Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor dem Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Folgendes bekannt geben: Interfraktionell ist vereinbart
worden, den Tagesordnungspunkt 6 - es handelt sich dabei um den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung sowie weitere Berichte zum Thema um die Beratung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Programm für ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut - Eine Neuformulierung
des Dritten Armuts- und Reichtumsberichtes“ auf
Drucksache 16/10654 zu ergänzen. Außerdem soll der
Tagesordnungspunkt 9 abgesetzt und an dieser Stelle der
Tagesordnungspunkt 16, bei dem es um die Medienkompetenz Älterer geht, beraten werden. Sind Sie mit diesen
Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwürfe zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes.
Wegen des ressortübergreifenden Themas wird zunächst die Bundesministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Frau Dr. Ursula von der Leyen, und
anschließend die Bundesministerin der Justiz, Frau
Brigitte Zypries, das Wort für einen einleitenden Bericht
erhalten. - Ich bitte Sie, Frau von der Leyen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat heute einen Gesetzentwurf zur Verbesserung
des Kinderschutzes beschlossen. Dieser Gesetzentwurf
schließt Lücken, vor allem zum Schutz kleinerer Kinder.
Wir wissen, dass ein Drittel der Kinder, die misshandelt
werden, jünger als ein Jahr sind. In zwei Dritteln der
Fälle ist es die leibliche Mutter, die dies getan hat, und in
einem Drittel der Fälle der leibliche Vater oder der neue
Partner.
Jetzt werden drei Rechtsbereiche verbindlich geregelt:
Erstens. Wir schaffen eine Befugnisnorm zur Informationsweitergabe für sogenannte Berufsgeheimnisträger. Das wird in einem zweistufigen Verfahren geregelt.
Die erste Stufe besteht darin, dass zum Beispiel ein Arzt
oder eine Ärztin oder Rechtsanwälte, die den Verdacht
auf Vernachlässigung oder Misshandlung haben, verpflichtet sind, zunächst das vertrauensvolle Gespräch
mit den Eltern zu suchen, Hilfe zu suchen. Wenn dieses
Gespräch nicht fruchtet und die Hilfe nicht angenommen
wird, muss in einer zweiten Stufe das Jugendamt eingeschaltet werden. Wichtig ist, dass dann der Kinderschutz
über der Schweigepflicht steht. Wir sehen in dem Gesetzentwurf ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass sich
diese Berufsgruppen fachlich beraten lassen, um bei ihrer Einschätzung sicher zu sein.
Dieses zweistufige Verfahren soll auch für andere Berufsgruppen gelten, die mit der Erziehung, Betreuung
und Ausbildung von Kindern befasst sind, zum Beispiel
Lehrerinnen und Lehrer. Diese Berufsgruppen handelten
bisher quasi in einem luftleeren Raum. Es gab keine Regelung. Jetzt soll gelten: Erst muss das Gespräch mit den
Eltern und fachliche Hilfe gesucht und dann als Ultima
Ratio das Jugendamt eingeschaltet werden.
Zweiter Punkt. Mit dem Kinderschutzgesetz schaffen
wir verbindliche Standards für die Arbeit des Jugendamtes. Wir regeln, dass bei Verdachtsmomenten bezüglich Misshandlung und Verwahrlosung grundsätzlich das
Kind angeschaut werden muss. Das heißt, es reicht nicht
aus, sich auf Aussagen Dritter zu verlassen oder nur
nach Aktenlage zu entscheiden. In vielen Jugendämtern
ist das bereits gängige Praxis, aber eben nicht überall,
wie wir durch die Auswertung der schrecklichen Fälle
von Kindstötung, schwerer Misshandlung und Verwahrlosung wissen. Es ist auch geregelt, dass grundsätzlich,
im Sinne einer Regelverpflichtung, der Hausbesuch gilt.
Dritter Punkt. Die Informationen über das Kind werden bei einem Wohnortwechsel der Familie weitergegeben. Wir wissen aus den Auswertungen von Kinderschutzfällen, dass manche Familien, die auffällig
Redetext
geworden sind, umziehen, um sich der Kontrolle des Jugendamtes zu entziehen. Wir regeln nun verbindlich,
dass die Informationen von einem Jugendamt zum
nächsten weitergegeben werden müssen, und zwar nicht
nur in Form der Akten; grundsätzlich muss auch ein
Übergabegespräch stattfinden.
Somit setzt der Entwurf des Kinderschutzgesetzes auf
Grundlage der Beschlüsse, die sowohl von der Bundeskanzlerin als auch von allen Regierungschefs der Länder
gemeinsam gefasst worden sind, klare Signale für einen
besseren Kinderschutz in Deutschland.
Frau Ministerin Zypries, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin von der Leyen hat es gerade gesagt: Bei den
Gesetzentwürfen, die das Kabinett heute beschlossen
hat, geht es um die Umsetzung der Beschlüsse des sogenannten Kindergipfels vom Juni des letzten Jahres.
Das Bundesministerium der Justiz ist davon durch
eine Erweiterung des Führungszeugnisses betroffen.
Lassen Sie mich das ganz kurz erklären: Das Führungszeugnis ist eine Bescheinigung darüber, ob jemand eine
Straftat begangen hat und wozu er verurteilt wurde. Wir
sehen mit diesem Gesetzentwurf vor, ein sogenanntes erweitertes Führungszeugnis einzuführen. Das heißt, wir
wollen auch solche Verurteilungen zu Tagessätzen oder
Freiheitsstrafen in ein Führungszeugnis aufnehmen, die
bisher nicht dokumentiert werden. Das Führungszeugnis
- wie auch die Löschungsfristen für registrierte Verurteilungen - wägt ja zwischen dem Interesse der Menschen,
mit denen ein verurteilter Straftäter umgeht, und seinem
Interesse an der Resozialisierung ab. Deswegen sehen
wir Löschungsfristen vor, und Erstverurteilungen bis zu
90 Tagessätzen oder bis zu drei Monaten Freiheitsstrafe
wurden bisher nicht ins Führungszeugnis aufgenommen.
Wir haben jetzt einen Vorschlag vorgelegt, den das
Hohe Haus zu beraten haben wird, in dem wir vorsehen,
dass künftig auf Anfrage auch mitgeteilt wird, ob jemand insbesondere aufgrund eines Sexualdeliktes zu
weniger als 90 Tagessätzen oder weniger als drei Monaten Freiheitsstrafe erstmalig verurteilt wurde. Dies
wurde bisher nicht ausgewiesen. Angefordert werden
kann dieses sogenannte erweiterte Führungszeugnis immer dann, wenn Personen regelmäßig mit Kindern und
Jugendlichen in Kontakt kommen.
Wir haben also auch hier das Resozialisierungsinteresse des Täters im Blick behalten, indem wir eben nicht,
wie es in dem Ihnen vorliegenden Bundesratsentwurf der
Fall ist, vorsehen, dass generell für jede Einstellung eine
solche Mitteilung erfolgt. Vielmehr differenzieren wir
zwischen Menschen, die bei ihrer beruflichen oder auch
ehrenamtlichen Beschäftigung mit Kindern und Jugendlichen regelmäßig in Kontakt kommen, und solchen, die
das nicht tun.
Das heißt ganz konkret: Jemand, der zum Beispiel
den ganzen Tag auf einem Kran sitzt oder eine Betonmischmaschine fährt, hat so gut wie keine Möglichkeit,
bei der Ausübung seines Berufs mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu kommen, und braucht deshalb
dieses erweiterte Führungszeugnis nicht vorzulegen. Allerdings empfehlen wir dringend allen Personen, die beruflich oder ehrenamtlich Menschen beschäftigen, die
mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, künftig dieses sogenannte erweiterte Führungszeugnis zu verlangen, um sich auf diesem Wege vergewissern zu können,
ob die Person aufgrund von leichteren Straftaten insbesondere im Bereich der Sexualdelikte verurteilt wurde.
Das sind die Grundzüge. Für Fragen stehe ich zur
Verfügung.
Danke schön, Frau Ministerin. - Ich bitte, zunächst
Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den
soeben berichtet wurde.
Ich gebe das Wort zur ersten Frage der Kollegin
Deligöz.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe eine Frage
an Frau von der Leyen. Frau von der Leyen, habe ich
richtig verstanden, dass Sie planen, die Schweigepflicht
der sogenannten Geheimnisträger, also zum Beispiel
Ärzte, Berater und andere, zulasten des Vertrauensverhältnisses zu den Patienten oder Klienten zu lockern?
Warum glauben Sie - dann, wenn ich Sie richtig verstanden habe -, dass die bereits bestehenden Regelungen,
zum Beispiel § 34 des Strafgesetzbuches, nicht ausreichend sind und erweitert werden müssen?
Bitte schön.
Wir wollen die Regeln zur Schweigepflicht zugunsten
des Kinderschutzes verändern. Das wird vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ausdrücklich begrüßt.
Bisher ist im Strafgesetzbuch geregelt - Sie haben darauf hingewiesen -, wann und wie ein Arzt oder eine
Ärztin bestraft werden kann, wenn er oder sie die
Schweigepflicht bricht. Das hat in der Ärzteschaft zu einer großen Unsicherheit geführt: Wenn ein Arzt ein Kind
sieht, bei dem der Verdacht auf Misshandlung besteht,
dann weiß er nicht, ob er das Jugendamt informieren
darf, ohne straffällig zu werden.
Deshalb ist jetzt klargestellt, dass erst das vertrauensvolle Gespräch mit den Eltern und Hilfe gesucht wird.
Wenn das aber nicht fruchtet, muss der Arzt oder die
Ärztin nicht noch den schlagenden Vater fragen, ob das
Jugendamt eingeschaltet werden darf.
({0})
Die nächste Frage stellt die Kollegin Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch ich habe eine
Frage an die Familienministerin. Frau von der Leyen,
wenn das, was Sie bislang im Kabinett diskutiert - das
ist auch öffentlich nachzulesen - und hier gerade erläutert haben, vom Parlament so beschlossen werden
würde, würden die Aufgaben der Kommunen in Sachen
Kinderschutz erheblich erweitert, zumindest wenn ernsthaft an der Umsetzung dieser zahlreichen Aufgaben gearbeitet würde. Deshalb möchte ich Sie fragen, inwieweit geklärt ist, ob die Kommunen in die Lage versetzt
werden, diese Aufgaben durchzuführen, ob auch ihre finanzielle Ausstattung deutlich erweitert würde; denn sie
müssten ihre Leistungen im Jugendamtsbereich sowie in
anderen Bereichen intensivieren. Gibt es Vereinbarungen zwischen den Ländern und Ihnen über die konkrete
Frage, wie die Kommunen in die Lage versetzt werden,
diesen erweiterten Aufgabenbereich wahrzunehmen und
ihn auch zu finanzieren?
Bitte schön.
Sie sprechen den zweiten Regelungsbereich an, nämlich die Klarstellung für Jugendämter, dass diese dann,
wenn ein Verdacht auf Misshandlung oder Verwahrlosung vorliegt, verpflichtet sind, sich das Kind anzuschauen, statt nur in die Akten zu sehen oder sich auf das
Wort von Eltern oder Großeltern zu verlassen, wenn
diese sagen: Dem Kind geht es gut; es ist im Augenblick
nicht da; es schläft; wir können es Ihnen nicht zeigen.
In der überwiegenden Zahl der Jugendämter ist es
schon heute der Regelfall, dass man sich das Kind ansieht. Ich denke, es ist nachvollziehbar und plausibel,
dass man sich bei Verdacht auf Misshandlung eines Kindes zuerst das Kind anschaut. Aber es gibt und gab Fälle
- das haben wir in der Auswertung festgestellt -, in denen über Wochen nur aufgrund der Aktenlage entschieden wurde. Man hat sich darauf verlassen, dass Dritte
gesagt haben, dem Kind gehe es gut. Auf diese Weise ist
gewissermaßen unter den Augen des Jugendamtes oder
der Behörden ein Kind verhungert. Deshalb stellen wir
die Lage klar.
Ich sehe das auch als Rückenstärkung für die Jugendämter. Wie gesagt, die überwiegende Zahl der Jugendämter verfährt so, dass das Kind angeschaut wird. Aber
in den Jugendämtern, in denen dies mangels Zeit oder
Personal nicht möglich ist, muss in der Tat, gemeinsam
etwa mit dem Stadtkämmerer, der Kommune oder der
Verwaltung, die Frage beantwortet werden: Warum geht
bei uns nicht das, was in anderen Kommunen selbstverständlich ist? - Wir wollten gesetzlich klarstellen, dass
es selbstverständlich sein muss, dass die Kinder persönlich angeschaut werden.
Herr Kollege Lehrieder.
Meine Frage geht ebenfalls an die Frau Familienministerin von der Leyen. Frau von der Leyen, was ist,
wenn eine Familie den Hausbesuch nicht zulässt, das
heißt, wenn die aufsuchende Hilfe an der Haustür abgewiesen wird? Und werden künftig auch Fachkräfte der
freien Träger, zum Beispiel die Erzieherinnen in Kitas,
zu diesen Hausbesuchen verpflichtet?
Ihre Frage bezieht sich auf die Regelverpflichtung
zum Hausbesuch. Der Gesetzentwurf besagt, dass in der
Regel ein Hausbesuch stattfinden muss; denn wir haben
festgestellt, dass es gerade im Hinblick auf kleine Kinder
und Säuglinge ganz entscheidend ist, zu prüfen: Wie leben sie? Wie sieht die Wohnung aus? Wie ist ihre Umgebung? Von dieser Regelverpflichtung gibt es allerdings
Ausnahmen. Wenn vermutet wird, dass die Gewaltsituation eskaliert, zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch,
ist das Jugendamt nicht verpflichtet, einen Hausbesuch
durchzuführen. Dann müssen zuerst andere Wege gegangen werden.
Sie fragten, was geschieht, wenn Eltern das Zutrittsrecht verweigern. In einem solchen Fall bleibt alles wie
bisher; denn es ist das Recht der Wohnungsinhaber, in
diesem Falle der Eltern, den Zutritt zur Wohnung zu verweigern. Wenn aber Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht, muss die Polizei eingeschaltet werden. Die
Polizei kann sich dann Zutritt zur Wohnung verschaffen.
Hier gibt es also eine ganz klare Trennung zwischen
dem, was Aufgabe des Jugendamtes ist, und dem Schutz
des Kindes bei Gefahr für Leib und Leben, der in letzter
Konsequenz Aufgabe der Polizei ist.
Zu Ihrer zweiten Frage. Die Erzieherinnen und Erzieher, von denen Sie sprachen, werden nicht verpflichtet,
Hausbesuche durchzuführen. Uns war wichtig, einen Bereich zu regeln, der bisher noch nicht geregelt war: Wie
können sich Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen
und Lehrer verhalten, wenn der Verdacht der Misshandlung oder Verwahrlosung besteht? Da gilt: Zunächst
muss ein Gespräch mit den Eltern geführt und Hilfe von
außen gesucht werden, und erst wenn alle Stricke reißen,
muss das Jugendamt eingeschaltet werden, das dann
seine Pflicht tun muss.
Herr Kollege Beck.
Auch ich habe eine Frage an Frau von der Leyen. Mir
ist allerdings nicht klar, ob das Thema, das ich ansprechen möchte, in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist; in
Ihrem Vortrag haben Sie es nämlich nicht erwähnt. Sie
haben sich in den letzten Tagen wiederholt zur Sperrung
kinderpornografischer Inhalte im Internet geäußert. Daher möchte ich von Ihnen wissen: Wird dieses Thema
auch in Ihrem Gesetzentwurf aufgegriffen, und, wenn ja,
wie werden die entsprechenden Regelungen ausgestaltet?
Volker Beck ({0})
In dem Ziel, die Kinderpornografie rückstandslos aus
dem Netz und aus unseren Gesellschaften zu verbannen,
sind wir uns einig. Allerdings haben Sie in Fernsehinterviews darauf hingewiesen, dass die Rechtslage in vielen
Ländern der Welt ein Verbot der Einstellung kinderpornografischen Materials, die Verfolgung der Einsteller
und somit die Sperrung dieser ekelhaften Inhalte nicht
ermögliche. Ich möchte von Ihnen wissen: In welchen
Ländern gibt es diese Probleme? Welche Länder haben
eine Rechtslage, die es nicht ermöglicht, die Herstellung
und Verbreitung von Kinderpornografie im Netz zu verbieten? Welche Versuche unternimmt die Bundesregierung, die Kooperation auf internationaler Ebene zu verbessern?
Die internationale Kooperation scheint auf diesem
Gebiet ohnehin wesentlich wichtiger zu sein als eine
Sperrung dieser Inhalte. Denn eine Sperre würde von
findigen Leuten sowieso umgangen werden, wie Sie
selbst auf Ihrer Website zugeben. Außerdem stößt in der
Internet-Community eine Sperre in diesem Bereich wegen einer möglichen Übertragung auf andere Bereiche
auf erhebliche Bedenken. Letztlich müssen wir uns die
Frage stellen, ob wir unseren Bürgern überhaupt noch
ein freies Internet zur Verfügung stellen können. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, Ausführungen zu Ihrer
Strategie und zu Ihren Überlegungen im Hinblick auf
mögliche Alternativstrategien zur Erreichung dieses Zieles zu machen.
Zunächst einmal: Eine Zugangssperre im Hinblick
auf kinderpornografische Websites ist nicht Bestandteil
dieses Kinderschutzgesetzes. Eine solche Regelung
müsste im Telemediengesetz, also an anderer Stelle, getroffen werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein
aktuelles Thema.
Sie fragten nach der unterschiedlichen Rechtslage in
den verschiedenen Ländern der Welt. Man muss es so
formulieren:
Erstens. In der Hälfte der Länder dieser Welt wird
Kinderpornografie überhaupt nicht geächtet, sondern toleriert bzw. akzeptiert.
Zweitens gibt es Länder, in denen Kinderpornografie,
also die Vergewaltigung und Misshandlung von Kindern, die mit Kameras gefilmt und von der Bilder oder
Filme ins Netz gestellt werden, geächtet wird. Wir wissen, dass es im europäischen Raum mittlerweile
16 Länder gibt, die sehr eng zusammenarbeiten, und
zwar auch mit einigen außereuropäischen Ländern.
Diese Zusammenarbeit umfasst die gesamte polizeitaktische Ermittlung und den Austausch von Polizeistrategien und Websites, die kinderpornografische Inhalte haben. Das zeigt, dass die wichtigsten Schritte im Kampf
gegen Kinderpornografie sind, die Täter zu ermitteln, die
es weltweit gibt, und die Quellen zu schließen, die weltweit verbreitet sind. Schon das Wort „weltweit“ zeigt,
dass diese Arbeit sehr schwierig, aufwendig und mühselig ist; nichtsdestotrotz muss sie gemacht werden.
Drittens sind da die Länder, die mit den Anbietern,
die den Kunden den Zugang zum Internet ermöglichen,
vereinbaren, dass Seiten mit kinderpornografischem Inhalt geblockt werden. In Europa haben sich inzwischen
neun Länder - unter anderem die skandinavischen Länder, Italien, die Schweiz, Großbritannien; hinzu kommt
als außereuropäisches Land Neuseeland - zu diesem
Zweck zusammengetan. Wir möchten gerne als zehntes
Land dabei sein. In diesen Ländern sollen die obersten
Polizeibehörden täglich das Internet nach kinderpornografischen Seiten screenen. Diese Seiten werden nämlich schnell wieder aus dem Netz genommen; das Ganze
erfolgt sehr dynamisch. Es geht darum, diese Seiten zu
identifizieren, das Wissen auszutauschen und es an die
Internetanbieter weiterzuleiten, damit diese die Seiten
blocken. Das Blocken selbst ist eine Sache von Minuten.
Für die Recherche braucht, wie uns die Experten sagen,
ein Spezialist etwa eine Stunde am Tag.
Natürlich braucht man im Kampf gegen Kinderpornografie verschiedene Bausteine. Die Zugangsblockade ist
einer dieser Bausteine. Sie wird schwer Pädokriminelle
nicht davon abhalten, ihr schmutziges Geschäft weiter
zu betreiben; diese Leute werden Möglichkeiten finden,
die Blockade zu umgehen. Aber das Massengeschäft
- die 15 000 Zugriffe, die Norwegen jeden Tag blockt,
die 50 000 Zugriffe, die Schweden, das ja gerade einmal
9 Millionen Einwohner hat, jeden Tag blockt - können
wir durch eine Zugriffssperre unmöglich machen. Damit
gehen den Tätern Einnahmen in Millionenhöhe verloren.
Deswegen ist dieser Ansatz strategisch wichtig.
Herr Kollege Montag, bitte.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich habe Fragen an
Frau Bundesjustizministerin Zypries. Frau Zypries, die
Bundesregierung avisiert mit diesem Gesetzentwurf,
dass Ärzte als Geheimnisträger bei Verdacht einer Gefährdung des Kindeswohls auch - nachdem sie mit den
Eltern gesprochen haben - mit den Behörden Kontakt
aufnehmen können. Ich möchte Sie zu der Haltung Ihres
Hauses und zu Ihrer persönlichen Einschätzung dazu befragen. Die Rechtslage ist doch klar: Wenn eine aktuelle
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit eines Menschen besteht, tritt § 203 StGB zurück. Darüber gibt es keine Unsicherheit; das steht auch in jedem Kommentar. Deswegen ist die Bemerkung Ihrer Kollegin Frau von der
Leyen, heute müsse ein Arzt den schlagenden Vater fragen, ob er sich ans Jugendamt wenden dürfe, schlicht unsachlich.
Jetzt schlägt die Bundesregierung vor, dass nun statt
einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit „nur“ - ich
sage das bewusst in Anführungszeichen - die Gefährdung des Kindeswohls ausreichen solle. Da stellt sich
die Frage, wie sich dieser Tatbestand scharf umfassen
lässt. Außerdem soll bereits der Verdacht ausreichen, der
sich im Nachhinein als völlig ungerechtfertigt herausstellen kann. Was bedeutet das für § 203 StGB? Wird
dieser Paragraf durchlöchert? Was wird bei der von Ihnen geplanten Neuregelung aus dem berechtigten Schutz
der Geheimnisträger und der Geheimnisse? Das würde
ich von Ihnen als Justizministerin gerne wissen.
Ein Zweites. Frau Zypries, Sie haben hier Ausführungen zum Bundeszentralregister gemacht. Es gibt ein erweitertes Zeugnis, das man benötigt, wenn man sich bei
Behörden bewirbt oder wenn man Beamter werden will.
Dieses erweiterte Zeugnis bekommt man selber gar nicht
in die Hand; es wird direkt an den künftigen Arbeitgeber
oder an die Dienststelle geschickt. Des Weiteren gibt es
das sogenannte beschränkte Zeugnis, in dem Bestrafungen von unter 90 Tagessätzen nicht aufgeführt werden.
Das können sich die Bürgerinnen und Bürger selbst bei
der Polizeiinspektion abholen.
Meine Frage lautet: Ist jetzt daran gedacht, dass das
Bundesamt für Justiz in Bonn ein solches erweitertes
Führungszeugnis direkt an private Arbeitgeber verschickt? Wenn das so ist: Nach welchen Kriterien soll eigentlich unterschieden werden, welche privaten Arbeitgeber ein solches erweitertes Führungszeugnis erhalten
sollen?
Frau Ministerin, bitte.
Herr Montag, um mit Ihrer zweiten Frage anzufangen: Weil das in der Tat schwierig wäre, ist es nicht vorgesehen, das so zu machen.
Das Führungszeugnis, das Sie als Erstes angesprochen haben, ist das sogenannte Behördenzeugnis. Das
können nur bestimmte Arbeitgeber anfordern. Wir reden
aber nicht nur von bestimmten Arbeitgebern, sondern
wir reden von allen Arbeitgebern. Deswegen wird es so
sein, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber aufgefordert wird, ein entsprechendes Führungszeugnis zu besorgen. Deshalb lautet mein Appell an die Arbeitgeber, sich
solche Führungszeugnisse vorlegen zu lassen. Hier besteht also keine Sorge.
Zu dem ersten Punkt. Es geht uns in der Tat darum,
den Umfang der Möglichkeiten, prüfen zu können, ob in
einer Familie etwas nicht in Ordnung ist, zu erweitern.
Deswegen halte ich das auch für richtig. Sie wissen, dass
ich da ohnehin eine Position vertrete, die von den Abgeordneten des Rechtsausschusses nicht geteilt wird. In der
letzten Legislaturperiode hatten wir schon einmal einen
Disput darüber.
Ich persönlich halte es für richtig, dass man sagt:
Auch dann, wenn sich hinterher herausstellt, dass das
Kind nicht geschlagen bzw. vernachlässigt wird, ist es,
wenn der begründete Verdacht besteht, dass das - was
auch immer dann dahintersteckt - der Fall sein könnte,
gerechtfertigt, dass sich das Jugendamt bzw. die Jugendbehörde darum kümmert und mit den Eltern oder mit anderen ein Gespräch führt, um festzustellen, ob dort eine
Gefahr vorhanden ist oder eben nicht; denn wenn wir
warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es
zu spät. Das ist ja gerade das, was wir vermeiden wollen.
Wir wollen deutlich machen: Es gibt hier eine bestimmte
Verantwortung, die frühzeitig wahrzunehmen ist.
Deswegen halte ich den Vorschlag der Bundesregierung, wie ihn die Kollegin von der Leyen gemacht hat,
für richtig. Das wurde durch mein Haus ja auch mitgezeichnet. Wir werden hier im Deutschen Bundestag bei
den Beratungen darüber zu diskutieren haben und sehen,
ob die Abgeordneten das mittragen oder ob sie meinen,
man müsse das anders machen. Das ist der normale
Gang der Dinge. Manche sagen Struck’sches Gesetz
dazu.
Herr Kollege Wunderlich, bitte.
Dankenswerterweise wurde eine Frage von mir bereits vorweggenommen, bei der es um die geltende
Rechtslage und die Schweigepflicht ging, auf die sich
viele Ärzte zurückziehen, was im konkreten Einzelfall
aber gar nicht zulässig ist. Deswegen sehe ich das Erfordernis nicht ganz so. Es gibt vielleicht ein Erfordernis
hinsichtlich eines Umdenkens der Ärzte, aber nicht hinsichtlich der gesetzlichen Regelung.
Ich habe eine Frage an Frau von der Leyen. Es gibt
den § 8 a des KJHG, in dem es um den Schutzauftrag des
Jugendamtes geht. Das ist geltendes Recht. Ist sichergestellt, dass für die Umsetzung des von Ihnen geschilderten Gesetzentwurfs, wie er vom Kabinett verabschiedet
worden ist, auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung
stehen? Im Bereich der Jugendämter und im Jugendhilfebereich ist jahre- und jahrzehntelang gekürzt worden. Es sind Sachmittel und Personalstellen gestrichen
worden, sodass der § 8 a KJHG schon jetzt nicht umgesetzt werden kann.
Im Konkreten: Es gibt Kommunen, in denen auf einen
Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes 200 Familien kommen. Wenn jetzt noch erweiterte Aufgaben
mit Hausbesuchen auf sie zukommen und bei einem normalen Achtstundentag sechs Minuten pro Familie bleiben - man muss natürlich sagen, dass nicht alle Familien
Problemfamilien sind -, dann frage ich mich, wie gewährleistet werden soll, dass das personell und finanziell
tatsächlich umgesetzt werden kann. Gibt es konkrete
Absprachen mit den Ländern und Kommunen dazu?
Ganz konkret: Werden die entsprechenden Mittel aufgestockt?
Die Aufstockung der kommunalen Mittel ist nicht
Aufgabe des Bundes, aber wir haben diesen Gesetzentwurf mit den Ländern vorher detailliert abgestimmt.
Deswegen hat seine Entwicklung auch lange gedauert.
Noch einmal dazu, was ich eben schon ausgeführt
habe: Das ist auch als Rückenstärkung für die Jugendämter zu verstehen. In einer Vielzahl der Jugendämter
findet ein gutes Management statt und ist aufgrund ausreichender Zeit- und Personalressourcen, von denen Sie
eben gesprochen haben, ein guter Kinderschutz gegeben.
Aber gerade dann, wenn im Gesetz eindeutig geregelt
ist, dass nicht nur nach Aktenlage entschieden werden
dürfe, sondern bestimmte Wege gegangen, Gespräche
geführt und die Kinder angeschaut werden müssten, ist
dies auch ein starkes Argument dafür, dass innerhalb einer Kommune die Mittel zum Beispiel zugunsten des Jugendamtes anders verteilt werden.
Frau Kollegin Golze, bitte.
Auch ich habe eine Frage an Frau Bundesministerin
von der Leyen: Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen
gesagt, dass es eine Fortbildung und Qualifizierung für
Kinder- und Jugendärzte geben solle, damit sie im Einzelfall konkret darauf vorbereitet seien, entscheiden zu
können, ob eine Vernachlässigung bzw. ein Verstoß gegen das Kindeswohl vorliege. Wie kann dies angesichts
des schon beschriebenen sehr weichen Begriffs „Gefährdung des Kindeswohls“ gewährleistet werden? Wie soll
die Qualifikation der Kinder- und Jugendärzte aussehen?
Auf welche Erfahrungswerte - mir ist bekannt, dass es in
einigen Bundesländern, zum Beispiel in MecklenburgVorpommern, Kolloquien in diese Richtung gibt - greift
die Bundesregierung zurück? Wie kann also gewährleistet werden, dass trotz eines so weich umschriebenen Begriffs wie „Gefährdung des Kindeswohls“ eine fassbare
Größe für die Kinder- und Jugendärzte gegeben ist, nach
der sie entscheiden können?
Ich habe eingangs nicht gesagt, dass eine Qualifikation und Weiterbildung der Ärzteschaft aufgrund dieses
Gesetzes oder durch uns erfolgen müsse. Die Weiterbildung und Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte obliegt
der Ärzteschaft in Eigenorganisation. Deshalb gibt es im
Hinblick auf die Versorgung auch den gesetzlichen Sicherstellungsauftrag, der beinhaltet, dass die Ärzteschaft
nach den Standards ihrer Kunst weitergebildet wird.
Sie haben eben schon skizziert, dass das Thema „Verwahrlosung und Misshandlung“, das in der Tat schwer
zu fassen ist, in der Ärzteschaft im eigenen Interesse, um
die Profession fortzubilden, inzwischen viel intensiver
diskutiert und auch bei Fortbildungen beachtet wird. Im
Gesetz wird deutlich gesagt, dass die Kaskade nach dem
Gespräch mit den Eltern bedeutet, nicht nur nach Hilfen
für die Eltern zu suchen, sondern dann, wenn man es als
Arzt oder Ärztin braucht, auch Hilfe von Expertinnen
und Experten zum Beispiel aus Kinderschutzzentren
oder von besonders qualifizierten Kinderärzten zu holen,
um sich zu vergewissern, dass die Verdachtsdiagnose
„Misshandlung und Verwahrlosung“ auf sicheren Füßen
steht, bevor an den dritten Schritt gedacht wird, sich mit
dem Jugendamt in Verbindung zu setzen.
Frau Kollegin Gruß, bitte.
Herzlichen Dank. - Wir alle wissen, dass Prävention
besser ist, als erst dann einzuschreiten, wenn schon etwas passiert ist. Daher frage ich Sie, Frau Bundesministerin, ob in diesem Zusammenhang auch geplant ist, ein
bundesweites Familienhebammenmodell aufzubauen.
Oftmals ergeben sich Fälle von Vernachlässigung und
Missbrauch aus Überforderungssituationen, die sich
nicht selten bereits sehr früh, etwa in der Schwangerschaft, erkennen lassen. Deswegen halte ich das Familienhebammenmodell für sehr gut. Ist diesbezüglich etwas in der Planung?
Meine zweite Frage zielt ebenfalls auf eine Definition
ab. In § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzentwurfs werden gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls
eines Kindes oder Jugendlichen genannt. Natürlich ist es
schwierig, so etwas zu definieren. Können Sie aber trotzdem etwas dazu sagen, wie festgestellt werden soll, was
gewichtige Anhaltspunkte sind? Wie sollen sie definiert
werden? Ein blauer Fleck ist offensichtlich. Aber oftmals sind Misshandlungen und Vernachlässigungen
nicht offensichtlich erkennbar. Was sind also gewichtige
Anhaltspunkte? Wie kann man sie feststellen und definieren? - Danke.
Ich beginne mit dem zweiten Teil Ihrer Frage: Hier ist
nicht der Ort, um die Fachdiskussion zu führen, wie man
die Diagnose „Misshandlung und Verwahrlosung“ sicher
stellen kann. Aber da Sie das Wort „blauer Fleck“ anführen, erinnere ich daran, dass blaue Flecken auf Schienbeinen bei Kindern selbstverständlich sind, weil sie hinfallen und sich stoßen. Anders verhält es sich aber bei
massiven blauen Flecken auf dem Rücken oder auf den
Streckseiten der Beine, auf die Kinder typischerweise
nicht fallen: Das sind die Pfade, bei denen die Ärzteschaft bestimmen muss, welche weiteren Schritte notwendig sind, um das medizinisch klarer zu fassen. Auch
unklare Brüche - zum Beispiel ein Schädelbruch -, deren Zustandekommen nicht plausibel ist, sind typische
Indizien, bei denen man nicht nur die Behandlung durchführen kann, sondern weiter gehende Fragen stellen
muss.
