider Seiten der Sozialpartner auch für Jugendliche mit schwierigem Hintergrund etwas getan. Ich denke hier nicht zuletzt an die
chemische Industrie. Insofern würde ich die Kritik nicht
so pauschal erheben.
({0})
Ich komme nun auf das zu sprechen, was die Ministerin als Flaggschiff der beruflichen Bildung bezeichnet
hat.
({1})
Die Titanic war ein Passagierdampfer und kein Flaggschiff. Über diesen Unterschied können wir uns nachher
noch einmal kurz unterhalten.
({2})
Ein Flaggschiff muss in der Tat gewartet werden; es
kann sonst Rost ansetzen, und auch ein Flaggschiff kann
sinken. Das ist völlig klar. Aus diesem Grunde gibt es
selbstverständlich eine ganze Reihe von Herausforderungen für dieses Flaggschiff namens berufliche Bildung.
Ich möchte zunächst einmal eines hervorheben: die
Konjunkturanfälligkeit dieses Berufsbildungssystems.
Das ist einer der Hintergründe für die Zahl von 300 000,
liebe Kollegin Hirsch. In konjunkturell schwierigen Zeiten nimmt leider die Bereitschaft der Wirtschaft ab, für
die Jugendlichen etwas zu tun, in konjunkturell günstigen Zeiten nimmt sie wieder zu. - Da dürfen Sie, Kollege Meinhardt, nicht mit den Achseln zucken. Wir müssen uns überlegen, wie wir das System zukunftsfest
machen. Wir müssen antizyklisch agieren und Fachkräfte zukunftsgerichtet ausbilden, aber wir dürfen nicht
kurzfristig nur im Rahmen eines Quartals denken und
einmal einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen
und ein anderes Mal nicht.
({3})
Der zweite Punkt betrifft die Europafestigkeit. Heute
Morgen haben wir über den Vertrag von Lissabon und
Europa geredet. Ich bin überzeugt, dass dieses deutsche
Berufsbildungssystem, das viele loben, aber leider weltweit nur wenige übernommen haben - auch das muss
man konstatieren -, europafest gemacht werden muss.
Ich glaube, dass wir dabei auf dem besten Wege sind. Ich
denke an das Leistungspunktesystem. Es muss in Europa
stärker anerkannt werden, was wir in der deutschen Berufsausbildung leisten. Diese Anerkennung beruht auf
Gegenseitigkeit. Das halte ich für wichtig. Aus diesem
Grunde warne ich davor, den Empfehlungen der FDP zu
folgen, die Ansprüche an das Berufsbildungssystem immer weiter herunterzuschrauben. Nein, wir müssen dieses System einer hohen Qualifikation aufrechterhalten,
gerade in Europa,
({4})
und anschließend können wir uns über weniger qualifizierte Berufsbilder und darüber unterhalten, wie wir in
dem einen oder anderen Fall mit Jugendlichen, die die
Berufsausbildung nicht bestehen, umgehen. So wird ein
Schuh daraus, aber nicht dadurch, dass wir die Qualifikation verringern.
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die
Durchlässigkeit der beruflichen Bildung in den akademischen Bereich. Ich glaube, wir alle sollten uns hier einig
sein, dass wir gerade angesichts des demografischen
Wandels und der Konkurrenz - Ziel: 40 Prozent Abiturienten und ähnliches - die Akzeptanz bei Jugendlichen
und Eltern für dieses Berufsbildungssystem nur dann
steigern, wenn es uns gelingt, mehr Jugendliche mit einer höheren Qualifikation für diesen Bereich zu interessieren. Dazu muss die Leistung, die sie in der beruflichen Ausbildung erbracht haben - angefangen von der
Gesellenausbildung bis hin zum Meisterbrief -, anerkannt werden, bei Bedarf auch im Hinblick auf eine
anschließende akademische Karriere. Das ist ein entscheidender Punkt für die Zukunft des Berufsbildungssystems.
({5})
Ich glaube, das ist einer der Bereiche, bei dem wir einiges tun können. - Oh, Herr Präsident, ich habe nur noch
eine Minute und 37 Sekunden Redezeit; eigentlich hätte
ich Stoff für zehn Minuten. Also muss ich noch etwas
schneller reden.
Die Diskriminierung ist angesprochen worden,
ebenso die Hochschulen. Lassen wir das einmal weg.
Kollege Meinhardt,
({6})
wir haben jetzt die Frage des Bonus rauf- und runterdiskutiert. Ich gebe Ihnen ein Privatissimum und erkläre es
Ihnen noch einmal. Ich weiß gar nicht, was Sie jetzt
plötzlich gegen Flexibilisierung haben. Wir wollen vor
Ort Instrumente haben, um Jugendlichen, die in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, die
Möglichkeit zu geben, einen zu finden. Da ist es mir im
Prinzip völlig wurscht, welches Zeugnis derjenige oder
diejenige hat, es ist mir völlig wurscht, welchen Schulabschluss derjenige oder diejenige hat, und es ist mir
völlig wurscht, welcher Hintergrund ansonsten besteht.
Wir müssen flexibel sein und für diese Jugendlichen, die
ein, zwei Jahre und länger vergeblich gesucht haben, etwas tun. Das ist die Herausforderung.
({7})
Kollegin Hirsch, da hilft mir Ihr Wolkenkuckucksheim
der konservativ-reaktionären Linken überhaupt nicht
weiter. Sie lassen doch die Jugendlichen im Stich.
({8})
Sie warten, bis irgendwann das Paradies ausgebrochen
ist und wir alle für eine Umlage begeistert haben. Wunderbar, aber dann sind die Jugendlichen möglicherweise
schon in Rente.
({9})
- Sie haben überhaupt noch nicht im Deutschen Bundestag gesessen, als wir die Umlage beschlossen haben. Nur, sie ist zu meinem großen Bedauern damals an der
rechten Seite des Hauses gescheitert. So war es halt. Sie
hielten nichts davon. Ich halte das für falsch. So hätte
man Millionen in das System bekommen. Es ist aber so,
wie es ist. Jetzt kann ich das beweinen bis in das
Jahr 2050 und bis ich selber mit knapp 100 Jahren in
Rente bin, oder wir werden konkret und machen jetzt etwas für die Jugendlichen. Letzteres ist für mich das
Wichtigere.
({10})
Es ist wichtiger, etwas für Hunderttausende zu tun, als
zu labern, zu schwätzen und zu versuchen, Stimmung zu
erzeugen.
Herr Friedrich ist nicht mehr da. Dem habe ich
Schläge angedroht. Es war gar nicht so gemeint. Jetzt ist
er gegangen.
({11})
- Ja, ja, ich habe so „watsch, watsch“ gemacht, schon
war er weg. - Lieber Kollege Friedrich, ich bedauere das
zutiefst. Er hat so auf der BA herumgehackt. Er hat so
getan, als ob zunächst einmal die Berufsberatung eine
Qualifikation brauche. Ich will an dieser Stelle sagen:
Auch ich kritisiere die BA, wir sollten aber die Berufsberatung und die Bemühungen der Bundesagentur für
Arbeit vor Ort nicht in dieser Form diskreditieren. Da
gibt es viele engagierte Menschen - auch das sollte man
an der Stelle einmal sagen -, im Übrigen gilt das auch
für die Ausbildungsberater der Kommunen.
({12})
Dieser Berufsbildungsbericht zeigt: Wir haben noch
viel zu tun. Wir müssen das System zukunftsfest machen. Ansonsten sind wir auf einem guten Weg. Ich
freue mich, dass fast alle Fraktionen diese Auffassung
teilen. Die Mosernden lassen wir im Abseits. Wir tun etwas für die Jugendlichen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8750 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 d, 5 b
und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
35 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 16/8870 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Undine Kurth ({1}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhalten, was uns erhält - Die UN-Konferenzen zur biologischen Sicherheit und zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt zum
Erfolg machen
- Drucksache 16/8890 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Sevim
Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Konzepte der Vermittlung des Wissens zur
NS-Zeit überprüfen und den veränderten Bedingungen anpassen
- Drucksache 16/8880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Hans-Kurt Hill, Heike Hänsel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Konsequente Energiewende statt Militarisierung der Energieaußenpolitik
- Drucksache 16/8881
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
5 b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Arbeitnehmermitbestimmung bei Betriebsänderungen
- Drucksache 16/7533 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigte und Unternehmen vor Ausplünderung durch Finanzinvestoren schützen
- Drucksache 16/7526 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Leitlinien für den internationalen Arten- und
Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt
- Drucksache 16/8878 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksache 16/8875 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Ina Lenke, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forderung nach einem Bericht der Bundesregierung über die Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser
- Drucksache 16/8889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 k auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 36 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Importverbot für illegales Holz durchsetzen
- Drucksachen 16/8052, 16/8876 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Gerhard Botz
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8876, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8052 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({7})
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
- Drucksache 16/8791 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen-
stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.1)
Tagesordnungspunkt 36 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({8})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/08
- Drucksache 16/8911 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({9})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Verfahren 2 BvE 1/08 eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten,
Professor Dr. Martin Morlok als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 36 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 390 zu Petitionen
- Drucksache 16/8763 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 390 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 391 zu Petitionen
- Drucksache 16/8764 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 391 ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 392 zu Petitionen
- Drucksache 16/8765 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Sammelübersicht 392 ist einstimmig angenom-
men.
1) Anlage 6
Tagesordnungspunkt 36 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 393 zu Petitionen
- Drucksache 16/8766 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 393 ist mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 394 zu Petitionen
- Drucksache 16/8767 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 394 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 395 zu Petitionen
- Drucksache 16/8768 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 395 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 396 zu Petitionen
- Drucksache 16/8769 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 396 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
der FDP und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 397 zu Petitionen
- Drucksache 16/8770 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 397 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({18}) zu dem Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und
Beamten in den Ländern ({19})
- Drucksachen 16/4027, 16/4038, 16/7508, 16/8189,
16/8910 Berichterstatter ist der Abgeordnete Jörg van Essen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 16/8910? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 a auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Interessen der Beschäftigten bei Massenentlassungen trotz Gewinnsteigerungen
- Drucksache 16/8448 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine von der
Fraktion Die Linke.
({21})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir legen Ihnen einen Gesetzentwurf zu einem
Thema vor, das viele Menschen in Deutschland beschäftigt. Die Frage, um die es geht, ist einfach zu formulieren: „Wieso“, fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger,
„ist es zulässig, Entlassungen auszusprechen, wenn in
dem Betrieb, in dem die Entlassungen ausgesprochen
werden, ordentliche Gewinne erwirtschaftet werden?“
Sie kennen viele Fälle dieser Art. Der letzte Fall, der
Deutschland bewegt hat, war der Fall Nokia. Da ging die
Belegschaft auf die Straße und musste wiederum erleben, dass die Eigentumsordnung bzw. die Rechtsordnung Deutschlands solche Fälle nicht verhindern kann.
Wenn die Anteilseigner sagen: „Wir schließen den Betrieb, unabhängig von der Gewinnsituation“, dann ist das
eben so beschlossen, dann werden die Entlassungen ausgesprochen, und viele Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze. Für die Linke steht diese Wirtschafts- und
Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung mit dem
Art. 14 des Grundgesetzes, der die Sozialpflichtigkeit
des Eigentums verlangt.
({0})
Eigentum ist nach dem Willen der Mütter und Väter
des Grundgesetzes sozialpflichtig. Dabei haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht in erster Linie an
ein Häuschen gedacht, sicherlich auch nicht in erster
Linie an Grund und Boden - im Zusammenhang mit
Neubaumaßnahmen werden ab und zu solche Fragestellungen aufgeworfen -; wir sind der Überzeugung, dass
sie in erster Linie an das Betriebsvermögen gedacht haben, weil mit dem Besitz von Betriebsvermögen die Verfügungsmacht über das Schicksal vieler Menschen verbunden ist. Diese Verfügungsmacht muss im sozialen
Sinne gehandhabt werden; sie darf nicht im Sinne von
Gewinnmaximierung und Maximierung des Aktienkurses gehandhabt werden.
({1})
Genau darum geht es bei unserem Gesetzentwurf.
Ich wünsche mir, dass der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen jetzt zuhört - vielleicht hört ja
ein Referent zu -; denn nachdem ich heute Morgen gelesen habe, dass er den Spuren der Linksfraktion folgt - so
die Analyse aus den Kreisen der CDU -,
({2})
deshalb beim Arbeitslosengeld und bei der Rente Korrekturen vorschlägt, würde ich es natürlich auch begrüßen, wenn er erkennen würde, dass nach dem Fall Nokia
auch er verpflichtet wäre, eine Initiative zu ergreifen, damit nicht immer willkürlich über die Köpfe von Tausenden von Arbeitnehmern hinweg entschieden werden
kann.
({3})
Auf diese Fragen muss man entweder Antworten geben, oder man kann mit den Schultern zucken und sagen:
Mich interessiert das alles nicht; solange ich meinen Arbeitsplatz habe, ist doch alles in Butter. - Wir sind der
Auffassung, dass wir, nachdem sich die gesellschaftlichen Bedingungen gewandelt haben, verpflichtet sind,
hier etwas zu tun.
Im rheinischen Kapitalismus wäre all das noch nicht
möglich gewesen. Nach meinen Beobachtungen war es
so, dass zu der damaligen Zeit gesellschaftlicher Konsens darüber bestand, dass, wenn ordentliche Gewinne
ausgeschüttet werden, keine Massenentlassungen ausgesprochen werden. Vielleicht gibt es das eine oder andere
Gegenbeispiel, aber der gesellschaftliche Konsens war
damals ein ganz, ganz anderer. Damals hat sich noch
kein Manager hingestellt und gesagt: Profit, Profit, Profit das sei seine einzige Philosophie. Der Betreffende ist ja
hinterher auch kläglich gescheitert. Damals war es noch
klar, dass Unternehmerschaft auch soziale Verantwortung voraussetzt.
Wenn heute mit dem Betriebsvermögen nicht mehr in
dem sozialen Sinn, den unser Grundgesetz vorschreibt,
umgegangen wird, dann sind wir verpflichtet, Regelungen aufzustellen, um das Prinzip der Sozialpflichtigkeit
des Eigentums auch im Betrieb durchzusetzen.
({4})
Das kann man nun auf dreierlei Wegen tun:
Erstens kann man das tun, indem man die individuellen Rechte der Arbeitnehmer stärkt. Dazu kann man Ja
oder Nein sagen. Die Vorschläge, die wir Ihnen hier unterbreiten, sind auch mit den Gewerkschaften abgestimmt. Das sage ich, um einer bestimmten Fraktion hier
im Hause das Nein etwas schwerer zu machen. Wir erwarten natürlich dieses Nein, weil wir ja wissen, wie abgestimmt wird. Ich hoffe auch, dass Herr Rüttgers zuhört
und dass noch einmal eine Initiative von seiner Seite
kommt. Wir fordern also eine Stärkung der individuellen
Rechte der Arbeitnehmer, die darauf hinausläuft, dass
dann, wenn Gewinne erwirtschaftet oder ausgewiesen
werden, Kündigungen nicht möglich, sondern rechtsunwirksam sind. Das ist der erste Vorschlag, den wir Ihnen
machen, um Art. 14 des Grundgesetzes endlich einmal
Wirklichkeit werden zu lassen.
({5})
Eine zweite Möglichkeit ist natürlich, die Rechte des
Betriebsrates zu stärken. Er soll bei entsprechenden Vorhaben der Betriebsführung ein größeres Mitwirkungsrecht haben. Wir haben Ihnen dazu Vorschläge gemacht.
Wir hängen nicht an diesen Vorschlägen, falls sich der
eine oder andere daran festbeißt. Ich weiß ja, wie man
Entscheidungen ausweicht. Uns geht es vielmehr darum,
die Rechte des Betriebsrates zu stärken; denn der Betriebsrat kann in dem einen oder anderen Fall, wenn
seine Rechte durch den Gesetzgeber gestärkt werden,
entsprechende Entscheidungen von Betrieben verhindern. Deshalb plädieren wir für die Stärkung der Rechte
des Betriebsrates.
({6})
Dritte Möglichkeit: Da natürlich die wesentlichen
Entscheidungen, also auch die über Betriebsschließungen, im Aufsichtsrat getroffen werden, haben wir - ich
will Ihnen jetzt nicht den ganzen Katalog vorlesen - Ihnen als Drittes vorgeschlagen, dass für den Fall einer
Stilllegung oder eines Verkaufs von Betrieben oder Betriebsteilen ein qualifiziertes Mitbestimmungsrecht der
Beschäftigten, also der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, im Gesetz verankert werden muss. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass dann, wenn der Betrieb
Gewinne erwirtschaftet, nicht einfach gegen den Willen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Betriebsteile
verkauft oder Betriebe geschlossen werden können.
({7})
Dazu kann man Ja oder Nein sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir werden mit Vergnügen
beobachten - wahrscheinlich mit etwas traurigem Vergnügen -, wie hier abgestimmt werden wird. Hier geht
es ja um eine ganz entscheidende Frage, die viele Bürgerinnen und Bürger interessiert. Wir sagen: Betriebseigentum ist nicht nur Eigentum der Anteilseigner.
Betriebseigentum ist immer auch Eigentum der Belegschaften; denn ohne die Belegschaften wäre dieses
Eigentum überhaupt nicht entstanden. Diesen Standpunkt vertreten wir im Unterschied zu den anderen Fraktionen in diesem Hause.
({8})
Wenn das Betriebseigentum letztendlich von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet und geschaffen worden ist, dann kann das Eigentumsrecht nicht
so gehandhabt werden, dass die Existenzgrundlage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Federstrich ausgelöscht wird, indem sie in die Arbeitslosigkeit
entlassen werden.
({9})
Wir wollen deshalb, dass der Bundestag eine andere gesetzliche Regelung erlässt.
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun könnte
der eine oder andere sagen - darauf möchte ich gerade
noch eingehen -: Ja, aber die Konstruktion, dass solche
Entscheidungen gegen die Arbeitnehmerstimmen im
Aufsichtsrat nicht getroffen werden können, kann man
vor der jetzigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes angreifen, da sie nach unserer Wahrnehmung nicht
zugleich die Eigentumsgarantie und die Sozialbindungspflicht des Eigentums im Grundgesetz reflektiert. Ansonsten hätten ja alle Urteile zum Betriebsvermögen anders ausfallen müssen. - Das könnte man einwenden.
Aber damit solche Spitzfindigkeiten hier überhaupt nicht
Platz greifen, kündige ich an, dass meine Fraktion demnächst einen Gesetzentwurf zur paritätischen Mitbestimmung für Unternehmen, die regionale und überregionale
gesellschaftliche Bedeutung haben, einbringen wird.
Dann freuen wir uns wieder auf die namentliche Abstimmung zu diesem wirklich strukturverändernden Gesetzentwurf, den wir im Shareholder-Value-Kapitalismus für
dringend geboten halten.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns geht
es hier um Sinn und Geist des Grundgesetzes. Nach unserer festen Überzeugung untersagt der Art. 14 des
Grundgesetzes, bei Gewinnen in einem Unternehmen so
einfach einmal Betriebsteile zu schließen oder ganze Belegschaften zu verkaufen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Franz Romer von der CDU/
CSU-Fraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
Ich sage nichts dazu. - Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind uns in
diesem Hause sicherlich einig, dass Arbeitsplatzabbau
stets zu bedauern ist und dass sich Fälle wie Nokia möglichst nicht wiederholen dürfen. Nun kann man darüber
streiten, wie wir auf diese Fälle reagieren sollen und
welche Schlussfolgerungen wir ziehen. Über den Weg
der Linken sprechen wir heute, einen Weg, der rückwärtsgewandt ist, der alle Unternehmen unter Generalverdacht stellt und die Arbeitnehmermitbestimmung zur
Vertreibung von Investoren missbrauchen will.
({0})
Meine Damen und Herren von den Linken, wir werden mit unserer Mehrheit Ihren drei Gesetzentwürfen ein
Ende bereiten und damit wieder einmal eines Ihrer populistischen Vorhaben entlarven.
({1})
Deutschland ist nicht das Land des Turbokapitalismus. Viele Unternehmen, Vorstände und Aufsichtsräte
nehmen ihre soziale Verantwortung wahr und sichern damit den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft und den
Wohlstand in unserem Land. Bei der Diskussion um dieses Thema muss der Grundsatz gelten: Nicht gegen die
Wirtschaft, sondern mit der Wirtschaft. Die Linken verlassen mit ihren Vorschlägen diesen Weg.
({2})
Wenn Unternehmen in Deutschland Entlassungen
verkünden, ist die Betroffenheit groß. Ich glaube, wir
können davon ausgehen, dass die übergroße Mehrheit aller Unternehmer lieber ihre Arbeitskräfte behält, wertvolle Fachkräfte nicht verlieren will und gerne neue hinzugewinnt. Leider muss man die Bedingungen, unter
denen deutsche Unternehmen arbeiten und ausländische
Unternehmen in Deutschland investieren, immer im internationalen Wettbewerb sehen. Dieser Realität sollten
sich auch die Linken stellen.
({3})
Auf der einen Seite wollen wir ins Ausland exportieren. Auf der anderen Seite müssen wir Investoren in unser Land holen. Diese Investoren können auch Risikound Beteiligungsfonds sein. Wir begrüßen diese Investoren im Land, weil sie auch in zukunftsweisende und besonders risikoreiche Projekte investieren. Bitte verstehen
Sie mich nicht falsch: Ich bin für Arbeitnehmerrechte
und Mitbestimmung.
({4})
Ich selbst war jahrelang Betriebsrat und Betriebsratsvorsitzender.
({5})
Es kommt aber darauf an, bei der Wahrung realistischer
Arbeitnehmerrechte die positive Entwicklung von Unternehmen und die Sicherung von Arbeitsplätzen nicht
einzuschränken.
({6})
Unsere Arbeiter und Angestellten sind auf Weltniveau. Aber soll denn in Zukunft jeder einzelne Mitarbeiter festlegen, wo Millionenbeträge investiert werden
und wo nicht? Sollen dann die Vorstände in der Wirtschaft ganz abgeschafft werden? Wie sollen Belegschaften beurteilen, ob ein Geschäft langfristig ein Unternehmen schädigt oder sich an nur kurzfristig orientierten
Anlegerinteressen ausrichtet? Wie soll der Arbeitnehmervertreter beurteilen, ob es sich um ein besonders riskantes und lediglich auf kurzfristigen Gewinn abzielendes Geschäft handelt? Die Wirtschaftswelt ist heute so
komplex, dass auch die gesamte Finanzwelt in Deutschland mit all ihrem Fachwissen die Bankenkrise nicht
verhindern konnte. Und dann will die Linke den Arbeitnehmervertretern die Beurteilung von Unternehmensstrategien aufbürden.
({7})
Meine Damen und Herren, das bestehende Aktienrecht und das Betriebsverfassungsgesetz haben sich bewährt.
({8})
Eine weitere Einschränkung der Unternehmer durch das
Betriebsverfassungsgesetz, wie die Linke es vorschlägt,
ist absurd. Eine Änderung des Aktienrechts in der Form,
dass der Aufsichtsrat in die Geschäftsführung des Vorstands eingreift, schießt weit über das Ziel hinaus. Wie
sollen bei einer derartigen Zusammensetzung deutscher
Aufsichtsräte überhaupt ausländische Investoren angelockt werden?
Eine Arbeitnehmerbeteiligung, die wesentliche Teile
der Geschäftsführung blockieren kann, fördert nicht gerade die Bereitschaft, in deutsche Aktiengesellschaften
zu investieren.
({9})
Wir haben in Deutschland eine der besten Regelungen
zur Arbeitnehmermitbestimmung der Welt. Dies ist positiv für unsere Arbeitnehmer und fördert in der Regel immer auch das Wohl der Unternehmen. Eine zu große
Ausweitung schadet dem Standort Deutschland im internationalen Vergleich und nützt gleichzeitig den Arbeitnehmern wenig. Außerdem sollten wir in Deutschland
die unternehmerische Freiheit nicht so stark einschränken, dass niemand mehr das Risiko und die Verantwortung einer Unternehmensgründung auf sich nehmen will.
({10})
Ich frage mich, was die Linke mit diesen Anträgen
bezweckt, außer einer Schlagzeile.
({11})
Arbeitsplätze sichert sie damit nicht; neue schafft sie mit
derlei Vorschlägen erst recht nicht.
Herr Kollege Romer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Nein.
({0})
Ich habe Vertrauen in die deutschen Unternehmen
und ihre Beschäftigten. Ich habe selbst als Betriebsratsvorsitzender ein Unternehmen durch schwierige Zeiten
begleitet.
({1})
Sowohl die Investoren als auch die Mitarbeiter waren
immer bereit, miteinander am Erfolg des Unternehmens
zu arbeiten und in schweren Zeiten für das Unternehmen
und die Arbeitsplätze zusammenzustehen. Ich selbst
habe aber auch erlebt, wie überzogene Gewerkschaftsforderungen gegen den erklärten Willen der Belegschaft
die Existenz ganzer Betriebe gefährdeten.
({2})
Verantwortungsvolles Handeln beider Seiten ist die Bedingung für das Fortbestehen der sozialen Marktwirtschaft und damit unseres Wohlstandes.
Wir bemühen uns ständig, die Bedingungen für Unternehmen zu verbessern, damit sie dem internationalen
Druck standhalten und ihre Arbeitsplätze sichern können. Die Unternehmensteuerreform war ein weiterer
Schritt.
Wir dürfen Investoren nicht abschrecken. Auch wenn
wir versuchen müssen, jeden Arbeitsplatz in Deutschland zu halten, muss uns klar sein, dass zu unseren
Preisen im Bildungsland Deutschland langfristig nur
hochspezialisierte Arbeitsplätze mit hohen Ausbildungsstandards zu halten sind. Nokia ist ein Beispiel dafür,
dass die Globalisierung uns zwar recht gute Exportzahlen in der Hochtechnologie sichert, aber auch mit sich
bringt, dass einfachere Produkte nicht mehr in Deutschland hergestellt werden können. Sie wissen alle, dass es
nach Nokia keinen weiteren Hersteller gibt, der Mobiltelefone in Deutschland produziert.
Ich sage noch einmal: Die Schlussfolgerung aus der
Abwanderung eines Unternehmens kann nicht sein, für
alle anderen in Deutschland produzierenden Unternehmen die Bedingungen noch weiter zu verschärfen.
({3})
Damit vernichten wir Arbeitsplätze, und die internationalen Investoren suchen sich günstigere Wirtschaftsstandorte.
({4})
An der Ernsthaftigkeit der Vorschläge der Linken
muss man immer wieder aufs Neue zweifeln, so auch
hier.
({5})
Die Linke zeigt uns hier wieder den konsequenten Weg
zur Verstaatlichung der Wirtschaft.
({6})
Statt auf die Wirtschaft zu schimpfen,
({7})
sollten wir uns gemeinsam auf unsere Stärken konzentrieren.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Was hat eine Fata Morgana mit einem Antrag der Linken gemeinsam? Beide sind Luftschlösser.
({0})
Es ist ein Trugschluss, was Sie von der Linken uns ständig präsentieren.
({1})
Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass wir eine globalisierte Welt haben
({2})
und dass wir mit dieser Globalisierung leben müssen, ob
es uns gefällt oder nicht. Das ist eine Tatsache.
({3})
Wir nutzen die Vorteile der Globalisierung. Aber wenn
es einmal nicht so gut läuft, dann wird sie verteufelt. So
kann man es nicht machen, liebe Kollegen von der Linken.
({4})
Ein Blick nach China zeigt: Die Chinesen kupfern
den Transrapid ab und bauen sogar die Nussknacker aus
dem Erzgebirge nach.
({5})
Dafür bekommen sie von uns noch 167 Millionen Euro
Entwicklungshilfe.
({6})
Wenn es nicht so traurig und ernst wäre, könnte man darüber lachen.
Was wir machen können, ist, in diesem unserem Land
alles dafür zu tun, dass die Mittelschicht, die Handwerker und die Gewerbetreibenden einen guten Nährboden
vorfinden, hier Arbeitsplätze schaffen und keine Entlassungen durchführen.
({7})
So herum kann es nur gehen.
Liebe Freunde von der CDU/CSU, Sie haben leider
mit Ihrer Mittelstandspolitik dazu beigetragen, dass Arbeitsplätze vernichtet werden.
({8})
Sie sonnen sich in dem Argument, dass die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen ist. Ich sage Ihnen dazu: Hätten Sie die sogenannten Reformen im Bereich der Mehrwertsteuer und der Unternehmensteuer sowie die
Kürzung der Pendlerpauschale - und was Sie sonst noch
angerichtet haben - nicht durchgeführt, dann hätten wir
vielleicht nur noch 2 Millionen Arbeitslose.
({9})
Das müssen Sie sich schon sagen lassen.
({10})
Das Schlimmste an der ganzen Sache ist aber, liebe
Freunde, dass Sie mit dieser Politik die Wähler der Linken zutreiben.
({11})
Wenn Sie, Herr Lafontaine, sagen, dass Sie die Doktrin
des Kommunistischen Manifestes in Ihr Parteiprogramm
aufnehmen wollen - das wundert mich im Übrigen nicht -,
dann ist doch klar, wohin das führt.
({12})
Man kann sich ausrechnen, dass das zu einer sozialistischen Planwirtschaft und zur Staatswirtschaft führt.
Wir haben diese Politik im Osten erlebt. Ich will Ihnen
sagen, was das letzten Endes bedeutet. Eine Planwirtschaft kann nur dort existieren, wo sie abgeschottet wird,
wo man ringsherum Stacheldraht legt und eine Mauer
baut.
({13})
Planwirtschaft heißt auch Mangelwirtschaft. Jeder,
der in der DDR gelebt hat, kann sich daran erinnern:
Wenn es zwei- oder dreimal im Jahr Bananen gab, dann
hat man so viel bekommen, wie man Kinder hatte. Wenn
es eine Woche warm war, war das Bier ausverkauft.
Wenn im Winter eine Woche Kälte herrschte, dann
wurde der Strom knapp. Das bedeutet Planwirtschaft.
Wollen Sie das allen Ernstes, Herr Lafontaine?
({14})
Letztendlich führt das, was Sie wollen, zur Planwirtschaft. Dagegen müssen wir uns wehren, liebe Freunde.
Was von links gewollt wird, kann nicht das Ziel für unser Land sein.
({15})
Wir müssen aufpassen, dass diese Sandmännchenstrategie, nämlich den Menschen Sand in die Augen zu
streuen und immer nur Halbwahrheiten zu verbreiten,
nicht langsam gefährlich wird. Zu diesem Schluss muss
man kommen, wenn man sich die Wahlergebnisse in
manchen Bundesländern anschaut.
({16})
Sie haben eben von Massenentlassungen gesprochen.
Die Abwicklung der DDR war die größte Massenentlassung der Geschichte. Sie war Folge der vorausgegangenen Misswirtschaft und der sozialistischen Planwirtschaft.
({17})
So ist es gelaufen. Auch die Freiheit bedeutet uns sehr
viel.
Liebe Freunde, denken Sie immer daran: Fata
Morgana ist gleich Linke.
In diesem Sinne: Ein herzliches Glückauf aus dem
Erzgebirge!
({18})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist ein Skandal, was bei Nokia passiert ist.
Ich sage ganz klar: Es ist auch ein Skandal, was bei AEG
passiert ist. Man kann noch eine ganze Reihe von Unternehmen aufzählen, die unsäglich gehandelt haben. Auch
ich wünsche mir, dass Arbeitgeber ihre Personalpolitik
mit mehr sozialer Verantwortung betreiben.
({0})
Es ist erforderlich, dass eine Rückbesinnung stattfindet. Da kann man als Sozialdemokrat bzw. Sozialdemokratin sogar Alfred Herrhausen zitieren:
An dem Tag, an dem die Manager vergessen, dass
eine Unternehmung nicht weiter bestehen kann,
wenn die Gesellschaft ihre Nützlichkeit nicht mehr
empfindet oder ihr Gebaren als unmoralisch betrachtet, wird die Unternehmung zu sterben beginnen.
Mit Ihren Vorschlägen, die Sie da unterbreiten, lösen
Sie bei mir Mitleid für die Arbeitgeber aus. Sie lassen
nämlich die Regelungen, die Sie vorsehen, nicht nur für
solche Unternehmen gelten, sondern Sie wollen, dass
diese Regelungen schlechthin und generell gelten. Sie
haben einen Leitspruch für sich. Dieser Leitspruch heißt:
Veränderung beginnt mit Opposition. Ich finde diesen
Spruch nicht schlecht. Er bietet viele Auslegungsmöglichkeiten. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, Träume kann man erst dann verwirklichen, wenn man sich entschließt, aus ihnen
aufzuwachen. Sie landen wieder in den Zeiten der Kollektivierung und der Verstaatlichung. Ich bin mir sicher,
Sie alle kennen den Dichter Majakowski. Der hätte Ihnen an den Kopf geworfen: Die Heimat des Sowjetvolkes soll auch die Heimat der Vernunft sein.
({1})
Machen wir einen Beispielsfall! Überlegen wir uns
einfach, welche Folgen diese Regelungen beispielsweise
für ein fiktives Unternehmen mit 110 Beschäftigten haben, das 30 Kündigungen durchführen will. Nehmen wir
zunächst einmal § 92 a des Betriebsverfassungsgesetzes,
den Sie ändern wollen; § 92 a ist im Übrigen unter SPDRegierung, unter Rot-Grün, eingeführt worden. Es soll
möglich sein, dass Arbeitnehmer Vorschläge zur Beschäftigungssicherung unterbreiten. Es ist gesetzlich
festgelegt, dass der Arbeitgeber diese mit ihnen erörtern
muss. Es ist festgelegt, dass in einigen Fällen sogar
schriftliche Begründungen dafür abgegeben werden
müssen. Es ist möglich, mit Zustimmung des Arbeitgebers, die allerdings grundsätzlich erteilt werden muss, einen Sachverständigen hinzuziehen.
Was Sie jetzt vorschlagen, ist absurd. Jeder Betriebsrat hat ohne Einschaltung des Arbeitgebers das Recht,
ohne vorherige Kostenkontrolle ein Gutachten in Auftrag zu geben. Für solche Gutachten gibt es Standardkosten. In Nordbayern würden sie sich auf etwa 5 000 bis
25 000 Euro belaufen. Dann besteht die Möglichkeit,
eine Einigungsstelle zu diesem Thema einzuberufen;
beispielsweise dazu: In den nächsten fünf Jahren dürfen
keine Kündigungen ausgesprochen werden. Eine solche
Einigungsstelle verursacht natürlich ihrerseits Kosten.
Die kann man für Nordbayern mit etwa 7 000 bis
10 000 Euro pro Tag beziffern. Unter Umständen muss
solch eine Einigungsstelle selber noch einmal einen wirtschaftlichen Sachverständigen, der neutral ist, einschalten. Es kann zu völlig unkalkulierbaren Ergebnissen für
Unternehmen kommen.
Aber damit hört das Ganze nicht auf. Der Arbeitgeber
kommt mit seiner Planung auf den Betriebsrat zu, sagt
also: 30 Kündigungen soll es geben. - Dann greift der
Standard, der Betriebsräten viele Handlungsmöglichkeiten, aber auch Missbrauchsmöglichkeiten bietet, der aber
in dieser Form in Ordnung ist. Es erfolgt zunächst eine
Informationsphase. Dann gibt es den Interessenausgleich. Dann gibt es den Sozialplan. Der Betriebsrat hat
das Recht, in jeder Phase des Verfahrens einen wirtschaftlichen oder juristischen Sachverständigen hinzuzuziehen.
({2})
Kann man sich dann nicht einigen, soll es nach geltendem Recht die Einigungsstelle geben. Da gibt es
Spielereien. Man einigt sich nicht auf diejenigen, die die
Einigungsstelle besetzen sollen. Man einigt sich nicht
darauf, wie groß die Einigungsstelle sein soll. Bis das
gerichtliche Verfahren abgeschlossen ist, dauert es dann
im Schnitt drei bis sechs Monate.
Neu bei Ihnen ist: Im Interessenausgleich, der jetzt
eine Betriebsvereinbarung sein soll, soll es wiederum
Auflagen geben können - mit ebenfalls relativ unkalkulierbaren Auswirkungen für den Arbeitgeber, beispielsweise ein Kündigungsverbot für ein, zwei Jahre oder
was auch immer. Damit hört das aber immer noch nicht
auf; wir befinden uns bereits in einem ziemlich langen
Planspiel. Der Arbeitgeber geht, wenn all das abgeschlossen ist, auf den Betriebsrat zu und sagt: Jetzt höre
ich dich zu den Kündigungen an. - Der Betriebsrat nutzt
sein neues Widerspruchsrecht nach § 102 des Betriebsverfassungsgesetzes, nach dem die Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrates bedürfen. Wieder fängt das
Geplänkel von vorne an. Wieder wird es Streit über die
Einsetzung der Einigungsstelle geben. Ein monatelanges
Gerichtsverfahren wird folgen. Irgendwann gibt es dann
eine Einigungsstelle, die entscheidet.
Die Frage ist: Überstehen die Unternehmen das tatsächlich? Ist es nicht vielmehr so, dass ganz leicht eine
Situation entstehen kann, die dazu führt, dass das Unternehmen letztlich in der Insolvenz landet?
({3})
Meine Damen und Herren von der Linken, ich weiß,
dass die unternehmerische Freiheit nicht unbedingt eine
Herzensangelegenheit von Ihnen ist. In gewissem Maße
kann man das sogar verstehen, aber man kann sie nun
einmal nicht vollständig ignorieren. Das, was Sie hier
vorlegen, ist eine Ausgeburt, ist die Krönung des Populismus. Dieser Antrag ist für Ihre Klientel geschrieben.
Sie rechnen gar nicht damit, dass es jemals zu einer Umsetzung kommt.
Frau Kollegin Kramme, würden Sie dem Herrn Ernst
jetzt eine Zwischenfrage gewähren?
Nein, dem Herrn Ernst nicht.
Überlegen wir uns spannende Alternativen, über die
man diskutieren kann: Warum soll es nicht möglich sein,
im Bereich der Unternehmensmitbestimmung à la VWGesetz erhöhte Grenzen für die Zustimmung festzusetzen, beispielsweise wenn es um die Unternehmensverlagerung geht? Oder: Nutzen wir die Möglichkeiten, die
die Gewerkschaften selbst geschaffen haben - Beispiel:
Sozialtarifverträge.
Frau Kollegin Kramme, jetzt würde der Kollege Dreibus gerne eine Zwischenfrage stellen.
Wenn es der Kollege Dreibus ist, gestatte ich das
selbstverständlich.
({0})
Dann hat der Kollege Dreibus jetzt die Chance, eine
Zwischenfrage zu stellen.
Frau Kollegin Kramme, ich habe nur eine kleine
Frage und möchte damit die Realität wenigstens ein
Stück weit wieder in diese Debatte holen. Können Sie
mir erklären, warum die Partei, der Sie angehören, in allen Programmen zwischen dem Godesberger Programm
und dem Wahlprogramm zur Bundestagwahl 2005 ausdrücklich eine Ausweitung der Mitbestimmung auf
Ebene des Betriebsverfassungsgesetzes und auf Ebene
der Unternehmensverfassung gefordert hat? Wenn das,
was Sie hier vertreten, der Grundposition der SPD entspricht, was ich mir nicht vorstellen kann, müsste man
eigentlich sagen: Wir haben nicht zu wenig Mitbestimmung, sondern offensichtlich jetzt schon zu viel. Jedenfalls gäbe es dann keinen Grund, solche Beschlüsse zu
fassen, wie sie Ihre Partei gefasst hat.
({0})
Herr Dreibus, Sie wissen, dass wir uneingeschränkt
hinter dem geltenden Betriebsverfassungsgesetz und den
Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung stehen.
Wir haben die Unternehmensmitbestimmung erst kürzlich ausgeweitet.
Wie gesagt: Wir stehen nicht am Ende der Debatte.
Sie wissen vielleicht, dass der Hamburger Parteitag die
Einführung neuer Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte bei der Leiharbeit beschlossen hat. Vielleicht haben
Sie vorhin nicht genau zugehört. Ich habe von Unternehmensmitbestimmung und erhöhten Zustimmungserfordernissen gesprochen. Was ist das anderes als das, was
Sie jetzt fordern?
({0})
- Ich habe gerade einen Vorschlag unterbreitet.
({1})
Kommen wir zur Sache zurück. Die Ideen, die ich
vorgetragen habe, sind spannend. Ich empfehle, darüber
nachzudenken. Wir sollten uns vor allen Dingen auf das
konzentrieren, was wir zeitnah umsetzen können. Sie
können uns in wunderbarer Weise unterstützen. Es ist erforderlich, dass wir einen Mindestlohn in Deutschland
bekommen. Vor wenigen Tagen ist mir der Arbeitsvertrag eines Leiharbeitnehmers vorgelegt worden. Er arbeitet in Bayern, im Umfeld der Großstädte Nürnberg
und Erlangen. In diesem Vertrag steht, dass der Leiharbeiter 3 Euro die Stunde bekommt. Ich habe auch seine
Lohnabrechnungen gesehen. Sein monatlicher Bruttolohn beträgt 538 Euro. Wir wissen: 15,7 Prozent aller
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen würden davon
profitieren, wenn es einen Mindestlohn in Höhe von
7,50 Euro gäbe.
({2})
Hier können wir handeln, und das sollten wir auch tun.
({3})
Vor wenigen Tagen wurde die Studie des BMAS zur
Generation Praktikum veröffentlicht. Es hat sich herausgestellt, dass dies nicht nur ein Problem der Hochschulabsolventen ist, sondern auch ein Problem der Absolventen von Berufsausbildungslehrgängen; bei ihnen ist diese
Problematik sogar noch stärker ausgeprägt. Hier müssen
wir handeln. Denn das, was hier stattfindet, ist ein Missbrauch der jungen Generation.
({4})
Ein anderer Beschluss des Hamburger SPD-Parteitags, den ich vorhin schon einmal am Rande erwähnt
habe, ist mir ebenfalls ein Herzensanliegen. Wir wissen,
dass es bei der Leiharbeit viele Missstände gibt. Wir wissen, dass Leiharbeit als Lohndumpinginstrument eingesetzt wird und dass Tochterunternehmen gegründet werden, die nur dazu dienen, geltende Tarifverträge zu
umgehen. Deshalb sollten wir auch in diesem Bereich
unbedingt tätig werden. Meine Damen und Herren, diese
Themen müssen für uns Priorität haben. Wir sollten vor
diesen Missständen nicht die Augen verschließen. Hier
können wir handeln, und das werden wir tun.
In diesem Sinne: Ganz herzlichen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst.
Frau Kramme, da Sie einer Antwort auf meine Frage
ausgewichen sind, indem Sie mich meine Frage gar nicht
erst stellen ließen,
({0})
möchte ich jetzt auf den Interessenausgleich zu sprechen
kommen.
Frau Kramme, Sie wissen ganz genau: Das gegenwärtige Recht ist so gestaltet, dass eine Einigungsstelle, die
sich um einen Interessenausgleich bemüht, letztendlich
keinen Spruch fällen kann, sodass nach gegenwärtigem
Recht immer der Arbeitgeber obsiegt, weil er einfach sagen kann, dass er keinen Interessenausgleich abschließt.
Ein Spruch der Einigungsstelle ist nicht möglich. All die
Märchen, die Sie gerade zum Thema Mitbestimmung erzählt haben, sollten Sie woanders erzählen. Hier sitzt
nämlich der eine oder andere, der weiß, wovon er
spricht.
Frau Kramme, ich habe an Ihrem Vortrag vermisst,
dass Sie die Interessenlage der Arbeitnehmer nicht erwähnt haben. Sie haben sehr viel darüber gesprochen,
welche Nachteile die Arbeitgeber hätten, wenn das umgesetzt würde, was wir fordern. Diese Nachteile sind allerdings gewollt. Wir wollen, dass die Arbeitgeber künftig den Nachteil haben, eine Betriebsänderung bzw.
einen Interessenausgleich nicht mehr einfach beschließen zu können, mit dem Ergebnis, das Tausende ihren
Job verlieren. Wir wollen, dass ein Betriebsrat eine wirksame Möglichkeit bekommt, gegen Entlassungen vorzugehen. Ich weiß überhaupt nicht - das kann ich wirklich
nicht verstehen -, was aus sozialdemokratischer Sicht
dagegen spricht,
({1})
zu sagen: Wenn im Rahmen eines Interessenausgleichs
Vorschläge des Betriebsrates behandelt werden, dann
kann die Einigungsstelle auch einen Spruch fällen und
zum Beispiel die Entscheidung treffen: Die Vorschläge
des Betriebsrates sind gut und berechtigt; daher sind Entlassungen ausgeschlossen. - Nach gegenwärtigem Recht
ist das nicht möglich.
Frau Kramme, offensichtlich kann ich feststellen,
dass sich die Sozialdemokratie, für die Sie gesprochen
haben, mehr um die Interessen der Arbeitgeber als um
die Interessen der Arbeitnehmer kümmert. Das nehme
ich dankbar zur Kenntnis.
({2})
Frau Kollegin Kramme zur Erwiderung, bitte schön.
Herr Ernst, jetzt haben Sie ja doch noch die Möglichkeit bekommen, sich zu äußern.
({0})
- Darüber sind wir tieftraurig.
Beim Thema Interessenausgleich muss man differenzieren. Die derzeitige Rechtlage sieht wie folgt aus: Ein
Interessenausgleich regelt das Ob und das Wie einer Betriebsänderung.
({1})
Der Arbeitgeber muss versuchen, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Das hat er erst dann getan, wenn
er die Einigungsstelle angerufen hat. In großen Teilen
Deutschlands besagt die Rechtsprechung sogar, dass
eine Betriebsänderung bis zu diesem Zeitpunkt zu unterlassen ist.
Man kann durchaus darüber nachdenken, einen Interessenausgleich in Form einer Betriebsvereinbarung zu
gestalten. In viele Interessenausgleiche werden beispielsweise Regelungen über zusätzliche Informationen
und Beteiligungsrechte aufgenommen. Sie aber wollen,
ausgehend von der betrieblichen Mitbestimmung, tatsächlich Eingriffe in das Unternehmensgeschehen vornehmen, die über die Unternehmensmitbestimmung weit
hinausgehen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kramme, ich hätte gern einmal gewusst, an wen
hier im Hause Sie Ihren Appell zur Einführung des Mindestlohns gerichtet haben.
({0})
Wenn Sie ihn einführen wollen, dann kann ich Ihnen nur
sagen: Sie haben dafür in diesem Hause die Mehrheit.
({1})
- Liebe Frau Kramme, Sie haben das Thema in dieser
Debatte angesprochen, nicht ich.
Sie haben hier sehr umfänglich die - wie ich finde,
richtigen - Regelungen dargestellt, die wir unter RotGrün eingeführt haben. Aber es lässt sich letztlich nicht
leugnen, dass diese Regelungen Fälle wie Nokia nicht
verhindern konnten. Ein anderer Fall, den ich nicht weniger skandalös finde, weil es sich dabei um ein wirklich
florierendes Unternehmen gehandelt hat, das durch Private-Equity-Gesellschaften ausgeplündert worden ist, ist
Grohe.
({2})
Das hat dazu geführt, dass jeweils Tausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen sind, dass Tausende von
Menschen von einem Tag auf den anderen ihre Perspektive und ihre Sicherheit verloren haben. Sowohl bei
Nokia als auch bei Grohe hat nicht die wirtschaftliche
Lage diese Entlassungen erzwungen. Es ging um Investitionen und um Profite, die in dieser Situation wichtiger
waren als soziales und wirtschaftliches Verantwortungsbewusstsein.
Ich habe Verständnis für die Wut, die dies hervorgerufen hat. Aber da kann Politik nicht stehen bleiben. Es
muss darum gehen, diesem Treiben Einhalt zu gebieten.
Das fängt mit dem Versuch an, den Subventionswettbewerb, den es über Ländergrenzen hinweg gibt, zu beenBrigitte Pothmer
den. Außerdem muss aufgrund von ehrlichen Analysen
darüber geredet werden, welche Auswirkungen die Auslagerungen für die Unternehmen tatsächlich haben. Ich
finde wirklich interessant, was das Fraunhofer-Institut in
einem Gutachten herausgefunden hat. Es hat festgestellt:
Die Produktionskosten im Ausland sind häufig nicht geringer als am Standort Deutschland, wenn man alle Kosten zusammenrechnet. Das Argument, es sei überall auf
der Welt ökonomisch attraktiver zu investieren als in
Deutschland, ist einfach falsch.
({3})
Dieses Gutachten muss zur Pflichtlektüre für jeden Unternehmensführer werden. Das müssen sie auswendig
lernen. Wenn man sie nachts weckt, müssen sie das vorbeten können.
({4})
Nun weiß auch ich, dass dies allein nicht reicht. Ich
will an dieser Stelle auch nicht alles abwehren, was von
linker Seite kommt. Ich finde es schade, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf das Kind mit dem Bade ausschütten.
Wenn Sie die Vorschläge, die Sie in diesem Gesetzentwurf formuliert haben, zu Ende denken, dann kann das
zugespitzt heißen: Arbeitsplätze werden dort gesichert,
wo die wirtschaftliche Grundlage dafür weggefallen ist.
({5})
Auf der anderen Seite werden Investitionen dort verhindert, wo neue Arbeitsplätze entstehen könnten.
({6})
Das kann nicht das Ziel einer dynamischen Wirtschaftspolitik sein. Nicht immer sind Maximaleingriffe im
Sinne der Beschäftigten wirtschaftspolitisch sinnvoll
und richtig.
({7})
Ich will versuchen, die Vorschläge, die Sie machen, in
vier Kategorien einzuteilen, und ich betone noch einmal:
Ich lehne nicht alles ab.
Erste Kategorie: bloße Klarstellungen, die aus meiner
Sicht entbehrlich sind. Das betrifft zum Beispiel Ihren
Vorschlag zum Kündigungsschutz. Auch heute können
Kündigungen nicht ohne wirtschaftliche Begründung
ausgesprochen werden; Frau Kramme hat darauf hingewiesen. Dass dies zum Teil trotzdem passiert, werden
Sie nicht dadurch verhindern, dass Sie eine rechtliche
Normierung einfach noch einmal normieren. Das ist Augenwischerei. Damit werden Sie das Problem nicht lösen.
Zweite Kategorie: durchaus sinnvolle Vorschläge, die
wir unterstützen können, beispielsweise die Klarstellung, wann die Übernahme von Unternehmensteilen eine
Betriebsänderung darstellt, die zur Folge haben muss,
dass der Betriebsrat einbezogen wird. Das scheint uns
eine durchaus sinnvolle Überlegung zu sein; darüber
werden wir im Ausschuss reden.
Dritte Kategorie: Forderungen, über die wir uns im
Grundsatz einig sind, deren konkrete Ausgestaltung aber
noch diskutiert werden muss. Ein Beispiel dafür ist die
Frage: Sollten Hedgefonds oder Private-Equity-Fonds,
wenn sie Kredite anfordern, nicht ein Mindestmaß an
Eigenkapital mitbringen müssen?
Vierte Kategorie: Forderungen, die aus unserer Sicht
nicht gehen, übrigens nicht nur, weil sie eine Überbürokratisierung mit sich bringen. Ein Beispiel ist das Vetorecht, das der Betriebsrat im Aufsichtsrat bekommen
soll, wenn eine Verlagerung oder ein Verkauf des Betriebs bzw. von Betriebsteilen ansteht.
({8})
- Doch, das steht da. - Diese Regelung hätte zur Folge,
dass der Eigentümer nicht mehr derjenige wäre, der im
Unternehmen entscheidet. Das ist letztlich eine Enteignung auf kaltem Wege. Die Frage ist: Wer trägt eigentlich die Verantwortung, wenn eine solche Situation von
den Beschäftigten nicht akzeptiert wird und der Betrieb
im Anschluss in Konkurs geht? Darüber reden wir im
Ausschuss - das sichere ich Ihnen zu - gerne seriös.
({9})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dem Statistischen Bundesamt zufolge hat Deutschland in den Jahren
2001 bis 2006 durch Auslagerung 188 000 Arbeitsplätze
verloren, im Gegenzug aber 105 000 neue Arbeitsplätze
gewonnen; das entspricht 56 Prozent. Interessant ist,
dass sich diese Arbeitsplätze nicht über alle Qualifikationsstufen gleich verteilen: Von den hochqualifizierten
Arbeitsplätzen, die ausgelagert worden sind, sind 94 Prozent an anderer Stelle wieder in Deutschland entstanden;
von den geringqualifizierten Arbeitsplätzen sind es nur
37 Prozent. Worauf weist das hin? Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie die Rahmenbedingungen
für unternehmerisches Handeln zu gestalten sind. Mindestens genauso wichtig ist es aber, dass wir die Betroffenen auf eine solche Situation - die wir nicht in jedem
Fall verhindern werden - besser vorbereiten. Das heißt:
Qualifizierung, Qualifizierung und noch einmal Qualifizierung. Das haben wir in der Hand, und darauf sollten
wir uns konzentrieren.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
werte Kollegen! Wir haben es heute einmal mehr mit einer höchst populistischen Initiative der Linken zu tun.
({0})
Ihre Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linkspartei, ist schwarz-weiß: hier die bösen Hedgefonds und Private-Equity-Fonds, dort die guten Betriebsräte, die, wenn es nach Ihnen ginge, bei jedem Betriebsverkauf das letzte Wort hätten. Wie immer schießen Sie
über das Ziel hinaus, können sich nicht von der Welt der
volkseigenen Betriebe verabschieden, die sich mit normaler Unternehmensplanung einer sozialen Marktwirtschaft noch nie vertragen haben.
({1})
- Das schaffen Sie auch noch, Herr Ernst: volkseigene
Hedgefonds! Ihnen traue ich viel zu.
Unter den Bedingungen der Linkspartei werden Unternehmen, die es sich leisten können, erst recht mit dem
Gedanken an Abwanderung spielen. Ein Unternehmer,
der unternehmerisches Risiko auf sich nimmt, kann und
wird sich in unternehmerische Entscheidungen nur in begrenztem Umfang hineinreden lassen; ansonsten wird er
in weniger regulierte Volkswirtschaften ausweichen. Es
gibt ja genügend traurige Beispiele dafür.
Herr Lafontaine, Sie haben vorhin Art. 14 zitiert und
sind zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums gelangt. Mit
geneigter Zustimmung des Herrn Präsidenten möchte ich
zitieren. Art. 14 Grundgesetz besteht aus mehreren Absätzen. Abs. 2 beginnt mit dem Satz: „Eigentum verpflichtet“. In Abs. 1 steht aber unter anderem: „Das
Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Als
vormaliger Finanzminister sollten Sie genug Ahnung
von unserer Verfassung haben, um zu wissen, dass das
Eigentum natürlich nicht nur aus dem Ertrag aufgrund
körperlicher und geistiger Leistung besteht, sondern
auch das Grundstück, die Betriebsstätten und die Maschinen umfasst, die der Unternehmer gekauft hat. Auch
dieses Eigentum ist gewährleistet, Herr Lafontaine.
({2})
- Herr Lafontaine, ich bin noch nicht ganz fertig. Hören
Sie doch einfach einmal geduldig zu! Vielleicht hilft Ihnen das etwas.
Herr Lafontaine, Sie haben vorhin die Forderung aufgestellt, dass gegen den Willen der Arbeitnehmer kein
Betriebsteil verkauft werden kann. So wünschen Sie es
sich.
({3})
Sie haben ausgeführt: Der Betrieb ist das Eigentum der
Belegschaft. - Wem gehören denn dann die Maschinen,
das Grundstück und im Übrigen auch die Schulden?
Herr Lafontaine, ich weiß nicht, wie es bei Ihnen im
Saarland ausschaut. Ich kenne bei mir in der Region sehr
viele Unternehmen - gerade die KMUs, die kleinen und
mittleren Unternehmen; Sie wollen Ihre Regelungen ja
bereits ab 20 Beschäftige greifen lassen -, deren Betriebsinhaber ein hohes persönliches Risiko eingehen.
Um die Kredite für ihre Unternehmen bekommen zu
können, haften sie mit ihrem privaten Häuschen. Mit allen Schulden unterwerfen sie sich der sofortigen Vollstreckung in das gesamte Vermögen, um das Geld für die
Schaffung von Arbeitsplätzen zu bekommen. Mit diesem Geld, das sie sich bei den Banken holen, bieten sie
Arbeitsplätze an.
({4})
Als Dankeschön dafür wollen Sie von der Linkspartei
mit Ihren jetzt vorgelegten Initiativen erreichen, dass
diese Unternehmer keine weiteren Entscheidungen mehr
treffen können. Herr Lafontaine, angenommen, ein Teil
Ihrer Gesetzentwürfe würde Gesetzeskraft erlangen,
bräuchten wir in wenigen Jahren nicht mehr über das
Thema Arbeitsplatzabbau zu sprechen; denn dann hätten
wir gar nicht mehr die Möglichkeit, neue Arbeitsplätze
zu schaffen, weil ein Großteil der potenziellen Arbeitgeber nicht mehr in Deutschland investieren, sondern das
Geld gleich in weniger regulierte Volkswirtschaften stecken würde.
({5})
Ein paar Sätze noch an Ihre Adresse, Herr Lafontaine:
„Kapital ist ein scheues Reh“.
({6})
- Ich habe befürchtet, dass Sie das kennen. - In einer
globalisierten Welt können Sie das Kapital nicht mit dirigistischen Maßnahmen, die Sie hier vorschlagen, halten.
Die Welt, in der wir leben, ist sehr viel komplizierter,
als Sie sie darstellen. Europas Wirtschafts- und Arbeitswelt befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandel, der auch Deutschlands Unternehmen seit geraumer
Zeit erfasst hat. Internationalisierung ist das Stichwort.
Großunternehmen fusionieren über die Grenzen hinweg.
Deutsche Unternehmen wie die MAN Diesel und die Allianz wandeln sich in europäische Gesellschaften um. Frau Kollegin Pothmer hat darauf hingewiesen, dass wir
ein Stück weit Leidtragende, aber natürlich auch Gewinner dieser Umwandlung sind, nämlich im Hinblick auf
die hochqualifizierten Arbeitsplätze. - In den Sog der
Wandlung gerät zwangsläufig auch die Mitbestimmung
der Arbeitnehmer. Entwicklungen von solcher Dynamik
und Tragweite erfordern grenzübergreifende Beobachtung und Regelungen, damit in vielen Jahren Erworbenes nicht unter die Räder gerät.
Es ist ganz natürlich, dass viele Bürger unter diesen
Umständen das Gefühl haben, von einer Entwicklung
überrollt zu werden, die ihnen letztendlich die Kontrolle
über das eigene Leben entreißt. Die Angst, vielleicht
morgen auf der Straße zu stehen oder zu sehr viel
schlechteren Bedingungen weiterarbeiten zu müssen, ist
verständlicherweise weit verbreitet. Ich kann diese Sorgen, die die Linksfraktion in diesem Gesetzentwurf anspricht, durchaus nachvollziehen. Gerade deshalb ist es
aber äußerst unverantwortlich, diese Menschen populisPaul Lehrieder
tisch aus durchsichtigem politischem Eigeninteresse
weiterhin zu verunsichern.
Hedgefonds und Private-Equity-Fonds werden gerade
vonseiten der Linken immer wieder zu Schreckgespenstern aufgebaut.
({7})
So wird aber gerade der Blick auf Lösungen vernebelt,
wie sie wirksam und auch im Interesse der Beschäftigten
in den Griff zu bekommen sind. Die deutsche Wirtschaft
wird auch in Zukunft ein Stück weit ausländische Kapitalgeber benötigen, um bei uns Arbeitsplätze zu schaffen. Wir können das nicht alleine erreichen.
Liebe Freunde von der Linkspartei, Panik war schon
immer ein schlechter Ratgeber.
({8})
- In Anführungszeichen.
({9})
Wir dagegen nehmen die Gefahren der zunehmenden
weltweiten Vernetzung ernst und sind tätig geworden.
Dem weltweiten Fortschritt können wir in Deutschland
nicht unbedacht zusehen - weder durch eine vollkommene Abschottung des deutschen Finanzmarktes gegenüber diesen Innovationen noch durch eine Überregulierung noch durch eine vollkommene Laisser-faireHaltung, der der Glaube zugrunde liegt, der Kapitalmarkt werde es schon richten.
Die deutsche Wirtschaft wird sich auf Dauer vermehrt
mit neuen Finanzierungsformen auseinandersetzen müssen. Dazu gehört auch die Beteiligungsfinanzierung
durch Private Equity. Die Bundesregierung verfolgt dabei eine Strategie, die einerseits die positiven Effekte
von Beteiligungskapital fördern, aber andererseits die
Risiken durch neue innovative Finanzinstrumente begrenzen soll. Hierzu zählt auch das Risikobegrenzungsgesetz. Mit diesem Gesetz sollen die Rechte von Unternehmen im Umgang mit Finanzinvestoren - also
Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften - gestärkt
werden. Zudem wird der Schutz der Belegschaften entschieden verbessert. Ihnen gegenüber sind die Unternehmen ausdrücklich auch dann Rechenschaft schuldig,
wenn sich die Kontrolle über das betreffende Unternehmen ändert, soweit dadurch nicht Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens gefährdet werden.
Um Gefahren für die Finanzmärkte entgegenzuwirken,
soll die laufende Beobachtung und Analyse der mit der
Tätigkeit von Finanzinvestoren verbundenen Risiken
durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Deutsche Bundesbank intensiviert werden.
Hedgefonds übernehmen zwar Risiken, die ansonsten
nicht oder nur schwer verteilt werden könnten, bergen
aber auch Gefahren, die wir ernst nehmen. Die Gipfelerklärung von Heiligendamm hat deshalb die Notwendigkeit betont, hinsichtlich der weiteren Entwicklung dieser
Fonds wachsam zu sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat deshalb angemahnt, Kontrollmechanismen - insbesondere für das Risikomanagement - zu überprüfen und
gegebenenfalls zu verbessern.
Nach der Kabinettsklausur in Meseberg wurden Prüfaufträge an das Finanzministerium und das Wirtschaftsministerium vergeben, um geeignete Schutzvorkehrungen zu treffen. Nach einem Referentenentwurf des
Wirtschaftsministeriums von Ende Oktober kann die
Bundesregierung künftig ihr Veto einlegen, wenn ein
Auslandsinvestor ein deutsches Unternehmen zu mehr
als 25 Prozent übernehmen will oder dies bereits getan
hat. Geschieht der Kauf der Anteile heimlich und wird
erst später öffentlich, erhält das Ministerium für die Prüfung länger Zeit. Im Gesetzentwurf ist ein Zeitraum von
drei Monaten vorgesehen. Die Union schlägt vor, die
Spanne auf bis zu drei Jahre auszudehnen. Entscheidet
sich die Regierung für ein Veto, kann sogar die Rückabwicklung der Übernahme angeordnet werden.
Wie Sie sehen, meine lieben Mitparlamentarier der
Linkspartei, tun wir bereits sehr viel, um die Transparenz von neuen Anlagearten zu erhöhen, damit Banken,
Anleger und Aufsichtsbehörden bei Missständen frühzeitig reagieren können. Sicherlich hat es diese in der
Vergangenheit gegeben. Aber sie sind längst nicht so
massenhaft aufgetreten, dass wir Grundrechte der Unternehmerfreiheit einschränken sollten.
Die große Mehrheit der Unternehmensführer in
Deutschland ist sich ihrer Verantwortung bewusst und
nimmt - das habe ich bereits eingangs ausgeführt - ein
hohes persönliches finanzielles Risiko in Kauf, um Arbeitsplätze zu schaffen. An dieser Stelle wäre ein Applaus gerechtfertigt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Sie sind nicht nur für Bilanzzahlen und Aktienkurse verantwortlich, sondern stehen auch für ihre Mitarbeiter
und deren Familien ein.
Im Übrigen haben die Arbeitnehmervertreter bereits
jetzt weitgehende Mitspracherechte. Die betriebliche
Mitbestimmung wird - wie schon die Biedenkopf-Kommission 1972 in ihrem Sachverständigenbericht festgestellt hat - durch vier zentrale Zwecke gerechtfertigt: die
Menschenwürde, das Verhältnis von Kapital und Arbeit,
die Demokratisierung und die Machtbindung. Diese
Grundsätze gelten weiter und sind Teil unseres Sozialstaatsprinzips.
Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Ausführungen. - Wir werden deshalb den Gesetzentwurf der
Linkspartei schweren Herzens ablehnen müssen, Herr
Lafontaine. Das ist nicht der richtige Weg. Ich glaube,
wir machen das in der Großen Koalition besser. Ich wünsche weiterhin gute Beratungen.
Danke schön.
({11})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Oskar Lafontaine das Wort.
Herr Präsident, ich möchte lediglich klarstellen, dass
wir unterschiedliche Vorstellungen von dem Begriff Enteignung haben, auf den sich mehrere Redner bezogen
haben. Die Redner, die nach mir gesprochen haben, verstehen unter Enteignung, wenn die Belegschaft letztlich
über das Betriebsvermögen mitentscheidet und insoweit
die alleinige Verfügung des Anteilseigners über das Betriebsvermögen außer Kraft gesetzt wird. Wir verstehen
etwas anderes unter Enteignung. Wenn ein Unternehmer
eine Fabrik mit Hallen aufbaut und finanziert, dann gehört sie ihm selbstverständlich. Wenn die Produktion anläuft und weitere Hallen dazukommen, dann ist dies
nach unserer Auffassung nicht mehr allein Betriebsvermögen des Unternehmers. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass hier die Enteignung beginnt, wenn man der
Belegschaft keine Eigentumsrechte einräumt. Das ist unsere Auffassung. Es ist völlig klar, dass dies für Sie denkunmöglich ist.
({0})
- Wir lachen jetzt auch über Sie, weil wir Ihre Position
lächerlich finden. - Das zusätzlich geschaffene Betriebsvermögen gehört nicht nur dem, der am Anfang eine
Halle finanziert hat, sondern auch der Belegschaft. Deshalb muss sie an der Entscheidung über dieses Vermögen
beteiligt werden. Das ist unsere Position.
({1})
Behalten Sie ruhig Ihre Position bei! Ich wünsche Ihnen, dass Sie sie noch lange beibehalten.
Herr Kollege Lehrieder, zur Erwiderung.
Lieber Herr Lafontaine, jetzt staune ich aber. Die
erste Fabrik ist noch im Eigentum desjenigen, der das
Geld dafür gegeben hat. Wenn er aber sein Geld nicht
auf die Bank bringt oder in Aktien investiert, sondern im
Unternehmen arbeiten lässt und so die Voraussetzung
schafft, dass er eine zweite und dritte Fabrik aufbauen
kann, und gute und vernünftige Löhne an seine Mitarbeiter zahlt, soll er nach Ihren Vorstellungen von der Rendite seines Vermögens nicht mehr bzw. nicht mehr ausschließlich selber profitieren und alles andere, was er mit
seinem Vermögen erwirtschaftet, automatisch teilen?