Sie fragten nach Modellprojekten zum Beispiel unter
dem Stichwort „Familienhebammen“. Solche Modellprojekte werden bereits durchgeführt. Es gibt im Nationalen Zentrum Frühe Hilfen inzwischen zehn bis zwölf
Modellprojekte. Allein zwei fallen mir auf Anhieb ein.
Das ist zum einen das Modellprojekt „Pro Kind“, das in
Bremen, Niedersachsen und Sachsen sehr stark vertreten
ist, und zum anderen das Modellprojekt „Guter Start ins
Kinderleben“, an dem Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen beteiligt sind. Dabei
wird exakt dieser Weg ausprobiert und untersucht, ob es
möglich ist, durch eine sehr viel intensivere Begleitung
auffälliger Familien mit neugeborenen Kindern durch
Familienhebammen sicherzustellen, dass in dieser Ausnahmesituation - es ist ein freudiges Ereignis, aber neugeborene Kinder sind auch manchmal anstrengend - die
Kinder den Start ins Kinderleben gut schaffen. Insofern
werden bereits Modellprojekte durchgeführt.
Frau Kollegin Noll, bitte.
Meine Frage richtet sich an die Frau Ministerin von
der Leyen. Es geht um Folgendes: Wir hören immer wieder von der Problematik, dass sich Familien der Kontrolle entziehen. Das heißt, sie betreiben nicht nur ÄrzteHopping, sondern auch Jugendamt-Hopping und wechseln regelmäßig ihren Wohnsitz. Bietet der Gesetzentwurf mehr Schutzmöglichkeiten?
Wie wir wissen, haben zum Beispiel in Duisburg die
Ärzte damit begonnen, ihre eigenen Dateien zu vernetzen, um gegebenenfalls - wenn Kinder bei unterschiedlichen Kinderärzten in derselben Stadt vorgestellt werden - durch Abruf der Daten festzustellen, ob das Kind
schon einem anderen Arzt vorgestellt wurde. Haben die
Jugendämter jetzt mehr Kontrollmöglichkeiten, um bei
einem Wohnortwechsel festzustellen, wo das Kind bleibt
und ob die anderen Jugendämter entsprechend informiert
sind? Bietet der Gesetzentwurf den Kindern den notwendigen Schutz?
Es sind vor allem zwei Bereiche schärfer gefasst bzw.
für die Jugendämter klarer formuliert worden. Erstens.
Wenn eine Familie schon dem Jugendamt bekannt und
ein Hilfeprozess für die Familie - vor allem zum Schutz
der Kinder - eingeleitet worden ist, dann sieht der Gesetzentwurf vor, dass bei einem Umzug der Familie nicht
nur die Daten und Akten an das nächste Jugendamt weitergeleitet werden müssen, sondern dass zwischen den
beiden Jugendämtern auch ein Übergabegespräch stattfinden muss, was eine sehr viel qualifiziertere Übergabeform als die Übermittlung der Akten ist.
Zweitens. Neu ist, dass dann, wenn zum Beispiel eine
Familie weggezogen ist und dann Verdachtsmomente
aufkommen, das Jugendamt nicht mehr - einfach ausgedrückt - nach der Haltung „aus den Augen, aus dem
Sinn“ handeln kann, sondern diese Verdachtsmomente
dem neuen zuständigen Jugendamt melden muss, damit
dort der weitere Hilfeprozess eingeleitet werden kann.
Wir wissen, dass es bei hochproblematischen Familien
vorkommt, dass sie zum Teil bis zu achtmal innerhalb
von zwei Jahren umziehen, um sich der Kontrolle des
Jugendamtes zu entziehen. Deshalb ist es sehr wichtig,
dass der Datenfluss zwischen den Jugendämtern auch
über die Landkreisgrenzen hinweg gewährleistet ist.
Im dritten Fall, wenn eine Familie bewusst untertaucht, ist das Jugendamt am Ende seiner Möglichkeiten.
Dann muss die Polizei eingeschaltet werden.
Mir liegen jetzt drei weitere Fragen vor, die ich noch
zulassen werde. - Herr Kollege Beck, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau von der Leyen,
ich möchte noch einmal auf das zurückkommen, worüber wir vorhin diskutiert haben. Können Sie sagen, welche Länder an vorderster Stelle liegen, was das Einstellen von Kinderpornografie ins Internet angeht, und
welche Initiativen die Bundesregierung ergriffen hat?
Mit den betreffenden Ländern müsste man sich außenpolitisch ins Benehmen setzen, damit die Rechtslage geändert wird. Sie haben nur von Ächten gesprochen. Es
geht aber um die Frage, ob es strafrechtlich verboten ist
und wie die Verbote umgesetzt werden.
Welche Länder fallen als Hauptprovider auf? Wenn
Sie die erwähnte andere Strategie verfolgen, dann müssten sie Ihnen unmittelbar präsent sein.
Die Frau Justizministerin hat die Stirn gerunzelt.
Mich interessiert, was das Justizministerium unter juristischen und rechtstaatlichen Gesichtspunkten von den
Vorschlägen einer Sperre hält.
Sie fragen nach den unterschiedlichen Rechtslagen.
Es gibt rund 200 Länder auf unserem Globus. Wenn ich
sage, dass Kinderpornografie in der Hälfte der Länder
geächtet ist, dann bedeutet das, dass dieses Thema in irgendeiner Form in der Rechtssystematik dieser Länder
aufgegriffen worden ist. Ich kann Ihnen aber jetzt über
diese 100 Länder und die Rechtssystematiken im Detail
keine Auskunft geben.
({0})
- Im Nachhinein gerne. Es gibt Daten von der Weltkonferenz in Rio.
Sie fragten auch danach, welche Initiativen ergriffen
worden sind. Die Änderung des Telemediengesetzes,
wodurch Zugriffssperren ermöglicht werden, liegt in der
Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministeriums. All
das, was das Bundeskriminalamt betrifft, liegt in der Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums. Das Thema
Kinderschutz fällt in meine Zuständigkeit. Die betreffenden drei Bundesminister haben sich mit der Internetwirtschaft, das heißt mit sieben der größten Anbieter und den
Dachverbänden - 95 Prozent des Marktes sind dadurch
vertreten gewesen -, und dem BKA zusammengesetzt
und haben darüber diskutiert, welches der beste Weg ist,
schnell zu Zugriffssperren zu kommen. Wir sind uns einig, dass solche Sperren technisch und rechtlich möglich
sind. Wir streben ein Zweistufenverfahren an. Wir wollen innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen eine
für alle Seiten verbindliche Vereinbarung unterschreiben, verbindlich deshalb, weil seitens des Staates, des
BKA, die entsprechenden Internetseiten identifiziert
werden müssen und weil Verlässlichkeit herrschen muss,
dass entsprechende Zugriffssperren vorgenommen werden. Angestrebt ist hierbei eine Änderung des Telemediengesetzes.
({1})
Herr Kollege Beck, wir sind bereits über die für die
Regierungsbefragung vorgesehene Zeit. Sie schneiden
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ihren zwei Kolleginnen, die sich noch gemeldet haben,
die Möglichkeit ab, Fragen zu stellen. Deswegen bitte
ich Sie, keine weiteren Zusatzfragen zu stellen.
Darf ich kurz noch einen Abschlusssatz sagen? - Herr
Beck, Sie haben nach dem internationalen Prozess gefragt. Wir werden hier in Kürze eine deutsche Nachfolgekonferenz zum Weltkongress in Rio und im Sommer
dieses Jahres eine internationale Nachfolgekonferenz
dazu haben.
Jetzt erhält noch Frau Zypries das Wort.
Ich habe wahrscheinlich meine Stirn gerunzelt, um irgendwelche Nieser zu vertreiben, keine Ahnung. - Bekanntlich haben wir, das Bundesjustizministerium,
nichts mit der Prävention zu tun. Das Bundesjustizministerium ist für die Strafverfolgung zuständig. Dort sind
wir juristisch gut aufgestellt. Gespräche mit Providern
laufen bereits, nicht nur über die Bekämpfung der Kinderpornografie. Vielmehr sind wir schon seit meiner Zeit
als Staatssekretärin im Bundesinnenministerium sehr erfolgreich bei der Bekämpfung neonazistischer Darstellungen im Internet. Damals wurde beim BKA eine Abteilung zum Streifegehen im Internet eingerichtet. Das
wird seither auch im Bereich der Kinderpornografie gemacht. Es geschieht also schon sehr viel. Von der Sache
her ist alles, was Frau von der Leyen gesagt hat, richtig.
Frau Kollegin Haßelmann, ich gebe Ihnen die Gelegenheit zu einer kurzen Frage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Frage richtet
sich an die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, Frau von der Leyen. Ich habe Ihren Ausführungen auf meine Frage und auf die des Kollegen
Wunderlich entnommen, dass Sie sich im Rahmen des
Maßnahmenpaketes zum Kinderschutz mit einer verstärkten Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerweiterung in der Jugendhilfe befassen und darüber mit dem
Parlament diskutieren wollen, dass Sie aber nicht beabsichtigen, im Gesetzgebungsverfahren eine dezidierte
Vereinbarung mit den Ländern über den kommunalen
Finanzausgleich zu treffen, sodass die Kommunen in die
Lage versetzt werden, diese Aufgaben finanziell zu
schultern. Ist es richtig, dass Sie bei der Position, wonach es der jeweiligen Kommune obliegt, mit ihrem
Kämmerer eine Vereinbarung über eine Ausweitung des
Aufgabenspektrums zu treffen, bleiben werden? Ich
frage das vor dem Hintergrund, dass es eine Reihe notleidender Kommunen gibt, die in der Phase der Haushaltssicherung sind, klar festgelegte Aufgabenfelder
haben und keine Möglichkeit haben, das Aufgabenspektrum und die Aufgabenwahrnehmung zu erweitern. Es
kann daher der Eindruck entstehen, dass wir hier in Berlin über eine Aufgabenwahrnehmung und -erweiterung
diskutieren, die vor Ort gar nicht möglich ist.
Zunächst einmal möchte ich noch einmal klarstellen,
dass dieser Gesetzentwurf Ausfluss einer Zweierkonferenz der Bundeskanzlerin mit allen 16 Regierungschefs
war. Das heißt, es ist erklärter Wille der Ministerpräsidenten der Länder, diese Schritte jetzt gemeinsam zu gehen. Diese sind natürlich dafür verantwortlich, das jetzt
in ihren Ländern umzusetzen.
Deshalb mein zweiter Punkt: Wenn wir alle diesen
politischen Willen haben, dann ist das oberste Gebot,
dass der Kinderschutz nicht nach Kassenlage erfolgt,
sondern dass er in den Ländern und Kommunen gut
durchgeführt wird.
Die letzte Frage stellt Frau Kollegin Deligöz. - Sie
haben sich nicht gemeldet?
({0})
Dann bedanke ich mich sehr herzlich bei den beiden
Ministerinnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/11612, 16/11632 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 16/11632 auf. Diese bezieht sich
auf den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Die
Frage beantwortet Herr Staatsminister Dr. Gernot Erler.
Ich rufe die dringliche Frage des Abgeordneten
Rainder Steenblock auf:
Welche Informationen hat die Bundesregierung über die
Hintergründe der Ermordung des Menschenrechtsanwalts
Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija
Baburowa in Moskau am 19. Januar 2009 und die Bemühungen der russischen Regierung und der Staatsanwaltschaft zur
Aufklärung dieser und früherer Verbrechen an Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Kollege
Steenblock, meine Antwort lautet folgendermaßen: Der
russische Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow
und die ihn begleitende Journalistin Anastasija
Baburowa wurden am 19. Januar 2009 im Zentrum von
Moskau auf offener Straße von einem unbekannten maskierten Täter ermordet. Wie schon der Bundesminister
des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, am
20. Januar 2009 erklärte, ist die Bundesregierung über
die Ermordung bestürzt und verurteilt diese feige Tat auf
das Schärfste. Solche Gewalttaten gegen Anwälte und
Journalisten, wie auch Festnahmen und Übergriffe,
schaffen ein Klima der Angst und drohen zivilgesellschaftliches Engagement zu untergraben. Die russischen
Behörden müssen diese Mordfälle rasch aufklären, die
Täter und Drahtzieher ermitteln und bestrafen.
Stanislaw Markelow war ein respektierter und mutiger Anwalt, der sich insbesondere für die Opfer von
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien eingesetzt hat. Die junge Journalistin Anastasija Baburowa arbeitete für die Zeitung Nowaja Gaseta, bei der auch
Anna Politkowskaja tätig war. Der Bundesregierung liegen darüber hinaus keine eigenen Erkenntnisse über die
Hintergründe der Mordfälle vor. Der Generalstaatsanwalt hat die Leitung der Ermittlungen übernommen.
Dies legt die Vermutung nahe, dass die russische Führung die Bedeutung und Tragweite der Mordfälle erkannt hat. Die Bemühungen der russischen Behörden zur
Aufklärung früherer Verbrechen an prominenten
Vertretern der Zivilgesellschaft haben bislang noch
wenig konkrete Ergebnisse gezeigt. Im Mordfall Anna
Politkowskaja läuft derzeit ein Gerichtsverfahren.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Vielen Dank. - Herr Erler, wir sind uns sicherlich in
der Bewertung der aktuellen Ereignisse, die Sie gerade
vorgetragen haben, einig. Trotzdem würde mich eines
interessieren: Dieser Auftragsmord - ein solcher wird es
wahrscheinlich gewesen sein - reiht sich auf der einen
Seite in die Reihe mehrerer grober Menschenrechtsverletzungen, auch politischer Morde, in der Russischen Föderation ein; auf der anderen Seite hat die russische Regierung einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, nicht nur
durch den aktuellen Gasstreit, sondern auch schon früher
durch das Georgien-Engagement, um das einmal vorsichtig zu umschreiben, oder wegen der völlig isolierten
Anerkennung von Südossetien und Abchasien. Es gibt
also aktuell einen Glaubwürdigkeitsverlust im Hinblick
auf die Russische Föderation, den Terry Davis, der Generalsekretär des Europarates, als Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation beschrieben
hat.
Wir können kein Interesse an mangelnder Rechtsstaatlichkeit haben; darin sind wir uns einig. Deshalb:
Wie bewertet die Bundesregierung das politisch, und
welche Aktion - es ist unser Interesse, dass die Russische Föderation ein stabiler, international akzeptierter
Verhandlungspartner ist - unternimmt die Bundesregierung, um die Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation, soweit ihr das möglich ist, zu fördern?
Ich glaube, zunächst einmal stimmen wir darin überein, dass es außerordentlich beunruhigend ist, dass in der
russischen Öffentlichkeit immer wieder solche Mordfälle vorkommen, deren Aufklärung leider sehr lange
braucht oder die zum Teil gar nicht aufgeklärt werden,
wie es zum Beispiel bisher weitgehend bei dem Fall
Anna Politkowskaja festzustellen ist, der auf den
7. Oktober 2006 zurückgeht.
Wir ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass wir die
vorhandenen offiziellen Gesprächsebenen zwischen der
EU und der Russischen Föderation, zum Beispiel im
Rahmen des halbjährlich stattfindenden Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialoges, nutzen müssen, um
immer wieder eine glaubwürdige Aufklärung und Strafverfolgung anzumahnen. Die Tatsache, dass Generalstaatsanwalt Tschaika diesen Fall übernommen hat, ist,
wie ich schon gesagt habe, ein Zeichen dafür, dass solche Mahnungen nicht völlig ungehört bleiben. Für uns
ist es trotzdem selbstverständlich, dass wir - das geschieht auch - bei unseren Kontakten mit offiziellen Vertretern der russischen Regierung jede Gelegenheit nutzen, um auf den sehr problematischen Eindruck, der bei
diesen Fällen zurückbleibt, hinzuweisen und unsere dortigen Partner und Kollegen zu bitten, alles Mögliche zu
tun, um eine glaubwürdige Aufklärung zu erreichen.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
ich will einen weiteren Aspekt ansprechen. Dieser Mord
ist ja geschehen, kurz nachdem Budanow, der wegen
Kriegsverbrechen in Tschetschenien verurteilt worden
war, vorzeitig freigelassen worden ist. Herr Markelow
hat die Familie vertreten, deren Tochter von Budanow
vergewaltigt und ermordet worden ist. Er hat gesagt, er
wolle jetzt auch gegen die vorzeitige Freilassung von
Budanow gerichtlich vorgehen. Er ist dann kurze Zeit
nach diesen Erklärungen und Vorgängen - es war fast
nur ein Tag Abstand - ermordet worden.
Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es im Militär der
Russischen Föderation Machtzentren gibt, die für diese
Auftragsmorde entscheidende Anstöße geben? Gibt es
nach Ihren Erkenntnissen in der Russischen Föderation
unterschiedliche Entwicklungen, also einerseits eine
Entwicklung in Richtung Rechtsstaat und Demokratie
und andererseits in Teilen der Regierung anscheinend
auch Machtzentren, die kein Interesse daran haben? Wie
verhalten Sie sich in dieser Situation?
Herr Kollege Steenblock, zwei Tage nach diesem Vorfall ist es in der Tat schwierig, Überlegungen über die
Hintergründe anzustellen. Sie haben korrekterweise den
Fall Budanow erwähnt. Dieser Oberst hat eine 18-jährige tschetschenische Frau erst vergewaltigt und dann ermordet und hat dafür zehn Jahre Haft bekommen. Er ist
jetzt nach achteinhalb Jahren Haft vorzeitig entlassen
worden. Aber ob das der Hintergrund ist, ist nicht sicher,
weil der ermordete Anwalt auch in einer Reihe von anderen unbequemen Fällen tätig geworden ist und außerdem konkrete Drohungen gegen ihn ausgesprochen wor21478
den sind, die nicht aus den Reihen des Militärs, sondern
aus rechtsradikalen Kreisen kamen, die schon längere
Zeit ihre Unzufriedenheit über den Fall Budanow zum
Ausdruck gebracht und entsprechende Aktivitäten unternommen haben.
Ich glaube, Sie haben Verständnis dafür, dass die
Bundesregierung sich an Spekulationen darüber, wie
jetzt hier aufgeklärt werden muss und wo die Spuren
vielleicht hinführen, nicht im Detail beteiligen kann.
Vielen Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung dieser dringlichen Frage.
Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet worden ist, rufe ich jetzt die Fragen auf
Drucksache 16/11612 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Hintze.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Hans-Josef
Fell auf:
Welche Wirkungen hätte der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Energieleitungsausbaugesetz im Hinblick auf
die Zulässigkeit von Erdkabeln in der 110-kV-Ebene und die
Anerkennung von dadurch verursachten Mehrkosten als nicht
beeinflussbare, also auf die Strompreise umlegbare Kostenanteile?
Herr Kollege Fell, der Gesetzentwurf zum Energieleitungsausbaugesetz betrifft Höchstspannungsnetze, also
die 380-kV-Ebene, und nicht die 110-kV-Ebene. Insofern
hat er im Sinne Ihrer Frage keine Wirkungen.
Da die Bundesregierung aber nicht nur Fragen beantwortet, sondern auch immer darüber nachdenkt, was gemeint ist, will ich fortfahren. Der Entwurf zum Energieleitungsausbaugesetz ist Bestandteil des Entwurfs des
Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze. In dessen Art. 2 findet sich eine Änderung des § 43 Satz 3 des Energiewirtschaftsgesetzes. Das
ist für Ihre Frage einschlägig. Das haben Sie wahrscheinlich auch gemeint.
In dieser gesetzlichen Vorschrift soll klargestellt werden, dass im Falle der Verkabelung auf der 110-KilovoltEbene im 20-Kilometer-Streifen längs der Küste jede
110-Kilovolt-Leitung in diesem Gebiet als Erdkabel verlegt werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es
sich um eine Offshore-Anbindungsleitung oder den Ausbau im vermaschten herkömmlichen Wechselstromnetz
handelt.
Hinsichtlich der preislichen Wirkung ist darauf hinzuweisen, dass mögliche Mehrkosten solcher Erdkabel gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 7 der Anreizregulierungsverordnung in die Netzentgelte einfließen.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär Hintze, dass die
verursachten Mehrkosten anerkannt werden, ist natürlich, wenn das so gelingt, erfreulich. Es stellt sich eine
weitere Frage. Wenn es um den Höchstspannungsbereich
geht, so ist die Verwendung von Erdkabeln auf Pilotprojekte begrenzt. Ist das im 110-kV-Bereich auch so vorgesehen, oder kann im Prinzip jeder, der ein Erdkabel im
110-kV-Bereich verwenden will, dies tatsächlich tun und
die Mehrkosten auf die Netzgebühren umlegen?
Die Vorschrift im Energiewirtschaftsgesetz, in der die
Klarstellung getroffen wird, lautet:
In Satz 3 werden die Wörter „zwischen der Küstenlinie und dem nächstgelegenen Netzverknüpfungspunkt, höchstens jedoch in einer Entfernung von
nicht mehr als 20 Kilometern von der Küstenlinie
landeinwärts“ durch die Wörter „in einem 20 Kilometer breiten Korridor, der längs der Küstenlinie
landeinwärts verläuft,“ ersetzt.
Für diesen 20-Kilometer-Korridor lautet die Antwort
im Sinne Ihrer Frage Ja.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Vielen Dank. - Das heißt aber im Umkehrschluss,
dass in weiten Teilen der Republik, wo ein Ausbau des
110-kV-Netzes notwendig ist, beispielsweise zur Anbindung von Onshore-Windparks, eine Kostenumlage nicht
möglich sein wird.
Die Vorschriften im Einzelnen finden sich in der Anreizregulierungsverordnung, nämlich in § 11, in dem es
um die beeinflussbaren und die nicht beeinflussbaren
Kostenanteile geht. Als nicht beeinflussbare Kostenanteile gelten alle Kostenanteile, die nicht dauerhaft oder
vorübergehend als nicht beeinflussbare Kostenteile gelten. Das klingt zunächst einmal selbstverständlich, bedeutet aber, dass die Vorschrift des § 11 - es würde zu
lange dauern, wenn ich diese hier insgesamt vortragen
würde - alle nicht beeinflussbaren Kostenanteile aufführt. Wenn ein Vorhaben nicht unter diese Vorschrift
fällt, ist es so, wie Sie es sagen.
Die Frage 2 der Kollegin Sabine Zimmermann wird
schriftlich beantwortet.
Wir sind deshalb am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung
der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und VerbrauVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
cherschutz. Die Fragen 3 und 4 der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Auch die Frage 5 des
Kollegen Nouripour wird schriftlich beantwortet.
Deshalb kommen wir nun zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues bereit.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Elke Reinke auf:
Aus welchem Grund ist derzeit weder eine Anlauf- bzw.
Beratungsstelle noch eine Hotline für ehemalige Heimkinder
vorgesehen, und warum lehnt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, einen nationalen Entschädigungsfonds bereits jetzt so strikt ab?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Gerne. - In der Frage ist eine Aussage enthalten, die
falsch ist. Es ist so, dass der Bundestagsbeschluss keinen
kollektiven Entschädigungsfonds vorsieht, gleichzeitig
aber der Konzeptentwurf einen Entschädigungsfonds
nicht explizit ausschließt. Im Gegenteil, der runde Tisch
soll Kriterien entwickeln, nach denen die Forderungen
ehemaliger Heimkinder bewertet werden können. Insofern wäre die Frage schon beantwortet. Ich will aber
gerne auch auf das Umfeld eingehen.
Der Beschluss des Bundestages vom 4. Dezember
2008, nämlich die Annahme der Beschlussempfehlung
des Petitionsausschusses zur Aufarbeitung der westdeutschen Heimerziehung zwischen 1949 und 1975, beinhaltet die Aufforderung an die Bundesregierung und die betroffenen Länder, einen runden Tisch einzurichten. Das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend hat unmittelbar nach Beschlussfassung im Bundestag, wenn Sie so wollen federführend für die Bundesregierung, der Jugend- und Familienministerkonferenz
der Länder einen Vorschlag zur Einrichtung eines runden
Tisches vorgelegt. Dieser Vorschlag beschreibt grob den
organisatorischen Rahmen für einen runden Tisch und
orientiert sich eng an den Empfehlungen des Petitionsausschusses. Er greift also ausdrücklich möglichen Arbeitsergebnissen nicht vor.
Ein Entschädigungsfonds, eine Hotline oder eine Beratungsstelle werden im Beschluss des Bundestages
nicht konkret genannt, solche Maßnahmen werden aber
auch nicht ausgeschlossen. Nach dem Beschluss des
Bundestages ist es eben Aufgabe der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer des runden Tisches, zu entscheiden, wie
mit dem Anliegen der Betroffenen umzugehen ist und
wie Genugtuung erreicht werden kann.
Den Ländern liegt der Vorschlag zur Beratung vor.
Bei diesem Vorschlag handelt es sich um einen Entwurf
und nicht um das endgültige Konzept des runden
Tisches. Deswegen meine ich, dass Kritik zum jetzigen
Zeitpunkt völlig fehl am Platze ist. Im Gegenteil, wir
sollten die Chance nutzen, die sich jetzt auftut; denn
erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gibt es
eine große Bereitschaft zur Aufarbeitung, und zwar nicht
nur aufseiten der Betroffenen, sondern auch aufseiten der
Träger. Deswegen sollten wir diesen Prozess, wie es über
weite Strecken auch erfolgt ist, konstruktiv begleiten.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Eine Frage vielleicht
in eine andere Richtung: Wie sieht die derzeitige Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Verein ehemaliger Heimkinder aus? Vielleicht könnten Sie dazu noch
exaktere Ausführungen machen.
Es gibt bis jetzt keine spezielle Zusammenarbeit. Wir
haben natürlich Kontakt, aber wir warten jetzt zunächst
einmal darauf, wie sich die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder auf unseren Vorschlag einlässt.
Dann wird zu entscheiden sein, wie die Zusammensetzung des Gremiums aussieht und wie man im Einzelnen
vorgeht. Das ist bis jetzt nicht möglich gewesen.
Wir haben einen Zeitpunkt genannt. Wir haben gesagt, die erste Sitzung des runden Tisches soll möglichst
bis Ende Januar stattfinden. Wir haben auch gegenüber
der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder
deutlich gemacht - das Land Bremen hat dort derzeit den
Vorsitz -, dass wir darauf drängen, dass uns zeitnah eine
Antwort gegeben wird. Logischerweise sind wir ja auf
die Mitwirkung der Länder angewiesen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Sie sagten, bis Ende Januar sollten Vorschläge vorliegen. Beabsichtigen Sie, noch bis Ende dieser Legislatur
eine Klärung herbeizuführen, um dieses Unrecht wiedergutzumachen?
Wir haben ja den Vorschlag unterbreitet, dass es bereits im Sommer dieses Jahres einen ersten Zwischenbericht geben soll. Wir haben das auch mit der künftigen
Vorsitzenden des runden Tisches in Aussicht genommen.
Das ist also so weit abgestimmt. Wie schnell das jetzt
vorangeht und was im Einzelnen bis dahin möglich sein
wird, hängt vom Verlauf der Beratungen und vom Zusammenwirken der am runden Tisch Beteiligten ab.
Wie gesagt: Es gibt bislang lediglich einen Vorschlag,
wer beteiligt werden könnte. Darüber muss man sich
jetzt im Einzelnen abstimmen. Das wird dann auch Gegenstand der ersten Sitzung sein.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Schiewerling.
Vielen Dank. - Herr Dr. Kues, als Mitglied des Petitionsausschusses hatte ich an dieser Beschlussempfehlung mitgearbeitet. Ich halte in der Tat die augenblickliche
Diskussion um die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für nicht zielführend. Wir haben ja damals auch
beschlossen, dass zunächst Kriterien entwickelt werden
müssen, aus denen klar hervorgeht, wer denn wo, wann
und wie möglicherweise und auf welcher Grundlage
Entschädigungen zahlen müsste.
Die Frage, die im Augenblick sehr brennend ist und
die mir auch von verschiedenen Seiten vorgetragen wird,
lautet, wann denn dieser runde Tisch seine Tätigkeit aufnimmt, damit man auch sieht, dass die Regierung ihre
koordinierende Aufgabe wahrnimmt.
Wie ich schon gesagt habe, haben wir unmittelbar
nach dem Beschluss des Bundestages Kontakt mit der
Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder aufgenommen. Wir haben uns vorgenommen, dass der
runde Tisch bis Ende Januar 2009 zum ersten Mal zusammentritt. Bis jetzt haben wir noch keine Rückmeldung der Jugend- und Familienministerkonferenz der
Länder erhalten; ich habe es eben erwähnt.
Wir sind in diesen Tagen aber noch einmal nachdrücklich aktiv geworden und haben dies angemahnt.
Wenn wir in den nächsten Tagen keine Rückmeldung bekommen, werden wir von uns aus noch einmal aktiv
werden; denn nach unserer Auffassung muss gewährleistet sein, dass wir bis Ende Januar dieses Jahres mit den
Beratungen beginnen.
Frau Kollegin Haßelmann, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
bei meiner Frage geht es um die öffentliche Einlassung
Ihrer Ministerin für die Bundesregierung. Sie haben ja
gerade auf die Frage von Frau Reinke dargelegt, dass sowohl der runde Tisch als auch die weiteren Beratungen
ergebnisoffen durchgeführt werden. Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses kennen wir alle. Wir
wissen auch, wie sie entstanden ist und wie lange man
gebraucht hat, um einen interfraktionellen Beschluss mit
den Stimmen des gesamten Parlaments zustande zu bringen.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Halten Sie es
für klug und sinnvoll, sich so dezidiert, wie die Ministerin das öffentlich getan hat, gegen einen Entschädigungsfonds einzulassen? Schließlich haben Sie uns gerade dargelegt, dass der runde Tisch ergebnisoffen tagt.
Ich bin nicht die Einzige, die das so verstanden hat. Die
zahlreichen Rückmeldungen sind ähnlich einzuschätzen.
Ihre Ministerin hat in ihrer Aussage den Entschädigungsfonds kategorisch ausgeschlossen. Sie haben vorhin allerdings explizit auf die Ergebnisoffenheit abgestellt. Wie kann ich das verstehen?
Es stimmt nicht, dass die Ministerin dies dezidiert
ausgeschlossen hat - schon gar nicht öffentlich.
({0})
Vielmehr gibt es ein Schreiben der Ministerin an den
Vorsitzenden der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder, Herrn Senator Zöllner. Dieses Schreiben vom 15. Dezember 2008 ist auf irgendeine Art und
Weise an die Öffentlichkeit gelangt. Das ist die Basis dafür gewesen.
In diesem Schreiben steht auch nicht, dass die Ministerin einen Entschädigungsfonds ablehnt. Vielmehr ging
es unter anderem darum, den Ländern deutlich zu machen, was auf sie zukommt. Weil Sie sich damit beschäftigt haben, wissen Sie selbst, dass viele Länder größte
Bedenken haben. Als diese Problemstellungen seinerzeit
aufgetaucht sind, war der Bund ja gar nicht in erster
Linie betroffen. Betroffen waren hauptsächlich die Wohlfahrtsverbände und die Länder als bisherige Aufsichtsbehörden. Seinerzeit gab es große Bedenken, dass durch
diese Beschlusslage des Bundestages eine riesige finanzielle Belastung auf die Länder zukommt.
Deswegen steht in dem Schreiben, dass ein Entschädigungsfonds nicht automatisch vorgesehen ist. Das
habe ich eben auch erwähnt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass man hinterher zu einem solchen Ergebnis kommt.
Das Reizwort war der Begriff „Entschädigungsfonds“. Für denjenigen, der herangezogen wird, ist dieser Begriff ein Reizwort. Für denjenigen, der sich davon
finanzielle Leistungen erhofft, stellt er vielleicht etwas
Positives dar.
Ich sage ausdrücklich: Es ist nichts ausgeschlossen.
Den Brief der Ministerin stelle ich Ihnen als Ausschussmitglied gerne zur Verfügung. Man kann ihn
missverstehen. Normalerweise ist aber völlig klar, was
damit gemeint ist. Das Ganze ist in der Öffentlichkeit
falsch dargestellt worden, womit ein falscher Eindruck
erweckt wurde; das will ich ausdrücklich sagen. Wer
sich etwas mit der Entstehungsgeschichte beschäftigt hat
und weiß, dass die Länder es nicht als selbstverständlich
empfunden haben, dabei überhaupt mitzumachen, und
dass der Bund gesagt hat, das sei nicht seine vorrangige
Aufgabe, kann das sicherlich verstehen.
Man hätte es vielleicht anders formulieren können;
das mag sein. Dieser Brief war aber dazu gedacht, das
Verfahren zwischen den Ländern und dem Bund abzustimmen.
Frau Kollegin Binder, bitte.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn auch wir - meine Kollegin Elke
Reinke als Mitglied des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und ich als stellvertretendes Mitglied des Petitionsausschusses - den Brief von Frau Ministerin von der Leyen zur Verfügung gestellt bekämen;
denn auch bei uns ist dies sehr missverständlich angekommen.
Habe ich Sie in Ihren Aussagen richtig verstanden:
Der Entschädigungsfonds ist nicht erledigt, sondern ein
ergebnisoffener runder Tisch kann zu dem Ergebnis
kommen, dass ein solcher Fonds einzurichten ist?
({0})
Dann wären Sie auch bereit, sich damit zu befassen?
Der runde Tisch setzt sich ja auch aus Vertretern der
ehemaligen Träger, beispielsweise der Wohlfahrtsverbände und der Länder, zusammen. Wenn diese insgesamt
zu diesem Ergebnis kommen sollten, ist das ausdrücklich vorstellbar.
Zunächst müssen wir - das wissen Sie aus dem Petitionsausschuss - allerdings überhaupt erkunden, um
welche Gruppen es sich handelt und welche Kriterien
angelegt werden könnten, weil es dort, wie Ihnen bekannt ist, ganz unterschiedliche Zusammensetzungen
gibt. Es muss Bilanz gezogen werden. Das Ergebnis ist
- ich sage das ganz ausdrücklich - offen. Ich habe kein
Problem damit, auch Ihnen diesen Brief zur Verfügung
zu stellen, zumal er ohnehin schon in der Öffentlichkeit
zu sein scheint.
Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Elke Reinke auf:
Warum plant das BMFSFJ, sich über eine Empfehlung des
Deutschen Bundestages hinwegzusetzen und mit der Organisation des runden Tisches nicht mehr zwei unabhängige Dachorganisationen der deutschen Jugendhilfe - AFET: Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. und Deutsches Institut für
Jugendhilfe und Familienrecht e. V., DIJuF - zu betrauen?
Ich antworte Ihnen wie folgt: Eine umfassende Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn sie von einer breiten
Basis mitgetragen wird. Hier braucht es einen Partner,
der aufgrund seiner Mitgliederstruktur breit aufgestellt
und fachlich geeignet ist und bei dem das Thema auf
große Akzeptanz stößt. Aufgrund dieser Kriterien haben
wir in Ergänzung zu den beiden anderen Trägern einen
entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Verschiedene
Überlegungen stehen jetzt im Raum; sie werden zurzeit
mit den Ländern abgestimmt. Dazu gibt es aber noch
keine endgültige Entscheidung. Es muss noch mit den
Ländern geklärt werden.
Eine Debatte über eine Geschäftsstelle - mehr ist es ja
nicht; die inhaltliche Arbeit soll ja vom runden Tisch geleistet werden - darf nicht von dem ablenken, worauf es
eigentlich ankommt, nämlich auf die inhaltliche Arbeit
des runden Tisches. Die Rolle, die der Träger bei der Organisation des runden Tisches spielen soll, wird unseres
Erachtens überschätzt; denn über die Arbeitsergebnisse
entscheiden die Mitglieder des runden Tisches und nicht
die Geschäftsstelle.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank. - Es liegt ein Aufarbeitungskonzept dieser unabhängigen Dachorganisationen vor. Mich würde
interessieren, warum dieses Konzept nicht genutzt wird.
Denn es ist eine wunderbare Vorlage, mit der man arbeiten kann. Diese Organisationen sind diejenigen, die auch
ehemaligen Heimkinder vertreten. Daher wäre es sinnvoll, dieses Konzept zu nutzen.
Ich sage ausdrücklich: Es ist noch nichts entschieden.
Es gibt zwei Organisationen. Wenn Sie den Deutschen
Verein hinzunehmen, gibt es sogar drei. Dieser Verein
war vom Petitionsausschuss anfangs auch vorgesehen.
Aber er hat in der ersten Phase erklärt, dass er an einer
Mitarbeit kein Interesse habe - weshalb auch immer. In
einer späteren Phase hat dieser Verein geäußert, er könne
sich eine Mitarbeit doch vorstellen. Deshalb haben wir
gesagt, dass man über diese drei Organisationen reden
könne. Es ist aber noch nichts entschieden; es muss noch
besprochen werden. Meiner Meinung nach wäre es
falsch, sich jetzt für einen bestimmten Träger auszusprechen.
Der Deutsche Verein war eine Zeit lang als Wunschkandidat im Gespräch. Wer sich ein bisschen in der Sozial-, Jugend- und Familienpolitik auskennt, der weiß,
dass es sich bei diesem Verein um ein Forum handelt.
Neben den 16 Bundesländern gehören dem Deutschen
Verein die kommunalen Spitzenverbände an, fast alle
Landkreise, Großstädte und alle Wohlfahrtsverbände:
vom Deutschen Roten Kreuz bis zur Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Bundestagsabgeordnete
fast aller Fraktionen sind im Hauptausschuss vertreten.
Unter diesem Gesichtspunkt und auch angesichts der
Kompetenz aufgrund der breiten Mitgliederstruktur stellt
dieser Verein zumindest eine Variante dar, über die man
nachdenken muss.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Alle
Organisationen, die älter sind - der Deutsche Verein ist
125 Jahre alt -, haben auch in der Zeit des Nationalsozialismus bestanden. Speziell der Deutsche Verein hat
sich sehr intensiv mit dieser Zeit beschäftigt. Anlässlich
des 125-jährigen Jubiläums ist eine Festschrift herausge21482
kommen, in der diese Zeit im Einzelnen aufgearbeitet
wird. Gleiches gilt im Prinzip für die Wohlfahrtsverbände, die unter ähnlichen Bedingungen gearbeitet haben. Das sollte man fairerweise dazusagen. Aus meiner
Sicht ist in der Öffentlichkeit eine Diffamierung vorgenommen worden, für die es überhaupt keine Basis gibt.
Da Sie keine weitere Zusatzfrage haben, sind wir damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank,
Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die
Frage 8 des Kollegen Rainder Steenblock wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Andreas
Storm.
Ich rufe die Frage 9 der Abgeordneten Cornelia
Hirsch auf:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass
das mit der Föderalismusreform I verabschiedete Kooperationsverbot im Grundgesetz eine wirksame bildungspolitische
Offensive im Rahmen des Konjunkturpaketes II verhindert
hat?
Bitte schön, Herr Storm.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Abgeordnete
Hirsch, gestatten Sie mir, die Fragen 9 und 10 gemeinsam zu beantworten?
Das ist der Fall. Dann rufe ich auch noch die Frage 10
auf:
Wie verhält sich der jetzige Umfang des Konjunkturpaketes II im Bereich des Ausbaus der bildungspolitischen Infrastruktur zu den Versprechen der Bundesministerin für Bildung
und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Dezember 2008?
Im Rahmen des von Bund und Ländern vorgesehenen
zweiten Konjunkturprogramms ist ein Investitionsprogramm „Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Hand“
vorgesehen. Die dort vorgesehenen Finanzhilfen des Bundes für Investitionen der Länder und Kommunen sollen
schwerpunktmäßig den Kindergärten, der Schulinfrastruktur, den Hochschulen und der Forschung zugute
kommen. Auf diesen Investitionsschwerpunkt sollen
65 Prozent der Finanzhilfen entfallen. Die mit der
Föderalismusreform I erzielten Ergebnisse stellen somit
die mit dem Investitionsprogramm verfolgte Zielsetzung, die Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu verbessern, nicht infrage. Damit
werden die Vorschläge der Bundesministerin für Bildung
und Forschung, Frau Dr. Annette Schavan, weitgehend
umgesetzt.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen.
Besten Dank. - Meine erste Frage ist: Sie haben sich
beim Bildungsgipfel auf das Ziel geeinigt, dass zukünftig 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung
und Forschung aufgewandt werden. Wenn Sie dieses
Ziel in Relation setzen zu den finanziellen Aufwendungen für die Bildungspolitik im Rahmen des Konjunkturpaketes, meinen Sie auch dann noch, dass der Aufwand,
der jetzt mit dem Konjunkturpaket betrieben wird, ausreichend ist, oder meinen Sie, dass noch mehr gemacht
werden müsste?
Frau Abgeordnete Hirsch, Bund und Länder haben in
der Tat vereinbart, bis zum Jahr 2015 10 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufwenden zu wollen. Das geplante Investitionsprogramm
von Bund und Ländern trägt mit dieser Schwerpunktsetzung - zu den 6,5 Milliarden Euro, die der Bund aufwenden will, kommen 2,167 Milliarden Euro der Länder
hinzu - sehr stark zur Steigerung der Aufwendungen für
Bildung und Forschung in den kommenden zwei Jahren
bei. Das Investitionsprogramm steht also vollkommen in
Einklang mit der angestrebten Erreichung des 10-Prozent-Ziels.
Noch einmal zum Kooperationsverbot und der Frage,
was überhaupt möglich ist. Sie haben es so formuliert,
dass insbesondere eine energetische Sanierung der Kitas,
Schulen und Hochschulen stattfinden soll. Was ist darüber hinaus noch möglich, zum Beispiel, was die Ausstattung von Schulen oder qualitative Fortschritte in
Schulen und anderen Bildungseinrichtungen betrifft?
Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung bereitet zurzeit die Gesetzentwürfe und die übrigen erforderlichen Maßnahmen vor, die am kommenden Dienstag im
Kabinett behandelt werden sollen. Ich kann dem nicht
vorgreifen. Ich kann aber sagen, dass Art. 104 b des
Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 74 ein wesentliches Element sein wird. Alles Weitere wird sich nach
Abschluss der Ressortabstimmungen aus den Gesetzentwürfen konkret ergeben.
Sie können sich das Grundgesetz schon jetzt ansehen.
Wenn Sie sich auf Art. 104 b beziehen, ist zu fragen: Ist
es, bezogen auf diese grundgesetzliche Regelung, überhaupt möglich, irgendetwas anderes als den Ausbau der
Infrastruktur zu finanzieren?
Frau Abgeordnete Hirsch, bei dem vorgesehenen Investitionspaket geht es insbesondere um die VerbesseParl. Staatssekretär Andreas Storm
rung der Infrastruktur. Art. 74 des Grundgesetzes enthält
eine ganze Reihe von Elementen, die ein solches Engagement des Bundes ermöglichen, nicht zuletzt das Recht
der Wirtschaft in Abs. 1 Nr. 11.
Noch eine Frage: In den Kommunen, die häufig keine
Gelder mehr haben, weil sie überschuldet sind, wird oft
die Frage gestellt, wie es vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine Kofinanzierung als zwingend erforderlich
angesehen wird, geregelt werden soll, dass die Gelder
auch tatsächlich abgerufen werden können. Welche
Überlegungen stellt die Bundesregierung diesbezüglich
an? Wie könnte man das gegebenenfalls umgehen?
Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung zielt
bei ihren Überlegungen und bei den Gesprächen, die sie
bereits jetzt mit den Ländern führt, vor allem auf zwei
Dinge: Zum einen soll ein schneller Mittelabfluss ermöglicht werden, damit das Paket die beabsichtigte konjunkturelle Wirkung entfalten kann. Zum anderen sollen
auch finanzschwache Kommunen von den vorgesehenen
investiven Mitteln profitieren. Deshalb werden die Länder im Rahmen der vorgesehenen Ausgleichsmechanismen entsprechende Beiträge zur Berücksichtigung dieser
finanzschwachen Kommunen leisten.
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Undine Kurth
werden schriftlich beantwortet.
Wir sind deswegen am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Storm, für die Beantwortung
der Fragen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Frage 13 des Kollegen Otto Schily
wird schriftlich beantwortet. Die Frage 14 des Kollegen
Omid Nouripour wird ebenfalls schriftlich beantwortet,
genauso wie die Frage 15 des Kollegen Volker Beck.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier
bereit.
Die Frage 16 des Kollegen Volker Beck wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Dr. Hakki Keskin
auf:
Welche Anstrengungen gedenkt die Bundesregierung zu
ergreifen, um die in vier Beschlüssen des Europarates vom
Juni 2008 (Resolutionen 1617 ({0}) und 1618 ({1}) und
Empfehlungen 1839 ({2}) und 1840 ({3})) geforderte Stärkung der Partizipationsrechte der Einwanderinnen und Einwanderer in den Mitgliedstaaten, darunter der Bundesrepublik
Deutschland, umzusetzen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Keskin, ich darf darauf verweisen, dass Ihre Frage mit
der Kleinen Anfrage „Umsetzung der Empfehlungen des
Europarats zur Verbesserung der demokratischen Teilhabe von Migrantinnen und Migranten“, die Sie und Ihre
Fraktion gestellt haben, inhaltlich identisch ist. Diese hat
mein Kollege, Staatssekretär Hanning, mit Schreiben
vom 7. Januar dieses Jahres beantwortet. Deshalb darf
ich darauf verweisen.
Ich möchte ergänzend sagen, dass die Bundesregierung die Entschließungen und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats selbstverständlich zur Kenntnis nimmt. Das ist auch in diesem
Fall geschehen. Aus Sicht der Bundesregierung gibt es
allerdings keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf,
jedenfalls nicht auf Bundesebene. Sie wissen, dass nach
dem geltenden Bundesrecht sowohl die Versammlungsfreiheit als auch die Vereinigungsfreiheit und die Mitwirkung in politischen Parteien als zentrale Rechte auf Teilhabe an der politischen Willensbildung auch für
Migrantinnen und Migranten gewährleistet sind. Hinsichtlich des Versammlungsrechtes wissen Sie wahrscheinlich auch, dass die bisher dafür bestehende Bundeszuständigkeit im Zuge der Föderalismusreform vom
28. August 2006 weggefallen und an die Länder übergegangen ist.
Im Hinblick auf die Frage der Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Nichtunionsbürger darf ich darauf hinweisen, dass diese Frage Gegenstand parlamentarischer Beratungen ist, und es entspricht dem Respekt,
den die Bundesregierung vor dem Parlament hat, dass
wir das Ergebnis dieser Beratungen zunächst einmal abwarten.
Zum Schluss darf ich darauf hinweisen, dass wir in
Deutschland in den letzten drei Jahren sehr daran gearbeitet haben, die Integrationskurse flächendeckend anzubieten und durchzuführen, um damit Grundlagen für die
demokratische Partizipation von Zuwanderern zu schaffen. Das bezieht sich insbesondere auf die Vermittlung
der deutschen Sprache, aber auch auf die 45-stündigen
Orientierungskurse, in denen Kenntnisse zu Staat, Geschichte und Gesellschaftsordnung in Deutschland vermittelt werden. Diese Kurse erleichtern das Zurechtfinden in der neuen Gesellschaft. Sie schaffen Identifikation
und Teilhabemöglichkeiten und sind aus unserer Sicht im
Sinne der Empfehlungen des Europarates.
Ihre Zusatzfragen, bitte, Herr Kollege.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Altmaier, vielen Dank für Ihre Ausführungen. Ich
möchte unterstreichen, dass im Europarat in zwei Ausschüssen und im Plenum sehr ausgiebig über die Demokratiedefizite in den Mitgliedstaaten debattiert wurde. Es
wurde festgestellt, dass in einigen der Mitgliedstaaten in
der Tat erhebliche Demokratiedefizite bestehen. In der
Bundesrepublik Deutschland leben, wie Sie wissen, immer noch 7 Millionen Menschen ohne einen deutschen
Pass, das heißt als Ausländer. Das bedeutet, dass sie,
wenn sie nicht aus einem EU-Staat kommen, nicht einmal das kommunale Wahlrecht ausüben können. Staatsbürgerliche Rechte haben sie also nicht.
Daher wurde diesen Mitgliedstaaten vom Europarat
nahegelegt, dass sie ebendiese Defizite beheben, indem
sie die Einbürgerung erleichtern und es unter anderem
tolerieren, dass diese Menschen unter Beibehaltung ihrer
bisherigen Staatsbürgerschaft die Staatsbürgerschaft des
jeweiligen Landes erwerben können. Was gedenken Sie
in dieser Hinsicht zu tun?
Herr Kollege Keskin, weil Sie sich intensiv mit Fragen der Integration und der Partizipation beschäftigen,
wissen Sie selbst, dass das System des Staatsangehörigkeitsrechts der Bundesrepublik Deutschland eines der
fortschrittlichsten und modernsten nicht nur der westlichen Welt, sondern überhaupt ist.
Wir in Deutschland haben als eines der wenigen Länder weltweit einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung,
wenn der betreffende Ausländer bzw. Mitbürger eine bestimmte Zeit lang in Deutschland gelebt hat. Wir haben
vor einigen Jahren das Staatsangehörigkeitsrecht dahin
gehend modifiziert, dass junge Menschen nicht deutscher Herkunft, die hier in Deutschland geboren werden,
unter bestimmten Voraussetzungen mit der Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bis zum Erwachsenenalter erwerben. Erst dann müssen sie sich für
eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden.
Im Übrigen - das wird durch die Zahlen der Einbürgerungsbehörde deutlich - ist es aufgrund der Lage in den
Herkunftsländern vieler Migrantinnen und Migranten so,
dass wir in einer erheblichen Zahl von Fällen - das geht
bisweilen bis an die 50 Prozent - bei der Einbürgerung
die doppelte Staatsangehörigkeit hinnehmen. Das heißt,
Deutschland ist ein Land mit starkem Rechtsanspruch
auf Einbürgerung. Deutschland ist ein Land, bei dem die
Angehörigen der dritten Generation jedenfalls überwiegend die Chance haben, in die deutsche Staatsangehörigkeit hineinzuwachsen. Wir erleichtern die Einbürgerung
auch denjenigen Migrantinnen und Migranten, denen die
Aufgabe ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit nicht zumutbar ist. Dies alles zusammengenommen führt dazu,
dass es in Deutschland vergleichsweise leicht ist, die
deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben.
Darüber hinaus ist es so, dass auch derjenige, der sich
dafür entscheidet, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit
zu beantragen, gleichwohl wichtige Partizipationsmöglichkeiten hat. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass
die politischen Parteien in aller Regel auch nicht deutsche Staatsbürger als Mitglieder akzeptieren. Ich habe
ferner darauf hingewiesen, dass Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit selbstverständlich auch für Nichtdeutsche gelten, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Lieber Herr Staatssekretär, wenn die Aussage zutreffen würde, dass es in Deutschland leicht ist, sich einbürgern zu lassen, dann können Sie mir vielleicht erklären,
wie es dazu kommt, dass gerade nach dem Inkrafttreten
des neuen Staatsangehörigkeitsrechts die Einbürgerungszahlen ganz erheblich zurückgegangen sind und
sich fast halbiert haben. Mit anderen Worten: Gerade das
neue Staatsangehörigkeitsrecht hat in bestimmten Bereichen, insbesondere für die erste und möglicherweise
auch für die zweite Generation, erhebliche Erschwernisse mit sich gebracht.
Hinzu kommt noch etwas: Das kommunale Wahlrecht
für Nicht-EU-Bürger existiert, wie Sie wissen, lieber
Herr Altmaier, seit den 70er-Jahren in vielen Nachbarstaaten, etwa Schweden, Dänemark, Holland, Großbritannien und auch Frankreich. In Deutschland gilt das
kommunale Wahlrecht nur für EU-Staatsbürger, nicht für
Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Auch da ist Handlungsbedarf gegeben.
Herr Kollege Keskin, wenn Sie die Situation in den
einzelnen europäischen Staaten vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass in vielen Ländern, in denen es
ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger gibt,
die Einbürgerung schwieriger als in der Bundesrepublik
Deutschland ist, dass es dort jedenfalls nicht die Elemente des Jus Soli gibt, von denen ich vorhin gesprochen habe und die dazu führen, dass Zehntausende von
jungen Menschen mit der deutschen Staatsangehörigkeit
von Anfang an aufwachsen können.
Die sinkende Zahl von Einbürgerungsanträgen und
Einbürgerungszahlen erklärt sich dadurch, dass diese
Zahlen naturgemäß im Laufe der Zeit schwanken. Ich
will aber ausdrücklich darauf hinweisen: Viele Migrantinnen und Migranten haben die Möglichkeit und das
Recht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen.
Allerdings gibt es keine Pflicht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Es ist den Betroffenen freigestellt, ob sie dies tun. Gleichwohl freuen wir uns über jeden, der sagt: Ich möchte gerne dazugehören und mich
einbürgern lassen. - Wir bemühen uns, den Betroffenen
diese Entscheidung so einfach wie möglich zu machen.
Vor einiger Zeit haben wir einen neuen Einbürgerungstest eingeführt, der bundesweit Gültigkeit hat. Im
Vorfeld ist daran viel Kritik geübt worden. Es hieß, er sei
zu schwer, und die Fragen seien abschreckend. Inzwischen liegen uns die ersten Testergebnisse vor. Weit über
90 Prozent aller Teilnehmer, fast 100 Prozent von ihnen,
haben den Einbürgerungstest bestanden. Auch daran
wird deutlich, dass die Hürden bei der Einbürgerung in
Deutschland durchaus zu überwinden sind.
Frau Kollegin Dağdelen, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr
Altmaier, bevor ich meine Frage stelle, möchte ich auf
die Einbürgerungszahlen, die das Statistische Bundesamt
veröffentlicht hat, zu sprechen kommen. Da es gerade
darum ging, ob diese Zahlen heute niedriger oder etwas
höher als in der Vergangenheit sind, möchte ich darauf
hinweisen, dass die Zahl der jährlichen Einbürgerungen
seit dem Jahre 2000 kontinuierlich gesunken ist, und
zwar auf 127 153 im Jahre 2004. Im Jahre 2007 - das ist
die letzte Zahl, die uns vorliegt - gab es in Deutschland
113 030 Einbürgerungen. Im Vergleich dazu fanden im
Jahre 2000 186 688 Einbürgerungen statt. Das entspricht einem Rückgang zwischen dem Jahre 2000 und
dem Jahre 2007 in Höhe von 40 Prozent. Es finden also
nicht gerade viele Einbürgerungen statt, was natürlich
auch mit den Voraussetzungen zu tun hat.
Nun möchte ich zu meiner konkreten Frage kommen,
lieber Herr Altmaier. Es geht um Ihre Aussage zum
kommunalen Wahlrecht. Es ist schön, dass die Bundesregierung die parlamentarischen Beratungen respektiert
und abwartet; das ist nämlich nicht immer der Fall.
Trotzdem möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie einen
Prüfauftrag zum kommunalen Wahlrecht in Ihren Koalitionsvertrag aufgenommen haben.
Im Hinblick auf die Aussage Ihres Koalitionsvertrages, dass Sie die Einführung des kommunalen Wahlrechts prüfen lassen, haben wir eine Anfrage an Sie gerichtet. Die Antwort der Bundesregierung lautete, dass
sie diesen Prüfauftrag noch nicht erfüllt habe. Ich
möchte Sie fragen, ob die Bundesregierung diesen Prüfauftrag mittlerweile endlich erfüllt hat bzw. dies bis zum
Ende dieser Legislaturperiode tut - es ist nämlich bereits
Anfang 2009, und diese Legislaturperiode ist nicht endlos lang - oder ob sie gedenkt, diesen Prüfauftrag in die
nächste Legislaturperiode zu verschieben.
Frau Kollegin Dağdelen, der Koalitionsvertrag, auf
den Sie sich beziehen, ist zwischen den die Bundesregierung tragenden Koalitionsfraktionen geschlossen worden. Die Bundesregierung wird über die Umsetzung der
darin enthaltenen Prüfaufträge vorrangig mit den Koalitionsfraktionen sprechen. Ich bitte Sie, dies zu respektieren. Auch Sie werden die Ergebnisse unserer Beratungen
zu gegebener Zeit zur Kenntnis nehmen können.
Weil Sie sich gerade auf die Einbürgerungszahlen bezogen haben, möchte ich ganz ernsthaft auf folgenden
Punkt hinweisen: Es gibt durchaus Migrantinnen und
Migranten, die sich, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllen, deshalb nicht einbürgern lassen, weil sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufgeben wollen. Das
deutsche Recht besagt allerdings: Wenn es möglich ist,
die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben, dann wird
auch erwartet, dass das getan wird. Darüber wird im politischen Bereich diskutiert.
Da in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
eine Rolle spielen, will ich darauf aufmerksam machen,
dass es ein Abkommen der Staaten des Europarates gibt,
in dem das Ziel der Vermeidung von Mehrstaatigkeit formuliert ist; lange Zeit verfolgte der Europarat nämlich
eine Politik, die darauf gerichtet war, das Entstehen von
Mehrstaatigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Dieses
Übereinkommen gilt nach wie vor, und die Bundesrepublik Deutschland fühlt sich diesem Übereinkommen verpflichtet.
({0})
Frau Kollegin Enkelmann, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, das sei alles
ganz leicht. Ich habe im Spiegel dieser Woche von einer
jungen verheirateten Frau gelesen, die seit sieben Jahren
in der Bundesrepublik lebt. Sie hat ein Jurastudium absolviert, und das mit hervorragenden Ergebnissen. Man
kann also davon ausgehen, dass sie sowohl unsere Gesellschaft als auch unser Rechtssystem kennt. Halten Sie
es für angemessen, dass diese Frau einen Einbürgerungstest machen soll? Halten Sie das für einen leichten Weg,
jemanden einzubürgern, der seinen Lebensmittelpunkt
hier hat?
Frau Kollegin, wie Sie sich denken können, habe
auch ich diesen Artikel gelesen. Wir beschäftigen uns
mit dem Einbürgerungstest seit einiger Zeit. Ich möchte
Sie zunächst darauf hinweisen, wie die derzeitige rechtliche Lage ist. Es ist vorgesehen, dass den Einbürgerungstest nicht ablegen muss, wer in Deutschland über
einen Hauptschulabschluss oder über einen vergleichbaren Schulabschluss verfügt. Dies war bei der betreffenden Person nicht der Fall.
Was zu geschehen hat, wenn jemand in Deutschland
ein Studium abgeschlossen hat, ist weder in den Regelungen noch in den vorläufigen Verwaltungsvorschriften
abschließend geregelt. Dies wird im Augenblick mit den
Bundesländern - sie sind für die Durchführung
zuständig - besprochen. Ich gehe davon aus, dass man
am Ende der notwendigen Prüfungen zu einer flexiblen
und pragmatischen Lösung kommen wird, die dem Einzelfall gerecht wird.
Herr Kollege Wunderlich.
Herr Staatssekretär, auf die Frage meiner Kollegin
Dağdelen zum Prüfauftrag im Hinblick auf kommunales
Wahlrecht haben Sie geantwortet, was im Koalitionsvertrag stehe, besprächen die Koalitionsparteien miteinander; der Rest des Parlaments werde zu gegebener Zeit informiert. Sehe ich es richtig, wenn ich sage, dass das
heißt, dass die Bundesregierung von Parteien Prüfaufträge annimmt, am Parlament vorbei, und sich damit der
parlamentarischen Kontrolle solcher Prüfaufträge entzieht? Anders kann man das, was Sie geäußert haben,
meiner Überzeugung nach nicht deuten.
Ich möchte Sie herzlich bitten, mir nicht das Wort im
Mund herumzudrehen. Ein vergleichbarer Prüfauftrag
des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung ist
bislang nicht ergangen. Einen Prüfauftrag des Deutschen
Bundestages werden wir selbstverständlich in der kürzesten denkbaren Frist beantworten.
Sie haben sich auf den Koalitionsvertrag bezogen.
Die Umsetzung des Koalitionsvertrages liegt zuvörderst
in der Verantwortung der die Koalition tragenden Parteien und Fraktionen. Das werden Sie nicht bestreiten
wollen; es gibt ja auch Regierungen, an denen Ihre Partei
beteiligt ist. Zumindest eine solche Regierung gibt es
noch; es werden ja immer weniger. Ich habe gesagt:
Selbstverständlich werden wir im Zuge der Umsetzung
des Prüfauftrages das Parlament über die Ergebnisse unterrichten, wie wir das im Übrigen immer tun. Es ist weit
hergeholt, daraus in irgendeiner Form eine Missachtung
oder Geringschätzung des Parlaments herleiten zu wollen.
({0})
Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Keskin auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass eine
eigens eingerichtete Monitoringkommission die Umsetzung
der diesbezüglichen Europaratsbeschlüsse in Deutschland
überprüft?
Herr Kollege Keskin, ich muss Sie auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage verweisen, in der wir dazu bereits Stellung genommen haben. Im Übrigen ist der Bundesregierung nicht bekannt, dass der Europarat eigens
eine Monitoringkommission eingerichtet habe, die die
Umsetzung der Empfehlungen 1839 und 1840 ({0})
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
überprüfen solle.
Die Bundesregierung nimmt die Empfehlungen der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch
im Hinblick auf die in Empfehlung 1840 ({1}) Nr. 4
angesprochenen Monitoringmissionen zur Kenntnis. Sie
verweist insoweit auf die Einladung an die Europäische
Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, ECRI, in
Nr. 4.7 der Empfehlung 1840 ({2}) und auf die Ende
2008 in Deutschland durchgeführte ECRI-Monitoringmission. Den Dopplungen und inhaltlichen Überschneidungen, welche die empfohlenen zusätzlichen Monitoringmissionen mit sich brächten, steht die
Bundesregierung skeptisch gegenüber. Ich kann Ihnen
aber sagen, dass die Ende 2008 in Deutschland durchgeführte ECRI-Monitoringmission sehr erfolgreich verlaufen ist. Davon habe ich mich selbst überzeugen können.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, die Bundesrepublik Deutschland
ist ein sehr interessiertes, engagiertes und sogar einflussreiches Mitgliedsland des Europarates und achtet darauf,
dass die in anderen Mitgliedstaaten vorhandenen Defizite im Bereich der Demokratie, der Menschenrechte
und der Minderheitenrechte beseitigt werden. Diesbezüglich gibt es Monitoringkommissionen. Ich bin Mitglied einer solchen Kommission. In diesem Falle aber
nicht für die Bundesrepublik Deutschland, sondern für
die anderen Länder.
Wenn die Forderungen des Europarates in Bezug auf
die vorhandenen Demokratiedefizite, worüber wir gerade gesprochen haben, nicht erfüllt werden, dann muss
man kontrollieren, beobachten und feststellen: Wir
haben beobachtet, dass in Deutschland immer noch soundsoviele Millionen Menschen keinerlei politische
Rechte haben. Sie nennen die Versammlungsfreiheit. Ich
bitte Sie! Das ist ein Grundrecht, das jedem Menschen
zusteht. Wir reden hier von staatsbürgerlichen, politischen Rechten, also vom aktiven und passiven Wahlrecht etc.
Herr Kollege Keskin, das war mehr ein Statement als
eine Frage, aber ich kann Ihnen noch einmal versichern,
dass die Bundesrepublik Deutschland zu denjenigen
Ländern gehört, in denen die politischen Partizipationsmöglichkeiten auch für Migrantinnen und Migranten besonders entwickelt und ausgeprägt sind.
Sie nehmen eine, wie ich meine, unzulässige Verkürzung dieser Frage vor, indem Sie sich allein auf das
kommunale Wahlrecht beziehen. Sie wissen genauso gut
wie ich, dass bei diesem Punkt auch verfassungsrechtliche Fragestellungen zu berücksichtigen sind und dass
die große Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates
dieses kommunale Wahlrecht nicht gewährt. Die Bundesrepublik Deutschland ist in dieser Frage also keinesfalls alleine.
Deshalb sage ich abschließend noch einmal, dass man
das Problem der partizipativen Mitwirkung von Migrantinnen und Migranten auf unterschiedlichem Wege lösen
kann. Die Gewährung eines kommunalen Wahlrechts
kann eine Möglichkeit sein. Es gibt Staaten, die sich dafür entschieden haben. Es kann aber auch eine sinnvolle
Möglichkeit sein, die Einbürgerung und damit die Erlangung des vollen Status eines Staatsbürgers zu erleichtern. Das ist ein Weg, den wir in Deutschland in den letzten Jahren mit bemerkenswerten und auch international
anerkannten Erfolgen zurückgelegt haben.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Keskin.
Danke, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Altmaier, nehmen wir einmal an, dass bei der Überprüfung der Monitoringkommission festgestellt wird, dass es auch hier in
Deutschland in der Tat, wie ich meine und wie das durch
die Fakten auch belegt wird, Demokratiedefizite im Bereich der politischen Partizipation usw. gibt. Was würde
die Bundesregierung dann tun? Würde die Bundesregierung diese Defizite dann tatsächlich wohlwollend überprüfen und die entsprechenden Maßnahmen ergreifen,
um diese Defizite zu beheben?
Herr Kollege Keskin, Sie stimmen doch wahrscheinlich mit mir überein, dass es sich auch aufgrund des Respekts, den wir dem Europarat und seinen Monitoringkommissionen schulden, verbietet, den Empfehlungen
und Ergebnissen dieser Kommissionen vorzugreifen.
Deshalb schlage ich vor, dass wir getrost und ruhig abwarten, was die Monitoringkommissionen letzten Endes
empfehlen werden, und dass wir uns anschließend in der
gebotenen seriösen und unaufgeregten Weise mit diesen
Empfehlungen auseinandersetzen.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums des Inneren. Vielen Dank, Herr
Parlamentarischer Staatssekretär Altmaier, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen
steht Herr Staatssekretär Karl Diller bereit.