Das klingt sehr nach Sozialisierung. Das ist nichts anderes - das ist vielleicht der Wunschtraum der Talkshowsozialisten - als eine Planwirtschaft, die wir glücklicherweise nach 40 Jahren überwunden zu haben glaubten.
Gott bewahre uns, dass es so kommt, wie Sie es sich vorstellen!
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde, die Kurzintervention von Herrn Lafontaine hat eines deutlich gemacht: Die Linke will eine
andere Gesellschaft.
({0})
Sie sind der Wolf im Schafspelz und wollen unser gewachsenes, marktwirtschaftlich orientiertes System in
Deutschland beseitigen. Ihre Ausführungen zu den Eigentumsrechten sind aus meiner Sicht hanebüchen. Man
kann doch nicht argumentieren, dass man, wenn man ein
Unternehmen gründet, nur die Eigentumsrechte für eine
Werkhalle besitzt, und alle weiteren sind sozialisiert.
Das ist der Einstieg in den Sozialismus; den wollen Sie.
Aber wir wollen ihn nicht. Das sagen wir ganz deutlich.
({1})
Sie benutzen den schlimmen Fall Nokia, um Ihre Politik quasi in Gesetzesform zu gießen. Das zeigt, dass Sie
tatsächlich etwas ganz anderes wollen. Nokia ist ein Beispiel für das Versagen der Industriepolitik in Deutschland; das ist das Entscheidende.
({2})
Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, haben für schlechte steuerliche und arbeitsmarktrechtliche Bedingungen in Deutschland gesorgt. Die
Folgen müssen leider die Nokia-Mitarbeiter ausbaden.
Nokia ist zwar im Fokus. Aber durch die Politik der
schwarz-roten Regierung sind an anderer Stelle sogar
5 693 Arbeitsplätze vernichtet worden. Mein Kollege
Volker Wissing hat die Bundesregierung gefragt, wie
viele Arbeitsplätze durch die Einführung des Postmindestlohns vernichtet wurden. Die Bundesregierung hat
geantwortet: 5 693 Arbeitsplätze sind durch die Einführung des Postmindestlohns vernichtet worden.
({3})
Das ist die Bilanz der Arbeitsmarktpolitik der Großen
Koalition.
({4})
Davon betroffen sind auch Familien mit Kindern, die
heute auf der Straße stehen und keine Arbeit haben. Das
ist der Skandal, über den wir reden müssen.
({5})
Nach Einführung dieses Mindestlohns sind 30 Unternehmen in die Insolvenz gegangen. 27 gaben ihre Lizenz
zurück. Sie haben das in der Antwort auf die Anfrage
meines Kollegen als Marktaustritt bezeichnet. Das ist
zynisch.
({6})
Sie haben die Geister gerufen und dürfen sich nun
nicht darüber wundern, dass ein solcher Gesetzentwurf
vorliegt. Sie tragen Mitverantwortung für diese Situation. Sie sollten sich an die eigene Nase fassen.
Vielen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Andreas Steppuhn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten
hat es zu Recht eine sehr kritische Debatte über Standortverlegungen, Massenentlassungen und die Höhe der
Managergehälter in Deutschland gegeben. Sicherlich hat
niemand etwas dagegen, dass Managern gute Gehälter
gezahlt werden, wenn sie ihre Leistung erbringen. Allerdings ist zu hinterfragen, nach welchen Kriterien die
Leistung von Managern heute bemessen werden sollte.
({0})
Insbesondere die Menschen, deren Arbeitsplätze von
den gleichen Unternehmen und Konzernen gestrichen
wurden, die ihre Manager mit Millionengehältern und
Aktienoptionen versehen, haben es verdient, hierauf eine
Antwort zu bekommen. Das hat nichts mit Neid zu tun.
Hier stellt sich die Frage, ob es in Deutschland noch sozial gerecht zugeht.
Eine Bemessung der Leistung, die sich allein an Gewinnsteigerungen bzw. am Aktienkurs orientiert, ist jedenfalls alles andere als gerecht. Wer so agiert, der handelt nicht im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft.
({1})
Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen, möchte
ich sagen: Niemand hat etwas dagegen, wenn Manager
für die von ihnen erbrachten Leistungen und ihre sicherlich verantwortungsvolle Arbeit ein entsprechendes Gehalt erhalten; daran hat kaum jemand etwas auszusetzen.
({2})
Oft sind es aber die gleichen Manager, über die wir hier
reden - die FDP hört das nicht gerne -: Einerseits erklären sie öffentlich, wie schädlich Mindestlöhne, aber auch
Tariferhöhungen für die deutsche Wirtschaft sind; Arbeitsplatzabbau, Massenentlassungen und Millionengehälter scheinen aber nicht als schädlich angesehen zu
werden. Eine reine Fixierung auf den Shareholder-Value,
durch die man das Wohl des Unternehmens aus den Augen verliert und die einzelnen Mitarbeiter nur noch als
Kostenfaktor wahrnimmt, ist höchst schädlich für Unternehmen; sie darf in Deutschland nicht Maß für unternehmerisches Handeln werden.
({3})
Es ist gut, wenn man auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen kann. Ich selbst habe vor meiner Wahl in den
Deutschen Bundestag als Arbeitnehmervertreter einem
Aufsichtsrat angehört. Diese Tochtergesellschaft wurde
an einen Finanzinvestor verkauft. Der Finanzinvestor hat
nach dem Verkauf einen Kredit aufgenommen, um den
Kaufpreis bezahlen zu können. Mittlerweile ist das Unternehmen in der Hand eines dritten Finanzinvestors.
Darunter haben die Arbeitsplätze gelitten; das Unternehmen ist ausgeblutet. Es gibt keine übertariflichen Leistungen mehr. Die Anwendung des Tarifvertrages konnte
gerade noch gewahrt werden. Die Finanzinvestoren
wollten hohe Renditen sehen, während den Beschäftigten alle Leistungen genommen wurden und die Tarifverträge infrage gestellt wurden. Das ist ein Beispiel, zu
dem ich sage: So etwas darf es in Deutschland nicht geben.
Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der Moral,
sondern auch um die Frage des Anstandes. Offensichtlich haben hier einige das Maß völlig aus den Augen
verloren: Auf der einen Seite werden Rekordgewinne
vermeldet; auf der anderen Seite werden ganze Standorte
geschlossen, und das innerhalb weniger Wochen, und
zwar bei ein und demselben Unternehmen. Für mich, für
uns Sozialdemokraten ist es ein Widerspruch, wenn gerade große Konzerne Höchstgewinne sowie steigende
Aktienkurse vermelden und zugleich zulasten der Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen agieren. Es kann auf
Dauer nicht gutgehen, wenn man eine Erwartungshaltung einnimmt, bei der eine immer höhere Rendite und
eine Gewinnmaximierung im Mittelpunkt stehen. Die
Menschen in den Unternehmen erwarten, dass Gewinne
der Unternehmen in neue Produkte und somit auch in
neue Arbeitsplätze reinvestiert werden.
({4})
Deshalb wäre es gut, wenn das pure Renditedenken von
einer Entwicklung abgelöst würde, bei der wieder mehr
in Forschung und Entwicklung und die Qualifizierung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern investiert
wird.
Es ist gut und richtig, wenn wir in der Politik darüber
nachdenken, wie wir der bisherigen Entwicklung entgegentreten können. Es ist klar, dass dies nicht einfach ist;
aber die Menschen in den Betrieben und den Unternehmen erwarten von den Politikern, dass sie an dieser
Stelle etwas tun. Gerade die Praxis der Bezahlung mit
Aktienoptionen könnte nach meiner Meinung begrenzt
werden. Ein Vorschlag wäre, die Spekulationsfrist zu
verlängern, um die Fixierung auf den Aktienkurs zu
bremsen.
({5})
Dies würde nicht nur zu mehr Gerechtigkeit und Akzeptanz unter den Menschen in Deutschland führen. Es wäre
auch aus wirtschaftlichen Gründen richtig, wenn sich
Manager auf den langfristigen Erfolg und auf die Verantwortung ihres Unternehmens besännen, anstatt von Rekordgewinn zu Rekordgewinn zu eilen - koste es, was es
wolle.
Es ist aber auch ein Appell an die Betriebsräte und an
die Aufsichtsräte, im Zusammenhang mit Tarifverhandlungen - sie haben das Recht dazu - zu hinterfragen, wie
sich Managergehälter und Aktienoptionen zusammensetzen und welche Leistung dafür in dem jeweiligen Unternehmen geboten wird. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlassen oder ihre Löhne zu drücken, ist
für mich jedenfalls keine Leistung, die honoriert werden
muss.
({6})
Herr Kollege, der Applaus gibt mir Gelegenheit, Sie
zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rohde zulassen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Steppuhn, Sie haben mit Ihrer Rede für
genügend Verwirrung bei mir gesorgt,
({0})
sodass ich zu einer Nachfrage nahezu genötigt werde.
Sie haben den Arbeitsplatzabbau usw. bemängelt. Ich
höre aber in anderen Debatten von Rednern der Koalitionsfraktionen, dass wir mehr Arbeitsplätze haben. Ich
erinnere mich daran, dass gesagt wurde, dass die Metallund Elektroindustrie so viele Arbeitsplätze hat wie lange
nicht mehr und in diesem Sektor steigende Arbeitsplatzzahlen zu verzeichnen sind. Das wird an anderer Stelle
als Erfolg Ihrer Regierungspolitik gefeiert. Daher kann
ich den Tenor Ihrer Rede nicht ganz nachvollziehen.
Sie haben einige konkrete Gesetzesinitiativen, die Sie
planen, zum Beispiel die Begrenzung von Aktienoptionen, genannt. Ist das in der Koalition bereits Gegenstand
von Verhandlungen, zum Beispiel die Begrenzung in
dem Bereich, den Sie angesprochen haben, oder sind das
Ihre eigenen Vorstellungen?
Auch weitere Äußerungen von Ihnen irritieren mich
so sehr, dass ich Sie frage: Wie ist die Regierungspolitik
in Zukunft? Kann man damit rechnen, dass Eigentumsverhältnisse - wir hatten ja einen Disput mit Herrn Lafontaine - in Deutschland zukünftig geschützt werden,
sodass Investoren nach Deutschland kommen und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können? Dass wir noch
hohe Arbeitslosenzahlen haben und wir über diese wegen der statistischen Bereinigungen, die vorgenommen
worden sind, noch trefflich diskutieren könnten, ist unbestritten.
({1})
Eigentlich müsste Ihre Rede doch in eine andere Richtung gehen. Stimmen Sie darin mit mir überein, Herr
Kollege?
Nein, Herr Rohde, ich stimme nicht mit Ihnen überein
und will vorwegschicken, dass wir nichts gegen Finanzinvestoren und auch nichts gegen andere Investoren haben, wenn sie nach Deutschland kommen und vernünftig
mit den Menschen und den Arbeitsplätzen umgehen.
({0})
Im Übrigen sind wir froh darüber, dass die arbeitsmarktpolitische Entwicklung in Deutschland so gut ist, dass
die Probleme, die wir beispielsweise mit Nokia und anderen Firmen haben, nicht so groß sind, wie sie wären,
wenn wir eine schlechtere Arbeitsmarktentwicklung hätten, wenn auch Schaden angerichtet worden ist. Dennoch ist es richtig, dass wir uns auch mit den Fehlentwicklungen in der Wirtschaft, die Sie immer verteidigen,
hier beschäftigen.
({1})
Die Auseinandersetzung nicht nur um die Verlegung
des Standorts von Nokia, weg von Bochum, sondern
auch die von anderen Firmen macht deutlich, dass wir
darüber nachdenken müssen, wie wir Betriebsräten und
Aufsichtsräten gerade hinsichtlich der Standortschließungen und der damit verbundenen Massenentlassungen
mehr Rechte zuteil werden lassen, damit diese Dinge
nicht so oft vorkommen wie in der Vergangenheit. Ich
glaube aber nicht, dass es, wie von der Linken gefordert,
reicht, das Kündigungsschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Aktienrecht zu verändern, um einem global agierenden Unternehmen vorzuschreiben,
was zu tun oder zu lassen ist. Wir werden in den Ausschüssen genügend Gelegenheit haben, gemeinsam darüber zu beraten, wie wir diesen negativen Beispielen
der vergangenen Monate entgegentreten können. Herr
Lafontaine, so oft Sie es auch gerade vor dem 1. Mai
versuchen: Es wird Ihnen und der Linkspartei nicht gelingen, in diesen Fragen in Konkurrenz zur Sozialdemokratischen Partei zu treten.
({2})
Meine Damen und Herren von der Linken, allerdings
glaube ich auch nicht, dass wir die Probleme allein national regeln können; vielmehr müssen wir diese Probleme auch auf der europäischen und der internationalen
Ebene angehen. Neben dem Bemühen, soziale Mindeststandards in Europa heute mehr denn je zu verankern,
muss es das Ziel sein, die Rechte von Betriebsräten und
von Mitbestimmungsorganen deutlich zu stärken. Deshalb ist für die Bundestagsfraktion der SPD klar, dass
wir die Mitbestimmung von Betriebsräten, Gewerkschaften und Aufsichtsräten auch über nationale Grenzen hinaus erweitern müssen. Die Interessenvertretungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dürfen
nicht nur national, sondern sie müssen insbesondere europäisch und global ausgerichtet werden. Wir sollten
aber auch - das gehört zur Ehrlichkeit dazu - die Konzerne und mittelständischen Unternehmen herausheben,
die bewusst am Standort Deutschland festhalten und sich
zu qualifizierten Arbeitskräften bekennen. Manch ein
Konzern hat, so habe ich mir sagen lassen, mit Standortverlagerungen bereits sehr schlechte Erfahrungen gesammelt.
Der Tag der Arbeit, der 1. Mai 2008, steht vor der
Tür. Ich hoffe, Sie beteiligen sich zahlreich daran. Es ist
ein guter Anlass, um den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland zu signalisieren - die Sozialdemokraten tun dies -: Wir stehen bei diesen Fragen
an eurer Seite und lassen euch nicht allein. Der Wunsch
der Menschen in Deutschland nach mehr sozialer Gerechtigkeit ist größer als je zuvor. Die Menschen haben
einen Anspruch darauf, dass wir ihnen Antworten geben,
und wir wollen ihnen diese Antworten geben.
Vielen Dank.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8448 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit
weltweit durchsetzen und der Internet-Zensur
entgegentreten
- Drucksache 16/8871 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 3. Mai ist alljährlich der Internationale Tag der Pressefreiheit. Die Achtung der Meinungs- und Pressefreiheit ist als Grundwert verankert in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt über
bürgerliche und politische Rechte. Zuletzt haben sich die
VN-Mitgliedstaaten anlässlich des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft in Tunis im Jahre 2005 zu den Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit bekannt. Zugleich sind das Recht auf freie Meinungsäußerung und
das Recht auf freie Berichterstattung elementares Kennzeichen zahlreicher nationalstaatlicher Gesetze, so auch
an prominenter Stelle in Art. 5 unseres Grundgesetzes.
Dennoch müssen wir feststellen, dass in zahlreichen
Staaten der Welt die Durchsetzung des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit akut bedroht ist. Aber auch die
Internetzensur wird mehr und mehr Teil staatlicher Repressionen in autoritären Regimen. Rund einem Drittel
der Weltbevölkerung, also etwa 2 Milliarden Menschen,
werden das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht
auf freien Zugang zu unabhängigen Informationen verwehrt, so Amnesty International im September 2007.
Die Situation für viele Journalistinnen und Journalisten weltweit verbessert sich nicht. Es sind erschreckende
Zahlen: 100 getötete Journalisten, 900 Verhaftungen,
1 500 physische Übergriffe und über 50 Entführungen
allein im Jahr 2006; und für das Jahr 2007 ist keine Besserung in Sicht. Neben jedem einzelnen persönlichen
Schicksal, das wir beklagen, ist jeder dieser staatlichen
Übergriffe, wo auch immer sie geschehen, ein deutlicher
Schlag gegen elementare, verbindende und verbindliche
Werte, die in fast allen Staaten dieser Erde auf dem Papier Geltung haben. Dazu darf die internationale Staatengemeinschaft und dazu dürfen auch wir in diesem
Parlament nicht schweigen.
In unserem Land hat die Pressefreiheit durch die in
der Verfassung artikulierte Werteordnung einen - ich
habe es schon gesagt - hohen, ja, einen überragenden
Stellenwert; und das ist gut so. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Charakter in mehreren Entscheidungen immer wieder betont und der Pressefreiheit einen
konstitutiven Beitrag zum Bestehen unserer Verfassungsordnung zugeschrieben. Darauf können wir stolz
sein. Aber das enthebt uns natürlich nicht unserer alltäglichen Verpflichtung, darüber zu wachen, dass die Verfassungswirklichkeit in unserem Land diesem Anspruch
auch gerecht wird. Da stimmt es mich immer wieder
nachdenklich, dass Eingriffe in dieses Grundrecht auch
in unserem Land beklagt werden, Eingriffe gegenüber
Presseorganen, die im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse arbeiten, die aufklären und damit einen wesentlichen Beitrag zum Funktionieren unseres Gemeinwesens
leisten.
Es darf deshalb kein Zweifel daran bestehen, dass alle
Vorwürfe in dieser Richtung lückenlos aufgeklärt werden und dass nötigenfalls Konsequenzen gezogen werden müssen.
({0})
Denn wir haben nur dann das Recht, bedrohliche Entwicklungen in anderen Ländern zu kritisieren, wenn wir
unser eigenes Haus in Ordnung halten.
({1})
Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich setze
ich solche Vorfälle in unserem Land nicht mit dem
gleich, was anderswo geschieht, wo dieses Grundrecht
insgesamt mit Füßen getreten und für politische Zwecke
missbraucht wird. Im Gegenteil: Der Umstand, dass solche Vorfälle bei uns aufgegriffen, diskutiert und im politischen Raum erörtert werden, der Umstand, dass die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden
können, beweist das genaue Gegenteil. Er zeigt, dass die
Pressefreiheit funktioniert. Er zeigt, dass die Presse ihre
Kontrollfunktion wahrnimmt. Er zeigt, dass das rechtsstaatliche System in unserem Land an dieser Stelle komplett in Ordnung ist. Auch darauf können wir nach
60 Jahren Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
stolz sein.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]
Ich möchte noch auf die zunehmende Bedeutung der
neuen Medien eingehen, zu der sich unser Antrag ja
auch verhält. Ich glaube, dass wir mit veränderten Wegen des Informations- und Meinungsaustauschs auch
Hoffnungen auf die zunehmende Durchsetzung der Meinungs- und Pressefreiheit verbinden dürfen. Mit dem
Beginn der Internetkommunikation erwarteten viele,
dass mit diesem Medium die klassische Zensur außer
Kraft gesetzt werden könne, dass autoritäre und repressive Regime in dieser Welt durch das World Wide Web
unter inneren und äußeren Druck gesetzt werden könnten. Ich glaube, das wird sich in Zukunft bestätigen.
Wenn die Informations- und Pressefreiheit der klassischen Medien durch den Staat eingeschränkt wird oder
Presse und Medien durch den Staat gesteuert werden,
bietet das Internet eine unabhängige Informationsquelle.
So erhalten die Bürgerinnen und Bürger ein differenziertes Bild ihres eigenen Staates und können dies unter Umständen auch infrage stellen. Zugleich eröffnet das Internet eine unabhängige Informationsquelle für die
Weltöffentlichkeit. Durch E-Mails, durch Chatforen oder
durch die sogenannten Blogs, also virtuelle Tagebücher,
erfahren Menschen außerhalb solcher Regime von Ereignissen in diesen Staaten, die die Regime selbst der
Öffentlichkeit vorenthalten. Ich darf nur erinnern an
viele, auch sehr berührende Blogs aus den letzten Jahren
aus Afghanistan, aus dem Irak, aber auch schon aus dem
Bosnien-Konflikt. Sie haben vielen in dieser Welt die
Augen für die Situation in diesen Ländern geöffnet. Es
kann und darf nicht sein, dass Zensur solches unterdrückt.
({2})
Aber bevor wir auf die Internetzensur in anderen Ländern eingehen, müssen wir - das möchte ich an dieser
Stelle betonen - in unserem eigenen Bereich schauen,
was an bestimmten Stellen geschieht. Ich tue das am
Beispiel China. Natürlich wissen wir, dass viele chinesische Medien - auch im Internet - unterdrückt und zensiert werden. Wenn Weltunternehmen wie Yahoo oder
Google, die nicht im chinesischen, sondern in unserem
westlichen Rechtskreis beheimatet sind, in vorauseilendem Gehorsam Zensurmaßnahmen der chinesischen Regierung nicht nur begleiten, sondern sogar unterstützen
- das sollten wir sehr deutlich ansprechen -, dann, finde
ich, ist es unsere Pflicht, zu sagen: Liebe Leute, macht
an dieser Stelle mal einen Punkt! - Wenn wir wollen,
dass es eine offene Informationsgesellschaft gibt, dann
müssen solche sozusagen vorbeugenden Zensurmaßnahmen durch Firmen dieser Art beendet werden.
Ich habe einmal etwas überlegt. Wir reden viel über
Boykott, und hier sind so viele junge Leute. Wenn Sie
ein Zeichen setzen wollen, dann boykottieren Sie mal
zwei Tage Yahoo oder Google! - Wir können dann
schauen, ob wir es nicht gemeinsam hinbekommen, dass
solche Zensurmaßnahmen irgendwann einmal der Vergangenheit angehören. - Das wäre doch mal eine vernünftige Idee.
({3})
Es ist an dieser Stelle viel zu tun. Wir müssen auch
bei uns selbst noch eine Menge arbeiten, damit wir auf
den richtigen Weg kommen. Ich möchte mit einem Zitat
von Albert Camus schließen, dem aus meiner Sicht
nichts mehr hinzuzufügen ist. Es lautet:
Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein, aber
eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Der Kollege Florian Toncar spricht jetzt für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Meinungs- und Pressefreiheit werden leider
in vielen Staaten der Welt eingeschränkt. Dadurch werden kritische Stimmen brutal unterdrückt, autoritäre Regierungen können ihre Macht behaupten. Dies verstößt
gegen eines der elementaren Menschenrechte, den Kern
der bürgerlichen und politischen Freiheiten. Wo Meinungs- und Pressefreiheit unterdrückt werden, herrscht
politische Unfreiheit. Korruption, Machtmissbrauch und
Inkompetenz werden vertuscht, Bürger werden bevormundet. Meinungs- und Pressefreiheit sind essenziell,
um Transparenz und eine kritische Öffentlichkeit zu
schaffen. Unfreiheit und Gängelung verstoßen nicht nur
gegen die Menschenrechte, sondern sie behindern auch
den gesellschaftlichen Fortschritt.
Deswegen wird jedes Land, das sich Modernisierung
und Öffnung auf seine Fahne geschrieben hat, nicht darum herumkommen, Modernisierung und Öffnung in alFlorian Toncar
len Bereichen nicht nur wirtschaftlich umzusetzen, sondern auch bei den politischen und gesellschaftlichen
Strukturen und Rechten anzupacken; sonst wird das
nichts.
({0})
Wenn Bürger nicht in der Lage sind, Kritik zu äußern
und auf Missstände hinzuweisen, dann wird man eine
Gesellschaft nicht modernisieren und verbessern können. Das ist ein ganz pragmatischer Grund, nicht der einzige, aber einer, auf den wir immer wieder hinweisen
sollten.
Gerade im Zusammenhang mit der Berichterstattung
über die Ereignisse jetzt in Tibet haben wir von der chinesischen Regierung vorgehalten bekommen, die Berichterstattung in den westlichen Medien sei einseitig
und falsch gewesen. Darauf muss man schlicht und ergreifend entgegnen: Es mag sein, dass Fehler vorkommen, aber das liegt hauptsächlich wohl daran, dass die
Journalisten nicht nach Tibet reisen können und sich die
Lage vor Ort nicht anschauen können. Woher sollen sie
es also wissen?
({1})
Wenn das alles dort so abgelaufen ist, wie es die chinesische Seite darstellt, dann wäre es ja geradezu in ihrem
Interesse, das auch zu zeigen. Dann müsste sie Journalisten und Berichterstatter in das Land hineinlassen, damit
sie es uns hier auch darstellen können.
({2})
Mit der Argumentation, die hier vorgebracht wird,
schneidet sich China, wie ich glaube, ins eigene Fleisch.
Deswegen wäre es mehr als angebracht und günstig,
wenn die Chinesen die Berichterstattung aus Tibet sofort
zulassen würden und nicht erst in absehbarer Zeit.
({3})
Neben repressiven Regierungen zählen Bürgerkriegsparteien zu den größten Feinden der Meinungs- und
Pressefreiheit. Länder wie beispielsweise Kolumbien,
Irak und Somalia sind ausgesprochen gefährliche Pflaster für Journalisten. Wir erwarten, dass auch in diesen
Ländern die Regierungen alles dafür tun, dass Menschen, die von dort berichten wollen, dies angstfrei und
ohne Gefahren für das eigene Leben tun können.
Der Antrag legt zu Recht einen Schwerpunkt auf die
Rolle der modernen Medien. Kollege Strässer hat dazu
eigentlich schon das Nötige gesagt. Ich stimme Ihnen,
Herr Kollege Strässer, ausdrücklich zu, dass das, was bei
einigen westlichen IT-Unternehmen geschieht - Sie
haben das angesprochen -, die Missbilligung dieses
Hauses finden muss. Man kann das sogar noch konkretisieren: So gibt es den Fall des chinesischen Internetbloggers Shi Tao, der, nachdem Yahoo seine Daten an die
chinesischen Behörden weitergegeben hat, zehn Jahre
Gefängnis bekommen hat. Solche Verhaltensweisen
wünschen wir uns von Wirtschaftsunternehmen, die in
den westlichen Ländern ihren Sitz haben und stärker als
fast jede andere Körperschaft von der Freiheit des Internets leben, selbstverständlich nicht. Hier muss sich, wie
ich glaube, noch einiges ändern.
({4})
Der Antrag, den die Bundesregierung vorgelegt hat,
ist im Großen und Ganzen konsensfähig und zeigt ein
breites Spektrum an Maßnahmen auf.
({5})
Herr Kollege Haibach, bevor die Freude zu groß wird,
lassen Sie mich sagen: Dass er so konsensfähig ist, liegt
natürlich auch daran, dass in ihm wichtige und entscheidende Punkte gar nicht angesprochen werden, insbesondere nämlich die Rolle, die Deutschland im eigenen
Land in Sachen Pressefreiheit einnimmt. Über die Beurteilung von Vorgehensweisen im Ausland herrscht meist
sehr schnell Einigkeit, aber die Fehlentwicklungen, die
wir im eigenen Lande in den letzten Jahren erlebt haben,
werden nicht angesprochen.
({6})
Das mag dazu beitragen, dass dieser Antrag konsensfähig ist, aber er ist leider nicht vollständig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Auch in Deutschland ist nämlich in Sachen Pressefreiheit einiges in Schieflage geraten. Ich möchte nur das
Beispiel der Vorratsdatenspeicherung nennen. Durch das
entsprechende Gesetz werden gerade Journalisten in besonderer Weise getroffen, weil sie darauf angewiesen
sind, mit bestimmten Informanten und Quellen vertraulich kommunizieren zu können.
({8})
- Zu dem komme ich auch noch, Herr Kollege Trittin. Er
ist der Nächste.
({9})
Die Vorratsdatenspeicherung ist mit Sicherheit ein
klassisches Beispiel dafür, dass in den letzten Monaten
bei der Gesetzgebungsarbeit viel in die falsche Richtung
gelaufen ist. Es gab die Durchsuchung von Redaktionsräumen, zum Beispiel im Fall Cicero. Es gab Vorwürfe
gegen den BND, dass Journalisten abgehört würden. Angesichts dessen, was wir heute lesen konnten, bin ich
überrascht und erschrocken darüber, wie wenig Fingerspitzengefühl und wie wenig Sensibilität offensichtlich
auch Nachrichtendienste aus Rechtsstaaten haben, wenn
es um die Überwachung von Personen geht. Das hätte
ich nicht für möglich gehalten. Ich kann nur dazu raten,
in dieser Affäre so schnell wie möglich Klarheit zu
schaffen und gegebenenfalls auch personelle Konsequenzen zu ziehen.
({10})
Wir müssen uns klarmachen, dass gewisse Einschränkungen der Pressefreiheit, die wir bei uns hier vornehmen, von anderen Ländern, die ganz andere, zum Teil
sehr perfide Zielsetzungen haben und eigentlich überhaupt keine freie Berichterstattung wollen, zum Anlass
genommen werden, sie uns vorzuhalten. Mit diesen
Maßnahmen, die in einem rechtsstaatlichen Rahmen natürlich noch einmal anders zu bewerten sind
({11})
- selbstverständlich -, werden wir dann konfrontiert und
kommen dadurch in Argumentationsnot. Deswegen
glaube ich, um zu dem Antrag zurückzukommen, es
wäre notwendig gewesen, auch die Verantwortung der
deutschen Innenpolitik für die Pressefreiheit darzustellen; denn nur, wenn wir hier unser Feld bestellen, können wir auch im Ausland glaubwürdig auftreten.
({12})
Ich erwarte natürlich auch - das will ich zum Schluss
noch bemerken -, dass die Presse selber Pressefreiheit
lebt. In einigen Fällen kam es in den letzten Monaten leider zu einer Form von vorweggenommener Selbstzensur. Ich finde es erstaunlich, wie in manchen europäischen Ländern über den olympischen Fackellauf
berichtet worden ist. Wir hatten auch eine sehr eingeschränkte Berichterstattung über den Karikaturenstreit.
Insbesondere in den frei zugänglichen Zeitungen haben
wir diese Karikaturen nicht zu Gesicht bekommen. Man
mag sich ja von dem Inhalt dieser Karikaturen distanzieren; aber dass, wenn die Welt über so etwas streitet, der
deutsche Zeitungsleser nicht weiß und nicht sehen kann,
worüber gestritten wird, ist eine Form von Selbstzensur,
die kein besonders positives Bild auf die Redaktionen
geworfen hat.
({13})
Dies muss meiner Meinung nach in den Zeitungen und
Redaktionen kritischer diskutiert werden.
Schützen wir die Pressefreiheit bei uns und auch anderswo; denn die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit sind die zwei gern gesehenen Patentanten der Demokratie.
({14})
- Das ist ein Bonmot des bekannten Philosophen Florian
Toncar,
({15})
aber ein richtiges und wichtiges. Nehmen wir es uns zu
Herzen!
({16})
Jetzt hat das Wort der Kollege Holger Haibach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es spricht für
den Deutschen Bundestag, dass man sogar bei solch einem Thema noch etwas zu lachen findet.
Ich erlaube mir zu dem, was der Kollege Toncar gesagt hat
({0})
- Philosoph Toncar, genau -, den ich ansonsten sehr
schätze, zwei Bemerkungen. Erstens eine formale Bemerkung: Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass, wenn auf
einem Antrag „Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD“ steht, das ein Antrag der Bundesregierung sei.
Wir sind durchaus in der Lage, unsere eigenen Anträge
zu schreiben.
({1})
Zweitens. Ich glaube, niemand würde Ihre These bestreiten, Herr Kollege Toncar, dass Glaubwürdigkeit sehr
stark davon abhängt, ob man im eigenen Land das Richtige tut. Das ist nicht die Frage. Es ist auch sicherlich
niemand hier im Raum, der sagen würde, Deutschland
ist ein Land, in dem alles in Ordnung ist. Der Unterschied - darauf hat der Kollege Christoph Strässer dankenswerterweise hingewiesen - ist jedoch, dass es hier
eine rechtsstaatlich funktionierende Rechtsprechung und
Möglichkeiten gibt, Dinge einzuklagen und politisch zu
diskutieren. Ich kann uns nur raten, nicht in die Argumentationsfalle hineinzugehen und Dinge gleichzusetzen, die nichts miteinander zu tun haben.
Das waren die Bemerkungen, die ich in diesem Zusammenhang gerne vorwegschicken wollte.
Das Thema „Zensur von Presse und des Internets“
spielt ja in unseren Debatten nicht erst seit gestern eine
Rolle. Ich habe mich ein bisschen ins Archiv vergraben
und festgestellt, dass der erste Antrag, den ich diesem
Hohen Hause vorgelegt habe, lautete: „Presse- und Meinungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen - Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen“. Dieser Antrag stammt aus dem
Jahre 2004. Das erzähle ich nicht, weil der Antrag so toll
ist, da er von mir stammt - natürlich ist er gut; das ist gar
keine Frage -,
({2})
sondern weil heute der Antrag fast komplett wieder so
geschrieben werden könnte. Ich finde es wirklich bedauerlich, dass wir wenig Fortschritt sehen, was Meinungsund Pressefreiheit betrifft, und dass wir ausgerechnet da,
wo wir eigentlich keinen Fortschritt sehen wollen, nämlich bei der Zensur des Internets, wesentlich mehr Fortschritte sehen, als es gut und notwendig wäre.
Ich halte es gerade in diesem Zusammenhang für
wichtig, klarzumachen, dass es nicht nur darauf ankommt, dass in einer Verfassung eines Landes eine
Presse als frei dargestellt wird, dass sie formal unabhängig ist. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Geist einer Gesellschaft stimmt. An zwei sehr bedauerlichen
prominenten Beispielen des letzten und dieses Jahres
kann man das sehr deutlich feststellen. Ich erinnere an
die Ermordung von Hrant Dink und von Anna Politkowskaja. Diese Ermordungen an sich sind schlimm genug, aber dass auf diese Ermordungen hin keine adäquate Reaktion der jeweiligen Staaten gefolgt ist, dass
es eben keine unabhängige Justiz gibt, dass es keine
wirkliche Strafverfolgung gegeben hat, ist der eigentliche Skandal. Das müssen wir hier deutlich thematisieren; denn das macht den Unterschied zwischen Ländern,
in denen Presse- und Meinungsfreiheit tatsächlich existieren, und Ländern, in denen Presse- und Meinungsfreiheit nur auf dem Papier existieren, aus.
Ein dritter Fall, den man davon sicherlich unterscheiden muss, sind Länder, in denen Presse- und Meinungsfreiheit von vornherein nicht vorgesehen sind. Auch das
gibt es sehr häufig auf dieser Welt. Aber wir erleben,
dass - das müssen wir deutlich sagen - in Ländern, in
denen das schon einmal etwas anders war, die Entwicklung leider negativ verläuft. Ich möchte noch einmal das
Beispiel Russland erwähnen. Dort hat es in den letzten
Jahren viele Entwicklungen in der Gesetzgebung gegeben, die leider dazu geführt haben, dass die freie russische Medienlandschaft, wie es sie während der 90erJahre durchaus gegeben hat, heute nicht mehr in dem
Maße existiert. Es gibt noch freie Zeitungen; aber die
Monopolisierung des Fernsehens und die Situation zum
Beispiel bei den regionalen Radiostationen stellen ein
großes Problem dar.
Besonders betroffen sind natürlich die Gruppen, die
ohnehin am „Rande“ der Gesellschaft angesiedelt sind.
Damit meine ich Gruppen, die nicht von vornherein
hoch angesehen sind. Der Kollege Beck hat in Moskau
die Erfahrung machen können, wie es ist, wenn man einer Gruppe, die nicht die Mehrheit der Gesellschaft bildet, angehört und versucht, sich im Sinne dieser Gruppe
zu äußern. Das zeigt sehr deutlich, wie eine Gesellschaft
wie die russische tatsächlich aufgestellt ist. Dabei geht
es nicht nur um die Frage, ob man seine Meinung insgesamt frei äußern kann. Wenn der russische Patriarch
Alexej II. in der Parlamentarischen Versammlung des
Europarats in Bezug auf eine Veranstaltung, in der für
die Rechte von Schwulen, Lesben und TransgenderPeople geworben wird, sagt, das sei, wie Werbung für
Diebstahl zu machen, dann zeigt das sehr deutlich, dass
der Geist der Gesellschaft nicht stimmt. Ich glaube, das
ist das Schlimmste, was einer Gesellschaft passieren
kann.
({3})
Wir sehen, dass solche Staaten auch nicht davor zurückschrecken, Druck auf andere Staaten und Institutionen anderer Staaten auszuüben. Wenn der Bundestagspräsident für sich die Entscheidung trifft, den DalaiLama treffen zu wollen, wenn er kritisiert, dass einer der
prominentesten Menschenrechtskritiker in China zu
dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist - was ich
für besorgniserregend halte in einer Zeit, in der die
Olympischen Spiele unmittelbar bevorstehen und in der
eigentlich das Versprechen galt, Menschenrechte einzuhalten und für mehr Menschenrechte zu sorgen -, dann
halte ich das für ein beachtliches Zeichen. Ich bin Herrn
Lammert wirklich dankbar, dass er an dieser Stelle seine
Meinung über den Druck der chinesischen Botschaft gestellt hat. Ich würde mir wünschen, dass wir alle das täten.
({4})
Wenn wir uns ernsthaft fragen, was wir tun können,
zeigt sich, dass wir durchaus nicht immer so machtlos
sind, wie es manchmal aussieht. Natürlich ist es wichtig,
in bilateralen Gesprächen auf diejenigen hinzuweisen,
die sich für Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen und
aus diesem Grund im Gefängnis sitzen oder mit Drohungen überzogen werden. Aber es ist eben auch wichtig, in
internationalen Gremien - sei es die UNO, der UN-Menschenrechtsrat oder auch der Europarat, in dem viele von
uns Mitglied sind - unseren Kollegen aus anderen Ländern deutlich zu machen, dass Presse- und Meinungsfreiheit keine Gefahr für eine Demokratie sind, sondern
im Grunde genommen einer der wichtigsten Bausteine,
einer der wichtigsten Grundpfeiler einer Demokratie.
Um das festzustellen, muss man übrigens nicht einmal
zwingend Philosoph sein.
({5})
Insofern glaube ich, dass wir alle dort eine Aufgabe
haben. Ich denke, dass wir diese Aufgabe auch alle
wahrnehmen sollten.
Es gibt sicherlich viele Beispiele. Auf der Homepage
von „Reporter ohne Grenzen“ findet man zum Beispiel
ein Ranking der Länder, in denen Journalisten von Repressionen bedroht sind. Auch das Internet, das für uns
immer eine Hoffnung bedeutet hat, weil wir dachten,
dass Menschen sich dort wirklich frei entfalten können
und ihre Meinung sagen können - der Kollege Strässer
hat viel dazu gesagt -, wird immer mehr bedroht. Deshalb glaube ich, dass wir alle gemeinschaftlich aufgefordert sind, hier Anstrengungen zu unternehmen.
Jeder hat hier mit einem Zitat geendet. Ich bin zugegebenermaßen kein Philosoph; deswegen ende ich nicht
mit einem eigenen Zitat. Aber wenn man den Geist der
Freiheit einer Gesellschaft beschreiben will, gibt es, wie
ich finde, ein gutes Zitat, das fälschlicherweise meistens
Voltaire zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber von
der sehr klugen englischen Schriftstellerin Evelyn
Beatrice Hall stammt, die von 1868 bis 1919 gelebt hat.
Sie lässt eine ihrer Romangestalten sagen:
Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen hat jetzt das
Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder hat bisher mit einem Zitat geendet; ich fange mit
einem Zitat an:
Nicht ungestraft ist man Journalist.
Das schrieb 1893 der Theodor Herzl, damals einer der
renommiertesten Zeitungskorrespondenten, aus Paris an
seine Chefredaktion nach Wien. Er spielte damit auf die
vielfältigen Sanktionen gegen inländische und ausländische Journalisten an, die in den europäischen Monarchien, aber auch in der Französischen Republik, die doch
die Presse- und Meinungsfreiheit zu ihrem Fundament
gemacht hatte, an der Tagesordnung waren.
„Nicht ungestraft ist man Journalist“, wenn man Journalist ist und nicht nur bunte Geschichten verkauft. Das
galt damals, und das gilt heute. Denn die Presse- und
Meinungsfreiheit, dieses hohe Gut, ist nicht den Mächtigen der Politik und der Wirtschaft ein für alle Mal abgerungen worden und damit für immer vorhanden, sondern
sie muss praktisch jeden Tag und immer wieder aufs
Neue erkämpft werden. Insofern ist heute ein exemplarischer Tag, an dem wir uns hier mit dem Thema „Pressefreiheit weltweit“ befassen und sich gleichzeitig unser
Kontrollgremium mit der BND-Bespitzelung der Spiegeljournalistin Susanne Koelbl befasst.
Diktaturen kontrollieren brutal, Demokratien sublim siehe auch jetzt und in Zukunft Berlusconis Italien. Da
werden wir noch einiges zu beobachten haben. Insofern
befasst sich der Antrag der Koalitionsfraktionen mit einem großen und wichtigen Thema.
Die Diagnose der weltweiten Unterdrückung der
Presse- und Meinungsfreiheit und der Verfolgung von
Journalistinnen und Journalisten ist erschreckend. Naiv
erscheint mir allerdings die Erkenntnis der Antragsteller,
dass die Methoden der Medienzensur durch staatliche
Organe nun auch das Internet erreicht hätten. Warum
sollte ausgerechnet das World Wide Web ein Medium
sein, das die politisch und wirtschaftlich Mächtigen
nicht für ihre Zwecke, ihre Propaganda, ihre Lügen, ihre
Manipulationen nutzen und unter Kontrolle bringen wollen?
({0})
Jedes neue Medium wurde so in der Vergangenheit
missbraucht: Zeitungen, Radio, Fernsehen. Wieso nicht
gleichermaßen das Internet? Der Blogger von heute ist
nichts anderes als der Verteiler von Handzetteln und
Flugschriften aus dem 19. Jahrhundert.
Was aber sollen wir, können wir tun gegen die weltweite Zensur, die Einschränkung oder Nichtgewährung
der Pressefreiheit und die Verfolgung derer, die journalistisch arbeiten? Neun Forderungen stellt der Antrag.
Sie sind sehr pauschal und äußerst deklamatorisch. Die
Bundesregierung soll sich „einsetzen“, in Gesprächen
„darauf bestehen“ und „einfordern“. Aber ist damit etwas zu erreichen? Unter Punkt 7 wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich für die lückenlose Aufklärung von Überfällen
und Morden an Journalisten in jenen Ländern einzusetzen, in denen eine innerstaatliche Strafverfolgung nicht gewährleistet ist …
Ich frage: Wie soll so etwas gehandhabt werden? Welchen politischen Wert in Bezug auf eine Realisierung besitzt eine solche Aussage?
Wir halten das Thema für zu gewichtig, um es im rein
Appellativen zu belassen und es allein mit pauschalen
Forderungen zu unterlegen. Aus diesem Grund werden
wir im weiteren parlamentarischen Verfahren einen Änderungsantrag einbringen, in dem wir zusätzliche, konkrete Forderungen zum Schutz journalistischer Berichterstattung, gegen Zensur und für die Ausweitung der
Presse- und Meinungsfreiheit formulieren wollen. Dazu
soll auch vor der eigenen Haustür gekehrt werden.
({1})
Beispiele sind - sie sind schon erwähnt worden - der
Fall des Zeitungsmagazins Cicero, also die Untersuchungsverfahren gegen 17 Journalisten wegen angeblichen Geheimnisverrats, sowie - darauf hinzuweisen,
liegt uns sehr am Herzen - die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch die Justizministerin, die eben keinen besonderen Schutz für die journalistische Berichterstattung vorsieht. Das muss sich aus
unserer Sicht wirklich ändern.
({2})
Wenn man sich diese Punkte ansieht, dann muss man
sagen, dass es insgesamt gesehen keine besonders gute
Reverenz für ein Land ist, das überall auf der Welt die
Achtung der Pressefreiheit einfordert.
Ich danke Ihnen.
({3})
Volker Beck spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei
Redner vor mir haben mit einem Zitat geendet, eine Rednerin hat mit einem Zitat begonnen. Ich will es halten
wie die Kollegin Luk Jochimsen:
Volker Beck ({0})
Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein, aber
eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein.
({1})
Das hat uns der Kollege Camus
({2})
bzw. der französische Philosoph Camus auf den Weg gegeben.
Dies berührt den Kern der Debatte, auch bei der
Frage: Was schulden wir uns selbst? Wenn wir die Pressefreiheit in anderen Ländern anmahnen, dann bedeutet
das einerseits, dass wir unsere Journalisten ermahnen
müssen, die Verantwortung, die Pressefreiheit beinhaltet,
auch auszufüllen. Dies betrifft die Diskussion über
China. Es geht nicht an, dass eine freie Presse, obwohl
sie das sicher darf, falsche Bilder zu Texten über konkrete Vorfälle liefert. Dazu gehört auch Verantwortung.
Die Presse muss es mit sich selber ausmachen, dass so
etwas abgestellt wird.
Der zweite Punkt ist: Wenn wir die Pressefreiheit so
hoch achten, heißt das auch, dass wir in Deutschland
Pressefreiheit in vollem Umfang gewähren müssen. Es
wurde schon angesprochen: Die aktuelle Nachrichtenlage sagt, dass es wahrscheinlich nicht nur eine einzelne
Journalistin war, die erneut - das ist ja nicht der erste
Fall - vom Bundesnachrichtendienst überwacht wurde.
Wir müssen klar sagen: Zur Pressefreiheit gehört auch
das Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten und damit der daraus folgende Informantenschutz. Dieser darf
nicht durch technische Mittel unterlaufen werden. Deshalb ist der Trojaner des Bundes auf dem Computer der
Spiegel-Redakteurin ein Skandal und ein direkter Angriff auf die Pressefreiheit in unserem Land.
({3})
Ich weiß nicht, was beim BND los ist, warum sich das
ständig wiederholt. Da braucht es dringend eine Strukturreform und vielleicht auch ein bisschen Nachhilfeunterricht in den Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, damit wir mit Fug und Recht auf andere
Länder zeigen und sagen können: Da muss sich einiges
ändern.
Wir sollten bei diesen Debatten im Ausschuss darüber
diskutieren - denn der vorliegende Antrag ist sehr allgemein -, an welchen Punkten uns konkret Verantwortung
zukommt und ob es tatsächliche Handlungsoptionen für
uns gibt. Ich finde es zum Beispiel ganz wichtig, dass
wir in einem Land wie Afghanistan, in dem wir militärisch präsent sind, darauf achten, dass unsere Kooperationspartner, zum Beispiel die afghanische Regierung,
die Pressefreiheit einhalten. Dass ein 23-jähriger Student - Sayed Pervez Kambaksh heißt er - aufgrund seiner Artikel in einem Blog - er hat über Frauenrechte und
den Koran geschrieben - wegen Beleidigung des Propheten zum Tode verurteilt wird, ist ein Skandal. Ich fordere die Bundesregierung auf, nicht nachzulassen und
dafür zu sorgen, dass dieses Urteil ohne Wenn und Aber
aufgehoben wird.
({4})
Denn wir sind dafür angetreten, dort Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte zu schützen,
und wollen nicht das Gegenteil zu verantworten haben.
Kollege Toncar hat vorhin die Mohammed-Karikaturen angesprochen. Ich finde, wir sollten ehrlich sein und
darüber diskutieren, warum wir in unserem Strafrecht
noch § 166 StGB, den alten Blasphemieparagrafen, haben, der Meinungsäußerungen über Religionsgemeinschaften anders behandelt als solche über andere gesellschaftliche Gruppen. Ich denke, zu einer freien und
pluralistischen Gesellschaft gehört es, dass man keine
soziale Gruppe beleidigen darf. Überall muss der gleiche
rechtliche Maßstab gelten. Da braucht es kein Sonderrecht für Religionsgemeinschaften.
({5})
Die Mohammed-Karikaturen sind letztendlich eine
strafrechtliche Handlung im Sinne dieser Vorschriften;
daran besteht kein Zweifel. Der öffentliche Frieden ist
gestört. Religiöse Inhalte werden verunglimpft. Ich
meine, das muss eine Demokratie aushalten und das
muss man gesellschaftlich zurückweisen, aber nicht mit
der Staatsanwaltschaft und dem Zensorinstrument, sondern liberal und als aufgeklärte Bürgergesellschaft.
({6})
Kollege Haibach hat Russland bzw. Moskau angesprochen. Die Versammlungsfreiheit ist so etwas wie die
Pressefreiheit des kleinen Mannes. Wer keine Zeitung
drucken kann und kein Geld für Druckerpressen und
Flugblätter hat, ist darauf angewiesen, dass er seine Meinung durch Demonstrationen sagen kann.
Heute hat der Interreligiöse Rat der Russischen Föderation Thomas Hammarberg, den Kommissar für Menschenrechte des Europarates, aufgefordert, nicht erneut
das Demonstrationsrecht für Lesben und Schwule in
Russland einzufordern, sondern zu akzeptieren, dass die
erdrückende Mehrheit der Menschen in Russland Homosexualität ablehnt. Das haben die Christen, die Muslime,
die Juden und die Buddhisten in Russland gemeinsam
geäußert. Dazu muss ich sagen: Ich fordere die Führer
der Religionsgemeinschaften in Deutschland, die beiden
großen Kirchen, den Zentralrat der Juden und den Koordinierungsrat der Muslime, auf, mit ihren Glaubensschwestern und -brüdern in Russland darüber zu diskutieren und ihnen klar zu machen: Wenn es darum geht,
dass sich jemand artikulieren möchte, darf es keine Rolle
spielen, ob ihm die Mehrheit oder nur eine Minderheit
zustimmt.
({7})
Demonstrationsfreiheit bedeutet ja gerade das Recht,
Widerspruch zu äußern, und zwar ohne Einschränkung
durch andere. Das ist die Grundlage der Demokratie und
letztendlich die Grundlage aller bürgerlichen und politischen Rechte, von der Meinungsfreiheit über die Versammlungsfreiheit bis hin zur Pressefreiheit.
Volker Beck ({8})
({9})
Ich glaube, es wäre gut, wenn wir alle an unsere religiösen Führer appellieren würden, sich mit ihren russischen Kollegen auseinanderzusetzen und einen zivilgesellschaftlichen Dialog zu beginnen. In diesem Bereich
können wir nämlich nicht alles auf dem Wege von Deklarationen und Appellen an die Regierung erledigen.
Wir müssen auch Dialoge führen, um zivilgesellschaftlich voranzukommen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Wort zum Kollegen Beck: Der Kollege,
den Sie vorhin zitiert haben, hieß nicht Camus, sondern
Strässer.
({0})
Ich kann mich gut daran erinnern, dass im Herbst
1962, als ich 15 Jahre alt war, die Spiegel-Affäre die Republik beschäftigt hat. Wegen eines Artikels zur Atomstrategie des Verteidigungsministeriums wurde auf Betreiben des damaligen Verteidigungsministers Franz
Josef Strauß das Büro des Spiegel besetzt und die Chefredakteure Jacobi und Engels, die verantwortlichen Redakteure Conrad Ahlers und Hans Schmelz sowie der
Herausgeber Rudolf Augstein unter dem Vorwurf des
Landesverrates festgenommen. Dieses rigorose Vorgehen hat damals eine Welle der Empörung im In- und
Ausland ausgelöst. „Spiegel tot - Freiheit tot“ stand damals auf den Plakaten; daran kann ich mich noch gut erinnern.
Auf Antrag der SPD wurde vom 7. bis 9. November
1962 eine Bundestagsdebatte zur Aufklärung der Affäre
durchgesetzt. Die Verhafteten wurden entlassen, Augstein allerdings erst nach 103 Tagen, Hans Schmelz nach
81 Tagen und Conrad Ahlers nach 56 Tagen. Im November 1962 trat Franz Josef Strauß zurück. Die Pressefreiheit hat damals einen großen Sieg in Deutschland errungen.
Das ist meine erste persönliche Erinnerung an diesen
schwierigen und oft auch sehr widersprüchlichen Themenbereich. Er ist widersprüchlich - damals wie heute -,
weil eine real existierende oder fiktive Bedrohungslage
dazu benutzt wird, die Meinungs- und Pressefreiheit als
minder schützenswertes Gut einzustufen.
Wie stellt sich die Situation heute dar? Rüttelt ein
Vorgehen gegen Journalisten die Menschen heute noch
genauso auf wie damals? Allein in diesem Jahr wurden
weltweit 8 Journalisten getötet und 128 Journalisten,
7 Medienassistenten und 63 Onlinedissidenten verhaftet;
das ist auf dem aktuellen Barometer der Homepage von
„Reporter ohne Grenzen“ nachzulesen. Dort kann man
auch nachlesen, dass die Zahl der Angriffe und Bedrohungen mit etwa 1 500 so hoch wie nie zuvor ist.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, um aufzuzeigen,
worum es den Staaten im Frühjahr 2008 geht, wenn sie
die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken:
Am 22. Januar dieses Jahres - Herr Beck hat es schon
erwähnt - wurde der 23-jährige Journalist Sayed Perwiz
Kambaksh in Afghanistan zum Tode verurteilt. Grund
war ein Artikel über die Rolle der Frau im Koran. Am
3. April 2008 - das ist der Fall, den Herr Haibach angesprochen hat - wurde in Peking ein Journalist wegen Anstiftung zum Umsturz zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Grund: Er hatte mit ausländischen Journalisten
über die Olympischen Spiele und die Menschenrechtssituation in China gesprochen.
Es sind aber nicht nur Journalisten betroffen. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit von Minderheiten beschäftigt uns bereits seit Jahren. Damit meine ich nicht
nur ethnische Minderheiten, sondern auch Minderheiten
wie Schwule und Lesben, die sich zurzeit in Teilen Europas in einer schwierigen Situation befinden. Ich denke
auch an die Situation in Vilnius, in Moldawien, wo der
Christopher Street Day verboten ist, in Moskau und in
Riga. Auch die Sorge um die Presse- und Meinungsfreiheit in Russland treibt mich um. Als ich im Dezember
letzten Jahres als Wahlbeobachterin in Russland tätig
war, habe ich gesehen, wie übermächtig dort Meinung
gemacht wird und wie heftig dort abweichende Meinungen unterdrückt werden.
Einige Beispiele können deutlich machen, worum es
geht: Es geht um Macht, es geht um Kontrolle, und es
geht darum, Werte zu lenken. Meinungspluralismus und
die daraus entstehende Kritik am herrschenden System
sollen bereits im Keim erstickt werden, weil freies Denken und Sprechen und die kritische Betrachtung der
Politik an der Macht der Herrschenden rütteln und diese
das staatliche Monopol auf die „eine“ Wahrheit verlieren.
Meinungs- und Pressefreiheit sind - das ist in den bisherigen Beiträgen schon deutlich gemacht worden - ein
essenzielles Menschenrecht und eine Grundvoraussetzung unserer Demokratie. Die Bundesregierung muss
diese Themen in ihren Gesprächen mit menschenrechtsverletzenden Regimen immer wieder ansprechen; das ist
richtig und unverzichtbar.
Aber nicht nur sie sollte in die Pflicht genommen
werden. Aktuell muss, wie ich denke, auch die Position
des IOC scharf kritisiert werden, weil das IOC es immer
noch ablehnt, sich kritisch mit der schlechten Lage der
Angelika Graf ({1})
Menschenrechte in China im Allgemeinen, aber auch
speziell bei den Tibetern und den Uiguren auseinanderzusetzen.
({2})
Die Pressefreiheit wird vom IOC nie thematisiert.
China liegt, was sie Pressefreiheit betrifft, auf
Platz 163 von insgesamt 169 Ländern, die in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen aufgeführt sind. Außerdem sage ich an die Adresse des IOC ganz deutlich:
Auch Sportler sind keine meinungslosen Wesen, die ihren demokratischen Background mit dem Überziehen ihres Trikots abgeben. Ich denke, das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt auch für sie, auch und erst recht bei
der Olympiade in Peking.
({3})
Deutschland belegt auf der Pressefreiheitsskala der
Reporter ohne Grenzen übrigens nur Rang 20, direkt
nach Trinidad und Tobago. Das ist zwar nicht der
schlechteste Platz - die USA beispielsweise stehen auf
Platz 48 -, aber Sie werden mir wohl alle zustimmen,
wenn ich sage: Es könnte besser sein. Wir sollten uns
sehr intensiv mit den Gründen für dieses schlechte Ranking befassen. Das gilt insbesondere dann, wenn wir
gegenüber anderen Ländern mahnend den Zeigefinger
heben. Es ist ein Prinzip unseres Menschenrechtsausschusses, dass wir dann, wenn wir andere kritisieren,
auch auf uns selbst schauen.
({4})
Ich möchte eines deutlich machen: Bei uns gibt es im
Gegensatz zu anderen Ländern die Möglichkeit und das
Recht, sich gegen Einschränkungen und Übergriffe zur
Wehr zu setzen, vor Gericht, beispielsweise vor dem
Bundesverfassungsgericht, und auch überall sonst. Ich
muss sagen: Ich habe großes Vertrauen in unsere Gerichte. Denn gerade die Vorgänge, die in der Vergangenheit zu beobachten waren, haben gezeigt, dass die Pressefreiheit in unserem Land ein hohes Gut ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe
meinen Redebeitrag mit einer Bemerkung zur SpiegelAffäre begonnen. Sicherlich werden Sie mir zugestehen,
diesen Kreis nun zu schließen. Aus aktuellem Anlass
sage ich ganz deutlich: Es reicht nicht aus, wenn sich
BND-Chef Uhrlau bei einer monatelang offensichtlich
illegal abgehörten und überwachten Spiegel-Journalistin
persönlich entschuldigt.
({5})
In Zukunft werden wir uns in diesem Hohen Hause
mit der Frage beschäftigen müssen, welche Konsequenzen aus diesem Vorfall zu ziehen sind. Ich bin zuversichtlich, dass wir das gut meistern werden. Ich denke,
ein gutes Zeichen dafür, wie gut wir das meistern, ist,
dass sich das Parlamentarische Kontrollgremium mit
solchen Fällen sehr dezidiert und intensiv beschäftigt.
({6})
Das Wort hat Marco Wanderwitz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hat man es
als letzter Redner ein bisschen schwer, weil eine ganze
Menge von dem, was man sagen wollte, schon erwähnt
worden ist. Heute fällt es mir ein bisschen leichter, weil
sich die Oppositionsfraktionen faktisch nur mit Themen
beschäftigt haben, die zumindest nicht direkt Thema des
Antrags sind. Ich hätte mir schon gewünscht, dass wir
von Ihnen ein bisschen mehr zum Kernthema des Antrags hören, sprich: Wie geht man in anderen Staaten der
Welt mit der Meinungs- und Pressefreiheit um?
({0})
Es ist natürlich legitim, sich in diesem Zusammenhang auch mit Innenpolitik zu beschäftigen. Aber wenn
man hier Dinge miteinander vergleicht, die von ihrer
Qualität her überhaupt nicht vergleichbar sind, dann
macht man es sich zumindest ein bisschen einfach. Dabei muss man sich auch den Vorwurf gefallen lassen,
dass man den Geist des Antrags, bei dem wir auch nach
der ersten Lesung noch die Hoffnung haben, dass ihm
die Opposition beitritt, kaputt macht.
({1})
Ich komme nun zu dem, was der Inhalt des Antrages
ist, nämlich die universelle Geltung des Grundrechts der
Meinungs- und Pressefreiheit in der Welt, insbesondere
im neuen Medium Internet. Das Internet ist ein Medium
von besonderer Bedeutung. So wie beispielsweise Flugblätter - das ist hier schon richtig gesagt worden - damals, als sie aufkamen, von besonderer Bedeutung waren, ist das Internet jetzt von besonderer Bedeutung. Das
liegt nicht zuletzt daran, weil es schnell und kostengünstig Informationen erreichbar und verbreitbar macht.
Die ungehinderte Verbreitung von unzensierten Informationen und der freie Zugang dazu ist so etwas wie ein
natürlicher Schutzmechanismus gegen Unterdrückung,
Unfreiheit und Verfolgung, also gegen alles, was Diktaturen ausmacht. Medien werden beispielsweise von
NGOs dazu genutzt, schlimme Schicksale, die in Diktaturen leider viel zu oft passieren, aus der Dunkelheit herauszuholen und sie ans Licht zu bringen. Medien machen es Staatsbürgern in diesen Ländern und natürlich
überall in der Welt möglich, sich mit diesen Sachverhalten auseinanderzusetzen und in einen politischen Willensbildungsprozess einzutreten, von dem Demokratie
lebt. Deshalb kann es den demokratischen Staaten nicht
egal sein, wie in den Staaten, die nicht unseren demokratischen Standards entsprechen, mit Meinungs- und Pressefreiheit umgegangen wird. Daher ist es unser Auftrag,
dafür einzutreten, dafür zu kämpfen und dafür zu werben, dass Pressefreiheit international geachtet wird.
Kollege Haibach hat beschrieben, dass es Länder gab
und gibt, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit kein
Thema ist, und solche, die sich zumindest formal, beispielsweise in ihren Verfassungen, der Pressefreiheit
verschreiben. So etwa war das in der ehemaligen
DDR. In der Verfassung der ehemaligen DDR stand gar
nicht so viel anderes als in Art. 5 des Grundgesetzes.
Ohne dass ich das kleinreden will, was hier zu innenpolitischen Themen gesagt worden ist: Das, was in der Verfassung der DDR stand, und das, was in der DDR Realität war, war etwas ganz anderes als die Einzelfälle in
einer Demokratie, in der die parlamentarische Kontrolle
einerseits und die Kontrolle durch die Gerichte andererseits funktionieren.
({2})
Von den republikweiten Zeitungen bis zum betriebsinternen Blatt lagen in der DDR nahezu alle Publikationen bei den Parteien oder waren an das sogenannte
Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates angehängt. Dieses Presseamt vergab - ich will es einmal so
nennen - eine Gesinnungsakkreditierung und entzog sie
auch wieder, und zwar willkürlich.
({3})
- Ich gebe das den Kollegen vom linken Rand, die sich
für das Thema nicht so sehr interessieren, gerne noch
einmal schriftlich.
({4})
Die SED besaß mit 90 Prozent der Druckkapazitäten
in der DDR das faktische Monopol über die Printmedien. Die sogenannte Postzeitungsliste der Deutschen
Post der DDR, die das Monopol über den gesamten Vertrieb von Presseerzeugnissen besaß, wurde genutzt. Unliebsame Publikationen wurden von dieser Liste einfach
gestrichen.
Sie wollen ein aktuelles Beispiel hören? Das können
Sie gern haben. Kommen wir doch einmal zu dem Land
Kuba, für das Sie sich regelmäßig besonders interessieren. Die kubanische Regierung unterhält ähnlich wie in
der DDR das Medienmonopol des Staates, was sicherstellt, dass die freie Meinungsäußerung faktisch nicht
existiert. Die Berichterstattung muss „in Einklang mit
den Zielen der sozialistischen Gesellschaft stehen“. Damit unterliegt jegliche Information der Kontrolle und
Zensur des Staates.
Kuba ist, wenn man das im Verhältnis zu seiner Bevölkerung von 11 Millionen betrachtet, das größte Journalistengefängnis der Welt. Gerechtfertigt werden die Inhaftierungen mit einem Artikel des kubanischen
Gesetzbuches, mit dem die angeblich gefährdete Souveränität Kubas gegen angeblich vom Ausland organisierte
„imperialistische Unterwanderung“ des Systems geschützt werden soll. Tatsächlich wird dieser Artikel benutzt, um kubanische Dissidenten und Journalisten mit
Auslandskontakten grundlos einzusperren. Aktuell sitzen 24 kubanische Journalisten unter unwürdigen, unmenschlichen Bedingungen Haftstrafen zwischen 14 und
27 Jahren ab.
Mit einer kritischen Berichterstattung muss sich
Kuba, was das Internet betrifft, nicht auseinandersetzen,
weil es faktisch unmöglich ist, einen frei zugänglichen
E-Mail-Account zu haben.
Ich habe es schon gesehen; ich bin gleich am Ende
meiner Rede. - Selbst die in den Postämtern zugänglichen E-Mail-Accounts - ({0})
- Herr Kollege, Sie wollen es offensichtlich nicht verstehen.
Ich freue mich auf die parlamentarische Beratung
- ich sage das insbesondere an die Adresse der Linken
gerichtet -; denn eines ist aus meiner Sicht klar: Sie können Anträge stellen, wie Sie wollen - Sie werden sich
dem Wesensgehalt unseres Antrages nicht verweigern
können.
Herr Kollege!
Ausflüchte, sich zu verweigern, gibt es nämlich nicht.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/8871 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und
zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie
an den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen.
Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Dr. Christian Ruck, Maria Eichhorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Raabe, Gregor Amann, Sabine Bätzing, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationale und internationale Maßnahmen für
einen verbesserten Kampf gegen Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern
- Drucksache 16/8776 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Hierzu ist es verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Weltdrogenbericht 2008 der Vereinten Nationen bestätigt, dass die massive Ausweitung des internationalen Drogenanbaus mit Ausnahme des Spezialfalls
Afghanistan eingedämmt werden konnte. Das ist an sich
eine gute Nachricht.
Die schlechte Nachricht ist, dass es insbesondere in
Schwellen- und Entwicklungsländern weiterhin zum
Drogenanbau und damit zu massiven, teilweise lebensbedrohlichen Problemen wie Krankheit, Nahrungsmittelknappheit und Kriminalität kommt. Nicht nur das: Die
Auswirkungen von Drogenanbau und -handel können
zur Destabilisierung ganzer Länder führen; Kolumbien
und Afghanistan sind zwei von vielen traurigen Beispielen dafür.
Drogen und Entwicklungsprobleme sind eng miteinander verknüpft. Armut und das Fehlen von Alternativen, den Lebensunterhalt zu bestreiten, zwingen Bauern dazu, Drogen anzubauen. Das ist ein Teufelskreis,
aus dem es ohne Hilfe von außen keinen Ausweg gibt.
Der Weg der geschmuggelten Drogen endet nicht selten in Europa und damit auch in Deutschland. Insbesondere junge Menschen werden durch Drogen suchtkrank
und gefährden ihr Leben. Deshalb freut es mich, dass die
Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Sabine
Bätzing, in dieser Debatte reden wird.
Wir haben als deutsche Politiker, insbesondere als
deutsche Entwicklungspolitiker, nicht nur ein Interesse,
sondern auch eine große Verantwortung dafür, dem Drogenanbau den Nährboden zu entziehen. Wir müssen den
Menschen in den Entwicklungsländern aus ihrer scheinbar ausweglosen Lage helfen. Wir müssen dabei am Anfang der Drogenkette, bei der Produktion, ansetzen.