Die Frage 19 des Kollegen Ilja Seifert wird schriftlich
beantwortet.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Ulrich Adam
auf:
Welche Brief- und Sondermarken der Deutschen Bundespost/Deutschen Post AG seit ihrem Bestehen sowie welche
DM- und Euro-Gedenkmünzen widmeten sich - bitte einzelne
Ausgaben mit dem Herausgabejahr auflisten - den Verfolgten
und Opfern der kommunistischen/stalinistischen Gewaltherrschaft und der SED-Diktatur?
Herr Kollege Adam, zunächst zu den Briefmarken:
Im Jahre 1953 gab es aus Anlass des Volksaufstandes am
17. Juni 1953 in der DDR und in Ostberlin ein Sonderpostwertzeichen. Es gab im Jahre 1995 ein Sonderpostwertzeichen den Opfern von Teilung und Gewalt, für
den Zeitraum von 1945 bis 1989, gewidmet; es wurde
1995 wegen des Beginns der Teilung vor 50 Jahren herausgegeben. Im Jahre 2003 gab es ein Sonderpostwertzeichen aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes am 17. Juni 1953.
Nun zur Herausgabe von Münzen: Ebenfalls im Jahre
2003 gab es eine 10-Euro-Silbergedenkmünze zum
50. Jahrestag des Volksaufstandes, die sich den verfolgten Opfern der SED-Diktatur widmete.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin; aber ich habe keine
Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 21 des Kollegen Ulrich Adam
auf:
Welche Pläne hat die Bundesregierung in diesem Jahr, den
20. Jahrestag der friedlichen Revolution durch entsprechende
Sonderbriefmarken, Euro-Gedenkmünzen und Gedenkmedaillen - bitte Vorhaben einzeln auflisten - zu würdigen?
Herr Kollege, es wird am 10. September 2009 ein
Sonderpostwertzeichen „20 Jahre Grenzöffnung Ungarn/
Österreich“ erscheinen. Dabei handelt es sich um eine
trilaterale Gemeinschaftsmarke von Ungarn, Österreich
und der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, in jedem dieser Länder wird eine motivgleiche Marke herausgegeben werden. Außerdem wird es am 8. Oktober
2009 ein Sonderpostwertzeichen „20 Jahre friedliche
Revolution“ geben. Die Bundesregierung wird im Jahre
2009 zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution keine
Euro-Gedenkmünzen ausgeben. Medaillen wird sie
schon deswegen nicht ausgeben, weil dies keine hoheitliche Aufgabe ist.
Haben Sie Zusatzfragen, Herr Kollege Adam?
Ja, Frau Präsidentin.
Dann bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie, inwieweit Sie bzw.
die Bundesregierung eine Anregung gegeben hat, dass
zum 80. Geburtstag von Pfarrer Oskar Brüsewitz, der
sich am 30. Mai 2009 jähren wird, eine Sondermarke
oder eine Gedenkmünze herausgegeben wird. Ich erinnere daran, dass sich Pfarrer Brüsewitz am 18. August
1976 aus Protest gegen die SED-Diktatur verbrannte.
Herr Kollege Adam, bezüglich der Herausgabe von
Sonderpostwertzeichen bekommt das Bundesministerium der Finanzen als zuständiges Ministerium in jedem
Jahr zwischen 600 und tausend Vorschläge. Mittlerweile
sind es eher tausend, weil es möglich geworden und entsprechend beworben worden ist, solche Vorschläge im
Internet zu machen. Auch erreichen uns Dutzende von
Abgeordnetenbriefen mit Vorschlägen. Bei uns entscheidet darüber nicht irgendein Oberamtsrat - ich sage dies
mit allem Respekt vor der Bedeutung und Arbeitskraft
von Oberamtsräten -, sondern ein Programmbeirat, der
den Versuch unternimmt, eine richtige Bewertung der
eingereichten Vorschläge vorzunehmen.
Dabei muss er folgendes Problem beachten: Mit den
Philatelistenverbänden haben wir abgesprochen, dass in
der Regel nur 50 Sonderpostwertzeichen pro Jahr herausgegeben werden sollen. Wären Sie Philatelist, wüssten Sie, dass Sie gehalten sind, alle Marken einschließlich der Marken mit Zuschlägen zu erwerben, wenn Sie
eine komplette Deutschlandsammlung haben wollen.
Früher gab es die Marken einzeln von der Rolle; heute
gibt es sie im Zehnerbogen. Die Philatelisten hätten sie
gerne auch noch gestempelt und ungestempelt, möglichst mit Ersttagsstempel. Das heißt, für die Philatelisten geht eine Sammlung in die Kosten. Deswegen ist die
Zahl auf 50 begrenzt.
Innerhalb dieser 50 Sonderpostwertzeichen gibt es
dann auch noch Serien, beispielsweise Wohlfahrtsmarken oder die Weihnachtsserie, die Frau Nicolette Kressl
und ich Ihnen vor Weihnachten zugestellt haben.
Es gibt also einen Programmbeirat, in dem auch Mitglieder des Deutschen Bundestages vertreten sind, der
die eingegangenen Vorschläge sichtet, versucht, sie zu
würdigen und dem Bundesminister der Finanzen einen
Vorschlag unterbreitet. In der Regel - in meiner Amtszeit ist mir keine Abweichung von diesen Vorschlägen
bekannt - folgt der Bundesfinanzminister den Vorschlägen des Programmbeirats.
Bezüglich der konkreten Person kann ich Ihnen gegenwärtig keine Auskunft geben, ob er in dem Vorschlagstableau aufgeführt war und, wenn ja, warum er
nicht berücksichtigt worden ist. Das müsste ich recherchieren und Ihnen dann zukommen lassen.
Vielen Dank.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage? - Das ist nicht der
Fall.
Dann rufe ich die Frage 22 des Kollegen Arnold
Vaatz auf:
Zu welchem Zeitpunkt erhielt die Bundesregierung Informationen zur Kenntnis über die Medaillenausgabe der Deutschen Post AG mit den Inschriften „Neubeginn und ParteienEinheit - 22. April 1946“, „Verfassung und Staatsgründung 7. Oktober 1949“, „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“, die im Rahmen der Medaillensammlung
„60 Deutsche Jahre“ herausgegeben wurde, und inwieweit
sind der Bundesregierung die Personen/Abteilungen/Dienststellen bei der Deutschen Post AG bekannt, die für die Auswahl der Motive, die Entscheidung zur Prägung und die Entscheidung zur Emission dieser Medaille verantwortlich
waren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Vaatz, die Deutsche Post AG wird als
Aktiengesellschaft nach deutschem Recht vom Vorstand
geführt, der allein - ich unterstreiche dick: allein - das
operative Geschäft der Gesellschaft verantwortet. Die
Ausgabe von Sammler- oder Gedenkmedaillen durch die
Deutsche Post AG erfolgt in alleiniger Verantwortung
und Zuständigkeit des Vorstandes der Deutschen Post
AG. Eine Einflussnahme von Eigentümern, Aktionären
auf das operative Geschäft ist nicht möglich, wie Sie
wissen.
Die Bundesregierung hat von der Deutschen Post AG
über die beabsichtigte Herausgabe der Gedenkmedaille
„60 Deutsche Jahre“ vorab keine Information erhalten.
Dies war auch nicht erforderlich.
Der Bundesregierung liegen im Übrigen keine Informationen über beteiligte Personen, Abteilungen und
Dienststellen der Deutschen Post AG vor.
Ihre Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, an welcher Stelle sehen Sie die
politische Verantwortung für die ausgegebenen Münzen
bzw. die dort verwendeten Symbole, Bilder oder grafischen Gestaltungen?
Herr Kollege Vaatz, ich teile mit Ihnen die Empörung
über diese Medaillen, insbesondere über die Medaille
zur Zwangsvereinigung der SPD mit der SED.
({0})
Denn ich weiß, wie viele Tausende von Sozialdemokraten unter dieser Zwangsvereinigung und der folgenden
Verfolgung zu leiden hatten. Deswegen bin ich sehr zufrieden, dass sich die Post AG sozusagen postwendend
dazu entschlossen hat, die Auslieferung dieser Medaillen
einzustellen.
({1})
Gleichwohl bleibt die Verantwortung beim Vorstand.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Verantwortung beim
Vorstand der Deutschen Post sehen, aber einräumen,
dass die Bundesregierung - obwohl sie als Mitaktionär
Miteigentümer der Deutschen Post AG ist - keinen direkten politischen Einfluss nehmen kann, frage ich Sie:
Wie beurteilen Sie dann die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, auf solche wichtigen symbolträchtigen, die
deutsche Öffentlichkeit berührenden Entscheidungen der
Deutschen Post Einfluss zu nehmen?
Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass der Umstand
der Herausgabe dieser total verunglückten Medaillen der
Deutschen Post AG eine Lehre ist, die sie hochgradig für
künftige Gedenkmedaillen aus historischen oder welchen Anlässen auch immer sensibilisieren wird.
Frau Kollegin Bellmann, bitte.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, wie viele
Exemplare dieser Gedenkmedaille bereits in Umlauf gekommen sind und zu welchen Preisen diese gehandelt
wurden?
Dazu liegen mir im Moment keine Erkenntnisse vor.
Wir werden bei der Deutschen Post AG Rückfrage halten und Sie dann informieren.
Herr Kollege Adam, bitte.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob sich die
Deutsche Post AG bei den Opfern des Kommunismus/
Stalinismus bzw. bei deren Verbänden und Vereinigungen für diese Gedenkmedaille entschuldigt hat?
Auch darüber liegen mir keine Erkenntnisse vor; das
muss ich gestehen. Ich weiß, dass einzelne Abgeordnete
Beschwerden an den Vorstandsvorsitzenden gerichtet
haben und der Vorstandsvorsitzende sein Bedauern in
seiner Antwort zum Ausdruck gebracht hat.
Frau Michalk, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben Ihrer Empörung über
diesen Vorgang Ausdruck verliehen. Ich frage Sie, welche Empfehlung Sie dem Vorstand geben, was mit den
noch nicht in Umlauf befindlichen Münzen geschehen
soll.
({0})
Einschmelzen.
({0})
Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Arnold Vaatz auf:
Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, welche externe Expertise von Personen/Institutionen die Deutsche Post
AG im Zusammenhang mit der geplanten Emission der SEDGedenkmedaille eingeholt hat und zu welchen ({0})Bedingungen dies geschah?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Vaatz, ich bedauere, aber der Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor.
Ihre erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie es genauso wie ich,
dass es hier offenbar überhaupt nicht möglich ist, die
persönliche Verantwortung für den eingetretenen Umstand zu eruieren? Wozu raten Sie mir, wenn ich herausfinden will, auf welche persönliche Initiative die Dinge
so zustande gekommen sind?
Ihre zweite Frage möchte ich wie folgt beantworten:
Wenden Sie sich doch an den Vorstandsvorsitzenden und
bitten Sie ihn um ein persönliches Gespräch.
Zu Ihrer ersten Frage. Ich habe mir heute Morgen Ihre
Frage noch einmal angeschaut und darüber nachgedacht,
wo der Fehler passiert ist. Liegt der Fehler bei den Historikern, die kontaktiert wurden? Hatten diese nicht massive Hinweise gegeben, wie man damit umgehen
müsste? Oder war es die Freiheit der Künstler? Die spannende Frage lautet für mich: Hatten die Historiker noch
einmal die Möglichkeit, einen Blick auf den Entwurf der
Künstler zu werfen und gegebenenfalls zu sagen, dass
man so mit dem Thema umgehen kann oder nicht? Ich
habe heute Morgen versucht, das bei der Deutschen
Post AG herauszufinden. Die Post AG war nicht zu einer
Auskunft bereit.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, dass
ich genau die gleichen Schritte wie Sie im Vorfeld dieser
Fragestunde unternommen habe und dass ich haargenau
dieselbe Antwort erhalten habe? Ich frage mich nun, welche Möglichkeiten uns als Parlamentarier noch offenstehen, um eine Antwort auf die einfache Frage, wer für
diese Gedenkmünze verantwortlich ist, zu bekommen.
Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir beide
wenden uns an Herrn Appel und bitten ihn um ein Gespräch.
Ganz herzlichen Dank.
Frau Kollegin Bellmann, bitte.
Herr Staatssekretär, von meiner Seite noch folgende
Frage: Ist Ihnen bekannt, ob es für diese Gedenkmedaille
eine öffentliche Ausschreibung oder einen Gestaltungswettbewerb gegeben hat? Wenn dem so gewesen wäre,
dann hätte man die ganze Angelegenheit schon früher
beeinflussen können. In diesem Zusammenhang frage
ich Sie: Können Sie sich vorstellen, dass der Beirat, der
an der Entscheidung, welche Postwertzeichen herausgegeben werden, beteiligt ist, sich auch mit Gedenkmünzen und Gedenkmedaillen befasst?
Frau Kollegin, Sie müssen Folgendes bedenken: Die
Herausgabe von Münzen und die Herausgabe von Sonderpostwertzeichen ist im Unterschied zur Prägung von
Medaillen ein hoheitlicher Akt. Jeder Verein kann die
Prägung von Medaillen in Auftrag geben. Diese Freiheit
hat er. Wenn er eine Prägewerkstatt findet, kann er alle
möglichen Medaillen prägen lassen. Zurzeit sind bei uns
beispielweise Medaillen zum Karneval im Umlauf. Davon abzugrenzen ist der hoheitliche Bereich. Für diesen
hoheitlichen Bereich haben wir einen Programmbeirat.
Der erste Teil Ihrer Frage betrifft ausschließlich das Unternehmen. Ich hoffe mit Ihnen allen zusammen sehr,
dass das Unternehmen jetzt sehr sensibilisiert ist und
dreimal hinschaut, bevor es einen Prägeauftrag erteilt.
Ich rufe nun die Frage 24 des Kollegen Manfred
Kolbe auf:
Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, die unter die Regelungen des Altforderungsregelungsgesetzes fallen
({0}),
aufgeschlüsselt nach den einzelnen östlichen Bundesländern
sowie den abgeschlossenen und noch laufenden Verfahren?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Kolbe, bei den sogenannten Altforderungen handelt es sich um Forderungen, die vor dem
8. Mai 1945 - das ist also schon sehr lange her - entstanden sind, die aber am 2. Oktober 1990 dem Staatshaushalt der DDR zustanden oder die staatlich verwaltet wurden. Die KfW führt die Verwaltung dieser ehemals
volkseigenen Forderungen im Auftrag des Bundes durch.
Unter das Altforderungsregelungsgesetz fallen nach
Auskunft der KfW insgesamt 1 280 Fälle. Noch nicht
abgeschlossen sind derzeit 663. Die von Ihnen erbetenen
Zahlen für die einzelnen Bundesländer lauten: Berlin,
sowohl bei abgeschlossenen als auch offenen Fällen: 0;
Brandenburg: 155 abgeschlossen, 248 offen; Mecklenburg-Vorpommern: 137 abgeschlossen, 41 offen; Sachsen-Anhalt: 104 abgeschlossen, 103 offen; Sachsen:
160 abgeschlossen, 252 offen; Thüringen: 60 abgeschlossen, 19 offen.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? - Keine
Zusatzfrage.
Dann kommen wir zur Frage 25 des Kollegen Kolbe:
Wie hoch sind die eingeforderten bzw. eingenommenen
Beträge, und wie hoch ist der Verwaltungsaufwand beim Vollzug des Altforderungsregelungsgesetzes, aufgeschlüsselt nach
den einzelnen östlichen Bundesländern?
Herr Kollege, die Einnahmen aus den bereits geltend
gemachten Altforderungen belaufen sich auf insgesamt
1,235 Millionen Euro. Die noch offenen Fälle belaufen
sich auf rund 2,921 Millionen Euro. Die Einnahmen
bzw. das Forderungsvolumen verteilen sich auf die
Länder wie folgt: Berlin: 0; Brandenburg: Einnahmen
218 981,16 Euro, Forderungen 652 037,37 Euro; Mecklenburg-Vorpommern: Einnahmen 299 248,03 Euro,
Forderungen 135 255,04 Euro; Sachsen-Anhalt: Einnahmen 218 303,92 Euro, Forderungen 1 026 075,01 Euro;
Sachsen: Einnahmen 352 882,63 Euro, Forderungen
904 620,38 Euro; Thüringen: Einnahmen 145 863,27 Euro,
Forderungen 203 550,58 Euro.
Über den mit der Einziehung der dem Altforderungsregelungsgesetz unterfallenden Forderungen verbundenen Verwaltungsaufwand bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau liegen leider keine gesonderten Statistiken
vor. Ich weise zudem darauf hin, dass der Bund nach
dem Einigungsvertrag gesetzlich verpflichtet ist, diese
Forderungen geltend zu machen.
Haben Sie dazu Zusatzfragen? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ich habe mit Interesse vernommen, dass über mehrere Jahre insgesamt Einnahmen in
Höhe von rund 1,2 Millionen Euro erzielt worden sind.
Dafür haben wir im Jahre 2005 extra ein Gesetz im
Deutschen Bundestag verabschiedet. Den Verwaltungsaufwand beziffern Sie hier nicht. Aber wenn ich die Anzahl der Fälle sehe, dann gehe ich davon aus, dass dieser
eigentlich höher sein müsste. Wie ist Ihre Einschätzung:
Ist das ökonomisch sinnvoll gewesen, oder sollte die
KfW ihre personellen Ressourcen nicht eher in andere
Richtungen lenken? Ich will hier keine Fälle nennen.
Herr Kollege, zur Motivforschung habe ich mich
noch einmal mit der Debatte anlässlich der zweiten und
dritten Lesung im Deutschen Bundestag am Donnerstag,
dem 24. Februar 2005, befasst. Ich habe auch Ihren Redebeitrag gelesen. Sehr knapp und zutreffend war meiner
Ansicht das, was Herr Dr. Hans-Ulrich Krüger von der
SPD-Fraktion hierzu anmerkte - ich zitiere -:
Die vorgeschlagene Regelung entspricht daher der
seit jeher im Entschädigungsgesetz niedergelegten
Konzeption. Dort ist eine Anrechnung der Verbindlichkeiten auf die Entschädigung vorgesehen. Diese
Anrechnung schlägt aber wegen des übersteigenden
Wertes der zurückgegebenen Grundstücke in vielen
Fällen fehl. Die Berechtigten erhielten also einerseits … wertvolle Grundstücke zurück und andererseits zusätzlich eine Schuldenbefreiung. Diese Personen wären also im Vergleich zu denjenigen, die
nur eine Entschädigung erhielten, bevorteilt.
Das ist präzise auf den Punkt gebracht das Thema.
Das heißt, es ist ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit.
Im Übrigen haben auch die Länder dieses Verfahren gebilligt. Sie haben im Vermittlungsausschuss lediglich
noch eine Änderung, die aber nicht diesen Punkt betrifft,
durchgesetzt.
Abschließend möchte ich noch einmal in Erinnerung
rufen, dass alle diejenigen, die gemeint haben, gegen
dieses Gesetz klagen zu müssen, vor den entsprechenden
Gerichten verloren haben. Es ist also auch rechtlich richtig, was wir da machen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, nach der rechtlichen Seite habe
ich nicht gefragt, sondern nach der verwaltungsökonomischen. Können Sie dazu noch eine Einschätzung abgeben?
Solange die KfW mir nicht sagen kann, wie viel die
Bearbeitung eines Verwaltungsvorgangs Pi mal Daumen
kostet, sodass ich das dann mit 1 280 Fällen multiplizieren kann, sehe ich mich dazu nicht in der Lage. Die KfW
führt darüber keine Statistiken.
Damit kommen wir zur Frage 26 des Kollegen CarlLudwig Thiele:
Wie ist die Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 14. Januar 2009 zu
verstehen: „Wir haben im Übrigen beim Erblastentilgungsfonds bewiesen, dass wir das können. Er wurde 1995 eingerichtet und hatte damals einen Schuldenstand von umgerechnet 171 Milliarden Euro. Jetzt ist er getilgt.“?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Frau Präsidentin, Herr Kollege Thiele, wenn Sie einverstanden sind, beantworte ich beide Fragen, weil sie
den gleichen Sachverhalt betreffen und sich in der Wortwahl nur geringfügig unterscheiden, gemeinsam.
Dann rufe ich auch die Frage 27 des Kollegen CarlLudwig Thiele auf:
Wie ist die Aussage des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, in der Bundestagsdebatte
am 14. Januar 2009 zu verstehen: „Wenn ich mich erinnere,
hat das Abtragen der Schulden des Erblastentilgungsfonds
14 Jahre gedauert.“?
Der Erblastentilgungsfonds wurde 1995 mit einer Anfangsschuld von umgerechnet 171 Milliarden Euro gebildet. Einzelne Bestandteile, wie zum Beispiel die Verbindlichkeiten des Kreditabwicklungsfonds, waren
darauf ausgerichtet, innerhalb einer Generation, also innerhalb von circa 40 Jahren, getilgt zu werden. Durch
hohe Zuflüsse an den Fonds aus Bundesbankgewinnen,
aus den Einnahmen der Versteigerung der UMTS-Lizenzen sowie aus Beiträgen der neuen Bundesländer zur
Tilgung von Krediten für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen in der ehemaligen DDR konnten die Verbindlichkeiten des Erblastentilgungsfonds schneller als geplant reduziert werden. Heute, nach 14 Jahren, stehen für
den Erblastentilgungsfonds unter Berücksichtigung des
Schuldenmitübernahmegesetzes von 1999 noch Verbindlichkeiten von 55 Millionen Euro zu Buche, denen Forderungen in zweistelliger Millionenhöhe gegenüberstehen. Seine Schulden sind somit faktisch abgebaut. Die
letzte Tilgung ist entsprechend den vereinbarten Fälligkeiten für 2011 vorgesehen.
Ihre Nachfrage, Herr Kollege Thiele.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, meine Nachfrage lautet: Was verstehen Sie unter „Tilgung“? „Tilgung“ ist ja wohl die Rückzahlung einer Schuld. Handelt es sich hier nicht in wesentlichen
Teilen um eine Umschuldung, weil ein Großteil der Verbindlichkeiten inzwischen im Bundeshaushalt zu finden
ist und nicht im Erblastentilgungsfonds getilgt wurde?
Die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen,
die entsprechenden Bundesbankgewinne und die Zuführungen der Länder erreichen nicht annähernd die Größenordnung, die hier zur Tilgung anstand.
Herr Kollege Thiele, Sie wissen, dass ich von 1994
bis 1998 für die SPD Sprecher im Haushaltsausschuss
war und mich damals mit der von Ihnen gestützten Regierung immer über Folgendes auseinandersetzte: Sie
führte etliche Sondervermögen, die sich bei näherem
Hinsehen als Schuldentöpfe herausstellten, unter anderem den Erblastentilgungsfonds. Deswegen habe ich
nach der Regierungsübernahme 1998 sehr darauf gedrängt, dass man diese Schuldentöpfe möglichst schnell
auflöst und nach Möglichkeit auf den Bund überträgt. Im
Finanzbericht mit der Statistik für den betreffenden Zeitraum sehen Sie das Aufwachsen der Schulden. Bis dahin
waren die Schulden in diesen Töpfen versteckt; danach
sind sie offenkundig geworden.
Das ist im Schuldenmitübernahmegesetz von 1999
geregelt worden. Das heißt, wir tilgen auch aus dem
Haushalt heraus.
Die Aussagen der Frau Bundeskanzlerin, dass die
Schulden jetzt getilgt seien, und des Herrn Bundesaußenministers, dass das Abtragen der Schulden 14 Jahre
gedauert habe, sind korrekt, weil nämlich genau bestimmt worden ist, wie das Tilgen vor sich geht.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, dass eine Tilgung dann erfolgt ist, wenn die Schuld
tatsächlich nicht mehr vorhanden ist, und eine Umschuldung etwas anderes ist? Bei einer Umschuldung nämlich
wird ein Teil einer Schuld nur übertragen; diese Schuld
bleibt aber. Um die Zahlen noch einmal zu nennen: Zum
31. Dezember 1994 hatten wir mit den Extrahaushalten
eine Verschuldung des Bundes von 513 Milliarden Euro.
2007 betrug sie 938 Milliarden Euro; sie ist also um
425 Milliarden Euro gestiegen. Das ist die Gesamtschuld
des Bundes, also Extrahaushalte plus Schulden des Bundes - alles ausweislich des Finanzberichts -, sodass von
daher überhaupt nicht nachvollziehbar ist, dass die
Schulden getilgt sind.
Sie haben selbst genannt die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die Bundesbankgewinne, die
über 3,5 Milliarden Euro hinausgingen, und die Ländertilgung in Höhe von 138 bzw. 142 Millionen Euro. Sie
kommen damit nicht annähernd an die Größenordnung
des Erblastentilgungsfonds von rund 180 Milliarden
Euro, sodass es aus meiner Sicht unzutreffend ist, diesen
Vorgang als Tilgung zu bezeichnen. Es handelt sich im
Wesentlichen, zum größeren Teil um eine Umschuldung.
Herr Kollege Thiele, es bleibt dabei: Die getroffenen
Aussagen sind korrekt; denn im Buchwerk des Erblastentilgungsfonds sind die Schulden nahezu getilgt. Die
Verbindlichkeiten in Höhe von 55 Millionen Euro könnten wir sofort tilgen. Unser Problem ist, dass sie eine
Laufzeit bis 2011 haben. Wir kennen nicht die Gläubiger
dieser Titel; deswegen können wir sie nicht ansprechen.
Im Übrigen hat dieser Fonds noch Forderungen gegenüber Wohnungsbauunternehmen in der Größenordnung
von 40 Millionen Euro, also in vergleichbarer Höhe, sodass man wirklich sagen kann: Im Rechenwerk ist das
getilgt.
Übrigens, Herr Kollege Ausschussvorsitzender:
({0})
Wenn diese Forderungen bis 2011 nicht beglichen wor-
den sind, werden wir ein Gesetz verabschieden müssen,
damit wir weiter eine Rechtsgrundlage haben, um die
Forderungen gegenüber den Wohnungsbauunternehmen
geltend machen zu können.
Noch einmal, Kollege Thiele: Im Buchwerk des Erb-
lastentilgungsfonds ist sozusagen alles getilgt - mit Aus-
nahme der 55 Millionen Euro, denen Forderungen in
Höhe von 40 Millionen Euro gegenüberstehen.
Wir haben damit den zeitlichen Rahmen der Frage-
stunde leicht überschritten. Die Fragen, die noch nicht
beantwortet sind, werden schriftlich beantwortet. Die
Fragestunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, René Röspel, Katrin GöringEckardt und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verankerung
der Patientenverfügung im Betreuungsrecht
({0})
- Drucksache 16/11360 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Zöller, Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Klarstellung der Verbindlichkeit von
Patientenverfügungen ({2})
- Drucksache 16/11493 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Peter Weiß das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Krankheit und Sterben sind Teil unseres menschlichen Lebens. Zentrale Richtschnur allen Handelns, auch
in Krankheit und Sterben, ist die unverfügbare Würde
des betroffenen Menschen. Der Respekt vor der Einzigartigkeit des Lebens verbietet jede Instrumentalisierung
des Schicksals eines Schwerkranken oder Sterbenden,
jede Abwertung seiner Lebenslage, jede Fremdbestimmung seines Willens. Um eine solche Fremdbestimmung
zu vermeiden und dem Selbstbestimmungsrecht eine
Peter Weiß ({0})
starke Stellung zu geben, wollen wir Patientenverfügungen auf eine sichere rechtliche Grundlage stellen. Darum
geht es.
Viele Menschen verbinden ja mit der Aussicht darauf,
dass sie vielleicht eines Tages entscheidungsunfähig sind
und sich nicht mehr äußern können, große Befürchtungen, nämlich dass Dinge geschehen könnten, die sie
nicht wollen, dass sie einer, wie sie sagen, kalten Apparatemedizin ausgeliefert sein könnten, dass Schmerz und
Leid unnötig verlängert werden könnten. Deswegen
wollen immer mehr Menschen Vorsorge treffen und sicherstellen, dass ihr Wille ge- und beachtet wird. Mit
dem von mehreren Abgeordneten aus mehreren Fraktionen heute eingebrachten Gesetzentwurf zur Verankerung
der Patientenverfügung im Betreuungsrecht soll die
Achtung des Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen
gestärkt werden. Zugleich wollen wir aber auch Lebensschutz, ärztliche Fürsorge und Patientenwohl gewahrt
wissen.
Sicher, der im Voraus für den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit verfügte Wille ist stets zu beachten. Allerdings ist es nach aller menschlichen Erfahrung ein
gefährlicher, ja vielleicht sogar lebensgefährlicher Fehlschluss zu meinen, dass ein früher einmal geäußerter
Wille in jedem Fall dem aktuellen Willen des Betroffenen entspricht. Er kann diesem Willen entsprechen, aber
es muss nicht zwingend so sein. Würde der Betroffene
jetzt, da er schwer krank ist, genauso handeln wie damals, als er noch gesund war und eine Patientenverfügung geschrieben hat? Ist angesichts des rasanten
Fortschritts in der modernen Medizin jede vor 10 oder
20 Jahren niedergelegte Willensäußerung tatsächlich
noch aktuell? Würde der Patient genauso bestimmen wie
damals, als er noch nicht wusste, dass jetzt im Gegensatz
zu früher für ihn Heilungschancen bestehen?
Solche Fragen zu stellen heißt nicht, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu relativieren, sondern
zeugt davon, dass man den Patientenwillen tatsächlich
ernst nehmen und ihm zu jeder Zeit Geltung verschaffen
will. Um dafür einen klaren Rechtsrahmen zu schaffen,
schlagen die Antragsteller ein, wie ich finde, einfaches
Verfahren vor, auch wenn uns unterstellt wird, es sei sehr
kompliziert. Wenn jemand möchte, dass tatsächlich das,
was er niedergeschrieben hat, auch exakt so in jeder Situation durchgeführt wird, dann kann er das in einer
nach ärztlicher Beratung ausgefüllten Patientenverfügung anordnen. Zugleich sieht unser Vorschlag vor, dass
der Abfassung einer solchen Patientenverfügung eine
ausführliche ärztliche und rechtliche Aufklärung vorausgegangen sein muss, sie von einem Notar beurkundet
werden muss und sie nicht älter als fünf Jahre sein darf,
also jeder im vollen Wissen des ärztlich und rechtlich
Möglichen seine Patientenverfügung erstellt.
Wenn jemand das nicht machen will, kann er selbstverständlich in jeder anderen Form schriftlich eine
Patientenverfügung abfassen und den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung anordnen. Der Arzt oder
der Betreuer müssen sich auch daran halten, wenn eine
unheilbare, tödlich verlaufende Krankheit oder eine Situation vorliegt, in der der Patient mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller
medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein niemals
wiedererlangen wird.
Man kann aber auch das machen, was viele andere
tun, nämlich keine Patientenverfügung schreiben. Dann
sind immerhin Willensäußerungen aus der Vergangenheit - die Einstellungen zum Leben, die religiösen Überzeugungen - Indizien dafür, wie er, wenn man ihn befragen könnte, vielleicht entscheiden würde.
Bei allem Streit über Details einer gesetzlichen Regelung zu Patientenverfügungen sollten wir in einer solchen Debatte aber auch ein zentrales Anliegen deutlich
machen: Es geht darum, den Bedürfnissen schwer kranker und sterbender Menschen möglichst umfassend gerecht zu werden. Dazu sind Patientenverfügungen ein Instrument. Sie sind ein wichtiger Beitrag, aber nicht der
einzige. Menschenwürdiges Sterben bedarf zudem intensiver palliativmedizinischer Versorgung, fürsorgender
Beratung und seelsorgerischer Betreuung.
({1})
Dass Menschen in Würde sterben können, das sollte
Ziel unserer gemeinsamen politischen Bemühungen
sein.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits
2004 und 2006 haben die Liberalen Anträge für die Stärkung von Patientenverfügungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Es ist auch schon wieder mehr als
ein halbes Jahr her, dass der Kollege Stünker gemeinsam
mit mir und 200 anderen Abgeordneten hier einen Gesetzentwurf eingebracht hat, um Patientenverfügungen
wirklich zu stärken.
Fünf Jahre lang warten die Menschen inzwischen darauf, dass dieses Hohe Haus eine Entscheidung über alle
diese widerstreitenden Vorschläge trifft. Jetzt ist genug
der Blockade; jetzt muss entschieden werden.
({0})
Das Sterben ist Teil des Lebens. Wir reden heute über
Patientenverfügungen. Sie sind ein wichtiger Baustein,
um Würde am Lebensende zu ermöglichen, aber eben
nur ein Baustein. Genauso gehört mehr menschliche Zuwendung für Sterbende dazu. Gerade für die Menschen,
die zu Hause sterben wollen, brauchen wir endlich eine
professionelle ambulante Palliativmedizin, und zwar
nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Fläche.
({1})
All diese Maßnahmen sind kein Widerspruch zu einer
Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehört zusammen. Fürsorge ohne Selbstbestimmung ist genauso
schlimm wie Selbstbestimmung ohne Fürsorge.
Die moderne Medizin hat Möglichkeiten geschaffen,
von denen wir vor 50 Jahren nicht zu träumen gewagt
hätten. Ob man das als Geschenk oder als Qual empfindet, kann nur jeder einzelne Mensch für sich selbst entscheiden.
Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen.
Wer sich entscheidet, festzulegen, was ihm wichtig ist,
hat aber auch den Anspruch, dass dieses Parlament seinen Willen achtet.
({2})
Meine Damen und Herren, um es klar zu sagen: Wir
haben keine naive Vorstellung von Selbstbestimmung,
wie Herr Weiß uns das unterstellt hat. Mit Patientenverfügungen verfüge ich natürlich etwas für die Zukunft.
Das ist immer ein schwächerer Wille als das, was ich
hier und jetzt äußere. Aber was ist denn die Alternative?
Die Alternative zum vorausverfügten Willen unter Unsicherheit ist, dass ein Dritter entscheidet. Die Alternative
ist die Fremdbestimmung des Menschen.
Lassen Sie mich zu den heutigen Entwürfen kommen.
Der Entwurf der Kollegen Zöller und Faust ist in den
entscheidenden Fragen - in den Entscheidungsregeln, in
der Reichweite - auf einer Linie mit dem Entwurf von
Herrn Stünker und mir. Wir wollen gemeinsam keine
Beschränkung der Reichweite. Wir wollen das Vormundschaftsgericht nur in Konfliktfällen einschalten.
Wir wollen vor allem eine Bürokratisierung des Sterbens
verhindern.
Unsere Entwürfe unterscheiden sich in einigen Details. Aber ich bin ausgesprochen zuversichtlich, dass es
uns nach einer sachlichen Anhörung gelingt, diese Entwürfe zusammenzuführen. Es macht keinen Sinn, an den
eigenen Formulierungen zu kleben und auf ihnen zu beharren. Es geht darum, eine breite parlamentarische
Mehrheit für mehr Selbstbestimmung von Patienten zu
erreichen.
({3})
Lassen Sie mich hinzufügen: Weder der Entwurf von
Herrn Zöller und Herrn Faust noch der Entwurf von
Herrn Stünker und mir beinhaltet einen Automatismus
für die Patientenverfügung. Ich habe gehört, Herr
Bosbach habe heute einigen Journalisten gesagt: Eine
junge Radfahrerin, die stürzt und aufgrund ihrer Verletzungen ins Koma fällt, würde nach unserem Gesetzentwurf nicht behandelt werden, wenn sie vorher in einer
Patientenverfügung festgelegt hat, dass sie in diesem
Falle nicht behandelt werden möchte. - Das ist natürlich
Unsinn.
({4})
- Wenn Sie das nicht gesagt haben, Herr Bosbach, dann
begrüße ich das natürlich. Aber so wurde es mir berichtet.
Herr Kollege Kauch, Herr Bosbach möchte gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das
weder wörtlich noch sinngemäß stimmt, sondern frei erfunden ist?
Das nehme ich zur Kenntnis. Es freut mich außerordentlich, dass mich meine Quelle offensichtlich falsch
informiert hat. Dennoch möchte ich darauf hinweisen,
dass die Behauptung - sie wird möglicherweise im weiteren Verlauf der Debatte noch aufgestellt - falsch ist,
dass es einen Automatismus gebe und dass man im Falle
einer falschen Formulierung nach dem Vorschlag von
Zöller oder dem von Stünker oder von wem auch immer
sterben müsse. Das ist nicht der Fall. Auch nach den anderen Entwürfen soll geprüft werden, ob die entsprechende Formulierung in der Patientenverfügung auf die
Situation anzuwenden ist. Es wird vor allen Dingen hinterfragt, wie sie gemeint ist. Dieser Punkt ist in allen
Entwürfen enthalten.
({0})
Ich möchte den Gesetzentwurf von Herrn Bosbach
nicht selber kommentieren, sondern die Gelegenheit nutzen, ein Zitat aus einem Kommentar anzuführen, der von
Herrn Professor Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität München, stammt. Er
bezeichnet den Entwurf von Herrn Bosbach als
Patientenverfügungsverhinderungsgesetz, das auf medizinisch fehlerhaften Annahmen basiert, unnötige Hürden
aufbaut und ein groß angelegtes Beschäftigungsprogramm für Notare und Vormundschaftsgerichte darstellt.
Weiter meint er: Die letzte Lebensphase wird massiv
verrechtlicht und damit entmenschlicht. Dieses Gesetz
würde sehr viele Menschen ihres Grundrechts auf einen
friedlichen und natürlichen Tod berauben. Bevormundung statt Fürsorge. Der ethische Paternalismus lässt
grüßen. - Das spricht für sich.
Wenn ein Palliativmediziner eine solche Gesamteinschätzung Ihres Entwurfs trifft, dann muss man sich einmal anschauen, was Palliativmediziner zu einzelnen Bestimmungen Ihres Entwurfes sagen. Darin heißt es, dass
Verfügungen, die Krankheiten betreffen, die keinen irreversiblen, tödlichen Verlauf nehmen, nur dann gelten,
wenn sie notariell beurkundet werden und wenn es vorher eine ärztliche Beratung gegeben hat. Was sind denn
diese irreversiblen, zum Tode führenden Erkrankungen?
Herr Borasio schreibt, dass das medizinisch nicht klar
festzulegen ist.
Herr Kollege Kauch, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bosbach zu? - Herr Bosbach,
bitte sehr.
Herr Kollege Kauch, was Sie gerade angesprochen haben, ist ein ausgesprochen wichtiges Argument. Es geht
nämlich um die Frage: Kann man dieses Tatbestandsmerkmal in der ärztlichen Praxis überhaupt feststellen?
Ich zitiere aus der entsprechenden Empfehlung der Bayerischen Staatsministerin für Justiz und für Verbraucherschutz. Sie schlägt folgende Formulierung wortwörtlich
vor:
… wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst
wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist.
Wie erklären Sie sich die von Ihnen angeführte Stellungnahme von Herrn Professor Borasio angesichts der Tatsache, dass diese Formulierung von dem Beiratsmitglied
Professor Domenico Borasio empfohlen wird?
({0})
Herr Borasio schreibt in dem Papier, das mir vorliegt:
Da wir alle sterben werden, kann die Definition einer
tödlich verlaufenden Krankheit nur lauten, dass Patienten mit dieser Krankheit eine im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden signifikant verminderte Lebenserwartung
aufweisen. Das gilt für die meisten Krebserkrankungen,
aber genauso für Demenz-, für Wachkoma-, für Herzinsuffizienz-Patienten und für die multimorbiden, hochbetagten geriatrischen Patienten. Hier eine klare Grenze
zu ziehen, ist medizinisch-wissenschaftlich unmöglich.
Soll das politisch anders sein? - Ich glaube, wir werden
im Rahmen der Anhörung Gelegenheit haben, über diese
Kontroverse zu diskutieren. Diese Äußerung macht
deutlich, dass offensichtlich auch Ärzte mit Ihrem Kriterium ein Problem haben. Abgesehen davon müssen wir
uns die Frage stellen, was ist, wenn man Ihre Formvorschriften nicht einhält. Was passiert dann? Dann werden
die Menschen zwangsbehandelt,
({0})
dann wird wiederbelebt, dann wird beatmet, dann werden Magensonden gelegt, wird Blut übertragen, werden
Antibiotika verabreicht, und das alles gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten.
({1})
Zudem ist Ihr Entwurf ein Beschäftigungsprogramm
für die Vormundschaftsgerichte. Sie sagen: In all den
Fällen, in denen es nicht um irreversibel zum Tode führende Krankheiten geht, muss das Vormundschaftsgericht selbst dann angerufen werden, wenn Arzt, Betreuer
und alle Angehörigen sich darüber einig sind, dass dies
der Wille des Patienten ist. Das bringt eine lange Verfahrensdauer mit sich, und wir wissen, was das bedeutet:
Das bedeutet, dass man vielleicht zwar recht hat, aber
doch nicht recht bekommt. In der Sterbephase geht es
um Tage oder Wochen. Da kann man nicht darauf warten, dass sich ein Gericht bequemt, endlich eine Entscheidung zu treffen.
({2})
Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von
Patientenverfügungen müssen klar geregelt werden. Wir
sollten nicht nur von Selbstbestimmung sprechen; wir
sollten die Selbstbestimmung in unseren Gesetzentwürfen auch absichern. Ich hoffe, dass die Argumente, die
die Experten vorbringen werden, im Rechtsausschuss,
aber auch im Plenum dieses Hauses, gut abgewogen
werden, damit wir zu einer wirklich sachgerechten Lösung für die Menschen in diesem Land kommen.
({3})
Nun hat das Wort der Kollege Christoph Strässer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es gut, richtig und wichtig
ist, dass wir nach einer sehr langen Debatte nunmehr in
einer Phase sind, in der Entscheidungen getroffen werden können.
Ich möchte an dieser Stelle nachdrücklich den hohen
Ärztefunktionären widersprechen, die noch heute gesagt
haben, dass es für die Regelung eines solchen Sachverhaltes einer gesetzlichen Regelung nicht bedarf.
({0})
Wer die Debatten der letzten Wochen, Monate und Jahre
verfolgt hat und Veranstaltungen zu diesem Thema besucht hat - nach meiner Kenntnis waren es die bestbesuchten politischen Veranstaltungen in vielen Wahlkreisen -, der kann sich über eine solche Einschätzung nur
wundern. Die Menschen in diesem Land, die davon betroffen sind, erwarten von den Parlamentarierinnen und
Parlamentariern, dass sie Entscheidungen treffen. Ich bin
sehr froh darüber, dass wir jetzt auf einem guten Weg
sind, auch wenn es inhaltlich unterschiedliche Positionierungen gibt.
({1})
Wir haben meiner Ansicht nach darüber zu reden,
dass wir - jedenfalls nach dem Entwurf des Kollegen
Stünker, den auch ich vertrete - von zwei unterschiedlichen Lebenssachverhalten ausgehen. Der erste Lebenssachverhalt ist folgender: Ein Mensch, der sich in einer
Situation befindet, in der er entscheidungsfähig ist, erklärt schriftlich, wie er in einer Situation, in der er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr selbst
entscheiden kann, also in bestimmten Krankheitssituationen, behandelt oder eben auch nicht behandelt werden
möchte. Ich glaube, dass es dem Selbstbestimmungsrecht
und damit einer Grundentscheidung unseres Wertesys21496
tems geschuldet ist, diesem Willen eines entscheidungsunfähig gewordenen Menschen Geltung zu verschaffen;
denn dies ist nach meiner Überzeugung Kernbestandteil
unserer Rechtsordnung: Der erkennbare Wille eines erkrankten Menschen am Ende seines Lebens ist nicht weniger wert als der erklärte Wille eines Menschen, der
sich selbst erklären kann.
({2})
Dabei geht es - das halte ich für besonders wichtig und
erwähnenswert - um den Willen des Patienten. Es geht
nicht, wie oft kolportiert wird, um den Willen eines Betreuers, eines Bevollmächtigten oder eines behandelnden
Arztes. Niemand hat nach unserer Überzeugung das
Recht, seinen Willen an die Stelle des Willens eines entscheidungsunfähig gewordenen Patienten zu setzen.
({3})
Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf zur Patientenverfügung regeln. Hierfür gilt es einen Rahmen zu
schaffen.
Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen - vielleicht
sehen viele das ähnlich -: Wir wollen und können keine
konkreten Formulierungen vorgeben, die in den Patientenverfügungen stehen müssen. Wir möchten nur erreichen, dass, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die
den Regeln, die der Gesetzgeber nach dieser sehr intensiven Beratung aufstellt, entspricht, dem Willen, der darin niedergelegt ist, gefolgt wird. Das ist die einzige
Stoßrichtung unserer Arbeit an dieser Stelle.
({4})
Es geht nicht darum - das hat Kollege Kauch, wie ich
finde, völlig zu Recht gesagt -, hier einen Automatismus
in Gang zu setzen. Ich verweise, weil ich diese Diskussion teilweise nicht verstehe, sehr deutlich auf das, was
in unserem Gesetzentwurf in § 1901 b Abs. 1 und
Abs. 2, auf den ich noch zu sprechen komme, steht. Dieser bewirkt genau das Gegenteil von Automatismus.
Dort steht ganz klar, dass in jeder Situation, in der mit einer schriftlichen Patientenverfügung gearbeitet werden
muss, der Betreuer zu entscheiden hat, ob das, was darin
niedergelegt ist, sowohl dem Willen des Patienten als
auch seiner konkreten Lebens- und Behandlungssituation entspricht. Das ist kein Automatismus, sondern eine
Überprüfung des Willens des Patienten. Ich denke, das
ist eine Form des Selbstbestimmungsrechts, die wir zu
akzeptieren haben.
({5})
In § 1901 b Abs. 2 ist der Fall geregelt - ich glaube,
dieser Lebenssachverhalt ist noch wichtiger -, in dem
keine schriftliche Patientenverfügung vorliegt. Auch dafür haben wir klare Regelungen vorgeschlagen, die genau das Gegenteil von Automatismus bewirken. Ich
glaube, das ist die Brücke zu dem Entwurf des Kollegen
Zöller; denn wir wollen das Gespräch des Betreuers, des
Bevollmächtigten mit den Angehörigen, mit all denjenigen, die diesen Menschen sein Leben lang begleitet haben, um festzustellen, ob das, was als mutmaßlicher
Wille des Patienten festgelegt worden ist, tatsächlich seinem Willen entspricht. Ich glaube, für die Menschen, die
diese schwierige Entscheidung zu treffen haben, ist
§ 1901 b Abs. 2 eine Kernbestimmung, die mehr enthält
als das, was in allen mir bekannten Verfügungen bisher
festgelegt worden ist. Das ist das Gegenteil von Automatismus. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir jetzt
Entwürfe haben, die aus meiner Sicht mehrheitsfähig gemacht worden sind.
Ich möchte noch - aus Zeitgründen ganz kurz - auf
den sogenannten Bosbach-Entwurf eingehen. Herr
Kauch, Sie haben gesagt, das sei ein Beschäftigungsprogramm für Vormundschaftsgerichte. Ich persönlich halte
es auch für ein Beschäftigungsprogramm für Notare.
({6})
An der Stelle muss man klar sagen, was man eigentlich
will. Ich werte das aus meiner Sicht so, dass man hier
das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 des Grundgesetzes spaltet: Es gibt Patientenverfügungen erster
Klasse und Patientenverfügungen zweiter Klasse. - Ich
glaube, dass das dem Willen derjenigen, die Patientenverfügungen schreiben, definitiv nicht entspricht.
({7})
Deshalb werbe ich dafür, in den Verhandlungen, die jetzt
anlaufen, eine breite Mehrheit in diesem Parlament herbeizuführen.
Ich möchte zum Schluss das aufgreifen, was die beiden Vorredner schon gesagt haben: Die Patientenverfügung ist ein Bestandteil der Menschenwürde am Ende
des Lebens. Hospizarbeit und Palliativmedizin haben
auch in Deutschland einen neuen Stellenwert gewonnen.
Ich fordere deshalb die gesetzlichen Krankenkassen auf,
endlich die Blockade der Umsetzung der ambulanten
palliativmedizinischen Versorgung aufzugeben
({8})
und es den Ärztinnen und Ärzten, die an dieser Stelle tätig sind, zu ermöglichen, auch materiell dafür zu sorgen,
dass eine menschenwürdige Behandlung im Rahmen der
Palliativmedizin auch in Deutschland möglich wird.
Die Palliativmedizin im Rahmen der seit 2007 bestehenden gesetzlichen Grundlagen zu verbessern und die
Grundlagen für eine vernünftige Patientenverfügung zur
Selbstbestimmung zu schaffen - dies erwarten die Menschen in diesem Land von uns.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche.
Sehr geehrte Präsidentin! Werte Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen! Ein würdiges Leben bis zuletzt leben zu können - diesen Wunsch eines jeden Menschen
abzusichern ist das, was uns hier im Parlament eint. Dieser Wunsch ist für viele Menschen ein Grund, eine Patientenverfügung abzufassen.
Schon durch das Grundgesetz ist es geboten, das
Selbstbestimmungsrecht als Kernbereich der Menschenwürde zu garantieren. Im Zustand der Hilfsbedürftigkeit
und Abhängigkeit am Ende des Lebens muss sich dieses
Menschenrecht bewähren. Doch wir bewegen uns keinesfalls auf patientenrechtlichem Neuland. Es gibt Sterbebegleitrichtlinien der Bundesärztekammer. Darin wird
den Umständen des hoch individuellen Sterbegeschehens Rechnung getragen. Sie beinhalten, dass ein Behandlungsziel geändert werden muss, wenn keine wirklich relevanten Angebote mehr gemacht werden können,
sodass der natürliche Sterbeprozess seinen Lauf nehmen
kann. So haben Menschen bereits heute die Möglichkeit,
lebensverlängernde technische Maßnahmen abzulehnen. Ärzte müssen den erklärten Willen der Patientinnen
und Patienten befolgen.
Es gilt aber auch, denen Sicherheit zu geben, die aufgrund des Krankheitsverlaufes keine autonome Willenserklärung mehr abgeben können. Das wollen wir in unserem Entwurf durch folgende Regelungen sicherstellen:
Erstens. Niemand ist oder wird genötigt, eine Patientenverfügung abzufassen.
Zweitens. Eine Patientenverfügung ist für die Behandelnden verbindlich. Sie unterliegt keiner Reichweitenbegrenzung. Das stellt sie nämlich mit den Menschen
gleich, die willensäußerungsfähig sind. Das heißt, sie ist
unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung gültig
und damit wachen Patienten gleichgestellt.
Drittens. Es gelten klare Regeln zum Vorgehen in einer konflikthaften Situation. Bei Unklarheiten, was zu
tun ist, muss die Patientenverfügung auf den vorliegenden Entscheidungsfall hin bewertet werden. In Situationen, in denen Ärzte gute oder gar heilende Behandlungsangebote machen können, die in der Vorabverfügung
ausgeschlossen wurden, ist der vermeintliche Patientenwille genau zu eruieren. Die konkrete Situation ist also
maßgeblich, damit nicht gegen die Lebensinteressen der
Patienten entschieden wird. Für den ärztlichen Behandlungsauftrag, der hier gilt, ist Wohl und Würde der Patientinnen und Patienten ausschlaggebend.
Viertens. Das Vormundschaftsgericht ist unserer Vorstellung nach dann einzuschalten, wenn keine Einvernehmlichkeit zwischen den behandelnden Ärzten und
den Betreuungspersonen hergestellt werden kann.
({0})
Nur das Patientenwohl und der Wille, nicht aber die
Ängste, Interpretationen und Sorgen der Angehörigen
dürfen ausschlaggebend sein.
Fünftens. Gegen die Gerichtsentscheidung kann ein
Verfahrenspfleger binnen 14 Tagen Einspruch erheben.
Sechstens. Grundsätzlich - so wollen wir es - muss der
antizipierte und geäußerte Wille respektiert werden. Mehr wird nicht geregelt, weil mehr auch nicht erforderlich ist.
Als Initiatorin des Gesetzentwurfes Zöller/Faust/
Däubler-Gmelin möchte ich sagen, dass alle Erleichterungen für den im Sterben liegenden Menschen wie das
Stillen von Hunger und Durst, die Behandlung von
Schmerzen, die Pflege und die Basisversorgung durch
eine Patientenverfügung nicht ausgeschlossen werden
können.
Ich halte fest: Der Stünker-Entwurf ist in seiner vorgelegten Form - nicht in den heute gegebenen Interpretationen - aufgrund von drei entscheidenden Punkten für
uns nicht akzeptabel. Erstens. Er wird dem Kernbestand
individueller Lebensgestaltung insofern nicht gerecht,
als er eben die Befürchtung, dass ein Automatismus eintreten kann, nicht entscheidend entkräften kann.
({1})
Zweitens. Er sichert nicht hinreichend, dass der tatsächliche Wille beachtet wird. Drittens. Ich bin der Meinung,
dass Sie klären müssen, ob Sie den Betreuungspersonen
nicht doch zu weitreichende Entscheidungsbefugnisse
einräumen.
Auch der Bosbach-Entwurf kann wegen seiner Reichweitenbegrenzung nicht überzeugen; denn eine Unterscheidung in der Lebenswertigkeit der individuellen
Sterbeverläufe vorzunehmen und ihnen dann unterschiedlich gültige Verfügungen zuteilen zu wollen, ist
meines Erachtens nicht akzeptabel.
Unser Gesetzentwurf ist ein Kompromissvorschlag.
Er nimmt keine Reichweitenbegrenzung vor und sichert
doch, dass der höchstpersönliche Wille ausschlaggebend
ist. Volle Humanität und Würde bis zum letzten Atemzug - das ist unser Credo.
({2})
Nun hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Dem Gesetzentwurf, für den ich spreche, wird immer wieder vorgeworfen, er reguliere das
Sterben und achte nicht die Selbstbestimmung am Lebensende. Darauf möchte ich gerne eingehen; denn ich
finde, die Frage, was wir unter Selbstbestimmung verstehen, was wir damit in diesem Zusammenhang meinen
und wie wir ihr Geltung verschaffen, ist in der Tat entscheidend.
Es ist eben nicht das Gleiche, ob man eine Entscheidung bei vollem Bewusstsein, im Gespräch mit Verwandten, einer Krankenschwester, einem Pfleger und einer Ärztin bzw. einem Arzt trifft oder ob man eine
Entscheidung getroffen hat, bevor man in eine Situation
kam, in der man sich nicht mehr äußern kann. Die Umstände einer zukünftigen Situation, über die entschieden
werden soll, kann man im Voraus weder erfühlen noch
kennen. Genau darum geht es.
Wir nehmen die Selbstbestimmung ernst, sehr ernst.
Deswegen wollen wir das Recht auf ärztliche Beratung
als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung verankern. Wir wollen vor allem die Möglichkeit der ärztlichen Beratung schaffen; darum geht es uns. Ärztliche
Beratung ist keine Zumutung. In Deutschland existiert
zum Beispiel für bestimmte Medikamente eine Verschreibungspflicht, weil nicht jeder Einzelne weiß, wie
er mit ihnen umzugehen hat, und wir konsultieren, wenn
wir eine schwere Grippe haben, einen Arzt. Was
schreckt uns eigentlich, eine solche Beratung auch dann
in Anspruch zu nehmen, wenn es um eine Entscheidung
über Leben und Tod geht? Die Entscheidung, die letztlich getroffen wird - das gilt auch für die Entscheidung
darüber, was in die Patientenverfügung geschrieben
wird -, liegt beim Einzelnen, und zwar nur bei ihm. Wer
entscheiden will, braucht aber Informationen, muss wissen, wofür oder wogegen er bzw. sie verfügt. Genau
diese Informiertheit ist es, die eine Patientenverfügung
erst lesbar und überhaupt umsetzbar macht. Aus der einfachen Aussage „Ich will nicht an Schläuchen hängen“
kann niemand einen tatsächlichen Willen ableiten, der in
einer konkreten Situation gelten soll.
Ärztliche Beratung ist Angebot und Unterstützung.
Viele, die darüber nachdenken, eine Patientenverfügung
zu verfassen, fragen sich: Wie soll ich das machen? Was
kann am Lebensende passieren? Welche Möglichkeiten
habe ich, welche nicht? - Das, was heute häufig passiert
und was auch in Zukunft der Fall sein wird, wenn der
Gesetzentwurf von Herrn Stünker und anderen beschlossen wird - das ist meine Sorge -, möchten wir vermeiden. Heute ist es so, dass der Notar eine fertige Patientenverfügung für 100 Euro oder mehr ausdruckt und
sagt: Wenn du dir sicher sein willst, musst du das entscheiden. - Genau das möchte ich nicht. Ich möchte,
dass eine ärztliche Beratung stattfindet. Außerdem
möchte ich, dass man nur für einen ganz bestimmten Fall
eine notarielle Beglaubigung braucht, nämlich dann,
wenn jemand verfügen möchte, eine unverrückbare Entscheidung selbst für den Fall zu treffen, dass er schon
kurze Zeit später wieder bei Bewusstsein sein könnte.
Das wird allerdings nur für eine sehr kleine Gruppe von
Menschen gelten.
Ich möchte im Hinblick auf die Selbstbestimmung
noch einen zweiten Punkt ansprechen. Selbstbestimmung am Lebensende gelingt nur in Verbindung mit Fürsorge. Nicht etwas kann jemandem am Lebensende zu
Selbstbestimmung verhelfen, sondern immer nur
jemand. Durch unseren Gesetzentwurf wird die Vertrauensperson gestärkt. Wir sind uns sicher, dass eine Vertrauensperson in einem konkreten Fall am ehesten entscheiden kann, ob zum Beispiel eine Magensonde gelegt
werden sollte oder nicht. Hier darf es keinen Automatismus geben. Ich möchte betonen - darauf hat Frau
Knoche bereits zu Recht hingewiesen -: An dieser Stelle
stimmt das, was Sie, Herr Stünker, gesagt haben, nicht
mit dem überein, was in Ihrem Gesetzentwurf steht.
({0})
Man sollte dem Instrument der Patientenverfügung
auf keinen Fall etwas zuschreiben, was es nicht leisten
kann. Ein Blatt Papier kann nie so viel leisten wie eine
Person. Aus genau diesem Grund wollen wir die Rolle
der Vertrauensperson stärken. Solche Entscheidungen
kann ein Arzt, der einen Patienten vielleicht erst seit sehr
kurzer Zeit kennt, gar nicht treffen.
Einer der Hauptbeweggründe dafür, dass jemand
heutzutage eine Patientenverfügung verfasst, ist, am
Ende nicht unnötig lange leiden zu müssen oder therapiert zu werden, wenn man es nicht mehr will. Man will
in Würde sterben; dem Sterben soll der natürliche Verlauf gelassen werden. Das ist richtig, und genau so soll
es sein. Doch dazu bedarf es weit mehr als einer Patientenverfügung. Dazu braucht es mehr Pflege, dazu
braucht es mehr Möglichkeiten der palliativmedizinischen Versorgung.
Der größte Teil der Patientenverfügungen, die verfasst sind, zielt auf Situationen, in denen eine Krankheit
unheilbar ist und zum Tode führen wird. Die bestehenden Patientenverfügungen behalten nach unserem Gesetzentwurf ihre Gültigkeit. Sie können ohne bürokratischen Aufwand erstellt werden. Eine ärztliche Beratung
ist keine Voraussetzung für die Gültigkeit einer Patientenverfügung, schon gar nicht ein Gang zum Notar. Es
ist absurd, Herr Kauch, von Zwangsbehandlungen zu reden. Damit hat dieser Entwurf nichts zu tun.
({1})
Mit diesem Entwurf wird versucht, Missbrauch am
Lebensende Einhalt zu gebieten, Missbrauch insofern,
als dass jemand, der das Gefühl hat, er könnte seinen
Verwandten oder gar der Gesellschaft zur Last fallen,
sich gedrängt fühlt, eine Patientenverfügung zu schreiben und zu unterzeichnen, die schnell ein Ende setzt, sobald es schwierig wird. Wir brauchen einen Gesetzentwurf, der dann und nur dann, wenn es Zweifel gibt, für
das Leben entscheidet, für ein Leben in Würde auch in
der Sterbephase.
Allen, die sich für ein Leben in Würde auch in der
Sterbephase einsetzen, den in Palliativstationen, in Hospizen, in häuslicher Pflege Tätigen, gebührt Dank und
Anerkennung, wenn wir über ein solches Gesetz diskutieren.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller.
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viele Menschen haben Angst, am Lebensende
durch hochtechnisierte Apparatemedizin gegen ihren
Willen künstlich am Leben erhalten zu werden und nicht
in Würde sterben zu können. Deshalb haben wir einen
Gesetzentwurf zur Klarstellung der Verbindlichkeit von
Patientenverfügungen erarbeitet. Wir sind dabei von folgenden Leitgedanken ausgegangen:
Erstens. Wir wollen die in der Praxis bestehende
Rechtsunsicherheit im Hinblick auf die Verbindlichkeit
der Patientenverfügung beseitigen. Wir wollen dabei nur
das unerlässlich Notwendige regeln, nicht mehr.
Zweitens. Wir wollen, dass der Wille des Patienten respektiert wird. Die Patientenverfügung soll grundsätzlich verbindlich sein. Sowohl der ausdrücklich erklärte
als auch der zu ermittelnde mutmaßliche Wille des Patienten sollen nach Verlust der Einwilligungsfähigkeit
fortwirken.
({0})
Drittens. Die Patientenverfügung soll in der Regel in
Schriftform erfolgen. Weil aber viele Patienten - aus unterschiedlichen Gründen, etwa wegen des plötzlichen
Eintritts einer Krankheit - keine schriftliche Erklärung
abgeben können, soll die Schriftform für die Wirksamkeit einer Patientenverfügung keine zwingende Voraussetzung sein.
({1})
Mündlich geäußerte Erklärungen sollen weiterhin wirksam sein.
({2})
Viertens. Auch bei Vorliegen einer Patientenverfügung muss eine individuelle Ermittlung des Patientenwillens in der aktuellen Situation erfolgen.
({3})
Diese Regelung trägt der Tatsache Rechnung, dass sich
durch den medizinischen Fortschritt neue Behandlungsmöglichkeiten ergeben können, von denen der Patient zu
dem Zeitpunkt, als er seine Patientenverfügung verfasst
hat, noch nichts wissen konnte.
Fünftens. Kein Automatismus, sondern individuelle
Beratung und Betrachtung. Die Vielfalt der denkbaren
Situationen am Lebensende entzieht sich einer pauschalen Betrachtung, und es lässt sich nicht alles bis ins Detail regeln.
({4})
Sterben ist nicht normierbar. Eine gesetzliche Regelung
darf deshalb keinen Automatismus eines buchstabengetreuen Befolgens der Patientenverfügung in Gang setzen. Vielmehr muss Raum für die Beachtung der aktuellen konkreten Situation und die Betrachtung des
Einzelfalls geboten werden.
Sechstens. Dialog der Beteiligten statt Bürokratie.
Die Umsetzung des Patientenwillens in der konkret eingetretenen Behandlungssituation soll daher nach einem
dialogischen Prozess der gegenseitigen Überprüfung und
Bewertung zwischen Arzt und rechtlichem Vertreter erfolgen.
({5})
In diesen dialogischen Prozess können bei Bedarf weitere dem Patienten nahestehende Personen wie zum Beispiel Pflegekräfte und Mitglieder des Behandlungsteams
beratend einbezogen werden.
Siebtens. Wir wollen ein hohes Maß an Patientensicherheit. Durch die drei folgenden Kriterien wird ein
hohes Maß an Sicherheit für den Patienten erreicht: Erstens. Ärzte und rechtliche Vertreter müssen sich mit jeder einzelnen Patientenverfügung intensiv auseinandersetzen. Sie haben die Pflicht, den Patientenwillen bei
einem entscheidungsunfähigen Patienten sorgfältig zu
ermitteln. Zweitens. Der Betreuer ist bei der Ausübung
seiner Tätigkeit stets verpflichtet, sich bei der Erfüllung
seiner Aufgaben am Wohl des Betreuten zu orientierten.
Drittens. Besteht in dieser Frage Uneinigkeit zwischen
dem behandelnden Arzt und dem Betreuer - und nur in
diesem Ausnahmefall, also nicht generell -, soll der
Wille des Patienten durch ein Vormundschaftsgericht ermittelt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch diese
Schutzmechanismen wird einerseits sichergestellt, dass
Patientenverfügungen nicht gleichsam mechanisch nach
deren Wortlaut umgesetzt werden müssen, und andererseits, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Wir sind der Überzeugung, dass Patientensicherheit und Patientenautonomie
in unserem Entwurf gleichermaßen berücksichtigt werden, indem den unterschiedlichsten Situationen am Lebensende ausreichend Raum gewährt wird.
Wir sehen hier einen möglichen Kompromiss zwischen den Positionen, die zurzeit diskutiert werden. Wir
sehen mit diesem Vorschlag auch die Möglichkeit für die
Abgeordneten, die meinen, man bräuchte keine Regelung, dem beizutreten. Mehr Rechtssicherheit ist sehr
notwendig.
Vielen Dank.
({6})
Nun hat der Kollege Otto Fricke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Umgang mit dem Tod ist in unserer Gesellschaft schwierig. Egal wann wir auf dieses Problem treffen, ob beim Testament, bei der Organspende oder bei
der Patientenverfügung: Wir tun uns damit schwer.
Ich will direkt die erste Frage beantworten: Müssen
wir als Gesetzgeber die Patientenverfügung regeln, ja
oder nein? - Ich glaube, wir haben die Verpflichtung,
dies zu regeln. Es gibt dabei nicht die richtige Antwort,
aber wir müssen wenigstens eine richtige Antwort finden. Sonst täten wir das, was wir als Gesetzgeber nicht
tun sollten, nämlich, es innerhalb der Gewaltenteilung
anderen zu überlassen. Das wäre ein Fehler und würde
die Bürger nur noch weiter verunsichern.