({0})
Wie vernetzt und umfangreich die internationale Drogenproblematik ist, zeigen die drei Hauptelemente, gegen die es im Rahmen der Drogenpolitik vorzugehen gilt
und die wir in unserem Antrag aufgegriffen haben: illegaler Anbau und Produktion von Drogen, illegaler Drogenhandel und Drogenschmuggel sowie Drogenkonsum,
-missbrauch und -abhängigkeiten.
Mit dieser Auflistung wird verdeutlicht, dass die Eindämmung des Drogenproblems nur erreicht werden
kann, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft
diesen Problemen gemeinsam stellt und mit dafür geeigneten Konzepten eine Lösung herbeiführt. Daher ist es
notwendig, die Arbeit der multilateralen Organisationen
zu unterstützen. Besonders wichtig ist es in dieser Hinsicht, dass der internationalen Entwicklungspolitik im
Kampf gegen den Drogenanbau endlich ein größeres Gewicht und eine größere Verantwortung verliehen wird.
Mit umfassenden Konzepten der Entwicklungspolitik
haben wir Lösungspotenziale bei der Drogenbekämpfung, die so noch nicht zur Entfaltung kamen. Nur damit
können wir dem Drogenhandel und der Drogenproduktion dauerhaft einen Riegel vorschieben. Der heute debattierte Antrag beinhaltet sowohl nationale als auch internationale Maßnahmen für einen verbesserten Kampf
gegen Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern. Ich möchte Ihnen gerne einige dieser Maßnahmen
erläutern.
Im Zentrum der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Drogenbekämpfung steht das „Programm zur Förderung der entwicklungsorientierten Drogenkontrolle in Entwicklungsländern“, abgekürzt EOD.
Wichtig wird es sein, dass wir in diesem ganzheitlichen
Rahmen weitere Alternativen erarbeiten und durchführen, durch die den Menschen vor Ort neue Chancen geboten werden, unabhängig vom Drogenhandel zu leben.
Die schon in vielen Ländern erfolgreich erprobte Mikrokreditfinanzierung könnte hierzu eine sinnvolle Verknüpfung darstellen; denn neben einer nachhaltigen
Wirtschaftsförderung in Drogenanbauregionen ist es
wichtig und notwendig, den Bauern in den betroffenen
Regionen die Chance zu geben, marktfähige Produkte
herzustellen und abzusetzen. Nur so wird es möglich
sein, den Drogenanbau zielstrebig und nachhaltig einzugrenzen.
({1})
Es ist in dem Zusammenhang notwendig, festzustellen, dass das Verbot des Drogenanbaus natürlich auch
weiterhin wichtig ist. Das muss man auch verfolgen.
Aber nicht die alleinige Vernichtung von Drogenanbauflächen sollte im Mittelpunkt dieser Strategie stehen,
sondern das sollte nur eine flankierende Maßnahme zu
den alternativen Einkommensstrategien sein; denn gerade die Vernichtung von Drogenanbauflächen, wie
beispielsweise die Vernichtung der Kokapflanze aus der
Luft mit entsprechenden Giftstoffen, bringt auch verheerende Nebeneffekte mit sich. Nicht selten werden in diesem Zusammenhang Ernten von Nahrungspflanzen zerstört, guter Ackerboden unfruchtbar gemacht, und es
kommt auch zur Vergiftung der dort lebenden Bauern
und anderen Menschen.
Deswegen brauchen wir für eine grundlegende Ausrottung der Armut und damit auch der Drogenproduktion
eine Wirtschaftsförderung, die den Bauern vor Ort die
Möglichkeit gibt, Lebensmittel wie Kaffee oder Mais
anzubauen.
({2})
Damit würden wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir würden den Drogenanbau reduzieren und
strukturschwache Staaten wieder in die Lage versetzen,
unabhängig von Lebensmittelimporten zu werden. Diesen Punkt haben wir auch gestern hier in der Debatte behandelt. Die Entwicklungsländer müssen endlich wieder
eine größere Chance haben, sich fair und gerecht am
Welthandel beteiligen zu können.
({3})
Wir haben gestern über die Hungeraufstände aufgrund der gestiegenen Nahrungsmittelpreise diskutiert.
Beim Drogenanbau ist das Problem eigentlich das Gleiche; denn die Bauern produzieren die Drogen ja nicht,
weil sie selbst Drogen konsumieren oder weil sie nicht
wissen, dass das schädlich ist, sondern weil sie keine andere Möglichkeit haben, ihre Familien zu ernähren. Wir
als Industriestaaten tragen mit die Hauptschuld an dieser
Situation; denn wir haben unsere Lebensmittel durch unsere Agrarsubventionen zu Dumpingpreisen in die Lebensmittelregale in den Entwicklungsländern gebracht,
sodass die Bauern dort ihre eigenen Produkte nicht mehr
absetzen konnten, weil sie nicht genug Geld dafür bekommen haben.
Sie hatten dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder
haben sie ihre Höfe verlassen und die Landwirtschaft
aufgegeben, oder sie haben, wie in vielen Fällen, Drogen
angebaut, weil sie dafür wenigstens etwas Geld bekommen haben, um ihre Familie zu ernähren. Dabei muss allerdings auch gesagt werden, dass die Drogenmafia
immer noch am meisten daran verdient. Dieser Drogenmafia müssen wir das Handwerk legen, damit sie ihr böses Werk nicht mehr betreiben kann. Wir müssen die
Zölle für Agrarprodukte aus Entwicklungsländern endlich senken und gleichzeitig unsere handelsverzerrenden
Subventionen abschaffen. Das würde gegen Hunger, Armut und Drogenanbau gleichzeitig helfen.
({4})
Eine starke indirekte Auswirkung des Drogenproblems ist auch im Bereich HIV/Aids zu verzeichnen. Wir
sehen mit großer Sorge, dass in Afrika der Anteil der injizierten Drogen immer größer wird. Durch verunreinigte Nadeln kommt es dort zu einem großen Problem
der HIV/Aids-Ausbreitung. Auch das ist sehr wichtig.
Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt aufgreifen,
den ich schon anfangs erwähnt habe, nämlich die sicherheitspolitische Dimension. Afghanistan war schon oft
Gegenstand der Debatten. Auch heute steht die Entwicklung in Afghanistan noch auf der Tagesordnung. Die
Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel wird zu diesem
Thema sprechen.
Ich darf das Beispiel Kolumbien anführen, wo der
Drogenanbau zu einem blutigen Bürgerkrieg geführt hat,
der Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht und
Hunderttausenden das Leben gekostet hat. Kolumbien
gilt weiterhin als größter Kokainproduzent der Welt.
Wir haben mit der Linkspartei schon oft über den
venezolanischen Präsidenten Chávez und auch über die
kolumbianische Politik gestritten. In den Augen vieler
innerhalb der Linkspartei ist Chávez immer noch ein netter Sozialpolitiker, der sich jetzt als Friedensengel aktiv
in die Vermittlung einer Befreiung von Geiseln der
FARC - einer Terrororganisation, die für die meisten
Morde und Entführungen in Kolumbien verantwortlich
ist - wie der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin
Betancourt bemüht. Dabei hat die Linkspartei immer
gerne übersehen, dass Präsident Chávez nichts dagegen
unternimmt, dass die FARC schon seit Jahren Drogen
über die Grenzen Venezuelas schmuggelt.
({5})
Wenn sich bestätigt, was auf dem Computer eines
FARC-Kommandeurs gefunden wurde, dass nämlich die
venezolanische Regierung die FARC mit 300 Millionen
US-Dollar unterstützt und ihnen Beteiligungen am Ölgeschäft und Waffen aus der eigenen Armee angeboten
hat, dann ist es der Gipfel der Heuchelei, wenn sich
Chávez als Befreier der Geiseln der FARC darstellt und
als internationaler Friedensengel feiern lassen will.
({6})
Denn damit konterkariert er die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus und auch die gute deutsche Entwicklungszusammenarbeit, die gerade in Kolumbien ihren Schwerpunkt
bewusst auf Krisenprävention, Friedensentwicklung und
Alternativen zum Drogenanbau legt.
({7})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Lassen Sie uns deswegen den vorliegenden Antrag
beschließen und damit einen bescheidenen Beitrag gegen den Drogenanbau, -handel und -konsum auch bei
uns in Deutschland leisten.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Hellmut Königshaus spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Antrag, den wir heute beraten, hat, wie ich weiß, unser KolHellmut Königshaus
lege Jürgen Klimke wesentlich mitgeprägt. Er hatte einen Unfall und kann heute nicht bei uns sein, aber ich
grüße ihn von hier aus herzlich, falls er unsere Debatte
verfolgt. Komm schnell wieder aufs Fahrrad, Jürgen!
({0})
Ich will den Antrag aber nicht nur deshalb loben - zumindest in Teilbereichen; es ist nicht alles gut -, weil er
mitgewirkt hat, sondern auch deshalb, weil er eine gute
Grundlage für die Diskussion zu diesem Thema ist. Er
ist vor allem eine Analyse und eine Fleißarbeit, die eigentlich die Bundesregierung hätte vorlegen müssen. Sie
steckt bei diesem Thema eher den Kopf in den Sand.
Vielleicht wird aber Frau Bätzing noch näher darauf eingehen.
Der Antrag enthält viel Wichtiges und Richtiges, aber
leider auch Unrichtiges. Unrichtig ist vor allem, dass die
Bundesregierung pflichtgemäß gelobt wird, und zwar
insbesondere für ihre kontinuierliche Arbeit.
({1})
- Das ist hinsichtlich der Drogenproblematik wohl eher
Realsatire, Kollegin Pfeiffer.
({2})
Kontinuierlich mag die Arbeit zwar sein, aber lobenswert ist das alleine nicht, insbesondere dann nicht, wenn
die Kontinuität im Wesentlichen aus Unterlassungen besteht.
({3})
Bisher wurde, was dieses Thema angeht, insbesondere
den Entwicklungsländern gegenüber eher auf kleiner
Flamme gekocht, und dementsprechend nur mit geringem Erfolg. Wir müssen sehr viel mehr tun, um mit dem
internationalen Drogenhandel fertig zu werden. Das ist
hinreichend bekannt. Wir müssen endlich damit aufhören, in erster Linie nur zu analysieren und Konzepte zu
entwerfen. Vielmehr müssen wir endlich auch handeln
und die Konzepte umsetzen.
({4})
- Das wollt ihr zwar, aber ihr tut es nicht. Daran fehlt es
- bisher jedenfalls - ersichtlich.
({5})
Das beginnt bereits damit, dass der Schwerpunkt aller
Betrachtungen - übrigens auch im vorliegenden Antrag bei der Produktion und dem Handel mit Drogen und weniger beim Verbrauch liegt. Das ist aber der Kern des
Problems: Ohne Verbrauch und ohne Nachfrage gäbe es
keine Produktion und keinen Handel.
({6})
Das ist eine Tatsache im Leben, die wir immer wieder
beobachten können.
Deshalb müssen wir vor allem den Nachfragemarkt
austrocknen, sowohl hier bei uns als auch in der Europäischen Union. Dafür haben die Bundesregierung und
die Bundesländer bisher kein wirksames Konzept. Auch
Ihr Antrag zeigt insoweit keine weiterführenden Perspektiven auf. Vielleicht tut das Herr Ruck, der anschließend 14 Minuten reden wird. Aber auch sonst fehlt es an
Wegweisungen. Die Koalition stellt in ihrem Antrag
durchaus zu Recht fest, dass in manchen Regionen die
Drogenproduktion zurückgedrängt werden konnte. Insbesondere in Thailand und Kolumbien, die hier genannt
werden, trifft das zu. Das sieht man, wenn man sich die
Entwicklung des Mohnanbaus in diesen Ländern anschaut. Aber diese Länder sind nun auf die Produktion
synthetischer Drogen umgestiegen, weil sie den Wettbewerb mit Afghanistan nicht mehr durchhalten. Auch das
gehört zur Wirklichkeit. Darüber sollte man sprechen.
({7})
Die beiden Länder Thailand und Kolumbien stehen
- der Kollege Raabe hat das eben angesprochen - überhaupt nicht mehr im Mittelpunkt unserer Betrachtungen.
Das ist nicht mehr notwendig; denn die ausufernde Drogenindustrie in Afghanistan ist für uns das eigentliche,
das strategische Problem. Dort wird mit 8 000 Tonnen
im Jahr schon heute weit über den weltweiten Drogenbedarf hinaus produziert. Am Ende der Herrschaft der
Taliban waren es gerade einmal 200 Tonnen. Mit der
Drogenindustrie in Afghanistan müssen wir uns befassen. Deshalb kann man nicht sagen: Wir befassen uns
jetzt mit dem Thema Drogen in den Entwicklungsländern und heute Abend mit Afghanistan. Beides gehört
zusammen und muss gemeinsam betrachtet werden.
({8})
In Afghanistan sieht man das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich. Hier ist die Drogenindustrie das zentrale Problem, nicht nur für die Sicherheit, sondern auch
für die Entwicklung. Die Drogenmafia konterkariert alle
Entwicklungsbemühungen und hat alle Bereiche des
Landes - wie wir wissen: bis hin zur Familie des Staatspräsidenten - durchdrungen.
({9})
Das ist der Punkt, an dem wir deutlich werden müssen.
({10})
Die Bauern sind im Übrigen von den Drogenbaronen
abhängig und werden unter Druck gesetzt. Der Terrorismus finanziert sich aus dem Drogenhandel. Durch die
Drogenwirtschaft und die Drogengelder wird jeder vernünftige, korruptionsfreie Politiker verdrängt, weil er gar
keine Chance hat, sich in der Verwaltung und der Politik
zu positionieren.
({11})
Das sind Tatsachen, denen wir ins Auge sehen müssen.
Hier müssen wir etwas tun.
Seit 2001 ist die ISAF in Afghanistan und in der Drogenbekämpfung tätig. Trotzdem hat sich die Drogenproduktion explosionsartig entwickelt. Militante Drogenbanden sichern das Drogengeschäft ab. Wir haben von
Kollegen aus dem iranischen Parlament, beispielsweise
vom Vorsitzenden des Sicherheitsausschusses, der hier
zu Besuch war, gehört, dass allein die iranischen Grenztruppen bei dem Versuch, den Drogenhandel zu unterbinden und den Transit durch den Iran zu stoppen, schon
mehrere Tausend Grenzsoldaten verloren haben. Das
zeigt, mit welchen Banden und welcher Militanz wir es
dort zu tun haben.
Deswegen ist es zwar sehr schön - das klingt auch
sehr gut -, wenn wir hier über Ersatzprodukte wie
Rosenöl sprechen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass
wir repressiv handeln müssen, wenn wir dieses Übel bei
der Wurzel packen wollen. Wir können nicht nur zuschauen und den Briten alles überlassen. Wir müssen uns
etwas überlegen. Solche Überlegungen fehlen bislang
aber, auch in Ihrem Antrag. Sicherlich müssen wir alternative Einkommensquellen schaffen. Aber zuerst müssen wir dafür sorgen, dass ein Bauer, der bereit ist, keine
Drogen mehr anzubauen, nicht unter den Druck der Drogenbarone gerät. Diese lassen sich doch nicht von einem
Entwicklungshelfer das Geschäft kaputt machen, nur
weil dieser schön redet. Sie setzen Waffen ein; so sieht
die Sache aus. Wir müssen hier endlich aktiv werden und
den Tatsachen ins Auge schauen.
Ich komme zum Schluss. Wir müssen die Richtigen
bekämpfen und das Richtige tun. Hier hilft kein schönes
Reden. Vielmehr müssen wir Tacheles reden. Darum
bitte ich die nachfolgenden Redner von der Koalition.
Ich danke Ihnen.
({12})
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Christian Ruck
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor
ich Tacheles rede, möchte ich an den Kollegen Klimke
erinnern, der hoffentlich bald wieder unter uns weilt. Er
hat zahlreiche Auslandsaufenthalte absolviert und maßgeblich an der Erarbeitung des vorliegenden Antrages
mitgewirkt. Aufgrund seines Fehlens habe ich nun theoretisch 14 Minuten Redezeit, um all das zu erklären, was
der Kollege Königshaus nicht verstanden hat.
({0})
Richtig ist, dass der Drogenanbau in den Entwicklungsländern die Lebensgrundlage von Millionen Menschen zerstört; Krankheit, Kriminalität, Terrorismus und
eine verseuchte Umwelt sind die Folge eines jahrzehntelang andauernden und noch nicht gelösten Problems.
Deswegen ist es richtig, dass wir den Kampf gegen den
Drogenhandel und den Drogenanbau verstärken.
Es ist auch richtig, dass der Drogenkonsum weltweit
zunimmt. Zurzeit nehmen etwa 210 Millionen Menschen
- etwa 5 Prozent der Weltbevölkerung zwischen 15 und
64 Jahren - Drogen, die abhängig machen. 25 Millionen
Menschen nehmen Kokain und Heroin. Davon injizieren
13,1 Millionen ihren Drogenkonsum direkt mit Spritzen.
Von diesen 13,1 Millionen Menschen leben 78 Prozent
in Entwicklungsländern. Das heißt, Drogenkonsum ist
nicht nur bei uns eine traurige Wirklichkeit, sondern
spielt sich auch in den Entwicklungsländern selbst ab; in
Afghanistan sterben jährlich 100 000 Menschen an den
Folgen des Drogenkonsums.
Es wurde völlig zu Recht darauf hingewiesen: Die
Drogenproduktion destabilisiert Länder und Regionen;
Kolumbien wurde genannt. Ich nenne Mexiko, wo vor
allem die Indianer sehr stark unter den brutalen Drogenkartellen leiden. Ich nenne Myanmar, wo sich die Militärjunta mit illegaler Abholzung und Drogenanbau finanziert. Ich nenne Afrika, das immer mehr von
geänderten Drogenrouten in Mitleidenschaft gezogen
wird. Guinea-Bissau ist inzwischen ein internationaler
Drogenumschlagsplatz. Auch das destabilisiert eine
ganze Region, nicht nur Teile der nationalen oder lokalen Bevölkerung.
Afghanistan ist ein klassisches Beispiel für die Gefahr
der Destabilisierung, die auch mit unserer Sicherheit etwas zu tun hat. Eine Rekordernte folgt auf die andere.
Afghanistan ist auch ein typisches Beispiel für die Verquickung von politischen Radikalismen, kriminellen
Drogenkartellen und Terroristen. Das ist die eine Front,
auf der wir unbedingt Erfolge erzielen müssen.
Die andere Front - Herr Königshaus, da gebe ich Ihnen recht - liegt bei uns selbst: 3 Prozent der Europäer
konsumieren regelmäßig Kokain. In Ländern wie Spanien, die Einfallstor für Drogen aus Südamerika sind,
steigt die Zahl der Drogenabhängigen rasant an, viel
schneller als im europäischen Durchschnitt. In Deutschland gibt es 1 300 Drogentote im Jahr; das sind 1 300 zu
viel. Dies ist in der Tat die andere Seite der Medaille.
In unserem Antrag antworten wir mit den richtigen
Maßnahmen auf diese doppelte Verantwortung. In der
Drogenpolitik geht es darum, den illegalen Anbau und
die Produktion von Drogen zu bekämpfen; es geht um
die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und Drogenschmuggels sowie um die Eindämmung des Drogenkonsums und der Drogenabhängigkeit. Die Botschaft
unseres Antrags lautet aber auch: Wir haben keinen
Grund, zu resignieren. Drogenkontrolle ist möglich; dafür gibt es genug Beispiele. Dafür müssen wir nicht nur
unsere nationalen Strategien optimieren, sondern auch
den Kampf gegen Drogen in der EU, der UNO und den
anderen Organisationen.
Wir haben in unserer EZ seit langem etwas Wichtiges
etabliert - Kollege Raabe hat schon darauf hingewiesen;
es ist der Kern unseres Ansatzes -: die entwicklungsorientierte Drogenkontrolle, im Folgenden EOD genannt. Herr Königshaus, die EOD-Strategie ist 1981 entDr. Christian Ruck
standen; sie ist allmählich ausgebaut worden. Für die
Umsetzung wurden seitdem immerhin 200 Millionen
Euro ausgegeben. Die EOD beinhaltet im Kern, dass wir
nicht nur auf Repression und Eradikation, also Vernichtung der Pflanzen, auf Saatgutverteilung für neue Produkte und auf neue Märkte, sondern auf alles setzen
müssen. Es handelt sich um einen umfassenden Ansatz,
der Bildungskonzeptionen, Sicherheitskonzeptionen,
Gesundheitsmaßnahmen und die Schaffung neuer
Märkte für neue Produkte umfasst. Ein umfassender Ansatz ist also das Einzige, was hilft.
({1})
Ich weise auf unsere wirklich guten Erfolge in Thailand hin, was unser Hearing, das wir durchgeführt haben
und das Kollege Klimke - auch die Kollegen der anderen Parteien waren eingeladen - mit organisiert hat, gezeigt hat. Ich nenne die Bereiche Strafverfolgung und
Stärkung des Rechtssystems. Dort konnten wir die Produktion von Drogen in exorbitantem Maße senken. Dasselbe gilt für Pakistan und auch für Peru. Bei diesen Ländern gibt es ganz konkrete Erfolge.
Jetzt geht es uns um Folgendes: Diesen EOD-Ansatz
müssen wir in zwei Richtungen ausbauen. Erstens müssen wir ihn stärker international durchsetzen. Wir müssen durchsetzen, dass die entwicklungsorientierte Drogenbekämpfung auch in den EU-Drogenaktionsplan von
2009 bis 2012 kommt. Das ist eines unserer Hauptanliegen auf internationaler Ebene in diesem gemeinsamen
Antrag. Das gilt im Übrigen auch für die UNO, die in
diesen Tagen eine ganz wichtige Umstellung ihrer Drogenpolitik vornehmen möchte. Wir wollen uns da entwicklungspolitisch einklinken.
({2})
Aber - da komme ich auf das, was Sascha Raabe
wegweisend gesagt hat - es gilt zweitens auch, den
EOD-Ansatz konzeptionell zu erweitern. Wir müssen
noch mehr Bereiche in diese Konzeption einbeziehen,
zum Beispiel die Außenwirtschaft und die Handelspolitik. Ein gutes Beispiel dafür ist der Blumenanbau in Kolumbien. Fragen der ländlichen Infrastruktur, Fragen des
Aufbaus der Verwaltung, des Landmanagements und des
Schutzes der natürlichen Ressourcen sind ebenfalls
wichtig. Wir haben auf unserem Kongress gesehen, wie
sehr der Drogenanbau auch mit Umweltzerstörung verbunden ist und wie sehr die Bekämpfung des Drogenanbaus mit der Urwaldzerstörung einhergeht. Weiterhin
verweise ich auf die Landreform und vieles mehr. Das
heißt, dass wir den EOD-Ansatz konzeptionell erweitern
müssen.
Da sind wir bei dem Thema von gestern, der ländlichen Entwicklung. Ländliche Entwicklung ist ein entscheidender Punkt,
({3})
und zwar nicht nur zur Hunger- und Armutsbekämpfung,
nicht nur für den Kampf gegen die Umweltzerstörung,
sondern auch für einen vernünftigen und langfristig erfolgreichen Kampf gegen den Drogenanbau. Das ist,
glaube ich, das Entscheidende, worin wir uns alle einig
sind.
({4})
Lassen Sie mich auf Afghanistan zurückkommen.
Afghanistan ist eine besondere Herausforderung für uns.
Wir haben in Afghanistan besondere Probleme. Dort
herrscht eine besonders kritische Situation. Wir als Deutsche sind in Afghanistan ganz besonders gefordert. Es
gibt da nichts zu beschönigen. Die Opiumproduktion ist
auch im Jahr 2007 wieder um 34 Prozent gestiegen. Der
Gewinn aus den Drogengeschäften beträgt 53 Prozent
des afghanischen Bruttoinlandsprodukts. Wenn es nicht
so traurig wäre, wäre das eine echte Erfolgsgeschichte.
Diese drastischen Zahlen sind umso besorgniserregender, als wir wissen, dass sich Taliban und al-Qaida
mit Geschäftsleuten verbinden - ähnliche Entwicklungen gibt es in Kolumbien und anderswo -, um sich zu refinanzieren. Auf der anderen Seite steigt auch der private
Drogenkonsum in Afghanistan durch ein Überangebot
an Opium drastisch an, sodass ganze Generationen im
Begriff sind, sich durch ihre Anbauflächen praktisch
selbst zu vernichten. Nirgendwo ist es so kompliziert
und so facettenreich wie in Afghanistan, den Kampf gegen diese wirklich erfolgreiche Produktion zu führen.
Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass trotz all
dieser Schreckensmeldungen inzwischen ganze Provinzen wieder heroin- bzw. opiumfrei sind, dass es gelungen ist, ganze Provinzen vom Opiumanbau zu befreien,
und zwar durch eine Kombination von drei wichtigen
Maßnahmen, die gleichzeitig durchgeführt werden müssen. Herr Königshaus, da sind wir nicht so weit auseinander.
Erstens. Die Menschen brauchen wirkliche Alternativen. Das kann Rosenöl sein, das kann Getreide sein
- Afghanistan war früher Getreideexporteur; wir haben
eine sehr erfolgreiche Zuckerproduktion auf die Beine
gestellt -, das kann vieles sein. Aber es genügt nicht,
einfach zu sagen: Wir machen jetzt in Obst oder in Rosenöl oder in Safran. Vielmehr müssen die Bauern davon
ausgehen können, dass sie für das, was sie produzieren,
einen anständigen Preis bekommen, dass sie eine Infrastruktur haben, die es ihnen ermöglicht, zu den Märkten
zu gelangen, und dass sie ein produktionsfreundliches,
einigermaßen gesichertes Umfeld haben.
({5})
Zweitens. Wir müssen die Unterstützung der lokalen
Autoritäten und der Menschen auf dem Lande bekommen. Das ist gerade in Afghanistan sehr wichtig, und
zwar deswegen, weil sich die Mullahs auch auf den Koran beziehen können. Wir brauchen sie als wichtige, entscheidende Bündnispartner im Kampf gegen die Versuche der Taliban, Gelände zurückzugewinnen.
Drittens: der Sicherheitssektor. Es ist in der Tat so,
dass man in vielen Gegenden ohne den Schutz vor Repression oder Gegenrepression nicht auskommt. Dazu
gehören nicht nur eine funktionierende Polizei und überhaupt eine funktionierende Gesetzgebung, sondern auch
ein funktionierendes Rechtswesen. Es darf niemand ungeschoren davonkommen, der hier verbrecherisch agiert.
Das ist mit die größte Herausforderung in Afghanistan.
Es ist wahr: Die Korruption erstreckt sich auf die höchsten Kreise.
({6})
Wir müssen - auch von der afghanischen Regierung eine größere Entschlossenheit verlangen, auch in ihrem
eigenen Stall auszumisten, wenn die Drogenmafia im eigenen Kabinett vertreten ist.
({7})
- Unser Beitrag dazu kann sein, dass wir in Afghanistan
nicht mit einem Flickenteppich von Ansätzen und Methoden auftreten; vielmehr sollten wir uns noch stärker
als bisher absprechen, um mit einem einheitlichen Konzept aufzutreten. Das gilt übrigens auch für ein Wirtschaftskonzept für ganz Afghanistan. Auch ein solches
Konzept muss einheitlich sein; sonst kann man keine alternative Produktion zustande bringen.
({8})
Wir sollten in diesem Zusammenhang auch darauf
achten, die Beziehungen zu unseren Verbündeten noch
mehr zu pflegen. Das gilt für unsere Beziehungen zu Pakistan, zum Iran und auch zu allen Ländern nördlich
Afghanistans.
Um auf das, was Sie, Herr Königshaus, gesagt haben,
zurückzukommen: Wir müssen natürlich auch die Defizite in Deutschland sehen.
({9})
Ich war vor einer Woche in einem Heim für frisch entgiftete drogenabhängige Jugendliche. Ich habe die Chefin
des Hauses, eine Diplom-Psychologin, salopp gefragt:
Was bringt diese Jugendlichen von der Droge ab, was
können wir tun, damit diese Jugendlichen nicht in Drogenabhängigkeit geraten und womöglich schlimm enden? Die Antwort war ganz klar und einfach: Die Biografie dieser jungen Leute zeigt, dass sie in ihrer
Kindheit daran gelitten haben, zu wenig Zuneigung und
zu wenig Geborgenheit zu erhalten.
Ich möchte darauf verweisen, dass Drogenbekämpfung ein sehr breites Spektrum ist. Wir haben noch
schwierige Aufgaben im eigenen Lande zu bewältigen.
Vielen Dank.
({10})
Monika Knoche spricht jetzt für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Ruck und Herr Königshaus, ich darf sagen: Selten habe
ich Rednern Ihrer Fraktion so zustimmend zugehört wie
jetzt. Sie haben klare Fakten über den tatsächlichen Zustand des Drogenanbaus, des Drogenhandels und des
Drogenkonsums benannt, die niemand vom Tisch wischen kann. Insofern war das eine gute Voraussetzung
für eine rationale Debatte über dieses Thema. Dennoch
muss ich sagen: Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass
der Krieg gegen Drogen eben doch nicht erfolgreich ist,
wie in dem Antrag unterstellt wird.
Wichtig für die Herangehensweise ist: Es ist nicht aus
der Welt zu schaffen, dass es immer Menschen gibt, die
durch Prohibition nicht davon abzuhalten sind, illegale
Drogen zu konsumieren, und dass das Verbot kriminalisiert, stigmatisiert, ohne den Drang nach Rauschzuständen und das Verlangen nach psychotropen Substanzen zu
nehmen. Das ist ein Fakt, der bei Süchtigen ganz deutlich einen Verlust an Lebensqualität und Gesundheit bewirkt, weil der „war on drugs“ ihnen in dieser Realität
nicht hilft.
({0})
Das gilt ganz besonders für Heroin, weshalb diese Regierung, um glaubwürdig zu sein, die Heroinsubstitution
endlich auf rechtssichere Füße stellen muss. Das ist ihre
Pflicht.
({1})
Ich weiß, man stellt sich außerhalb des politischen
Mainstreams, wenn man dem 30 Jahre währenden Krieg
gegen Drogen das Scheitern attestiert. Doch auch die
Weltdrogenorganisation, UNODC, hat 2007 klare Auskunft gegeben: Der weltweit Kokain- und Cannabiskonsum ist nicht zurückgegangen. Die globale Heroinnachfrage wird von Afghanistan befriedigt. Das Kosovo ist
ein zentraler Umschlagplatz dafür. Afrika ist - das ist
schon seit zehn Jahren erkennbar - zum Transitknotenpunkt für Kokain und Heroin geworden. Die Zahl der
Süchtigen, die diese neuen Drogen dort konsumieren,
steigt beständig.
Wahr ist auch: Der traditionelle Eigenverbrauch durch
Nutzung von Kokablättern als Arbeitshilfe und für medizinische Zwecke - das muss man in diesem Kontext nennen - ist beispielsweise in den Andenländern schon immer verbreitet. In den Exportländern ist Drogenanbau
aber oftmals auch die einzig mögliche Existenzgrundlage für die bäuerliche Bevölkerung. Sie müssen endlich
für eine Abschaffung der EU-Agrarsubventionen eintreten, um Bäuerinnen und Bauern beim Ausstieg aus der
Drogenwirtschaft tatsächlich hilfreich zu sein.
({2})
Völlig klar ist: Es sind heute die Drogenmafia, Warlords und Paramilitärs, die den Anbau dieser Pflanzen
erzwingen, um Profite zu machen, politische Macht auszuüben und militärische Operationen genauso wie Waffenkäufe zu finanzieren. Es ist ein kriminelles Geflecht
entstanden, in dem harte Gewalt ausgeübt wird.
Das negativste Beispiel dafür ist der „Plan Colombia“. Ich stimme den Ausführungen zu Kolumbien - ich
weiß nicht mehr, wer sie gemacht hat - nicht zu. Der
Plan bedeutet militärisch gestützte Agrarvernichtung
und geht mit schweren ökologischen Schäden einher.
Der Einsatz dieser Mittel verunmöglicht einen nachhaltigen ökologischen Anbau. Das ist ein großes Verbrechen
gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung in diesen Ländern.
({3})
Erst die Prohibition - auch das ist historisch richtig hat die Kokainfabriken in den Dschungeln Lateinamerikas entstehen lassen. So ist eine Kulturpflanze zu einer
weltweit gehandelten Droge geworden.
Angesichts dieser Tatsachen und des Befundes, dass
400 bis 500 Milliarden Euro Gewinn erzielt werden, die
über Korruption und durch Geldwäsche in die Volkswirtschaften eindringen, kann keine Demokratin und kein
Demokrat dem Krieg gegen Drogen Erfolg bescheinigen, selbst beim besten Willen nicht.
({4})
Ich plädiere also für ein pragmatisches Handeln. Ich
weiß, ein Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik ist
nicht in Sicht. Dennoch: Zum Beispiel der kontrollierte
Anbau von Mohn in Afghanistan - ich bin davon überzeugt, dass wir dieses Experiment wagen können ({5})
kann dazu beitragen, den weltweiten Mangel an
Schmerzmitteln zu beheben.
({6})
Für Kolumbien gilt: Der Export von Tee und Kosmetika
aus Koka wäre ein großer Gewinn für die Volkswirtschaft dort.
Es gibt also Möglichkeiten, auf legaler Grundlage den
Anbau dieser Kulturpflanzen zu gestatten und so sinnvolle Entwicklungen voranzutreiben. Man darf es nicht
als Teufelswerk abqualifizieren.
({7})
Deutschland sollte - das ist mir sehr wichtig - in
Russland und in den baltischen Staaten einen maßgeblichen Impuls für „harm reduction“ geben; denn dort sind
Spritzdrogenabhängige noch immer die absoluten Outlaws der Gesellschaft. Sie müssen aus ihrem Elend herausgeführt werden. Auch so etwas gehört in bilaterale
Verhandlungen zwischen Russland und Deutschland.
({8})
Ich nehme die Vorschläge in Ihrem Antrag sehr gern
auf. Wir unterstützen eine ganze Reihe Ihrer Vorschläge,
zum Beispiel zu alternativen Entwicklungen in den Anbauländern und zur Prävention des Drogenmissbrauchs.
Ich finde es auch gut, dass Sie es als eine Möglichkeit
ansehen, Landtitel an Bauern zu vergeben, und dass Sie
Bildung im Rahmen der Präventionsstrategie erwähnen.
Das unterstützen wir ausdrücklich. Auch muss die deutsche Entwicklungszusammenarbeit - das ist ein Problem, das wir dieser Tage in den Medien verfolgen
konnten - dafür Sorge tragen, dass Teppichknüpferinnen
in Afghanistan nicht unter so miserablen Arbeitsbedingungen leiden, dass sie auf Mohnkonsum angewiesen
sind, um ihre Arbeit verrichten zu können. Das muss
deutsche Entwicklungshilfe leisten.
({9})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Infolge dieses
Antrages wird es zu Ausschussberatungen kommen.
Lassen Sie uns dort eine realistische Bilanz des Krieges
gegen die Drogen ziehen. Lassen Sie uns auch Expertinnen und Experten anhören, die uns über die problematischen Auswirkungen der Prohibition
Frau Kollegin!
- auf Rechtsstaatlichkeit insbesondere in Form von
Korruption in verschiedenen Ländern bis hin zu uns
Auskunft geben können, damit wir ein realistisches Bild
davon bekommen, was die Prohibition alles anrichtet.
({0})
Ute Koczy spricht jetzt für die Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße diese Debatte über Drogenanbau
und Drogenhandel. Ich halte sie für wichtig. Es ist bezeichnend, dass hier aus den Reihen der Entwicklungspolitiker Vorschläge gemacht werden, die, wie ich
glaube, von allen geteilt werden. Uns allen ist ja klar,
dass zahlreiche Entwicklungsprobleme mit dem Drogenanbau und dem Drogenhandel einhergehen. Außerdem müssen wir feststellen: Der internationale Drogenhandel zählt analog zum Menschenhandel zu den
extremen Schattenseiten der Globalisierung. Hier muss
man einmal einen Punkt machen und fordern, dass dagegen auch global vorgegangen wird.
Wir wissen doch nur zu gut: Gewinne aus dem Drogenanbau finanzieren einerseits rivalisierende Gruppen,
paramilitärische Organisationen oder kriminelle Banden;
sie destabilisieren Staaten; sie bilden das finanzielle
Rückgrat für viele terroristische Anschläge. Durch den
Drogenanbau wird andererseits der Anbau von wirtschaftlichen Gütern in den betroffenen Ländern verhindert bzw. eine funktionierende Landwirtschaft ruiniert.
Bäuerinnen und Bauern haben kaum eine Chance, sich
gegen die Machtpotenziale, die hinter dem Drogenanbau
stecken, ein Einkommen zu sichern. Das ist der Grund
für viele Konflikte.
Wir sehen es so, dass die Verbindung von Drogenanbau und Konflikten eine ernstzunehmende Gefahr für die
Entwicklung vieler Länder und natürlich auch für Entwicklungsprojekte in Ländern wie Afghanistan, Kolumbien, Bolivien und anderen darstellt. Wir dürfen aber
auch nicht vergessen - das ist auch schon gesagt worden -:
Entwicklungsländer sind nicht mehr nur Produzenten,
sie sind inzwischen auch zunehmend Konsumenten. Wir
haben uns, wie ich glaube, noch gar nicht richtig darauf
eingestellt, was das bedeutet. Von den weltweit mehr als
200 Millionen Drogenkonsumenten kommt eine zunehmend größere Zahl aus Entwicklungsländern. Geschätzte 5 bis 10 Prozent der HIV/Aids-Erkrankungen
sind Folge von Drogenabhängigkeit. Ich finde das alarmierend.
Vergessen wird in der Diskussion aber häufig auch,
dass durch den Aufbau von kriminellen Strukturen und
Verkehrswegen für den Drogenhandel auch Nachbarregionen destabilisiert werden. Ich denke, darauf muss
man mit regionalen Konzepten reagieren.
({0})
Wenn man all das verändern will, braucht es eine Politik, die übergreifende Ansätze verfolgt. Benötigt wird
vor allem Good Governance. Wir brauchen also gute Regierungen. Man muss einfach festhalten, dass im Augenblick keines der größeren Drogenanbauländer als eine
stabile Demokratie betrachtet werden kann.
Blicken wir jetzt einmal auf uns selber - das ist ja erfreulicherweise von Vertretern aller Fraktionen gemacht
worden -: Bemerkenswert ist doch, dass die Nachfrage
hier bei uns existiert. Solange es hier die Möglichkeit
gibt, Geld zu verdienen, wird der Drogenanbau in den
Entwicklungsländern weitergehen. Unsere Nachfrage ist
die Ursache für den Drogenanbau in den Entwicklungsländern. Auch das meiste Geld aus diesem „Geschäft“
landet in den Industrieländern. Das muss man doch auch
einmal ganz klar sagen. Jenseits der Diskussion, ob eine
liberale oder eine repressive Drogenpolitik besser ist
- dazu haben wir jetzt ja nicht die Zeit -, bleibt eines
klar: Man muss hier vor Ort ansetzen. Man kann den
Kampf dort nicht gewinnen, wenn hier nichts passiert.
Das zusammenzuführen, ist eine Aufgabe der Zukunft.
({1})
In dem Antrag wird eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die sehr genau diskutiert werden müssen, teilweise gute Vorschläge, teilweise weniger gute; teilweise
muss man hinterfragen, was gemeint ist. Fraglich ist
nämlich, wieso es dazu kommt, dass in vielen Staaten,
die von uns auch immer unterstützt werden, die Regierung in den Drogenanbau so stark involviert ist. Dies
müssen wir doch zur Kenntnis nehmen. Ich meine, dass
man, wenn man hier ansetzen will, sehr genau hingucken
muss, mit wem man zusammenarbeitet und wie man das
auseinanderdividiert.
Der Antrag räumt richtigerweise ein, dass die Vernichtung von Drogenanbauflächen nicht das Mittel erster
Wahl sein darf. Das ist schon einmal ein Fortschritt. Die
Regierungsfraktionen sagen, man wolle in alternative
Entwicklungsstrategien investieren. Das ist richtig so.
Repressive Ansätze, wie sie in Kolumbien gefahren werden, also zero Tolerance, hätte man aber in dem Antrag
weitaus schärfer kritisieren müssen, denn es hat zu keinen Erfolgen geführt. Wenn man dies diskutieren will,
dann muss man auch klar sagen, dass diese Politik in
Kolumbien nicht dazu geführt hat, dass der Drogenanbau abgeschafft wurde und es zu einer positiven Entwicklung gekommen ist. Das muss man einmal klar festhalten.
({2})
Wenn man über die Probleme des Drogenanbaus redet, dann kommt man automatisch auch auf die Situation
in Afghanistan zu sprechen. Hierzu ist bereits einiges gesagt worden. Lassen Sie mich noch einen Punkt ergänzen. Wir müssen auf die Situation in Afghanistan auch
mit unkonventionellen Methoden reagieren. Auf eine
solche hat das Europäische Parlament hingewiesen. Es
hat sich im Oktober vergangenen Jahres für den Ankauf
von Opium in Afghanistan zu medizinischen Zwecken
ausgesprochen und entsprechende Pilotprojekte angeregt. Ich schlage vor - hierum müssen wir uns alle kümmern -, dass man solche innovativen Ansätze diskutiert
und gemeinsam voranbringt. Wir haben nämlich nur
dann eine Chance, ein Ende des Drogenanbaus in Afghanistan zu erreichen, wenn es gelingt, auf innovative und
moderne Art und Weise den Sumpf des Drogenanbaus
trockenzulegen.
Danke.
({3})
Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meldungen über Entführungen von Politikern
durch Drogenkartelle in Lateinamerika, über Rekordernten von Opium in Afghanistan oder neuerdings über
Drogenschmuggel in großem Umfang über Afrika machen jedem deutlich, wie unverändert gefährlich Drogenhandel und Drogenkriminalität heute sind. Deshalb
machen sich viele Deutsche zu Recht Sorgen. Und nicht
nur wir Deutsche machen uns Gedanken. Diese weltweite Bedrohung für die Sicherheit und Gesundheit der
Bevölkerung beschäftigt auch die internationale Staatengemeinschaft und die internationalen Organisationen, in
denen ich als Drogenbeauftragte der Bundesregierung
die deutsche Drogenpolitik vertreten darf.
Das Büro der Vereinten Nationen zur Drogen- und
Verbrechensbekämpfung, UNODC, beurteilt die Situation wie folgt - ich zitiere -:
Weltweit betrachtet konnte das Drogenproblem in
den vergangenen zehn Jahren einigermaßen stabil
gehalten werden. Es wurde aber bei weitem nicht
gelöst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was heißt das konkret? Von den weltweit geschätzt 13 Millionen intravenös
Drogenkonsumierenden sind nach Angaben der Vereinten Nationen nur rund 40 bis 60 Prozent in Behandlung,
dies übrigens überwiegend in methadongestützter Substitution. Asien steht mit 54 Prozent aller Heroinkonsumenten vor enormen Herausforderungen. Aber - auch
dies haben wir in der Debatte bereits gehört - dringender
Handlungsbedarf besteht auch in Afrika. Durch die Aktivitäten der Drogenmafia und der Drogenkartelle sind die
afrikanischen Staaten zunehmend gefährdet. Der Grund
dafür ist die Verlagerung der Schmuggelrouten für den
Drogenhandel, für das Kokain auf Westafrika und für
das Heroin auf Ostafrika.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nicht gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft in diesen
Ländern tätig werden, ist zu befürchten, dass die betroffenen afrikanischen Transitländer zu Staaten werden, in
denen eine Drogenwirtschaft aus Geldwäsche und Korruption auf- und ausgebaut wird, die staatliche Sicherheit gefährdet ist und die Menschen schnell zu Drogenabhängigen werden.
({0})
Wie stellt sich die aktuelle Problematik dar? Lassen
Sie mich das noch einmal hervorheben:
Erstens. Entwicklungsprobleme schaffen Drogenprobleme. Die Drogenprobleme wiederum hemmen massiv
die nachhaltige menschliche und gesellschaftliche Entwicklung - ein Teufelskreis.
Zweitens. Die Produktion, der Handel und der Missbrauch von Drogen finden heute vor allem in Entwicklungs- und Transformationsländern statt.
Drittens. Die Trennung der Problematik in Produktions-, Transit- und Konsumländer ist mehr und mehr
aufgehoben.
Viertens. Die Ursachen und Folgen des Drogenmissbrauchs, nämlich Armut, Konflikte, HIV/Aids, werden
immer brisanter.
Die vielleicht größte Herausforderung stellt sich
durch die zunehmende HIV-Epidemie unter Drogenkonsumenten, die mittlerweile zum größten Teil Heroin injizieren und häufig gemeinsam Spritzbestecke benutzen.
Der intravenöse Konsum von Drogen hat erheblich zugenommen und damit die HIV-/Aidsgefahren drastisch
erhöht. Drogenkonsum kann auch zu einer erhöhten
sexuellen Risikobereitschaft führen und verschärft damit
noch die Gefahr einer HIV-Infektion.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir als politisch Verantwortliche in Deutschland uns intensiv mit
dem weltweiten Drogenproblem beschäftigen und politische Konsequenzen für die Verbesserung des Kampfes
gegen Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern
ziehen.
({1})
Als Drogenbeauftragte unterstütze ich die Anliegen
des vorliegenden gemeinsamen Antrags von daher voll
und ganz. Wenn wir heute diesen Antrag beraten, beziehen wir als Parlament Stellung zu einem drängenden
globalen Problem, über dessen Lösung es weltweit
durchaus unterschiedliche Vorstellungen gibt.
Zwei Herausforderungen müssen wir aber dabei annehmen:
Erstens. Wie könnte ein verbesserter Kampf gegen
Drogenhandel und -anbau in Entwicklungsländern aussehen?
Zweitens. Wie kann dort ein angemessenes Hilfesystem für die wachsende Zahl von Abhängigen aufgebaut
werden?
Ich möchte von den 16 konkreten Vorschlägen in dem
vorliegenden Antrag vor allem auf die Bedeutung der alternativen Entwicklungspolitik eingehen; denn die alternative Entwicklungspolitik steht an einem Scheideweg.
Es wird zwar, weltweit betrachtet, viel dafür getan; aber
gemessen am Ausmaß des Problems ist das noch viel zu
wenig.
Für eine wirksame Bekämpfung des Drogenanbaus
bedarf es einer umfassenden Strategie der alternativen
Entwicklung. Damit ist mehr als „eradication“, also die
Vernichtung, angesprochen. Die Vernichtung von Drogenanbauflächen darf gerade nicht - wir haben es gehört - das Mittel erster Wahl sein, insbesondere dann
nicht, wenn das Besprühen aus der Luft mit giftigen
Substanzen Menschen und Umwelt gefährdet. Die Vernichtung kann vielmehr eine flankierende Maßnahme alternativer Strategien sein.
Eine umfassende Strategie der alternativen Entwicklung muss im Wortsinne radikal sein, also die Wurzeln,
die Ursachen des Drogenproblems beseitigen. Dazu gehören die Förderung der guten Regierungsform, die
Wirtschaftsförderung, die Bildungspolitik, die Sozialpolitik und die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit sowie die Bekämpfung der organisierten Verbrechen.
({2})
Der Exekutivdirektor der UNODC hat ein einprägsames Bild gefunden. Er hat gesagt: Die Ausrottung der
Drogenpflanzen funktioniert nur dann, wenn sie mit der
Ausrottung der Armut in den Anbauländern einhergeht.
({3})
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit verfolgte
dieses Ziel der Nachhaltigkeit schon, als Sustainability,
also Nachhaltigkeit, noch kein Modebegriff war. So verfügen wir über fast 30 Jahre reichhaltige und vielfältige
Erfahrung in der Förderung von Alternativen zu
Drogenanbau und -konsum, die wir vor allem in Asien
und Lateinamerika erworben haben.
Neuerdings wird zunehmend unsere Unterstützung in
einem weiteren Handlungsfeld stark nachgefragt, unsere
Kompetenzen in der Prävention, der Beratung, der Behandlung, der sozialen Wiedereingliederung sowie im
Bereich der „harm reduction“, der Überlebenshilfen. Das
ist beispielsweise ein besonderer Wunsch unserer peruanischen Partner im Rahmen des bevorstehenden bilateralen Abkommens im Mai 2008. Der Grund dafür liegt in
der Arbeit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und anderer Einrichtungen im Bereich der entwicklungsorientierten Drogenkontrolle, vor allem in Südostasien, aber auch in Osteuropa wie in der Ukraine oder
den baltischen Republiken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade die neueren
Projekte haben bewiesen, dass die Unterstützung im Präventions- und im Behandlungsbereich für dauerhafte Lösungen unerlässlich ist. Von daher - damit komme ich
zum Schluss - müssen wir unsere Ansätze und unser
Know-how noch selbstbewusster vertreten. Gemäß dem
Grundsatz „Trial, not error“ sollten wir beim Transfer
unserer Erfahrungen und Kompetenzen in andere Länder
auch neue Wege erproben.
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss.
Es ist deshalb mein Bemühen, bei der im März 2009
anstehenden Neuformulierung der drogenpolitischen
Grundsätze der Vereinten Nationen zwei Dinge zu erreichen: dass erstens dem umfassenden entwicklungspolitischen Ansatz der Drogenkontrolle ein größeres Gewicht
eingeräumt wird und dass zweitens die für die deutsche
und die europäische entwicklungsorientierte Drogenkontrolle gültigen Prinzipien so weit wie möglich auch bei
den Vereinten Nationen Eingang finden.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/8776 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Existenzsicherung und Teilhabechancen für
Kinder und Jugendliche durch bedarfsgerechte Kinderregelsätze gewährleisten
- Drucksache 16/8761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf
Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns in diesem Haus in der letzten Zeit des Öfteren mit dem Thema bedarfsgerechter Regelsätze insbesondere für Kinder und Jugendliche beschäftigt. Ich
meine, es liegen gewichtige Gründe vor, warum wir dies
wieder tun sollten und warum vor allen Dingen die Regierungsfraktionen mit Nachdruck zum Handeln aufgefordert sind.
Der erste Grund. Nach den jüngsten revidierten Daten
der Bundesagentur für Arbeit lebten im Dezember 2007
in Deutschland 1,85 Millionen, also fast 2 Millionen
Kinder unter 15 Jahren in Familien, in denen die Eltern
SGB-II-Leistungen bezogen. Dabei sind, wie gesagt, die
Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren noch
nicht einmal berücksichtigt. Die Dimension des Problems verharrt aber auf einem recht hohen Niveau von
etwa 1,9 Millionen. An dem Aufschwung haben demnach Familien, die Leistungen nach SGB II beziehen,
und damit deren Kinder nicht nur nicht angemessen teil,
sondern er geht vollständig an ihnen vorbei. Die Dimension des Problems ist somit keineswegs geringer geworden. Das ist ein Skandal, der Sie zum Handeln veranlassen sollte.
({0})
Das Gleiche gilt insgesamt für die Armutsentwicklung. Die neuesten Daten, die jetzt aus dem Sozio-oekonomischen Panel durchgesickert sind - das ist die beste
Datengrundlage, die man im Bereich der Armutsforschung in Deutschland hat -, legen nahe, dass offensichtlich ein Viertel aller Familien mit Kindern unter der
Armutsschwelle lebt. Das ist eine für die Gesellschaft,
wie ich finde, bedrohliche Entwicklung, insbesondere
wenn man bedenkt, dass die Geburtenraten sinken und
dass offensichtlich der Anteil der Kinder, die in Armut
leben, pro Jahrgang zunimmt.
Der zweite Grund, warum wir uns dringend mit dem
Thema bedarfsgerechter Regelsätze beschäftigen müssen, ist der Preisauftrieb. Preisbereinigt sind die Leistungen beim Arbeitslosengeld II von 2003 bis 2007 ohnehin
um 7 Prozent gesunken. Allein im ersten Quartal 2008
haben wir einen weiteren Auftrieb um 1 Prozent zu verzeichnen. Dies ist umso besorgniserregender, als die
Preise für die Warengruppen, die für die ärmeren Teile
der Bevölkerung besonders wichtig sind - zum Beispiel
Nahrungsmittel -, überproportional gestiegen sind. In
dem Bereich haben wir eine noch höhere Inflationsrate
zu verzeichnen.
Angesichts der Tatsache - Sie stimmen dem ja auch
im Prinzip zu, wenn man mit Ihnen einzeln redet -, dass
die Regelsatzanteile, die für Ernährung vorgesehen sind,
keinesfalls ausreichen - für unter 14-Jährige beträgt dieser Anteil 2,64 Euro -, muss uns der aktuelle Preisauftrieb doppelt besorgt stimmen.
Nun ist mir selbstverständlich klar, dass allein die Erhöhung von Regelsätzen bei weitem keine hinreichende
Maßnahme ist, um Kinderarmut dauerhaft zu verhindern.
Meine Fraktion sieht die Verhinderung von Kinderarmut
in einem Zusammenspiel von Sozialpolitik, Bildungspolitik, insbesondere frühkindlicher Bildung, und - auch
das ist eine notwendige Bedingung - Sicherung der materiellen Existenz.
({1})
Die Frage ist jetzt - damit komme ich zum dritten und
letzten Grund, warum wir uns damit beschäftigen müssen -: Was tut die Bundesregierung? Sie tut nichts. Franz
Müntefering hat im November letzten Jahres in einem
Interview in der Süddeutschen Zeitung angekündigt:
Wir sammeln Erkenntnisse zu den Preisentwicklungen. Ich meine, dass wir vor allem darauf achten
müssen, dass Kinder von Familien mit niedrigen
Einkommen in Kindertagesstätten und Schulen ausreichendes und gutes Essen bekommen. Das hilft
konkret.
({2})
Dem kann man nur zustimmen; da bekomme ich auch
Applaus von der SPD-Fraktion.
Er sagte dann aber auch noch:
Wir müssen schnell entscheiden - ich meine, bis
Mitte November.
({3})
Jetzt haben wir Ende April und es ist noch überhaupt
nichts entschieden.
Gestern in der Fragestunde habe ich den zuständigen
Staatssekretär gefragt, wann die Bundesregierung die angekündigten minimalen Maßnahmen - Einschulungshilfe und Essen - angehen möchte. Darauf bekomme ich
vom Staatssekretär die Antwort:
Im Zusammenhang mit Leistungen für den Schulbedarf werden Überlegungen angestellt, ob und gegebenenfalls wo zusätzliche Hilfen geleistet werden
können. Die Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen.
Was gibt es denn groß zu überlegen angesichts der Fakten, die ich eingangs in meiner Rede dargelegt habe? Sie
brauchen nicht mehr zu überlegen; Sie müssen handeln,
und zwar sofort.
({4})
Auf welchem Niveau diese Debatte von den anderen
Ministern im Kabinett der Bundesregierung geführt
wird, möchte ich abschließend mit einem kurzen Zitat
von unserem Ernährungsminister Horst Seehofer auch
vom gestrigen Tage aufzeigen, der auf die Frage meiner
Kollegin Ulrike Höfken nach den gestiegenen Lebensmittelpreisen und danach, ob man da nicht die Regelsätze erhöhen müsse, zum Besten gab:
Wir … haben eine ganze Menge getan - ich erinnere an den Kinderzuschlag, BAföG und die Rentenerhöhung …
Er fuhr fort:
… wissen Sie auch, dass die Bundesregierung das
Menschenmögliche auf diesem Feld getan hat.
({5})
- Ich bitte Sie: Wenn das für Sie das Menschenmögliche
ist, dann sieht es für die Leistungen der Großen Koalition traurig aus.
Handeln Sie und versuchen Sie vor allen Dingen, den
Erkenntnisgewinn in Ihrem eigenen Kabinett besser voranzutreiben!
Vielen Dank.
({6})
Max Straubinger spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Grünen, der letztendlich zum Ziel hat, die Kinderregelsätze
anzuheben. Die Grünen meinen in ihrem Antrag - das
wurde schon angesprochen -, dass sie zu gering sind.
Es ist wichtig, darzustellen, dass bei uns die Existenzsicherung gewährleistet ist und dass die entsprechenden
Sätze in einem bewährten Verfahren, das Sie, Herr Kollege Kurth, und Ihre Partei mit beschlossen haben, überprüft und immer wieder angepasst werden.
Natürlich kann man sich über Verfahrensfragen streiten. Aber ich glaube, dass diese Bundesregierung einen
großen Beitrag dazu leistet, zu überprüfen, ob es angemessen ist, Regelsätze neu zu bestimmen, oder darüber
hinaus den Menschen in Deutschland mit vielen flankierenden Maßnahmen zu helfen, dass sie nicht in Armut
abgleiten, sondern im Gegenteil aus existenziellen Ängsten herausgeführt werden. Hier hat diese Bundesregierung bisher eine großartige Arbeit geleistet.
({0})
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass bei der Bekämpfung von Armutsfallen vor allen Dingen entscheidend ist, darauf zu achten, dass Arbeitsplätze in Deutschland entstehen und für die
Menschen verfügbar sind. Hier ist ein großer Erfolg dieser Bundesregierung zu verzeichnen. Der Abbau von
1,7 Millionen Arbeitslosen ist ein Beleg dafür.
({1})
Ein Beleg dafür ist auch, dass viele Langzeitarbeitslose
wieder auf dem Arbeitsmarkt Zukunftsperspektiven haben. Damit sind auch für ihre Familien und Kinder bessere Zukunftschancen erarbeitet worden. Auch das ist
ein Erfolg dieser Bundesregierung.
({2})
Es muss verdeutlicht werden, dass sich nicht nur die
Situation der Langzeitarbeitslosen verbessert hat, sondern dass wir es im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen
auch geschafft haben, Menschen über geringfügige Beschäftigungsverhältnisse Hinzuverdienstmöglichkeiten und
damit zukünftige finanzielle Chancen zu ermöglichen.
Auch das ist ein Erfolg unserer Bundestagsfraktion.
({3})
Diese Bundesregierung hat einen großen Beitrag zur
Unterstützung der Familien geleistet, und zwar in vielen
Bereichen. Ich möchte auf die Familienpolitik eingehen:
Die Betreuungseinrichtungen in Deutschland werden
besser gefördert, wodurch mehr Betreuungsplätze für
Kinder angeboten werden können. Ich sage bewusst:
„Chancen für Kinder“ bedeutet nicht nur, einen relativ
hohen Regelsatz, also Geldleistungen zu gewähren, sondern in erster Linie bedeutet das, den Kindern Bildungschancen zu eröffnen. So wird über die Förderung
der Betreuungseinrichtungen frühkindliche Bildung gefördert. Die Bundesregierung stellt 4 Milliarden Euro
zur Verfügung, damit mehr Betreuungsplätze geschaffen
werden können, und stellt sicher, dass die Betreuung von
guten Fachkräften ausgeübt wird. Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung.
({4})
Herr Kollege Kurth, ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass es wichtig ist, ein Betreuungsgeld einzuführen. Sie bekämpfen das Betreuungsgeld
normalerweise und sagen, dass das nichts Gutes sei. Ich
bedanke mich deshalb sehr herzlich für Ihren Antrag, in
dem Sie feststellen - ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren -:
Das weit verbreitete Vorurteil, die materiellen Sozialleistungen würden nicht bei den Kindern ankommen, ist nach dieser - von der Bundesregierung
bisher unbeachtet gebliebenen - Untersuchung
nicht haltbar.
Hier wird dargelegt, dass Finanzleistungen von den Eltern verantwortungsbewusst eingesetzt werden und für
die Kinder verwandt werden. Das führen Sie in Ihrem
Antrag noch weiter aus. Ich begrüße es sehr, Herr Kollege Kurth, dass Sie das so darlegen; denn damit bestätigen Sie, dass diese Bundesregierung auf dem richtigen
Weg ist.
({5})
Die Kollegen von den Grünen beantragen, die Regelsätze neu zu gestalten. Herr Kollege Kurth, ich bin überzeugt, dass den betroffenen Familien in keiner Weise geholfen wäre, wenn wir ein neues Verfahren einführen
würden.
({6})
Dies würde nämlich einen weitaus größeren Zeitraum in
Anspruch nehmen als die Erstellung der Erwerbs- und
Verbrauchsstatistik, für die zurzeit die Daten erhoben
werden. Ich bin davon überzeugt, dass sich der Regelsatz, wenn ein neues Preisgefüge festgestellt würde, zugunsten der Familien und vor allem der Kinder verändern würde.
({7})
Herr Kollege Kurth, natürlich kann man sich darüber
streiten, ob die jetzige Einteilung - von 1 bis 14 Jahre
und von 15 bis 18 Jahre - gerechtfertigt ist. Man kann
sich darüber unterhalten, diesbezüglich zu der Regelung,
die im früheren Sozialhilferecht galt - von 1 bis 6 Jahre,
von 7 bis 12 Jahre und von 12 bis 18 Jahre -, zurückzukehren. Natürlich kann man sich immer wieder trefflich
darüber streiten, ob diese Parameter richtig gesetzt sind
oder nicht. Wir sind zu einem Austausch darüber bereit.
Das Entscheidende ist aber, dass wir eine Politik machen, mit der wir die Familien und insbesondere die Kinder in großem Umfang unterstützen.
Hier sind aber nicht nur die Bundesregierung und dieses Parlament gefordert, sondern auch die Länder. Auch
sie müssen ihren Beitrag leisten.
({8})
Ich kann nur alle auffordern, dem Beispiel Bayerns zu
folgen: Die Lernmittelfreiheit ist in Bayern gesichert;
das ist nicht überall so.
({9})
- Das ist schon längst wieder abgeschafft, Herr Kollege
Rohde.
({10})
Die Übernahme der Kosten für den Schulweg ist in Bayern Selbstverständlichkeit. Das Mittagessen für bedürftige Kinder wird in Bayern im Rahmen der Kinder- und
Jugendhilfe geleistet; auch das ist gesichert. Im Bereich
der Sonderausstattungen - Taschenrechner und Atlanten
in Schulen - wurden Regelungen gefunden. Eltern zeigen sich verantwortlich für Kinder, die unter finanziellen
Gesichtspunkten mit besonderen Benachteiligungen leben müssen.
Viele Kommunen in Bayern haben sich mittlerweile
unter dem Stichwort „Kinderfreundliche Kommune“
entschieden, den Eltern bei Schulbeginn 50 Euro zur
Verfügung zu stellen, damit sie zusätzliches Geld haben,
um den Schulgrundbedarf ihrer Kinder zu decken. Das
zeigt sehr deutlich, dass wir viele soziale Leistungen erbringen. Daran sollten sich einige Länder - das gilt insbesondere für ein bestimmtes rot-rot regiertes Land - ein
Beispiel nehmen und uns folgen.
({11})
- Nordrhein-Westfalen mag noch besser sein. Aber das
ist ja das Schöne am föderalistischen Wettbewerb, dem
wir offen gegenüberstehen und den wir auch zu gestalten
wissen.
Ich glaube, dass die Bundesregierung in puncto Unterstützung der Familien und insbesondere der Kinder
bisher vorbildliche Leistungen erbracht hat.
Lassen Sie mich mit Blick auf Bayern noch auf einen
weiteren Aspekt zu sprechen kommen: Ich glaube, dass
es großen Vorbildcharakter hat, dass Bayern allen Migrantenkindern, bei denen es notwendig ist, im vorschulischen Bereich Sprachunterricht angedeihen lässt.
({12})
Damit schaffen wir die Grundvoraussetzungen dafür,
dass Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft oder aus anderen Gründen sprachlich benachteiligt sind, eine besondere Förderung bekommen, damit sie später, wenn sie
auf einer Grundschule oder einer weiterführenden
Schule sind, angemessene Leistungen erbringen können.
Das ist die Grundlage dafür, dass diese Kinder in ihrem
späteren beruflichen Leben gute Zukunftschancen haben.
In diesem Sinne werden sich die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen weiterhin dafür einsetzen, dass Kinderarmut in Deutschland vermieden wird
und dass in Zusammenarbeit mit den Ländern auch zukünftig geeignete Unterstützungsleistungen gewährt
werden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({13})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg
Rohde.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Faire Chancen für jedes Kind - seit langem
ist dies das Credo der FDP. Denn wir alle wissen: Was in
den ersten Jahren schiefgeht, wird meistens nicht mehr
aufgeholt.
({0})
Die Qualität der schulischen Bildung, das gemeinsame
Aufwachsen mit anderen Kindern und die freie Wahl der
Berufsausbildung dürfen nicht von den Einkommensverhältnissen der Eltern abhängig sein.
({1})
In der Gesetzgebungstheorie haben wir diesen Zustand erreicht. In der gesellschaftlichen Realität sind wir
davon in vielen Fällen leider noch sehr weit entfernt. Zu
oft - nicht immer - kommt die finanzielle Unterstützung
nicht beim Kind an, und immer wieder fehlen Angebote
der praktischen Hilfe vor Ort, durch die die Kinder und
die Eltern bei der Verwirklichung der Chancengleichheit
unterstützt werden könnten. Im Namen der FDP begrüße
ich ausdrücklich, dass die Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen diesen Handlungsbedarf in ihrem heute
zur Beratung anstehenden Antrag unterstreichen.
({2})
Den darin vorgeschlagenen Weg einer Regelsatzerhöhung begrüße ich dagegen ganz und gar nicht.
({3})
Um nicht falsch verstanden zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite dieses Hauses:
Ich teile Ihre Auffassung, dass mehr Geld in die Chancengleichheit unserer Kinder investiert werden muss.
({4})
Meine Fraktion und ich sind aber skeptisch, ob eine Erhöhung des Regelsatzes für Kinder der richtige Weg dahin ist. Wir leben in einem bürokratischen Dschungel etlicher unterschiedlicher Ansprüche von Kindern und
unterschiedlicher Leistungen für Kinder. Es gibt zwei
verschiedene Sätze beim Kindergeld, je nach Anzahl der
Kinder, zwei verschiedene Sätze beim ALG II, je nach
Alter des Kindes,
({5})
drei Sätze beim Mindestunterhalt, ebenso je nach Alter
des Kindes, und einen Kinderzuschlag, der auch nicht jedem Kind zugutekommt. Dieses Leistungswirrwarr ist
für die FDP keine Bedarfsgerechtigkeit, sondern nichts
anderes als eine Ungleichbehandlung unserer Kinder.
({6})
Meine Damen und Herren, es macht wenig Sinn, diesen Dschungel mithilfe einer Regelsatzerhöhung durchqueren zu wollen. Wir müssen diesen Leistungsdschungel lichten. Denn der Sozialstaat ist nur dann sozial,
wenn sich seine Bestimmungen jeder Bürgerin und jedem Bürger erschließen. Die Antwort der FDP auf dieses Problem ist das liberale Bürgergeld.
({7})
Das leistungsgerechte Bürgergeld fasst steuerfinanzierte Transferleistungen zu einem Universaltransfer zusammen,
({8})
zum Beispiel Arbeitslosengeld II einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung, Sozialgeld, Grundsicherung, Sozialhilfe - ohne die Hilfe in besonderen
Lebenslagen -, Kinderzuschlag und Wohngeld. Das bedeutet mehr soziale Gerechtigkeit und weniger Sozialbürokratie.