({0})
Darüber, welche Antwort wir geben wollen, gehen
unsere Meinungen auseinander. Mir geht es um die Freiheit des Patienten. Mir geht es gemeinsam mit dem Kollegen Bosbach, der Kollegin Göring-Eckardt, dem Kollegen Röspel und anderen um die Selbstbestimmung.
Eine freiheitliche Lösung bedeutet aber nicht, dass möglichst wenige Regeln gesetzt werden und Selbstbestimmung ermöglicht wird, indem einfach alles laufen gelassen wird. Laufen lassen ist keine Selbstbestimmung.
Freiheit bedarf der Aufklärung. Um Freiheit zu erreichen, muss klargemacht werden, was die Grundlage des
Handelns ist. Wer nicht weiß, was er tut, der handelt
letztlich nicht frei, sondern in Dunkelheit. Selbst handeln
ist nur dann selbst bestimmen, wenn man die Grundlagen seiner Entscheidung kennt. Kennt man sie nicht,
dann hat man zwar schön gehandelt, aber man war nicht
wirklich frei.
({1})
Diese Fragen sind niemals wichtiger als dann, wenn es
um Leben und Tod geht.
Freiheit bedarf aber auch der Verantwortung. Wer
Verantwortung übernommen hat - nicht nur für sich
selbst, sondern auch für andere: für Partner, für Kinder,
für seine Familie -, der verwirklicht seine Freiheit, der
prägt sie aber auch. Diese Verantwortung besteht nun
einmal, und diesen Teil der Verantwortung muss man berücksichtigen. Man muss immer sehen, welche Verantwortung man bei aller Freiheit für andere hat und unter
welchen Bedingungen man dennoch das Recht hat, sich
die Freiheit zu nehmen und so und nicht anders zu entscheiden. Hier liegt der Kern des Unterschieds - er liegt
nicht bei den Fällen eines tödlichen Verlaufs -; das will
ich gern zubilligen.
Grundentscheidung aller ethischen Entscheidungen
im Bundestag in den letzten Jahrzehnten war, dass wir in
diesen Fragen dem Einzelnen nie vorschreiben können,
was richtig und falsch, vernünftig und unvernünftig ist.
Im Gegenteil: Wir geben dem Einzelnen sogar das Recht
auf Unvernunft. Aber wenn wir dies tun, dann müssen
wir gleichzeitig von dem Betroffenen erwarten, dass er
im Rahmen seiner Möglichkeiten die Situation reflektiert und sich mit ihr auseinandersetzt. Warum dann der
Notar? Wenn man ein Haus kauft, dann hat der Notar
eine Warnfunktion.
({2})
- Herr Stünker, Sie können das juristisch alles viel besser; das ist schön und gut. Aber es ist eine Warnfunktion,
und deswegen gehen wir zum Notar. Machen Sie es, wie
Sie wollen. - Ähnlich verhält es sich bei elektronisch getätigten Geschäften mit Widerrufsverpflichtung. Wenn
es um Fragen von Leben oder Tod geht, dann kann es
nicht sein, dass wir den Bürger nicht zu einer Reflexion
verpflichten.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ja, Herr Kauch, wir haben jetzt fünf Jahre diskutiert. Im Jahr 2004 hat die Enquete-Kommission „Ethik
und Recht der modernen Medizin“ ihren Bericht vorgelegt und in ihm unter anderem eine Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz zitiert, in der es darum ging,
welche Ängste und Sorgen die Menschen umtreiben,
wenn sie an ihre letzte Stunde denken: Menschen wollen
nicht einsam und alleingelassen sterben, sie wollen keinen schmerzhaften Tod, bis zuletzt an Apparaten hängend. Für die meisten dieser Fälle ist die Patientenverfügung übrigens nicht die passende Antwort.
Wir haben fünf Jahre lang diskutiert. Das war für die
Gesellschaft gut, weil dieses Thema breiter und intensiver erörtert worden ist. Im Bereich der Palliativ- und
Hospizarbeit haben wir schon einiges, wenn auch noch
keinen guten Zustand erreicht. Ich bekenne, dass auch
ich in den letzten fünf Jahren viel dazugelernt und meine
Position mehrfach verändert habe. Bis heute habe ich
eine Reihe von Kompromissen akzeptiert. Ich weiß nun
nicht, ob ich die richtige Lösung vorschlage; aber ich bin
mir sicherer geworden.
Die Zahl der Patientenverfügungen wird zunehmen,
weil die Menschen hoffen, dass sie damit ihre letzte
Stunde besser regeln können. Diese Hoffnungen sollten
wir nicht enttäuschen. Die Menschen haben das Recht,
ihre Entscheidung selbst zu treffen.
({0})
Wir sollten auch dazu beitragen, dass Ärzte und Pflegende mehr Klarheit und Rechtssicherheit in der Frage
bekommen, wie sie mit den Menschen in der letzten
Stunde ihres Lebens umgehen.
Patientenverfügungen sind Vorausverfügungen für
eine Situation, in der man sich noch nicht befindet. Ein
Gesunder oder noch nicht Erkrankter hat darin festgelegt, wie andere ihn behandeln oder was sie unterlassen
sollen, wenn er nicht mehr selbst entscheiden kann. Er
urteilt über eine Situation, in der er sich noch nicht befunden hat, die er noch nicht am eigenen Leibe erfahren,
sondern allenfalls bei Verwandten erlebt oder durchlitten
hat, oder die er vielleicht nur in seiner Phantasie durchgespielt hat. Dass sich die Patientenverfügung auf einen
Vorgang in der Zukunft bezieht, ist ihre große Schwachstelle. Es kann sein, dass der Kranke dann, wenn die Situation eingetroffen sein wird, genauso entscheiden
würde, wie er es als Gesunder aufgeschrieben hat; aber
es kann eben auch sein, dass er sich ganz anders entschiede. Es gehört zur Lebenserfahrung, dass man in Gesprächen oder auch im unmittelbaren Erleben mitbekommt, dass sich Menschen im Verlauf einer Krankheit
verändern, andere Entscheidungen treffen und andere
Gewichtungen vornehmen oder eine andere Lebensperspektive entwickeln.
Meine Zielsetzung ist, mit dem Antrag, den wir heute
einbringen, nach Möglichkeit sicherzustellen, dass der
Patient in der Krankheitssituation so behandelt oder eben
nicht behandelt wird, wie er es selbst entscheiden würde.
Dafür sind aus meiner Sicht zwei Voraussetzungen erforderlich: Erstens muss der Patient mögliche Krankheitsverläufe und ihre Konsequenzen intensiv mit seinem
Arzt diskutieren und sich überlegen, welche Entscheidung er in welchem Fall treffen würde. Die zweite Voraussetzung ist - das ist wichtig für die, die als Dritte
entscheiden müssen -, dass eine lesbare Patientenverfügung bzw. eine klare Handlungsanweisung verfasst werden muss, die später von Dritten verstanden und befolgt
werden kann.
({1})
Nur so kann der Wille wirklich umgesetzt werden.
Jetzt gehe ich einen Beispielfall durch - ich weiß,
dass das zu Widerspruch führen wird -: Jemand schreibt
in seiner Patientenverfügung: „Wenn ich mal dement
bin, möchte ich keine medizinische Behandlung mehr.“
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Patientenverfügung zustande gekommen ist. Die erste ist der Idealfall:
Der Verfasser hat sich - möglicherweise wegen des
Schicksals eines nahen Verwandten - intensiv mit der Situation befasst, sich medizinisch beraten lassen und mit
Demenz auseinandergesetzt und betrachtet das, was er
aufgeschrieben hat, als seine Entscheidung. Er ist fest
entschlossen, dass sie so gelten soll, wie er es aufgeschrieben hat.
Die zweite Möglichkeit ist nicht der Idealfall. Der
Verfasser - man denke an Terry Schiavo - hat aufgrund
einer spontanen Begebenheit - möglicherweise durch
eine Sendung im Fernsehen oder von einem Besuch im
Altenheim beeindruckt - ohne Information die Entscheidung getroffen, dass er so nicht leben möchte, und verfasst eine entsprechende Patientenverfügung.
Wie soll sich ein Arzt oder eine Ärztin verhalten, der
oder die mit dem Patienten in einer Krankheitssituation
konfrontiert wird und diese Patientenverfügung vorfindet, und zwar ohne die Hintergründe ihres Zustandekommens zu kennen, und nicht weiß, welche der Möglichkeiten zutrifft: Ist die Patientenverfügung aufgrund
der notwendigen Informationen zustande gekommen
und entspricht sie wirklich dem, was er als seine feste
Entscheidung aufgeschrieben hat?
Der im letzten Jahr eingebrachte Stünker-Entwurf
wird aus meiner Sicht die Unsicherheit noch vergrößern.
Unserem Entwurf wurde vorgeworfen, dass er ein Beschaffungsprogramm für Vormundschaftsgerichte wäre.
Ich glaube vielmehr, dass der Entwurf von Stünker,
Kauch und Kollegen ein Beschaffungsprogramm für
Vormundschaftsgerichte sein wird, weil der Arzt nämlich nicht die Entscheidung treffen wird, wie eine Patientenverfügung, die nicht hinreichend belegt ist, auszulegen ist. Er wird darauf verweisen, dass das nicht seine
Entscheidung ist, und letztlich werden die Vormundschaftsgerichte darüber entscheiden müssen.
Wenn die Patientenverfügung nach dem Stünker-Entwurf umgesetzt werden muss, wie ich es vorhin beschrieben habe, dann wird wie im zweiten Fall die Möglichkeit des Irrtums und der Leichtfertigkeit in Kauf
genommen. Muss sie nicht umgesetzt werden - ich bin
gespannt, wie diese Frage in der Anhörung und durch
die möglicherweise noch folgenden Redner beantwortet
wird -
Herr Kollege, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauch?
Ja, gerne.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir genau diesen Problemfall noch über die
von Ihnen beschriebene Problematik hinaus aufgegriffen
haben, indem wir im Gesetzentwurf des Abgeordneten
Stünker und anderer vorgesehen haben, dass stets der aktuelle Wille Berücksichtigung finden muss, und dass in
der Begründung zu diesem Gesetzentwurf der aktuelle
Wille in Verbindung mit dem Demenzfall ausdrücklich
näher beschrieben worden ist?
({0})
Darin steht nämlich, dass wir an dieser Stelle - es geht
um die Auslegung, Herr Weiß; Sie wissen selbst, dass
die Begründung dabei eine Rolle spielt - im Demenzfall
die aktuellen, auch nonverbalen Äußerungen des Patienten beachten müssen. Der Demenzfall ist der schwierigste Fall, vor dem wir stehen, weil es dabei zu Persönlichkeitsveränderungen kommt. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass genau dieser Fall in unserem
Gesetzentwurf sehr ausführlich - möglicherweise ausführlicher als in Ihrem Entwurf - behandelt worden ist?
Er ist nicht ausführlicher als in unserem Gesetzentwurf behandelt worden, jedenfalls was die Konsequenzen anbelangt. Ich habe das sehr wohl interessiert und
nachdenklich gelesen. Aber im Prinzip ist genau dieser
Punkt bei Ihrer Auslegung das Problem. Wie kann der
Patient, der sich sehr wohl entschieden hat - das ist der
Idealfall, den ich zuerst beschrieben habe -, dass er im
Demenzfall auf keinen Fall behandelt werden will,
({0})
sein Selbstbestimmungsrecht durchgesetzt bekommen,
wenn Sie - wie jetzt und wie es in den Diskussionen
häufiger zu hören ist - anfangen, es zu relativieren? Sie
sagen nämlich, der aktuelle Behandlungswille solle sehr
wohl eine Rolle spielen. Wie soll aber der Arzt, der den
Patienten vorher nicht gesehen hat und auch nicht die
Hintergründe kennt, die zu dessen Entscheidung geführt
haben, zwischen dem aktuellen Willen und der selbstbestimmten Entscheidung abwägen, die der Patient einmal
getroffen hat und zu der er fest entschlossen ist?
({1})
Wenn Sie so argumentieren, passt das Etikett Selbstbestimmungsrecht und Kenntnisnahme nicht auf den Gesetzentwurf; denn die Erfahrung ist, dass die Menschen
sagen: Der Stünker/Kauch-Gesetzentwurf bietet uns die
Sicherheit, dass das, was ich aufgeschrieben habe, umgesetzt wird. - Gerade haben Sie genau das relativiert.
Deswegen ist der Gesetzentwurf, den Sie unterstützen,
nicht geeignet, das Selbstbestimmungsrecht und dessen
Umsetzung zu gewährleisten.
({2})
Wir werden in der Anhörung noch darüber diskutieren.
Aber ich bin froh über Ihre Zwischenfrage, weil sie deutlich macht, dass man sich Ihren Gesetzentwurf genauer
anschauen muss.
Eine bessere Lösung - auch im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes - bietet aus meiner Sicht der von den
Kollegen Bosbach, Göring-Eckardt, Fricke und mir erarbeitete Gesetzentwurf. Wer fest entschlossen ist, unabhängig von Art und Stadium der Krankheit und hoffentlich nicht gegen alle Vernunft
({3})
- das kann ich nicht beurteilen; gegen meine Vernunft jedenfalls -, bestimmte Handlungsanweisungen zu verfügen, sich ärztlich beraten und seinen Beschluss notariell
beurkunden lässt, der bekommt eine deutlich höhere Sicherheit, dass seine Patientenverfügung auch umgesetzt
wird; denn der Arzt bekommt deutlich mehr Hinweise
auf die Genese der Patientenverfügung.
Gleichzeitig bietet unser Gesetzentwurf - das ist mir
mindestens genauso wichtig - einen besseren Schutz vor
Fehlinterpretation. Die meisten Patientenverfügungen
beziehen sich auf tödliche Erkrankungen oder auf dauerhaften Bewusstseinsverlust. Diese Formulierung lässt
sich auch im Entwurf bzw. in der Broschüre des BMJ
finden. Die meisten Patientenverfügungen bleiben nach
unserem Gesetzentwurf - entgegen allen Behauptungen verbindlich. Wer das Selbstbestimmungsrecht klarer umgesetzt wissen sowie Fehlinterpretationen und Irrtümer,
die Konsequenzen für das Leben haben, verhindern will,
muss den Gesetzentwurf von Herrn Bosbach und Kollegen unterstützen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
weder katholisch noch eine Frau. Aber eine der vielen
Zuschriften, die wir zum Beispiel von einer katholischen
Frauenorganisation bekommen haben, enthält den bemerkenswerten Satz, dass es den Damen lieber sei, wir
fällten keine Entscheidung als eine, die noch mehr verwirrte. Ich spreche hier als jemand, der keinen der vorliegenden Gesetzentwürfe unterstützt; denn ich kenne
viele Menschen, die keine Patientenverfügung verfassen
wollen.
({0})
Es wurde bereits mehrfach gesagt, dass dieses Recht
selbstverständlich weiterexistiert. Ich möchte in dieser
Debatte extra dafür sprechen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jede Patientenverfügung,
wie auch immer sie verfasst sein mag, eher zur Verwirrung beiträgt, weil sie den Glauben vermittelt, man hätte
Sicherheit - von fast allen Seiten wurde bereits gesagt,
dass der Wille anderer in der Regel mehr Verwirrung
stiftet als der eigene - und wäre in einer rechtlich klaren
Situation. Das stimmt aber in Wirklichkeit nicht.
Was brauchen wir denn wirklich, wenn wir nicht
mehr fähig sind, unseren Willen zu bekunden, wenn es
an das Sterben geht? Ich denke, das Wichtigste ist das
Vertrauen zu den Personen, die um uns herum sind. Deshalb plädiere ich sehr dafür, zum Beispiel eine Vorsorgevollmacht auszustellen, also zu sagen, welche Person
meines Vertrauens dann, wenn ich selber nicht mehr reden, mich nicht mehr äußern kann, in der Lage ist, für
mich zu sprechen. Mit dieser Person muss ich natürlich
vorher geredet haben; das ist doch klar. Das sind in der
Regel sehr nahe Angehörige. Das muss aber nicht sein.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns
deshalb nicht den Eindruck vermitteln, dass wir mit einer notariell beglaubigten Patientenverfügung wirklich
Sicherheit haben, dass am Ende des Lebens unser SelbstDr. Ilja Seifert
bestimmungsrecht und unsere Würde so gewahrt bleiben, wie wir es uns wünschen und erwarten dürfen.
Wir müssen in unserem ganzen Leben immer auf bestimmte Menschen vertrauen, gerade in der Situation der
Krankheit. Ich muss darauf vertrauen, dass die Ärzte ihr
Handwerk verstehen und mich richtig beraten, dass sie
mich nicht so beraten, dass sie möglichst viel verdienen,
sondern so, dass es mir möglichst gut geht. Das hat etwas mit dem Vertrauen zu tun, das ich zu meinem Hausarzt oder zu wem auch immer habe. Das Gleiche trifft in
jeder anderen Situation zu, erst recht in der Situation des
Sterbens. Deshalb: Lassen Sie uns die Palliativmedizin
ausbauen, lassen Sie uns die ambulanten und stationären
Hospize stärken, lassen Sie uns die Pflege verbessern
usw. Damit helfen wir den Menschen wirklich. Und:
Lassen Sie uns das altbewährte Prinzip des Vertrauens
von Menschen, die sich lieben - vielleicht darf man so
etwas in diesem Zusammenhang einmal sagen -, stärken. Wir sollten nicht so tun, als ob wir mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juristen aller Art wirklich etwas in der Situation, über die wir hier gerade
reden, erreichen würden.
Noch einmal: Man muss weder katholisch noch eine
Frau sein, um diesem Satz zuzustimmen. Bevor wir dadurch mehr Verwirrung schaffen, dass wir so tun, als ob
wir etwas getan hätten, lassen Sie uns lieber bewusst die
Entscheidung fällen, keine Patientenverfügung vorzuschreiben.
({1})
Das wäre eine bewusste Entscheidung zur Stärkung des
Vertrauens untereinander. Betonen Sie bitte überall,
wenn Sie draußen mit den Leuten reden, dass es keine
Pflicht zum Verfassen von Patientenverfügungen gibt.
Wer es doch tut, nimmt sein gutes Recht wahr, aber man
sollte nicht denken, es ginge nicht ohne.
Herzlichen Dank.
({2})
Nun hat der Kollege Jerzy Montag das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Katrin, ich habe an dem Gesetzentwurf von Herrn
Stünker und Kollegen über viele Monate sehr intensiv
mitgearbeitet. Deswegen kann ich - damit will ich anfangen - es nicht stehenlassen, wenn du in der Debatte
sagst, bezüglich des Problems des angeblichen Automatismus würden wir in unseren Texten etwas anderes
schreiben, als wir erzählen würden.
({0})
Ich will, um den Irrtum auch von dieser Stelle aus in aller Klarheit und Ruhe auszuräumen, sagen: In unserem
Gesetzentwurf steht, dass dann - ich kürze ab -, wenn
eine Patientenverfügung vorliegt, der Betreuer prüft, ob
die Festlegungen der Patientenverfügung auf die aktuelle
Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Diese Prüfung beinhaltet eine Einzelfallprüfung mit all den Elementen, die der Kollege Zöller ausführlich aufgeführt
hat. Erst wenn diese Prüfung beendet ist und der Betreuer die Entscheidung getroffen hat, dass zwischen
dem Text der Patientenverfügung und der konkreten Lebenssituation eine Einheit besteht, dann hat der Betreuer
der Patientenverfügung Geltung zu verschaffen. Das ist
das Gegenteil von einem Automatismus, und so steht es
in unserem Gesetzentwurf.
({1})
Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wodarg?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie haben eben ganz deutlich ausgesprochen, dass hier nur der Betreuer prüft.
({0})
So jedenfalls steht es in Ihrem Text. Dadurch unterscheiden Sie sich von dem Entwurf, den Herr Zöller vorgestellt hat, weil hier von Anfang an ein dialogischer Prozess gefordert wird. Ich halte es für wichtig, wenn wir
ins Gespräch kommen wollen, dass das als Basis anerkannt wird und dass wir dann weiter diskutieren. Wenn
es hier allerdings nur der Betreuer ist, dann gibt es dort
einen Dissens.
({1})
Lieber Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass
Sie diesen Punkt aufgreifen, weil er mir Gelegenheit
gibt, das aufzuklären.
Der Gesetzentwurf, den wir vorlegen, aber auch die
anderen Gesetzentwürfe behandeln das Betreuungsrecht
und die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts. Sie
sagen weder negativ noch positiv ausdrücklich etwas
über die Rechte und Pflichten des behandelnden Arztes.
Aber es ist selbstverständlich, dass der Arzt zuallererst
eine Diagnose zu stellen und einen Behandlungsvorschlag zu machen hat; denn nur dann kann der Betreuer
überhaupt mit seiner Prüfung beginnen.
({0})
Außerdem steht in unserem Gesetzentwurf ausdrücklich, dass eine Einigung zwischen Betreuer und Arzt
({1})
über die Auslegung zustande kommen muss. Nur dann,
wenn eine solche Einigung zustande kommt, bedarf es
keiner vormundschaftlichen Entscheidung.
({2})
- Tut mir leid, das kann ich jetzt nicht mehr machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Patientenverfügungen - das ist vielleicht auch die Antwort auf Ihre Bemerkungen, Herr Kollege Seifert - sind nach dem geltenden
deutschen Recht nicht verboten, ganz im Gegenteil. Es
gibt viele Patientenverfügungen. Die Entwicklung der
Bevölkerung und der medizinischen Möglichkeiten wird
dazu führen, dass es in Zukunft noch mehr geben wird.
Die Frage, die wir beantworten müssen, ist, ob die gesetzlichen Regelungen dieses Problem umfassend erkennen und behandeln. Das tun sie nicht.
Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung
vom 17. März 2003 gesagt: Einen Teil der Lücken im
Vormundschaftsrecht und im Betreuungsrecht kann man
mit Rechtsfortbildung klären. Aber er hat schon im
Jahre 2003 dem Parlament zugerufen: Mit dieser Lückenfüllung kann es nicht so weitergehen. Der Gesetzgeber ist aufgefordert zu entscheiden.
({3})
Deswegen ist es einfach notwendig, dass wir uns endlich auf eine Regelung dieses Komplexes einigen. So
wie ich es sehe, ist eine der entscheidenden Fragen, ob
wir - in welcher Form auch immer - eine Begrenzung
der Geltung, also eine Reichweitenbegrenzung, einführen sollten oder nicht.
({4})
Das geltende Recht sieht eine solche Begrenzung nicht
vor.
Ich bin dem Kollegen Bosbach dankbar dafür, dass er
aus einem bayerischen Dokument zitiert hat. Ich will
mich dem gleich anschließen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz - es handelt sich wahrscheinlich um
die gleiche Broschüre - hat zu der Frage der Patientenverfügung einen Text veröffentlicht - diese Passagen sind
mit denen des Bundesjustizministeriums textgleich -, in
dem über die Patientenverfügung und ihre Geltung nach
geltendem Recht steht: Es gibt keine Reichweitenbegrenzung.
Deswegen stelle ich fest: Derjenige, der jetzt eine
neue gesetzliche Regelung vorschlägt, in der eine solche
Begrenzung vorgesehen ist, geht hinter das geltende
Recht zurück und verschlechtert die Situation für die Patienten, für die Betreuten.
({5})
Deswegen muss ich, wenn wir uns intensiv mit den
Entwürfen auseinandersetzen, aus meiner Sicht sagen:
Der Entwurf Bosbach jedenfalls führte zu einer Verschlechterung der jetzigen Lage. Da wäre es besser, er
käme nicht.
({6})
Wir werden über die weiteren Einzelheiten in den Beratungen sprechen. Ich kann wegen der begrenzten Redezeit darauf nicht mehr eingehen.
Ich will nur noch zu einem Punkt etwas sagen. Wer
sagt - das klang auch an -, nur eine informierte Entscheidung sei eine selbstbestimmte, der begeht aus meiner Sicht einen Fehler. Eine informierte Entscheidung ist
eine bessere. Eine informierte Entscheidung ist eine, die
eher befolgt werden kann. Eine informierte Entscheidung ist eine, die denjenigen, die dann zu entscheiden
haben, die Aufgabe erleichtert und vielleicht auch eher
zu einem Ergebnis führt. Aber sie ist keine Voraussetzung für die Selbstbestimmung.
Letztendlich: Lebensschutz, so heißt es, stünde gegen
die Selbstbestimmung. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Lebensschutz gibt es nur innerhalb der Selbstbestimmung und nicht gegen die Selbstbestimmung.
Danke schön.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viele Menschen, die uns bei dieser Debatte
zuhören, die die vorausgegangenen Debatten verfolgt
oder sich mit Materialien und Kommentaren beschäftigt
haben, werden jetzt sicherlich nicht einfacher entscheiden können. Es wird vieles nicht klarer, sondern immer
komplexer, und es geht durcheinander. Diese Rückmeldung bekomme zumindest ich von vielen Bürgerinnen
und Bürgern, die sich mit dieser Thematik ernsthaft beschäftigen. Das hat wenig damit zu tun, dass es an Intelligenz mangelt; Grund ist die Komplexität, aber auch die
Ernsthaftigkeit des Themas.
Wer sich mit Patientenverfügungen befasst, der beschäftigt sich mit dem Tod. Natürlich kann man in einer
Patientenverfügung auch festhalten, dass alles Mögliche
getan werden soll, wenn man nicht mehr ansprechbar ist;
aber wir konzentrieren uns auf die Fälle, in denen es zum
Beispiel darum geht, frühzeitig oder früher, als es im
sonstigen Verlauf geschähe, Leben zu beenden bzw. das,
was an Medikamenten oder an medizinischer Versorgung zur Verfügung steht, nicht mehr in Anspruch zu
nehmen.
Wir müssen viele Menschen enttäuschen, indem wir
sagen: Es wird kein einfaches Formular mit drei Punkten
geben, das man unterschreiben kann. Es wird genauso
wenig Einheitsformulare geben, wie es Einheitsgrößen
oder Einheitsautos gibt. Deshalb können wir die Menschen nicht daraus entlassen, sich selbst damit zu beschäftigen. Wir als Politiker können die Rahmenbedingungen setzen; aber wenn es darum geht, darüber
nachzudenken, was einem das Leben in welchen Situationen wert ist und welche Sichtweisen man hat, ist weiterhin jeder selbst gefordert.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir ein sorgfältiges Vorgehen brauchen. Diese Debatte, wie wir sie auch
schon in den vergangenen Jahren geführt haben, ist ein
sehr gutes Beispiel dafür. Sehr verehrter Herr Kollege
Kauch, ich teile nicht Ihre Art der Argumentation, nämlich zu sagen: Wir haben genug diskutiert, so viele Jahre
schon. Die Menschen warten bereits so lange. Wir müssen jetzt endlich ein Gesetz machen. - Wir beide saßen
in der vergangenen Legislaturperiode zusammen in der
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“. Sie wissen, wie wir gerungen haben, wie viele
verschiedene Sichtweisen es gab, auch unter den Menschen außerhalb des Parlaments. Nun stellen wir fest,
dass just diejenigen, die uns immer aufgefordert haben,
endlich ein Gesetz zu machen, jetzt zu denen gehören,
die uns sagen: Eigentlich brauchen wir kein Gesetz. Auch beim Gegenüber, bei denjenigen, für die wir die
Gesetze machen, bemerkt man also einen Wandel. Hier
geht es nicht um 10 Euro Praxisgebühr, die man irgendwann wieder revidieren könnte, wenn man eine Fehlentscheidung getroffen hat; hier geht es um Leben und Tod,
um eine Thematik von einer Tiefe und Ernsthaftigkeit,
wo Sorgfalt absolut vor Schnelligkeit geht.
Das zeigt sich auch bei der Debatte über das Thema
Selbstbestimmung. Alle setzen auf Selbstbestimmung.
Wir alle nutzen in dieser Debatte das Wort „Selbstbestimmung“; ich auch. Ich bin für Selbstbestimmung.
Jetzt ist natürlich die Frage: Was verstehen wir unter
„Selbstbestimmung“? Selbstbestimmt ist meiner Meinung nach nur derjenige, der nicht von Angst bestimmt
ist, der nicht von Unkenntnis bestimmt ist,
({0})
sondern selbstbestimmt ist derjenige, der aufgeklärt ist,
der informiert ist, der um die Konsequenzen seiner Entscheidung weiß. Deshalb sichert man nur dann die
Selbstbestimmung von Menschen, wenn man ernsthaft,
verbindlich über das aufklärt, was jemand selbst bestimmt und von dem er dann zu Recht verlangt, dass es
Geltung hat.
Ein Beispiel, auch wenn es banal ist: Wenn jemand
sagt: „Ich möchte nie an Schläuchen oder an einer Gerätschaft liegen“, weil er zum Beispiel gesehen hat, wie die
eigene Großmutter über Jahre dahinvegetiert ist, oder
wenn jemand sagt: „Ich möchte niemals eine PEGSonde gelegt bekommen“, weil er weiß, dass man damit
über Jahre am Leben erhalten werden kann, dann kann
ich verstehen, was er im Sinn hat. Es gibt aber auch den
Fall, dass jemand nicht weiß oder nicht vor Augen hat,
dass man auch bei einer Blinddarmoperation an Schläuchen liegt oder dass man eine PEG-Sonde vorübergehend nutzt, weil man so Medikamente besser abgeben
kann. Das kann hier fatale Folgen haben, wenn die Verfügung eins zu eins Geltung haben müsste.
Deshalb unterstütze ich aus voller Überzeugung den
Entwurf von Herrn Bosbach und anderen Kollegen. Dieser Entwurf wird genau dieser Konstellation im Leben
gerecht. Es geht auch darum, lebenserhaltende Behandlung bei nicht tödlichem Verlauf der Krankheit verbindlich zu untersagen, aber nur dann, wenn rechtlich und
ärztlich aufgeklärt wurde. Das gilt für wenige Konstellationen.
Ich finde, die Beurkundung einer Verfügung für den
Fall, dass lebensrettende Maßnahmen nicht vorgenommen werden sollen, ist nicht zu viel verlangt, gerade mit
Blick darauf, dass man für jeden einzelnen Quadratmeter
eines Kartoffelackers, den man verkaufen will, zum Notar gehen muss. Darüber hinaus sollte man bedenken,
dass es sogar Widerrufsfristen für Verbraucher gibt,
({1})
weil sie sich zum Beispiel beim Kauf einer Kaffeemaschine geirrt haben könnten, und man sie innerhalb dieser Fristen zurückgeben kann. Aber das Leben kann man
sich nicht zurückholen.
({2})
- Ich höre jetzt: „Doch, das kann man tun!“. Das kann
man eben nicht tun, wenn man nicht mehr ansprechbar
ist. Das gilt doch alles für den Fall, dass man nicht mehr
ansprechbar ist. In einer Situation, in der Sie ansprechbar
sind, brauchen Sie ja gar keine Patientenverfügung.
Bei der Debatte, wie wir für mehr Verbraucherschutz
sorgen können, sind wir zum Beispiel bei Geldanlagen
an dem Punkt, dass wir von beiden Seiten unterschriebene Beratungsprotokolle ausfertigen lassen wollen, damit Fehlberatungen und Fehlentscheidungen vorgebeugt
wird. Wenn es um das Sterben geht, liebe Kolleginnen
und Kollegen, sollten wir genauso viel Sorgfalt an den
Tag legen.
Ich danke wirklich allen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber Menschen begleiten und vielleicht in
der eigenen Familie selbst schwere Schicksale zu tragen
haben. Ihr Dienst leistet wie der Hospizdienst und der
Dienst beider Kirchen in diesem Bereich sehr viel für ein
humanes Antlitz unserer Gesellschaft. Ich finde, dass wir
mit Leid so umgehen sollten, wie es die Menschen verlangen, nämlich mit Linderung und nicht mit kompletter
Ausschaltung und Ignorierung.
({3})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier, wie ich finde, über einen sehr traurigen Anlass.
Wir sprechen darüber, dass die Menschen Angst vor der
modernen Medizin haben. Wir sind verantwortlich für
die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung. Was
haben wir falsch gemacht? Weshalb haben die Menschen
Angst vor der modernen Medizin? Was läuft da?
Ich war sehr beeindruckt von dem, was Herr Seifert
gesagt hat. Er hat ja hervorgehoben, dass es nur dann etwas bringt, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen,
wenn man Vertrauen hat. Die FDP fordert genau aus
dem Grunde die freie Arztwahl. Man soll sich jemanden
aussuchen können, bei dem man sich gut aufgehoben
fühlt, bei dem man keine Angst haben muss, dass er behandelt, um Geld zu verdienen, sondern bei dem man sicher sein kann, dass er alles tut, um zu helfen, um das zu
erreichen, was man selber möchte, nämlich Gesundheit.
Das scheinen wir nicht ganz hinzubekommen. Deshalb
gibt es Konflikte, und Juristen treten auf den Plan und
wollen helfen.
Ich kann hierzu eine Geschichte erzählen: Professor
Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, hat im
vorigen Jahr auf einem Seminar zum Thema Patientenverfügung, das er für Journalisten durchgeführt hat, voller Entrüstung ein Beispiel vorgetragen. Er war wegen
einer Grundstücksangelegenheit bei einem Notar. Als
diese geregelt war, sagte der Notar: Wollen Sie, wo Sie
schon hier sind, nicht gleich auch eine Patientenverfügung bei mir ausfertigen?
({0})
Das wurde ihm angeboten. Als er es mir erzählte, erwiderte ich ihm: Herr Professor Hoppe, Ihnen müsste das
eigentlich überhaupt nicht komisch vorkommen. Wenn
Kassenpatienten zum Arzt gehen und sich untersuchen
lassen, dann fragt der Arzt hinterher oft: Wollen wir
nicht noch eine Ultraschalluntersuchung als IGeL-Leistung machen? Das zahlt zwar die Kasse nicht, aber ich
würde es Ihnen doch empfehlen. - Genau das Gleiche
passiert hier auch. In beiden Fällen soll etwas verkauft
werden. In beiden Fällen geht es nicht um das Wohl des
Patienten.
({1})
Das sind Dinge, die die Menschen misstrauisch machen.
Was wollen wir erreichen? Auf Basis der Gesetzentwürfe, die vorliegen, werden wir in den Anhörungen und
weiteren Verhandlungen in diesem Hause zu etwas kommen, was wir den Menschen auch wirklich anbieten können. Ich bin da sehr zuversichtlich und habe überhaupt
keine Angst, dass es sich nicht gelohnt hätte, darüber
fünf Jahre - vielleicht war es sogar noch etwas länger zu diskutieren. Uns sind die Probleme klarer geworden.
Das Bewusstsein dafür, was wirklich nötig ist, ist geschärft worden. Aber da fehlt auch noch einiges. Ich
habe zu Beginn etwas von dem anzusprechen versucht,
was wir uns vor Augen zu halten haben. Nach meiner
Einschätzung besteht aber überall im Hause Klarheit
über unser Ziel, dass der Wille des Patienten respektiert
wird und nichts gegen den Willen von Patienten geschieht. Das heißt nicht, dass der Patient sich alles wünschen darf und die Ärzte alles machen müssen. So geht
es auch wieder nicht. Die Einhaltung des Nihil nocere
- des Verbots, zu schaden - muss aber bis zum Schluss
gewährleistet sein.
Die Möglichkeit, zu prüfen, welche medizinischen
Möglichkeiten es gibt, und die Lage erneut zu diskutieren, können Patienten in den Fällen, über die wir reden,
nicht mehr selbst wahrnehmen. Dies muss aber geschehen. Der mutmaßliche oder irgendwann einmal festgelegte Wille muss dem gegenübergestellt werden, was andere empfinden, die Verantwortung für den Patienten
tragen und die sich fragen: Wie konnte der so etwas
schreiben? Wenn er das schon gewusst hätte, hätte er etwas ganz anderes festlegen können.
Dieser Abwägungsprozess wird umso besser gelingen, je mehr Menschen in Verantwortung und im Wissen
um den Willen des Patienten sowie über das, was medizinisch möglich ist, beteiligt werden.
Deshalb ist es gut, entsprechend dem Antrag, den
Herr Zöller ausführlich vorgestellt hat - dafür danke
ich -, auch ins Gesetz zu schreiben, dass dieser Dialog
stattzufinden hat, dass der Betreuer sich daran zu beteiligen hat und dass andere ebenfalls zu beteiligen sind.
Dies halte ich für den richtigen Weg.
Mit Herrn Seifert bin ich aber auch der Meinung, dass
es nicht reicht, irgendein Formular vorzulegen. Wir sind
nicht sicher, wenn wir die Patientenverfügung ausgefüllt
haben. Es ist viel sicherer, wenn wir mit möglichst vielen Menschen darüber gesprochen haben, was wir empfinden, wie wir leben und wie wir sterben wollen. Dann
können andere auch für uns handeln, wenn wir es selbst
nicht mehr können.
Deshalb ist die Vorsorgevollmacht ein wichtiges Instrument, für das ich hier noch einmal werben möchte
und das ich auch all denen empfehle, die mich fragen:
Was soll ich machen, damit mit mir nichts passiert, was
ich nicht will?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg
Faust.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt und
Intensivmediziner musste ich lernen, dass der Wille des
Patienten das höchste Gebot ist. Was für den wachen Patienten gilt, muss auch für den hier und jetzt kommunikations- und entscheidungsunfähigen Patienten, den dementen oder bewusstlosen Patienten gelten.
Wir ringen in diesem Gesetzgebungsverfahren also
um die Antwort auf die Frage: Welche Voraussetzungen
und welche Abläufe fordert der Gesetzgeber, damit der
Wille einer entscheidungsunfähigen Person über das
weitere medizinische Vorgehen, manchmal über Leben
und Tod, entscheidet? Es kann also nicht die Patientenverfügung allein entscheidend sein. Vielmehr muss sie in
ein prozesshaftes Geschehen eingebettet sein.
Eigentlich ist das alles nichts Neues. Der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten war
auch schon bisher grundsätzlich verbindlich. Ärzte dürfen sich nicht über die Willensäußerungen hinwegsetzen.
Dass das in der Vergangenheit trotzdem geschah und
dass dies vielleicht auch der Anlass für die Diskussion in
der Öffentlichkeit ist, zeigt, wie wichtig es ist, nochmals
die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen klarzustellen und eine breite Diskussion darüber sowohl in
Patienten- als auch - das sage ich sehr bewusst - in Ärztekreisen zu führen.
Es geht also weniger um die Einführung einer Vielzahl neuer Paragrafen, sondern um eine Veränderung in
den Köpfen, ({0})
auch in den Köpfen von Ärzten, die in einer falsch verstandenen paternalistischen Haltung Therapien dort fortführen, wo der kranke Mensch es nicht mehr will.
Zwei der drei vorliegenden Gesetzentwürfe sind von
einem gewissen Misstrauen gegenüber Ärzten geprägt.
In einem der Entwürfe wird der Patient sogar vor sich
selber geschützt. Seine Entscheidung soll nur in gewissen Fällen gelten; für die Bescheinigung, ob dieser Fall
eingetreten ist, ist dann doch wiederum der Arzt zuständig.
Meine Damen und Herren, die Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens ist ein Prozess - kein Suchen
in verschiedenen Schubladen eines Gesetzesschrankes,
in die man die Patientenverfügungen je nach Form, Ausgestaltung oder Krankheit gelegt hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Ja, gern.
Bitte sehr.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank, und vielen Dank,
Herr Kollege, dass Sie diese Frage zulassen. - Herr Kollege, Sie haben zuletzt in Ihren letzten Ausführungen gesagt, dass in zweien der drei Gesetzentwürfe ein gewisses Misstrauen gegenüber Ärzten dokumentiert sei. Ein
Entwurf davon müsste dann derjenige sein, an dem ich
mitgearbeitet habe. Aber ich persönlich habe kein generelles Misstrauen gegenüber Ärzten. Im Gegenteil: Ich
habe ein generelles Vertrauen den Ärzten gegenüber. Ich
möchte Sie gerne konkret fragen: An welcher Stelle erkennen Sie in dem Gesetzentwurf von Stünker und anderen eine Misstrauensäußerung gegenüber Ärzten?
Herr Kollege Montag, wir werden noch Gelegenheit
haben, die einzelnen Verfahrensschritte in den verschiedenen Gesetzentwürfen, was den Willensermittlungsprozess auf Grundlage des Dialogs mit den einzelnen Patienten betrifft, zu beleuchten. Ich sehe in Ihrem Entwurf
aber die Tendenz, bei der Willensermittlung den Betreuer in der federführenden Rolle zu sehen und den Arzt
mehr in der Rolle des Ausführenden, der sich den getroffenen Festlegungen beugen muss. Wegen der Nuancierung werden wir sicherlich im Gespräch bleiben. Ich
glaube, das ist der Ernsthaftigkeit des Themas angemessen.
({0})
Es ist also Aufgabe der den Kranken begleitenden
Personen, der Angehörigen, des Betreuers, des Arztes
und in Konfliktfällen auch des Vormundschaftsgerichts,
die Patientenverfügung entsprechend ihrer Ausgestaltung als Grundlage zu nehmen und mit allen sonst zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten den Patientenwillen
sorgfältig zu ermitteln und danach zu handeln. Je genauer die Patientenverfügung die Situation beschreibt,
für die sie gelten soll, je aktueller sie ist, je detaillierter
sie ist - womöglich ist es sehr wichtig, dass der Betreffende ein Beratungsgespräch geführt hat und beim Notar
war; das konkretisiert die Patientenverfügung weiter, das
ist gar keine Frage -, je mehr sie im Gleichklang mit
weiteren Erkenntnissen aus der Welt dieses bestimmten
Patienten ist, desto mehr verdichtet sich in diesem Prozess die Gewissheit, was zu tun ist.
Wie ich schon sagte: Dies ist eigentlich nichts Neues.
Das haben wir in den Krankenhäusern schon immer gemacht. Mit unserem Gesetzentwurf zeichnen wir - das
ist ein Signal an diejenigen, die sagen, dass es vielleicht
besser wäre, gar nichts zu tun - bestehende Abläufe
nach. Allerdings betonen wir die Konturen und stellen in
einzelnen Bereichen, wie beispielsweise bei der Frage
nach der Rolle des Vormundschaftsgerichts, Dinge klar,
die bisher an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließen.
Klopft der Tod als später Gast an die Tür des Kranken, dann ist es seine Entscheidung, ob er ihn einlassen
will oder nicht. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, per
Gesetz einen Riegel vorzuschieben. Entsprechend dem
Willen des Patienten aber müssen wir ihm zur Seite stehen. Das ist keine Aufgabe für den Gesetzgeber, sondern
eine Aufgabe für Verwandte, Betreuer, Bevollmächtigte
und auch für Ärzte.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Stöckel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Ich möchte zunächst meiner Freude
Ausdruck verleihen, dass wir in der ersten Sitzungswoche des Jahres die drei vorliegenden Gesetzentwürfe
in erster Lesung beraten. Meine Hoffnung wächst, dass
wir in dieser Wahlperiode - also noch vor der Sommerpause oder sogar vor der Osterpause - zu einem Beschluss kommen können. Es ist deutlich geworden, dass
diese öffentliche Debatte - ich erwähne in diesem Zusammenhang auch die Beratungen der Ethikkommission
und die Stellungnahmen von Fachleuten - aufgrund von
Gerichtsentscheidungen und von medizinischen Entwicklungen, aber auch aufgrund des Drucks von Menschen, die von uns als Gesetzgeber erwarten, dass wir
hier Klarheit schaffen, in Gang gesetzt worden ist.
Ich glaube, dass die Gemeinsamkeiten das Trennende
überwiegen. Denn es hat niemand infrage gestellt, dass
es zwei wesentliche verfassungsrechtliche Grundlagen
für die Behandlung eines Patienten gibt, nämlich die Zustimmung des Patienten und die medizinische Indikation. Es hat auch niemand bestritten, dass es sich um
eine prozesshafte Entscheidung am Lebensende mit
Blick auf Situationen handelt, für die es eine Patientenverfügung gibt. Es handelt sich immer um eine Interpretation einer Patientenverfügung oder eines wie immer
geäußerten Willens durch Dritte, zum Beispiel durch einen Gesundheitsbevollmächtigten. Zwar hat das Letztere
einen höheren Rang, aber nicht jeder vertraut sich einer
Person an und möchte deshalb eine schriftliche Patientenverfügung verfassen, um sicherzugehen, dass sein
Wille wirksam in den Prozess Eingang findet.
Wir sind uns einig, dass die Auseinandersetzung über
dieses Thema vor allen Dingen dazu geführt hat, dass
der Hospizarbeit, der Palliativmedizin und der Schmerztherapie in Gesellschaft und Praxis eine größere Bedeutung beigemessen wird. Die Menschen denken in der Tat
häufiger darüber nach, ob sie eine Patientenverfügung
verfassen. Sie setzen sich mit dem Thema häufiger auseinander.
Bevor wir festschreiben, dass sich jeder beraten lassen muss, sollten wir Folgendes bedenken: Ich würde
mich von meinem Hausarzt, dem ich vertraue, bezüglich
bestimmter Behandlungen am Lebensende nicht unbedingt beraten lassen, weil ich weiß, dass er dafür nicht
ausgebildet ist. Ich wäre froh, wenn die Enttabuisierung
dieses Themas dazu führen würde, dass in den Familien
darüber gesprochen wird oder man sich an eine Vertrauensperson wendet, um mit ihr eine Vollmacht oder eine
Patientenverfügung zu besprechen.
({0})
Die Fachleute sagen, dass zurzeit circa 9 Millionen
Patientenverfügungen existieren. Bei Verabschiedung
des Entwurfs der Gruppe Bosbach würden etliche davon
ihre Gültigkeit verlieren, weil sie die Voraussetzungen
- ärztliche Beratung und notarielle Beurkundung - nicht
erfüllen. Ich möchte mich, solange meine Redezeit
reicht, mit den praktischen Auswirkungen beschäftigen,
die dieser Entwurf hätte - denn über den Stünker-Entwurf haben wir im Juni des letzten Jahres beraten, und
wir werden später dazu kommen, alle drei Anträge zu
würdigen -:
Im Gesetzentwurf der Gruppe Bosbach ist vorgesehen, dass lebenserhaltende Maßnahmen auch dann beendet werden können, wenn es sich nicht um eine unheilbare Krankheit, wenn es sich nicht um eine tödlich
verlaufende Krankheit oder ein Wachkoma handelt. Unserer Meinung nach werden aber Hürden aufgebaut, die
die Wirkung der Patientenverfügung verunmöglichen.
So wird eine ärztliche Beratung speziell zu dem zum
Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs vorliegenden
Krankheitsbild gefordert. Die daraufhin erstellte Patientenverfügung soll notariell beurkundet werden. All das
muss nach spätestens fünf Jahren wiederholt werden.
({1})
- Wie soll man sich das vor dem Hintergrund der Situation in den Arztpraxen dieses Landes konkret vorstellen?
Wir haben zwar die Hoffnung, dass die „sprechende Medizin“, also die Zuwendung von Medizinern gegenüber
den Menschen, allgemein einen größeren Raum einnimmt und auch bei der Frage der Finanzierung besser
gewürdigt wird, aber das würde zurzeit bedeuten: Trotz
eines vollen Wartezimmers nimmt sich der Hausarzt eine
Stunde Zeit, um mit seinem Patienten darüber zu sprechen, welchen Verlauf seine Erkrankung möglicherweise
nehmen könnte, obwohl er - das sagte ich schon einmal nicht unbedingt ein Spezialist für die neuesten Behandlungsmethoden ist. Er spricht mit seinem Patienten auch
über das Sterben. - Das möchte ich ohne Zeitdruck und
mit Personen meines Vertrauens tun, mit Personen, denen ich das auch zutraue. Was soll nach diesem Gespräch passieren? Wer erstellt die Patientenverfügung?
Der Arzt oder der Patient? Wozu braucht man einen Notar? Nur um die Unterschrift zu bestätigen? Das alles
scheint mir in der Praxis nicht umsetzbar zu sein. Es
scheint so zu sein, dass hier eine Hürde aufgebaut werden soll. Ich glaube, dass die Menschen, die eine Patientenverfügung verfassen - das kann man nicht für jeden
garantieren -, sich doch intensiver mit dem Thema beschäftigen als diejenigen, die keine Patientenverfügung
haben wollen.
Auch die regelmäßige Aktualisierung der Patientenverfügung ist sinnvoll. Ich verneine auch nicht den Sinn
einer ärztlichen Beratung. Man sollte sich so gut informieren wie möglich, um selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können. Das ist ein Anspruch, den wir haben und auch an alle stellen sollten. Wir können ihn aber
nicht gesetzlich verordnen oder erzwingen. Man muss
sich vor Augen führen, dass mit einer Aktualisierung
nicht nur der Entwicklung im Bereich der Medizin, sondern auch der Veränderung meiner Vorstellung von
Würde und vielleicht auch der Veränderung bei meinen
Ängsten Ausdruck verliehen werden soll. Dafür wäre ein
Zeitraum von fünf Jahren aber zu lang. Zwei Jahre wären vielleicht viel besser. In der Praxis sehen viele Berater und Anbieter von Patientenverfügungen das vor.
Durch notarielle Beurkundungen und ärztliche Pflichtberatungen bauen Sie jedoch Kosten auf. Angesichts desRolf Stöckel
sen wäre eine Aktualisierung alle zwei Jahre unrealistisch.
({2})
- Ja.
Ich muss leider zum Schluss kommen. Ich glaube,
dass wir uns in der Anhörung neben all dem, was wir sicherlich an Gemeinsamkeiten feststellen, vor allen Dingen mit dem Zöller/Faust-Entwurf, mit den konkreten
Fragen der Praxis, die hier teilweise von Dr. Faust beschrieben worden ist, und dem, was tatsächlich gesetzlich zu regeln ist, beschäftigen werden. Vor diesem Hintergrund erhoffe ich mir, dass es uns gelingt, das Recht
auf ein menschenwürdiges Sterben vielleicht sogar in einem gemeinsamen Antrag zu formulieren. Die Selbstbestimmung auch schwerkranker Menschen ist ein zu hohes Gut, um das Risiko einzugehen, dass letztendlich der
Bosbach-Entwurf die meisten Stimmen hier im Haus auf
sich vereinigt oder gar kein Entwurf beschlossen wird.
Danke schön.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Seifert, was Sie vorhin gesagt haben, war
mir sympathisch. Ich finde es klug, dass Sie auf die Bedeutung der Vorsorgevollmacht hingewiesen haben. Ich
selber habe auch keine Patientenverfügung. Woher soll
ich zum jetzigen Zeitpunkt wissen, was ich irgendwann
einmal in einer Krankheitssituation für mich entscheiden
möchte, die ich weder kenne noch kennen kann? Aber
das ist nicht der Problemkreis, über den wir hier streiten.
Wir müssen respektieren, dass es Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die aus unterschiedlichen
Gründen eine Patientenverfügung verfasst haben. Denen
schulden wir Rechtssicherheit. Es kann nicht vom freien
Spiel der Kräfte an einem Krankenbett abhängen, ob ein
Patient weiterlebt oder ob lebenserhaltende Maßnahmen
beendet werden. Deswegen kann sich der Deutsche Bundestag vor der Entscheidung nicht drücken.
({0})
Herr Kollege Montag, Sie haben gesagt, dass der Gesetzentwurf, der auch von mir mitgetragen wird, hinter
die geltende Rechtslage zurückgehe, weil nach geltender
Rechtslage jedwede Patientenverfügung unabhängig
vom Inhalt verbindlich sei. Ich zitiere aus dem Standardwerk Medizinrecht von Professor Deutsch, neueste Auflage:
Der BGH hat - allerdings beschränkt auf die Situation des „Grundleidens“, das einen irreversiblen
tödlichen Verlauf angenommen hat - in der allseits
kritisierten Entscheidung eine weitere medizinische
Maßnahmen ausschließende Patientenverfügung als
bindend angesehen.
Dies gilt mit Reichweitenbegrenzung.
Ich zitiere aus der Zeitschrift für Rechtspolitik. Das ist
deswegen interessant, weil ich jetzt Herrn Kutzer als
Zeugen heranziehe. Herr Kutzer war der Vorsitzende der
Kutzer-Kommission von Frau Zypries. Frage der Zeitschrift für Rechtspolitik:
Der Beschluss vom 12. Zivilsenat des BGH wurde
oft so verstanden, dass lebenserhaltende Maßnahmen nur dann beendet werden dürfen, wenn das
Grundleiden eines Patienten einen irreversiblen
tödlichen Verlauf genommen hat?
Antwort Kutzer:
Ja, so muss man trotz mancher Interpretationsversuche diese Entscheidung im Grundsatz wohl verstehen, aber unsere Arbeitsgruppe ist anderer Auffassung.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen?
Sofort. Ich möchte erst den Gedanken zu Ende führen. - Es gibt die Gesetzesinitiative, weil man diese
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Zivil- und
Strafsachen kritisiert und eine andere Rechtslage schaffen möchte.
({0})
Wir hingegen möchten uns an dieser Rechtsprechung
orientieren und darüber hinaus eine zusätzliche Möglichkeit für eine verbindliche Patientenverfügung in das Gesetz einfügen.
({1})
Gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen
Montag?
Gerne.
Herr Kollege Bosbach, nachdem Sie mich persönlich
angesprochen haben: Ich bezweifle nicht, dass es über
die Entscheidung des 12. Senats eine rege Diskussion
mit unterschiedlichsten Meinungen gegeben hat. Ich
wollte Sie fragen, ob Sie auch zur Hand haben - wenn
nicht, können Sie vielleicht aus dem Kopf zitieren -, was
die Vorsitzende des 12. Senats selbst relativ autoritativ
über ihre Entscheidung in der FAZ gesagt hat. Sie hat
ausgeführt, dass sich diejenigen, die eine Reichweiten21510
begrenzung in dieser Entscheidung erkennen wollen,
täuschen, dass der 12. Senat eine solche Reichweitenbeschränkung in dieser Entscheidung nicht zum Ausdruck
bringen wollte.
Ich habe das Zitat nicht vor mir liegen, aber es liegt
auf meinem Tisch. Dies ist so nicht richtig.
({0})
- Nein.
Sie hat an einer anderen Stelle - ich kann jetzt nicht
zum Tisch gehen; aber wenn Sie es möchten, lese ich es
Ihnen gleich noch vor ({1})
gesagt: Die Differenzierung bezieht sich auf Todesnähe
und irreversiblen tödlichen Verlauf. Diese Rechtsprechung ist geändert worden. Aber es gibt keine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Straf- und Zivilsachen,
dass eine Patientenverfügung unter allen Umständen und
vor allen Dingen - das sind die sieben Wörter, die uns
trennen - unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung Verbindlichkeit hat.
({2})
Das schönste Argument für unseren Gesetzentwurf
habe ich in einem Schreiben von Professor Jäger, einem
Strafrechtler, gefunden, der geschrieben hat:
Es gibt Vorbehalte gegen eine strikte Bindungswirkung von Patientenverfügungen. Fälle, mit denen
ich im Rahmen meiner Arbeit in der Ethikkommission eines Krankenhauses konfrontiert wurde, lassen mich vor einer absoluten Verbindlichkeit zurückschrecken.
Das ist die Konfrontation der rechtlichen Überlegungen
eines Juristen mit der Lebenswirklichkeit, und wir müssen uns mehr an der Lebenswirklichkeit orientieren.
({3})
Zu dieser Lebenswirklichkeit, Herr Kollege Kauch,
gehört ein Argument, das Sie vorhin vorgetragen haben.
Ich habe bereits erwähnt, dass ich das Argument für beachtlich halte. Wir gehen von einem Differenzierungskriterium aus, von dem Sie sagen, dass es in der medizinischen Praxis untauglich sei. Ich darf Ihnen Folgendes
sagen: Wenn dieses Argument stimmt, dann müssen wir
90 Prozent aller Vorschläge zu Patientenverfügungen aus
dem Verkehr ziehen; denn exakt das, von dem Sie behaupten, dass es das nicht gebe, befindet sich in fast allen Mustertexten. Auf meinem Pult liegen fast alle
Patientenverfügungen, die man aus dem Netz herunterladen kann. Alle haben das Abgrenzungskriterium, von
dem Sie - unter Berufung auf Professor Borasio - behaupten, dass es das nicht gibt.
Der aussagekräftigste Vorschlag - das ist ein ganz
starkes Argument für den von uns vertretenen Entwurf ist der von der Bundesministerin der Justiz. Dort heißt
es: „Wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde …“
Gibt es darüber unter uns Streit? Nein, es ist keine ärztliche Beratung und keine juristische Beratung vorgesehen,
sondern es gilt volle Verbindlichkeit. „Wenn ich mich im
Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden
Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch
nicht absehbar ist …“, also eine infauste Prognose vorliegt. Gibt es diesbezüglich unter uns Streit? Nein, es gilt
die volle Verbindlichkeit ohne ärztliche, ohne rechtliche
Beratung. „Wenn ich infolge einer Gehirnschädigung …“ einen irreversiblen Bewusstseinsverlust erleide. Gibt es unter uns Streit? Nein, die Patientenverfügung ist ohne ärztliche, ohne rechtliche Beratung voll
verbindlich.
Immer orientiert an dem, was die Bundesministerin
der Justiz ins Netz stellt, kommt nun der Punkt, der uns
unterscheidet. Wenn sie mit ihrer Argumentation recht
hätte, müsste man sofort den Stecker ziehen und diesen
Vorschlag für eine Patientenverfügung aus dem Verkehr
ziehen.
({4})
Nun kommt ein Formulierungsvorschlag, der im
wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich ist. Es wird
folgende Formulierung vorgeschlagen:
Nicht nur in den oben beschriebenen Situationen,
- die ich gerade dargestellt habe sondern in allen Fällen eines Kreislaufstillstandes
oder Atemversagens lehne ich Wiederbelebungsmaßnahmen ab.
Gemäß diesem Vorschlag kommt es überhaupt nicht darauf an, ob ich unheilbar krank bin, ob ich in Todesnähe
bin oder ob ich ein junger Mann bin, der einen Autounfall erleidet. Der Patient lehnt kategorisch jede Maßnahme zur Wiederbelebung ab.
Nun gibt es Fälle, in denen Kreislaufstillstand oder
Herzversagen vorliegen und die Reanimation notwendig
ist. Nehmen Sie nur einmal das Beispiel Herzstillstand/
Reanimation. Sie fordern, dann einen Beratungsprozess
in Gang zu setzen. Es gibt aber Situationen, in denen Sie
spontan entscheiden müssen: Reanimiere ich - Ja oder
Nein? In einer solchen Situation nützt Ihnen kein Betreuer und kein Vormundschaftsgericht etwas, sondern
Sie müssen spontan handeln.
Wenn Sie nun feststellen - und diese Antwort ist mir
sehr sympathisch -: Selbstverständlich gibt es Fallkonstellationen, wo wiederbelebt bzw. künstlich beatmet
werden muss und in denen dieser Satz keine Gültigkeit
haben kann, dann differenzieren Sie doch nach Art und
Stadium der Erkrankung. Genau das Gegenteil steht in
Ihrem Gesetzentwurf drin.
({5})
Es ist ein rhetorischer Kniff, mit dem Sie in der Öffentlichkeit punkten. Wenn das nicht nur in der gründlichen
Begründung Ihres Gesetzentwurfs, die ich in der feinen
Abwägung zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht in weiten Teilen unterstreichen kann, stehen
würde, sondern auch im Gesetzestext, hätten wir nicht
die Debatten, die wir seit Jahren führen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Kollegen Dr. Wodarg.
Ja, klar.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bosbach, ich finde, Sie haben das etwas
schief dargestellt. Als jemand, der jahrelang Notarztwagen gefahren ist und auf der Intensivstation gearbeitet
hat, der also immer in der Situation war, dass er zu Notfällen gerufen wurde und dann handeln musste, weil jede
Sekunde kostbar war, sage ich Ihnen: Es geht nicht so
sehr um die Schwere der Erkrankung,
({0})
wie Sie es gerade dargestellt haben, sondern vielmehr
um die Zeit, die man hat, um zu überprüfen, was der
Wille des Patienten ist. Das ist etwas ganz anderes. In
dieser Situation hat man nicht die Möglichkeit, den Willen des Patienten zu eruieren, sondern man muss erst
einmal handeln. Das hat mit der Schwere der Erkrankung nichts zu tun.
Herr Kollege Wodarg, Entschuldigung!
Ein Patient kann nur ohnmächtig sein, er kann aber
auch schon fast tot sein.
Herr Kollege Wodarg, das ist ein ganz anderer Fall.
Sie unterstellen Rettungswillen; auch das ist ein interessanter Fall, aber nicht der, von dem ich gesprochen habe.
({0})
Von dem Fall, über den ich berichtet habe, habe ich von
einem Arzt erfahren, der uns dringend davor warnt, die
absolute Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu
beschließen.
In meinem Fall geht es um eine Patientin, die 50 Jahre
alt war. Sie hatte aufgrund eines orthopädischen Problems eine Operation. Diese Operation verlief völlig
problemlos. Die Patientin ist für eine Nacht auf die Intensivstation gekommen. Am nächsten Morgen war sie
ansprechbar und sollte auf die Normalstation verlegt
werden. In diesem Moment erlitt sie eine Lungenembolie und eine Asystolie; sie hatte keinen Herzschlag mehr.
Dem Krankenhaus lag eine Patientenverfügung mit absolutem Reanimationsverbot vor. Selbstverständlich hat
der Arzt die Frau aber reanimiert. Das war auch richtig
so, weil er nach Art und Stadium der Erkrankung differenziert hat. In diesem Fall muss nichts ausgelegt werden.
Sie sagen immer: Wir wollen, dass ausgelegt wird. Das finde ich sympathisch. Wenn die Situation aber glasklar ist, was wollen Sie dann auslegen? Wenn jemand
schreibt, dass er Joachim Stünker als Alleinerben einsetzt, kommen Sie dann etwa zu der Auslegung, er
könnte möglicherweise auch Herrn Wodarg gemeint haben?
({1})
Man muss nur dann etwas auslegen, wenn man die Lebenssituation mit dem geschriebenen Text abgleichen
muss. Wenn die Lebenssituation klar ist, muss man das
nicht tun.
({2})
Herr Kollege Bosbach.
Ich bin sofort fertig, großes Indianerehrenwort. - Herr
Wodarg, wer Maßnahmen der Wiederbelebung kategorisch ablehnt, und zwar unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung, für den sollte eine ärztliche und
eine rechtliche Beratung verbindlich sein. Denn dies ist
die weitreichendste Erklärung, die ein Mensch in seinem
Leben abgeben kann, die Entscheidung über Leben und
Tod.
({0})
Sie sagen, das sei eine bürokratische Hürde. Mit diesem
Vorwurf kann ich leben. Mit dem Vorwurf, einem Gesetz
zugestimmt zu haben, durch dessen Anwendung möglicherweise Menschen sterben, die weder sterben müssten
noch in Kenntnis der Situation sterben wollten, könnte
ich allerdings nicht leben.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11360 und 16/11493 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Karl Addicks,
Ernst Burgbacher, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({0})
- Drucksache 16/11170 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
({2})
- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen oder können, ihre Gespräche vor dem Plenarsaal fortzuführen. Alle anderen
Kolleginnen und Kollegen bitte ich, den Rednern ihre
Aufmerksamkeit zu schenken.
Als erste Rednerin hat die Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger für die FDP-Fraktion das
Wort.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr einem Jahr hat der Deutsche Bundestag die Reform der Telekommunikationsüberwachung beschlossen. Mit dieser Reform wurde
erstmals eine allgemeine Vorschrift zum Schutz von
Berufsgeheimnisträgern vor staatlichen Überwachungsmaßnahmen in Strafverfahren geschaffen. Das war ein
systematisch neuer Ansatz. Es sollte für alle Überwachungsmaßnahmen eine Grundlage geschaffen werden.
Die Absicht, eine allgemeine Regelung zu treffen, die es
in dieser Form zuvor nicht gegeben hat, ist zu Recht begrüßt worden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es uns um
die Ausgestaltung dieser Bestimmung. Man kann sie
nämlich nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion
und auch nach Auffassung vieler Teile der Gesellschaft
nicht als gelungen bezeichnen. § 160 a StPO schafft einen Unterschied zwischen den verschiedenen Berufsgeheimnisträgern. Wir wollen das korrigieren.
Berufsgeheimnisträger genießen nach unserer Rechtsordnung, wie man an § 53 StPO sieht, einen hohen
Schutz, und das zu Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen immer wieder den hohen Rang herausgestellt, den der Schutz des Vertrauens
zwischen Anwalt und Mandant, zwischen Arzt und Patient, zwischen Journalist und Informant, zwischen
Geistlichem und demjenigen, der die Beichte ablegen
möchte - um nur einige wenige zu nennen -, hat.
Man kann darüber streiten, wie weit dieser Vertrauensschutz verfassungsrechtlich legitimiert ist. Gerade die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. März
2004 zum sogenannten Großen Lauschangriff enthält in
Randnummer 148 Ausführungen, in denen eine verfassungsrechtliche Begründetheit für die besondere Herausstellung des Vertrauensschutzes für einige Gruppen - insbesondere für Geistliche, für Strafverteidiger und, etwas
zurückgenommen, für Ärzte - ausdrücklich festgestellt
wird. Bei Presseangehörigen und Abgeordneten wird interessanterweise nicht aus dem Menschenwürdecharakter
heraus eine zwingende verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Schutz des Vertrauensverhältnisses abgeleitet.