Herr Kollege Rohde, möchten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth zulassen?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Verehrter Kollege Rohde, beschleicht Sie nicht vielleicht das Gefühl, dass Sie am Thema vorbeireden?
({0})
Man muss auch fragen, welche Höhe das Bürgergeld haben soll. Ich habe gar nicht in Abrede gestellt, dass frühkindliche Bildung die Voraussetzung für die langfristige
Armutsvermeidung ist.
Unser Antrag setzt sich aber mit der Frage auseinander, ob der Betrag von 208 Euro ausreicht, um ein Kind
unter 13 Jahren über die Runden zu bringen.
Stimmen Sie mir zu, dass dieser Betrag nicht ausreicht, oder nicht?
Ich komme zu einem späteren Zeitpunkt zu dem konkreten Vorschlag, den die Grünen gemacht haben, zurück.
Ich möchte Ihnen aber zur Kenntnis geben, dass ich
gerade die Vision der FDP darstelle und beschreibe, wie
es insgesamt besser gemacht werden könnte. Denn Sie
wissen: Bei jeder einzelnen der Sozialleistungen, die ich
aufgezählt habe, entsteht natürlich Verwaltungsaufwand.
Wenn wir diesen Verwaltungsaufwand reduzieren, steht
für die Leistungen an die Bürger selbstverständlich mehr
Geld zur Verfügung.
Der nächste Satz in meinem Redemanuskript, werter
Kollege Kurth, bezieht sich auf die von der FDP vorgeschlagene Höhe des Bürgergeldes. Nun möchte ich das
Geheimnis lüften: Aus Sicht der FDP soll das Bürgergeld 662 Euro im Monat betragen.
({0})
Es orientiert sich an der Grundsicherung im Alter und
am derzeitigen Durchschnittssatz für die Langzeitarbeitslosen. Für Familien mit einem entsprechenden Familieneinkommen gibt es einen Freibetrag in Höhe von
8 000 Euro pro Haushaltsmitglied. Wenn man das durchrechnet, kommt man im Hinblick auf die Bekämpfung
der Kinderarmut zu einem ganz anderen Ergebnis. Tun
Sie das einmal, Herr Kollege Kurth.
Das ist eine moderne Sozialpolitik, die für faire Chancen für jeden steht. Leider muss ich gestehen, dass ich
nicht daran glaube, die Koalition von diesem Modell
überzeugen zu können.
({1})
Herr Kollege, Sie haben die Gelegenheit, eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn zuzulassen
und vielleicht ihn zu überzeugen.
Gern.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, dass das Bürgergeld
für Erwachsene 662 Euro betragen soll. Soll es Ihrer
Auffassung nach auch für Kinder 662 Euro betragen,
oder wie hoch sollte es sein? Sollte es höher sein als die
derzeitigen 208 Euro pro Kind? Welche Größenordnung
stellen Sie sich mit Blick auf das Bürgergeld für Kinder
vor?
Ich habe eben darauf hingewiesen, dass es für Familien mit einem entsprechenden Familieneinkommen einen Freibetrag gibt. Wenn es nach mir ginge, sollte auch
für jedes Kind ein Betrag von 662 Euro gelten. Man
muss jetzt die Einzelanforderungen gegenüberstellen.
({0})
- Herr Kollege Strengmann-Kuhn, bleiben Sie ruhig
noch ein bisschen stehen, ich bin mit meiner Antwort
noch nicht fertig. Mir fehlt schon ein wenig Redezeit,
das kann ich Ihnen versichern.
Die Kinder haben einen Bedarf, und der richtet sich
genau wie der für Erwachsene nach den heutigen Lebensumständen: Man muss gemeinsam das Heizöl bezahlen, und die Lebenshaltungskosten sind hoch; das ist
überhaupt keine Frage.
Können Sie denn im heutigen System einen Durchschnitt dessen, was an staatlichen Transferleistungen
möglich ist, für jedes Kind in Deutschland berechnen?
Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, wie viele
verschiedene Leistungen es gibt. Es ist nahezu undurchschaubar. Deswegen wird es schwierig für Sie, nachzuweisen, ob das, was heute gezahlt wird, mehr oder weniger ist. Ich denke, der von uns vorgeschlagene Betrag
liegt über dem, der heute gezahlt wird. Soweit meine
Antwort, Herr Dr. Strengmann-Kuhn.
Schwarz-Rot, aber auch jeder andere, der Vorschläge
zu Einzeltatbeständen macht, schmückt sich gerne mit
Wohltaten und Wahlgeschenken. Zahlreiche hübsche
Geschenke kommen bei den Leuten an. Sie können sich
feiern lassen. Wir wollen den großen Wurf.
Herr Rohde, Sie haben die Chance auf eine Zwischenfrage des Kollegen Müller.
Ich bedanke mich für das Interesse. Gern, Herr Kollege Müller.
Vielen Dank, Herr Kollege Rohde, und vielen Dank
für Ihre Großzügigkeit, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Rohde, könnten Sie uns eine ungefähre
Vorstellung davon verschaffen, was die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen, inklusive eines entsprechenden
Bürgergeldes für die Kinder, kosten würden? Wenn Sie
den Betrag kennen, frage ich Sie: Können Sie uns erklären, wie sich das mit den ständigen Forderungen der
FDP nach einem ausgeglichenen Haushalt verträgt? Ihrer Meinung nach ist die Große Koalition ja schon jetzt
wenig ambitioniert, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Herr Kollege Müller, lassen Sie mich zunächst einmal
sagen, dass ich von Ihnen enttäuscht bin: Sie waren doch
in der letzten Legislaturperiode im Finanzausschuss und
müssen dort mit dem Steuerkonzept der FDP-Bundestagsfraktion bzw. von Herrn Solms zu tun gehabt haben.
Wir haben dieses Konzept - es hat die Form eines Gesetzentwurfes - in dieser Legislaturperiode aktualisiert.
Die FDP-Fraktion ist die einzige Fraktion, die einen Gesetzentwurf für ein einfaches und gerechtes Steuersystem eingebracht hat.
({0})
Um Ihnen auf die Sprünge zu helfen: Unser Konzept ist
immer noch aktuell. Es wird derzeit im Zusammenhang
mit dem nächsten Bundesparteitag der FDP fortgeschrieben. Wie wir im Wahlkampf 2005 erläutert haben, belaufen sich die Einnahmeausfälle durch die Steuersenkungen auf circa 17 Milliarden Euro. Wir gehen davon aus,
dass die Wirtschaft dadurch so sehr in Schwung kommt,
dass diese nach kurzer Zeit gegenfinanziert sind.
({1})
Wir sind davon überzeugt, dass, wenn wir weniger Bürokratie haben, Etliches davon wieder hereinkommt. Wir
stehen zu diesem Konzept. Sie können gerne mit einem
eigenen Konzept aufwarten; aber bislang hat keine andere Fraktion ein Alternativkonzept vorgelegt. Wir werden bei der nächsten Bundestagswahl wieder mit unserem Konzept werben.
({2})
Zu einem anderen Punkt. Die Kinder können nicht
warten, bis die FDP im Herbst 2009 wieder den politischen Kurs der Bundesregierung mitbestimmt.
({3})
Deshalb verschließen wir uns keiner vernünftigen Lösung für eine neue Bedarfsfestsetzung bei den Regelsätzen. Im Juni wird im Ausschuss für Arbeit und Soziales
eine Anhörung zur Höhe der Regelsätze durchgeführt.
Lassen Sie uns diese Anhörung abwarten; danach können wir gegebenenfalls eine Neufestsetzung vornehmen.
Die Grünen führen zur Begründung ihrer Forderung
nach höheren Regelsätzen für Kinder die Kosten von
Bus und Bahn, bildungsbedingte Ausgaben, Schulspeisung, Vereinsbeiträge, Lernmittel, Schulmaterial usw.
an. Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
ich kann ja nachvollziehen, dass Sie als eine Partei, die
nur in einem einzigen Bundesland mitregiert - auch das
erst seit kurzem wieder - und die im Bundestag die
kleinste Fraktion stellt, jedes Mittel nutzen, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Bundestag ist für
diese Fragen allerdings der falsche Ansprechpartner.
({4})
Bildung ist Ländersache, und das sollte auch so bleiben.
Nachdem ich die Antworten der Bundesregierung mitbekommen habe, Herr Staatssekretär, muss ich sagen: Dieser Hinweis gilt auch für die Bundesregierung. Es ist
Aufgabe der Länder, allen Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen und diejenigen
zu unterstützen, die zusätzliche Hilfe nötig haben. Belassen Sie diese Aufgabe bei den Ländern; sonst werden
sich die Länder aus ihrer Verantwortung schleichen. Für
die Betroffenen würde das bedeuten, dass sie zwischen
den Behörden hin und her geschickt werden.
Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen unbürokratischen Sozialtransfer in Form des von den Liberalen vorgeschlagenen Bürgergeldes, ein einfaches und gerechtes
Steuersystem, bei dem die Familien im Vordergrund stehen, und finanzstarke Länder und Kommunen, die ihren
grundgesetzlichen Aufgaben im Bildungsbereich nachkommen können. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Die Vorschläge der FDP liegen auf dem Tisch.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Markus Kurth, das Grundanliegen Ihres Antrags
- die Kinderarmut besser zu bekämpfen - teilen wir Sozialdemokraten ohne Zweifel. Es bleibt wahr: Sie können nicht auf ewig für alles in Haft genommen werden,
was eine erfolgreiche rot-grüne Regierungskoalition in
den Jahren vor 2005 beschlossen hat.
Aber als ich Ihren Antrag gelesen habe, wurde mir eines klar: Sie machen nicht nur in Hamburg eine Koalition mit der CDU - das steht jedem frei -, Sie machen
auch gemeinsame Sache mit dem Kollegen Laumann,
der in NRW Sozialminister ist und schon im Oktober
2007 behauptet hat, dass nie wissenschaftliche Erkenntnisse zur Bemessung des Regelsatzes für Kinder vorgelegen hätten. Sie wissen das besser; denn Sie waren Mitglied der Koalitionsarbeitsgruppe, die das SGB XII
reformiert hat. Sie wollen wie Herr Laumann ein neues
Expertengremium einberufen, das den tatsächlichen Bedarf von Kindern berechnen soll. Weiter stellen Sie fest,
die Regelsätze seien weder nachvollziehbar noch transparent.
Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Ausschussdrucksache 16({0})268 aus dem Juni 2006, in der das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine dezidierte Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
2003 und die Ableitung der Regelsätze dargelegt hat. Ich
bin anderer Auffassung als Sie, Herr Kollege Kurth, ich
bin ein entschiedener Gegner einer Rückkehr zum Warenkorbmodell. Das würde das Problem normativer Setzungen nicht lösen, sondern es noch vergrößern. Das war
übrigens der Grund, warum das Warenkorbmodell damals abgeschafft worden ist.
Im Rahmen der im Fünfjahresrhythmus stattfindenden Erhebung bei circa 80 000 Haushalten führt das Statistische Bundesamt für die Ermittlung der regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben eine Sonderauswertung der
Verbrauchsausgaben der Gruppe der unteren 20 Prozent
der Haushalte oberhalb der Gruppe der Sozialhilfeberechtigten durch. Das ist die Basis der Regelsatzbemessung; das wissen Sie.
In den Jahren ohne neue EVS wird der Regelsatz entsprechend der aktuellen Rentenerhöhung fortgeschrieben. Übrigens sollten Sie Ihre Haltung zum Rentenanpassungsgesetz auch deshalb dringend überprüfen. Für
2008 bedeutet das nämlich eine Erhöhung der Regelsätze um 1,1 Prozent, und für das Jahr 2009 beträgt die
Erhöhung 2 Prozent, vorausgesetzt, dass es die Auswertung der EVS noch nicht gibt.
Nach SGB XII ist bei Vorliegen der Ergebnisse einer
neuen EVS die Regelsatzbemessung zu überprüfen. Das
ist auch erfolgt. Für Menschen mit Kurzzeitgedächtnis:
Dies geschah nach der letzten EVS durch die Schaffung
eines gesamtdeutschen Regelsatzes. Gleichzeitig wurde
auf eine Reihe von Abschlägen bei Einzelpositionen verzichtet.
Bei allen Empörungskampagnen zum Thema Kinderarmut - im Übrigen werden sie jetzt durch die Empörung
über die Altersarmut in 20 Jahren abgelöst -: Die Äußerungen von Herrn Laumann und die Auffassung Ihrer
Fraktion sind im Hinblick auf die bedarfsgerechten Kinderregelsätze nicht sachgerecht und auch nicht seriös.
Würde der spezifische Bedarf von Kindern so festgelegt,
wie in Ihrem Antrag vorgesehen, dann wäre er ebenso
angreifbar wie die derzeitigen Regelsätze. Die OECD
hat herausgefunden, dass die Ableitungssätze für Kinder
vom Regelsatz für den Haushaltsvorstand im internationalen Vergleich fast überall deutlich unter denjenigen in
der aktuellen deutschen Regelsatzverordnung liegen.
Eine Fortschreibung der Transfers anhand der Preisentwicklung lehnen wir klar ab, weil dies nicht nur zu einer ungerechtfertigten Besserstellung der Empfänger
von Transferleistungen gegenüber den Erwerbstätigen
und Rentnern führen würde. Es würde nicht nur der
Gleichklang der sozialen Leistungssysteme außer Kraft
gesetzt werden, es wäre auch aus ökonomischer Sicht
grober Unfug, weil dadurch natürlich weitere Anreize
für Preissteigerungen gesetzt würden.
Zu Ihrer Forderung, Lernmittel und Schulmaterial als
Sachleistungen zu gewähren: Hierfür gibt es eine klare
Zuständigkeit der Länder. Ich empfehle Ihnen, in Hamburg damit anzufangen. Wir Sozialdemokraten werden
Sie auf jeden Fall nicht daran hindern.
Wir werden die Bedarfe an einmaligen Leistungen genau überprüfen. Wir müssen aber darauf bestehen - dies
hat auch der Kollege Rohde gerade gesagt -, dass die
kommunalen Zuständigkeiten für Angebote wie Musikschulen, Sportvereine, Bibliotheken und Kosten der
Schülerbeförderung auch dort umgesetzt werden. Die
Gewährung zusätzlicher pauschalierter Leistungen als
Sachleistungen wird zurzeit geprüft. Das ist hier gerade
auch schon gesagt worden.
Wir führen zurzeit unter anderem in der Regierung,
aber vor allen Dingen auch unter uns Sozialdemokraten
Gespräche darüber, wie Kinderarmut ganzheitlich und
zielgerichtet entgegengewirkt werden kann und welche
konzertierten Aktivitäten der staatlichen Ebene und der
gesellschaftlichen Akteure notwendig und realisierbar
sind.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Noch
vor der Sommerpause wird der Dritte Armuts- und
Reichtumsbericht vorgelegt. Nach der Sommerpause erscheint der nächste Existenzminimumsbericht. Die Beiträge der Wohlfahrtsverbände und der Praktiker werden
intensiv geprüft.
Herr Kollege.
Wir in unserer Fraktion wollen allerdings eine solide,
gerechte und stimmige Basis für die Weiterentwicklung
unserer Grundsicherungssysteme und lehnen deshalb Ihren Antrag ab.
({0})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Elke Reinke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Sie werden gehänselt, ausgelacht, gemieden: Kinder, die in Armut leben, Kinder, die mit knurrendem Magen und mit Büchern in Einkaufstüten zur
Schule müssen - arme Kinder, nicht irgendwo in der
Welt, sondern hier bei uns. Auch das ist Deutschland.
Ich weiß: Die Wahrheit nehmen Sie nur ungern zur
Kenntnis; denn ansonsten hätten Sie schon längst gehandelt und nicht immer nur neue Ankündigungen gemacht.
({0})
Seit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl
der armen Kinder auf mehr als 2,6 Millionen verdoppelt.
Das ist kein Wunder; denn der Regelsatz für Kinder unter 14 Jahren liegt bei 208 Euro monatlich, während der
Regelsatz für Kinder ab 14 Jahren 278 Euro pro Monat
beträgt. Dieser wird pauschal aus dem Eckregelsatz von
347 Euro für erwachsene Erwerbslose abgeleitet. Basis
ist das Verbrauchsverhalten der unteren 20 Prozent der
Einpersonenhaushalte. Das sind meist Rentner, und
diese wachsen gewöhnlich nicht aus ihren Turnschuhen
heraus.
({1})
Es ist verrückt, den Bedarf armer Kinder an dem armer Rentner zu messen. Das bedeutet für einen Siebenjährigen pro Tag 2,64 Euro für Frühstück, Mittagessen,
Abendbrot, Getränke und anderes. So will es das Gesetz.
Der Kinderregelsatz reicht weder für eine gesunde,
ausgewogene Ernährung noch für Kleidung, Schulmaterial, Bibliotheksausweis, Busfahrkarte, Zoobesuch, Teilnahme am Vereinsleben, Nachhilfe, Musikschule usw.
Einmalige Leistungen wie in der früheren Sozialhilfe
gibt es seit Hartz IV nicht mehr. So fiel auch die Ausstattung für Schulanfänger weg.
({2})
Jetzt wissen Sie, warum Die Linke von Armut per Gesetz spricht. Es stellt sich einmal mehr die Frage, für
welche Kinder diese Regierung Politik macht.
Wir brauchen umgehend einen eigenständigen Kinderregelsatz, der die Bedarfe realitätsnah abbildet und
somit zum Beispiel Bildungsmöglichkeiten, Schulspeisung und Einmalzahlungen für Einschulung oder Klassenfahrten mit abdeckt.
({3})
Wir fordern auch seit langem die Anhebung des Kinderregelsatzes im ersten Schritt auf mindestens 300 Euro,
eine Erhöhung des Kinderzuschlages sowie die Aufbesserung des Kindergeldes. Dies wäre eine Grundlage, um
zu einer bedarfsgerechten und eigenständigen Kindergrundsicherung in Höhe von 420 Euro zu kommen.
Unsere Kinder haben das Recht - und dafür muss ein
Sozialstaat sorgen -, gesund aufzuwachsen, freien Zugang zu Bildung zu haben und gleichberechtigt am täglichen Leben teilhaben zu können.
({4})
Nur so kann man der Benachteiligung vieler Kinder und
den Belastungen der Eltern wirksam entgegentreten.
Es ist interessant, dass die Grünen nun einiges aus der
Vergangenheit zurücknehmen wollen.
({5})
Leider haben sie bisher - wie alle anderen Fraktionen
auch - unsere Anträge mit den Forderungen nach einem
Kinderwarenkorb und zum kinderspezifischen Regelsatz
abgelehnt. Ich hoffe, dass ihre plötzliche Einsicht keine
Eintagsfliege bleibt.
Wir unterstützen die im Antrag der Grünen erhobenen Forderungen. Ich kann es Ihnen jedoch nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass das, was Sie als „bedarfsfern und bildungsfeindlich“ bezeichnen, genau seit dem
1. Januar 2005 gilt: Es ist das von Ihnen gewollte
Hartz-IV-Gesetz.
({6})
Sie sind mitverantwortlich dafür, dass 2005 die Regelsätze für Schulkinder auf das Niveau von Säuglingen gesenkt wurden. Dass Kinder wachsen, wird seit Ihrem
Hartz-IV-Gesetz nicht mehr berücksichtigt.
Deshalb fordern wir: keine Steuergeschenke an Unternehmen und Superreiche! Unsere Kinder brauchen
das Geld viel nötiger.
({7})
Wir werden im Kampf gegen Kinderarmut nicht lockerlassen und gemeinsam mit Verbänden, Vereinen und
Initiativen in einem breiten Bündnis den Druck verstärken und Sie zum Handeln bewegen.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es gut, dass wir so engagiert über das Thema
Kinderarmut debattieren. Es ist richtig, dass in Deutschland zu viele Kinder davon betroffen sind. Mehr als zwei
Millionen erhalten Sozialleistungen, weil die Eltern arbeitslos sind oder nicht genug zum Leben verdienen.
Arme Kinder sind fast immer Kinder armer Eltern.
Aus armen Kindern werden dann allzu oft wieder arme
Eltern. Um diesen Teufelskreis aus Armut und mangelnden Chancen auf Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und
gesunde Entwicklung zu durchbrechen, unternehmen
wir seit Jahren enorme Anstrengungen zur Bekämpfung
von Arbeitslosigkeit. Deshalb fordern wir gute Arbeit
und faire Löhne. Deshalb kämpfen wir gegen Lohndumping und für Mindestlöhne.
({0})
Wir haben dabei Erfolg: 1,5 Millionen Arbeitslose
weniger seit 2005. Das kommt auch den Kindern zugute.
Arbeitslosigkeit ist allerdings ungerecht verteilt.
({1})
So bleiben alleinerziehende Eltern noch viel zu stark von
der positiven Arbeitsmarktentwicklung ausgeschlossen.
655 000 dieser Eltern sind zurzeit langzeitarbeitslos und
mit ihren über eine Million Kindern auf staatliche Unterstützung angewiesen. Wenn es uns gelänge, diesen Eltern eine vernünftige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt
zu bieten, wären wir ein gewaltiges Stück weiter. Hier
sind aber auch Länder und Kommunen gefordert. Sie
müssen endlich ordentliche Betreuungsstrukturen aufbauen, damit Eltern guten Gewissens arbeiten gehen
können. Der Bund hat zur Unterstützung der Länder ein
milliardenschweres Betreuungsausbauprogramm auf den
Weg gebracht. Das muss nun aber auch bundesweit umgesetzt werden.
({2})
Ich betone den Aspekt der Arbeitslosigkeit so ausdrücklich, weil er, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, in Ihrem Antrag überhaupt keine Rolle
spielt. Kinderarmut bekämpfen heißt in Ihrem Antrag
vor allem die Einführung bedarfsgerechter Kinderregelsätze.
({3})
Die wichtigsten Ursachen für Kinderarmut, nämlich Arbeitslosigkeit und Armutslöhne der Eltern, vor allem alleinerziehender Eltern, blenden Sie vollkommen aus.
Das halte ich für sehr bedenklich.
({4})
Zu Ihren Vorschlägen für die Einführung bedarfsgerechter Kinderregelsätze: Sie beschreiben die Situation
sehr treffend. Es fehlt aber eine genaue Analyse, was
Kinder brauchen und was Eltern für ihre Kinder ausgeben. Das ist nicht zufriedenstellend. Ich wünsche mir ein
Bemessungssystem, das die Bedarfe von Kindern abbildet und die nötige Transparenz herstellt. Das ist wichtig,
damit wir uns nicht regelmäßig darüber streiten, ob es,
wie Sie es in Ihrem Antrag und hier am Rednerpult behaupten, tatsächlich nur 2,64 Euro pro Tag sind, die Kindern bis 14 Jahre für Nahrungsmittel und Getränke im
Regelsatz zugestanden werden. Das ist so natürlich nicht
richtig; denn wir leiten den Kinderregelsatz vom Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen ab. Dadurch
enthält der Kinderregelsatz Posten, die nicht jedes Kind
benötigt, wie Verkehrsdienstleistungen oder Nachrichtendienste.
({5})
Dieses Geld kann natürlich auch für Nahrungsmittel und
Getränke eingesetzt werden.
Richtig ist: Wir brauchen eine Überarbeitung der Kinderregelsätze. Die SPD wird in Kürze im Rahmen einer
nationalen Kinderkonferenz Vorschläge präsentieren. Ich
kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es Übereinstimmung mit Ihren Forderungen unter Punkt 3 Ihres
Antrags geben wird. Eine Anpassung der Regelsätze an
die laufende Preisentwicklung kommt für uns nicht infrage. Sie würde eine Ungleichbehandlung gegenüber allen anderen Einkommensbeziehern bedeuten; denn
deren Löhne und Renten sind nicht an die Preisentwicklung angepasst.
({6})
Eine Übernahme der Kosten für Lernmittel, Schülerbeförderung und vieles mehr durch den Bund, wie Sie es
fordern, würde die Länder aus ihrer Verantwortung entlassen. Das lehnen wir ab. Nur in gemeinsamer, gesamtgesellschaftlicher Verantwortung von Bund, Ländern
und Kommunen werden wir bei der Bekämpfung von
Kinderarmut weiter vorankommen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
- Drucksache 16/6815 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/8914 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jerzy Montag
Hierzu liegt jeweils ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aufgrund zahlreicher Todesfälle bei Kindern, die auf
Misshandlung und Verwahrlosung zurückgehen, haben
wir im BMJ darüber nachgedacht, was wir tun können,
um in Zukunft Kinder besser zu schützen und solche Taten zu verhindern. Wir haben einen Kreis von Praktikern
aus den Familiengerichten, aus der Kinder- und Jugendhilfe und anderen Institutionen an einen Tisch geholt und
beraten, was wir tun können. Wir haben dem Hohen
Hause Vorschläge unterbreitet, die hier diskutiert wurden
und die heute verabschiedet werden sollen.
Das Ergebnis unserer Arbeit hat drei Ziele: Wir wollen erstens gerne, dass die Justiz in Zukunft früher eingeschaltet werden kann, dass man nicht warten muss, bis
das Sorgerecht zu entziehen ist. Wir wollen zweitens
Richterinnen und Richtern künftig mehr Handlungsmöglichkeiten geben und ihnen die Chance eröffnen, breitere
Entscheidungen zu treffen. Wir wollen drittens für den
Fall vorsorgen, dass das Gericht auf Antrag der Jugendhilfe keine Anordnung erlässt.
Diese drei Ziele erreichen wir durch drei konkrete
Änderungen des Gesetzes:
Erstens. Wir senken die Voraussetzungen für ein Eingreifen des Gerichts. Das Gericht soll in Zukunft schon
dann handeln können, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern diese Gefahr entweder nicht
abwenden können oder nicht abwenden wollen. Bislang
war es zusätzlich nötig, dass man den Eltern ein Erziehungsversagen nachweist. Das war in der Praxis oft
schwierig und hat die Jugendämter häufig davon abgehalten, die Justiz einzuschalten. Zukünftig soll also allein der Schutz des Kindes Maßstab für das Eingreifen
der Gerichte sein.
Die zweite Gesetzesänderung betrifft die Handlungsmöglichkeiten. Bislang spricht das Gesetz nur von erforderlichen Maßnahmen. In der Praxis wurde darunter oft
allein der Entzug des Sorgerechts verstanden. Wir stellen
jetzt durch eine gesetzliche Änderung klar, dass das Gericht sehr viel mehr Möglichkeiten hat und dass man
auch mit sehr viel milderen Anordnungen etwas für das
Kindeswohl tun kann. Wir listen konkret auf, was unterhalb eines Entzugs des Sorgerechts geschehen kann.
Zum Beispiel können Eltern verpflichtet werden, die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen. Für
manche Eltern mag auch ein Antigewalttraining oder die
Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung eine sinnvolle Maßnahme sein.
All das soll künftig möglich sein. Ich meine, dass
diese Rechtsänderung nicht nur im Interesse der Kinder
liegt; denn die Trennung von Kind und Eltern, der Entzug des Sorgerechts, ist in der Regel die allerletzte Möglichkeit. Wir wissen, dass diese Möglichkeit unter erziehungspsychologischen Gesichtspunkten nicht die beste
ist; denn das Aufwachsen in einer „schlechten Familie“
ist für Kinder oft besser als ein Leben im Heim. Ziel unserer Maßnahmen ist es, unterstützend zu wirken. Wir
wollen nicht kontrollieren. Wir wollen keinesfalls, wie
manche Zeitungen vermuteten, die Familie entmachten.
Vielmehr wollen wir eine konkrete, frühzeitige Hilfe ermöglichen. Bei manchen ist es nötig, den mahnenden
Zeigefinger der Justiz zu erheben und zu sagen: Ihr
müsst euch jetzt bewegen und etwas für euer Kind tun;
sonst wird es kritisch.
({0})
Um nichts anderes geht es: Wir schützen die Kinder, wir
helfen den Eltern, wir wollen die Familien stärken.
Die dritte Rechtsänderung betrifft die Überprüfung
der gerichtlichen Entscheidung. Unser Ziel ist es, Folgendes zu erreichen: Wenn ein Antrag vom Jugendamt
gestellt wurde und das Gericht eine Entscheidung abgelehnt hat, dann sollen die Richterinnen und Richter nach
drei Monaten noch einmal in die Akte schauen. Dadurch
soll das Verhältnis zwischen Gericht und Jugendhilfe ein
bisschen besser werden. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass die Jugendhilfe ruhig Anträge stellen kann;
auch wenn den Anträgen nicht sofort nachgekommen
wird, mag das in der Folge geschehen.
Frau Zypries, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Jerzy Montag?
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin. - In Ihren Ausführungen haben Sie gerade davon gesprochen, dass es notwendig ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
in Konfliktfällen vor Ort frühzeitig und effektiv eingegriffen wird. Sind Sie bereit, in Ihren Ausführungen zum
Ausdruck zu bringen, dass Gesetzesänderungen des
Bundes nur wenig bewirken können, wenn die Jugendämter nicht gestärkt werden, wenn die Justiz vor Ort
nicht besser ausgestattet wird und wenn die handelnden
Personen nicht besser ausgebildet werden, damit sie wissen, wann sie eingreifen dürfen, sodass sie keine Angst
haben müssen, einzugreifen, wenn Verdachtsmomente
vorliegen?
Ich glaube, dass es wichtig wäre, wenn in dieser Debatte auch von Ihnen der Appell ausgehen würde, dass
wir zwar das machen, was wir auf der Bundesebene machen können, dass aber der Erfolg für die Kinder nur gewährleistet ist, wenn unterhalb der Bundesebene etwas
geschieht.
({0})
Herr Montag, vielen Dank für die Frage. In der Tat ist
das meine Überzeugung, die ich schon mehrfach in Interviews oder in anderen öffentlichen Statements zum
Ausdruck gebracht habe. Wir ziehen da an einem Strang.
Sie haben völlig recht: Wir können im Moment und hier
nur die bundesgesetzlichen Voraussetzungen schaffen.
Aber es ist erforderlich, dass die Länder, die die Kompetenz für den Vollzug der Jugendhilfe und die Einrichtung
neuer Gerichte haben, diese Kompetenz nutzen und
künftig die Voraussetzungen für eine bessere Zusammenarbeit der Jugendämter und der Familiengerichte
schaffen. Das ist ein wichtiger Punkt, um den es uns
geht; denn wir müssen eine bessere Verzahnung der Arbeit zwischen Gerichten und Jugendhilfe erreichen.
({0})
- Die Zwischenfrage gibt mir die Gelegenheit, dazu etwas zu sagen, ohne dass das auf meine Redezeit angerechnet wird. Das ist ganz prima. ({1})
Wir hoffen sehr, dass das Gesetz, das Sie heute verabschieden werden, dazu beiträgt.
Man kann sehen, dass es in einigen Ländern schon
wirkt. Das Land Berlin nämlich hat diese Rechtsänderung zum Anlass genommen, um ein drittes Familiengericht in Berlin einzurichten. Das ist doch eine gute Nachricht, die deutlich macht, dass es funktionieren kann.
Bund und Länder, Jugendämter und Justiz, alle können
an einem Strang ziehen, und sie müssen an einem Strang
ziehen, wenn es darum geht, Kinder in Zukunft besser zu
schützen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. Es gab eine intensive Beratung und ein sehr
gutes und zielorientiertes erweitertes Berichterstattergespräch, das uns deutlich vor Augen geführt hat, wo die
tatsächlichen Probleme in der Praxis liegen. Ich darf
gleich da anschließen, wo Sie, Frau Ministerin, geendet
haben, nämlich bei der Notwendigkeit der Verzahnung
der Tätigkeit der Familiengerichte, Jugendämter und Jugendhilfe vor Ort. Genau das ist in dem Entschließungsantrag der FDP-Bundestagsfraktion angesprochen worden. Ich würde mich vor dem Hintergrund der
Ausführungen der Ministerin doch freuen, wenn Sie diesem Entschließungsantrag zustimmen könnten.
Wir müssen deutlich machen: Die Änderung des materiellen Rechts, des Bürgerlichen Gesetzbuchs, und der
Durchführung der Verfahren, wie sie jetzt im Gesetz
über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vorgenommen werden, ist eines; aber was tatsächlich daraus wird, damit vielleicht künftig der eine oder
andere Fall von Vernachlässigung oder Missbrauch mit
erheblicher Gefährdung kleinster Kinder bis vielleicht
hin zum Tod - Kevin und Lea-Sophie sind nur zwei
Fälle und Namen, die uns in Erinnerung sind - vermieden wird, ist das andere. So etwas kann nur vermieden
werden, wenn es tatsächlich zu einer erfolgreichen Anwendung auch dieser materiell-rechtlichen Änderungen
kommt.
({0})
Es sind einige wenige Schritte, die hier auf der Ebene
des Bundesgesetzgebers gegangen werden. Wir gehen
sie mit. Mir ist ganz wichtig, dass von der Debatte heute
hier im Bundestag ganz klar die Botschaft ausgeht, dass
es nicht darum geht und mit diesen Gesetzesänderungen
nichts dazu beigetragen wird, die Eltern in ihren Elternrechten zu schwächen und sie, wie manche Zeitungen
- unter anderem die FAZ - schreiben, zu entmachten. Es
ist eine ganz gefährliche Debatte, die hier in den Medien
geführt wird. Dieser müssen wir entgegentreten. Die
Botschaft, dass hier im Bundestag ein Gesetz verabschiedet wird, das ein einziges Ziel hat, nämlich das Sorgerecht leichter zu entziehen und das möglichst schnell,
wäre nicht nur eine falsche Botschaft, sondern auch eine
gefährliche. Dem möchte ich mit meinen Worten hier
ganz klar entgegentreten.
({1})
Diese Debatte ist virtuell; denn diejenigen, die ihre
Sorge dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie den Teufel an die Wand malen, haben sich die Gesetzesänderungen, die heute hier beschlossen werden, nicht angeschaut.
({2})
Wir greifen das auf, was in der Praxis schon in den
letzten Jahren gemacht wurde: Wenn eine Vernachlässigung, eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, dann
ist nicht entscheidend, unter welcher Voraussetzung das
Verschulden zu beweisen ist. Entscheidend ist vielmehr
Folgendes: Wenn die Eltern nicht gewillt sind, dieser
Gefährdung entgegenzutreten und ihr abzuhelfen, dann
muss etwas passieren. Dafür gibt es einen Katalog von
Maßnahmen.
Diese Maßnahmen werden in diesem Gesetz weder
abschließend noch in der zu ergreifenden Reihenfolge
aufgezählt. Das begründet eine gewisse Sorge, die immer wieder geäußert wird, gerade seitens derjenigen, die
sich mit Betreuung, mit Verfahrenspflegschaft oder mit
Beratungen beschäftigen. Wichtig ist das Angebot an
Maßnahmen. Es muss in der jeweiligen Situation entschieden werden, welche Maßnahme, welche Entscheidung richtig ist, um den Eltern zu helfen und der Gefährdung des Kindeswohls entgegenzuwirken.
Wir haben die Gefahr gesehen, dass es nur zu einer
Debatte über das Verhältnis zwischen Rechten und
Pflichten der Eltern auf der einen und dem Wächteramt
des Staates auf der anderen Seite kommen wird. Daher
haben wir in die Beschlussempfehlung ausdrücklich aufgenommen, dass dieses Gesetzesvorhaben nicht zu einer
Verschiebung des vom Grundgesetz vorgesehenen Verhältnisses führen wird. In diesem Sinne sollten wir alle
gemeinsam die vielen Anfragen - eine Aktion standardisierter Schreiben ist in Gang gesetzt worden - beantworten, damit sich keine anderen Eindrücke verfestigen.
Es ist gut, dass als Ergebnis des Berichterstattergesprächs die besondere Problematik der häuslichen Gewalt in die Formulierungen des Gesetzentwurfs aufgenommen wurde.
({3})
Jetzt ist die Möglichkeit vorgesehen, dass sowohl das
Erziehungsgespräch als auch der erste Erörterungstermin
nur mit einem Elternteil durchgeführt wird. Die in der
Beschlussempfehlung vorgenommenen Klarstellungen,
wie der neue § 50 a des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu lesen ist, ist für
die Praxis bestimmt hilfreich. Nach diesen Beratungen
und den noch erfolgten Veränderungen stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu.
Es wäre sehr gut, wenn die große Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit möglichst schnell käme. Einige
Teilaspekte sind in diesem Gesetzentwurf enthalten. Es
wäre gut, wenn wir ein Gesetz zur freiwilligen Gerichtsbarkeit „aus einem Guss“ hätten.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir entscheiden heute über ein Gesetz, das aufgrund der
umfangreichen Beratungen und Abstimmungen im Vorfeld gut geworden ist. Wichtig ist auch, dass es in der
Praxis relativ zügig umgesetzt wird. Wenn es heute verabschiedet wird, dann können wir davon ausgehen, dass
es noch vor der Sommerpause in Kraft tritt. Es ist erfreulich, dass der Rechtsausschuss einstimmig dafür votiert
hat, dieses Gesetz heute zu beschließen. Das kommt
nicht so oft vor.
In der Bevölkerung gibt es eine - die Kollegen haben
es schon angesprochen - breite, sehr emotional geführte
Diskussion. Man ist teilweise sehr uninformiert; dabei
spielt die Presse keine unwichtige Rolle. Auf der einen
Seite heißt es in Überschriften „Entmachtung der Eltern“
und auf der anderen Seite „Früher, schneller, präziser“.
Letzteres ist genau das, was das neue Gesetz regelt. Leider gibt es in Deutschland eine zunehmende Zahl von
Kindesvernachlässigungen, Kindesmisshandlungen und
Todesfällen. Gerade in diesen Fällen - es sind nicht sehr
viele im Verhältnis zu denjenigen, in denen Eltern ihre
Kinder sehr liebevoll und verantwortungsbewusst erziehen - ist der Staat aufgrund seines Wächteramtes verpflichtet, schnellstmöglich einzuschreiten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten
Entscheidung - es ging um die zwangsweise Durchsetzung des Umgangsrechts - sehr klar und deutlich hervorgehoben, dass Eltern verpflichtet sind - Art. 6 Grundgesetz -, ihre Kinder verantwortungsvoll zu erziehen, dass
Eltern aber auch das Recht haben, sich um ihre Kinder
zu kümmern und frei zu entscheiden, wie sie ihrer Erziehungsverantwortung gerecht werden.
Damit der Staat sein Wächteramt auch ausüben kann,
haben wir - entsprechend auch der Vereinbarung im Koalitionsvertrag - eine Expertengruppe eingesetzt, die
sich darum bemüht hat, Regelungen zur Kindeswohlgefährdung zu finden, die praxistauglich sind. Nach den
Vorschlägen aus der Expertengruppe, in der Vertreter
vieler Verbände und der Länder beteiligt waren, liegt uns
nun, auch nach Anhörung der Kirchen, ein Gesetzentwurf zur Abstimmung vor, der sehr sachlich und sehr
umfassend ist.
Uns als Union ist sehr wichtig, noch einmal klar darauf hinzuweisen, dass in den allermeisten Fällen die Eltern ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen und die
Kinder liebevoll betreuen und versorgen. Dabei soll es
auch bleiben. Diese Klarstellung ist uns sehr wichtig,
denn der Staat wird nicht die Kontrolle über alle Familien übernehmen.
({0})
Ich gehe einmal von der bisherigen Praxis aus. Wir
haben eine Vorschrift, nach der die Gerichte nur dann
eingeschaltet werden, wenn es kein anderes Mittel mehr
gibt als den Entzug der elterlichen Sorge. Das ist der
schärfste Eingriff in eine Familie, den es überhaupt geben kann. Deshalb ist unser Anliegen, Möglichkeiten zu
schaffen, um frühzeitig korrigierend einzuschreiten.
Bisher sprach man von „Erziehungsversagen“. Das
war eine Hemmschwelle, weil das dokumentierte: Die
Eltern haben etwas falsch gemacht; sie haben versagt. Damit blockiert man jedwede Kooperation mit den Ämtern. Um diese Hürde zu nehmen, haben wir gesagt: Die
Kindeswohlgefährdung ist der Maßstab für ein Einschreiten.
Es wird diskutiert: Was ist das Kindeswohl? Was ist
eine Kindeswohlgefährdung? Das körperliche, geistige
und seelische Wohl der Kinder steht für uns im Vordergrund. Die Kinder sollen zu verantwortungsvollen Menschen erzogen werden. Sie sollen Stabilität in ihrem Leben erhalten. Wenn die Gefahr besteht, dass das nicht
gewährleistet ist und das zu einer erheblichen Schädigung des Kindes führt, soll eingeschritten werden.
Wann ist ein Einschreiten erforderlich? Wie sieht das
in der Praxis aus? Es werden die Behörden, die Jugendämter, die Gerichte damit befasst. Wenn es eine Trennungssituation in der Familie gibt, wenn Gewalt vorhanden ist, dann schreitet das Jugendamt ein. Wenn sich
Nachbarn, Ärzte, Kindergarten, Schule, Erzieherinnen
melden, dann erfolgt das Einschreiten. Man versucht in
einem ersten Schritt, gemeinsam mit dem Jugendamt einen Weg zu finden, um die entstandenen Irritationen und
die Fehlentwicklungen zu korrigieren. In vielen Fällen
reicht es aus, dass in Kooperation mit dem Jugendamt
die Fehler bereinigt werden.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die Eltern das nicht
können oder nicht wollen. In diesen Fällen, so sagen wir,
muss in einem zweiten Schritt das Familiengericht angerufen werden. Die Kollegin von der FDP hat im Einzelnen ausgeführt, wie das Gesetz aufgegliedert ist. In einem Maßnahmenkatalog, der nicht abschließend ist,
wird aufgeführt, welche Möglichkeiten für das Gericht
bestehen, niedrigschwellige Maßnahmen, also solche
unterhalb eines Sorgerechtsentzugs, zu ergreifen oder
anzubieten, um die Fehlentwicklung zu korrigieren, wobei das Gericht durchaus auch in einem Elterngespräch
darauf hinweisen kann, was möglich ist.
({1})
Wenn das funktioniert, wird keine Maßnahme angeordnet. Wenn das aber nicht möglich ist, muss das Gericht eine Maßnahme anordnen. Wir sollten auch einmal
klarstellen, dass es zunächst ganz behutsam anfangen
kann - bis hin zu dem letzten Mittel, der Herausnahme
des Kindes aus der Familie.
({2})
Was nutzt uns eine Vorschrift im materiellen Recht
des BGB, wenn wir nicht auch begleitend das Verfahren
im FGG ändern, also beschleunigen; früher erster Termin, nämlich innerhalb eines Monats; sich mit allen Beteiligten an einen Tisch setzen? Sie haben völlig zu
Recht gesagt: Wir sind derzeit auf einer Großbaustelle,
was die Reform des Verfahrensrechts in Familiensachen
angeht. Das reformierte Gesetz wird sicherlich erst Ende
nächsten Jahres in Kraft treten. Das ist noch sehr lange
hin. Deshalb haben wir uns entschieden - auch das war
letztlich einmütig -: Die wesentlichen Bausteine aus
dem neuen Gesetz wollen wir schon jetzt in das FGG
implantieren. So können die Gerichte frühzeitig reagieren und Maßnahmen ergreifen.
Der frühe erste Termin bietet den Eltern und dem Jugendamt die Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuklären
und in einem Erörterungsgespräch herauszufinden, ob es
Möglichkeiten der Korrektur gibt.
Was die Gewaltfälle angeht - das ist wichtig -, sind
nach der FGG-Anhörung noch Änderungen aufgenommen worden: In Fällen der häuslichen Gewalt ist es sicherlich sinnvoll, getrennt anzuhören, um es vor Gericht
nicht zu einer Eskalation oder Retraumatisierung kommen zu lassen.
({3})
Es gibt Entschließungsanträge von den Grünen und
auch von der FDP. Sie befassen sich mit der Umsetzung.
Das ist natürlich Ländersache. Die Jugendhilfe muss
personell und sachlich besser ausgestattet sein.
({4})
Das betrifft aber genauso auch die Familiengerichte. Wir
brauchen mehr Familienrichter. Sie müssen aufgrund der
speziellen und wichtigen Materie natürlich auch entsprechend aus- und fortgebildet werden. All das kostet Geld.
Wir müssen in den Ländern dafür werben, dass das benötigte Geld in das System kommt. Wir haben das Gesetz aber im Vorfeld mit den Ländern, wie ich denke, eng
abgestimmt. Der Bund macht die Gesetze ja nicht allein.
Das Familienministerium hat im Bewusstsein der Verantwortung des Bundes im letzten Jahr das Bundesprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale
Frühwarnsysteme“ aufgelegt. Es wurde eine zentrale
Stelle eingerichtet. Hier gibt es länderübergreifende Kooperationen mit dem Bund. Es wurden Plattformen gebildet und Anregungen zum Aufbau von Frühwarnsystemen und umfangreiche Informationen gegeben. Ich
denke, das ist der richtige Weg.
Wir gehen damit mit gutem Beispiel voran. So kann
das Gesetz auch wirksam umgesetzt werden und in der
Praxis greifen. Das allein reicht aber nicht. Wir müssen
auch bei uns selbst anfangen. Jeder Einzelne von uns
muss sensibilisiert werden und den Kindern den angemessenen Raum im täglichen Leben vor Ort in der Gesellschaft geben. Hier zitiere ich die Kanzlerin, die
jüngst gesagt hat: Wir brauchen wieder eine „Kultur des
Hinsehens“. Wir müssen schauen, was in der Nachbarschaft und in der Gemeinde geschieht. Wenn wir sehen,
dass Missstände da sind, müssen wir versuchen, zu helfen, nicht in Form von Anzeigen - das wäre ein schlechter Weg -, sondern in Form von konstruktiven Maßnahmen, die dazu beitragen, dass wir auf einen besseren
Weg kommen; denn die Kinder sind unsere Zukunft.
({5})
Ich bedanke mich an dieser Stelle abschließend für
die sehr konstruktive Beratung. Ich würde mir wünschen, dass wir das Gesetz jetzt genauso einvernehmlich
verabschieden, sodass es relativ zügig in Kraft treten
kann.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf stärkt die Rechte von Kindern in prozessrechtlicher Sicht, beschleunigt das Verfahren und gewährleistet die Beteiligung von Kindern. Insoweit ist der
Gesetzentwurf überwiegend gut. Es bedarf aber - das ist
ja hier schon mehrfach gesagt worden - weiterer flankierender Maßnahmen, um den Schutz der Kinder zu verbessern.
Insbesondere die Quantität und Qualität der Einrichtungen der Jugendhilfe müssen verbessert werden. Es
nützt wenig, die rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen
der Jugendhilfe zu erweitern und auszubauen, wenn die
tatsächlichen Möglichkeiten aufgrund der Gegebenheiten nicht auszuschöpfen sind.
({0})
Das grundsätzliche Problem bleibt dabei die Überbelastung der Familienrichterinnen und -richter und der Jugendämter. Damit dem gesetzlich beabsichtigten Handlungsprogramm ernsthafte Risiken für die Umsetzung in
der Praxis nicht entgegenstehen, müssen vor allen Dingen die Familiengerichte und Jugendämter personell so
ausgestattet werden, dass sie den zum Schutz des Kindes
erforderlichen Mehraufwand leisten und die übrigen
Verfahren, zum Beispiel zu Scheidung, Unterhalt usw.,
in angemessener Zeit erledigen können. Hier muss eine
Aufforderung vom Bund an die Länder gehen. Insoweit
sind die Entschließungsanträge der Grünen und der FDP
zu unterstützen, welche unseren Forderungen entsprechen, insbesondere auch hinsichtlich eines möglichen
Entschleunigungsgrundsatzes; denn es ist ja manchmal
doch zweifelhaft, ob in jedem Fall im ersten Termin
auch schon Entscheidungen getroffen werden können,
wenn möglicherweise noch Sachaufklärung geboten ist.
Es bringt ja nichts, einen ersten Termin zu machen, um
da nur den zweiten festzulegen.
Zu den vorgesehenen Änderungen des § 1666 BGB
- dazu haben wir alle, wie ich denke, nahezu identische
Post bekommen - lässt sich Folgendes feststellen: Es hat
sich an der Konstellation - staatliches Wächteramt und
Elternrecht - nichts geändert. Es bleibt im Sinne des
Kindeswohls eine wechselseitige Verantwortung der Eltern, des näheren sozialen Umfelds als auch des Staates.
Da hat sich nichts geändert. Der Verzicht auf die bisherigen Tatbestandsvoraussetzungen, das heißt, dass die Gefährdung des Wohls des Kindes durch Erziehungsversagen der Eltern - durch missbräuchliche Ausübung der
elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes
usw. - oder durch das Verhalten eines Dritten verursacht
ist, ändert nichts an den Voraussetzungen, die notwendig
sind, um in den geschützten Bereich der Familie einzugreifen.
Aus Sicht des Kindes ist es völlig unerheblich, wer
oder was die Ursache der Gefährdung ist und ob ein elterliches Erziehungsversagen zugrunde liegt. Hauptsache ist, dass die Gefahr schnell und effektiv abgewendet
wird, wobei nach wie vor die Kindeswohlgefährdung
positiv festgestellt werden muss. Materiellrechtlich hat
sich da also nichts geändert.
({1})
Gut ist einerseits, dass das Gericht seine Entscheidung des Absehens von Maßnahmen nach §§ 1666 bis
1667 BGB überprüfen soll. So kann sichergestellt werden, dass bei Nichteinschreiten des Gerichts das Kind
und die Eltern nicht „unbeobachtet“ bleiben, sondern
eine Warnsituation entsteht. Andererseits dürften sich
bei der Umsetzung im Hinblick auf Arbeitsbelastung der
Familiengerichte und bei der Frage der Zuständigkeit der
Gerichte zum Beispiel bei Umzug der betroffenen Familien echte Probleme ergeben. Denn wer ist dann zuständig? Ist es ein neues Verfahren? Da wird es in der Praxis
erhebliche Probleme geben, aber die Rückmeldungen
bekommen wir sicherlich.
Zu den einzelnen getrennten Anhörungen möchte ich
jetzt nichts mehr sagen. Es ist positiv, dass es sich auf
alle Fälle auswirkt, damit Kinder geschützt werden können.
Fazit: Es ist ein Gesetzentwurf, welchem man zustimmen kann, der allerdings auch angesichts des klaren Zusammenhangs zwischen sozialen Ursachen und Kindesvernachlässigung bzw. Misshandlung kein Allheilmittel
ist, der die materiellen Rechtsgrundlagen nicht ändert
und dessen Wirksamkeit maßgeblich von der angemessenen sachlichen und personellen Ausstattung der Jugendämter und Gerichte abhängt. Das wird ja auch von
vielen Verbänden - beispielhaft sei die Deutsche Kinderhilfe genannt - gefordert.
Insoweit ist meine Fraktion auf die Reaktion aus der
Praxis gespannt, die wir mit Sicherheit bis zur Verabschiedung der FGG-Reform vorliegen haben, damit die
Probleme, die sich aus der Umsetzung in der Praxis ergeben, bei der großen Reform berücksichtigt und abgestellt werden können. Es wird sich zeigen, ob die Regierung Kindeswohl als Propagandamittel einsetzt oder ob
sie es diesmal wirklich ernst meint.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kinderschutz ist ein brisantes Thema. Wenn es um das
Wohl der Kinder und um das Verhältnis von Staat und
Familie geht, gerät man sehr schnell in emotionale Debatten, in emotionale Kreisläufe, die schwer zu durchbrechen sind. Das ist zwar verständlich, aber in der Sache nicht hilfreich. Deswegen möchte ich vorab
begrüßen, dass die parlamentarische Arbeit an dieser
Gesetzesinitiative sehr sachlich und konstruktiv vorangegangen ist. Dies hat der Sache genutzt und sie weitergebracht.
({0})
Wir Grünen halten die nun vorliegende Fassung insbesondere mit den schon angesprochenen Änderungen,
an denen wir mit beteiligt waren, für einen vernünftigen
Beitrag zum Kinderschutz. Das Grundanliegen einer zügigen und niedrigschwelligen Einschaltung der Familiengerichte ist sinnvoll. Auch eine engere Kooperation
mit der Jugendhilfe wurde vonseiten der Fachleute
längst angemahnt. Die Klarstellungen und Präzisierungen im Gesetz werden die Arbeit verbessern. Ein solcher
Gesetzentwurf sollte jedoch Teil eines umfassenden
Konzeptes sein. Jede Maßnahme in einem solchen Gesamtkonzept muss sorgfältig und nüchtern abgewogen
werden. Bei diesem einen Punkt ist es uns gelungen. Bei
vielen weiteren Punkten steht genau das noch aus.
Auch ich möchte noch etwas zu der Presseberichterstattung vom gestrigen Tage sagen, in der von einer
Entmachtung der Eltern und von einem übergriffigen
Staat die Rede ist. Bei allem, was Recht ist: Diese Behauptungen gehen eindeutig zu weit.
({1})
Das geben dieser Gesetzentwurf und die Debatten hier
nicht her. Dies wurde auch von keinem einzigen Sachverständigen in der Öffentlichkeit bemängelt. Das zeigt
nur, dass die Leute, die das geschrieben haben, relativ
wenig Sachkenntnis von dieser rechtlichen Materie haben. Ganz dramatisch finde ich es, wenn dies mit dem
Krippenausbau und der Stärkung der Kinderrechte im
Grundgesetz in Verbindung gebracht wird. Da hat jemand ordentlich etwas durcheinandergebracht. Das
zeigt, dass gerade bei diesen Themen keine sachliche
Debatte geführt, sondern eine ideologische Schlacht geschlagen werden soll.
({2})
Diese ideologische Schlacht geht auf Kosten der Kinder.
Genau das dürfen wir hier im Deutschen Bundestag
nicht zulassen.
({3})
Frau Granold, Sie haben auch über das gesprochen,
was die Kanzlerin gemeint hat. Das, was zur Kultur des
Hinsehens gesagt worden ist, kann man ja nur unterstreichen. Aber nicht immer ist gut gemeint auch gut gemacht. Am 19. Dezember 2007 fand hier ein Kindergipfel statt. Wenn ich Sie frage, welche Ergebnisse dieser
Kindergipfel gebracht hat, dann werden Sie alle staunend schauen; denn das weiß hier fast niemand. Dabei
wäre das eine Gelegenheit gewesen, verbindliche Maßnahmen über die Zusammenarbeit der Familiengerichte
mit den Jugendämtern, besonders aber über die Ausstattung der Jugendhilfe, über das, was wir alle gemeinsam
als Grundlage für die Umsetzung dieses Gesetzes für
notwendig halten, zu vereinbaren. Diese Chance wurde
dort vertan. Es wurde wenig Konkretes beschlossen. Das
ist sehr bedauerlich; denn wenn man Chancen schafft,
sollte man sie nutzen. Daraus kann man eigentlich nur
schließen: Schlecht gemacht, da Chance nicht genutzt.
Hier helfen Ihnen auch schöne Sonntagsreden nichts.
({4})
Wir können dem Gesetzentwurf unter den genannten
Voraussetzungen und mit den Änderungen zustimmen.
Ein Wermutstropfen ist, dass gerade die zentrale Herausforderung an dieser Stelle nicht angegangen worden
ist, nämlich Ausbau bzw. Stärkung der Familiengerichte
und der Jugendhilfe. Entgegen häufiger Meinung sage
ich an dieser Stelle: Man muss immer wieder feststellen,
dass die Jugendhilfeeinrichtungen unter den schwierigen
Bedingungen, unter denen sie in Deutschland arbeiten,
versuchen, das Beste daraus zu machen. Deshalb möchte
ich mich nicht der pauschalen Kritik an den Jugendhilfeeinrichtungen anschließen. Was wir brauchen, wenn wir
es mit dem Kinderschutz ernst meinen, ist eine angemessene personelle und finanzielle Ausstattung in diesem
Bereich.
Deshalb haben wir heute einen Entschließungsantrag
eingebracht. Ich wünschte mir von den Koalitionsfraktionen, dass sie genau an diesem Punkt ein Zeichen setzen und unserem Antrag zustimmen.
Danke schön.
({5})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beschließen, ist kein Gesetz, das sich an die Mehrheit der
Bevölkerung richtet. Es ist ein Gesetz, das sich an ganz
wenige, ausgewählte - in dem Fall leider im negativen
Sinne - Personen richtet, nämlich an die Eltern, die sich
nicht in angemessener Weise um ihre Kinder kümmern.
Deswegen will ich hier, insbesondere vor dem Hintergrund der Kampagne, die in den letzten Tagen von einigen gefahren wurde, noch einmal in aller Deutlichkeit
sagen: Die absolut überwiegende Mehrheit der Eltern
kümmert sich fürsorglich, liebevoll und verantwortungsvoll um ihre Kinder, und für diese Eltern ist das Gesetz
auch nicht gemacht.
({0})
Aber es gibt eben leider auch die anderen Eltern. Die
Namen der betroffenen Kinder sind zum Teil schon genannt worden. Viele sind leider namenlos, weil sie irgendwo verscharrt werden und, wenn sie gefunden werden, erst zugeordnet werden müssen. Es gibt eben viele
Eltern, die sich nicht angemessen um ihre Kinder kümmern. Die schlimmsten Fälle sind die, in denen die Kinder dadurch zu Tode kommen. Aber es gibt eben auch
Kinder, die misshandelt und körperlich oder seelisch
vernachlässigt werden. In diesen Fällen muss der Staat
- Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz sieht vor, dass der Staat
über das Wohl der Kinder zu wachen hat - eingreifen.
Aus diesem Grund freut es mich, dass es uns gerade bei
einem so sensiblen Thema gelungen ist, alle Fraktionen
mit ins Boot zu bekommen und ein Gesetz zu schaffen,
das die Interessen der Kinder in den Vordergrund stellt.
Wenn ich lese, was viele Zeitungen schreiben oder
auch Initiativen, die uns zum Teil anschreiben, frage ich
mich, was daran verwerflich sein soll, wenn, nachdem
ein Kind grün und blau geschlagen in den Kindergarten
gekommen ist, in der Folge Eltern zu einem Erörterungsgespräch, einem Erziehungsgespräch beim Familiengericht eingeladen werden, bei dem ihnen zum Beispiel
vermittelt werden kann, dass es so etwas wie einen Antiaggressionskurs gibt. Was ist daran eine unzulässige Einmischung des Staates in Erziehung?
({1})
Wenn im Falle eines Kindes, das über Wochen und
Monate hinweg nicht die Schule besucht und bei dem zu
befürchten steht, dass es den Anschluss verliert, verantwortungsbewusste Lehrer das melden, weil die Eltern
weder auf Briefe noch auf Anrufe der Schule reagieren,
und dann ein Gespräch stattfindet, in dem den Eltern
klargemacht wird, dass Schulpflicht besteht und sie ihr
Kind in die Schule schicken müssen und dass ihr Kind
auch ein Recht auf Bildung hat, was ist daran falsch?
Was soll daran falsch sein, wenn der Staat so eine Möglichkeit aufzeigt? Was ist daran Einmischung?
({2})
Ich könnte die Liste der Möglichkeiten, die ein solches Gespräch als Konsequenz hat, noch weiter verlängern. Denn es muss nicht immer die elterliche Sorge entzogen werden, was jetzt als die einzige Keule dargestellt
wird; vielmehr gibt es auch heute schon einen ganzen
Katalog von Maßnahmen, die ergriffen werden können,
was aber leider bisher noch nicht so der Fall ist. Aus dem
Grund sollen die Hürden gesenkt werden; dann können
Familiengerichte, auch aufgrund ihrer Kompetenz und
ihrer Autorität, früher auf Eltern einwirken. Es soll nämlich nicht abgewartet werden, bis das Kind so vernachlässigt oder misshandelt ist, dass nur noch die elterliche
Sorge entzogen werden kann, sondern es gilt, Eltern, die
vielleicht überfordert sind, frühzeitig Hilfemöglichkeiten aufzuzeigen, damit Kinder in ihren Familien, in ihrer
gewohnten Umgebung bei ihren Eltern bleiben können.
({3})
Das ist Sinn und Zweck dieses Gesetzes. Deswegen
kann ich nur sagen: Ich finde die Kampagne, die momentan von einigen Zeitungen gefahren wird, nicht nur
irreführend, sondern auch verantwortungslos. Uns allen
geht es nicht darum, Eltern zu entmachten oder uns einzumischen; vielmehr geht es uns darum, den Kindern,
deren Eltern sich momentan noch nicht so sehr um ihr
Wohl kümmern, zu helfen, damit sie alle Chancen bekommen, die sie verdienen. Deswegen wird diese Kampagne keinen Erfolg haben; sie hat auch keinen Rückhalt
in der Bevölkerung. Denn klar ist: Der Staat muss sich
um Kinder kümmern, wenn die eigenen Eltern der Verpflichtung nicht nachkommen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls. Der Rechtsausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8914,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/6815 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8930? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8931? Gegenstimmen? - Der Entschließungsantrag ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis ebenfalls abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({0}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gesundheitsfonds stoppen - Beitragsautonomie der Krankenkassen bewahren
- Drucksache 16/7737 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsfonds stoppen - Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einführen
- Drucksache 16/8882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP-Fraktion sechs Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Daniel Bahr von der FDP-Fraktion
das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut ein Jahr her, dass das GKVWSG vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde.
Was haben wir damals im Deutschen Bundestag nicht alles für Lobeshymnen auf diese Gesundheitsreform gehört! Der Gesundheitsfonds sollte das Herzstück dieser
Reform werden, die Transparenz verbessern sowie die
Effizienz und den Wettbewerb im Gesundheitswesen
stärken.
In Vorbereitung dieser Rede fiel es mir wirklich
schwer, solche Zitate heute noch von Koalitionsabgeordneten oder von Spitzen der Koalition zu finden. Es gibt
niemanden mehr, der den Gesundheitsfonds und die Gesundheitsreform insgesamt mit Nachdruck verteidigt.
Man findet nur die schlichte Aussage: Der Gesundheitsfonds kommt. - Warum er aber kommen soll, kann die
Koalition in diesen Tagen nicht mehr begründen.
({0})
Mittlerweile ist auch Ernüchterung eingetreten. Nach
Umfragen will die Bevölkerung den Fonds nicht. Alle
Krankenkassen sowie Ärzte und Krankenhäuser wollen
den Fonds nicht. Die Wissenschaftler halten ihn für eine
Missgeburt. Sie von der Koalition, Frau Widmann-Mauz
und Frau Reimann, werden wahrscheinlich gleich sagen,
das sei alles Oppositionsgetöse; alles nehme seinen normalen Lauf und es werde alles so kommen, wie es im
Gesetz steht.
Aber was sagen denn die eigenen Koalitionsspitzen?
Herr Ramsauer, der diese Reform im Spitzengespräch
mitverhandelt hat, sagt in einer AP-Meldung vom
9. April, dass im Hause Schmidt „bei manchem immer
noch der Geist des Klassenkampfes, der Staatsmedizin
und des Gesundheitssozialismus“ herrscht.
({1})
Herr Huber, CSU-Vorsitzender, wirft Frau Schmidt
vor, die Umsetzung des Fonds sei eindeutig im Verzug
und die Ministerin habe die Dinge nicht im Griff.
({2})
Herr Beckstein sagt, man frage sich, was die Frau Ministerin Schmidt in den letzten eineinhalb Jahren eigentlich
getan habe. Frau Haderthauer macht den Vorwurf, bei
der Gesundheitsreform gebe es nur Pannen und Pleiten.
Frau Schmidt wiederum wirft Bayern vor, die von Bayern durchgesetzten Formulierungen des Gesundheitsreformgesetzes seien Unsinn und könnten nicht funktionieren.
Aber auch innerhalb der Koalition gibt es anscheinend keinen mehr, der den Fonds will; außerhalb der
Koalition will ihn ja sowieso keiner. Keine Partei in diesem Bundestag kämpft dafür, dass der Fonds kommt.
Wenn ich die Äußerungen der Koalition richtig sehe,
wird der Schwarze Peter gegenseitig zugeschoben. Die
CDU/CSU meint, verantwortlich für den Fonds sei die
SPD. Die SPD sagt, verantwortlich für den Fonds sei die
Union.
({3})
Da sagt Frau Ferner von der SPD: Wir waren nicht diejenigen, die in den Verhandlungen darauf bestanden haben, dass der Fonds kommt. Das war die Kanzlerin, das
war auch Herr Stoiber. - Herr Beckstein von der CSU
sagt allerdings: Der Gesundheitsfonds war nie ein Lieblingskind der CSU. - Herr Lauterbach von der SPD sagt,
die Einführung des Fonds sei nie ein Projekt der SPD gewesen.
({4})
Wer will denn bei Ihnen in der Koalition überhaupt
noch den Fonds? Wenn keiner von Ihnen den Fonds will,
dann sollten Sie die Konsequenz daraus ziehen und sagen: Wir stampfen dieses unsinnige, verkorkste Projekt
einfach ein. Sie sollten vor die Wählerinnen und Wähler,
vor die Öffentlichkeit treten und sagen: Wir haben einen
Fehler gemacht. Der Gesundheitsfonds löst die Probleme nicht. Wir haben es erkannt und ersparen es der
Daniel Bahr ({5})
Bevölkerung bzw. all denen, die davon abraten, dass wir
diese verkorkste Gesundheitsreform wirklich umsetzen.
({6})
Sie werden gleich sagen: Alles läuft nach Plan. - Fakt
ist, dass das Bundesgesundheitsministerium andauernd
hineinregiert und manipuliert. Der Beirat aus Wissenschaftlern beim Bundesversicherungsamt ist aus Protest
zurückgetreten. Die Wissenschaftler beklagten die politische Einflussnahme des Ministeriums. Die Wünsche, die
das Ministerium in Bezug auf die Ausgestaltung der
80 Krankheitsbilder hatte, die die Grundlage für die Umverteilung im Fonds sind, konnten sie wissenschaftlich
nicht mittragen. Ein Gutachten der beiden renommierten
Gesundheitsökonomen Professor Wille und Professor
Wasem zur Umsetzung der Bayern- bzw. Länderklausel
wurde vom Ministerium brüsk zurückgewiesen, weil
man mit den Ergebnissen dieses Gutachtens anscheinend
nicht zufrieden war.
Wie geht eigentlich das Ministerium angesichts dieser
beiden Beispiele mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
von Gesundheitsökonomen oder anderen Wissenschaftlern um, die gute Ratschläge zur Umsetzung dieser
schlecht gemachten Reform geben? Wenn es Ihnen politisch nicht passt, weisen Sie sie einfach zurück. Das ist
ein Armutszeugnis. Ihnen scheint es wirklich nur noch
um die politische Durchsetzung und Umsetzung einer
verkorksten Reform zu gehen und nicht um eine brauchbare Lösung der Probleme, vor denen wir stehen.
({7})
In den Ländern gibt es keinen mehr, der den Fonds
wirklich unterstützt. Die Landesregierungen von Bayern
und Baden-Württemberg sind dagegen. In Bayern hat
sogar die SPD einen Antrag in den Landtag eingebracht,
in dem sie sagt, dass sie den Fonds nicht will. In BadenWürttemberg haben alle vier Fraktionen - CDU, FDP,
Grüne und SPD - eine gemeinsame Resolution beschlossen, die Einführung des Fonds zu verschieben.
({8})
Sachsen und Thüringen - sie dachten einmal, sie seien
Profiteure des Fonds - sagen mittlerweile: Der Fonds
darf so nicht kommen, weil er zu einer enormen Umverteilung und Belastung von Sachsen und Thüringen führt. NRW und Niedersachsen haben dieser Reform seinerzeit
im Bundesrat nicht zugestimmt. Auch der Bundesrat will
also diesen Fonds und diese Reform so nicht mehr.
Der Kompromiss sollte zwar eine Offenheit für beide
Richtungen zulassen; er sollte die Einführung einer Bürgerversicherung oder einer Gesundheitsprämie ermöglichen. Aber es hat sich doch mehr und mehr herausgestellt, dass das ein Trugschluss ist. Ein einheitlicher
Beitragssatz mit einheitlicher Vergütung in Kombination
mit einem Einheitsverband der Krankenkassen und einem Geldzuteilungssystem über den Fonds, all das ist
der Weg in eine staatlich gelenkte Einheitskasse: die
Bundesanstalt für Gesundheit.
Sie von der Union haben das anscheinend erst jetzt erkannt. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden noch Ihr blaues
Wunder erleben, wie konkret das alles vom Gesundheitsministerium ausgestaltet werden wird. Sie sollten jetzt
die Konsequenz daraus ziehen, anstatt hier Vorentscheidungen zu treffen, die es ganz schwer machen, eine Reform in einer anderen Koalition wieder in eine andere
Richtung zu bringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Jetzt haben wir von der FDP gerade gehört, warum der
Fonds nicht kommen darf. Ich will Ihnen einmal ein paar
Sätze vorlesen, die wir in diesen Monaten lesen durften:
Der Gesundheitsfonds muss kommen!
Der für 2009 vorgesehene Gesundheitsfonds ist bei
konsequenter Umsetzung ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zur Sicherung der Finanzierung
des Gesundheitswesens … Kommt der Gesundheitsfonds nicht, ist die flächendeckende, wohnortnahe ambulante medizinische Versorgung in der
bisherigen hohen Qualität nicht mehr deutschlandweit zu gewährleisten.
Dieser Gesundheitsfonds bietet die realistische
Chance, die chronische Unterfinanzierung im System zu beenden und eine Verteilung der Gelder unter Berücksichtigung der tatsächlichen Versorgungssituation vorzunehmen.
Nur wenn dieser zum 1. Januar 2009 wirksam wird,
ist auch der Solidargedanke der gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin aufrechtzuerhalten.
({0})
Hierzu gibt es derzeit keine umsetzbare sinnvolle
Alternative.
Ich habe zitiert aus der gemeinsamen Erklärung der kassenärztlichen Vereinigungen Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Daniel Bahr?
Gerne.
({0})
Bitte schön, Herr Bahr.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, stimmen Sie mir zu,
dass diese gemeinsame Erklärung von kassenärztlichen
Vereinigungen aus den neuen Bundesländern
({0})
- und anderer, westlicher Länder; d’accord - zu einem
Zeitpunkt verabschiedet wurde, als das Gutachten der
Professoren Wille und Wasem noch nicht bekannt war,
in dem die Auswirkungen auf die Verteilungswirkung
unter den Ländern deutlich wird? Stimmen Sie mir ferner zu, dass beispielsweise die Länder Sachsen und Thüringen, die dachten, Profiteure des Fonds zu sein, mittlerweile erkannt haben, dass ihnen enorm viel Geld
entzogen wird? Diese Länder haben ihre Meinung anscheinend geändert. In den letzten Tagen haben wir Äußerungen der in Sachsen und Thüringen zuständigen
Fachminister vernehmen können, die darauf schließen
lassen, dass sie erkannt haben, dass der Fonds für Sachsen und Thüringen eine deutliche Verschlechterung der
Versorgung mit sich bringt.
({1})
Lieber Kollege Bahr, die Erklärung stammt vom
29. Januar dieses Jahres.
({0})
Zu diesem Zeitpunkt war ein Gutachten von Vertretern
der Wissenschaft in der Welt, aus dem die Verteilungsund Belastungswirkung für Baden-Württemberg und andere Länder hervorgeht. Schon damals wurde eine Debatte darüber begonnen, und genau auf diese Debatte hin
ist diese Erklärung im Übrigen verfasst worden. Diese
Bundesländer erkennen an, dass - trotz der Konvergenzklausel - aufgrund des bundeseinheitlichen Beitragssatzes mehr Mittel in ihre Länder fließen, als an anderer
Stelle abfließen. Von daher hat sich an dieser Position
nichts geändert.
({1})
Da Sie grundsätzlich fragen, was der Fonds bewirken
soll, will ich die Chance nutzen, Sie an Folgendes zu erinnern:
({2})
Der bundeseinheitliche Beitragssatz mit der Möglichkeit
von Zuschlägen und Rückerstattungen bewirkt den vollen Finanzkraftausgleich zwischen den Bundesländern.
Damit führt er zu mehr Gerechtigkeit im System. Die
Beiträge fließen nämlich in unterversorgte, weil unterfinanzierte Regionen in Deutschland. Der Status quo ist
doch, dass hohe Arbeitslosigkeit und Strukturschwäche
in den Regionen automatisch zu schlechterer medizinischer Versorgung führen. Das ist doch heute Fakt.
Kranke und ihre Ärzte erhalten durch diesen Finanzkraftausgleich eine bessere medizinische Perspektive,
und das wollen wir in unserem Land doch erreichen.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Birgitt Bender?
({0})
Gerne.
Frau Kollegin Mauz, Sie sagten, dass die Erklärung
zugunsten des Gesundheitsfonds seitens der kassenärztlichen Vereinigungen dadurch motiviert sei, dass sie sich
eine bessere medizinische Versorgung durch mehr finanzielle Mittel, die in ihre Länder fließen, versprechen.
Glauben Sie, dass den politisch Verantwortlichen in diesen Ländern inzwischen klar ist, dass nur dann mehr
Mittel fließen, wenn die Beitragssätze erhöht werden? In
Sachsen beispielsweise, wo der Beitragssatz der AOK
zurzeit bei 12,9 Prozent liegt, werden sich die Beitragszahler, Arbeitgeber und Versicherte, nach Einführung des
Gesundheitsfonds mit einem Beitragssatz von 15,5 Prozent konfrontiert sehen. Glauben Sie, dass die Begeisterung anhalten wird?
({0})
Liebe Kollegin Bender, auch diesen Ländern ist die
Wirkungsweise des neuen Systems bekannt. Sie wissen,
dass nicht nur ein einheitlicher prozentualer Beitragssatz
vorgesehen ist. Sie wissen durchaus, dass die Möglichkeit von Zu- und Abschlägen im Sinne von Zusatzbeiträgen und Rückzahlungen besteht. Insbesondere Kassen,
die heute einen unterdurchschnittlichen Beitragssatz aufweisen, werden diese Möglichkeit nutzen. Genau das befürchten andere Kassen. Der Wettbewerb wird dank der
erhöhten Transparenz hinsichtlich der Kosten und Leistungen nachhaltig gestärkt. Genau das ist ein Aspekt, der
mit diesem Fonds erreicht werden soll und auch erreicht
werden wird.
({0})
Es ist doch völlig klar: Zusatzbeiträge sind weniger
attraktiv und bei den Versicherten weniger leicht durchzusetzen; es ist einfacher, den prozentualen Beitragssatz
zu erhöhen. Es ist richtig, dass wir dieses neue System
einführen. Denn für die Versicherten bietet es mehr
Transparenz, größere Vergleichbarkeit und mehr Möglichkeiten.
Führen Sie sich einmal vor Augen, wie genau der
Kostendruck bei den Kassen zu Veränderungen führt: zu
Umstrukturierungen in den Verwaltungen, zu mehr VerAnnette Widmann-Mauz
tragsvielfalt und mehr Wahlmöglichkeiten für Leistungserbringer und Versicherte. Der Fonds bietet darüber hinaus die Möglichkeit zur temporären Festschreibung der
Lohnnebenkosten und damit auch des Arbeitgeberanteils. Das ist der Einstieg in die Möglichkeit zur teilweisen Entkoppelung der Gesundheits- von den Arbeitskosten. Die Vereinfachung des Beitragseinzugs wird im
Übrigen auch von der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände begrüßt, weil dies in den Unternehmen zur Entbürokratisierung beiträgt.
Ein weiterer Aspekt, der mit dem Fonds verbunden
ist, wurde bereits angesprochen: die Einführung des
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. Er
kann, was das Verhältnis von Krankenkassen und Versicherten betrifft, zu mehr Gerechtigkeit führen. Kassen,
die viele ältere, multimorbide Kranke versorgen, erhalten höhere Zuweisungen als Kassen, die viele Junge und
Gesunde, die keine hohen Kosten verursachen, versichern. Diese Möglichkeit bietet der Fonds. Die Chance
dazu haben wir.
Was die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben anbelangt: Eine Steuersäule im System eröffnet
Perspektiven für mehr Gerechtigkeit und eine zukunftsfähige Finanzierung.
({1})
Der Weg zu diesem neuen Finanzierungssystem ist lang
und, wie nicht anders zu erwarten war, schwierig.
Schließlich geht es in diesem System um 150 Milliarden
Euro. Da gibt es viele Interessen. Manche sind berechtigt, einige subjektiv verständlich, andere objektiv überzogen, und manches, was in dieser Diskussion vorgeschlagen wird, ist schlichtweg nicht seriös.
Nun möchte ich auf etwas zu sprechen kommen, womit die FDP vor einigen Wochen begonnen hat und was
sie heute wirklich in Perfektion betreibt, nämlich Ihre
Rechenakrobatik. Zunächst haben Sie windige Zahlen
angeführt und Beitragssatzprognosen ins Parlament getragen. Ich frage mich, wie man ohne entsprechende Datenbasis überhaupt solche Hochrechnungen durchführen
kann. Das, was Sie heute gemacht haben, hat aber alles
andere übertroffen. Heute mussten Sie sich so sehr verrenken, dass selbst die Bild-Zeitung Ihre akrobatischen
Vorführungen aufgegriffen hat. Sie haben die Dinge
nämlich wieder einmal falsch dargestellt, oder Sie sind
auf einem Auge blind.
Sie behaupten, in Zukunft würden 22 Millionen Versicherte höhere Beiträge zahlen müssen. Diese Zahl ist
zunächst einmal fragwürdig. Sie lässt sich allerdings
auch andersherum lesen. Denn diese 22 Millionen Versicherten werden genau diejenigen sein, die in Zukunft die
Chance haben werden, von ihrer Krankenkasse eine
Auszahlung zu erhalten. Diesen Effekt berücksichtigen
Sie nicht. Sie stellen sich auf einem Auge blind. So ist
keine seriöse Gesundheitspolitik zu machen.
Außerdem sagen Sie, dass es darüber hinaus noch zu
Beitragssatzsteigerungen kommen könnte. Sie müssen
jedoch zugeben: Beitragssatzsteigerungen aufgrund höherer Morbidität - die Menschen werden älter, und
Krankheiten entstehen -, aufgrund medizinischen Fortschritts und aufgrund neuer Leistungen und Kostensteigerungen sind mit und ohne Fonds möglich. Machen Sie
den Menschen nichts vor! Das hat mit dem Fonds nämlich überhaupt nichts zu tun.
({2})
Wichtige Etappenziele auf dem Weg zur Einführung
des Fonds haben wir noch vor uns, und der Risikostrukturausgleich, der sich noch in der Diskussion befindet,
bietet einige Chancen. Es hat doch niemand ernsthaft erwartet, dass alle Vorschläge - egal, welcher wissenschaftliche Beirat oder wer auch immer sie einbringt -,
welche Krankheiten in diesem System berücksichtigungsfähig sein sollen, auf allgemeine Zustimmung stoßen würden; das war völlig klar. Unterschiedliche Interessen bedingen unterschiedliche Reaktionen. Deshalb
kommt es sehr darauf an, dass wir zu einer klugen und
vor allen Dingen zu einer am Gesetz orientierten Lösung
kommen.
Ich gebe offen zu: Ich finde nicht, dass alle Standpunkte, die das Bundesversicherungsamt vertritt, und
alle Vorschläge, die es in der Anhörung gemacht hat,
richtig sind. Ich kann zum Beispiel nicht nachvollziehen,
warum eine Schwangerschaft eine ausgleichsfähige
Krankheit sein soll. Eine Schwangerschaft ist zwar
schwerwiegend - das stimmt -, und ein Kind kann, auf
das gesamte Leben hochgerechnet, durchaus kostenintensiv sein, aber eine Schwangerschaft ist keine
Krankheit und erst recht keine chronische Krankheit.
({3})
Beim Druckgeschwür, Dekubitus, kann man sicherlich
von einer Krankheit sprechen; aber diese Krankheit ist
durch gute Pflege vermeidbar. Ich will nicht, dass wir
schlechtes Pflegemanagement, offensichtliche Qualitätsmängel auch noch belohnen.
({4})
Die Entscheidungen darüber müssen bis zum 1. Juli
getroffen sein. In wenigen Tagen bekommt das Bundesversicherungsamt mit Josef Hecken, dem bisherigen
saarländischen Sozialminister, einen neuen Leiter. Er
wird - da bin ich mir ganz sicher, und da kann auch die
Opposition beruhigt sein - dieses Verfahren zielgerichtet
vorantreiben. Ich bin mir sicher, dass die Bearbeitung
stringent erfolgen wird.
Weitere Schritte liegen vor uns: Die Insolvenzfähigkeit der Kassen muss hergestellt werden. Auch das ist
eine Folge des Fonds. Es ist doch richtig, auch bei Rechnungslegung und Buchführung endlich Transparenz einzuführen und dafür zu sorgen, dass die Kassen für Verpflichtungen, die sie gegenüber den Beschäftigten
eingegangen sind, endlich entsprechende Rückstellungen tätigen müssen. Das hat viel mit solider Haushaltspolitik zu tun; die muss auch für die Krankenkassen gelten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Opposition
will, dass uns weiterhin Hinterhöfe als Beletage verkauft
und Zusagen ohne Deckung gemacht werden. Unterstüt16554
zen Sie uns deshalb dabei, zu mehr Ehrlichkeit und mehr
Transparenz in den Kassenfinanzen zu kommen.
({5})
Wichtig auf dem Weg zur Etablierung des Fonds ist
auch die Verwirklichung der Konvergenzphase; diese
Phase ist ein nötiger Bestandteil des Übergangs zum
Fonds. Jeder von uns weiß, dass es nicht zumutbar wäre,
wenn die Länder, die ein Hochpreissystem haben, von
heute auf morgen sozusagen ins kalte Wasser geworfen
würden. Hierüber wird diskutiert. Die erste Anhörung
hat stattgefunden. Die weiteren Beratungen finden dieser
Tage statt. Ich bin mir sicher, dass sich auch an dieser
Stelle Lösungen finden lassen, die allen gerecht werden,
sodass diejenigen, die heute unterversorgt sind - ich
habe eingangs davon gesprochen -, gute, ausreichende
medizinische Versorgung erhalten, und diejenigen, die
aufgrund hoher Wirtschaftskraft und hohen Lebensstandards andere Versorgungsstrukturen gewohnt sind, diese
auch in Zukunft vorfinden.
Frau Kollegin, denken Sie an die Zeit!
Ich komme zum Schluss. - Wir achten genau darauf,
dass die Regelungen, die im Gesetz vereinbart werden,
so umgesetzt werden, dass das, was gewollt ist, auch gemacht wird - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das
gefällt nicht jedem; das können Sie sich denken. Aber es
hat sich noch immer ausgezahlt, sehr sorgfältig und
gründlich vorzugehen. Das gilt auch für den Weg zum
Fonds, der zum 1. Januar nächsten Jahres kommen soll.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Daniel Bahr das Wort.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben die Beitragssatzentwicklung angesprochen und unterstellt, wir
würden nicht seriös argumentieren. Deswegen möchte
ich zuerst darauf hinweisen, dass zu Beginn der Legislaturperiode der durchschnittliche Beitragssatz bei
14,2 Prozent lag. Laut Koalitionsvereinbarung war es Ihr
Ziel, dass dieser Beitragssatz stabil bleibt oder sogar
sinkt. Er ist mittlerweile auf 14,9 Prozent gestiegen.
Von den 50 Millionen Mitgliedern der gesetzlichen
Krankenkassen, die Beiträge zahlen, sind 22 Millionen
bei einer Kasse versichert, deren Beitragssatz unterhalb
des durchschnittlichen Beitragssatzes von 14,9 Prozent
liegt. Wenn Sie jetzt mit dem Gesundheitsfonds einen
Einheitsbeitragssatz einführen, werden also zumindest
diese 22 Millionen Versicherten eine deutliche Beitragssatzsteigerung erleben. Angesichts des Zuteilungssystems ist noch nicht klar und wird auch nächstes Jahr
große Unsicherheit darüber bestehen, wie viel Geld welche Krankenkasse aus dem Fonds bekommt. Deswegen
ist es unsicher, ob die Krankenkassen überhaupt eine
Rückzahlung vornehmen werden - auch im Hinblick
darauf, welche Versicherten sie damit anziehen. Weitere
22 Millionen sind bei einer Krankenkasse versichert, deren Beitragssatz heute zwischen 14,9 Prozent und
15,4 Prozent liegt. Zusammen sind das 44 Millionen
Versicherte. Auf diese habe ich mich bezogen.
Bisher gibt es lediglich Schätzungen, wie sich der
Beitragssatz entwickeln wird. Doch alle Schätzungen
gehen davon aus, dass der Beitragssatz, den Sie für
nächstes Jahr festlegen müssen, zwischen 15,0 Prozent
und 15,5 Prozent liegen muss. Dies schätzen die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das Institut für Gesundheitsökonomie, die Barmer Ersatzkasse, die Kaufmännische Krankenkasse, der Verband der AngestelltenKrankenkassen, die Techniker Krankenkasse. Viele haben sich damit auseinandergesetzt. Sogar Herr Kollege
Lauterbach hat gerechnet und gesagt, dass wir einen Beitragssatz von 15,5 Prozent haben werden. Darauf habe
ich mich bezogen.
Sie werden in diesem Herbst einen Beitragssatz beschließen müssen, der deutlich oberhalb von
14,9 Prozent liegen wird. Das wissen Sie in der Koalition auch, weil im Gesundheitsministerium schon überlegt wird, wie man diesen Beitragssatzanstieg verhindern kann. Die Ministerin hat doch den Vorschlag
gemacht, dass erstens der Beitrag für die Bezieher von
Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln erhöht werden
soll, damit mehr Geld in die Krankenkassen fließt, und
dass zweitens ein Arzneimittelsparpaket geschnürt werden soll, um Einsparungen vorzunehmen, damit dieser
Beitragssatzanstieg verhindert wird. Das heißt, Sie wissen schon jetzt, dass der Beitragssatz deutlich steigen
wird. Der Fonds wird also insgesamt für die Masse der
Versicherten in Deutschland zu einer deutlichen Beitragssteigerung führen.
({0})
Wenn Sie Zweifel haben: Das waren genau zwei Minuten und 27 Sekunden.
({0})
Jetzt hat die Frau Kollegin Widmann-Mauz die
Chance, drei Minuten lang zu erwidern.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Lieber Kollege
Bahr, Sie müssen sich irgendwann einmal entscheiden.
Sie können nicht auf der einen Seite sagen, dass wir höhere Honorare brauchen, dass die Situation in den Krankenhäusern verbessert werden muss und dass mehr Geld
zurückgezahlt werden muss, und auf der anderen Seite
klarmachen, dass die Beiträge nicht steigen dürfen. Sie
können nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.
Wenn die Honorierung der ambulant tätigen Ärzte
verbessert werden soll - dies wollen wir beide -, dann
wird dies auch zu Beitragssatzsteigerungen führen, ob es
einen Fonds gibt oder nicht.
({0})
Wir können auch Beitragssatzprognosen innerhalb des
heutigen Systems abgeben - ohne Fonds. Es werden
dann genau die gleichen Zahlen herauskommen, wenn
Sie den Durchschnittsbeitrag festlegen. So haben Sie im
Übrigen auch Ihre Berechnungen durchgeführt.
Jetzt komme ich zu den Zahlen. Sie sagen, für
22 Millionen Mitglieder gilt heute ein unterdurchschnittlicher Beitragssatz, während sie nach Einführung des
Gesundheitsfonds einen höheren Beitragssatz, nämlich
den durchschnittlichen bezahlen würden. Es ist völlig
klar, dass die Versicherten, die heute einen unterdurchschnittlichen Beitragssatz zahlen, dann die Chance auf
eine Beitragsrückgewähr haben.
({1})
Sie sagen, das könnten wir noch nicht genau sagen,
weil noch keine Zahlen über die Höhe der Zuweisungen
vorliegen. Wie können Sie dann aber überhaupt sagen,
wie viele Millionen Versicherte mehr oder weniger bezahlen werden? Sie kennen doch auch keine Zahlen.
Das Gleiche gilt übrigens hinsichtlich der Frage, welche Kassen die Chance und das Potenzial haben, Beiträge zurückzuzahlen.
({2})
Diese Chance ergibt sich ja nicht nur durch die Höhe des
Beitragssatzes. Sie können auch bessere Leistungen anbieten. Sie können zum Beispiel Verträge mit Ärzten abschließen und höhere Honorare für bessere Qualität vereinbaren. Wollen wir dies den Menschen vorenthalten?
Die Menschen müssen anhand des Preises, anhand der
Zusatzpauschale oder auch anhand der Rückgewähr, entscheiden können, welche Leistung sie für welches Geld
bekommen wollen. Das ist wahre Wahlfreiheit, und das
stärkt den Wettbewerb um die bessere Leistung, um die
bessere Qualität. Deshalb ist dieses System richtig. Wir
sollten alles tun, damit es funktionieren kann, und nicht
den Besitzstandswahrern ständig hinterherlaufen.
({3})
Jetzt hat der Kollege Frank Spieth von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
({0})
- Ich will es versuchen. - Hätten wir keinen Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung,
dann würden einige Krankenkassen einen Beitragssatz
von 7 Prozent und andere einen Beitragssatz von
24 Prozent erheben. Wenn zukünftig ein umfassender
morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich eingeführt wird - so hoffe ich es -, dann wird der dann geltende durchschnittliche Beitragssatz der gesetzlichen
Krankenversicherung selbstverständlich der Beitragssatz
sein, der zu erheben ist. Sonst funktioniert das nicht. Das
ist eine ganz schlichte ökonomische Tatsache.
Ob Sie in Saarbrücken, Lübeck, Regensburg, München, am Bodensee oder in Dresden - egal in welcher
Region in Deutschland - über die gesetzliche Krankenversicherung diskutieren: Die Bürgerinnen und Bürger
haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie bei
identischen Leistungen der Krankenkassen unterschiedlich hohe Beiträge zahlen müssen.
({1})
Mir erklärte in Lübeck kürzlich eine Frau, die bei Aldi
an der Kasse sitzt, dass sie wegen Arbeitslosigkeit vor
einiger Zeit von Sachsen nach Lübeck gezogen ist und
nicht verstehen kann, warum sie bei der AOK Sachsen
bisher einen Beitragssatz von 13,8 Prozent zahlen
musste, während es jetzt bei der AOK Schleswig-Holstein 16,2 Prozent sind. Ein Bauarbeiter aus Erfurt äußerte mir gegenüber kürzlich Ähnliches. Er ist wegen
des Arbeitsplatzes nach Hamburg gezogen. Auch er
kann nicht verstehen, warum er jetzt bei der IKK in
Hamburg 16,2 Prozent Beitrag zahlen muss, weil es vorher bei der IKK Thüringen nur 13,1 Prozent waren. Niemand kann begreifen, dass innerhalb der AOK und der
IKK derartige Beitragssatzunterschiede gelten. Erst
recht kann niemand begreifen, warum solche Unterschiede von Bundesland zu Bundesland bestehen, obwohl überall einheitliche Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung gestellt
werden.
Die FDP will mit ihrem Antrag diese Situation der
unterschiedlichen Beiträge zementieren
({2})
und damit einen der wenigen positiven Punkte der letzten Gesundheitsreform kaputtmachen,
({3})
nämlich von allen gesetzlich Krankenversicherten in
Deutschland den gleichen Beitragssatz zu erheben. Sie
will mit der Wiederherstellung der Beitragsautonomie
der Krankenkassen im Kern den Erhalt der unterschiedlichen hohen Beiträge nach Kassenart und Region. Unter
der Hand hofft sie, auf diesem Weg auch den neuen Basistarif in der privaten Krankenversicherung stoppen zu
können. Ein Schelm, der sich dabei etwas denkt.
({4})
Wir nehmen es der FDP nicht ab, dass ihre Absicht
die Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen ist.
({5})
Wir gehen davon aus, dass es ihr im Wesentlichen um
die Absicherung der Privilegien der privaten Krankenversicherung geht.
({6})
- Herr Bahr, Ihre Zwischenrufe sind sehr verräterisch. Das lehnt Die Linke ab.
Die Linke verfolgt ein anderes Ziel:
({7})
Wir wollen die solidarische und soziale Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung. Wir wollen, dass alle in Deutschland
lebenden Menschen von allen Einkunftsarten - also auch
von Kapital- und Vermögenseinkommen - den gleichen
prozentualen Beitrag zahlen.
({8})
Wir wollen auch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze,
({9})
damit auch oberhalb von 3 600 Euro Einkommen Beitragszahlungen erfolgen. Denn jetzt werden die Gutverdienenden - zum Beispiel Sie als Bundestagsabgeordneter mit einem Einkommen von 7 300 Euro - nur bis zur
Hälfte ihres Einkommens, nämlich den 3 600 Euro, zur
Beitragszahlung herangezogen.
({10})
Bei einem durchschnittlichen Beitrag von 15 Prozent
führt dies bei dem Abgeordneten zu einer prozentualen
Beitragsbelastung des Einkommens von 7,5 Prozent.
Das ist gegenüber den Beziehern kleiner und mittlerer
Einkommen nicht mehr zu rechtfertigen.
({11})
Wenn wir eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
auf dieser Grundlage beschließen, könnten wir rechnerisch einen Beitragssatz von 8,6 Prozent ermöglichen.
Wir wollen damit unsoziale Zuzahlungen und Eintrittsgebühren abschaffen und den medizinischen Fortschritt
für alle gewährleisten. Deshalb wollen wir die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung mit einem Beitragssatz
von 10 Prozent für alle einführen.
Wenn Sie darauf achten, wer alles aufschreit, dann
merken Sie genau, worum es im Kern geht. Es geht um
die Zweiklassenmedizin.
({12})
Herr Kollege Spieth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende. - Ein Punkt ist mir wichtig:
Wir brauchen einen krankheitsorientierten Risikostrukturausgleich; denn ohne diesen Ausgleich werden die
Krankenkassen nicht in der Lage sein, gleiche Leistungen in der Krankenversicherung deutschlandweit auf
Dauer zur Verfügung zu stellen. Sie müssen im Gegenteil erhebliche Zusatzbeiträge von den Versicherten verlangen. Das ist unsozial und in keiner Weise akzeptabel.
({0})
- Dass Sie die DDR nicht kapiert haben, machen Sie mit
Ihren Zwischenrufen sehr deutlich.
Ich darf eine Zwischenbemerkung machen, Herr Kollege Spieth. Wenn Sie von den Bundestagsabgeordneten
sprechen, dann sollten Sie „wir“ statt „Sie“ sagen. Sie
sind schließlich auch Bundestagsabgeordneter.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Carola Reimann von
der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon das
zweite Mal in ganz kurzer Zeit haben wir hier im Haus
Gelegenheit, über den Gesundheitsfonds zu diskutieren.
Das machen wir natürlich gerne. Allerdings muss ich
mich über so viel Aufmerksamkeit für ein rein technisches Instrument einer bereits beschlossenen Reform
wundern;
({0})
denn nicht mehr und nicht weniger ist der Gesundheitsfonds. Er ist ein technisches Element und Teil eines Gesamtpaketes „Gesundheitsreform“, die gut angelaufen
ist. Vermutlich ist Letzteres der Grund, warum jetzt so
gegen den Fonds geschossen wird. Die Gesundheitsreform als Ganze ist Ihnen als Zielscheibe abhanden gekommen, weil die Menschen merken, dass diese Reform
zu zahlreichen Verbesserungen geführt hat und dass keines der Weltuntergangsszenarien, die Sie skizziert haben, eingetreten ist. Dann bleibt nur der Fonds als Objekt
für wilde Spekulationen.
Dabei schreiben Sie dem Fonds immer wieder Wirkungen zu, die ursächlich überhaupt nicht mit ihm zusammenhängen. Wir hatten gerade eine heiße Debatte
über die Höhe des Beitragssatzes. Nur so viel dazu:
Maßgeblich für die Beitragssätze sind die Entwicklung
der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und
die Ausgabenentwicklung. Dies hängt wiederum von der
demografischen Entwicklung und vom medizinischen
Fortschritt ab. Ein Gesundheitsfonds ändert an diesen
äußeren Faktoren nichts. Deshalb ist es schlichtweg unDr. Carola Reimann
redlich, Entwicklungen, die ohnehin eingetreten wären,
dem Fonds zuzuschreiben. Dass ein Durchschnitt
berechnet wird, ohne den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich und seine Auswirkungen zu berücksichtigen, ist mit Verlaub nichts anderes als eine unterkomplexe Verschleierung der Tatsachen. Das hat Frau
Widmann-Mauz bereits ausgeführt.
Natürlich wird es einen einheitlichen Beitragssatz geben. Das hat aber nicht, wie immer behauptet wird, zur
Folge, dass alle Krankenkassen die Beitragssätze anheben werden und dass für alle Versicherten die Beitragssätze steigen werden. Versicherte, die heute in einer
Kasse mit einem hohen Beitragssatz versichert sind
- darüber haben wir gerade einiges gehört -, können von
einem darunterliegenden einheitlichen Beitragssatz
durchaus profitieren. Aber dieser Fall wird immer verschwiegen genauso wie die Möglichkeit, die Krankenkasse zu wechseln, wenn ein Zusatzbeitrag erhoben
wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
sprechen in Ihrem Antrag von einer „Einheitsversicherung unter Ausschaltung des Wettbewerbs“.
({1})
Das klingt natürlich mächtig bedrohlich, hat aber leider
nichts mit der Wahrheit zu tun. Den einzigen Wettbewerb, den wir mit dem 100-prozentigen Ausgleich der
Einnahmen und dem Risikostrukturausgleich eindämmen, ist derjenige um junge, gesunde und gut verdienende Versicherte.
({2})
Das ist auch gut so; denn dieser Wettbewerb ist schädlich und geht auf Kosten kranker, älterer und sozial
schwacher Versicherter. Diesen schädlichen Wettbewerb
wollen wir nicht.
({3})
Neben dem Thema Beitragssatz wurde auf die Konvergenzklausel verwiesen. Leider ist auch hier einiges an
Verwirrung gestiftet worden, dieses Mal nicht vonseiten
der FDP, sondern vonseiten der wahlkämpfenden Kolleginnen und Kollegen der CSU. Ich will die Gelegenheit
nutzen und zwei Punkte ganz deutlich machen. Erstens.
Das Gutachten von Wasem, Buchner und Wille beanstandet lediglich die Konvergenzklausel und nicht den
Fonds an sich. Fonds und Klausel sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wer wegen der Kritik an der Klausel
den Fonds infrage stellt, übersieht oder verschweigt vielleicht absichtlich, dass dieser problemlos auch ohne
Klausel funktioniert.
({4})
Zweitens. Die beanstandete Klausel wurde von Herrn
Stoiber persönlich durchgesetzt und in seiner Staatskanzlei formuliert. Wenn jetzt die CSU-Generalsekretärin meint, dafür das Bundesgesundheitsministerium verantwortlich machen zu müssen, dann kommt mir
unweigerlich das Sprichwort mit dem Glashaus und den
Steinen in den Sinn.
({5})
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich gut und gerne
auf diese bayerische Extraklausel - oder sollte ich sagen
„Extrawurst“? - verzichten könnte. Nicht, dass ich den
Bayern das nicht gönnen würde!
({6})
Doch wenn Versicherte in Sachsen, Thüringen und
Nordrhein-Westfalen dafür zahlen müssen, dass in Bayern beispielsweise die Ärzte höher vergütet werden als
anderswo, sehe ich ein Gerechtigkeitsproblem. Mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Die Unionskollegen
aus den betroffenen Ländern sehen das ähnlich. Unser
solidarisches Gesundheitssystem ist bundesweit angelegt. Da Ländergrenzen im Nachhinein einzuziehen, ist
unweigerlich mit Problemen behaftet. Ich hoffe, dass am
Ende auch bei der Konvergenzklausel eine vernünftige
und gerechte Lösung gefunden wird. Hierbei sind in erster Linie die betroffenen unionsregierten Länder gefragt.
Ich denke, gerade unter Parteifreunden sollte eine Einigung in dieser Frage möglich sein, damit wir diese sehr
fachspezifische, für die meisten sehr schwer zugängliche
Diskussion erfolgreich abschließen können.
Danke.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Reimann, Ihrer Verwunderung darüber, dass wir
hier über den Gesundheitsfonds diskutieren und die Forderung nach seiner Abschaffung erheben, kann ich abhelfen. Als wir im Gesetzgebungsverfahren über den
Gesundheitsfonds gestritten haben, erschien der Fonds
vor allem als eine überflüssige und unsinnige Konstruktion, die keines der Probleme im Gesundheitswesen löst,
weder das Finanzierungsproblem noch das Gerechtigkeitsproblem. Der überflüssige Fonds wurde von einer
zerrissenen Koalition beschlossen, die nicht in der Lage
war, mehr als eine Reformattrappe hinzubekommen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
inzwischen zeigt sich aber, dass der Gesundheitsfonds
darüber hinaus eine ganze Reihe von Folgewirkungen
hat, die nicht zu unterschätzen sind.
({1})
Je tiefer wir in das verkorkste Räderwerk schauen können, desto mehr Probleme werden deutlich.
({2})
Da ist zum einen die Konvergenzklausel: Hochmögende Sachverständige legen uns allen dar, dass sie nicht
funktioniert. Wenn sie funktionierte, führte sie zu einer
massiven Unterfinanzierung des Gesundheitswesens.
Wenn man sie vom gröbsten Unsinn befreite, müssten
die Versicherten in Sachsen und Thüringen trotzdem für
das höhere Versorgungsniveau in Bayern und BadenWürttemberg zahlen. Großartig! Da wird Freude aufkommen.
({3})
Es ist auch frühzeitig darauf hingewiesen worden,
dass der Zusatzbeitrag, über den sich Frau WidmannMauz so freut, die Versicherten einseitig belasten wird;
zunehmend wird auch deutlich, dass dadurch Kassen mit
besonders vielen einkommensschwachen und kinderreichen Mitgliedern in besonderer Weise benachteiligt werden.
({4})
Das führt nicht zu Wettbewerb, sondern zu Wettbewerbsverzerrung.
({5})
Beim Finanzausgleich haben Sie die Zahl der Krankheiten, die berücksichtigt werden sollen, unsinnigerweise auf 50 bis 80 begrenzt. Jetzt zeigt sich, dass dies
zu keinen überzeugenden Ergebnissen führt und dass Sie
in heftige Auseinandersetzungen darüber geraten. Wir
haben es gerade wieder von Kollegin Widmann-Mauz
vorgeführt bekommen: Sie sagen sich gegenseitig, wie
es sein soll und wie es nicht sein soll. Sie streiten darüber wie die Kesselflicker. Ich möchte gerne wissen,
wie Sie den Finanzausgleich zustande bekommen wollen.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie haben jetzt die Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen. Andernfalls wird Ihnen, wenn der Einheitsbeitrag festgesetzt werden soll,
ein heißer Herbst bevorstehen.
({7})
Die einen werden sagen, der Beitrag sei zu hoch; die anderen werden sagen, er sei zu niedrig. Die Beitragszahlenden werden ausrechnen können, wie viel mehr sie
zahlen müssen. Es ist schon ein paar Mal das Stichwort
Sachsen gefallen: Die Leute, die dort heute einen Beitrag
von 12,9 Prozent zahlen, werden in Zukunft mehr zahlen
müssen, wenn der Beitrag bei 15,5 Prozent liegt.
Frau Widmann-Mauz, Sie haben eben gesagt, die kassenärztlichen Vereinigungen freuten sich, dass mehr
Geld ins System komme. Als ich Ihnen vorhielt, das bedeute, dass man in dem entsprechenden Bundesland höhere Beiträge zahlen müsse, sagten Sie: Das macht
nichts; die Kassen können das Geld wieder ausschütten.
Was denn nun?
({8})
Wenn es dazu käme, dass der Beitragssatz beispielsweise
in Sachsen signifikant steigt und die Kassen anschließend das Geld an die Versicherten zurückzahlen, dann
müssten die Arbeitgeber immer noch einen höheren Beitrag leisten. Das heißt, es käme zu einer Belastung des
Faktors Arbeit auf der Arbeitgeberseite. Erörtern Sie
einmal mit den dortigen Verbänden, was das für die Arbeitsplätze in Sachsen bedeutet!
({9})
Ich würde diese Debatte an Ihrer Stelle schleunigst beenden.
Tatsächlich ist es doch so: Sie werden der vielen Probleme nicht Herr und nicht Frau. Es geht Ihnen wie dem
Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr
loswird. Ein alter Zaubermeister, der beistehen kann, ist
auch nicht in Sicht. Deswegen sollten Sie diesen Hokuspokus einfach beenden.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Peter Friedrich von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Herr Bahr, Sie haben vorhin auf eine ganze Reihe von illustren Leuten rekurriert, die angeblich Ihrer Meinung sind. Ich gebe
Ihnen offen zu: Ich habe einen Dissens mit der Landtagsfraktion von Baden-Württemberg. Aber wo ist denn bitte
schön die mutige Bundesratsinitiative der schwarz-gelben Landesregierung von Baden-Württemberg, die den
Fonds endgültig zu Fall bringt? Wenn Sie den Mund in
dieser Richtung aufmachen, dann müssen Sie doch genau an der Stelle ansetzen.
({0})
Es ist Scheinmut, der hier vorgetragen wird, aber kein
Handlungsmut.
({1})
Das ist genau die gleiche Form von Theaterdonner, die
wir auch in Bayern wegen der Konvergenzklausel erleben. Auch das ist ein Scheingefecht in den bayerischen
Erbfolgekriegen, aber das ist nicht wirklich förderlich
zur Lösung der Frage.
({2})
In Wahrheit agitieren Sie übrigens nicht etwa gegen
den Fonds, weil Sie etwas gegen den Fonds als solchen
hätten,
({3})
Ihr Punkt ist ein ganz anderer. Sie agitieren in Wahrheit
gegen den Risikostrukturausgleich. Das ist der wahre
Grund, der dahintersteckt.
({4})
Sie haben das Bild im Kopf, dass Gesundheit eine Ware
ist, deren Preis am Markt gebildet wird. Ihr Bild ist der
Wettbewerb, der regiert, aber nicht die Frage, wie es um
Solidarität bestellt ist und was wir machen können, um
die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu optimieren. Für Sie ist Risikoselektion ein Wettbewerbsinstrument. Genau das wollen und werden wir mit
diesem Fonds unterbinden. Deswegen brauchen wir ihn
auch.
({5})
Der zweite Punkt ist folgender: Wir erleben eine Diskussion darüber, wie weit die Solidarität im Gesundheitswesen eigentlich reicht. Die eigentliche Frage, die
dahintersteht, wenn wir uns einmal über die technische
Ebene der Finanzströme erheben, lautet: Wie ist denn die
Versorgungsrealität in Deutschland, und woher kommen
die Unterschiede? Ich sage Ihnen ganz offen: Ein solidarisches Gesundheitswesen kann nicht akzeptieren, dass
wir Landstriche haben, in denen man 50, 60 Kilometer
fahren muss, um den ersten Hausarzt zu erreichen, und
dass wir andere Regionen haben, wo sich die Ärzte gegenseitig auf den Marktplätzen, insbesondere in Süddeutschland, auf den Füßen herumstehen. Das kann nicht
unser Bild von einem solidarischen Gesundheitswesen
sein.
({6})
Aber eine besondere Größe, so finde ich, haben die
Grünen mit ihrem Antrag an den Tag gelegt. Sie schreiben, der Fonds löse keine Probleme. Als ob die Unterschiede in den Beitragssätzen kein Problem wären. Dazu
wurde schon einiges gesagt. Erst sagen Sie, Sie wollten
keinen Fonds und dieser müsse gestoppt werden, und
dann legen Sie uns einen Vorschlag für einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich grüner Bauart
auf den Tisch, der faktisch den gleichen 100-prozentigen
Einkommensausgleich durch die Hintertür wieder einführt. Sehr geehrte Frau Bender, Sie hätten das dann
vielleicht „grünes Töpfle“ genannt, aber es ist faktisch
exakt das Gleiche. Es ist ein 100-tprozentiger Einkommensausgleich, den wir im Sinne der Solidarität in
Deutschland brauchen. Sehen Sie, Sie wünschen, und
wir handeln.
({7})
Herr Kollege Friedrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bender?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Friedrich, da Sie gerade von Töpfen
sprechen: Sie haben neulich die Öffentlichkeit mit dem
Vorschlag beschäftigt, alle Zuzahlungen im Gesundheitswesen abzuschaffen. Erklären Sie uns doch einmal,
wie das mit dem Gesundheitsfonds geht und was es mit
der Weinsteuer auf sich hat, die Sie dafür einführen wollen.
Frau Bender, im Gegensatz zu Ihnen habe ich einen
komplett gegenfinanzierten Vorschlag auf den Tisch gelegt. Die Frage der Zuzahlung ist völlig unabhängig vom
Fonds, genauso wie die Beitragshöhe mit dem Fonds
nichts zu tun hat. Ich kann verstehen, dass man immer
das gleiche Abziehbildchen nimmt, weil man gerne mit
allen Wölfen im Gesundheitswesen heulen will; aber
faktisch haben diese Fragen nichts miteinander zu tun.
Ich bin gegen Zuzahlungen im Gesundheitssystem, weil
sie dann fällig werden, wenn die Menschen krank sind
und das System brauchen. Deswegen möchte ich, dass
wir von den Zuzahlungen wieder wegkommen; denn das
ist keine Finanzierungsgrundlage.
({0})
- Auch Herr Bahr war sehr wahllos in der Auswahl seiner Verbündeten. - Ich habe einen komplett gegenfinanzierten Vorschlag vorgelegt.
Der Fonds ist nicht das Problem. Sie nutzen den
Fonds, um all die Kritik, die vorhanden ist, auf einen
Punkt zu projizieren, der in Wahrheit nicht das Problem
ist. Die Frage ist, wie wir eine vernünftige Versorgungssteuerung in Deutschland hinbekommen. Die Frage ist,
wie wir Solidarität in diesem System organisieren können. Das erreichen wir mit dieser Reform. Insofern können Sie weiter mit den Wölfen im Gesundheitssystem
heulen. Das Gesetz ist auf dem Weg, und ich warte immer noch gespannt auf die Gesetzesinitiative der vielen
Landesregierungen im Bundesrat, die angeblich alle gegen den Fonds sind.
Danke.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7737 und 16/8882 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
11 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
- Drucksache 16/8867 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag
ausbauen
- Drucksachen 16/6430, 16/8915 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Ina Lenke
Ekin Deligöz
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und bekämpfen
- Drucksache 16/8883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des
Bundeskindergeldgesetzes ({3})
sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschrift
- Drucksache 16/4670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Hermann Kues für die Bundesregierung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kinderzuschlag ist nicht nur ein gezieltes Instrument zur
Bekämpfung der Kinderarmut; er hilft auch und gerade
jenen Eltern, deren Einkommen für sie selbst reicht, die
aber nicht genug verdienen, um auch ihre Kinder zu versorgen. Die Folge ist dann, dass diese Familien trotz Arbeit auf Hartz IV angewiesen sind. Der Kinderzuschlag
ist deshalb auch ein Signal an Mehrkinderfamilien, an
Alleinerziehende und an Familien im Niedriglohnbereich: Arbeiten lohnt sich; man kann es selbst schaffen.
Es hilft nicht, Kinderarmut allein zu beklagen; man
muss sich im Kampf gegen die Kinderarmut auch über
Instrumente unterhalten. Man darf nicht nur auf die Kinder schauen, sondern sollte auch die Eltern in den Blick
nehmen. Wenn man das tut, dann stellt man im Wesentlichen zwei Ursachen für Kinderarmut fest.
Erste Ursache: Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine Arbeit haben. Wir haben in dieser Legislatur
einiges auf den Weg gebracht, Stichwort „Elterngeld“
und „Ausbau der Kinderbetreuung“. Damit unterstützen
wir insbesondere Eltern und Alleinerziehende, die in ihren verschiedenen Lebenslagen und -phasen mit Kind einem besonderen Armutsrisiko ausgesetzt sind, und wir
schaffen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass
sie einem Beruf nachgehen.
Zweite Ursache - sie ist für mich besonders bedrückend -: Kinder leben auch deshalb in Armut, weil sie in
kinderreichen Familien aufwachsen, in denen die Eltern
Mühe haben, mit knappem Einkommen über die Runden
zu kommen. Hier setzt der Kinderzuschlag an. Er ist eine
der entscheidenden Leistungen, um Mehrkinderfamilien
zu erreichen.
Den Kinderzuschlag gab es schon bislang; aber das
Verfahren zu seiner Beantragung war sehr kompliziert:
Es musste eine Mindesteinkommensgrenze individuell
berechnet werden. Das Verfahren war dadurch wenig
transparent, auch und nicht zuletzt für die Antragsteller.
Wir setzen jetzt ganz klare Einkommensgrenzen:
600 Euro Mindesteinkommen für Alleinerziehende und
900 Euro für Paare. Die Eltern können so leicht
erkennen, ob sie für den Kinderzuschlag in Betracht
kommen oder nicht. Ein Paar, das 900 Euro zum Lebensunterhalt beiträgt, und eine Alleinerziehende oder ein
Alleinerziehender, der 600 Euro zum Lebensunterhalt
beiträgt - man bezieht nur wegen der Kinder Arbeitslosengeld II -, werden durch den Kinderzuschlag unabhängig vom Bezug von Arbeitslosengeld II.
Eine zweite Änderung betrifft die Abschmelzrate. Neben der Einkommensgrenze wird auch die AbschmelzParl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
rate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von 70 auf
50 Prozent gesenkt. Die Eltern können auf diese Art und
Weise mehr als bisher von dem selbst erwirtschafteten
Einkommen behalten. Dadurch schaffen wir durchgehend einen Erwerbsanreiz.
({0})
Das Beste: Im Zusammenspiel mit der Wohngeldreform erreichen wir mit dem neuentwickelten Kinderzuschlag eine Viertelmillion Kinder. Ab dem 1. Januar
2009 erhalten insgesamt 70 000 Familien mehr Unterstützung. Ich finde, das ist eine sehr positive Entwicklung.
({1})
- Das ist nicht nur ein familienpolitischer Fortschritt.
Wir erreichen damit gerade Familien im Niedriglohnbereich. Sie werden auf diese Art und Weise entlastet.
Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem Gesamtkonzept - angefangen bei der Einführung des Elterngeldes
und dem Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen, fortgeführt mit der jetzt vorgelegten, vom Kabinett beschlossenen Weiterentwicklung des Kinderzuschlags und mit einer im Winter anstehenden klugen
Staffelung des Kindergeldes - auf dem richtigen Weg
sind, die Kinderarmut in Deutschland so gering wie
möglich zu halten. Wir geben damit das klare Signal an
alle: Arbeiten für die eigene Familie, das lohnt sich.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
Herrn Dr. Kues recht: Grundsätzlich sind alle Maßnahmen zu begrüßen, die Eltern und ihre Kinder vor
Hartz IV bewahren. Unserer Meinung nach eignet sich
der Kinderzuschlag in der jetzt vorliegenden Form nicht
dazu. Mein ehemaliger Kollege Klaus Haupt hat für die
FDP in Bezug auf den Vorgänger des rot-grünen Gesetzes zum Kinderzuschlag 2005 erklärt - das ist schon drei
Jahre her -: Der Kinderzuschlag ist bürokratisch, seine
Effekte sind nicht zielgerichtet und verwirrend. Es ist
kaum nachzuvollziehen, wie ein derart schlampig konstruiertes Gesetz als Sozialleistung den Bundestag überhaupt verlassen konnte.
({0})
Vor drei Jahren haben Sie genauso protestiert wie heute.
Das Gesetz war schon damals mit vielen Fehlern, Unklarheiten und viel Bürokratie behaftet; Sie hätten es
sonst nicht in vielerlei Hinsicht verbessert. Wir haben
also damals recht gehabt.
Ich möchte auch etwas im Hinblick auf den antragstellenden Bürger sagen. Schauen Sie sich das einmal an.
({1})
Das ist die Mappe, die man als Bürger ausfüllen muss,
um an den Kinderzuschlag zu kommen. Das Antragsformular allein ist über 30 Seiten lang. Die Bürger wurden,
nachdem sie diese Anträge abgegeben haben, bitter enttäuscht. Die folgende Zahl müssen Sie sich leider anhören: 12 Prozent der Antragsteller und Antragstellerinnen
erhielten bisher den Kinderzuschlag. 88 Prozent der Antragsteller bekamen nichts. Das heißt, sie haben den Antrag ausgefüllt und bekamen eine Absage.
Als FDP-Politikerin kritisiere ich ganz besonders,
dass 18 Prozent der Gesamtausgaben für Bürokratie verwendet werden. Herr Dr. Kues, in Ihrem Gesetzentwurf
- ich habe ihn natürlich genau durchgelesen - steht: Es
steigen die Bürokratiekosten von 17 Millionen Euro auf
26 Millionen Euro. Sie erzählen uns also, dass alles einfacher wird und die Leute alles besser verstehen. Die
Bürokratiekosten steigen aber.
Bisher - das hat Herr Kues zugeben müssen - gab es
keine Anreize, aus dem Zuschusssystem auszusteigen.
Wenn Eltern mehr Geld verdienten, mussten sie für jeden zusätzlich verdienten Euro 70 Prozent abgeben. Wer
hat das gemacht? Wo sind da eigentlich die Arbeitsanreize? Wir sind uns alle einig. Deshalb haben Sie gesagt:
Der Staat soll nicht 70 Prozent, sondern 50 Prozent von
jedem zusätzlich verdienten Euro bekommen.
Die Aussage im Evaluierungsbericht des Gesetzes
zum Kinderzuschlag lautet - daran würde ich Sie gern
erinnern -:
In manchen Konstellationen führt zusätzliches Erwerbseinkommen sogar zu einem Rückgang des
verfügbaren Einkommens der Familie.
Sie haben also ein Gesetz gemacht, durch das die Familien noch weniger Geld haben als vorher; das hat Prognos gesagt und nicht die FDP.
Die FDP-Bundestagsfraktion bezweifelt, dass das
Konzept eine gute Balance von Unterstützung und Hilfe
zur Selbsthilfe beinhaltet.
Wir dürfen auch nicht vergessen, was Sie gemacht haben, als Sie die Regierung neu bildeten: Sie haben die
falschen politischen Entscheidungen für die Eltern getroffen. Die Familien haben seit Jahren weniger Geld in
der Tasche. Das ist auf Ihre Entscheidungen zurückzuführen: Sie haben die Mehrwertsteuer von 16 auf
19 Prozent erhöht. Sie haben die Haushaltskassen belastet. Jetzt plötzlich muss ein Kinderzuschlag kommen,
damit die Familien einigermaßen bei Kasse sind.
({2})
Pampers werden mit 19 Prozent besteuert, der Staat
bekommt also 19 Prozent des Preises. Eine Packung
Pampers kostet 12 Euro. Das Produkt ist teurer geworden: Die Hersteller haben zwar den Preis nicht erhöht,
aber eine Pampers-Windel weniger hineingetan. Dadurch ist der Preis indirekt erhöht worden.
Von den vollmundigen Ankündigungen von Ronald
Pofalla, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, dass er die Besteuerung von all den Dingen, die
mit Kindern zu tun haben - dazu gehören ja auch Pampers -, überprüfen und in der Koalition dafür sorgen
will, dass sie nicht mehr mit 19, sondern mit 7 Prozent
besteuert werden, habe ich nie wieder etwas gehört.
({3})
- Von Ihnen, Herr Singhammer, habe ich auch nichts gehört. Das heißt, Sie werden das in dieser Koalition nicht
zustande bekommen.
Zum Schluss, meine Damen und Herren, will ich
noch auf einen besonderen Punkt, der mich enorm ärgert, eingehen. Ich bitte Sie, diese Kritik auch anzunehmen, weil es hier rein um die Sache geht. Ich kritisiere,
dass die Bundesregierung soziale Leistungen ausweiten
will, ohne das Ergebnis der Prüfung der 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen abzuwarten. Seit November 2006 wird im Ministerium geprüft und geprüft und
geprüft. Die FDP will jetzt endlich wissen, welche der
historisch gewachsenen Leistungen für Ehe und Familie
- es handelt sich ja um insgesamt 185 Milliarden Euro
im Jahr - die Familien wirklich erreichen und ihnen helfen. Erst dann, wenn das Ergebnis vorliegt, sollte man
neue Leistungsgesetze erlassen. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund ist von dem von Ihnen eingeführten
Kinderzuschlag überhaupt nicht begeistert.
Ich komme zum Schluss: Der Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend wird ja eine Anhörung
durchführen. Ich meine, es wäre klug von der Bundesregierung, vor Verabschiedung des vorgelegten Gesetzes
erst das Ergebnis der Analyse der 145 ehe- und familienbezogenen Leistungen abzuwarten und dann gemeinsam
nach besseren Lösungen zu suchen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Spanier von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Kinderarmut ist Elternarmut. Es ist auch
richtig - das ist hier ebenfalls schon gesagt worden -:
Die beiden wichtigsten Ursachen für Armut der Eltern
sind Arbeitslosigkeit und die sich leider immer weiter
ausbreitenden Niedriglöhne. Dieser Punkt macht uns in
den letzten Jahren zunehmend Sorge. Bei den Eltern
muss man sicherlich auch noch eine Differenzierung
vornehmen: Besonders die Gruppe der Alleinerziehenden hat ein weit überdurchschnittliches Armutsrisiko.
({0})
Damit sind auch deren Kinder in besonderer Weise von
Armut betroffen. Es ist von Herrn Kues zu Recht gesagt
worden: Das Ziel des Kinderzuschlags ist es, genau an
dieser Stelle anzusetzen. Wir setzen damit genau an der
richtigen Stelle an, indem wir uns bemühen, die Erwerbseinkommen von Eltern mit Kindern so aufzustocken, dass sie nicht mehr auf Leistungen gemäß dem Sozialgesetzbuch angewiesen sind.
Den Kinderzuschlag gibt es nun in Deutschland schon
einige Jahre. Im Jahr 2007 haben ihn immerhin
36 000 Familien mit rund 100 000 Kindern erhalten. Er
hat dort genau das bewirkt, was ich eben gesagt habe:
Sie haben keine Hilfen mehr gemäß SGB II nötig. Der
verbesserte Kinderzuschlag wird 2009 - die Zahl ist ebenfalls schon genannt worden - immerhin 106 000 Familien, also fast drei Mal so viele, erreichen. Auf diese
Weise werden 250 000 Kinder keine Leistungen mehr
gemäß SGB II nötig haben.
({1})
Die Summen, die gezahlt worden sind, lassen sich
durchaus sehen. Im Jahr 2007 waren es pro Familie
durchschnittlich immerhin 253 Euro und pro Kind
durchschnittlich immerhin 91 Euro. Ich glaube, dass damit erwiesen ist, dass der Kinderzuschlag wirklich ein
wirksames Instrument ist.
({2})
Frau Lenke, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einige
Veränderungen am bisherigen Kinderzuschlag vornehmen. Ich glaube, das Parlament ist insgesamt gut beraten, nicht zu glauben, dass die Gesetze, mit denen bestimmte Ziele und bestimmte Wirkungen verfolgt
werden sollen, auf ewig und drei Tage gültig sind. Wir
müssen vielmehr immer überprüfen, ob die Ziele, die wir
angestrebt haben, auch tatsächlich erreicht worden sind.
Wir nennen das Evaluation. Das ist mittlerweile auch
eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Wenn dann festgestellt wird, dass Dinge nicht so laufen,
wie wir uns das vorgestellt haben, dann ist es unsere
selbstverständliche Pflicht, Korrekturen vorzunehmen.
Das als Fehler oder sonst etwas zu bezeichnen, bringt
uns nicht weiter, es sei denn, man ist im Zustand der Allwissenheit, aber das nehmen Sie sicherlich von sich auch
nicht an.
Die entscheidende Hürde war das Mindesteinkommen. 53 Prozent der abschlägig beschiedenen Anträge
sind damit begründet worden. Also haben wir genau da
die Korrektur vorgenommen und das Mindesteinkommen herabgesenkt. Das wird dazu führen, dass deutlich
mehr Familien in den Genuss des Kinderzuschlages
kommen.
Eine Hürde ist allerdings nach wie vor da. Mit dem
Erwerbseinkommen, dem Kindergeld, dem Wohngeld
und dem Kinderzuschlag muss die Hürde der SGB-IILeistungen, die man sonst bekommen könnte, überWolfgang Spanier
schritten werden. Hier möchte ich auf eine Gruppe hinweisen, die ich schon einmal erwähnt habe, nämlich die
Alleinerziehenden. Ein „Vorteil“, den sie haben, dass sie
nämlich bei den SGB-II-Leistungen 125 Euro aufgrund
ihres Mehrbedarfes bekommen, erweist sich hier als eine
Hürde. Sie müssen zusammen mit den Leistungen, die
ich gerade genannt habe, nachweisen, dass sie diese
125 Euro überschreiten. Damit erweist sich diese Regelung als „Nachteil“. Wir sollten überprüfen, ob wir
hieran im Laufe der Beratungen noch etwas ändern können.
Genauso sollten wir prüfen - das will ich an dieser
Stelle anmerken -, ob der Gedanke der Wahlfreiheit, der
ja in den vorbereitenden Diskussionen und Gesprächen
eine Rolle gespielt hat, nicht doch noch zum Tragen
kommen könnte. Das würde natürlich - das sage ich
ganz offen - beträchtliche Mehrkosten bedeuten.
Herr Kollege Spanier, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ina Lenke?
Sehr gerne, Frau Lenke.
Herr Spanier, Sie haben gerade für die Alleinerziehenden die verschiedenen Hilfen genannt, nämlich das
Kindergeld, den Kinderzuschlag, das Wohngeld und den
zusätzlichen Zuschlag für Alleinerziehende. Das sind
vier Leistungen. Wäre es nicht besser, wenn man das
Ganze nach der Evaluierung der 145 Leistungen bündeln
und keine Einzelleistungen mehr zahlen würde? Selbst
wir kommen ja schon kaum mit all den Einzelleistungen
zurecht. Wie soll man das von einer Bürgerin erwarten?
Sie kann natürlich zu einem Amt gehen, wo es ihr dann
erläutert wird. Nichtsdestotrotz halte ich das für ein sehr
undurchsichtiges System. Vonseiten der Bürger wird in
Richtung Politik kritisiert, den Alleinerziehenden werde
nicht geholfen. Deshalb wäre es wirklich besser, solche
Dinge zu bündeln. Von daher habe ich für die FDP darum gebeten, erst einmal abzuwarten, wie im August die
Evaluierung der 145 Leistungen ausfällt. Können Sie
mir Ihre Meinung dazu sagen?
Mittlerweile stehe ich den ganz einfachen Bierdeckellösungen skeptisch gegenüber.
({0})
Aber Sie haben bei Folgendem recht, Frau Lenke: Dass
die 145 Familienleistungen - wie viele sind es denn genau? ({1})
auf den Prüfstand gestellt werden und deren Wirksamkeit nach einheitlichen Kriterien miteinander verglichen
wird, fordern auch wir ein. Hier schaue ich in Richtung
Regierungsbank.
({2})
Eng verschränkt sind Kindergeld und Wohngeld.
Deswegen bin ich persönlich, aber sind sicherlich wir
Sozialdemokraten alle froh, dass wir morgen in diesem
Haus eine deutliche Verbesserung des Wohngeldes beschließen werden, weil Kindergeld und Wohngeld eng
miteinander zusammenhängen.
Eines ist aber klar: Wir wollen die Wirkung des Kinderzuschlages nicht überschätzen. Wenn wir sozusagen
das Übel wirklich an der Wurzel packen wollen, wirklich
etwas gegen Niedrigeinkommen tun wollen - hier
schaue ich in Richtung CDU/CSU -, dann werden wir
um die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nicht
herumkommen. Wir sollten wenigstens bei den acht
Branchen, die sich tarifvertraglich geeinigt haben, die
Allgemeinverbindlichkeit gemeinsam durchsetzen. Damit würden wir 1,5 Millionen Beschäftigten einen vernünftigen Lohn verschaffen und somit viel mehr Familien als beim Kinderzuschlag aus dem SGB-II-Bezug
herausholen.
({3})
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Gefahr laufen,
Stückwerk zu machen. Geld ist wichtig, aber - das will
ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen - es ist nicht hinreichend. Ein ganz entscheidender Faktor ist Bildung,
wenn man an ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von
Kinderarmut geht.
Damit komme ich zum Vorschlag der Linken. Die
Linke schlägt eigentlich keine Veränderung des Kinderzuschlages vor, sondern im Grunde genommen eine Alternative. Frau Deligöz hat von diesem Pult aus schon
einmal sehr deutlich und sehr kritisch angemerkt, dass in
diesem Antrag offensichtlich etwas durcheinandergeht. Ich wollte Sie jetzt nicht wörtlich zitieren;
({4})
aber daran erinnern wollte ich doch.
Was die Linke hier vorschlägt, ist kein Kinderzuschlag, sondern eine Grundsicherung - so weit, so gut in Höhe von 420 Euro. Sie müssen dabei aber - das ist
ein Gebot der Redlichkeit - folgenden Zusammenhang
sehen: Wenn Sie die Grundsicherung so erhöhen und
praktisch das Sozialgeld für Kinder verdoppeln, heben
Sie das Existenzminimum an. Dann müssen Sie auch
den Steuerfreibetrag für Kinder - nicht eins zu eins, aber
in einer annähernd gleichen Größenordnung - erweitern.
Das müssen Sie, weil das ein ausdrückliches Gebot des
Bundesverfassungsgerichts ist, ob einem das passt oder
nicht.
Wenn Sie also für die armen Kinder etwas tun wollen,
müssen Sie gleichzeitig etwas für diejenigen Eltern tun,
die über 60 000 Euro im Jahr verdienen; sie profitieren
nämlich in besonderer Weise vom Freibetrag. Konsequenterweise müssen Sie dann auch an die Eltern denken, die unter 60 000 Euro im Jahr verdienen, und eine
Erhöhung des Kindergeldes in Betracht ziehen. Eine Erhöhung des Kindergeldes um 10 Euro kostet 2 Milliarden Euro. Wenn Sie das Kindergeld - ich rede nicht
einmal von einer Verdoppelung - nur um 50 Euro erhöhen würden, was Sie tun müssten, wären das schon
10 Milliarden Euro. Und damit werden Sie nicht auskommen.
Diesen Zusammenhang muss man sehen, bei allem
guten Willen, der vielleicht - oder mit Sicherheit; das
will ich Ihnen zugestehen - dahintersteckt. Das müssen
Sie machen; darum kommen Sie nicht herum.
Das heißt, wenn Sie davon reden, eine Grundsicherung von 420 Euro einführen zu wollen, dann reden Sie
in Wirklichkeit von einer Ausgabensteigerung um 20 und
mehr Milliarden Euro pro Jahr. Wie soll man einen solchen Vorschlag nennen?
({5})
Wie soll man einen solchen Vorschlag bewerten? Ich
enthalte mich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch Gelegenheit, den Gesetzentwurf intensiv zu beraten. Es
wird auch eine Anhörung geben. Ich glaube, dass wir
über das eine oder andere Thema - ich habe die Alleinerziehenden genannt, die wir besonders im Auge haben;
aber ich habe auch das Thema Wahlfreiheit genannt noch sprechen müssen. Ich bin niemand, der nicht auch
die finanziellen Rahmenbedingungen sieht, der sozusagen großzügig zusätzliche Wohltaten verteilt. Aber wir
sind uns einig: Wir wollen an dieser Stelle ganz gezielt
Menschen helfen, die trotz Erwerbsarbeit für den Unterhalt ihrer Kinder nicht aufkommen können. Deswegen
ist es der Mühe wert, in den anstehenden Gesprächen alles zu versuchen, die Regelungen möglichst optimal zu
gestalten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Es ist ein Hohn, dass die SPD, aber auch
die Grünen uns immer wieder erzählen wollen, sie hätten
mit Hartz IV nicht die Kinderarmut auf 2,6 Millionen
verdoppelt, sondern die verdeckte Armut sichtbar gemacht.
({0})
Auf diese Großtat von SPD und Co, endlich sichtbare
Armut erleben zu dürfen, hätten Millionen von Kindern
in Deutschland gern verzichtet.
({1})
Die Union und die FDP, vor allem diejenigen unter
Ihnen, die soziale Gerechtigkeit immer kurz vor Wahlen
wiederentdecken, möchte ich gerne daran erinnern, dass
Ihnen damals noch nicht einmal Hartz IV weit genug
ging.
Frau Ministerin von der Leyen kündigte im Sommer
letzten Jahres an, mindestens 500 000 Kinder mit dem
Kinderzuschlag aus der Armut herausholen zu wollen.
Mittlerweile sind es nur noch maximal 250 000 Kinder.
Die Bundesregierung will uns weismachen, dass diese
Absenkung auf 250 000 an der guten Arbeitsmarktsituation liegt, wodurch viele Eltern wieder in Arbeit gekommen seien.
({2})
- Nein, das ist einfach Quatsch.
({3})
Denn stärker als je zuvor boomt der Niedriglohnsektor.
Das ist eine Tatsache. Ein flächendeckender gesetzlicher
Mindestlohn wird von Ihnen immer wieder blockiert.
({4})
- Im Niedriglohnsektor zum Teil.
({5})
Gleichzeitig beantragten mehr als 1 Million Menschen ergänzendes Arbeitslosengeld II, sogenannte Aufstocker. Trotz Arbeit kommen sie aus der Hartz-IV-Falle
nicht heraus. Zudem wird der maximale Kinderzuschlag
nicht über 140 Euro hinaus angehoben. So holen Sie die
Kinder aus der Bedürftigkeit nicht heraus.
Die Bundeskanzlerin hatte am 28. November 2007 im
Bundestag versprochen - ich zitiere aus dem Plenarprotokoll -:
Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen
und vereinfachen.
Gut zwei Wochen nach dem Versprechen der Kanzlerin
hieß es - ich zitiere aus der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage -:
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinderzuschlag zu erhöhen.
Tricksereien und Rechenspielchen bringen keine Lösungen für die Betroffenen.
({6})
Fast die Hälfte aller sogenannten Hartz-IV-Kinder
lebt in Alleinerziehenden-Haushalten. Sie gewinnen
durch dieses Gesetz fast nichts. Selbst mit dieser Änderung werden von den zusätzlich erreichten Kindern
höchstens 9 Prozent aus Alleinerziehenden-Haushalten
stammen.
Vorgesehen ist auch eine Absenkung der Mindesteinkommensgrenze für Alleinerziehende auf 600 Euro. Damit wird man Hartz IV nicht umgehen können. Denn der
Unterhaltsvorschuss wird angerechnet, aber die Maximalhöhe von 140 Euro nicht angehoben. Kurzum: Wieder einmal schauen Alleinerziehende in die Röhre.
Deshalb fordern wir eine deutliche Erhöhung des
Kinderzuschlags, um Hartz IV für erwerbstätige Eltern
und ihre Kinder zu vermeiden. Für unter 14-Jährige
muss der Zuschlag auf 200 Euro und für über 14-Jährige
auf 270 Euro erhöht werden. Meiner Fraktion ist es
wichtig, die Maximalhöhe nach dem Alter der Kinder
unterschiedlich zu gestalten. Über 14-Jährige dürfen
nicht in Armut rutschen, nur weil sie spezifische, altersbedingte Bedarfe haben. Das vermissen wir auch im aktuellen Antrag der Grünen.
Des Weiteren müssen die Mindesteinkommensgrenzen entfallen, damit mehr Familien von der Regelung
profitieren. Ergänzend ist das Wohngeld anzuheben, um
die steigenden Mieten einzubeziehen. Unsere Forderungen sind ein erster Schritt hin zu einer bedarfsorientierten eigenständigen Kindergrundsicherung von 420 Euro.
In Verbindung mit einem gesetzlichen Mindestlohn
könnten so Lebensniveau und Teilhabemöglichkeiten
von Kindern spürbar verbessert werden.
({7})
Der uns vorliegende Gesetzentwurf bekämpft Kinderarmut nicht wirklich. Betroffene Gesichter reichen zur
Bekämpfung der Kinderarmut nicht aus. Wie schon in
der Debatte um die Kinderregelsätze gilt: Alle Kinder
müssen unabhängig vom sozialen Status der Eltern die
gleichen Entwicklungs- und Teilhabechancen haben. So
ist und bleibt Ihre Reform des Kinderzuschlags im
wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Reinke, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen
- ich kann mich da nur wiederholen -, führt dazu, dass
mehr Kinder in ALG II landen, anstatt herausgeholt zu
werden.
({0})
Sie haben das Prinzip nicht verstanden. Auch wenn Sie
noch so oft falsche Argumente wiederholen, wird es
nicht richtiger. Es ist falsch und bleibt falsch. Deshalb
stimmen wir gegen Ihren Antrag.
Es freut mich aber - das muss ich trotzdem sagen -,
dass wir heute nach fast zweieinhalb Jahren des Ankündigens und des Wartens hier einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung zum Kinderzuschlag vorliegen haben.
({1})
Diese Freude vergeht mir allerdings ziemlich schnell,
wenn ich mir den Gesetzentwurf genau anschaue. Das
Positive daran ist, dass es in die richtige Richtung geht.
({2})
- Ja, das ist schon mal was. - Das Negative daran ist
aber, dass Sie Hoffnungen geweckt haben, indem Sie
den Menschen versprochen haben, dass 530 000 Kinder
zusätzlich mit dem Kinderzuschlag erreicht werden sollen. Jetzt kündigen Sie an, 150 000 Kinder damit zu erreichen. In Ihrem Gesetzentwurf ist aber nur von
120 000 Kindern die Rede, die vom Kinderzuschlag zusätzlich profitieren werden. Zwischen dem, was Sie angekündigt haben, und dem, was jetzt im Gesetzentwurf
steht, besteht noch einmal eine Differenz von 30 000.
Dann kommen Sie und sagen: Wenn wir irgendwann
einmal eine Wohngeldreform dazu machen, dann wird
die Zahl ja wieder steigen. - Aber wir machen doch hier
keine Politik von Wenn und Aber. Entweder wir machen
etwas - dann jetzt gleich und sofort -, oder wir machen
es nicht.
({3})
Das, was Sie machen, ist die Beschönigung der Tatsachen, damit Ihre Bilanz, die übrigens sehr schlecht ist,
einen besseren Eindruck macht. Das nennt man Verschleierung der Tatsachen. Und das ist keine ehrliche
Politik.
({4})
Versprochen gebrochen - das war eigentlich einmal ein
Leitspruch einer anderen Fraktion hier im Bundestag.
Diese muss ihn jetzt ernst nehmen; denn genau das machen Sie.
Frau von der Leyen sagte in der Regierungsbefragung
der letzten Sitzungswoche in ihren Antworten, dass sie
gerne mehr gemacht hätte, dies aber leider nicht konnte,
weil aufgrund der aktuellen Haushaltslage nicht mehr
möglich war. Dieses Argument lasse ich hier nicht gelten. Wir haben zurzeit einen Entwurf vorliegen, in dem
Sie, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne intensiv
über Sinn und Unsinn zu beraten, hoppladihopp
2 Milliarden Euro für eine Rentenerhöhung ausgeben.
Wenn es aber darum geht, den Anspruch auf den Kinderzuschlag, der insbesondere Familien mit einem niedrigen Einkommen betrifft und der darauf abzielt, Kinder
aus der Armutsfalle herauszuholen, ein wenig auszuweiten, und Sie dann mit dem Argument der Haushaltslage
kommen, sollte man Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Sie sollten eine konsequente Armutspolitik machen. Das
brauchen wir. Dazu sollten Sie stehen und sich nicht hinter Argumenten verstecken, die Ihnen an anderer Stelle
anscheinend wenig bedeuten.
({5})
Weiterhin hat die Ministerin betont, dass bei den Eltern sehr wohl eine Erwerbsbereitschaft vorhanden ist
und dass sie Unterstützung brauchen. Wenn das so ist,
dann könnten Sie durchaus den maximalen Kinderzuschlag erhöhen, damit die Familien deutlicher über dem
Existenzminimum landen. Außerdem: Wenn Sie wirklich Menschen aus dem Bezug von ALG-II-Leistungen
herausholen wollen, dann richten Sie ein Wahlrecht ein.
Ein Wahlrecht würde das Ganze nicht nur entbürokratisieren, sondern Chancen schaffen, sodass die Eltern sagen könnten: Ich hätte zwar einen Anspruch; ich will
diesen ganzen Formularwust im Zusammenhang mit
dem ALG II aber nicht mitmachen. - Für sie würde man
die Möglichkeit der freien Wahl schaffen.
({6})
Es gibt noch weitere Stellschrauben, an denen wir
drehen und den Kindergzuschlag über Ihren Entwurf hinaus verbessern können. Dazu haben wir heute einen
Antrag vorgelegt. Darin machen wir Ihnen eine ganze
Menge Vorschläge. Den Agenturmeldungen habe ich
heute entnommen, dass sich die Koalition eigentlich
noch gar nicht einig ist und dass einzelne Vorschläge, die
in unserem Antrag stehen, schon jetzt in der Koalition
zur Verhandlungsgrundlage gemacht werden. Das finde
ich gut.
({7})
Übernehmen Sie einfach Vorschläge aus unserem Antrag; dann hätten wir dieses Problem gelöst.
Danke schön.
({8})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Johannes Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir wollen, dass 150 000 Kinder und ihre Eltern
nicht länger arm sind. Wir wollen, dass ab dem
1. Oktober dieses Jahres bis zu 150 Euro mehr im Monat
an diese Familien und ihre Kinder gezahlt werden.
({0})
Wir freuen uns, dass dieses Projekt der Bundesfamilienministerin von nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen in unserem Land begrüßt und erwartet wird. Die Gewerkschaften, die Arbeitnehmervertreter zum Beispiel
begrüßen die Zielrichtung des Kinderzuschlags eindeutig, weil mehr Familien unabhängig von Hartz-IV-Leistungen werden. Die Arbeitgeber befürworten den
Kinderzuschlag, weil er den Übergang in die Erwerbstätigkeit erleichtert. Die betroffenen Familien mit ihren
Kindern - 150 000 an der Zahl - warten sehnsüchtig auf
den 1. Oktober, weil dann eine Familie nicht mehr deswegen, weil Kinder vorhanden sind, ein Hartz-IV-Fall
werden kann.
Das Wichtigste ist: Das Geld ist reserviert. Wir haben
es im Haushalt eingeplant. Die Steuergelder für die Auszahlung ab dem 1. Oktober stehen bereit. Das sind Taten
statt Worte und keine hohlen Versprechungen.
({1})
Ich freue mich, dass das Gesetzgebungsverfahren
jetzt rechtzeitig begonnen hat und dass alle ursprünglich
vorgesehenen Koppelungen, die die Angelegenheit hätten verzögern können, erledigt sind.
Ich stelle fest: Kinderzuschlag, Elterngeld und Ausbau der Kinderbetreuung - Stück für Stück schließen wir
die Gerechtigkeitslücke bei Familien und Kindern. In
keinem anderen Politikbereich haben wir so viel
Schwung aufgenommen wie in der Familienpolitik, und
das wird auch in Zukunft so bleiben.
({2})
Das nächste große Vorhaben wird die Erhöhung des
Kindergeldes im kommenden Jahr sein. Auch dieses
Vorhaben werden wir nicht nur anpacken, sondern auch
durchsetzen.
({3})
All das, was wir für Familien ausgeben, muss aber
vorher an Steuergeldern eingenommen werden.
({4})
Wir streben nämlich einen ausgeglichenen Haushalt an.
Wir streben ihn nicht nur an, sondern werden ihn auch
erreichen.
({5})
An dieser Stelle möchte ich auf diejenigen eingehen,
die in dem Überbietungswettkampf, was die Ausgaben
für Familien und Kinder betrifft, zu geradezu weltmeisterlicher Form aufgelaufen sind: die Linken. Was haben
sie in den letzten Tagen nicht alles gefordert? Im Zusammenhang mit dem 7. Familienbericht haben sie allein im
Familiensektor 19 Milliarden Euro mehr verlangt. In ihrem jetzt vorliegenden Antrag fordern sie die Erhöhung
des Kinderzuschlages. Alle Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren von Eltern mit geringem Einkommen sollen 420 Euro - dieser Betrag wird als soziokulturelles
Existenzminimum betrachtet - erhalten; der Kollege
Spanier ist darauf schon eingegangen. Wenn man diese
Ausgaben hochrechnet, kommt man auf etwa 10 Milliarden Euro; das ist ja eine kleine Summe. Ferner wird ein
Stufenprogramm zur weiteren Ausdehnung öffentlich finanzierter Beschäftigung gefordert: 8,4 Milliarden Euro
mehr. Hartz IV soll geändert werden - auch hier geht es
um eine kleinere Summe -: 18 Milliarden Euro mehr.
Wenn man alle Forderungen zusammenzählt, die Sie in
den letzten Tagen, Wochen und Monaten aufgestellt haben, kommt man summa summarum auf die runde
Summe von 150 Milliarden Euro jährlich.
Nun sagen Sie: Es gibt so viele Reiche in Deutschland. Denen könnte man dieses Geld in Form von Steuern abnehmen. Ich sage Ihnen: So viele Reiche gibt es in
Deutschland nicht, und die wenigen, die es gibt, sind
schneller aus Deutschland weg, als Sie glauben.
({6})
Diejenigen, die infolge dieser Steuererhöhungsorgien
bluten müssten, wären die Familien mit Kindern, obwohl
Sie vorgeben, dass sie mehr bekommen sollen. Das Gegenteil wird der Fall sein: Diejenigen, die draufzahlen,
sind Familien mit Kindern. Das wollen wir nicht. Wir
machen eine solide Politik, auf die sich die Familien verlassen können.
({7})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8867, 16/8883 und 16/4670 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag ausbauen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/8915, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/6430 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Paul Schäfer ({0}), Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus
dem Kosovo
- Drucksache 16/8779 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und
Damen! Die Linke im Deutschen Bundestag legt hiermit
den Antrag vor, deutsche Bundeswehrsoldaten unverzüglich aus dem Kosovo abzuziehen.
Wie begründen wir das? Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo kann man bei realistischer Betrachtung der Völkerrechtslage nur einen Schluss ziehen:
Die Truppen haben für ihre Präsenz dort kein tragfähiges
Bundestagsmandat mehr. In der den Krieg beendenden
Resolution des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahre 1999
wurden die Souveränität und die territoriale Integrität
der Bundesrepublik Jugoslawien bestätigt.
Auf dieser klaren Völkerrechtsgrundlage hat der
Deutsche Bundestag zuletzt am 21. Juni 2007 den Beschluss gefasst, die Bundeswehr für ein weiteres Jahr als
Teil der KFOR in das Kosovo zu entsenden. Darin
wurde festgestellt, dass die Kräfte im Rahmen der Resolution 1244 eingesetzt werden können, wenn die konstitutive Zustimmung des Bundestages vorliegt. Diese konstitutive Zustimmung sehen wir als nicht mehr gegeben
an.
Entgegen dem eindeutigen Gebot, dass Separationen
nur in beiderseitiger Übereinstimmung geschehen dürfen, hat die kosovo-albanische Seite einseitig die staatliche Unabhängigkeit erklärt. Sie wurde von den deutschen und den US-amerikanischen politischen Kräften
unterstützt, diesen Völkerrechtsbruch zu vollziehen. Am
20. Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung den
Kosovo als selbstständigen Staat anerkannt und diplomatische Beziehungen aufgenommen; dagegen haben
wir Linke unseren deutlichen Widerspruch zum Ausdruck gebracht. Die Voraussetzungen für die UN-getragene KFOR-Präsenz sind de facto entfallen.
Ging es bisher um die Sicherung der Statusverhandlungen und die Regelung einer Übergangszeit, so geht es
jetzt um die Sicherung eines neuen Staates. Das wäre ein
völlig anderer und neuer Auftrag. Das Kosovo ist aus
dem Gesamtterritorium Serbiens herausgelöst worden,
ohne dass dieses Gebilde international oder gesamteuropäisch anerkannt wird, geschweige denn Mitglied der
UN ist.
Zwar gilt die UN-Resolution 1244 formal fort, solange der Sicherheitsrat keine neue Resolution beschließt. Es ist aber allgemein bekannt, dass es nach dem
Völkerrecht inhaltlich keine andere Resolution geben
kann als eine, durch die die territoriale Integrität Serbiens gewahrt wird. Damit ist zwar nicht die Resolution 1244 hinfällig geworden, wohl aber der Schutzauftrag, den die KFOR-Truppen unter UN-Mandat zu
erfüllen haben.
Mit der einseitigen Staatsgründung des Kosovo sind
der Verhandlungsprozess und die Statusfrage obsolet geworden. Genau dies galt es aber militärisch abzusichern.
Würde die KFOR weiterhin dem UN-Mandat auf Grundlage der Resolution 1244 folgen, wie die Regierung behauptet, hätte sie den völkerrechtswidrigen Akt der Separation nicht hinnehmen dürfen.
({0})
Eine derartige Eskalation kann aber niemand gewollt haben. Mithin kann aber nicht mehr die Rede davon sein,
dass die KFOR-Truppen heute trotz einer völlig veränderten Realität noch ihren ursprünglichen Auftrag erfüllen.
Demnach gibt es gute Argumente, um einen neuen
Sicherheitsratsbeschluss und einen neuen Bundestagsbeschluss herbeizuführen.
({1})
Dies strebt die Bundesregierung jedoch ganz bewusst
nicht an, weiß sie doch zu genau, dass die UN keine
völkerrechtswidrige Separation legitimieren kann und
damit kein UN-Mandat für eine Truppenentsendung vorläge.
Im Ergebnis setzt die Bundesregierung die deutschen
Soldaten im Kosovo einer nicht gesicherten Rechtslage
aus. Das darf aber unter keinen Umständen der Fall sein.
Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht, diesen Zustand
zu beenden. Wir bestehen darauf, dass das Parlament
diesem Auftrag nachkommt.
({2})
Der Bundesregierung ist unsere rechtliche Argumentation aufgrund der Ausschussberatungen und der
Plenardebatten bekannt. Bislang weigerte sie sich aber,
ihre rechtliche Argumentation in Gänze offenzulegen,
mit dem Hinweis, sie gehe von einer Klage der Linken
vor dem Bundesverfassungsgericht aus, weshalb sie unserem Auskunftsbegehren nicht nachkommen wolle.
Tatsächlich, meine sehr geehrten Herren und Damen,
wollen wir in dieser Frage alle uns zur Verfügung stehenden politischen und rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Darüber hinaus hat es die Bundesregierung
verabsäumt, dem Bundestag eine Beschlussvorlage zu
unterbreiten, mit der der Bundeswehr auf eindeutig völkerrechtskonforme Weise ein neues Mandat erteilt wird.
Wir sehen daher nur einen gangbaren Weg, nämlich den,
die deutschen Soldaten unverzüglich abzuziehen.
({3})
Es spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Union - überraschend ist das wohl nicht lehnt den Antrag der Linken ab. Auch die enthusiastisch
vorgetragene Begründung des Antrags hat bei der Union
nicht zu einer gegenteiligen Meinungsbildung geführt.
Wir teilen weder die Grundvoraussetzungen, von denen Sie in Ihrem Antrag ausgehen, noch - das darf man
schon so nennen - die doch sehr schlichten Folgen, die
entstehen würden. Wir erachten das, was die Linke mit
diesem Antrag bezweckt, sogar für außerordentlich
schädlich für die Region.
({0})
Man muss einmal zu Ende denken, was es bedeuten
würde, wenn durchgeführt würde, was in diesem Antrag
gefordert wird. Dann kämen wir plötzlich in eine ganz
bittere Ironie Ihrer eigenen Überzeugungen. Glauben Sie
denn, dass, würden wir abziehen, in der derzeitigen Situation auch nur der Ansatz von Stabilität erreicht werden könnte? Man würde sich mit einem solchen Vorgehen in die Nähe von Konflikttreiberei begeben. Für
jemanden wie die Linke, die Pazifismus auf ihre Flagge
schreibt, dürfte das nichts als bittere Ironie sein. Insofern
ist Ihr Antrag bereits gescheitert.
Mit der Schlichtheit dessen, wie Sie sich mit diesem
komplexen Themenbereich befassen, brüskieren Sie
nicht nur die Soldaten vor Ort und diejenigen, die militärisch die Verantwortung tragen - die sind Ihnen ja egal -,
Sie brüskieren auch die zivilen Helfer vor Ort, Sie brüskieren die Polizisten vor Ort, Sie brüskieren die Richter
vor Ort, Sie brüskieren die Verwaltungsbeamten vor Ort
- und in der Konsequenz die Menschen im Kosovo, und
zwar egal welcher Ethnie.
({1})
Sie sind - das muss man Ihnen zugestehen - in Ihrer
Verweigerungshaltung, in Ihrer Ablehnung, international
Verantwortung zu übernehmen, konsequent, aber zynisch-konsequent und verantwortungslos. Steht irgendetwas Konstruktives in Ihrem Antrag? Fehlanzeige. Haben
Sie Vorschläge für eine plausible Nachkriegsordnung?
Fehlanzeige. Zeigen Sie eine europäische Perspektive
auf? Fehlanzeige. Vor dem Hintergrund Ihres Auftrittes
heute Morgen war so etwas freilich nicht zu erwarten.
Haben Sie irgendwelche Vorschläge für die soziale, wirtschaftliche, gesellschaftliche Zukunft des Kosovo? Fehlanzeige. Auch darum ist Ihr Antrag eine Ohrfeige für die
Menschen vor Ort.
({2})
Worum geht es im Kosovo? Es geht darum, einen
Rechtsstaat aufzubauen, die Infrastruktur aufzubauen.
Unsere Präsenz in Form der EU-Mission ist sinnvoll;
denn es ist wichtig, dass Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden. Dafür trägt die internationale Gemeinschaft Verantwortung, und dafür tragen auch die
Soldaten der KFOR Verantwortung. Für uns ist das eine
aus der Verantwortung gewachsene Konsequenz.
Über die Resolution 1244 haben wir im Plenum und
in den Ausschüssen oft genug diskutiert; es wäre müßig,
weiter zu diskutieren. Wir sind - das ist richtig - zu unterschiedlichen Auffassungen gekommen. Ihre heutige
Begründung hat eine neue Drehung gebracht; sie hat sich
aber letztlich nicht als besonders logisch erwiesen. In der
Resolution 1244 sind keine Aussagen über den endgültigen Status des Kosovo getroffen. Die Verpflichtung zur
Wahrung der territorialen Integrität, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, bezieht sich auf das Übergangsregime,
das durch die Resolution 1244 eingesetzt wurde. Die Resolution 1244 verbietet nicht die Unabhängigkeitserklärung. Die Resolution 1244 verbietet auch nicht die Anerkennung. Wenn man ernsthaft an diese Fragestellung
herangeht, dann muss man das einbeziehen, um dann
auch zu der entsprechenden Rechtsgrundlage zu kommen. Durch die Resolution 1244 werden ein politischer
Prozess und eine politische Entscheidung gefordert. Das
ist für uns alle ein Prozess gewesen, der auch mit viel
Bitternis verbunden war.
Hier hat sich die Bundesregierung intensiv eingebracht - wir müssen konstatieren: in der Konsequenz
ohne Erfolg. Gleichzeitig sei aber auch noch einmal daDr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
ran erinnert, dass sich insbesondere Wolfgang Ischinger
in besonderer Weise eingebracht hat.
Herr zu Guttenberg, wollen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehrcke zulassen?
Von Herrn Gehrcke immer mit Vergnügen.
({0})
Bitte schön, Herr Gehrcke.
Nein, das meint Kollege von Guttenberg wirklich so,
wie er es gesagt hat. Wir haben kein anderes Verhältnis
zueinander.
({0})
- Man kann ja auch anständig miteinander umgehen,
wenn man unterschiedlicher Auffassung ist. Das sollte
man auch einmal hinnehmen.
Würden Sie mir erklären, welchen völkerrechtlichen
Status die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa in Helsinki gemäß Ihrer Argumentation hat, in der es wörtlich heißt, dass Veränderungen der Grenzen in Europa nur im gegenseitigen Einvernehmen und Einverständnis vorzunehmen sind?
Das steht in der Schlussakte. Das ist Völkerrecht.
Jetzt bin ich gespannt auf Ihre Antwort.
({1})
Die Resolution 1244 ist gesetztes Völkerrecht. Sie
kann lediglich durch eine neue Resolution ausgehebelt
werden. Herr Kollege Gehrcke, es steht nirgends geschrieben, dass die Resolution 1244 an eine auflösende
Bedingung gebunden ist. Es steht auch nirgends geschrieben, dass sie sich von selbst erschöpfen wird. Von
daher ist die Resolution 1244 nach unserer Auffassung
Völkerrecht und keine völkerrechtswidrige Grundlage
für das, was derzeit passiert.
({0})
Das ist die Grundlage, die wir sehen müssen, und das ist
der Ansatz, den wir auch verfolgen.
Es ist aber noch einmal hervorzuheben: Dadurch werden ein politischer Prozess und eine politische Entscheidung gefordert. Dazu ist es nicht gekommen, weil die
Positionen verhärtet waren. Auch auf kosovarischer
Seite waren die Positionen natürlich nicht immer nur
leicht darzustellen und insbesondere Serbien hat in den
vergangenen Monaten kein Entgegenkommen gezeigt,
irgendetwas zu machen.
Von daher bedurfte es auch einer Klärung für die
Menschen innerhalb der Region - Herr Gehrcke, das
kann durch eine abgehobene völkerrechtliche Diskussion allein nicht gelöst werden -, die gesellschaftlich, sozial und auch sonst in vielerlei Hinsicht mit dem Rücken
zur Wand stehen. Diese Klärung war notwendig und
wurde in meinen Augen durch die Bundesregierung gerade im Rahmen des Völkerrechts herbeigeführt. Deswegen bleibt die Resolution 1244 für uns auch als Rechtsgrundlage für den Einsatz von KFOR entscheidend und
bestehen.
Wie ich es gerade schon gesagt habe: Sie verliert ja
nicht ihre Gültigkeit. Manchmal kann man jenen, die einem offensichtlich auch politisch etwas näher stehen,
auch abverlangen, dass sie sich im Sicherheitsrat konstruktiv für eine Folgeresolution einbringen, wenn sie
eine solche konsequenterweise wollen. Das kann man
gelegentlich auch an die Adresse unserer Partner in Moskau anbringen.
Trotzdem darf eines konstatiert werden: Wir haben
eine völkerrechtliche Grundlage, und es liegt eben kein
völkerrechtswidriges Verhalten vor, aber jede völkerrechtliche Grundlage kann noch stabiler sein, als sie ist.
Demzufolge rufe ich die Bundesregierung auf, hier alle
Kreativität einzusetzen, damit dies wirklich auf ein so
starkes Fundament gestellt wird, dass wir uns solche halben Stunden wie heute Abend, während derer man völlig
ins Absurde abdriftet, ersparen können.
Hier wäre sicherlich noch mehr zu leisten. Man kann
über völkerrechtliche Verträge nachdenken und über
ähnliche Dinge lang diskutieren, ohne hier noch tiefer zu
gehen.
Worum geht es uns? Es geht uns darum, dass wir in
der Situation, in der wir uns befinden, nicht in eine Kultur des Verharrens geraten. Im Kosovo wurden Entscheidungen getroffen. Jetzt droht die Gefahr, dass man mit
einem ruhigen Blick meint, die Dinge würden sich schon
entsprechend entwickeln. Mit Erklärungen allein kann
man aber jahrhundertelang gewachsene Friktionsfelder
mit Sicherheit nicht auflösen. Das gelingt nicht. Dazu
bedarf es mehr.
Es bedarf letztlich aller Anstrengungen, eine tragfähige europäische Friedensordnung zu etablieren. Es bedarf der Zielsetzung, einen lebensfähigen demokratischen Staat Kosovo zu etablieren. Auch dabei war die
Entsendung von EULEX ein richtiger Ansatz, um
Rechtsstaatlichkeit und damit ein Fundament zu schaffen, dem immense Bedeutung zukommen wird.
Ein weiterer Punkt sind die Sicherheit und das Selbstbestimmungsrecht aller - ich betone: aller - Bevölkerungsgruppen. Dabei ist auch die Führung des Kosovo in
der Pflicht. In diesem Punkt sind wir manchmal zu leise.
Wir haben sie in die Pflicht zu nehmen mit Blick auf
organisierte Kriminalität, Minderheitenrechte, die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof.
Letzteres gilt auch und in diesen Tagen besonders
virulent für Serbien. Ich persönlich glaube, dass es falsch
wäre, ohne Konditionierung Belgrad jetzt das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zur Unterzeichnung vorzulegen.
({1})
Die Konditionierung ist auch weiterhin notwendig. Wir
würden einen ohnehin zähen Prozess weiter aushöhlen,
wenn wir das Ganze lediglich an die Ratifizierung binden würden.
Was bleibt uns noch an glaubwürdigen Argumenten,
wenn wir in Europa letztlich nur noch Pappfassaden aufbauen und keine Hürden mehr aufrechterhalten, die für
die Gestaltung einer europäischen Zukunft entscheidend
wären?
Vor diesem Hintergrund geht es nicht um einen Abzug, wie ihn die Linken fordern, sondern um Stabilität
und Sicherheit, die durch unsere Soldaten gewährleistet
werden, und um eine entsprechende Zukunft für das Kosovo.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute - am 24. April 2008 - findet im Kosovo zum ersten Mal ein Girls’ Day statt. Auch in Zusammenarbeit
mit der GTZ werden Schülerinnen von 20 Schulen eingewiesen. Sie bekommen Einblick in handwerkliche,
technische und naturwissenschaftliche Arbeitsfelder.
Das ist ein kleiner Beitrag zur Normalität in diesem geschundenen und zerrissenen Land.
({0})
Die zarte Pflanze der Normalität kann aber nur gedeihen, wenn in diesem Land ein Mindestmaß an Sicherheit
und Stabilität vorhanden ist. Dafür sorgt seit einigen Jahren erfolgreich KFOR. Aus diesem Grunde müssen wir
den Antrag der Linken ablehnen. Ein Rückzug zu diesem Zeitpunkt in dieser fragilen Phase wäre völlig verantwortungslos.
({1})
Im Kosovo will das auch niemand: weder Serben noch
Kosovaren.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, dieses Beispiel zeigt leider ein weiteres Mal, dass Ihnen an
dem konkreten Wohlergehen der Leute in dieser Region
nichts gelegen ist.
({2})
- Das ist meine Meinung, die ich hier zum Ausdruck
bringe. - Ob allerdings solche zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der Girls’ Day langfristig Erfolg haben,
hängt im Kosovo sehr stark von uns bzw. von der EU ab.
Hier kommen wir durchaus in eine Grauzone, bei der wir
genau aufpassen müssen. Es hängt nämlich davon ab, ob
die Rechtsstaatsmission EULEX tatsächlich jetzt im Kosovo durchgeführt werden kann und ob sie zeitnah umgesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang gibt es
einige Fragen, und es sieht insgesamt leider nicht gut
aus.
Kann die EULEX in diesen Tagen im Norden ihre
Vorbereitungen fortführen, die unterbrochen worden
sind? Werden die Zollstationen in Richtung Serbien wieder besetzt sein? Wie ist der Übergang von UNMIK zu
EULEX gedacht? Wird es überhaupt eine Ablösung von
UNMIK durch EULEX geben können, oder werden wir
aus völkerrechtlichen Gründen auf Dauer damit leben
müssen, dass ad infinitum oder jedenfalls auf absehbare
Zeit EULEX unter dem Dach von UNMIK erfolgen
muss?
Das alles sind offene Fragen. Dazu gehört auch die
Aufgabenteilung zwischen UNMIK und EULEX. Wir
wissen auch nicht, ob der Generalsekretär der Vereinten
Nationen in absehbarer Zeit EULEX den Auftrag erteilen wird.
Leider muss ich aber auch feststellen, dass ebenso offen ist, mit welcher Intensität sich die Europäische
Union wie auch die Bundesrepublik Deutschland in den
letzten Wochen für die Lösung dieser Fragen eingesetzt
hat. Ich weiß, dass sich vieles in diesem Verhandlungsprozess der Öffentlichkeit entzieht. Es ist vollkommen
richtig, dass über vieles hinter verschlossenen Türen
verhandelt wird. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, ich frage Sie aber: Was ist seit dem
17. Februar, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, im
Hinblick auf die Vorbereitung wirklich geschehen? Die
Informationen, die wir im Ausschuss bekommen haben,
stimmen uns eher bedenklich und lassen uns nicht hoffen, dass hier alles auf einem guten Weg ist. Wir haben
eher das Gefühl, dass sich die EU im Klein-Klein der
Organisationsfragen ergeht und dass eine große Linie
nicht vorhanden ist. Meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, sind Sie eigentlich mit der EULEX-Vorbereitung zufrieden? Ich sage: EULEX und die EU sind
wir und niemand anderes. Daher fordern wir, dass die
Bundesregierung weiter vorangeht.
Wir werden in diesen Tagen eine weitere Nagelprobe
erleben; denn die Serben haben das Ansinnen geäußert,
eine Kommunalwahl - das ist keine serbische Wahl - im
Kosovo durchführen. Das lehnen wir ab. Das widerspricht eindeutig der Sicherheitsratsresolution 1244 und
muss daher unterbunden werden.
({3})
Die Bundesrepublik Deutschland hat - dem haben wir
zugestimmt - das Kosovo anerkannt. Weder wir noch die
Öffentlichkeit haben erwartet, dass damit die Probleme
des Kosovo sofort gelöst sind. Nein, wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Diesen Weg müssen wir gehen.
Wir wissen, dass die Umsetzung des Ahtisaari-Plans aus
völkerrechtlicher Sicht sehr schwierig ist. Herr Kollege,
Sie haben das völlig richtig dargelegt. Wir erwarten, dass
die Bundesregierung bei der Legitimation etwas nachlegt, damit wir nicht in der Defensive sind. Wir wollen
gemeinsam das Richtige, aber es muss unterfüttert werden.
Vieles war absehbar. Ich habe seit 18 Monaten einen
Plan B gefordert. Aber die Bundesregierung hat 18 Monate eher beschwichtigend auf uns eingeredet. Ich kam
mir vor wie bei Nina Ruge: Alles wird gut. Aber es ist
nicht gut geworden. Nun müssen wir weitergehen. Wir
Liberale sehen zum heutigen Zeitpunkt keine Alternative
zu einer zivilen und militärischen Präsenz zur Unterstützung des Kosovo. Uns wäre aber wesentlich wohler,
wenn wir eine klarere europäische Strategie erkennen
könnten.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD spricht der Kollege Detlef Dzembritzki.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reden von
Herrn Dr. Stinner und Herrn Guttenberg machen deutlich, dass wir uns mit einer komplizierten Situation auseinanderzusetzen haben, die nicht einfach zu lösen ist.
Man muss hier den Zusammenhang mit dem auseinandergefallenen Jugoslawien nach dem Ende des Kalten
Krieges sehen. Die Tragödie, das Bedauerliche und Bedrückende bestehen darin, dass ein Land, dem man während der Zeit des Kalten Krieges Respekt entgegenbrachte und das seinen Bürgern im Vergleich zu anderen
Ostblockstaaten eine gewisse Unabhängigkeit, Wohlstand und Freizügigkeit erhalten konnte, in eine solche
Situation gekommen ist.
({0})
Die slowenische Präsidentschaft hat darauf hingewiesen, dass man auf dem Balkan und insbesondere im ehemaligen Jugoslawien dabei ist, endgültig die Probleme,
die seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind, zu
lösen. Ich finde, es ist durchaus legitim - das tun auch
renommierte Völkerrechtler -, zu fragen, inwieweit das
Völkerrecht hier beachtet wird. Aber es ist demaskierend, dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, in Ihrem Antrag nicht einmal den Versuch machen,
bei diesem Diskurs auf die verbrecherische Politik
Miloševićs hinzuweisen.
({1})
Herr Kollege Gehrcke, Sie haben die Akte von Helsinki angesprochen. Haben Sie vergessen, dass Herr
Milošević diese Akte regelrecht verbogen und eine großserbische Politik betrieben hat mit dem Ziel, die Autonomie des Kosovo kaputt zu machen? Er hat ganz bewusst
Vertreibungspolitik betrieben. Ich will das hier nicht vertiefen, aber das gehört zu diesem Diskurs und erlaubt, den
Weg zu gehen, den der Generalsekretär der UNO mit Hinweis auf die Gültigkeit der Sicherheitsratsresolution 1244
aufgezeigt hat. Das ist doch die Kernaussage. Ich möchte
die Behauptung, diese Aussage sei fragil, nicht wegräumen. Unter Berücksichtigung der Situation im Kosovo
bleibe ich aber trotzdem bei der fragilen Aussage, dass
dies Völkerrecht ist.
({2})
Es ist bereits gesagt worden: Natürlich brauchen wir
die zivile Mission; sie ist dringend notwendig. An anderer Stelle habe ich schon häufig Vergleiche gezogen, wie
groß unsere Bereitschaft ist, dort materielle und personelle Leistungen zu erbringen. Herr Dr. Stinner, Sie haben völlig recht: Wir müssen darauf bestehen, dass diese
Leistungen wirklich erbracht werden, damit der Prozess
vorangeht.
Entscheidend ist es, die Chancen des Wiederaufbaus
in diesem Land zu nutzen. Ich habe gerade mit einer
Runde von Kolleginnen und Kollegen zusammengesessen, die aus Priština zurückgekommen sind. Sie sagten,
im Kosovo herrsche Aufbruchstimmung.
Vermittelt vom Bundestag und vom Auswärtigen Amt
hatten wir eine hochkarätige Delegation von vier Ministern und drei Abgeordneten zu Besuch. Bei einem Treffen habe ich erfreulicherweise die Feststellung machen
können - es hat zumindest eine große Symbolwirkung -,
dass ein Minister aus dieser Delegation der türkischen
Minderheit, ein anderer der serbischen Minderheit und
ein Kollege aus dem Parlament der serbischen Minderheit angehörte. Mir ist klar - ich möchte nicht in Euphorie verfallen -, dass die serbische Minderheit eine Minderheit in der Minderheit ist; ich habe aber vollen
Respekt dafür, dass die Leistung vollbracht wurde, zu
zeigen, dass man bereit ist, multiethnisch vertreten zu
sein. Ich habe vollen Respekt davor, dass die Minderheit
in der Minderheit diesen Schritt macht, über den im eigenen Land und in Serbien sicherlich viel diskutiert
wird.
({3})
Das sind zumindest Ansätze der Versöhnung. Darauf
sollten wir den Schwerpunkt unserer Diskussion legen;
wir brauchen in der Europäischen Union keine aggressive Auseinandersetzung, die eine ethnische Trennung
befördert, sondern Versöhnung. Wir Deutsche können
mit unserer Stellung mitten in Europa einiges einbringen. Wir werden immer wieder gefragt: Wie habt ihr das
mit Frankreich und mit Polen gemacht? Es muss doch
bei den Potenzialen, die zur Verfügung stehen, möglich
sein, dass wir diesen Prozess in der Region selbst und in
der Europäischen Union begleiten.
Sie hätten den serbischen Nachbarn in Europa einen
viel größeren Dienst erwiesen, wenn Sie hier im Bundestag betont hätten - ich tue das gerne -, dass die Europäische Union am 28. April durch die Unterzeichnung des
Assoziierungsabkommens der serbischen Bevölkerung
signalisiert: Ihr gehört zu Europa, wir möchten euch in
Europa haben.
({4})
Dies widerspricht natürlich nicht unserer Forderung,
dass Mladic vor das Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag geführt werden soll. Das eine ist doch durch das
andere überhaupt nicht zu erreichen.
Wir sollten die Kräfte unterstützen, die bereit sind,
den europäischen Weg zu gehen. Liberalisiert das Visaregime, damit die jungen Leute kommen und sehen können, wie Freiheit und Demokratie aussehen! Das ist viel
wichtiger als die Diskussion, die Sie uns hier heute
Abend beschert haben.
Vielen Dank.
({5})
Jürgen Trittin hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, wenn man aus Resolutionen des Sicherheitsrats zitiert, sollte man vollständig zitieren. Die Resolution 1244 enthält mit Absicht einen Satz, der besagt,
dass diese Resolution gilt, bis eine politische Regelung
gefunden ist. Jetzt kommen Sie in eine schwierige Situation.
Herr Gehrcke, Sie haben eben die Schlussakte von
Helsinki zitiert. Stellen Sie sich vor - Ihre Auffassung in
Rechnung gestellt -, die Kosovaren erklärten gegen die
Schlussakte von Helsinki ihre Unabhängigkeit. Damit
hätte - das ist Ihre Logik, nicht meine - die Resolution 1244 ihre Existenzberechtigung verloren. Was hieße
das? Es hieße, dass ein Verstoß gegen die Schlussakte
von Helsinki eine Resolution des Sicherheitsrates einfach aushebeln könnte.
({0})
Man muss nicht Völkerrechtler sein, um zu erkennen,
dass das juristisch äußerst fragwürdig ist. Ich bleibe dabei: Solange der Sicherheitsrat sie nicht aufgehoben hat,
gilt diese Resolution und damit auch die zu Recht von
Ihnen zitierte Ermächtigungsgrundlage des Deutschen
Bundestages für die Präsenz der KFOR vor Ort.
({1})
Zweite Bemerkung: Sie könnten sagen - Sie merken,
ich versuche, mich in Sie hineinzudenken -,
({2})
es geht aber nicht, dass sich ein Staat, der wie die Bundesrepublik Deutschland das Kosovo anerkannt hat, weiter an einer solchen UN-Mission beteiligt. Das wäre ein
interessanter Standpunkt. Aber dann müssen Sie sich die
Frage gefallen lassen, wie es kommt, dass die Republik
Serbien mit aller Macht gegen die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wettert - sie wettert auch gegen die
Präsenz von EULEX; das ist leider so -, aber zwei Institutionen nicht infrage stellt: UNMIK und KFOR. Es ist
im Gegenteil sogar so, dass es regelmäßige gemeinsame
Besprechungen, teilweise sogar gemeinsame Patrouillen
von der serbischen Armee und KFOR gibt. Ich glaube,
wir sollten die Serben vor Ihrem antiserbischen Antrag
in Schutz nehmen.
({3})
Dritte Bemerkung zur Sache selber: Was ist der Kern
der derzeitigen internationalen Präsenz im Kosovo, der
militärischen, der polizeilichen, der zivilen und der justiziellen? Es ist nichts anderes als der Versuch, ein Neuaufflammen von Gewalt durch politische Kompromisse
und den Bau von Brücken zu verhindern. Um nichts anderes geht es. Es geht unter anderem darum, Gewalt im
Kosovo - natürlich sind das nicht alles Heilige auf der
einen und Böse auf der anderen Seite; wir haben noch
sehr genau in Erinnerung, wer 2004 serbische orthodoxe
Klöster angegriffen hat und wie es zu Pogromen gegen
Serben gekommen ist - zu verhindern.
Gewalt zu unterbinden, das ist das Kernanliegen des
Plans von Ahtisaari gewesen, und zwar mit der Festschreibung von dezidierten Minderheitenrechten, die
umzusetzen sind, wenn es eine Unabhängigkeit gibt. Das
hat die Staatengemeinschaft vom Kosovo verlangt. Sie
hat verlangt, diese Rechte in der Verfassung als Preis für
die eingeschränkte Souveränität, die die Staatengemeinschaft anerkannt hat, festzuschreiben. Es ging darum, die
Menschen abzusichern. Die große Mehrheit der Serbinnen und Serben wohnt nicht im Norden von Mitrovica,
sondern sie wohnt über das ganze Gebiet des Kosovo
verstreut. Die Serben betreiben dort Landwirtschaft, sie
haben verschiedene Kriege überstanden, sind dort geblieben, und sie wollen da bleiben.
Die Rechte dieser Menschen dauerhaft institutionell
abzusichern, ist das Anliegen der internationalen Gemeinschaft. Das deckt sich nicht nur mit den Grundsätzen des Völkerrechts, sondern das findet auch seine Begründung in der UN-Resolution 1244, die nach wie vor
gilt, bis wir etwas Besseres haben. Auch ich kann mir
Besseres vorstellen, aber solange arbeiten wir damit.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Gehrcke.
({0})
Ich bitte um Entschuldigung ob der Zeit, aber das,
was Kollege Trittin ausgeführt hat, möchte ich natürlich
so nicht stehen lassen.
({0})
Zum ersten Punkt. Sowohl die UN-Resolution 1244
als auch die Schlussakte von Helsinki gehen davon aus,
dass Grenzen im gegenseitigen Einvernehmen verändert
werden können. Sonst hätte die Resolution 1244 nicht
auf einen notwendigen Verhandlungsprozess Bezug genommen. Dieses gegenseitige Einvernehmen der Beteiligten ist nicht hergestellt worden. Deswegen ist meine
Argumentation in Bezug auf die Resolution 1244 und
die Schlussakte von Helsinki in sich schlüssig. Sie stehen nicht gegeneinander. Es bleibt die Tatsache, dass die
Resolution 1244 durch einen einseitigen Akt gefährdet
worden ist.
Zum zweiten Punkt. Die Resolution 1244 ist nicht
vom Sicherheitsrat der UNO aufgehoben worden. Deswegen gilt die Resolution 1244 fort. Das ist doch logisch. Nur der Sicherheitsrat kann seine Beschlüsse aufheben oder verändern. Das hat er nicht gemacht. Aber
der Kerngehalt der Aufgabe für KFOR, einen Übergangsstatus abzusichern, ist nicht mehr gegeben. Das
war unsere Argumentation.
Drittens. Ich habe mit großem Interesse und Vergnügen zur Kenntnis genommen, dass Kollege Guttenberg,
Kollege Stinner und andere die Bundesregierung aufgefordert haben, nachzubessern, was die völkerrechtliche
Argumentation angeht. Ich freue mich, dass Sie selber
einsehen, auf welch dünnem Eis Sie sich bewegen.
({1})
Ich bin ganz gespannt, was die Bundesregierung schließlich vorlegt. Erst wenn das geschehen ist, kann man sich
in der Substanz auseinandersetzen. Wir müssen das ja
nicht erst vor dem Verfassungsgericht austragen. Wenn
Sie sich der Richtigkeit Ihrer völkerrechtlichen Argumentation so sicher sind, dann geben Sie ein Gutachten
heraus! Damit kann man sich dann auseinandersetzen.
Letzter Punkt, damit das endlich einmal abgehakt ist:
Meine Fraktion, ich selber und wir alle haben nie etwas
mit Milošević am Hut gehabt.
({2})
- Nein, das haben wir nicht. - Ich finde es einfach unanständig, wenn man wider besseres Wissen immer wieder
versucht, diesen Vergleich zu ziehen. Milošević verantwortet in einem hohen Maße - das sei noch einmal deutlich unterstrichen - die Tragik des serbischen Volkes und
die Katastrophe in Jugoslawien. Aber auch diejenigen,
die zu einem Zeitpunkt, an dem alle es nicht wollten, gezündelt haben, um Jugoslawien aufzulösen - da schaue
ich auf die FDP -, tragen ebenfalls Verantwortung für
diese Situation.
Danke sehr.
({3})
Zur Erwiderung auf die Kurzintervention hat Jürgen
Trittin das Wort.
Lieber Kollege Gehrcke, Sie sollten einmal in Ihren
Antrag schauen. Sie zitieren in Ihrem Antrag die Bundesregierung:
Die Kräfte können eingesetzt werden, solange ein
Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
und ein entsprechender Beschluss des NATO-Rates
… vorliegen.
Auf der Rückseite Ihres Antrags schreiben Sie:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, von einer weiteren Beteiligung der Bundeswehr als Teil der K-FOR im Kosovo abzusehen,
solange nicht die im Beschluss des Bundestages …
genannten Voraussetzungen … vorliegen.
Das ist der Kern Ihrer Argumentation.
Warum diese Voraussetzungen nicht vorliegen, sagen
Sie in der Begründung Ihres Antrags: Mit der Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ist der
Sicherheitsratsresolution 1244 die Grundlage entzogen
worden. Sie bestätigen also genau das, was ich gesagt
habe. Sie haben gesagt, die Anerkennung der einseitigen
Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sei ein Verstoß
gegen die Schlussakte von Helsinki. Darüber, ob Sie da
recht haben oder nicht, habe ich jetzt gar nichts gesagt;
das habe ich im Raum stehen gelassen.
Ich habe nur eines gesagt: Wenn es so weit ist, dass
einseitige Verstöße gegen die Schlussakte von Helsinki
- nach unserer allgemeinen Auffassung also Verstöße
gegen das Völkerrecht - ausreichen, einer Sicherheitsratsresolution den Boden zu entziehen, dann muss ich
feststellen, dass ich ein ganz anderes Verständnis von
Völkerrecht habe. Das, was Sie behaupten, kann nicht
sein. Der Sicherheitsrat steht über solchen einseitigen,
unilateralen Aktionen. Solange der Sicherheitsrat als
Herr des Verfahrens seine Resolution nicht aufgehoben
hat, so lange gilt diese Resolution. Da nützt auch eine rabulistische Interpretation nach Sinn und Verstand gegen
den Wortlaut der Resolution, die Sie hier vorgelegt haben, gar nichts.
Nächste Bemerkung. Denken Sie bitte noch einmal
über Folgendes nach: Wie kommt es, dass Sie an dieser
Stelle das bestreiten, was Kernbestandteil der Argumentation sowohl einer wichtigen Kraft im Sicherheitsrat,
nämlich Russlands, als auch der Serben ist? Sie sagen,
diese Resolution gilt weiter, wir akzeptieren KFOR, wir
akzeptieren die Präsenz von UNMIK, und wir wollen,
dass diese Mission dort weiterhin präsent ist.
Ich bringe das nicht zusammen. Ich bezeichne Sie ja
nicht als fünfte Kolonne Moskaus. Ich habe nicht verstanden, warum jemand, der sich für die territoriale Integrität Serbiens starkmacht und sagt, da könne es nur eine
Loslösung im gegenseitigen Einvernehmen geben, ausgerechnet in dieser Frage das zentrale Argument der serbischen Seite - diese Resolution gilt weiter; nur das, was
darüber hinaus von Europa gemacht worden ist, ist von
Übel - nicht mitträgt. Darauf habe ich hingewiesen. Ich
finde, Sie sollten sich damit in einer stillen Stunde ganz
ruhig, ganz sachlich noch einmal auseinandersetzen.
Vielleicht haben die Serben doch recht?
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Für den Vorgesetzten in der Bundeswehr gilt die begrüßenswerte Verpflichtung, in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel zu geben. Dies klingt vielleicht ein wenig altväterlich; gleichwohl ist diese Bestimmung des
Soldatengesetzes eine Grundvoraussetzung, um persönliche und nicht nur formale Autorität zu erwerben. Im
Prinzip hat dieser Grundsatz in allen Lebensbereichen
Gültigkeit, in denen es darauf ankommt, zu überzeugen
und Menschen zu gewinnen.
Messe ich hieran nun die rechtswidrige Anerkennung
des Kosovo - unter Bruch der UN-Resolution 1244 - als
unabhängigen Staat durch die Bundesregierung, kann ich
nur konstatieren: Diese Regierung hat vollständig versagt. Vollständig! Sie gibt den Soldaten alles andere als
ein Beispiel. Mit der von der UNO nicht mandatierten
EULEX-Mission setzen Sie noch eins drauf. Sie wollen
erklärtermaßen Fakten vor Ort schaffen, damit UNMIK
ausgebremst werden kann. Das ist nichts anderes als eine
Nötigung des UNO-Generalsekretärs. Damit begeben
Sie sich auf das Niveau der derzeitigen Regierung in
Priština. Wie diese einzuschätzen ist, daran lässt die für
das BMVg erstellte Analyse vom Januar 2007 ja wohl
keinerlei Zweifel. Deren Überschrift könnte auch „Der
Mafiastaat“ lauten.
Ist Ihnen eigentlich klar, in welche Situation Sie die
KFOR-Soldaten der Bundeswehr gebracht haben, für deren Auftrag jetzt keinerlei Rechtsgrundlage und auch
kein gültiges Bundestagsmandat mehr existiert? Befehle
dürfen nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts
und der Gesetze erteilt werden. Sie dürfen nicht befolgt
werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. So
steht es in den §§ 10 und 11 des Soldatengesetzes. § 10
gilt auch für den Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, Herrn Minister Jung. Mit welcher Autorität und
Legitimität sollen denn unsere Soldaten einem rechtswidrig erteilten Auftrag nachkommen, und wie fühlen
sie sich wohl dabei, wenn sie damit rechnen müssen,
sich dereinst vor Gericht dafür verantworten zu müssen?
Dies ist keineswegs eine hypothetische Frage. KFOR
handelt bisher auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta der Vereinten Nationen, das bekanntlich militärische Zwangsmaßnahmen einschließt. Wir alle wissen,
dass es selbst unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung von Gewalt zu
schweren Körperverletzungen bis hin zu Todesfällen
kommen kann. Straffrei kann in diesem Zusammenhang
ein Soldat der KFOR nur ausgehen, wenn er auf einer
gesicherten Rechtsgrundlage gehandelt hat.
Bereits am 11. Mai, bei den serbischen Parlamentsund Gemeindewahlen, könnten sich also deutsche Soldaten im Norden des Kosovo strafbar machen, weil sie
dann unter Umständen aufgrund eines nicht mehr rechtsgültigen Mandates des Deutschen Bundestages tätig
werden. Die Verantwortung dafür liegt jedoch bei der
Bundesregierung und der Mehrheit dieses Parlaments.
Genau deswegen müssen die deutschen Soldaten abgezogen werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Ursula Mogg.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe jetzt die Ehre und das Vergnügen,
das letzte Wort zu haben. Zunächst gehe ich auf die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linken ein. Sie
haben es heute geschafft, zweimal sehr eindrucksvoll zu
belegen, dass Sie nicht dazu in der Lage sind, außenund sicherheitspolitische Verantwortung zu tragen.
({0})
Heute Morgen haben wir es bei der Diskussion über den
Lissabon-Vertrag erlebt, und Sie zeigen es gerade jetzt
einmal mehr bei der Frage der Stationierung deutscher
Soldaten im Kosovo.
Erlauben Sie mir bitte einen kurzen Rückblick auf die
Situation auf dem Balkan seit Mitte der 90er-Jahre, da
dieser Aspekt in der Debatte nur sehr verkürzt vorgekommen ist. Zunächst gab es eine äußerst schwierige
Menschenrechtssituation mit Vertreibungen, ethnischen
Säuberungen und Tausenden von Flüchtlingen. Ich erinnere mich daran, dass wir mit Unterstützung der Bundeswehr im Frühjahr 1999 ein Flüchtlingslager mit Zelten
für 42 000 Menschen aufgebaut haben, die nicht wussten, wohin sie aufgrund der Vertreibungspolitik von
Milošević gehen sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir
heute? Slowenien ist ein unabhängiger Staat und Mitglied der EU. Kroatien ist ein unabhängiger Staat, ist auf
dem Weg in die EU und hat die Karte für die Mitgliedschaft der NATO in der Hand. Montenegro ist unabhängig. Albanien hat eine Einladung bekommen, Mitglied
der NATO zu werden, Mazedonien leider noch nicht; das
ist aber nicht den Fähigkeiten Mazedoniens geschuldet,
sondern das hat, wie wir alle wissen, andere Gründe. Kosovo ist unabhängig, aber wir wissen, dass es noch einen
langen und steinigen Weg zurücklegen muss, bis es eine
nachhaltige Stabilität erreicht; das ist unbestritten. In
diesem Zusammenhang bedarf es auch des Hinweises,
dass wir weiterhin mit Serbien im Gespräch bleiben
müssen. Wir hatten gerade heute Nachmittag auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Gespräch mit dem
serbischen Außenminister. Da kamen auch all die Fragen
auf den Tisch, die sich darum drehen, was noch zu tun
ist.
Dies zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, dass Ihr Antrag nicht nur unwürdig, sondern
auch ausgesprochen statisch ist. Es handelt sich um eine
reine Betrachtung von Rechtsfragen. Viele Kolleginnen
und Kollegen haben dazu etwas gesagt. Ich möchte deshalb festhalten, dass Ihr Antrag ausgesprochen unpolitisch ist.
({1})
Trotzdem vielleicht noch einige kurze Anmerkungen
zu den völkerrechtlichen Fragen, auch wenn sie schon
angesprochen worden sind. Die UN-Resolution 1244
sagt nichts über den endgültigen Status des Kosovo. Das
sagt nicht nur dieses Parlament, das sagt nicht nur unsere
Regierung, das sagen auch namhafte Völkerrechtler.
Der Sicherheitsrat bleibt für die Friedenssicherung in
einer Region im Zweifel auch dann verantwortlich,
wenn sich eine angestrebte Übergangslösung nicht hat
erreichen lassen. Die Resolution 1244 hat die internationale Zivil- und Sicherheitspräsenz für eine sich immer
automatisch verlängernde Periode eingerichtet, soweit
der Sicherheitsrat nicht anders entscheidet. Das steht unter Ziffer 19 der Resolution. Im Original heißt es: „…unless the Security Council decides otherwise“. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass nur der UN-Sicherheitsrat
selbst der erwähnten Zivil- und Sicherheitspräsenz die
Legitimation entziehen kann.
({2})
Ich will nicht verschweigen, dass man auch anderer
Meinung sein kann. Auch dazu ist hier viel gesagt worden. Dass wir uns noch bessere Lösungen vorstellen
können, sei auch unbestritten.
Lassen Sie uns trotzdem den Versuch unternehmen,
gemeinsam das zu tun, was die Resolution 1244 von uns
fordert, nämlich an einer nachhaltigen Befriedung der
gesamten Region zu arbeiten. Dazu gehört, dass wir die
militärische Mission nicht zu einem Zeitpunkt beenden,
zu dem sie am meisten gebraucht wird. Das ist ganz sicher nicht im Interesse des Sicherheitsrates und nicht im
Interesse der Menschen im Kosovo. Vielleicht sehen
dies ja auch Russland und China so, sonst hätten sie dem
Sicherheitsrat vermutlich anderslautende Anträge vorgelegt.
({3})
Der Kollege Trittin hat ja in eine ähnliche Richtung argumentiert.
Lassen Sie uns - darum bitte ich Sie herzlich - gemeinsam an der Eröffnung von europäischen Perspektiven für den jungen europäischen Staat und seine Nachbarn arbeiten.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/8779
an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung vorgesehen sind. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht der Bundesregierung über
Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz
- Drucksache 16/8155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es ist vereinbart, hierüber eine halbe Stunde zu diskutieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Max Lehmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der vorliegende Dritte Bericht der
Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz betrachtet den Zeitraum ab der Vorlage des
zweiten Berichts im Juli 2001 bis zum Mai 2007. Das
Anfang dieses Jahres verabschiedete Vierte Gesetz zur
Änderung des Gentechnikgesetzes mit seinen Regelungen ist in diesem Bericht ausführlich beschrieben.
Nach dem Bericht ist auf allen drei Gebieten des Einsatzes der Biotechnologie, nämlich der Weißen, der Roten und der Grünen Gentechnik, ein enormes Wachstum
zu verzeichnen.
({0})
Im Jahre 2006 waren mehr als 14 000 Beschäftigte in
495 Firmen tätig, die sich wesentlich oder ausschließlich
mit dem Verfahren der Biotechnologie befassen. Heute
sind bereits 30 Prozent der jährlich neu eingeführten
pharmazeutischen Wirkstoffe gentechnischen Ursprungs. Gar 75 Prozent der Unternehmensgründungen
entfallen auf den Bereich der Roten Biotechnologie.
Deutschland bewegt sich bei der Zahl der Freisetzungsanträge im Bereich der Grünen Gentechnik im EU-Vergleich im oberen Drittel.
2007 wurden weltweit GVO von 12 Millionen Landwirten in 23 Ländern auf rund 115 Millionen Hektar
Ackerfläche angebaut. Das ist eine Steigerung innerhalb
eines Jahres, nämlich gegenüber 2006, um 12 Prozent.
Die EU-Länder zusammen haben inzwischen die
100 000-Hektar-Grenze überschritten. Schätzungen zufolge wird sich die weltweite Anbaufläche von GVO bis
2015 auf bis zu 200 Millionen Hektar ausdehnen.
Laut dem Bericht werden die einzelnen Bereiche der
Gentechnologie von der Bevölkerung sehr unterschiedlich bewertet. Während die gesellschaftliche Akzeptanz
bei der Roten Gentechnik, also dem Einsatz in der Medizin, sehr hoch ist, lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung
den Einsatz bei der Produktion von Lebensmitteln und in
der Landwirtschaft derzeit ab. Warum ist das so, meine
Damen und Herren? - Ich denke, es wäre Aufgabe der
Biotechnikindustrie, der Forschung, aber auch der Politik gewesen, die Menschen rechtzeitig über diese neue
Technologie zu informieren und aufzuklären, und zwar
objektiv und wissenschaftlich fundiert.
({1})
Dies wurde in der Vergangenheit eindeutig versäumt
und wird leider auch heute noch nicht ausreichend getan.
Stattdessen hat man das Feld den selbsterklärten Gegnern der Grünen Gentechnik überlassen. Die öffentliche
Meinungsbildung wird leider oft durch ideologische
Angstmacherei bestimmt und meist unter Missachtung
wissenschaftlicher Erkenntnisse betrieben. Hier rede ich
aus persönlicher Erfahrung in meiner Region.
({2})
Das ist auch der Hintergrund für die Ablehnung von
Freilandversuchen. Diese sind aber gerade für Fragen
der Sicherheit und für mögliche Auswirkungen auf die
Umwelt unverzichtbar. Ich danke in diesem Zusammenhang Herrn Bundesminister Seehofer ausdrücklich für
die deutliche Stellungnahme zu den gehäuften Feldzerstörungen. Sie ist heute in der Presse erschienen. Darin
hat er diese Zerstörungen ganz klar als inakzeptabel und
strafbar verurteilt.
({3})
Ich fordere Industrie und auch die amtlichen Fachstellen des Bundes und der Länder auf, eine sachliche Informationsarbeit zu leisten. Ich weiß, dass diese Institutionen seit vielen Jahren valide und hervorragende
wissenschaftsbasierte Daten haben. Es liegt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem
gesamten Forschungsbereich der Grünen Gentechnik
einschließlich der wichtigen sicherheitsrelevanten Fragestellungen vor, die dazu beitragen könnten, die oft
emotional begründeten Bedenken vieler Menschen zu
entkräften und einen sachlichen Umgang mit dieser, wie
ich meine, sehr erfolgversprechenden Technologie zu ermöglichen.
Aufklärung und wissenschaftlich basierte Informationen sind die Voraussetzung für einen angstfreien Umgang mit modernen, zugegebenermaßen komplexen
Technologien. Das gilt für alle Technologien, die in die
Zukunft gerichtet sind. Im Übrigen darf wohl auch darauf hingewiesen werden, dass bis heute weltweit kein
einziger Schadenfall aufgetreten ist.
({4})
Ich denke, das ist auch einem umfassenden Prüfungs-,
Kontroll- und Zulassungsverfahren geschuldet. Leider
ist festzustellen, dass viele Bürger gar nicht wissen, dass
vor einer Zulassung für die Freisetzung der Nachweis einer völligen Unbedenklichkeit in Bezug auf einen Schaden oder ein Sicherheitsrisiko für Mensch, Tier und Umwelt erbracht werden muss.
({5})
Für eine verantwortungsvolle Beurteilung einer neuen
Technologie müssen wir uns auch mit den Potenzialen
beschäftigen. Ich weiß, dass die Potenziale unterschiedlich beurteilt werden. Aber ich stütze mich hier auf eine
breite wissenschaftliche Übereinstimmung in Europa;
das kann man uneingeschränkt so sagen. Breite Wissenschaftskreise in Deutschland und Europa sprechen bei
der Biotechnologie von der Schlüsseltechnologie des
21. Jahrhunderts. Ich darf erinnern: Vor Einführung der
Roten Gentechnik hatten wir eine entsprechende Diskussion. Wer würde heute noch auf Insulin, Impfstoffe und
eine weitere große Zahl von modernen Medikamenten
verzichten wollen, die wir inzwischen selbstverständlich
nutzen?
Die Grüne Gentechnik bietet die Möglichkeit der Verbesserung von Pflanzeneigenschaften für die Produktion
von Lebensmitteln, Rohstoffen und Bioenergie. Ich
nenne als Stichworte: verbesserte Nährstoffgehalte, höhere Energiedichte bei Energiepflanzen, erhöhte Widerstandsfähigkeit gegen klimatischen Stress, Eignung für
wasserarme Standorte - gerade vor dem Hintergrund der
Klimaveränderungen ein sehr wichtiges Merkmal -, Widerstandsfähigkeit gegenüber Schädlingen und Krankheiten und damit die Möglichkeit der Vermeidung großer
Ertrags- und Qualitätsverluste.
Aber auch die ökologischen Vorteile sind zu nennen:
weniger chemischer Pflanzenschutz, geringerer Energiebedarf bei modernen Produktionsmethoden und mehr
Erosionsschutz. Insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Diskussion über die Welternährungssituation und
den enorm wachsenden Energiebedarf gewinnen die
Möglichkeiten dieser Technologie täglich an Bedeutung.
({6})
Die Pflanze als zentraler Organismus - ich arbeite seit
35 Jahren wissenschaftlich und praktisch mit Pflanzen wird damit mehr als bisher in den Fokus von ökologisch
ausgerichteter Nahrungs- und Energieerzeugung gerückt. Gerade Landwirte in Entwicklungs- und Schwellenländern profitieren - das wird oft negiert, obwohl es
stimmt - von den sozioökonomischen Vorteilen des Anbaus genveränderter Pflanzen in großem Maße.
({7})
Die Zuwachsrate lag hier - auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen - in 2007 bei 21 Prozent, gerade in
schwierig strukturierten Regionen, in Regionen mit ausDr. Max Lehmer
geprägter Kleinlandwirtestruktur. In Indien beispielsweise können die Landwirte, die Bt-Baumwolle anbauen
({8})
- lesen Sie es nach und regen Sie sich nicht auf; schauen
Sie sich die Fakten an -,
({9})
ihre Erträge um bis zu 50 Prozent steigern.
({10})
Wir haben uns mit indischen Landwirten ausgiebig darüber unterhalten. Ihr Einkommen liegt im Durchschnitt
um 250 US-Dollar höher als beim Anbau konventioneller Sorten. Die Zahlen in China sind ähnlich.
({11})
- Vielleicht gibt es auch sachlichere Kritik.
Bundesminister Seehofer hat in den vergangenen Tagen darauf hingewiesen: Die Weltbevölkerung wächst
jährlich um 80 Millionen Menschen.
({12})
Laut Welternährungsorganisation wird der Bedarf an Lebensmitteln bis 2030 um 60 Prozent steigen. Geradezu
dramatisch ist die Prognose, dass die verfügbare Anbaufläche für Nahrungs- und Energiepflanzen pro Erdenbürger sich bis zum Jahre 2040 exakt halbieren wird.
Wir können also gar nicht umhin, die Leistungsfähigkeit unserer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der
Landwirtschaft insgesamt entscheidend zu steigern.
Hierzu kann die Grüne Gentechnik nicht alles leisten,
aber einen wesentlichen Beitrag.
({13})
Die weltweite Entwicklung verläuft rasant. Wir müssen uns in Zukunft noch intensiver als bisher mit Pflanzenzüchtung und Pflanzenforschung beschäftigen, vor
allem um in einem so wichtigen Bereich nicht den Anschluss zu verlieren und damit abhängig von anderen
Ländern zu werden. Es ist geradezu ein Widersinn, gentechnisch veränderte Pflanzen hierzulande nicht verfüttern zu dürfen, das importierte Fleisch von derart gefütterten Tieren aber hier zu verspeisen.
({14})
- Hören Sie doch bitte zu!
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
Oft wird im Zusammenhang mit der Grünen Gentechnik vor der Gefahr einer Monopolisierung gewarnt.
Diese Tendenz ist nicht von der Hand zu weisen. Die
Frage ist nur, wie wir dieser Tendenz begegnen. Ich
meine, dass nur mit einer eigenen, starken nationalen
und staatlichen Forschung und einer konsequenten Unterstützung unserer überwiegend mittelständisch geprägten Pflanzenzucht in Deutschland dieser unerwünschten
Entwicklung entgegengewirkt werden kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Dr. Christel Happach-Kasan für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu meiner ganz großen Überraschung habe ich einen
Unterschied im Handeln von Minister Seehofer im Vergleich zu seiner Vorgängerin festgestellt. Er hat heute
ausdrücklich die Zerstörung von Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen verurteilt.
({0})
Er hat gesagt:
Solche Zerstörungen fremden Eigentums sind nicht
akzeptabel und als Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch strafbar.
({1})
Wo der Minister recht hat, hat er recht. Ich bedaure, dass
weder bei der SPD noch bei den Grünen, noch bei der
Linkspartei ein solches Verständnis von Rechtsstaat vorhanden ist.
({2})
Seiner Vorgängerin sind im Übrigen diese Worte nicht
über die Lippen gekommen.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht über
die Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz zeigt, dass
im Bereich der Weißen Biotechnologie entsprechend
dem Bericht „Innovationsstandort Deutschland - quo
vadis?“ Deutschland eine Führungsrolle einnimmt. Das
ist gut so.
({3})
Die Grüne Gentechnik nutzt dasselbe Züchtungsverfahren. Dennoch kämpft sie mit Akzeptanzproblemen in
der Gesellschaft und auch bei dem zuständigen Minister,
der jetzt immerhin dem widerrechtlichen Zerstören von
Feldern entgegentritt.
Heute war zu lesen: Wir brauchen die Revolution auf
dem Acker. - Das fordert Arend Oetker, der Präsident
des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Wir
brauchen eine neue grüne Revolution, sagt Professor
Joachim von Braun. Er ist Gründungsdirektor des Zentrums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn
und jetzt Direktor des International Food Policy Research Institutes in Washington. Dies ist ein führendes
Forschungs- und Beratungsinstitut, das auch von der
GTZ unterstützt wird. Er erinnert in seinem Beitrag daran, dass auch der grünen Revolution mit Widerstand begegnet wurde. Ich glaube, wir sollten auf diese Erfahrung zurückgreifen.
Die grüne Revolution hat viel erreicht. Wir sollten
uns daran erinnern. 1950 lebten etwa 2 Milliarden Menschen auf der Erde, fast die Hälfte hungerte. Heute leben
auf der Erde mehr als 6 Milliarden Menschen, über
860 Millionen Menschen hungern. Das sind zu viele,
aber weniger als 15 Prozent. Es werden 4 Milliarden
Menschen mehr ernährt als 1950. Wer will diesen Erfolg
kleinreden? Wer hat ein anderes Modell? Wer kann sagen, wie man es anders hätte besser machen können?
Niemand von Ihnen kann es. Ich finde es absolut zynisch, in welcher Weise Sie auf solche Zahlen reagieren.
({4})
- Frau Höhn, das gilt für Sie genauso.
({5})
Die Lebensmittelpreise sind weltweit dramatisch gestiegen. Die Ursachen sind unterschiedlich - das wissen
wir -: Missernten, beispielsweise infolge des Klimawandels, und teilweise die energetische Nutzung von Biomasse. Aber insbesondere ist der erhöhte Lebensstandard beispielsweise in China eine Ursache. Wir können
den Chinesen jedoch nicht sagen, beim Reis zu bleiben
und auf das Schnitzel zu verzichten. Sie werden mit dem
Finger auf unsere Teller zeigen. Wir müssen akzeptieren,
dass ihr Wohlstand auch ihre Ernährungsgewohnheiten
ändert. Das erhöht den Bedarf insbesondere an Futtermitteln.
({6})
Dies bedeutet, dass - wie es die FAO gefordert hat verstärkt in die Landwirtschaft und in die Züchtung investiert werden muss. Was in der Weißen Gentechnik gelungen ist, sollte auch in der Grünen Gentechnik gelingen. Kollege Lehmer hat die entsprechenden Zahlen hier
genannt. Wir haben in Deutschland eine gut aufgestellte
Grundlagenforschung in Instituten und in Unternehmen.
Sie könnte wichtige Beiträge leisten. Sie wird aber ausgebremst - so Arend Oetker - von gesellschaftlichen
Gruppierungen wie auch von dieser Regierung durch das
restriktive Gentechnikgesetz und durch das konkrete Regierungshandeln. Es gibt zahlreiche Beispiele, die ich
aber jetzt nicht aufführen möchte.
Minister Seehofer verurteilt die Zerstörung von gentechnisch veränderten Feldern.
({7})
- Ich habe das von Ihnen, Frau Drobinski-Weiß, noch
nie gehört.
({8})
Es gibt Gruppierungen in Deutschland, die das Standortregister als Einladung für solche Zerstörungen ansehen.
Deswegen müssen wir die Öffentlichkeit von der Kenntnis dieses Registers ausschließen.
({9})
Ansonsten können wir die Zerstörungen nicht verhindern. Es wäre ein Schritt zu einer glaubwürdigen Ausgestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die
Hightech-Strategie der Bundesregierung gewesen, hätte
sie sich von der Öffentlichkeit des Standortregisters verabschiedet.
Inzwischen haben zwei Universitäten vor dem Mob
kapituliert, der ihre Versuchsfelder zerstört hat.
({10})
Es ist ein einmaliger Vorgang, dass der Rektor einer
Universität seinem Bauchempfinden den Vorrang gibt
vor der Verteidigung der grundgesetzlich geschützten
Forschungsfreiheit; so geschehen in Nürtingen-Geislingen. Wo kommen wir hin, wenn die Straße bestimmt,
welche Forschung gemacht wird? Wozu ist das Recht
auf Forschungsfreiheit bei uns im Grundgesetz verankert?
({11})
- Ich überlege mir sehr gut, was ich sage. Ich habe mit
sehr vielen Gentechnikgegnern diskutiert und festgestellt, dass bei sehr vielen von ihnen schlicht keine
Grundkenntnisse der Biologie und Botanik vorhanden
sind.
({12})
In fast jedem Jahr diskutieren wir darüber, dass Mais
oder Reis geringfügige Spuren einer gentechnisch veränderten Sorte enthält, die in der EU nicht zugelassen ist.
Selbst wenn eine Sicherheitsprüfung der zuständigen
Behörden der USA vorliegt, fordert die in der EU geltende Nulltoleranz, dass diese Partien hier nicht verkauft
werden. Sie werden in der Regel vernichtet. Es geht dabei nicht um Sicherheit; es geht um Prinzipienreiterei.
Ich frage zum Abschluss: Ist das angesichts des Hungers in der Welt verantwortbar?
({13})
Entspricht diese Vorgehensweise dem Gebot christlicher
Nächstenliebe?
({14})
Müssen wir nicht dringend Schwellenwerte für solche
Beimengungen definieren, sodass das Vernichten hochwertiger Nahrungsmittel beendet wird? Ich weiß, dass
die Bevölkerung so empfindet. Schauen Sie sich die neuesten Umfragen an!
Frau Kollegin, wegen Ablaufs Ihrer Zeit müssen Sie
bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Die Menschen wollen nicht,
dass solche Lebensmittel vernichtet werden.
({0})
Darauf müssen wir reagieren.
({1})
Wir müssen uns in der EU für Schwellenwerte einsetzen,
damit so etwas nicht wieder passiert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitglieder der Arbeitsgruppe!
({0})
„Gentechnik macht nicht satt“, titelt heute die Süddeutsche Zeitung. Wir haben über dieses Thema gestern diskutiert, und nicht einmal die Biotechindustrie behauptet
mehr, sie könne das Welthungerproblem lösen.
({1})
Mir scheint, die Grüne Gentechnik, die einmal vorgab,
als Tiger zu starten, ist auf dem besten Wege, als Bettvorleger zu landen.
Bei Minister Seehofer möchte ich mich für die offenen Worte bedanken, die er am Wochenende und auch
gestern in der Ernährungsdebatte zur Rolle der Grünen
Gentechnik und zu den Interessen gewisser Saatgutgroßkonzerne gefunden hat. Ich erlaube mir allerdings, ein
Goethe-Zitat anzuschließen:
Es reicht nicht, zu wollen, man muss auch tun.
({2})
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass der von
Monsanto vorgelegte Beobachtungsplan für MON810
nicht ausreicht. Deshalb muss der Anbau ausgesetzt werden, bis ein effektiver Monitoringplan vorliegt.
({3})
Der dritte Bericht zum Gentechnikgesetz, über den
wir heute debattieren, basiert auf den vor der Novellierung des Gesetzes geltenden Regelungen. Im Bereich
Grüne Gentechnik sind die Erfahrungen recht dürftig.
Das liegt nicht nur daran, dass bisher nur der gentechnisch veränderte Mais MON810 in nennenswertem Umfang landwirtschaftlich genutzt wird, sondern das liegt
auch daran, dass wir vielleicht darüber nachdenken müssen, ob wir die passenden Instrumente haben, um wirklich alle relevanten Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten.
({4})
Der Bericht offenbart Handlungsbedarf. Unbefriedigend ist es zum Beispiel, dass mit den bisherigen Untersuchungen die wirtschaftliche Entwicklung bei der Grünen Gentechnik nicht bewertet werden kann, da diese
immer auf den gesamten Bereich der Biotechnologie abzielen; zu der Roten und der Weißen Gentechnologie
sind ja schon Ausführungen gemacht worden.
Sozioökonomische Daten werden derzeit überhaupt
nicht gesammelt, obwohl dies dringend nottäte.
({5})
Der Bedarf an einer Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Nutzens und der Kosten wurde bereits vor
zwei Jahren festgestellt, nämlich im Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag: „Grüne Gentechnik - transgene Pflanzen der 2. und
3. Generation“. So eine Analyse könnte die öffentliche
Debatte endlich auf eine sachliche Basis stellen, und sie
könnte dafür sorgen, angesichts knapper Kassen die finanziellen Mittel effektiv einzusetzen.
({6})
Auch das EU-Zulassungsverfahren für GVO-Pflanzen muss überarbeitet und um sozioökonomische Aspekte erweitert werden. Das Verfahren muss transparent
und demokratisch gestaltet werden. Es geht nicht nur um
die Unbedenklichkeit für Gesundheit und Umwelt, sondern es geht auch um die Möglichkeiten und Kosten der
Kontrolle neuer GVO-Konstrukte. Entscheidungen auf
ausschließlich naturwissenschaftlicher Basis blenden
politische bzw. demokratische Aspekte aus und tragen
wirtschaftlichen Auswirkungen, Akzeptanz und Kontrollmöglichkeiten kaum Rechnung. In diesem Sinne
werden wir uns für eine Überarbeitung einsetzen. Ein
transparentes und allgemein anerkanntes Zulassungsverfahren trägt nicht nur zu einer stärkeren Akzeptanz der
Grünen Gentechnik bei, sondern vermeidet auch jahrelange Diskussionen.
Ebenso wie an volkswirtschaftlichen Analysen mangelt es bisher an einem Biodiversitätsmonotoring für den
GVO-Anbau. Ein solches Monitoring ist einfach unverzichtbar. Als Gastgeber der Biodiversitätskonferenz im
nächsten Monat in Bonn sollten wir mit gutem Beispiel
vorangehen. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich bin sicher, dass wir unseren Koalitionspartner dabei an unserer Seite haben.
({7})
Ich zitiere:
Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen in
Flora und Fauna sind ein hochkomplexes System.
Die Erfahrungen im Natur- und Umweltschutz zeigen uns, dass Auswirkungen menschlicher Eingriffe oft erst nach erheblicher zeitlicher Verzögerung spürbar werden. Diese Erfahrung machen wir
z. B. lokal im Gewässerschutz und erleben wir global im Klimawandel. Viele Entscheidungen haben
den Charakter der Abwägung zwischen Chancen/
Nutzen und Risiken. Im Risikomanagement gilt: Je
höher die Risiken, umso größer die Vorsorge.
Das ist eine Passage aus der Presseerklärung des Kreisverbandes der CSU Traunstein vom 10. April 2008, die
ich zitiere, weil ich finde, dass sie die Problematik auf
den Punkt bringt.
({8})
Wir werden uns also gemeinsam für effektives Monitoring, für eine Überarbeitung der EU-Zulassungsverfahren und größtmögliche Vorsorge einsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Die Kollegin Kirsten Tackmann ist jetzt an der Reihe
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Solche Berichte wie der jetzt vorliegende
Dritte Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen
mit dem Gentechnikgesetz sind sicherlich sinnvoll. Sie
geben Regierung wie Parlament die Gelegenheit, noch
einmal über die tatsächlichen Wirkungen von politischen
Entscheidungen nachzudenken, sich mit der eigenen Argumentation auseinanderzusetzen, sie noch einmal zu
prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wenn man
feststellt, dass man sich geirrt oder unpräzise argumentiert hat.
So gesehen bin ich mit dem vorliegenden Bericht zufrieden; denn er begründet in vielen Passagen die kritischen Positionen der Linken zur Agro-Gentechnik. Andererseits ist er aber ein Beleg dafür, dass solche
Berichte sinnlos sind; denn er stellt Probleme fest, die
vorhersehbar waren und wahrscheinlich ungelöst bleiben, weil Einwände wenig Einfluss auf die politischen
Entscheidungen haben.
Ich fange mit etwas Positivem an: Auf Seite 16 geht
es um den Schwellenwert für gentechnische Verunreinigungen im Saatgut. Die Bundesregierung formuliert die
Absicht, einen möglichst niedrigen Schwellenwert für
gentechnische Verunreinigungen einzuführen. Das begrüßt die Linke. Null Toleranz ist uns gerade beim Saatgut besonders wichtig, weil ökologische Risiken und die
Ausbreitungsgefahr hier noch höher sind als beim Erntegut.
({0})
Deshalb gilt erst recht beim Saatgut: keine konzernfreundlichen Kompromisse.
({1})
Der Vorsorgegedanke muss Vorrang vor allen ökonomischen Interessen haben. Deshalb muss der Schwellenwert mit der technisch möglichen Nachweisgrenze identisch sein. Das bedeutet, dass gentechnikfreies Saatgut
auch wirklich kein gentechnisch verändertes Material
enthält. Die Kosten für diese Untersuchung auf Gentechnikfreiheit dürfen natürlich nicht der gentechnikfrei produzierenden Landwirtschaft aufgehalst werden.
({2})
Ein Fonds der Agro-Gentechnik-Konzerne zum Risikoausgleich wäre nach dem Verursacherprinzip aus unserer
Sicht mehr als gerechtfertigt.
Auf den Seiten 20 bis 22 beschäftigt sich der Bericht
mit der Arbeit der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit. Hier gilt unsere Kritik vor allen Dingen
der Zusammensetzung der Kommission. Uns ist die Vertretung der Interessen der gentechnikfrei produzierenden
Landwirtschaft besonders wichtig. Sie vertritt nämlich
die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die der Agro-Gentechnik entweder kritisch gegenübersteht oder sie ablehnt.
Das gilt auch für die Umwelt- und Verbraucherverbände und für die Imkereien. Ihre Position muss aus unserer Sicht in einem breiten gesellschaftlichen Dialog
viel größeres Gewicht bekommen. In der Diskussion
über potenzielle Risiken muss diese Stimme viel deutlicher zu hören sein.
Verwundert hat mich folgender Befund des Berichts:
Zwischen 2001 und 2007 wurden fast 60 Prozent der
Freisetzungsanträge von staatlichen Einrichtungen und
Universitäten gestellt. - Ich möchte zumindest die Frage
in den Raum werfen, ob dieser Umfang des Engagements staatlicher Einrichtungen wirklich in jedem Fall
durch gesellschaftliches Interesse gedeckt ist. Oder: In
welchem Maße werden so Töpfe mit Forschungsgeldern
im Interesse der Saatgutkonzerne gefüllt? Wie werden in
solchen Fällen eigentlich die Objektivität und die Unabhängigkeit der Forschung gesichert?
Besonders spannend wird es auf Seite 27. Dort heißt
es - Zitat -:
Zugleich ist aber anzuerkennen, dass die vollständige Verhinderung der Auskreuzung aus Freisetzungsflächen praktisch nicht möglich ist.
Ich würde dem Ministerium für diese ungewohnte Offenheit gerne ein Lob aussprechen; denn das ist genau
unsere Position. Aber Minister Seehofer betont immer
weiter, unablässig, eine Koexistenz, also der störungsfreie parallele Anbau von gentechnisch veränderten
Pflanzen und gentechnisch nicht veränderten Pflanzen,
sei möglich, wenn man nur bestimmte Abstände einhält.
Dabei ist längst klar, dass die Vielzahl der Ausbreitungswege, die das gentechnisch veränderte Pflanzengut nehmen kann, überhaupt nicht kontrollierbar ist. Das wird
auch im Bericht eingeräumt.
Was die fehlenden Konsequenzen angeht, geht es aber
noch weiter. Offensichtlich haben die Bundesländer auf
Probleme bei der Umsetzung des sogenannten vereinfachten Verfahrens aufmerksam gemacht. Auch hier
werden aber keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil, mit dem neuen Gesetz werden sie sogar noch verschärft.
Auf Seite 36 geht es um in der EU nicht zugelassene
genetisch veränderte Pflanzen. Treffend wird die Nulltoleranz für Verunreinigungen mit solchen Pflanzen im
Bericht als - Zitat - „Importverbot für die betreffende
Lieferung“ bezeichnet. Wir finden, das ist genau richtig,
weil das eine Risikovorsorge ist.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme sofort zum Ende.
Im Hinblick auf die Rede meines Kollegen Lehmer
möchte ich noch darauf hinweisen, dass gerade der Weltagrarrat, als er die Welternährungsprobleme behandelt
hat, festgestellt hat: Diese Probleme können durch die
Agro-Gentechnik nicht gelöst werden.
({0})
Er hat sich zur Agro-Gentechnik sehr kritisch geäußert.
Frau Kollegin!
Ich finde, auch diese Tatsache muss man zur Kenntnis
nehmen.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt spricht Bärbel Höhn für das Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden heute über den Dritten Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz.
Eines ist in der Rede von Herrn Lehmer deutlich geworden - das geht aber auch aus dem Bericht der Bundesregierung hervor -: Die CDU/CSU treibt die Gentechnik
in der Landwirtschaft gegen den Willen der Menschen in
diesem Land voran. - Das ist nicht in Ordnung.
({0})
Da hilft es auch nicht, dass sich der Minister seit einiger Zeit kritisch zur Gentechnik äußert. Vielleicht hat er
sogar seine persönliche Meinung geändert; das mag sein.
Entscheidend ist aber, was er für eine Politik macht.
Seine Politik hat sich überhaupt nicht geändert.
({1})
Er bereitet der Gentechnik den Weg. Das ist das Problem, meine Damen und Herren.
({2})
Genau diese Politik hat Minister Seehofer in der
Presse den Spitznamen „Genhofer“ eingebracht. Vielleicht ist er wider Willen ein „Genhofer“. Dennoch ist er
ein „Genhofer“, weil er diese Politik macht. Deshalb
werden wir ihn weiter kritisieren.
({3})
Sehen wir uns einmal die Zahlen an: Im Jahre 2004,
dem letzten vollen Regierungsjahr von Rot-Grün, wurden an 13 Orten in Deutschland gentechnisch veränderte
Pflanzen freigesetzt. Diese Zahl ist mittlerweile dramatisch nach oben geschossen. 2007 fanden schon
68 Freisetzungsversuche statt.
(Peter Bleser ({4}): Ja! Dazu stehen
wir auch!
Das ist die Folge der Politik von Seehofer. Das ist nicht
gut.
({5})
Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Gentechnikanbau wird immer größer, und zwar zu Recht. Die
Zahl der Einwendungen ist seit 2005 dramatisch gestiegen.
({6})
Sie hat sich von 2 000 auf 11 000 mehr als verfünffacht.
({7})
Es gilt aber Folgendes, Frau Happach-Kasan: Es
stimmt nicht, dass die Zahl der Zerstörungen zugenommen hat. Insbesondere nach der Einführung des Standortregisters, die unter Rot-Grün stattgefunden hat, ist sie
zurückgegangen. Betrug die Zahl der Zerstörungen in
den Jahren 1999 und 2000 noch 15 bzw. 19, so ist sie
nach Einführung des Standortregisters auf weniger als 5
zurückgegangen. Das sollten Sie endlich zur Kenntnis
nehmen!
({8})
Dass es Widerstand aus der Bevölkerung gibt, liegt auch
daran, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die
Gentechnik schleichend eingeführt wird; so wird es ja
gemacht: immer ein bisschen mehr. Renate Künast hat
sich gegen die Einführung von MON 810 - das war der
erste Genmais, der hier in wirtschaftlichem Maßstab angebaut werden sollte - immer gewehrt. Minister Seehofer hat einen schweren Fehler gemacht, als er die Tür
dazu geöffnet hat. 2006 wurde auf 1 000 Hektar Genmais angebaut. 2007 waren es schon fast 3 000 Hektar.
2008 wird es wahrscheinlich eine Steigerung um
70 Prozent geben.
({9})
Es gibt eine Möglichkeit, das zu verhindern - andere
Länder machen es vor -: Frankreich verbietet MON 810,
Polen verbietet MON 810, Österreich verbietet MON 810.
Wir in Deutschland täten gut daran, MON 810 ebenfalls
zu verbieten.
({10})
Schauen wir uns Seehofers Heimat Bayern an: Im
Großraum Würzburg wird auf 90 Hektar Genmais angebaut, in Kitzingen werden neue Genmaissorten freigesetzt. Ich finde es interessant, was Minister Seehofer im
Kampf um den CSU-Vorsitz gesagt hat: Er hat den Bürgern in Bayern geschrieben, er stehe dem Genmaisanbau
mit Zurückhaltung gegenüber, er bezweifle seine Sinnhaftigkeit, und es bestehe Anlass zur Sorge, dass insbesondere in Gebieten mit einer klein strukturierten Landwirtschaft wie in Bayern der Anbau von gentechnisch
veränderten Pflanzen zu einer Beeinträchtigung der übrigen Landwirtschaft führt.
Der Minister lässt die Landwirte im Stich, lässt die
Verbraucher im Stich, lässt die Menschen vor Ort, die
sich gegen den Anbau von Genmais zu Recht wehren,
im Stich. Das ist nicht gut.
({11})
Gerade deshalb ist es zynisch, wenn jetzt Kauder - der
Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU - oder HappachKasan
({12})
für die Gentechnik mit dem Argument werben, mit ihr
könne man den Hunger auf dieser Erde in den Griff bekommen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren:
Durch Monsanto werden die Bauern in mehr Abhängigkeit getrieben.
({13})
Gentechnik ist kein Mittel gegen den Hunger; Gentechnik verschärft das Problem des Hungers.
({14})
Gehen Sie deshalb in sich, meine Damen und Herren!
Schauen Sie, was die Bevölkerung in Bayern will: Sie
will keine Gentechnik. Entsprechend sollten Sie Politik
machen! Momentan bewegen Sie sich in die falsche
Richtung.
Vielen Dank.
({15})
Matthias Miersch spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Mitglied des Rechtsausschusses will ich das Thema
von einer anderen Seite beleuchten. Wir Juristen neigen
ja zur Nüchternheit; Frau Happach-Kasan, ich kann Ihnen allerdings sagen, dass Ihr Redebeitrag meinen Puls
durchaus erhöht hat.
({0})
Das Niveau, das Sie an den Tag gelegt haben, ist einer
Debatte im Deutschen Bundestag nicht würdig.
({1})
Dem politischen Gegner zu unterstellen, dass er nicht
auf dem Boden des Rechtsstaates steht, ist ein starkes
Stück; ich weise das für meine Fraktion in aller Entschiedenheit zurück.
({2})
Liebe Frau Happach-Kasan, Sie haben schon bei Ihrer
letzten Rede einen Fehlgriff gemacht, als Sie versucht
haben, den Träger des Alternativen Nobelpreises zu kriminalisieren. Auch das zeigt, wie Sie argumentieren.
Schauen wir uns doch die Fakten an! Dann stellen wir
fest: Die blühenden Landschaften, die heilbringenden
Saatgutkonzerne, von denen Sie sprechen, gibt es nicht.
Wenn wir auf andere Kontinente, auf andere Länder blicken, können wir sehen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Minister Seehofer hat in seiner Analyse dezidiert nicht
nur von der Macht der Saatgutkonzerne gesprochen,
sondern auch von den Erpressungsversuchen und davon,
dass zum Beispiel in den USA ein einziger Konzern nahezu das gesamte Saatgutgeschäft beherrscht, und er hat
von der Vernichtung kleinbäuerlicher Existenzen gesprochen. Sie sollten in Ihrer Fraktion noch einmal ausführlich darüber diskutieren.
({3})
Herr Kollege, Frau Happach-Kasan würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, Frau Kollegin Happach-Kasan. Wenn Sie sich
hier am Ende für Ihren Ausspruch entschuldigen, dann
lasse ich zukünftig gerne wieder Zwischenfragen von Ihnen zu. Dies machen wir aber nicht mit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist
sinnvoll, das zu betrachten, was wir in den einzelnen
Ländern, in denen GVO konventionell angebaut wird,
feststellen können: Das Saatgut ist extrem teuer. Das Urrecht der Landwirtschaft, die Wiederverwendung des
Saatgutes, der sogenannte Nachbau, wird elementar beschnitten, was gerade für Kleinbauern in Staaten der
Dritten Welt teilweise existenzvernichtend ist, was man
daran sieht, dass es beispielsweise in Indien eine durchaus nicht geringe Selbstmordquote gibt.
({0})
- Sehr wohl deswegen. Wir können uns darüber durchaus auch einmal intensiver austauschen.
({1})
Wir stellen ferner fest, dass diese Saatgutkonzerne daran forschen, die Pflanzen so zu verändern, dass sie nicht
mehr reproduzierbar sind und dass Landwirte darauf angewiesen sind, jedes Jahr wieder neues Saatgut zu kaufen. Daneben stellen wir fest, dass die Abhängigkeit von
der Saatgutindustrie, dem Pflanzmitteleinsatz und allem,
was daranhängt, zunimmt, weil weltweit eben nur wenige Konzerne diesen Bereich beherrschen.
Lieber Kollege Lehmer,
({2})
zum Abschluss noch eine Bemerkung, weil ich nicht viel
Redezeit habe. Schauen Sie sich an, welches Werkzeug
der Gentechnikindustrie zur Verfügung steht - das sage
ich als Jurist -, nämlich das Patentrecht, das viel weitergehender als der nationale bzw. der europäische Sortenschutz ist. Ich glaube, wir müssen uns auch in dieser
Großen Koalition noch einmal überlegen, ob wir wirkungsvoll etwas dagegen tun können.
({3})
Wenn wir uns anschauen, welche Verfahren beispielsweise vor dem Europäischen Patentamt anhängig sind
- ich nenne das Stichwort Brokkoli-Patent -, dann stellen wir fest, dass diese Industrie immer weiter danach
strebt, das zu verwirklichen, was ein Konzernsprecher
einmal so formuliert hat: Wir wollen die Ernährung der
Bevölkerung vom Ackerbau bis zum Tellerrand steuern. Dies muss im Sinne der Landwirtschaft und im Sinne
der Verbraucherinnen und Verbraucher verhindert werden.
({4})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch des Kollegen Lehmer, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Lehmer, selbstverständlich.
Würden Sie zum Ersten bitte attestieren, dass in der
vorliegenden Biopatentrichtlinie genau zwischen einer
Erfindung aufgrund einer Erkenntnis aus der Natur und
einer Entdeckung getrennt wird? Wir haben das über das
BMBF nachprüfen lassen. Ich habe den Antrag gestellt,
dass das noch einmal festgestellt wird. Würden Sie bitte
den Unterschied, der in der jetzt gültigen Biopatentrichtlinie festgelegt ist, attestieren?
Würden Sie zum Zweiten attestieren, dass schon jetzt
ein Nachbau nur unter besonderen Regeln gemäß dem
deutschen Saatgutverkehrsgesetz und der Züchterverordnung möglich ist? Würden Sie bitte auch bestätigen, dass
hierdurch das geistige Eigentum geschützt ist, dass jeder
Nachbau einer Regelung unterliegt und dass das nichts
mit einer Monopolisierung zu tun hat?
Sehr verehrter Herr Kollege Lehmer, Sie haben mir
freundlicherweise meine Redezeit verlängert.
Zum Ersten. Der Nachbau wird nicht durch das Saatgutverkehrsgesetz beschränkt, sondern durch das deutsche Sortenschutzgesetz bzw. das europäische Sortenschutzrecht.
({0})
Das steht in dem Kontext, über den wir hier reden. Ich
meine die ewige Erweiterung der Züchterrechte, die
dazu führt, dass beispielsweise das Landwirteprivileg,
das jahrhundertlang unbeschränkt galt, im Jahre 1991
durch ein internationales Übereinkommen erstmalig eingeschränkt wurde.
Die Gentechnik geht aber einen Schritt weiter. Es
wird nämlich gesagt, dass es nicht mehr erlaubnisfrei ist,
Nachbau zu betreiben, sondern man darf das letztlich
nicht mehr. Schauen Sie sich die Anbauverträge an. Hier
können wir, so glaube ich, nicht mehr von einfachen
Verträgen sprechen, sondern das sind Knebelungsverträge. Das ist jedenfalls meine Würdigung.
Zum zweiten von Ihnen angesprochenen Punkt, zur
Trennschärfe. Schauen wir uns die Verfahren beim Europäischen und beim Deutschen Patentamt an. Hinsichtlich
der Patentierbarkeit dieser Pflanzen hat die von Ihnen
beschriebene Trennschärfe aus meiner Sicht keine Gültigkeit.
({1})
- Hier geht es um Recht und um Rechtsauslegung. Wenn
Sie die Verfahren betrachten, dann werden Sie feststellen, dass sich das, was Sie im Moment als Wahrheit vor
sich hertreiben, in der Praxis der Patentierbarkeit bzw.
der Patentabgabe gerade nicht widerspiegelt. Insofern
glaube ich, dass wir alle gut beraten sind, wenn wir uns
noch einmal sehr genau mit dem Feld befassen. Der
Grundsatz „Keine Patente auf Leben“ muss in Deutschland und in Europa gelten.
({2})
Das war eigentlich schon fast ein schönes Schlusswort, Herr Kollege.
Ja, Frau Präsidentin, aber ich möchte dem Kollegen
Lehmer abschließend noch eines mit auf den Weg geben,
weil er mich so freundlich gefragt hat. Er hat festgestellt,
dass häufig mangelnde Aufklärung eine Rolle spielt. Ich
habe neulich bei einem Besuch in Ihrem Wahlkreis festgestellt, dass eine sehr aktive Bauernschaft gerade für
gentechnikfreie Regionen kämpft. Gerade im Freistaat
Bayern ist mit die größte Zahl gentechnikfreier Regionen zu finden.
All den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, zu
unterstellen, dass sie sich nicht richtig informiert haben,
bevor sie sich für eine gentechnikfreie Region ausgesprochen haben, finde ich nicht richtig. Wie ich die Menschen in Ihrem Wahlkreis erlebt habe, hätten sie, glaube
ich, verdient, dass auch Sie die Argumente sehr sorgsam
abwägen. Wenn uns das gelingt, dann schaffen wir auch
die nächsten Schritte. Wir haben in diesem Bereich noch
sehr viel zu tun, und ich glaube, wir sollten das gemeinsam angehen im Sinne der Landwirtschaft, und zwar
hoffentlich einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die
wir hier und in den Ländern der Dritten Welt dringend
brauchen.
Danke.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Happach-Kasan.
Verehrter Kollege Miersch, ich hätte von einem Juristen - Sie haben betont, dass Sie Jurist sind - schon erwartet, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass man
die Macht von Konzernen in aller Regel über das Kartellrecht begrenzt statt über das Verbot einer Züchtungsmethode oder ihrer Schikanierung.
Ich hätte von Ihnen auch erwartet, Herr Kollege
Miersch, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass die
Biopatentrichtlinie beschlossen ist. Die Tatsache, dass
inzwischen auch Pflanzensorten unter das Patentrecht
fallen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir in Europa
schlicht nicht schnell genug waren.
Auch ich bin der Meinung, dass unser deutsches Sortenschutzrecht ein sehr viel besseres Instrument für die
Zulassung von Sorten, Genehmigungsverfahren und
Ähnliches wäre. Wir müssen aber feststellen, dass ein
Unternehmen in den USA, wo es kein entsprechend gutes Sortenschutzrecht gibt, den Weg des Patentrechts beschritten hat. Wir müssen uns dem beugen, weil wir dem
nichts entgegenzusetzen haben. Wir werden das Patentrecht in der Beziehung nicht aushebeln können.
Im Übrigen wissen Sie, dass das Patentrecht nichts
anderes ist als der Schutz geistigen Eigentums. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass die SPD auf einmal nicht mehr
für den Schutz des geistigen Eigentums eintritt.
Ich möchte Ihnen außerdem empfehlen, die Universität Hohenheim zu besuchen und mit Professor Martin
Qaim zu sprechen, der in verschiedenen Erdteilen untersucht hat, wer davon profitiert, dass eine Sorte einen höheren Ertrag erbringt. Er hat festgestellt, dass dies auf
den einzelnen Erdteilen unterschiedlich ist, dass aber immer ein Teil des Mehrwertes den Landwirten zugute
kommt. Insofern sind diese Sorten erfolgreich, sodass inzwischen auf 114 Millionen Hektar von 12 Millionen
Landwirten weltweit gentechnisch veränderte Sorten angebaut werden. Allein diese Zahlen machen deutlich,
dass das nicht alles Großbauern sind.
Ich finde es nett, dass Sie sich für die kleinbäuerliche
Landwirtschaft einsetzen, aber wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland nur noch an
wenigen Orten kleinbäuerliche Landwirtschaft gibt. Wir
haben eine bäuerliche Landwirtschaft, je nach Ausbildungsgrad dieser Landwirte. In Schleswig-Holstein zum
Beispiel gibt es sehr gut ausgebildete Landwirte, die
auch den entsprechenden wirtschaftlichen Erfolg haben,
den wir allen unseren Landwirten wünschen.
Von daher sollte man die Vision kleinstbäuerlicher
Betriebe à la 19. Jahrhundert nicht zurückbeschwören.
Diese können nämlich den Aufgaben der Welternährung
nicht gerecht werden.
Danke schön.
({0})
Herr Miersch hat das Wort zur Antwort.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
- Das dauert nicht lange, weil ich nicht in ein juristisches Proseminar mit Ihnen einsteige, liebe Kollegin
Happach-Kasan. Aber gestatten Sie mir den Hinweis,
dass man im internationalen Verkehr bzw. auch in den
nationalen Regelungen feststellen kann, dass das Kartellrecht kein ausreichendes Instrumentarium bietet.
({0})
Wenn Sie sich die Rechtsprechung bei der WTO zum
Import von gentechnisch verändertem Material nach
Europa anschauen, dann sehen Sie, dass die Regelmechanismen nicht ausreichend sind. Der Minister hat
- aus meiner Sicht: zu Recht - angeprangert, dass sich
hier ein elementares Mittel der Menschheit, nämlich die
Nahrung, in den Händen weniger befindet. Wir sind aufgerufen, dem Einhalt zu gebieten.
Sie haben mir unterstellt, dass ich mich beispielsweise mit den Züchtungsbetrieben nicht auseinandergesetzt habe. Ich befasse mich damit seit neun Jahren in
meiner beruflichen Praxis und stelle fest, dass es hier
große Meinungsunterschiede innerhalb der Züchtungsindustrie gibt. Viele mittelständische Züchter sehen in der
Gentechnologie ein großes Risiko für ihre Existenz. Ich
finde, gerade Sie sind als Vertreterin der FDP dazu aufgerufen, sich die Struktur der Züchtungsindustrie in
Deutschland sehr genau anzuschauen. Wollen Sie tatsächlich auf das Feld der Gentechnik setzen, auf dem
sich augenblicklich weltweit nur wenige Großbetriebe
tummeln?
Der letzte Punkt, den Sie angesprochen haben, betrifft
die Kleinbauern. Die Kleinbauernfrage ist sicherlich von
elementarer Bedeutung für die Entwicklungsländer; das
wollte ich zum Ausdruck bringen. Im Übrigen wünsche
ich mir, dass wir in Deutschland eine viel stärker bäuerlich geprägte Landwirtschaft bekommen, keine kleinbäuerliche, aber wieder eine bäuerliche; denn ich glaube,
dass dann das Verhältnis zwischen Verbraucher und bäuerlichem Betrieb viel intensiver wird. Das wäre ein
Schritt hin zu mehr Nachhaltigkeit und Transparenz bei
den Produkten. Man könnte leichter erkennen, was angebaut wird. Mir ging es bei den Kleinbauern tatsächlich
um die Landwirte in den Entwicklungsländern. Schauen
Sie sich die Länder an, in denen konventionell GVO angebaut werden! Sie werden feststellen, dass genau die
Struktur, die der Weltagrarrat als Lösung der Hungersnot
gefordert hat, durch die Gentechnikindustrie zerstört
wird.
({1})
Die Aussprache ist geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8155 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich komme jetzt zu den Tagesordnungspunkten 14 a
und 14 b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Gewährleistung angemessener Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland
beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ({0})
- Drucksache 16/8758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Gerhard Schick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ({2})
- Drucksache 16/8757 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege
Gerald Weiß, die Kollegin Anette Kramme, der Kollege
Dirk Niebel, der Kollege Werner Dreibus und die Kolle-
gin Brigitte Pothmer.1)
Hier wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den
Drucksachen 16/8758 und 16/8757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Rechtsausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über das Verbot der Einfuhr, der
Verarbeitung und des Inverkehrbringens von
Robbenerzeugnissen ({4})
- Drucksache 16/8868 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 7
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben die Kol-
leginnen und Kollegen Peter Jahr, Wilhelm Priesmeier,
Mechthild Rawert, Christoph Pries, Hans-Michael Gold-
mann, Eva Bulling-Schröter und Cornelia Behm.1)
Hier wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 16/8868 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
16 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gesundheit in Entwicklungsländern
- Drucksachen 16/3209, 16/5378 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands globale Verantwortung für die
Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern
- Drucksache 16/8884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
wobei vorgesehen ist, dass die FDP sechs Minuten erhält. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Karl Addicks für die FDP-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen
heute Abend über Gesundheit in Entwicklungsländern.
Dazu haben wir, die FDP-Fraktion, Ende 2006 - da war
die Legislaturperiode noch relativ jung - eine Große An-
frage gestellt. Die Antwort der Bundesregierung haben
wir im Mai 2007 erhalten, mit Zahlen aus dem Jahr
2005. Heute - etwa anderthalb Jahre, nachdem wir die
Anfrage gestellt haben - sprechen wir zu einer späten
1) Anlage 8
Tageszeit über diesen sehr wichtigen Punkt in der Entwicklungszusammenarbeit mit unseren Partnerländern,
und das, obwohl in dieser Woche der Weltmalariatag
stattfindet. Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn wir
darüber zu einer Tageszeit debattiert hätten, zu der man
ein bisschen mehr öffentliche Aufmerksamkeit erweckt;
Phoenix sendet leider nur bis 18 Uhr. Wenn wir früher
debattiert hätten, wäre das der Bedeutung, die diesem
Thema zukommt, besser gerecht geworden.
({0})
- Nein, das haben wir nie gesagt. Sie haben das gefordert; aber wir halten das Thema für wichtig genug, um es
eben nicht zu Protokoll zu geben.
Herr Raabe, gut, dass Sie mich gerade ansprechen.
Gestern haben Sie sich anlässlich der Aktuellen Stunde
hier noch einmal heftig darüber beklagt, dass wir andauernd darauf herumreiten, dass die Gründung eines Unterausschusses gescheitert ist. Ob es Ihnen Verdruss bereitet oder nicht: Ich werde noch einmal darauf
herumreiten; gestern wären mir nämlich fast die Tränen
gekommen. Ich bin wirklich der Auffassung, dass die
Gründung eines Unterausschusses ein sehr wichtiges
und richtiges Signal gewesen wäre.
({1})
Ich denke, als Abgeordneter hätten Sie die Pflicht gehabt, zu kritisieren, dass Ihr Fraktionskollege Scholz und
Kollege Röttgen die Gründung dieses Unterausschusses
mit einem Federstrich zunichte gemacht haben.
({2})
Zu meinem Bedauern haben Sie gestern noch einmal
das Argument vorgebracht, es gebe schon so viele Unterausschüsse. Wissen Sie, ich rufe die Feuerwehr, wenn es
brennt; ich sage nicht nur: Da hinten brennt es ja auch,
und da ist ja schon die Feuerwehr. Ich bin der Auffassung: Man muss die Feuerwehr immer dann rufen, wenn
es gerade brennt. Was das Thema Gesundheit in Entwicklungsländern anbelangt, brennt es, wie ich meine,
ganz schön.
So sind wertvolle Jahre vergangen, in denen wir deutlich mehr hätten tun können. Die Legislaturperiode ist
schon wieder angegraut; wir bewegen uns schon wieder
langsam auf Wahlkampfzeiten zu. Ich spreche Sie als
Abgeordneten an: Wir müssen deutlich souveräner werden. Wer ist denn der Vertreter des Souveräns: wir oder
die Bundesregierung?
({3})
Lassen Sie mich zum Thema zurückkommen. Wir
alle wissen, dass Entwicklung ohne Gesundheit nicht
möglich ist.
({4})
- Ja, ich komme darauf zurück; das ist heute Abend unser Thema.
({5})
Wir kennen den Teufelskreis aus Arbeit und Krankheit: Krankheit macht arm, und Armut macht krank; das
haben eigentlich alle erkannt. Deswegen beziehen sich
drei von acht der Millennium Development Goals auf
die Gesundheit. Damit kommt sehr gut zum Ausdruck,
wie wichtig dieses Thema ist.
Lassen Sie mich im Folgenden kurz auf die Antworten auf die Anfrage eingehen. Wenn man die Antworten
durchliest, dann denkt man: Es gibt überhaupt keine Probleme; die Bundesregierung eilt von einem Erfolg zum
anderen, sie hat alles richtig gemacht, Malaria, Aids und
Tuberkulose sind unter Kontrolle. An manchen Stellen
scheint aber durch, dass wir nicht so weit sind, wie wir
kommen wollten: Bis 2015 erreichen wir keines der
MDGs; Gott sei Dank ist das inzwischen hinreichend bekannt.
Ich möchte eine Frage im Detail ansprechen. Wir hatten nach Veränderungen bei der Zahl der Infektionen mit
Aids, Malaria, Tuberkulose und Parasitosen gefragt. Die
Bundesregierung geht nur auf die drei großen Krankheiten ein; das finde ich nett. Gestatten Sie mir, ein wenig
fachlich zu sprechen: Die Parasitosen werden nach meiner Ansicht grob unterschätzt; Kollege Wodarg wird sich
meiner Meinung sicherlich anschließen. Auch im gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD werden die
Parasitosen angesprochen. Wurmerkrankungen, Amöbenerkrankungen und andere parasitäre Erkrankungen
sind vor allen Dingen für die Kinder in den Entwicklungsländern eine ganz schlimme Sache; sie sind zusammen mit Aids und Malaria die Haupttodesursache bei
Kindern.
Ich möchte diesen Punkt verlassen und mich einem anderen Thema zuwenden. Wir haben heute Morgen - Frau
Groneberg ist nicht da - über ein weiteres wichtiges
Thema bei der GTZ gesprochen: sanitäre Hygiene in den
Entwicklungsländern. Ich wünsche mir, dass wir dazu
demnächst auch einmal ein Expertengespräch im Ausschuss führen, so wie das, das wir gestern mit Herrn
Kilian über Malaria geführt haben. Das fand ich richtig
toll und informativ. Ich wünsche mir, dass wir viel öfter
solche Expertengespräche anstatt der ewig langen Anhörungen durchführen, für die wir zweieinhalb bis drei
Stunden brauchen. Ich halte die Expertengespräche für
effektiver.
Wir haben in der Anfrage auch nach dem Golden Rice
gefragt. Wir haben gerade eine sehr interessante Debatte
zur Grünen Gentechnik gehabt. Das BMZ hat übrigens
damals keinen Bedarf für die Grüne Gentechnik gesehen. Gestern haben wir hier die Bundesministerin gehört. Sie hat von der „grünen Biotechnologie“ gesprochen.
({6})
Ich finde es interessant, dass das Kind jetzt unter diesem
neuen Namen wieder erscheint. Die Nahrungsmittelkrise, die wir jetzt haben - auch die Grünen sollten darüber noch einmal nachdenken; aber für sie ist das dogmatisch besetzt -,
({7})
konnten wir vor zwei Jahren nicht vorhersehen. Allein
die Diktion, die wir gestern gehört haben, finde ich gut.
Ich glaube nämlich, dass vielleicht wir uns hier den Luxus eines Verzichts auf Gentechnologie leisten können,
die Menschen in den Entwicklungsländern aber vor dem
Hintergrund der Nahrungsmittelkrise überhaupt nicht.
({8})
Das, was in diesem Bereich vertretbar ist, muss gemacht
werden.
Herr Kollege Wodarg, ich komme kurz auf den Antrag zu sprechen.
Sie müssten kurz zum Schluss kommen.
Okay, ich komme zum Schluss. - Lassen Sie mich nur
kurz sagen: Den Antrag, den Sie hier stellen, finde ich
gut. Der Titel - „Deutschlands globale Verantwortung
für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten“ - ist
allerdings etwas überzogen. Deutschland hat eine große
Verantwortung. Deutschland war gerade in diesem Bereich ein bedeutender Forschungsstandort. Das ist
Deutschland nicht mehr. Aber gleich die globale Verantwortung zu bemühen, ist mir zu viel.
Herr Kollege.
Lassen Sie uns im Ausschuss mit einigen Experten
noch häufig über dieses Thema sprechen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Sibylle Pfeiffer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Entwicklungspolitik ist ein Querschnittsthema. Dies ist
spätestens jetzt den Initiatoren des vorliegenden Antrags
bewusst geworden. Es war nicht strittig, dass etwas unternommen werden muss. Es ging um verschiedene Ansichten, wie das Problem der vernachlässigten Krankheiten angegangen werden kann, und zwar im Sinne der
Menschen in den Entwicklungsländern. Berücksichtigung finden mussten die Anmerkungen der Bereiche
Forschung, Gesundheit und vor allen Dingen Haushalt.
Letztendlich ist es doch gelungen, rechtzeitig im Vorfeld
der Tagung der Intergovernmental Working Group on
Public Health, Innovation and Intellectual Property, die
in den nächsten Tagen in Genf stattfindet, diesen Antrag
zur Debatte hier im Plenum zu stellen.
Heute weiß man, dass in Entwicklungsländern Krankheiten nicht nur die Folge der Armut sind, sondern auch
deren Ursache. Es besteht ein regelrechter Teufelskreis.
Menschen werden krank, weil sie arm sind, und kranke
Menschen werden arm. Wir dürfen unser Augenmerk
nicht nur auf HIV/Aids richten. Die Entwicklungsländer
leiden unter den sogenannten vernachlässigten Armutskrankheiten wie zum Beispiel Schlafkrankheit, Lepra,
Flussblindheit usw. „Vernachlässigt“ werden diese
Krankheiten deshalb genannt, weil es keine oder nicht
ausreichend Medikamente für deren Bekämpfung gibt.
Eine Milliarde Menschen, also ein Sechstel der Menschheit, leidet an armutsbedingten Tropenkrankheiten. Für
diese Krankheiten gibt es keine oder nur veraltete Medikamente. Ich finde es nicht hinnehmbar, dass gängige
Medikamente zum Beispiel gegen Tuberkulose 50 Jahre
alt sind. Das Beispiel Tuberkulose steht stellvertretend
für die Grundproblematik. Nur 10 Prozent der Investitionen für Gesundheit fließen in die Bekämpfung von
Krankheiten, unter denen 90 Prozent der Menschen leiden. Diese 90 Prozent leben nun einmal in Entwicklungsländern.
Das beantwortet auch die Frage, warum wir - das Parlament, die Entwicklungspolitiker - gefordert sind. Wir
können in diesem Fall nicht sagen, der Markt werde das
schon regulieren. Die Armen verfügen nicht über die nötige Kaufkraft. Übrigens haben auch wir in Deutschland
dafür gesorgt, dass es nicht primär vom Geldbeutel abhängt, ob jemand sein Medikament bekommt oder nicht.
In diesem Zusammenhang verweise ich auch darauf,
dass wir die Entwicklungsländer beraten, wie sie ihre eigenen sozialen Sicherungssysteme aufbauen können.
Dies ist für die politische Stabilität in diesen Ländern unabdingbar.
Ich halte nichts davon, in Kategorien von zwei feindlichen Lagern zu denken oder diese gar gegeneinander
auszuspielen - auf der einen Seite die Pharmaindustrie
und auf der anderen Seite die verschiedenen nationalen
und internationalen Organisationen. Die Pharmaseite
sieht die Notwendigkeit des Handelns. Es gibt Spendenprogramme der forschenden Pharmaindustrie, die einen
anerkanntermaßen positiven Einfluss auf die Medikamentenversorgung bei Krankheiten in den Entwicklungsländern haben. Aber Forschung ist teuer, und es ist
legitim, dass wirtschaftlich gedacht und gehandelt wird,
zum einen, um die Kosten zu decken, und zum anderen,
um Geld für weitere Forschung zu verdienen.
({0})
Man produziert zunächst für den Markt, wo man etwas verdienen kann. Es ist nun einmal eine Tatsache,
dass nur ein geringer Prozentsatz von den Entwicklungen der Pharmaindustrie am Ende tatsächlich auf den
Markt kommt. Selbstverständlich sind das wirtschaftliche Risiken, und selbstverständlich hängen daran auch
zahlreiche Arbeitsplätze.
Andererseits können die Menschen in den Entwicklungsländern nicht warten; die Medikamente sind für sie
lebensnotwendig. Diese Menschen brauchen sie sofort.
Hier kommt die Frage der Patentrechte ins Spiel. Das
diesbezügliche Dilemma hat die ehemalige Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen Mary Robinson, die im
Übrigen auch in unserem Ausschuss war, treffend beschrieben - ich zitiere -:
Die Patentrechte der pharmazeutischen Industrie,
die unerlässlich sind für die Forschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe, und die Rechte von
Menschen mit lebensbedrohenden Krankheiten auf
angemessene Behandlung können in Konflikt geraten. Das TRIPS-Abkommen war ein wichtiges Zeichen, dass zwischen dem Schutz des geistigen
Eigentums und den Erfordernissen der Gesundheitsfürsorge in den Entwicklungsländern ein Ausgleich gesucht werden muss.
In der Verantwortung stehen also mehrere Akteure.
Die Pharmaindustrie ist aufgefordert, ihren Beitrag zu
leisten, dass neue und bessere Medikamente zur Bekämpfung dieser Krankheiten auf den Markt kommen.
Nationale und internationale Maßnahmen sind nötig. Die
Weltgesundheitsorganisation WHO weist darauf hin,
dass nach Möglichkeiten gesucht werden muss, wie für
diese Medikamente die Kosten für Forschung und Entwicklung vom Produktionspreis für Entwicklungsländer
abgekoppelt werden können.
({1})
Und wieder: Die Entwicklungsländer selbst stehen in
der Verantwortung, damit die Bevölkerung ausreichend
mit Medikamenten versorgt werden kann. Laut Weltbank gelangen von 100 US-Dollar, die von öffentlicher
Hand für Medikamente ausgegeben werden, nur Medikamente im Wert von 12 US-Dollar tatsächlich zu den
Patienten. Der Grund: Ineffizienz und Korruption.
Ein weiteres großes Problem, das ich hier nur anschneiden kann, ist das fehlende medizinische Personal
in den Entwicklungsländern. Dieses Problem haben wir
an dieser Stelle schon des Öfteren diskutiert.
Auf einen Punkt möchte ich noch besonders eingehen: Gesundheit ist mehr als nur Medikamente. Gesundheit hat etwas mit Bildung, mit Ernährung, mit Tradition
und vor allem mit Gleichberechtigung zu tun. Die Beantwortung der Großen Anfrage der FDP-Fraktion macht
deutlich: Das Thema Gesundheit ist für die derzeitige
Regierung ein Schwerpunktthema.
({2})
Wir Entwicklungspolitiker unterstützen diese dabei nach
unseren Möglichkeiten, im Übrigen ohne Unterausschuss, lieber Kollege Addicks.
({3})
- Die machen mit; die machen immer mit. - Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat im Gesundheitsbereich - auch dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu wesentlichen Erfolgen beigetragen. In Heiligendamm
wurden die Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose
und Malaria sowie die Stärkung der Gesundheitssysteme
auf die Agenda gesetzt.
({4})
- Der wird dem folgen, weil wir diese Verpflichtungen
eingegangen sind. Schon der letzte Haushalt war ein Beweis dafür, dass wir diesen Verpflichtungen nachkommen - logischerweise sehr zum Erstaunen vor allen Dingen der Opposition.
Die G-8-Staaten haben - liebe Kollegen, lassen Sie
mich das zuletzt noch erwähnen - 44 Milliarden Euro
zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria sowie zur Stärkung der Gesundheitssysteme zugesagt. Deutschland wird hierzu bis 2015 insgesamt
4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Auf diese Tatsache, liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allen
Dingen lieber Karl Addicks, wollte ich noch einmal hingewiesen haben.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Im letzten Jahr starben rund 5 Millionen Menschen an
Aids, Tuberkulose oder Malaria, die große Mehrzahl davon in der Dritten Welt. Es ist deshalb begrüßenswert,
dass die Bundesregierung die Mittel für den Globalen
Fonds zur Bekämpfung dieser Krankheiten aufgestockt
hat.
({0})
Ich füge hinzu: Sie werden nicht ausreichen, um sämtliche Probleme in den kommenden Jahren zu bewältigen.
Deswegen müssen mehr Mittel organisiert werden.
Was ist zu tun, damit dieses Geld zu einer nachhaltigen Verbesserung der Gesundheitslage in den Entwicklungsländern beiträgt? Das Kernproblem ist der Zugang
zu erschwinglichen Medikamenten. Mehr als
33 Millionen Menschen haben den tödlichen HI-Virus
im Körper. Doch nicht einmal ein Drittel von ihnen hat
Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. Der
Hauptgrund: Sie haben nicht genug Geld.
Es ist unerträglich, dass viele Firmen aus Profitgier
diesen Zustand fortschreiben wollen. Die Pharmagiganten haben in Indien Patentanträge auf wichtige Aidsmedikamente gestellt, um den Export preisgünstiger Nachahmerpräparate zu verhindern. Millionen von Indern und
Inderinnen und Afrikanern und Afrikanerinnen wären
zum Tode verurteilt!
Unfassbar ist, dass EU-Handelskommissar Mandelson diese menschenverachtende Politik auch noch aktiv vorantreibt. Im vergangenen Herbst drohte er im Patentstreit offen dem thailändischen Ministerpräsidenten
mit Konsequenzen, um die Interessen der Pharmagiganten durchzudrücken. Das ist völlig inakzeptabel. Das
„Aktionsbündnis gegen Aids“ fordert deshalb vollkommen zu Recht: Leben vor Pharmaprofit!
Wir von der Linken erwarten, dass die Bundesregierung die in ihrer Antwort auf die vorliegende Große Anfrage angedeutete Kritik an dem Vorgehen der Pharmakonzerne wesentlich deutlicher als bisher zum Ausdruck
bringt.
Das zweite Problem: Die auf lukrative Märkte ausgerichtete Pharmaforschung kümmert sich völlig unzureichend um die Krankheiten der Armen. Laut Oxfam sind
zwischen 1999 und 2004 nur drei neue Medikamente zur
Bekämpfung der „armen“ Infektionskrankheiten auf den
Markt gekommen.
({1})
Deshalb wollen wir, dass die Industrienationen konzentriert und steuernd tätig werden, damit endlich auch Medikamente gegen Ebola oder die Flusskrankheit entwickelt werden.
Drittes Problem: kein funktionsfähiges Gesundheitssystem. In vielen Ländern fehlt es an Anlaufstellen für
die Kranken. In weiten Bereichen gibt es keine Krankenhäuser, Polikliniken oder Praxen. Deshalb kommt die
Hilfe schlicht nicht bei den Betroffenen und Bedürftigen
an. Wenn der Bundestag, wie im vergangenen Monat
einstimmig beschlossen, die Stärkung der sozialen Sicherungssysteme in den Vordergrund rücken will, muss
die Etablierung tragfähiger Gesundheitssysteme in dieses Vorhaben eingebunden werden.
Viertes Problem: die Abwanderung medizinischer
Fachkräfte. Seit 1980 sind rund 60 Prozent der in Ghana
ausgebildeten Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegekräfte
ins Ausland gegangen. Hauptgrund ist die schlechte Bezahlung im Heimatland. Die Organisation Ärzte ohne
Grenzen fordert deshalb finanzielle Unterstützung, insbesondere wegen der Lohnkosten für das medizinische
Personal in den Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit. Das wäre über eine entsprechende Budgethilfe problemlos zu machen. Gleichzeitig müssen die
Industrienationen endlich damit aufhören, die qualifizierten Fachkräfte aus ihren Heimatländern abzuwerben.
Diese Fachkräfte werden händeringend im eigenen Land
benötigt!
({2})
Lassen Sie mich noch eines anmerken. Natürlich ist
die Verbesserung der Gesundheitslage auch eine Frage
des Massenbewusstseins. Jeden Tag infizieren sich
2 000 Menschen aufs Neue mit Aids, zumeist auf
sexuellem Wege. Es ist gut, dass die Bundesregierung in
ihrer vorliegenden Antwort die Prüderie der katholischen Kirche als ein „hohes Risiko“ kritisiert. Hoffen
wir, dass der Vatikan endlich zur gleichen Einsicht
kommt.
Herr Kollege, ich muss Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.
Zum vorliegenden Antrag der Koalition ist zu sagen,
dass in ihm sehr viele gut gemeinte Forderungen aufgestellt sind. Aber es fehlt weitgehend eine Konkretisierung. Deshalb werden wir uns im Rahmen der Ausschussberatungen konstruktiv in die Debatte einbringen
und hoffen, dass einige unserer Vorschläge in Ihren Antrag Eingang finden.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
letzten 30 Jahren ist viel geforscht worden und viel
Neues entdeckt worden. So sind etwa eineinhalbtausend
neue Wirkstoffe entdeckt worden; das sind sehr viele.
Davon entfielen auf tropische Erkrankungen und auf die
Tuberkulose ganze 21 Wirkstoffe. Wenn man sich nun
die Verteilung der Krankheitslast auf der Welt ansieht,
dann stellt man fest, dass etwa eine Milliarde Menschen
an tropischen Erkrankungen wie Malaria sowie an Tuberkulose leiden. HIV/Aids-Erkrankungen sind bei dieser Zahl noch gar nicht dabei. Die genannten Erkrankungen verlaufen zum größten Teil tödlich. Jedes Jahr
sterben nur an Tuberkulose und Malaria etwa drei Millionen Menschen. Auch bei dieser Zahl sind die AidsToten nicht dabei.
Die Tuberkulosemedikamente wurden in der Tat nicht
verändert. Es gibt kaum neue Medikamente, aber es gibt
eine wachsende Zahl von Resistenzen. Tuberkulose ist
überwiegend eine Erkrankung der armen Menschen. Es
verhält sich hierbei genau wie bei den anderen Erkrankungen, um die es hier geht. Ich nenne zum Beispiel die
Chagas-Krankheit, Wurmerkrankungen, die Leishmaniose, das Dengue-Fieber, aber auch die Schlafkrankheit und verschiedene Trypanosom-Erkrankungen. Diese
Erkrankungen sind bei uns völlig unbekannt, bei den
meisten jedenfalls. Aber sie sind das tägliche Leid der
Menschen in den warmen Ländern, in den armen Ländern, in den Entwicklungsländern. Es kommen Krankheiten dazu, die wir kennen, bei denen allerdings den
Menschen kaum Heilungsmöglichkeiten angeboten werden; sie werden vielmehr damit allein gelassen.
Die Situation sieht so aus, dass die Forschung bei uns
- das kann man an den Zahlen, die ich zu Anfang
nannte, erkennen - natürlich in den Bereichen besonders
intensiv betrieben wird, wo Ergebnisse, die wirtschaftlich verwertbar sind, herauskommen.
({0})
Wir müssen Anreize für Forscher und für diejenigen, die
Medikamente herstellen, schaffen. Es geht hier nicht um
ein reines Spendengeschäft, sondern hier soll und muss
natürlich Geld verdient werden. Die Frage ist allerdings,
welche Anreize wir setzen. Nachdem wir laufend neue
Medikamente entwickeln, zum Beispiel gegen Haarausfall, der als Krankheit angesehen wird, oder sogar
potenzsteigernde Mittel für Frauen erforschen,
({1})
weil es bei den entsprechenden Medikamenten für Männer schon einen heftigen Konkurrenzkampf auf dem
Markt gibt, müssen wir uns nun endlich einmal auf den
Weg machen und neue Anreize setzen, die dazu führen,
dass den Menschen geholfen wird, von denen ich gerade
gesprochen habe.
({2})
Wir haben neben dem Patentrecht durchaus die Möglichkeit, andere Instrumente zu installieren. Erst einmal
können wir dafür sorgen, dass schon existierende Arzneimittel dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden.
Für viele Erkrankungen gibt es ja schon Medikamente.
Diese sind aber zu teuer. Bei den Medikamenten gegen
HIV/Aids haben wir gesehen, dass wir es, wenn wir uns
einig sind und ein weltweiter Proteststurm entsteht, dafür sorgen können, dass die Pharmaindustrie ihre Preise
senkt. Die Pharmaindustrie musste hier mitmachen, weil
sie es psychologisch gar nicht vertreten konnte, anders
zu handeln. Die Pharmavertreter wären rausgeschmissen
worden, wenn die Firmen die frühere Preispolitik bei
HIV/Aids-Medikamenten weitergeführt hätten. Wir
müssen diesen Druck weiterhin aufrechterhalten.
In den Gebieten, wo die Patienten kein Geld haben
und sich teure Medikamente nicht leisten können, müssen die Preise niedriger liegen. Hier soll und darf nicht
versucht werden, das große Geld zu verdienen.
({3})
Dagegen können bei uns der Wettbewerb und die Preise
ganz anders gestaltet werden. Hier bieten sich vielfältige
Möglichkeiten.
In der Vergangenheit hat es schon gute Beispiele gegeben: So wurden in den letzten Jahren neu entwickelte
Medikamente gegen Malaria mit großem Erfolg verfügbar gemacht. Daher ist bei Malaria in vielen Ländern
eine deutlich rückläufige Zahl an Erkrankungen zu verzeichnen. In vielen Ländern gibt es sehr gute Strategien.
Man verteilt zum Beispiel Moskitonetze, die imprägniert
sind, aber auch günstige neue Malariamedikamente. Das
ist durch Public-Private Partnerships oder durch EntDr. Wolfgang Wodarg
wicklungsgemeinschaften möglich geworden. Nichtregierungsorganisationen haben sich engagiert und gemeinsam
mit pharmazeutischen Unternehmen und Forschungsinstituten Verbünde gegründet haben, um zu günstigen
Produkten zu kommen, die patentfrei sind und damit
nachgebaut werden können. Eine Malariatherapie in
Ghana kostet 1 Euro. Bei uns kosten allein die Medikamente für eine Malariatherapie etwa 60 bis 70 Euro. Das
ist ein Unterschied. Dies ist die Differenz, um die es uns
geht! Wir müssen uns anstrengen, dass so etwas nicht
nur bei Malaria der Fall ist.
({4})
Wir brauchen gute Preissysteme. Dazu gehört auch,
dass das, was die Welthandelsorganisation durch das
TRIPS-Abkommen möglich gemacht hat, ausgenutzt
werden darf, dass arme Länder auch patentgeschützte
Medikamente nachbauen dürfen.
({5})
Es kann nicht sein, dass Menschen sterben, weil Patentmonopole ihnen die Medikamente vorenthalten.
Das geschieht auch; das ist aber immer wieder sehr
schwer. In Thailand haben wir einen monatelangen
Kampf gesehen. Thailand hat zum ersten Mal von diesem Recht Gebrauch gemacht. Ich meine, damit muss
man vernünftiger umgehen, und die Möglichkeiten der
Ausnahmeregelungen nach dem TRIPS müssen mehr
genutzt werden. Es gibt außerdem die Möglichkeit, dass
der Abschluss von Lizenzverträgen erleichtert wird. Es
gibt Organisationen, die an bedürftige Länder Lizenzverträge vermitteln. Hierzu wurden bereits Vorschläge von
der pharmazeutischen Industrie vorgelegt. Man muss sehen, wie das konkret umgesetzt wird. Hierüber können
wir uns ja unterhalten und entsprechende Fragen in den
Ausschusssitzungen stellen.
Wir brauchen aber auch Anreize für die Erforschung
von neuen Medikamenten. Es gibt viele schwere tropische Erkrankungen. Einige habe ich bereits genannt.
Auch gegen das Dengue-Fieber, das sich in vielen Teilen
dieser Welt epidemisch ausbreitet, haben wir keine Medikamente. Es gibt keine Impfung, keinen Schutz, keine
Medikamente. Die Menschen sterben daran. Ich meine,
dass wir hier sehr viel intensiver forschen müssen. Forschungsanreize dürfen nicht nur über Patente gegeben
werden. Wir brauchen Geld, einen Fonds als Finanzierungsinstrument, für den die Staaten dieser Welt Geld
zusammensammeln, damit zum Beispiel nach Maßgabe
der WHO bedarfsgerecht geforscht werden kann. So geschieht es beim Global Fund, um Therapien zu finanzieren.
({6})
Die WHO stellt fest, wo Forschung nötig ist. Um
diese Forschung können sich dann Forschungsunternehmen oder aber auch Pharmaunternehmen bewerben.
Diese Forschung soll öffentlich finanziert werden mit
der Maßgabe, dass die Ergebnisse von allen Ländern
ohne Patente, ohne Monopole frei genutzt werden können.
Nach dem Gutachten, das die Regierungsverhandlungsgruppe mit dem komplizierten Namen - Frau Pfeiffer hat das sehr schön ausgesprochen - im Mai in Genf
verhandeln wird, belaufen sich die Kosten für die Forschung etwa auf ein Fünftel dessen, was wir bezahlen,
wenn wir Forschung und Entwicklung indirekt über Patente und über hohe Monopolpreise finanzieren würden.
Das heißt, es geht erheblich günstiger, und es nimmt niemand Schaden. Im Gegenteil: Die Forschungsergebnisse
kommen vielen Menschen schneller zugute. Von daher
wäre ein solcher Forschungsfonds das Richtige. Da haben die Haushälter bei uns im Haus gemeckert. Sie haben gefragt, woher sie das Geld nehmen sollten. Aber,
liebe Haushälter - falls hier welche unter uns sind -,
({7})
das ist kurzsichtig. Wir müssen es schaffen, kostengünstig Medikamente zu entwickeln und sie zur Verfügung
zu stellen. Es kann sein, dass wir erst einmal in Forschung investieren müssen, dass es anfangs ein bisschen
mehr kostet. Aber wir sparen doch hinterher dadurch,
dass wir die Medikamente - das Beispiel Malaria habe
ich genannt - sehr viel billiger zur Verfügung stellen
können. Das heißt, es ist ein kostengünstiger Weg. Mein
Appell an die Haushälter lautet, hier mitzumachen.
({8})
Wir wollen, dass sich die Forschung in Deutschland
mit diesem Thema intensiver befasst. Mit den Instituten,
die wir in Deutschland haben, auch den Regierungsinstituten und den Instituten, die sich mit tropischen Krankheiten beschäftigen, werden wir in einen Dialog treten
und mit ihnen bereden, was sie tun können, um in der
Forschung weiterzukommen. Ich habe schon vernommen, dass es dort ein großes Interesse gibt. Natürlich
wollen Forscher sinnvolle Dinge erforschen. Natürlich
wollen sie helfen. Natürlich wollen sie Fragen beantworten, welche die Menschen bewegen. Von daher bin ich
sehr zuversichtlich, dass wir da gute Voraussetzungen
haben.
Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern.
Wir müssen klare Pläne machen. Wir müssen festlegen, was wir priorisieren wollen, und dann sehen, was
wir schaffen können. Das werden wir im Dialog klären.
Ich freue mich auf die zahlreichen Gespräche, die wir in
den befassten Ausschüssen - das sind ja sehr viele - zu
diesem Thema führen werden.
Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit bei der
Erstellung dieses Antrags. Ich hoffe, er nutzt den Menschen, für die er gedacht ist.
Danke schön.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dies ist eine Woche, in der Krankheiten und
Gesundheit in Entwicklungsländern ein echtes Thema
sind. Am Dienstag gab es den Report „Forschungszwerg
Deutschland“ von Ärzte ohne Grenzen. Gestern gab es
einen parlamentarischen Abend zum Thema der vernachlässigten Krankheiten. Heute haben wir die Diskussion über die Kleine Anfrage der FDP
({0})
- oh, Entschuldigung, stimmt; darauf haben Sie lange
gewartet -, also über die Große Anfrage der FDP; außerdem liegt ein Antrag der schwarz-roten Koalition vor.
Morgen ist der Weltmalariatag. Da muss es doch gelingen, den vernachlässigten Krankheiten und der Situation
in Entwicklungsländern größte Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Das ist auch notwendig. Denn in dem Report „Forschungszwerg Deutschland“ kann man nachlesen, dass
sich die öffentliche Forschung in Deutschland kaum für
tropische Armutskrankheiten engagiert hat. 2007 - das
war ja erst letztes Jahr - wurden nur 9 Millionen Euro in
die Malariaforschung investiert.
({1})
Das ist ein Witz angesichts der Größe des Problems und
der finanziellen Möglichkeiten Deutschlands, und zwar
ein schlechter Witz.
Vernachlässigte Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose tragen wesentlich zur Armut in Entwicklungsländern bei. Den großen Ankündigungen hier müssen jetzt
auch Taten folgen.
({2})
Die Bundesregierung sollte den morgigen Weltmalariatag zum Anlass nehmen, mit mehr Geld und mehr Forschung zu Malaria die Entwicklungsländer im Kampf
gegen Armut zu unterstützen.
({3})
- Auch das.
Die Pharmaunternehmen haben - das wurde bereits
vom Kollegen Wodarg angesprochen - aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus nämlich kaum Interesse, Geld
in die Erforschung von Impfstoffen gegen Armutskrankheiten zu stecken. Das ist ein klares Versagen der Pharmaindustrie. Aber dass sich die öffentliche Forschung in
den reichen Gebernationen ebenso wenig darum schert,
ist, gelinde gesagt, ein Skandal.
({4})
Da bedarf es schon Initiativen aus der Zivilgesellschaft in Form von Product-Development-Partnerships
wie zum Beispiel der „Drugs for Neglected Diseases Initiative“, die das Thema auf die Agenda bringt.
({5})
- Ein bisschen Übung, Herr Kollege Fischer! Denn wir
werden dieses Thema in den Ausschüssen haben. Da
können wir schon einmal üben, wie man mit Initiativen
umgeht, die global arbeiten und Medikamente gegen
vernachlässigte Krankheiten auf den Markt bringen. Dieser Initiative haben wir zwei Malariamedikamente zu
verdanken, die alle wichtigen Parameter erfüllen: Sie
sind hitzebeständig, einfach zu dosieren und nicht patentiert. Ich denke, das muss man den Privatinitiativen als
Erfolg attestieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie haben in Ihrem Antrag „Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten“ den wichtigen Beitrag der ProductDevelopment-Partnerships betont. Das unterstütze ich
voll und ganz. Es ist aber trotzdem verwunderlich, dass
man in der Großen Anfrage nachlesen kann, dass in diesem Bereich nur wenig getan wird. Kollege Addicks hat
schon darauf hingewiesen: Wenn man nachfragt, was gegen Aids, Malaria, Tuberkulose und andere seltene Infektionskrankheiten getan wird, stellt man fest, dass es
keine Antworten zu den anderen Krankheiten als den
drei großen gibt. Das zeigt doch ganz deutlich, dass hier
viel zu wenig Engagement vorherrscht.
Die Antwort auf Frage 53, in der es um mögliche Anreize für die Forschung geht, ist nichtssagend und dürftig. Da muss ich mich schon fragen, ob die Bundesregierung die neuen Ideen und die neuen Modelle zur
Forschungsförderung überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Da besteht ein klarer Widerspruch zwischen
dem vorliegenden Antrag
({7})
und den Antworten der Bundesregierung auf die Große
Anfrage. Wenn es gelingt, diese Diskrepanz zu schließen, dann ist es ein Fortschritt.
({8})
Wenn dies aber nicht passiert und es nur bei hohlen Reden bleibt, dann ist das eindeutig zu wenig.
Wir Grüne treten dafür ein, dass der Zugang zu Medikamenten möglichst frei gestaltet werden muss. Open
Access ist hier das Stichwort. Es geht darum, dass die
Entwicklungsländer Zugang zu Informationen haben,
die sie benötigen, um ihre Armutskrankheiten wirksam
bekämpfen zu können.
Danke.
({9})
Ich schließe nun die Aussprache.
Zum Zusatzpunkt 7 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8884 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Bernward Müller ({0}), Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, Bettina
Hagedorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen des demographischen Wandels im
Tourismus nutzen
- Drucksache 16/8777 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Beauftragten der Bundesregierung für Tourismus, dem Kollegen Ernst Hinsken, das Wort.
({3})
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der demografische Wandel gehört zu den wichtigsten strategischen
Herausforderungen für die Tourismuspolitik der kommenden Jahre. Das haben wir bereits im Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung vom 13. Februar
dieses Jahres deutlich gemacht. Das wird auch ein
Schwerpunkt der tourismuspolitischen Leitlinien der
Bundesregierung sein, die wir demnächst auflegen wollen.
Mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen wollen
wir uns dieser Aufgabe stellen und die Chancen nutzen.
Wir müssen dies deswegen tun, weil die ältere Generation über eine enorme Nachfragekraft verfügt. Jeder
dritte Euro, der heute in Deutschland ausgegeben wird,
stammt aus dem Portemonnaie eines Menschen über
60 Jahren.
Unabhängig davon, welches Szenario man zugrunde
legt, kann man sagen: Über die Bevölkerungsentwicklung besteht ziemliche Klarheit. Bis zum Jahre 2050
wird der Anteil der unter 20-Jährigen an der deutschen
Bevölkerung von heute 20 Prozent auf 15 Prozent sinken. Der Anteil der über 60-Jährigen wird von heute
25 Prozent auf 40 Prozent steigen. Die Gesamtbevölkerung wird von 82,4 Millionen auf etwa 75 Millionen zurückgehen. Bereits 2030 werden 29 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein. Das ist eine Steigerung im
Vergleich zu heute um fast 40 Prozent: von 16 Millionen
auf 22,1 Millionen Menschen.
Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern ganz Europa. Die Gruppe der
über 55-Jährigen wird 2020 die größte Altersgruppe
sein, und die Ruhestandsphase wird dank einer längeren
Lebenserwartung durchschnittlich 20 Jahre betragen.
Ich muss auf noch folgende Tatsache verweisen: Die
Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen hat einen Anteil an
der bundesrepublikanischen Bevölkerung von 29 Prozent. Im Tourismusbereich macht der Anteil dieser Altersgruppe jedoch 48 Prozent aus. Ich meine, dass es
deshalb angebracht ist, gerade diese Herausforderungen,
die ich vorhin angesprochen habe, zu sehen und ihnen zu
begegnen.
Frau Bundesministerin von der Leyen hat bereits vor
knapp einem Jahr, als sie ihre Studie „Wirtschaftsfaktor
Alter“ vorgestellt hat, deutlich gemacht, dass der Tourismus zu den Wachstumsbereichen dieser Entwicklung gehören wird. Danach sollen die Konsumausgaben für Reisen von heute anteilig 13 Prozent auf 16 Prozent steigen.
Das sind Chancen, die es zu nutzen gilt. Die Bundesinitiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ verbindet die Senioren-,
die Wirtschafts- und die Verbraucherpolitik miteinander.
Sie zielt auf die Verbesserung der Lebensqualität älterer
Menschen wie auch auf die Stärkung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung.
Zur Lebensqualität gehört heute selbstverständlich
das Reisen. Zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
trägt die Tourismuswirtschaft immer mehr bei. 2,8 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind in der Bundesrepublik Deutschland im vor- und nachgelagerten
Bereich der Tourismuswirtschaft beschäftigt. Über
3 Millionen können es in den kommenden Jahren werden. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, werden wir das auch erreichen.
Der Tourismus ist - auch so sollte man es sehen und
erkennen - auf vielen Gebieten Vorreiter. Ältere Menschen sind als Pauschalreisekunden schon heute überproportional vertreten. Die deutschen Seniorinnen und
Senioren gehören zu den reisefreudigsten der ganzen
Welt.
({4})
Ich bin glücklich und froh darüber. Die wirtschaftliche
Lage und vor allen Dingen das über das ganze Leben Ersparte sind die Grundlage dafür, dass man dem nachkommen kann.
({5})
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
Die 50- bis 75-Jährigen buchen bereits heute fast die
Hälfte aller Pauschalreisen, obwohl, wie ich schon sagte,
ihr Bevölkerungsanteil unter 30 Prozent liegt. Die Urlaubs- und Reiseintensität der 60- bis 69-Jährigen ist in
den vergangenen Jahren am stärksten gewachsen. Sie
liegt heute bei 75 Prozent, das heißt über dem Durchschnitt der Bevölkerung der Erwachsenen in Deutschland. Ein Vergleich dazu: 1972 machten nur rund
41 Prozent dieser Altersgruppe eine Urlaubsreise. Wie
hat sich das alles in den letzten 35, 36 Jahren zum Positiven gewandelt und verändert! Ich meine, bei dieser
Gelegenheit auch sagen zu müssen, dass es bei den über
70-Jährigen immerhin bereits 60 Prozent sind, die noch
jedes Jahr eine Urlaubsreise von mindestens fünf Tagen
Dauer unternehmen. Dieser Trend wird sich fortsetzen.
Eine wichtige Zielgruppe und ein Trendthema ist:
Großeltern reisen mit Enkeln. Die Zahl der Reisen von
älteren Personen mit Kindern - das ist besonders wichtig; das betone ich gerne, weil ich selbst mehrere Enkel
zu Hause habe ({6})
- selbstverständlich kann ich dafür etwas; denn ich
musste selbst Kinder zeugen, damit ich überhaupt Opa
werden konnte, verehrte Frau Gradistanac; damit Sie das
wissen ({7})
steigt laut F.U.R.-Reiseanalyse von 13 Prozent im Jahr
2006 auf 18 Prozent im Jahr 2015. Fast die Hälfte aller
mit Enkeln reisenden Großeltern wählten im Jahr 2006
ein Reiseziel in Deutschland und gaben mit durchschnittlich 719 Euro fast 200 Euro mehr als die Familie
im Allgemeinen aus.
Es gibt schon heute viele Angebote der Tourismusbranche für die „Best Ager“. Das Projekt „Alpine Wellness“ identifiziert die Generation 50 plus als Hauptzielgruppe für Gesundheits- und Wellnesskonzepte im
Alpenraum. Ausgeglichenheit und innere Harmonie
heißt das übergeordnete Ziel.
Meine Damen und Herren, bei dieser Gelegenheit
möchte ich natürlich einige wenige Worte zum Thema
Barrierefreiheit sagen, obwohl uns dieses Thema sowieso im Laufe dieses Jahres im Tourismusausschuss
des Bundestages oder auch im Bundeswirtschaftsministerium mehr und mehr auf den Nägeln brennen wird.
Aus Untersuchungen ist bekannt: Barrierefreiheit ist für
10 Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für
40 Prozent der Bevölkerung notwendig und für
100 Prozent der Bevölkerung komfortabel.
({8})
Barrierefreie Tourismusangebote sind für alle Menschen
mit einer höheren Qualität und höherem Komfort verbunden. Als Tourismusbeauftragter der Bundesregierung
möchte ich darauf verweisen, dass die Tourismusbranche ein Vorreiter sein sollte, wenn es darum geht, festzustellen, was die künftig größere Zahl älterer Reisender
wünscht und braucht.
Wie es im Eckpunktepapier zur gestern vom Bundeskabinett beschlossenen Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ heißt, gehören die Tourismusbranche, die Gesundheitsbranche wie auch die Bereiche Freizeit, Kultur und
Unterhaltung zu den Wirtschaftsbereichen, für die der
demografische Wandel in besonderem Maße zusätzliche
Potenziale, aber auch neue Herausforderungen bereithält.
({9})
Deshalb haben wir vonseiten des Bundeswirtschaftsministeriums einen Forschungsauftrag ausgeschrieben.
In den kommenden Monaten werden die Auswirkungen
des demografischen Wandels auf den Tourismus konkret
untersucht und aus den Ergebnissen Schlussfolgerungen
für die Tourismuspolitik gezogen. Es gilt, aus den veränderten Kundenstrukturen Konsequenzen zu ziehen.
Ich möchte darauf verweisen, dass die Potenziale
- das gilt vor allem für den Inlandstourismus - nur erschlossen werden können, wenn sich das Angebot auf
die Vielfalt einstellt, die mit der generellen Individualisierung der Reisewünsche einhergeht; denn mit zunehmendem Alter werden die Menschen nicht gesünder.
Dem gilt es, soweit irgendwie möglich, Rechnung zu tragen.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:
Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bin der festen
Überzeugung: Wenn es uns gelingt, alle mitzunehmen,
dann wird für die Zielgruppe Senioren, älter werdende
Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auf dem
Sektor Tourismus viel getan. Wir sind dazu bereit. Wir
haben schon einige Weichenstellungen vorgenommen.
Auf diesem Weg wollen wir weiter vorangehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Wir behandeln heute ein in der Tat wichtiges Thema. Ich bin sehr froh, dass die Große Koalition
mit einem positiven Ansatz an die Herausforderungen
herangeht. Das ist bei der Großen Koalition nicht immer
so.
({0})
Auch die FDP stellt in ihrem Tourismuskonzept die
Chancen des Tourismus in einer älter werdenden Gesellschaft in den Mittelpunkt. Wir leben in einem wunderschönen Land mit wunderschönen Regionen, mit kulturellen Höhepunkten und netten Menschen. Heute
Morgen haben wir gehört, was das Wichtigste ist: Wir leben in einem geeinten und freien Europa seit 60 Jahren
in Frieden. Das sind gute Aussichten für den Tourismus
in unserer Heimat.
Drei Herausforderungen des demografischen Wandels
lassen sich benennen:
Erstens. Ältere Menschen werden immer agiler. Sie
sind es gewohnt, zu reisen, und sie wollen reisen. Wir
stellen schon heute fest, dass Deutschland gerade für ältere Touristen eine beliebte Urlaubsregion ist. Die Nachfrage bei älteren Menschen wird steigen, und die Angebote werden nachziehen.
Zweitens. Ältere Menschen haben ein stetig wachsendes Bedürfnis nach Kultur und dem Besuch schöner Regionen. Insbesondere Nahdestinationen bieten sich für
viele kleine Reisen an. Mitteldeutschland oder der
Schwarzwald werden davon sicherlich profitieren.
({1})
Drittens. Ältere Menschen achten auf ihre Gesundheit. Sie wollen fit und mobil bleiben. Das ist eine
Chance für den Gesundheitstourismus. Auch er wird
profitieren.
({2})
Gleichwohl sollten wir nicht nur die agilen und fitten
Rentnerinnen und Rentner im Auge haben. Wir müssen
uns auch auf die konzentrieren, die nicht ohne Einschränkungen reisen können, weil sie körperlich benachteiligt sind. Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit und wird auch in Zukunft notwendig sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte einen, wie ich
finde, wichtigen Satz aus dem Antrag zitieren. Auf
Seite 2 in der Mitte steht: Es wird - Zitat wesentlich davon abhängen, wie sich die frei verfügbaren Einkommen von Seniorinnen und Senioren in Zukunft entwickeln.
Es wird also darauf ankommen, was unsere Rentnerinnen und Rentner im Portemonnaie haben.
({3})
Die Große Koalition hat die Renten erhöht. Für die
jetzigen Rentner ist das Plus von 1,1 Prozent gut. Aber
mit dieser Rentenerhöhung gibt man zu wenig und
nimmt zu viel.
({4})
Aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung und der gestiegenen Energiekosten haben unsere Rentnerinnen und
Rentner jetzt weniger in der Tasche als vorher. Das wirkt
sich natürlich auch auf ihr Reiseverhalten aus.
Was die zukünftige Rentnergeneration betrifft, mache
ich mir auch um unsere ostdeutschen Mitbürger Sorgen.
Denn gerade nach der Wiedervereinigung kam es zu einem Bruch, auch in der Erwerbstätigkeit. Sie konnten
nicht mehr in die Rentenkassen einzahlen. In Zukunft
werden wir vor dem Problem stehen, dass das Rentenniveau auch im Osten niedriger sein wird. Diese Herausforderungen müssen wir bewältigen.
Meine Damen und Herren, früher galt der Satz
„Wohlstand für alle!“ von Ludwig Erhard. Heute ist es
leider so, dass unsere Rentnerinnen und Rentner aufgrund der Politik der Großen Koalition in Zukunft weniger Geld in der Tasche haben werden. Die FDP-Fraktion
bedauert das sehr.
({5})
Einen Aspekt, um den es auch gestern in der sehr interessanten Anhörung im Tourismusausschuss ging,
möchte ich noch ansprechen: den grenzüberschreitenden
Tourismus. Das ist ein Punkt, der Touristen interessiert,
wenn sie grenzüberschreitend in Hotels oder Gaststätten
einkehren. Im vereinten Europa brauchen wir natürlich
auch eine einheitliche Besteuerung. Sonst wäre das ein
Nachteil für unsere heimische Wirtschaft und insbesondere für den Mittelstand. Wenn die Mehrwertsteuersätze
unterschiedlich hoch sind, ist das ein Nachteil. Dann gehen die Leute natürlich ein paar Kilometer über die
Grenze, um Geld zu sparen. Das dürfen wir dieser Branche, die Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze schafft,
natürlich nicht antun.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der demografische
Wandel wird kommen, und er wird neue Impulse setzen.
Darauf wird die Tourismuswirtschaft reagieren. Aber
auch die Politik ist gefordert. Wir müssen die Rahmenbedingungen richtig setzen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
({7})
Nun hat die Kollegin Renate Gradistanac für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vor zwei Wochen warnte der frühere Bundespräsident
Roman Herzog in der Bild-Zeitung vor der sogenannten
Rentnerdemokratie. Er sagte unter anderem - ich zitiere
ihn -:
Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass
die Älteren die Jüngeren ausplündern.
Damit hat er eine skurrile Debatte neu entfacht. Zum
wiederholten Male wurde schlagzeilenträchtig die greise
Republik heraufbeschworen. Auf einmal war wieder von
der Altenrepublik die Rede, so Meinhard Miegel, und
Roman Herzog sprach von verfassungswidrigen Staatsquoten als möglicher Konsequenz des demografischen
Wandels.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, solche Debatten spalten unsere Gesellschaft. Sie schüren Angst
und Generationenneid. Sie bringen uns nicht wirklich
voran. Solche Äußerungen sind auch falsch. Gerade wir
Tourismuspolitikerinnen und Tourismuspolitiker wissen
um die Chancen, die der demografische Wandel für den
Tourismus bringt.
({0})
Der TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ belegt
dies nachdrücklich. Die Branche muss die Chancen allerdings nutzen. In einer Studie des Deutschen Seminars
für Tourismus wird von einem gegenwärtigen Reisepotenzial der Generation 50 plus von rund 28 Millionen
ausgegangen, Tendenz steigend.
Nicht nur das: Personen über 50 sind vor allem mobiler, gesünder und reiselustiger als die Generation unserer
Eltern. Seit Jahren steigt die Quote der über 55-Jährigen,
die erwerbstätig sind. Im Jahr 2004 lag sie bei 45 Prozent. Dadurch haben manche auch mehr Geld. So ist zu
erwarten, dass die Reiseintensität der Bevölkerung insgesamt nicht abnehmen wird, ganz im Gegenteil.
Die Studie des Familienministeriums - Sie haben sie
erwähnt, Herr Tourismusbeauftragter - mit dem Titel
„Wirtschaftsmotor Alter“ hat vergangenen Sommer zutage gebracht: Im Jahr 2035 werden die über 50-Jährigen
knapp 60 Prozent der Ausgaben am Gesamtkonsum tätigen. Der Anteil der über 65-Jährigen wird von 18 Prozent auf 26 Prozent steigen. Fazit: Die über 50-Jährigen
sind die Zielgruppe der Zukunft. Neben den Gesundheitsausgaben werden sich die Tourismusausgaben der
Älteren erheblich erhöhen.
Wir können schon heute beobachten, dass die sogenannten Best Agers - es gibt ja wunderbare Namen - zunehmend mit ihren Enkeln reisen. So wird aus der neuen
Reisegeneration schnell ein neues Modell des Generationenreisens. Die Alten leben also nicht, wie Roman Herzog gesagt hat, gegen die Jungen, sondern mit ihnen.
({1})
Deutschland ist kein Mikrokosmos, in dem die älter
werdende Gesellschaft isoliert auftritt. Bis zum Jahr
2030 wird sich die Zahl der über 65-Jährigen in der
Europäischen Union um circa 40 Millionen erhöhen.
Nicht zuletzt die Nachfrage nach Wellness- und Gesundheitsreisen wird in die Höhe schnellen. Der demografische Wandel ist ein Phänomen, das auch den Deutschlandtourismus ganz schön auf Trab bringen wird.
Wir müssen dieses enorme Potenzial allerdings nutzen, dürfen die Chancen nicht verstreichen lassen.
Schließlich sind wir Deutschen mehrsprachig orientiert,
wir sind Reiseweltmeister, wir verbringen unseren Urlaub in fast allen Teilen der Welt. Das kann auch für das
Reisen im Alter bedeuten, dass wir uns sowohl für Inlandsreisen als auch für weltweites Reisen entscheiden.
Der internationale Wettbewerb um die jungen Alten ist
in vollem Gange.
Die Chancen annehmen und gestalten, so lautet, wie
wir im Tourismusausschuss immer sagen, die Devise der
Zukunft. Wir verkennen nicht, dass die Herausforderungen für die Branche groß sind: Je kleiner der Betrieb,
desto schwieriger wird es, die eigene Nische bei den sich
zunehmend ausdifferenzierenden Bedürfnissen der Reisenden zu finden und sie marktgerecht zu besetzen. Natürlich macht die Ausrichtung auf neue Zielgruppen weder vor den Reiseunternehmen noch vor Hotelwirtschaft
und Gastronomie halt. Viele Firmen müssen investieren,
um altersgerechtes Komfortreisen zu ermöglichen.
({2})
Es ist nötig, die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu stärken, vor allem sie gerecht zu
bezahlen. Da haben wir einen Dissens mit dem Tourismusbeauftragten. Wir plädieren ja für Mindestlöhne,
weil gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
dieser Branche bei der Bezahlung sehr zu leiden haben.
({3})
Unser guter Antrag - ich habe den Eindruck, dass es
darüber in diesem Hause keinen Dissens gibt - ist als
Ansporn gedacht, offensiv und vor allem gemeinsam zu
handeln. Für die Bundespolitik bedeutet das - das ist der
erste Punkt in unserem Antrag -, dass wir ein Leitbild
für den Deutschlandtourismus brauchen. Ich bin froh,
dass sich unser Koalitionspartner auf die Festschreibung
dieses Leitbildes eingelassen hat.
({4})
Für uns in der SPD ist es selbstverständlich, dass sich
der Bund strategisch festlegen muss. Dass die Länder
und Kommunen dann mitmachen, halten wir für selbstverständlich. Dieses Leitbild ist die Grundlage, anhand
derer man sich weiter prozesshaft entwickeln kann.
({5})
- Es ist ja toll, dass die CDU/CSU jetzt noch so viel Zuwachs bekommt.
({6})
Es ist bekannt: Der Tourismus ist sowohl Querschnittsthema als auch Querschnittsaufgabe. Unterschiedliche
Politikbereiche müssen sich einbringen. Beispielhaft
nenne ich die Wirtschaftspolitik, die Verkehrspolitik, die
Umweltpolitik, die Verbraucherschutzpolitik und die Arbeitsmarktpolitik. Es ist für uns selbstverständlich, dass
die Ministerin für Senioren bei einem Programm zur
Wirtschaftskraft von Senioren auch die TourismusbranRenate Gradistanac
che berücksichtigt. Das ist so selbstverständlich, dass ich
das hier eigentlich kaum zu erwähnen brauche.
Eine weitere wichtige Forderung in unserem Antrag
bezieht sich auf die Forschung. Wir wollen qualifizierte
Daten zum demografischen Wandel, bei denen es um die
zukünftige Vermögens- und Einkommensentwicklung
geht, da diese natürlich Auswirkungen auf den Tourismus hat. Ich stelle heute fest: Wir fordern, und Herr Hinsken marschiert. Das Forschungsvorhaben ist schon auf
dem Weg.
Die Anforderungen an alle Akteure lassen sich auf
den Punkt bringen: gute qualifizierte und zielgruppenspezifische Angebote unterbreiten und diese in Deutschland, aber auch in Europa, in Asien und trotz des schwachen Dollars auch in den USA bewerben. Wir wollen
alle Seniorinnen und Senioren für den Deutschlandtourismus begeistern. Die Deutsche Zentrale für Tourismus
ist unser nationaler und internationaler Botschafter. Frau
Hedorfer und ihr Team leisten eine hervorragende Arbeit. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Aspekte haben
wir in unserem vorliegenden Antrag aus gutem Grund
ausgelassen.
Barrierefreier Tourismus ist nicht nur an das Alter
und an den Strukturwandel in unserer Gesellschaft gebunden; Barrierefreiheit bedeutet Teilhabe. Diese Herausforderung ist so groß und von so großer Bedeutung,
dass wir uns ihr in einem zweiten Antrag widmen wollen, den wir im Laufe des Jahres einbringen.
Beim zweiten Aspekt geht es um die Bedürfnisse und
wachsenden Ansprüche pflegebedürftiger Menschen und
ihrer pflegenden Angehörigen. Auch hier muss es spezielle Angebote geben. Die Tourismusunternehmen haben sich darauf einzustellen. Es gibt schon gute Beispiele dafür. Jetzt will ich einfach einmal lobend das
Hotel am Kurpark in Bad Herrenalb im Schwarzwald erwähnen.
Meine Damen und Herren, es passiert viel Richtiges
und Gutes im Tourismus. Viele Akteure haben sich auf
die neuen Alten eingestellt. Denjenigen, die sich auf den
Weg gemacht haben, danke ich. Sie dienen uns als positive Pioniere.
Allen anderen möchte ich als ehemalige Sportlehrerin
den Satz aus dem Volksmund zurufen: Gehe keinen Meter zurück, allenfalls, um Anlauf für weitere Ziele zu
nehmen.
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Bettina Herlitzius das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Neben dem Klimawandel ist der demografische Wandel eines unserer großen Zukunftsthemen.
Was bedeutet der demografische Wandel für den Tourismus und für die Tourismuswirtschaft? Wie in dem Antrag der Koalitionsfraktionen richtig dargestellt, steigt
der Anteil der älteren Reisenden. Aber auch ihre Ansprüche und ihre Bedürfnisse werden sich ändern. Durch
diesen Wandel sind Weichenstellungen der Politik, aber
auch der Akteure der Tourismuswirtschaft erforderlich.
Grundlage des Reisens ist die Mobilität, und zwar die
eigene körperliche Mobilität, aber auch die Mobilität,
die unsere Gesellschaft und unsere Umwelt zulassen.
Davon wird abhängen, wer zukünftig noch reisen kann.
Welche Anforderungen muss eine umweltschonende
touristische Infrastruktur erfüllen? Sind die Leistungsträger der Transportsysteme und der touristischen Zielgebiete darauf vorbereitet? Diese Themen kommen in Ihrem Antrag nur unter „ferner liefen“ vor. Aber genau das
sind die Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
({0})
Die demografischen Veränderungen unserer Gesellschaft werden die touristischen Märkte der Zukunft erheblich beeinflussen. Das ist offensichtlich. Es ist auch
offensichtlich, dass viele Leistungsträger der Branche
das bisher nicht erkannt haben. Die Studie, die Ihrem
Antrag zugrunde liegt, weist darauf hin, dass die zukünftig reisende Seniorengeneration eine andere ist als die
heutige. Sie sind reiseerfahren, haben einen hohen Mobilitätsanspruch und nicht unerhebliche Konsumerwartungen. Diese Reisegeneration für den Deutschlandtourismus zu gewinnen, ist nicht ganz einfach.
Wenn unsere Tourismuswirtschaft weiterhin expandieren will, dann muss noch viel passieren. Die Senioren
von heute fragen besonders nach Angeboten mit Entspannung, Natur und Kultur. Auch gesundheitsfördernde
Aktivitäten und Wellness bekommen einen immer höheren Stellenwert. Fernreisen werden heute auch wegen
gesundheitlicher Risiken von Senioren weniger nachgefragt. Gerade diese Chance für den Deutschlandtourismus gilt es zu erkennen und vor allen Dingen auszubauen.
({1})
Vermarktung und Produktherstellung müssen deshalb
auf alle Altersgruppen abgestimmt werden. Kenntnisse
über Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche der Senioren
gilt es zu erkunden und bei der Angebotsgestaltung zu
berücksichtigen. Mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft wird die Zahl der Menschen, die nicht mehr
Auto fahren können und wollen, zunehmen. Auch werden Reiseregionen, um die Natur und damit auch ihren
Erholungswert zu schützen, zukünftig den Pkw-Verkehr
stärker einschränken. Die heutigen Umweltzonen sind
ein Anfang.
Dabei gilt es, die richtigen politischen Weichen zu
stellen, damit touristische Regionen mehr Hilfestellung
zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs anbieten und
eine zufriedenstellende nachhaltige Mobilität für Menschen aller Altersstufen gewährleisten.
Aber auch der Aspekt der Barrierefreiheit ist wichtig
und muss berücksichtigt werden. Bei Barrierefreiheit
geht es nicht nur um Mobilität und Unterbringung; sie
muss sich vielmehr auf alle Dienstleistungen des Tourismusbereiches erstrecken. Unkomplizierter Gepäcktransport, lesbare Reiseinformationen und vieles mehr gehören dazu. Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu
Tür sein, die für jeden nutzbar ist.
Wir haben ein großes Thema vor uns. Es ist wichtig,
dass wir es richtig angehen. Denn der Seniorenreisemarkt kann ein Wachstumsmotor und ein Hoffnungsträger der Tourismuswirtschaft werden. Er hat aber nur
dann eine Zukunft, wenn er nachhaltig und barrierefrei
gestaltet wird. Lassen Sie uns daran arbeiten.
Danke.
({2})
Der Kollege Ilja Seifert hat seine Rede zu Protokoll
gegeben.1) Damit schließe ich die Aussprache zu diesem
Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8777 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dorothée Menzner, Dr. Diether Dehm,
Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes
- Drucksache 16/8449 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion
Die Linke das Wort.
1) Anlage 9
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich hier um einen Präzedenzfall. Der
Europäische Gerichtshof hat am 23. Oktober 2007 das
VW-Gesetz beanstandet, in dem für den Volkswagenkonzern ein besonderes Mitspracherecht der Belegschaft
festgeschrieben ist.
Nach unserer Auffassung wird durch dieses EuGHUrteil das Recht der Mitgliedstaaten auf die Gestaltung
der Sozialordnung hinsichtlich Unternehmensverfassung
und Mitbestimmung in rechtlich nicht akzeptabler Weise
eingeschränkt, und zwar unter Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit. Aber das steht hier leider nicht zur Debatte.
Die Bundesregierung hat das Urteil einfach hingenommen. Doch all jene, denen die Befreiung des Kapitals von jedweder Einschränkung über alles geht, haben
sofort reagiert und die Losung „Der EuGH hat das
VW-Gesetz gekippt“ ausgegeben. Die Porsche-Familie,
die im VW-Konzern die Aktienmehrheit übernehmen
will, ließ umgehend erklären, nichts sei überflüssiger als
ein VW-Gesetz. Das liegt sicherlich im Interesse ihres
uneingeschränkten Schaltens und Waltens im Konzern.
Die Belegschaften der VW-Standorte, die IG Metall und
die meisten Menschen in Niedersachsen sehen das allerdings anders. Delegationen aus allen Werken haben das
heute in Hamburg vor der Hauptversammlung sehr deutlich gemacht.
In Niedersachsen hängen von den Arbeitsplätzen im
Konzern und bei den Zulieferern rund 1 Million Menschen ab. Mit großer Sorge verfolgen die, wie Entscheidungen der Eigner frei verkehrenden Kapitals um sich
greifen, Werke zu schließen, Arbeitsplätze in Niedriglohnländer zu verlegen und mit diesem Druckmittel Tarifverträge auszuhöhlen. Um die Interessen der Beschäftigten zu wahren und denen, die das VW-Gesetz ganz
gekippt sehen wollen, ein „So nicht“ zuzurufen, legen
wir diesen Gesetzentwurf vor,
({0})
und zwar ungeachtet unserer grundsätzlichen Kritik am
EuGH-Urteil.
Es handelt sich um ein Gesetz, das die Mitbestimmungsrechte der Belegschaft und den öffentlichen Einfluss so weit, wie es nach dem Urteil möglich ist, aufrechterhält. Dementsprechend wird in unserem Entwurf
in Übereinstimmung mit dem Urteil des EuGH die
Stimmrechtsbeschränkung aufgehoben, § 2. Es bleibt
aber bei dem Quorum von über vier Fünfteln bei besonders bedeutenden Beschlüssen der Hauptversammlung
der Aktionäre, § 4 Abs. 3. Dieses Quorum hatte der
EuGH nur im Zusammenhang mit der Stimmrechtsbeschränkung infrage gestellt. Diese soll aber nach unserem Gesetzentwurf aufgehoben werden. Außerdem
bleibt es bei der Mehrheit von zwei Dritteln im Aufsichtsrat bei der Entscheidung über Betriebsgründungen
und -verlegungen.
Hinsichtlich der Entsendung von Vertreterinnen und
Vertretern der öffentlichen Eigentümer in den AufsichtsDorothée Menzner
rat hat der EuGH nicht die aktuelle Zahl beanstandet. Er
hat allein darauf abgestellt, dass es nach dem Wortlaut
des Gesetzes möglich wäre, dass die Bundesrepublik
Deutschland im Falle, dass sie wieder Aktien hielte - und
sei es nur eine einzige -, Aufsichtsratsmitglieder entsenden könnte. Dann wären es vier Personen. Auch im VWGesetz dürfe nämlich die allgemeine aktienrechtliche
Höchstgrenze für den Umfang der Delegierung nicht
überschritten werden. Außerdem müsse innerhalb der
Delegationsregelung nach dem gehaltenen Kapitalanteil
differenziert werden. Das wird durch den geänderten § 4
Abs. 1 unseres Gesetzentwurfs eingehalten. Bei der von
uns gewählten differenzierten Ausgestaltung des Delegationsrechts ergäbe sich, dass das Land Niedersachsen
mit seinem gegenwärtigen Kapitalanteil sogar drei Personen in den Aufsichtsrat delegieren könnte.
Frau Zypries hat angekündigt - das begrüßen wir -,
im Laufe des Jahres ebenfalls den Entwurf eines neuen
VW-Gesetzes einzubringen. Nicht wenige setzen darauf
große Hoffnungen. Aber die heutige Hauptversammlung
in Hamburg hat gezeigt: Die Zeit drängt. Deshalb ist unser Gesetzentwurf auch als Signal an die Ministerin zu
verstehen. Oder müssen wir ihre Ankündigung als Wahlkampfgeklingel verstehen?
Die weitergehenden Ziele der Ausgestaltung der Unternehmensverfassung sowie des Schutzes vor Betriebsverlagerungen und Unternehmensübernahmen durch Finanzinvestoren und andere Heuschrecken müssten nach
unserer Auffassung allerdings generell und nicht in einem speziellen Gesetz für ein Unternehmen geregelt
werden. Das ist nur ein Hilfsmittel. Da fast alle Fraktionen ihr Entsetzen im Fall Nokia geäußert haben, bin ich
guten Mutes, dass wir hier zu einem gemeinsamen Ansatz kommen. Unseren Ansatz legen wir heute vor.
Nicht zuletzt sollten wir uns hin und wieder an die
Gründe für die Schaffung des VW-Gesetzes erinnern.
Sie sind heute so aktuell wie damals.
({1})
Das KdF-Wagenwerk wurde aus den von den Nazis geraubten Geldern der Gewerkschaften und der kleinen
KdF-Wagensparer finanziert sowie von Zwangsarbeitern
unter großen Opfern aufgebaut. Nach dem Krieg wurde
Volkswagen ursächlich durch die harte Arbeit der Beschäftigten schnell zu dem, was wir heute kennen, nämlich zum größten Automobilkonzern in Europa und zu einem der führenden Konzerne weltweit. Auch die heutige
Erfolgsgeschichte beruht auf der Leistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Weder die öffentliche Mitbestimmung noch die betriebliche Mitbestimmung haben ein Hindernis dargestellt, sondern waren hilfreich
für die Entwicklung des Konzerns.
Danke.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Grosse-Brömer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Menzner, das Problem beginnt schon mit
Ihrer Präsenz hier im Plenum: Alle Anwesenden außer
die Vertreter Ihrer Fraktion sind Niedersachsen. Ich unterstelle Ihnen keinen schlechten Willen; aber VW hat
jahrzehntelang extrem gut ohne die Linken gelebt und
sich positiv entwickelt. Wenn Sie hier über das TrabiGesetz gesprochen hätten, wäre das okay gewesen. Lassen Sie sich aber bitte nicht allzu sehr auf das Thema
VW ein!
({0})
Ihr Entwurf hat wie so häufig zwei besondere Eigenschaften: Erstens. Er ist überflüssig. Zweitens. Er ist populistisch. Sie haben sich fast verplappert: Passend zur
Jahreshauptversammlung bringen Sie einen Schaufensterantrag ein. Eventuell hat das auch mit irgendwelchen
Wahlkampfvorbereitungen zu tun.
Ihr Entwurf ist überflüssig, weil Frau Zypries, wie Sie
selbst sagten, schon lange einen Entwurf in Arbeit hat.
Die Bundeskanzlerin hat klar gesagt: Das bisherige VWGesetz wird nicht ersatzlos gestrichen; es wird eine gesetzliche Anschlussregelung geben.
({1})
Alle, auch Sie, wissen: Es wird eine Neuregelung auf
Grundlage des EuGH-Urteils geben. Trotzdem legen Sie
einen Gesetzentwurf vor und behaupten, es geschehe
nichts, jedenfalls werde nicht schnell genug gehandelt.
Neben der Überflüssigkeit kommt ein wenig Populismus durch, auch wenn Ihre beiden Fraktionsvorsitzenden, die das noch viel besser verkörpern, nicht anwesend
sind.
({2})
Der Entwurf spielt nämlich mit den Sorgen der Menschen.
({3})
- Ja, gerne. Ich komme noch darauf; ich habe noch acht
Minuten Redezeit. Bleiben Sie ganz ruhig!
({4})
Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie in der Begründung Ihres Antrags ein Szenario erfinden, in dem Volkswagen in Wolfsburg mit dem „Nokia-Werk in Bochum“
verglichen wird. Damit beleidigen Sie alle, die über
Jahrzehnte dieses Unternehmen erfolgreich gemacht haben, insbesondere das Land Niedersachsen, das - auch in
den letzten Jahren - dafür gesorgt hat, dass die Stabilität
bei VW sehr groß ist. Überlegen Sie also ein wenig, was
Sie in der Begründung Ihrer Anträge schreiben!
({5})
Immer wieder - wir haben das heute Morgen kurz
nach 9 Uhr gehört - scheint Ihre verblendete, linke Europafeindlichkeit durch. Wir haben das bei der Ratifikation
des Lissabon-Vertrages erleben müssen.
({6})
- Ich erkläre Ihnen das gleich; vielleicht haben Sie es
nicht verstanden.
({7})
Ich könnte sagen: Ich würde mich gern intellektuell mit
Ihnen duellieren; aber ich sehe, dass Sie unbewaffnet
sind.
({8})
Der Punkt ist folgender: Auch mich hat das EuGHUrteil nicht fasziniert. Trotzdem kann man nicht behaupten - wie Sie dies tun -, hier gehe es um das Urteil eines
Gerichts, das man nicht ernst nehmen könne. Unqualifizierte Schelte europäischer Gerichte ist nicht die richtige
Antwort auf das von Ihnen zitierte Urteil. Es ist üble Polemik, wenn Sie das EuGH quasi als Rechtsbrecher und
die Mitgliedstaaten als dessen haltlose Vasallen darstellen. Es bleibt nur die spannende Frage, ob Sie das aus
Dummheit tun oder ob Sie sich bewusst wahrheitswidrig
äußern.
({9})
Sie beziehen sich auf Art. 295 EG-Vertrag. Wenn Sie
ehrlich wären und ein wenig mit dem europarechtswissenschaftlichen Diskurs vertraut wären, wüssten Sie,
dass es dazu sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.
Auch in diesem Punkt ist Ihre Argumentation unschlüssig. So eindeutig, wie Sie behaupten, ist der Aussagegehalt des Art. 295 EG-Vertrag nicht. Es gibt eine Menge
anderer Punkte, die dabei zu berücksichtigen sind. Allein
Ihre europafeindliche Argumentation und die bei diesem
Punkt deutlich werdende Ahnungslosigkeit machen es
uns unmöglich, diesem Entwurf zuzustimmen.
Es geht - Sie haben es angesprochen - um das Urteil
vom 23. Oktober. Der Bundesgesetzgeber hat dadurch
den Auftrag, das VW-Gesetz anzupassen. Der Gerichtshof hat nämlich zum einen erklärt, dass die Stimmrechtsbeschränkung nach § 2 Abs. 1 VW-Gesetz in Verbindung mit den besonderen Mehrheitserfordernissen nach
§ 4 Abs. 3 VW-Gesetz mit dem Grundsatz der Freiheit
des Kapitalverkehrs nach Art. 56 EG-Vertrag unvereinbar ist. Zum anderen sollen auch die Entsenderechte europarechtswidrig sein.
Genau da sollten wir uns am EuGH orientieren; das
ist doch gar keine Frage. Da sind wir wahrscheinlich
auch nicht auseinander. Ich sage Ihnen nur: Das wird ohnehin passieren, ohne dass Sie etwas dazu tun. Der Respekt vor dem höchsten europäischen Gericht gebietet es
meines Erachtens, die von der Bundesjustizministerin
schon angekündigte Umsetzung des Urteils zu vollziehen. Dabei sollten erstens die Entscheidung des EuGH
und zweitens die besondere Entstehungsgeschichte und
Bedeutung von Volkswagen beachten werden.
Das Justizministerium hat das EuGH-Urteil sorgfältig
analysiert. Nach Ansicht des BMJ ist es nicht erforderlich, die seit 1960 verbriefte Sperrminorität von 20 Prozent für Niedersachsen zu verändern. Ein nach den
Grundsätzen des EuGH-Urteils abgespecktes, neues
VW-Gesetz ist nach Ansicht der Justizministerin auch
mit dieser 20-Prozent-Klausel europafest. Dazu gibt es
im Übrigen auch eine Patronatserklärung des Bundes gegenüber dem Land Niedersachsen, die schon aus dem
Jahr 1960 datiert. Mit der Novelle soll nun ausdrücklich
nur das vom EuGH beanstandete Zusammenspiel aus
Höchststimmrechten und Mehrheitserfordernis abgeschafft werden. Es besteht also kein Anlass, die Kompetenz des Ministeriums in dieser Hinsicht in Zweifel zu
ziehen, jedenfalls nach meiner Auffassung. Wenn ich Sie
recht verstanden habe, machen selbst Sie das nicht.
Angesichts der aktuellen Erfolge von Volkswagen
sollte man auch über die berühmte Devise „never change
a winning team“ nachdenken. Man kann auch sagen:
Lasst uns doch nicht in ein funktionierendes, erfolgreiches Unternehmen eingreifen. Ich habe mir die Zahlen
heraussuchen lassen: 2007 hat Volkswagen 6,2 Millionen Kraftfahrzeuge ausgeliefert. Weltweit wurden im
ersten Quartal 2008 1,57 Millionen Autos verkauft. Das
ist ein Rekord in der Firmengeschichte. Der Marktanteil
in Deutschland liegt bei 32,2 Prozent. Das ist ein tolles
Ergebnis für VW, und das alles ist bislang ohne die
Linke zustande gekommen. Hiervon profitieren nicht nur
die jetzigen bei VW angestellten Arbeitnehmer, die sicherlich Sorgen haben - darauf komme ich gleich noch -,
sondern auch die, die in den nächsten Jahren direkt bei
VW oder bei der Zulieferindustrie hinzukommen werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Ja, gerne.
Herr Kollege, Sie haben eben gesagt: Never change a
winning team.
({0})
Sie haben die Zahlen genannt. Sie waren so weit korrekt.
Ihnen - Sie sind aus Niedersachsen - ist sicherlich nicht
verborgen geblieben, dass es im Moment Versuche gibt,
in diesem winning team etwas zu verändern: Porsche hat
angekündigt, die Mehrheit zu übernehmen, es gab heute
in der Hauptversammlung Satzungsänderungsanträge.
({1})
Natürlich ist einiges im Gange. Deshalb könnte eine
schnelle Vorlage eines angepassten VW-Gesetzes sicherlich manche Unruhe, die dem Konzern und Niedersachsen nicht guttut, vermeiden.
Liebe Frau Kollegin, wir sind uns darin einig, dass es
Unsicherheiten gibt und dass man die Sorgen der Mitarbeiter von VW ernst nehmen soll. Im Übrigen gibt es
keine Bestrebungen, die Mehrheit zu bekommen, sondern soweit ich weiß, gibt es ein Unternehmen, das
schon die Mehrheit hat. Es geht im vorliegenden Fall
auch ein Stück weit um Niedersachsen.
Wenn es um die Menschen geht, dann muss ich Sie
zumindest in der Hinsicht enttäuschen, wenn Sie der
Auffassung sein sollten, dass Ihr Antrag, den Sie hier
vorgelegt haben, mit der darin enthaltenen Begründung
die Sorgen der Menschen minimiert. Ich nehme gerne
zur Kenntnis, dass das Ihr Anliegen war, aber der Inhalt
dieses Antrags ist dafür völlig ungeeignet.
({0})
Ich will gleich noch nähere Auskunft dazu geben. Ich
glaube, es ist klüger, wenn wir rechtlich fundiert Wert
darauf legen, dass das Land Niedersachsen weiterhin in
erheblichem Maße für die Stabilität des Unternehmens
und damit auch für die Mitarbeiter sorgen kann, zum
Wohle Niedersachsens und damit im Prinzip auch zum
Wohle Deutschlands und Europas; denn es gibt auch
noch einige andere Standorte, wo VW ebenso erfolgreich ist.
({1})
Deswegen möchte ich gerne mit Ihnen daran arbeiten,
dass die Ängste und die Sorgen der Mitarbeiter von VW
abgebaut werden können. Ich bestreite nur, dass das mit
Ihrem Antrag möglich ist.
Ich will zum letzten Punkt kommen. Die Entscheidung des EuGH hat das Gefühl der Unsicherheit hinterlassen; Sie haben das angesprochen. Die Demonstrationen heute in Hamburg sind ein Beleg dafür; das ist gar
keine Frage. Wir müssen die Menschen mit ihren Sorgen
ernst nehmen und sie davon überzeugen, dass Volkswagen mit einem angepassten VW-Gesetz Garant für Beschäftigung und Wachstum bleiben wird. Die Ängste aus
politisch durchsichtigen Motiven aber noch zu schüren,
ist der falsche Weg. Ich weiß gar nicht, ob Sie das wollten, aber lesen Sie sich Ihren Antrag durch. Wenn Sie
Horrorszenarien an die Wand malen, dann sagen wir:
Die lange Erfolgsgeschichte von Volkswagen ist direkt
mit dem VW-Gesetz verknüpft, das die AG seit 1960 begleitet hat. Im Übrigen ist Volkswagen deshalb - jedenfalls aus meiner Sicht - mit BMW oder mit MercedesBenz nicht vergleichbar. Bei Volkswagen wollte man
stets keine so große Dominanz und weniger Aktionäre;
vielmehr wollte man eine Art Volksaktie.
Die unzähligen Arbeitnehmer, die die Stabilität des
Konzerns mit erarbeitet haben, und auch unzählige Aktionäre haben von der guten Entwicklung dieses Unternehmens profitiert. Ich halte deshalb eine eng an der
Entscheidung des EuGH orientierte Anpassung des VWGesetzes für vorzugswürdig. Einer solchen Umsetzung
wäre durch die Streichung der Regelung über die Stimmrechtsbeschränkung in § 2 VW-Gesetz sowie der Regelung hinsichtlich der Entsenderechte Genüge getan. Aus
meiner Sicht könnten die übrigen Bestimmungen des
VW-Gesetzes dann unverändert bestehen bleiben.
Ich will zum Abschluss darauf hinweisen: Das VWGesetz wird es wohl weiterhin geben; das ist jedenfalls
mein Wunsch. Die Bundesregierung hat die Absicht,
dieses Gesetz in abgespeckter Form bestehen zu lassen.
Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf in der Sache überflüssig
und in den weitesten Teilen der Begründung falsch. Im
Ergebnis kann ich den von der Linksfraktion vorgelegten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des VW-Gesetzes
mit voller Überzeugung ablehnen. Ich empfehle das
auch dem Rest des Hauses. Ich erwarte hoffnungsfroh
den fundierten Entwurf der Bundesjustizministerin.
Ich danke sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
Kollegin Thea Dückert das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir, Bündnis 90/Die Grünen, unterstützen das
Anliegen, hier ein europakonformes VW-Gesetz zu diskutieren, vorzubereiten und umzusetzen. Ich hätte mir
bei dem Beitrag des Kollegen aus Niedersachsen schon
gewünscht, dass weniger juristische Arroganz zur Aufführung gebracht wird.
({0})
Das muss ich ehrlich sagen.
Sie von der Bundesregierung haben es bisher nicht
zustande gebracht, einen Vorschlag zu machen, weil natürlich juristische Fragen zu klären sind. Das muss man
sorgfältig tun. Wir können es uns nicht leisten, noch einmal so etwas vom EuGH ins Stammbuch geschrieben zu
bekommen, wie es beim VW-Gesetz der Fall gewesen
ist. Das ist völlig klar.
({1})
Dass Sie einen solchen Vorschlag noch nicht gemacht
haben, liegt auch daran, dass Sie in der Bundesregierung
mit sich selber noch längst nicht im Reinen sind. Um das
zu erkennen, müssen wir uns nur einmal anschauen, was
uns die Union hier tagtäglich vorführt: Herr Glos ist gegen ein VW-Gesetz. Herr Oettinger ist gegen ein
VW-Gesetz. Herr Wulff ist natürlich für ein VW-Gesetz;
schließlich will er sich als Industriekapitän in Niedersachsen herausstellen. Sie wissen doch überhaupt noch
nicht, in welche Richtung Sie wollen. Dennoch verbreiten Sie sich hier in Arroganz. Das ist diesem Thema
nicht angemessen.
In der Diskussion hat sich ein anderes Problem offenbart. Das Ganze ist ebenfalls eine sehr bizarre Aufführung; sie wird uns von der FDP präsentiert. Auf der
einen Seite unterstützt der niedersächsische Wirtschaftsminister Hirche, FDP, ein solches Vorhaben; jedenfalls
hat das Ministerpräsident Wulff, CDU, in der Debatte
zum Ausdruck gebracht, als er für Herrn Hirche gesprochen hat. Auf der anderen Seite hat Herr Brüderle in der
letzten Woche in der Welt eine große ordnungspolitische
Philippika geschrieben. Seine Qualifizierung dort lautete: gewissenlose Klientelpolitik. Diese will er offenbar
seinem Parteikollegen Minister Hirche anlasten. Auch
das sorgt für viel Verwirrung in der politischen Debatte.
Unter dem Strich ist eines klar - das wissen alle; es ist
vorhin deutlich dargestellt worden -: VW in Niedersachsen hat eine besondere Historie. Davon abgeleitet, gibt
es eine besondere politische Verantwortung, die die Regierungen ernst nehmen müssen. Das ist ein Grund dafür, dass es für Niedersachsen sinnvoll ist, eine - natürlich EuGH-konforme - Fortführung dieses Gesetzes
vorzubereiten. Aber Sie stehen in der Pflicht, diesen Entwurf dann hier auch zur Debatte zu stellen, damit wir
uns damit auseinandersetzen können. - Das ist der eine
Punkt.
Der andere Punkt: Wir diskutieren hier vor dem Hintergrund einer aktuellen politischen Diskussion - deswegen halte ich den Vergleich mit Nokia nicht für an den
Haaren herbeigezogen - und wissen, dass Standortverlagerungen, die über die Interessen der Beschäftigten und
der Standorte hinweggehen, nicht weiterhin zugelassen
werden können. Man wäre doch, ehrlich gesagt, etwas
dumm, wenn man in Niedersachsen so etwas zuließe, zumal andere Möglichkeiten bestehen.
({2})
Noch ein Wort zu Porsche und der Unruhe, die entstanden ist: Ich teile nicht das Feindbild, das dort gegenüber Porsche aufgebaut wird, weil Porsche letzten Endes
den Heuschrecken, vor denen Angst bestand, die Tür vor
der Nase zugeschlagen hat.
({3})
Porsche hat hier Sicherheit hineingebracht. Aber das
Verhalten der Porsche AG hat im letzten Jahr auch Unruhe in die Belegschaft hineingebracht, die sich die
Frage stellen musste, wie es mit VW weitergehen werde.
In diesem Zusammenhang brächte natürlich ein VW-Gesetz für Niedersachsen mehr Sicherheit.
Ich komme zum Schluss und sage hier ganz deutlich
an die Adresse der Bundesregierung und vor allem der
Regierungsfraktionen: Klären Sie das Problem miteinander und agieren Sie hier nicht so populistisch, wie es
Herr Wulff in Niedersachsen auch gern tut.
({4})
Wir sind ganz dicht bei Ihnen. Wir wollen eine europakonforme Lösung, auch wenn sie nicht ganz einfach ist.
Wir werden uns zu gegebener Zeit damit auseinandersetzen. Jetzt aber sind Sie erst einmal in der Pflicht, dem
Parlament etwas vorzulegen und nicht nur zu reden.
Danke schön.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem Zitat aus der Zeit, das vom VWGesamtbetriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh stammt:
Beim Zeitunglesen beschleicht mich oft das Gefühl,
dass es zwei Volkswagen-Konzerne geben müsse:
hier den modernen Global Player, der im Jahr 2007
die Marke von 6 Millionen Fahrzeugen geknackt
und einen Vorsteuer-Gewinn von über 6,5 Milliarden Euro erwirtschaftet hat, da einen rückständigen,
in der niedersächsischen Provinz gefangenen Koloss, der sich mühsam über Wasser hält. Aber
- so Osterloh weiter es gibt nur einen Volkswagen-Konzern - und der ist
anders, als die medialen Zerrbilder ihn darstellen.
VW ist heute ein hochprofitabler und erfolgreicher
Fahrzeughersteller, der enorme Flexibilität mit hoher Stabilität verbindet.
Ich glaube, dass Osterloh mit den Worten Flexibilität
und Stabilität genau das beschreibt, was den VW-Konzern bis heute ausmacht und auch in Zukunft ausmachen
muss.
Dass dies so ist, ist in der Tat das Ergebnis eines VWGesetzes aus dem Jahr 1960, das sich bewährt hat. Konzernführung und Belegschaft konnten auf dieser Grundlage erfolgreich arbeiten und in sehr kritischen Situationen Alternativen zu Massenentlassungen entwickeln. Im
Laufe der Jahre haben sich sehr zukunftsfähige, von anderen sehr aufmerksam beobachtete und zum Teil kopierte Arbeits- und Tarifmodelle sowie eine beständige
Zukunftssicherung des Unternehmens entwickelt. Es
war immer eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit
und ausreichend viel Beschäftigung.
Im Übrigen bin ich der Meinung - dies habe ich seinerzeit auch schon im Europäischen Parlament vertreten -,
dass der freie Kapitalverkehr durch das VW-Gesetz nie
wirklich behindert worden ist. Die Realität zeigt sehr
deutlich, dass dies nicht der Fall gewesen ist.
({0})
Allein, der EuGH ist aus zumindest juristisch nachvollziehbaren Gründen zu seiner Entscheidung gekommen.
Bezüglich der Frage, ob man den EuGH kritisieren
darf oder nicht, will ich mich schlichtweg den Worten
anschließen, die heute Morgen der Ministerpräsident von
Rheinland-Pfalz zu diesem Thema gefunden hat. Natürlich hat man Respekt vor der Entscheidung des höchsten
europäischen Gerichts. Das steht gar nicht zur Diskussion. Ich glaube aber, es ist schon erlaubt, über manche
Entscheidungen, die dort getroffen werden, zu debattieren, insbesondere dann, wenn dort eine Abwägung zwischen Bürgerrechten und Kapitalfreiheit vorgenommen
wird. Das sollten wir schon in aller Deutlichkeit kritisieren; wir sollten klarmachen, dass das nicht in unserem
Sinne ist.
Man darf nicht vergessen - das ist schon von meinen
Vorrednern gesagt worden -, dass Gegenstand des Urteils des EuGH nicht das VW-Gesetz insgesamt war,
sondern dass es hier um einzelne Regelungen wie Entsenderechte, Stimmrechtsbeschränkungen und das erhöhte Mehrheitserfordernis ging. Nach dem EuGH verstoßen also das Entsenderecht sowie das Zusammenspiel
von Stimmrechtsbeschränkungen und erhöhtem Mehrheitserfordernis gegen den im europäischen Recht verankerten freien Kapitalverkehr. Es ist jetzt unsere Aufgabe,
ein neues, EU-konformes VW-Gesetz auf den Weg zu
bringen und somit die Entscheidung des EuGH in nationales Recht umzusetzen.
Ich schließe mich den Worten von Herrn Grosse-Brömer, dass der Entwurf der Linkspartei dem von mir gerade formulierten Anspruch nur unzureichend gerecht
wird, innerlich an. Ich bin davon überzeugt, dass der
Entwurf, der im Hause von Brigitte Zypries, unserer
Bundesjustizministerin, ausgearbeitet worden ist und
jetzt auf den Weg gebracht werden wird, der Entscheidung des EuGH gerecht wird und wir dieser Lösung folgen sollten.
({1})
Im Übrigen - das ist ja zumal aus sozialdemokratischer
Sicht nicht ganz unwichtig - findet dieser Entwurf auch
die Zustimmung des VW-Gesamtbetriebsrates.
Die Sicherung von Standorten und Arbeitsplätzen bei
VW ist von großer Bedeutung. An der Produktion dort
hängen zahlreiche Arbeitsplätze, nicht nur in den Werken - das ist schon gesagt worden -, sondern auch bei
den Zulieferern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der heutigen
Hauptversammlung ist eines deutlich geworden: Die Beschäftigten bei VW erwarten ein klares Bekenntnis der
Politik zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Ich bin davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf, der
sich auf dem Weg befindet, dieses Bekenntnis zum Ausdruck bringt. Ich würde mir wünschen, dass die Bundeskanzlerin und die gesamte CDU/CSU-Fraktion
({2})
- nicht nur die Landesgruppe, sondern die gesamte
CDU/CSU-Fraktion - diesem Entwurf uneingeschränkt
zustimmen; der Redner von der CDU/CSU hat diese Absicht ja heute zum Ausdruck gebracht. Dann können wir
nämlich sehr schnell zur Tat schreiten und wieder die Sicherheit und Stabilität schaffen, die die Beschäftigten zu
Recht von uns erwarten.
({3})
Setzen Sie sich also in Ihrer Fraktion durch!
({4})
Sagen Sie dem Kollegen Glos, dass er nicht auf Zeit
spielen soll, sondern dass wir Klarheit brauchen. Dann
können wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Das ist
das Entscheidende.
Ich glaube in der Tat, dass wir auf dem richtigen Weg
sind, indem wir ein EU-konformes Gesetz erarbeiten.
Gleichwohl ist und bleibt es Bestandteil dieses VW-Gesetzes - als Niedersachse will ich darauf noch einmal
hinweisen -, dass das Land seine Mitwirkungsrechte sichern muss. Das Land Niedersachsen hätte nun aber seinen Anteil, wie wir das immer wieder gefordert haben,
schon vor zwei Jahren deutlich erhöhen müssen. Damals
kosteten VW-Aktien nicht einmal ein Drittel des heutigen Kurswertes. Dieses Versäumnis rächt sich jetzt. Das
Engagement des Ministerpräsidenten steht insbesondere
vor dem Hintergrund, dass sein Wirtschaftsminister von
den Liberalen mehrfach den Verkauf der Landesanteile
gefordert hat, auf tönernen Füßen.
({5})
- Wenn Sie sich da einig sind, ist ja alles wunderbar.
({6})
Ich werde jedenfalls mit Interesse die zu Protokoll gegebene Rede von Herrn Brüderle zu diesem Thema lesen.
Ich bin mir nicht sicher, ob die FDP mit uns Niedersachsen wirklich an einem Strang ziehen wird.
({7})
Ich glaube - ich will es noch einmal betonen -, der Gesetzentwurf, der auf dem Weg ist, ist die richtige Antwort auf die Entscheidung des EuGH. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass er so schnell wie möglich
im Interesse der Beschäftigten von Volkswagen und des
gesamten Konzerns Realität wird. Die Zeiten, die VW
vor sich hat - das hat man heute in Hamburg wieder
deutlich gesehen -, werden schwierig genug. Deswegen
ist es aus unserer Sicht dringend notwendig, dass ein
EU-konformes Gesetz Realität wird. Lassen Sie es uns
gemeinsam machen. Der Gesetzentwurf der Linkspartei
ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin wird ein solcher
sein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Rainer Brüderle hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1) Damit schließe ich die Aussprache zu
diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/8449 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 15. Dezember 2003
über Politischen Dialog und Zusammenarbeit
zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Andengemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
({0}) andererseits
- Drucksache 16/8654 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({1})
- Drucksache 16/8908 Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Lothar Mark
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({2})
Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kol-
leginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Eduard Lintner, Lothar Mark, Marina Schuster, Heike
Hänsel und Thilo Hoppe.2)
Damit kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Aus-
wärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/8908, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/8654 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei-
ten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Jo-
sef Fell, Dr. Gerhard Schick, Sylvia Kotting-Uhl,
1) Anlage 10
2) Anlage 11
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fonds Ökowandel - Neues Wirtschaften mit
altem Geld - Der grüne Fonds aus den Rückstellungen der Atomwirtschaft
- Drucksache 16/8220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Auch hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen
ihre Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Joachim Pfeiffer,
Rolf Hempelmann, Christoph Pries, Gudrun Kopp,
Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell.3)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8220 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({5})
Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe
Sachstandsbericht zum Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“
- Drucksache 16/7247 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Professor Dr. Heinz Riesen-
huber, Andrea Wicklein, Waltraud Wolff, Dr. Christel
Happach-Kasan, Ulla Lötzer und Sylvia Kotting-Uhl.4)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7247 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe auch dazu
keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
3) Anlage 12
4) Anlage 13
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
und Reaktorsicherheit ({7}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Christel HappachKasan, Hans-Michael Goldmann, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Fischartenschutz fördern - vordringliche
Maßnahmen für ein Kormoranmanagement
- Drucksachen 16/3098, 16/8218 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Eva Bulling-Schröter
Undine Kurth ({8})
Die Kolleginnen und Kollegen Josef Göppel, Chris-
toph Pries, Dr. Christel Happach-Kasan, Eva Bulling-
Schröter und Undine Kurth haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8218,
den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3098
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion der FDP bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Jörn Wunderlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die Rücknahme der Vorbehaltserklärung
zur UN-Kinderrechtskonvention und eine - hiervon unabhängige - effektive Umsetzung der
Kinderrechte im Asyl- und Aufenthaltsrecht
- Drucksache 16/8885 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Kolleginnen und Kollegen Johannes Singhammer, Marlene Rupprecht ({10}), Miriam Gruß,
Ulla Jelpke und Ekin Deligöz haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8885 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 14
2) Anlage 15
Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunk-
ten 25 a und 25 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Marieluise Beck ({11}), Volker Beck
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklung in Afghanistan - Strategien für
eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent
umsetzen
- Drucksache 16/8887 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Afghanistan eine Chance für legalen lizenzierten Mohnanbau geben - Drogenmafia wirksam bekämpfen
- Drucksache 16/7525 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch hier wurde vereinbart, dass die Reden folgender
Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Eckart von Klaeden, Detlef Dzembritzki, Harald Leib-
recht, Heike Hänsel und Ute Koczy.3)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/8887 und 16/7525 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Jawohl. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. - Ich sehe, Sie sind erleichtert ob der späten Zeit.
({15})
Ich wünsche Ihnen deshalb einen schönen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 25. April 2008, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.