Egal wie weit man den verfassungsrechtlichen Schutz
unter Heranziehung anderer Bestimmungen interpretiert,
man sollte - dieser Auffassung ist die FDP-Fraktion die Differenzierung zwischen den Berufsgruppen, die in
§ 160 a StPO vorgenommen wird, nicht aufrechterhalten. Für die Strafverfahren, für die Repression - darauf
bezieht sich unser Gesetzentwurf - sollte eine Korrektur
vorgenommen werden.
({0})
Beim Umfang des Schutzes sollte nicht mehr zwischen
Strafverteidigern und Rechtsanwälten unterschieden
werden. Dass der Anwalt als Organ der Rechtspflege in
unserer Rechtsordnung eine wichtige Stellung einnimmt,
ist unbestritten. Das macht der Rechtsanwalt, das macht
aber auch der Strafverteidiger. Im Zweifel wird der Anwalt, sobald ein strafrechtlicher Aspekt zu berücksichtigen ist, zum Strafverteidiger. Wenn man einmal davon
absieht, dass jemand ausschließlich als Strafverteidiger
tätig ist, ist es in der Praxis doch so, dass es schwer ist,
hier zu differenzieren. Wir sind der Meinung, dass die
Anwaltschaft mit § 160 a StPO einen einheitlichen
Schutz bekommen sollte. So etwas ist der StPO nicht
fremd. Nehmen Sie § 100 c Abs. 6 StPO, die Ausgestaltung des Abhörens in Wohnungen. In diesem Paragrafen
ist gerade nicht differenziert worden; es geht allgemein
um die Berufsgeheimnisträger Ärzte, Geistliche, Journalisten, Rechtsanwälte, Strafverteidiger, Steuerberater,
Wirtschaftsprüfer.
Ich sage bewusst, dass auch wir nicht für alle in § 53
StPO aufgezählten Berufsgruppen ein und dieselbe Regelung vorsehen, dass auch wir differenzieren. So sehen
wir in unserem § 160 a Abs. 2 StPO für die Fälle des
§ 53 Abs. 1 Nr. 3 a und b StPO ein Verwertungsverbot
vor. Wir wollen eine mit Augenmaß getroffene Regelung, die der Bedeutung des Schutzes dessen, was in diesen Beziehungen gesprochen wird, gerecht wird. Wir
wollen, dass der Mandant, der zum Anwalt geht, dass
der Patient, der zum Arzt geht, sicher sein kann, dass
das, was er mit seiner Vertrauensperson bespricht, diesen
Kreis nicht verlässt, dass es nicht zu anderen Zwecken
verwandt wird. Von daher tragen wir eine sehr ausgewogene Regelung vor. Ich glaube, es ist eine Regelung, die
wirklich zu Recht auch von denjenigen begründet wird,
die in der Praxis damit zu tun haben. Aus diesem Grunde
hoffe ich, dass wir am Ende der Beratungen des Bundestages - heute ist die erste Lesung - vielleicht doch eine
Mehrheit in diesem Hohen Hause finden können.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Hilger hat das Problem im Jahre 2003
auf Seite 482 ff. in Goltdammer’s Archiv für Strafrecht
sehr präzise umrissen: Es geht um den flankierenden
Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, das haben wir am 9. November 2007 hier im Deutschen Bundestag schon ausdiskutiert.
({0})
Wir haben einen Gesetzentwurf zur Neuordnung der
Telekommunikationsüberwachung und weiterer verdeckter Ermittlungen beraten, und wir haben ein gutes,
differenziertes, harmonisch abgewogenes Ergebnis zustande gebracht.
({1})
Es gibt seither nichts Neues, keine Gesetzeslücke, keinen Korrekturbedarf.
Meine Damen und Herren, es geht in erster Linie um
die Aufklärung von Straftaten. Im Jahre 1975 hat ein
Deutscher mit sechs weiteren Tatgenossen die OPECKonferenz in Wien überfallen. Drei Menschen wurden
ermordet, 70 Geiseln wurden genommen. Der Deutsche
ging flüchtig. Etwa 20 Jahre später konnte man seinen
Aufenthaltsort ermitteln, weil man Telekommunikationsverbindungsdaten einer Journalistin erhoben hatte,
mit der er mehrfach telefoniert hatte.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, damals
gab es den § 100 h der Strafprozessordnung. Es gab keinerlei Differenzierungen. Bei jedem Journalisten konnten die Telekommunikationsverbindungsdaten ohne Einschränkung erhoben werden. Das war auch richtig so.
Man konnte den Täter festnehmen. Obwohl er die
Kronzeugenregelung in Anspruch genommen hat, bekam er neun Jahre Freiheitsstrafe. Das ist gesühntes Unrecht. Folgte man Ihrem Gesetzentwurf, dann würde dieser Straftäter noch heute frei und ohne Sühne und Strafe
durch die Welt laufen. Das wollen wir nicht.
({2})
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?
Bitte schön.
Herr Kollege Kauder, nur, damit kein Missverständnis
auftritt: Ich finde es richtig, dass ein Straftäter wie Herr
Klein seiner Strafe zugeführt wird, wenn die Polizei und
die Staatsanwaltschaft ihn mit verfassungsgemäßen Mitteln finden. Das ist überhaupt keine Frage.
Stimmen Sie mir aber zu, dass Ihre letzten Ausführungen in der Konsequenz dazu führen, dass wir eigentlich alle verfahrensmäßigen Schutzrechte innerhalb der
Strafprozessordnung fallen lassen könnten, weil sie dem
Strafanspruch und der Strafverfolgung tendenziell immer in den Rücken fallen und dadurch eine vollständige
und umfassende Strafverfolgung aller Straftäter unmöglich machen? Das ist Ausdruck des Rechtsstaats. Wollen
Sie ihn wirklich abschaffen?
Kollege Montag, ich bin mit meinen Ausführungen ja
noch nicht am Ende.
({0})
Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Aufklärungspflicht des Staates und dem teilweise verfassungsrechtlich geschützten Recht von Berufsgeheimnisträgern
auf Wahrung des ihnen anvertrauten Geheimnisses. Nach
der Verfassung steht ein Journalist einem Abgeordneten
eben nicht gleich. Der Abgeordnete genießt den Schutz
nach Art. 47 des Grundgesetzes, der Journalist nur den
nach Art. 5 des Grundgesetzes, der nicht so weit reicht
wie Art. 47 des Grundgesetzes. Also müssen wir dieses
Spannungsverhältnis entsprechend lösen. Das von mir erwähnte Gesetz tut dies angemessen in einem abgestuften
System. Dazu werde ich noch Stellung nehmen.
An erster Stelle steht also die Aufklärungspflicht des
Staates, weswegen - dies sagt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung; es ist in der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im 33. Band auf Seite 367 nachzulesen - der Kreis der geschützten Berufsgeheimnisträger
eng zu fassen ist. Wenn schon der Kreis der Berufsgeheimnisträger eng zu fassen ist, ist erst recht der Kreis
derjenigen, die vor Ermittlungsmaßnahmen zu schützen
sind, eingeschränkt zu formulieren. Genau so machen
wir es nach dem derzeit geltenden Recht.
Journalisten stehen nicht Abgeordneten gleich, Ärzte
stehen nicht Geistlichen gleich, und zivilrechtlich tätige
Anwälte stehen nicht dem Strafverteidiger gleich. Es
gibt privilegierte Berufsgeheimnisträger. Dazu gehören
der Abgeordnete aufgrund Art. 47 des Grundgesetzes,
der Strafverteidiger wegen des grundrechtlich geschützten Anspruchs der Menschenwürde und der Geistliche
wegen Art. 4 des Grundgesetzes. Diese Ausnahmeregelungen hatte der Gesetzgeber zu beachten. Wir kommen
zu dem Ergebnis, dass mehr als diese Ausnahmen nicht
gemacht werden sollten, weil sonst die Aufklärungspflicht viel zu stark eingegrenzt würde.
({1})
Siegfried Kauder ({2})
Aber, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie vermitteln hier den Eindruck, als schützten wir nur das Berufsgeheimnis der privilegierten Berufsgeheimnisträger. Das
stimmt nicht. Es ist ein sehr differenziert ausgeklügeltes
System. Schauen Sie in § 160 a Abs. 5 der Strafprozessordnung, dann werden Sie feststellen, dass die Lex specialis trotz der Einschränkungen in den §§ 97 und 100 c
der Strafprozessordnung weiterhin gilt. Deswegen
- Frau Kollegin, das wissen Sie - ist auch bei einem
Journalisten eine Wohnraumüberwachung nicht zulässig;
({3})
dies ist grundrechtlich nicht möglich.
Wir wollen nicht, dass Berufsgeheimnisträger völlig
den Ermittlungsmaßnahmen entzogen sind, weil auch sie
wie jeder Drittbetroffene dem Staat als Beweismittel bei
Durchsuchungsmaßnahmen zur Verfügung stehen müssen; auch dies ist differenziert ausgestaltet.
Wir kamen zu dem Ergebnis, dass wir es bei den
nichtprivilegierten Berufsgeheimnisträgern auf eine sogenannte Abwägungslehre ankommen lassen, dass also
im Einzelfall bei einem Journalisten zu prüfen ist, ob das
Grundrecht auf Pressefreiheit nach Art. 5 dem Anspruch
auf Ermittlung einer Straftat vorgeht. Was die Telekommunikationsüberwachung und die Verbindungsdaten angeht, ist dies eine Verbesserung des alten Rechtszustandes. Es gilt nicht mehr die Vorschrift des § 100 h der
Strafprozessordnung, sondern die der §§ 97 Abs. 5 und
160 a der Strafprozessordnung, wonach der Journalist
privilegiert ist.
({4})
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, sogar
dann, wenn der Journalist bei Geheimnisverrat in die
Straftat verstrickt ist, ist der Aufklärungsanspruch gegen
den grundrechtlichen Schutz des Art. 5 abzugrenzen.
Der Journalist, der einen Dritten anstiftet, Geheimnisverrat zu begehen, steht nach dem neuen Recht besser da als
nach dem alten Recht. Sie sehen also, es ist sehr ausgewogen ausgelegt.
Was Sie wünschen, ist rechtlich möglich, verfassungsrechtlich aber nicht geboten, und es stünde in einem eklatanten Widerspruch zur Aufklärungspflicht des
Staates.
({5})
Wir wollen, dass möglichst viele Möglichkeiten bestehen, um Straftaten ermitteln und Straftäter überführen
und einer Strafe zuführen zu können. Der von mir eben
erwähnte Fall des Terroristen zeigt deutlich, dass dies
auch geboten ist. Wer diese Aufklärung nicht möchte,
könnte dem Antrag der FDP zustimmen. Wer möchte,
dass der Rechtsstaat auf beiden Beinen und nicht auf tönernen Füßen steht, kann diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Das werden wir hiermit tun.
({6})
Wolfgang Nešković ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Meine Fraktion und ich werden
- das wird Sie nicht erstaunen, Herr Kauder - dem Gesetzentwurf der FDP zustimmen. Denn ebenso wie die
Fraktion der FDP sind auch wir der Auffassung, dass
grundsätzlich für alle Berufsgeheimnisträger ein einheitlicher und umfassender Schutz vor strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen sichergestellt werden muss.
Die Differenzierung, die das Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten von
Geistlichen und Strafverteidigern vorgenommen hat
- Sie haben das selbst angesprochen, Herr Kauder -,
hindert den Gesetzgeber nicht daran, auch die anderen
Berufsgeheimnisträger unter denselben Schutz zu stellen. Damit würde auch und gerade die aus unserer Sicht
unerträgliche Selbstprivilegierung von Abgeordneten
gegenüber den Journalisten, den Vertretern der vierten
Gewalt, beendet.
Für die Abgeordneten gilt die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts genauso wenig wie für die
Journalisten, soweit sie sich auf Art. 1 des Grundgesetzes stützt. Dennoch gibt es gute Gründe, Journalisten
nicht schlechter zu behandeln als uns selbst. Auch für sie
streiten zumindest verfassungspolitische Überlegungen.
Denn es gibt einen gefährlichen Ursachenzusammenhang zwischen einem unzureichenden Schutz von Journalisten vor Ausforschung, schweigenden Informanten,
einer stillen Presse und einer mundtoten Demokratie.
Ich will diesen Zusammenhang noch einmal darstellen: Journalisten sind keine Hellseher. Sie schreiben
auch nur selten über Vorfälle, die sie selbst und persönlich erlebt haben. Wer nicht hellsehen kann und nicht aus
eigenem Erleben berichtet, ist auf Informanten angewiesen. Ein Informant, der schweigt, weil er Strafverfolgung fürchtet, ist kein geeigneter Informant. Den Mut
des Informanten befördert der Grundsatz, dass der Journalist für die Öffentlichkeit spricht, doch vor dem
Strafrichter schweigen darf. Wenn aber der Staat dieses
Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten einfach
umgehen kann, entmutigt das den Informanten ganz entscheidend.
Der Staat umgeht das Zeugnisverweigerungsrecht, indem er dem Journalisten heimlich ablauscht, worüber
der nicht offen sprechen muss. Die jetzige Gesetzeslage
legitimiert genau diese Umgehung im Wege einer abstrakten Abwägung zwischen Pressefreiheit und Strafverfolgungsinteresse. Wenn der Informant nicht wissen
kann, wie diese abstrakte Abwägung ausgeht, so wird er
es konkret vorziehen, zu schweigen. Er wird auch deshalb schweigen, weil er die immensen technischen Möglichkeiten bedenkt, mit denen sich der Staat rechtlich gerüstet hat. Kameras, Wanzen, staatliche Spähprogramme
und Richtmikrofone, die selbst durch dicke Mauern jedes vertrauliche Wort erlauschen können,
({0})
werden für immer mehr schweigende Informanten sorgen.
Was die Informanten nicht erzählen wollen, kann der
Journalist nicht berichten. Das erfährt dann auch die demokratische Öffentlichkeit nicht. Dann diskutiert sie
nicht; dann schweigt sie.
Das Schweigen wird sogar noch stiller - auch wenn
sein Bruch unverzichtbar wäre -, wenn es um die Aufklärung eines politischen oder rechtlichen Versagens
staatlicher Verantwortungsträger geht.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder zu?
Nein, zu diesem Punkt nicht. - Die nämlich schweigen in solchen Fällen gerne mit. Es ist dieses gemeinsame Schweigen, das alle mundtot macht. Die Demokratie verträgt keine Stille. Sie braucht den öffentlichen
Diskurs.
({0})
- Dazu bleibt noch genügend Zeit. Ich habe vier Minuten Redezeit, wie Sie wissen. Ich bin nicht so üppig ausgestattet.
({1})
- Meine Herren, das habe ich doch verstanden. Aber der
Redefluss bzw. der Gedankenfluss geht verloren.
Da also die Demokratie den öffentlichen Diskurs
braucht, benötigt sie einen absoluten Überwachungsschutz für Journalisten.
({2})
Machen Sie sich bitte klar, dass es hier nicht um eine individuelle Wohltat für Medienvertreter geht. Vielmehr
befassen wir uns mit nichts anderem als dem öffentlichen Interesse, Herr Kauder. Genau das ist in meiner Abwägung stärker zu berücksichtigen als das konkrete
Strafverfolgungsinteresse, weil es um wichtige Belange
der Demokratie geht. Hier geht es nämlich um eine kritische, mutige und aufklärerische Berichterstattung für
eine lebendige Demokratie und eine freie Gesellschaft.
In einem solchen Abwägungsprozess heiligt der Zweck
nicht die Mittel.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kauder
das Wort.
Herr Kollege Nešković, Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob ein Lauschangriff gegen Journalisten zulässig wäre. Dies ist nicht richtig. Wie sich
aus § 100 c Abs. 6 der Strafprozessordnung ergibt, ist
der Lauschangriff - weil es sich um einen sehr intensiven Eingriff in Persönlichkeitsrechte handelt - gegen
alle Berufsgeheimnisträger, egal ob privilegiert oder
nichtprivilegiert, nicht zulässig.
({0})
Daran sehen Sie, Kollege Nešković, dass es sehr gut ist,
wenn man differenzierte Systeme erst einmal durchleuchtet, bevor man pauschal meint, Journalisten hätten
keinen Schutz.
Ich habe schon erwähnt, dass die Schutzrechte der
Journalisten im Vergleich zum früheren Recht verbessert
worden sind. § 100 h der Strafprozessordnung, in dem
eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Pressefreiheit und dem Interesse an der Aufdeckung von Straftaten
nicht vorgesehen war, gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt
es jetzt § 160 a Abs. 2 der Strafprozessordnung. Diese
Vorschrift bedingt eine Abwägung zwischen den Interessen des Journalisten und dem Interesse an der Aufdeckung
von Straftaten. Ich bitte außerdem, zur Kenntnis zu nehmen, dass selbst im Verstrickungsfall, wenn also ein Journalist einen Dritten anstiftet oder Beihilfe leistet, Geheimnisverrat zu begehen, diese Abwägungslehre einschlägig
ist. Damit haben wir ein differenziertes System. Ihre Ausführungen werden dem nicht gerecht.
({1})
Bitte schön, zur Erwiderung.
Herr Kauder, dadurch, dass ein Gesetz, das vorher
schlecht war, ein wenig besser gemacht wird, wird es
noch nicht gut. Uns geht es darum, in diesem Bereich einen umfassenden Schutz sicherzustellen. Wenn es so
wäre, wie Sie es eben gesagt haben - wir werden in den
Ausschüssen Gelegenheit haben, darüber genau und differenziert zu diskutieren -, dann müssten Sie, zumindest
was die Journalisten betrifft, dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Wozu brauchen Sie denn eine Differenzierung, wenn Sie der Meinung sind, dass bereits absoluter Schutz besteht?
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Joachim Stünker für
die SPD-Fraktion.
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir sollten die Beratungen
im Ausschuss durchführen. Dort können wir die Argumente noch einmal austauschen. Herr Kollege Kauder
hat vollkommen recht: Wir haben, was den Lauschangriff, also den schwerwiegendsten Eingriff angeht, die
1998 gefundene Regelung geändert und für den absoluten Schutz aller Berufsgeheimnisträger gesorgt.
({0})
Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Gesetzentwurf
kommen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, es tut mir
leid, aber der Gesetzentwurf ist überflüssig. Er ist deshalb überflüssig, weil wir - darauf hat der Kollege
Kauder bereits hingewiesen - alle Fragen, die Sie wieder
aufgeworfen haben, nach einem jahrelangen Erörterungsprozess im Jahr 2007 beantwortet haben und
schließlich zu einem ausgewogenen System gekommen
sind. Daher können Sie nicht erwarten - denn neuere
rechtstatsächliche Erkenntnisse hat es seitdem nicht gegeben -, dass wir Ihrem Gesetzentwurf nach den Beratungen zustimmen werden.
Der Gesetzentwurf ist weiterhin überflüssig, weil die
Gesamtregelung, die wir getroffen haben - das gilt insbesondere im Hinblick auf § 160 a StPO -, gegenwärtig
beim Bundesverfassungsgericht beklagt wird. Das heißt,
wir sind in einem schwebenden Verfahren, in dem das
Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift überprüfen
soll. Genau in diesem Moment kommen Sie und sagen:
Erlasst doch eben eine neue Vorschrift und macht das,
was ihr damals abgelehnt habt! - Frau LeutheusserSchnarrenberger, wie Sie wissen, schätze ich Sie sehr;
aber mir erschließt sich nicht ganz, warum Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen solchen Gesetzentwurf vorlegen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in der beantragten einstweiligen Anordnung hierzu ausdrücklich
Stellung genommen - daher lassen wir das so, wie es ist,
und warten die Entscheidung in der Hauptsache ab -:
… würde für sämtliche in § 53 StPO genannten
Zeugnisverweigerungsberechtigte ein absolutes Beweiserhebungs- und -verwertungsverbot bestehen,
könnte dies dazu führen, dass zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen nicht durchgeführt werden dürften. Dies könnte zur Folge haben, dass die Aufklärung gewichtiger Straftaten nicht möglich wäre,
weil einzelne Ermittlungsmaßnahmen von vornherein nicht ergriffen oder erlangte Erkenntnisse nicht
verwertet werden dürften.
Genau so ist es. Daher kann ich nur sagen: Warten wir
die Entscheidung ab, die uns das Verfassungsgericht in
Karlsruhe sicherlich in diesem Jahr servieren wird.
Das war die formelle Seite. Wir können Ihnen, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, aber auch inhaltlich nicht
folgen; denn das, was Sie in den Gesetzentwurf geschrieben haben, ist mehr als das, was Sie hier vorgetragen haben. Das geht weit über das hinaus, was mit einer
wirksamen Kriminalitätsbekämpfung überhaupt noch
vereinbar ist; denn Sie verlangen ein absolutes Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot für alle Berufsgeheimnisträger in § 53 Abs. 1 Nr. 3 Strafprozessordnung.
Nun lese ich Ihnen einmal vor, wer dort alles aufgeführt
ist: Das sind Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare,
Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater,
Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Apotheker, Hebammen und Journalisten. All
diesen Berufsgruppen wollen Sie das Privileg eines absoluten Verbots zukommen lassen. Das kann doch eigentlich auch rechtspolitisch nicht Ihr Ernst sein. Ich
kann, da Sie die gelb-schwarze Ehe wieder an die Wand
malen, dazu nur sagen: Viel Spaß, falls Sie, Herr Kollege
Gehb, demnächst mit der FDP Rechtspolitik machen
sollten! Wie das im Ergebnis zusammengehen soll, weiß
ich nicht.
({1})
- Das genau ist der Punkt. Da wünsche ich Ihnen in der
Tat viel Spaß.
Worum geht es denn eigentlich? Es geht darum, dass
diese Personen nicht Beschuldigte sind, sondern aufgrund einer bestimmten beruflichen Tätigkeit Erkenntnisse bekommen und diese Erkenntnisse wichtig sind,
um schwerste Straftaten aufzuklären. Da haben wir - das
hat auch Herr Kauder gesagt - eine Abwägung vorgenommen und gesagt, dass nur bei erheblichen Straftaten
Ermittlungen vorgenommen werden dürfen. Sie wollen
doch nicht im Ernst sagen, dass der Staat schwerste
Straftaten dann nicht aufklären darf, wenn es sich um Erkenntnisse von Apothekern und Hebammen handelt,
weil diese wegen des ausgeübten Berufes einen besonderen Vertrauensschutz hätten. Es tut mir leid, das ist mit
meinem Verständnis von Rechtsstaat nicht in Übereinstimmung zu bringen. Das kriege ich nicht auf die Reihe.
({2})
Daher werden wir Ihnen nicht folgen können.
Dann machen Sie etwas, was nicht ganz redlich ist.
Bei der ganzen Diskussion werden die weiteren Bestimmungen der Strafprozessordnung - Herr Kauder hat es
abstrakt-generell gemacht - gar nicht mehr genannt, zum
Beispiel § 97 der Strafprozessordnung, in dem ein umfassendes und umfangreiches Beschlagnahmeverbot geregelt ist. So dürfen genau bei diesen Berufsgeheimnisträgern bestimmte Papiere, die das Vertrauensverhältnis,
um das es hier geht, betreffen, gar nicht beschlagnahmt
werden. Der Staat darf also in dieses Vertrauensverhältnis gar nicht eingreifen. Wenn Sie sich nicht das Gesamtsystem der Strafprozessordnung anschauen, sondern
nur eine Vorschrift herausnehmen, dann kommen Sie in
eine mächtige Schieflage.
Ich will über Ihren Vorschlag nicht länger als notwendig reden. Es kommt mir so vor, als ob Sie Klientelpolitik betreiben würden. Es kommt mir so vor, als ob Sie
auf einen Zug aufspringen wollten, wie wir es im vorigen Jahr erlebt haben. Damals gab es eine gewisse Hysterie und die Befürchtung, wir wollten alle Menschen in
diesem Land abhören und ausforschen.
({3})
In diesen Kontext passte der Entwurf gut hinein. Ich
kann Ihnen nur sagen: In der Praxis und bei all denen,
die in der Strafrechtspflege tätig sind - angefangen bei
der Polizei über die Staatsanwaltschaften bis hin zu den
Gerichten -, werden Sie mit diesem Vorschlag nicht reüssieren können. Darum werden wir ihn nicht übernehmen.
Schönen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wird Sie nicht verwundern, aber ich sage es trotzdem:
Wir Grüne teilen die Stoßrichtung des Gesetzentwurfs
der FDP. Ich will zu der Debatte einiges sagen und mich
zuerst an Sie, Herr Kollege Kauder, wenden. Sie haben
davon gesprochen, dass es sich der Sache nach - nach
Goltdammer’s Archiv, aber auch sonst ist es richtig - um
einen flankierenden Schutz von Zeugnisverweigerungsberechtigten handelt. Das ist richtig.
Das führt mich zu einem Gedanken, der hier noch
nicht angesprochen worden ist, den ich aber für einen
zentralen halte. Stellen Sie sich vor, es gibt ein Verfahren
gegen einen Beschuldigten, und in der Hauptverhandlung wird von der Staatsanwaltschaft oder auch von der
Verteidigung - egal - ein Zeuge in den Zeugenstand berufen, der zu den zeugnisverweigerungsberechtigten
Personen gehört, und zwar ohne Unterscheidung. Dann
fragt das Gericht: Was wissen Sie? - Im Rahmen des
Zeugnisverweigerungsrechts - die Einschränkung ist
wichtig; sie gilt für alle - braucht er nichts zu sagen. Die
Hebamme braucht nichts zu sagen und auch nicht der
Apotheker. Da sind der Apotheker und die Hebamme genauso geschützt wie der Geistliche und der Abgeordnete
Kauder.
({0})
- Nicht dazwischenschreien! - Da muss also - das ist
doch klar - das Strafverfolgungsinteresse des Staates zurückstecken. Die volle Ermittlung des Sachverhalts ist
nicht möglich, weil im Gesetz gesagt wird: Alle Zeugnisverweigerungsberechtigten haben im Rahmen ihres
Zeugnisverweigerungsrechts ein volles Aussageverweigerungsrecht.
Sie regeln in § 160 a StPO im Rahmen des flankierenden Schutzes von Zeugnisverweigerungsberechtigten die
Ermittlungsmaßnahmen, die gegen genau diese zeugnisverweigerungsberechtigten Personen ergriffen werden,
um Erkenntnisse zu gewinnen, die dazu führen, dass die
Zeugen bei Gericht nicht mehr gebraucht werden, weil
die Erkenntnisse im Ermittlungsverfahren über Abhören
und ähnliche Maßnahmen der Polizei gewonnen worden
sind. Wenn der flankierende Schutz geringer ausgestaltet
wird als der Schutz in der Hauptverhandlung, dann ist
das faktisch eine Umgehung des vollen Schutzes in der
Hauptverhandlung.
({1})
Aus diesem systematischen Grund sage ich Ihnen:
Beim Zeugnisverweigerungsrecht geht es - auch bei der
Hebamme - nicht um irgendwelche Dinge, sondern im
Kern um das Vertrauensverhältnis der Gesprächsbeteiligten, sei es ein Gespräch beim Steuerberater oder beim
Apotheker. Die Betreffenden sollten unserer Meinung
nach so weit, wie das Zeugnisverweigerungsrecht reicht,
auch bei Strafverfolgungsmaßnahmen, bei denen sie ja
nur Betroffene und keine Beschuldigten sind, geschützt
werden. Aus diesen Gründen, die sehr wohl eine verfassungsrechtliche Grundlage haben, plädieren wir für einen vollen, gleichmäßigen und umfassenden Schutz
auch im Rahmen des § 160 a StPO.
({2})
- Herr Kollege Kauder, da meine Redezeit fast abgelaufen ist, will ich Ihre Zwischenfrage, auch wenn sie gestattet würde, jetzt nicht mehr zulassen.
({3})
- Die verfassungsrechtliche Grundlage ist der Schutz des
Vertrauens des Mandanten, Klienten oder Patienten in
bestimmten Berufen,
({4})
von denen wir im Rahmen der §§ 52 und 53 StPO gesagt
haben, dass wir bereit sind - ({5})
- Hören Sie mir doch zu!
Ich sage Ihnen: Der Deutsche Bundestag hat entschieden, dass die Zeugnisverweigerungsberechtigten in der
Hauptverhandlung keine Aussage machen müssen. Damit wird die Strafverfolgung gestört. Das ist ein Hindernis bei der vollen Ermittlung der Wahrheit. Das nehmen
wir hin, das befürworten wir sogar,
({6})
weil das materieller Rechtsstaat ist. Dieser materielle
Rechtsstaat muss sich auch im Rahmen des § 160 a StPO
bewahrheiten.
Deswegen stehen wir in der Tendenz hinter dem Gesetzentwurf der FDP. Aber leider muss ich sagen, Frau
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger: Ich befürchte, es
wird in dieser Legislaturperiode weder zu einer sachlichen Beratung Ihres Gesetzentwurfs noch zu einer positiven Entscheidung kommen. Aber vielleicht gelingt uns
das nach dem September 2009.
Danke.
({7})
Die erkennbaren Interessen für ergänzende Wortmeldungen können unter den Beteiligten ganz offenkundig
auch während der Ausschusssitzungen ausgetauscht
werden,
({0})
sodass ich mit diesem freundlichen Einvernehmen die
Aussprache heute schließe.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11170 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber
gibt es wohl zumindest schon jetzt Einvernehmen. - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen
Wirtschaft ({1})
- Drucksache 16/10490 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 16/11622 Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Burgbacher
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/11623 Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith
Lothar Mark
Ulrike Flach
Roland Claus
Alexander Bonde
Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbstündige Aussprache stattfinden. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Michael Fuchs für die CDU/
CSU-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bürokratie
kostet Zeit und Geld. Beides sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Deswegen haben sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen vorgenommen, die Bürokratie so weit
wie möglich abzubauen. Damit helfen wir den Firmen
direkt, Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten und kostensparender zu arbeiten.
Gerade in der jetzigen Phase, in dieser Krisenphase,
ist Bürokratieabbau besonders wichtig, weil das den
Staat kein Geld kostet; wir haben schon genügend staatliche Programme aufgelegt. Deswegen sollten wir noch
mehr Wert auf einen beschleunigten Bürokratieabbau legen.
({0})
Es geht heute um das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Es gehört zu den Maßnahmen des Regierungsprogramms für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, das wir im Frühjahr 2006 gestartet haben. Mit der
Umsetzung dieses Programms wurde erstmals eine standardisierte Methode für Bürokratieabbau eingeführt. Das
ist genau das Richtige. Wir haben den Normenkontrollrat gegründet, und dieser hat Wirkung gezeigt, in vielerlei Hinsicht: Er hat sämtliche Gesetzentwürfe geprüft
und die Bürokratiekosten einiger Entwürfe deutlich gesenkt. Ich erinnere an die Diskussion, die wir bei der Unternehmensteuerreform geführt haben. Dabei hat uns der
Normenkontrollrat mit Sicherheit geholfen.
Wir haben darüber hinaus ein Bündel von über
300 Informations- und Dokumentationspflichten abgeschafft und damit eine Verwaltungsvereinfachung erreicht. Das alles sind richtige und wichtige Maßnahmen.
Die Vereinfachungen zeigen spürbar Wirkung. Wir
sind mittlerweile bei einem Entlastungsvolumen von
circa 3,5 Milliarden Euro angekommen. Auf das einzelne Unternehmen bezogen ist das immer noch nicht
das, was wir uns vorstellen,
({1})
aber wir sind auf dem richtigen Weg.
({2})
Wir haben uns vorgenommen, dass wir bis zum Ende
dieser Legislaturperiode ein Volumen von 7 Milliarden
Euro erreichen. Das ist schon was. Aber auch das ist
noch nicht das, was wir uns vorgestellt haben. Einiges
wird noch kommen.
Mit dem Dritten Mittelstandsentlastungsgesetz gehen
wir eine Reihe von Maßnahmen an, die vor allen Dingen
die kleineren Betriebe betreffen. Die Handwerkszählung
wird vereinfacht; das kann online gemacht werden.
460 000 Betriebe werden entlastet. Wir erzielen Kostenersparnis auch im Gewerberecht. Circa 70 Millionen
Euro werden eingespart. Das sind beträchtliche Summen, aber es könnte noch mehr sein. Mir liegt eine
Menge daran, dass wir noch weiter vorankommen.
Wir wissen, wie schwierig das ist. Wolfgang Clement
- ich kann ihn völlig unbefangen zitieren - hat einmal
davon gesprochen, dass Bürokratieabbau so etwas Ähnliches wie ein Häuserkampf sei, und er hat recht. Wir
merken, wie schwierig das ist. Deswegen bin ich dem
Bundeswirtschaftsminister und besonders dem Kollegen
Schauerte sehr dankbar, dass sie diesen Kampf Haus für
Haus permanent auf sich nehmen und die einzelnen Ressorts immer wieder anspornen, noch mehr tätig zu werden.
({3})
Wichtig ist, dass wir noch intensiver über sämtliche
Statistik- und Dokumentationspflichten nachdenken.
Vieles ist heute in irgendeiner Form digital vorhanden.
Ob es richtig genutzt wird, ist bis jetzt aber nicht deutlich geworden. Gerade hier liegt eine Menge Potenzial,
das wir noch überprüfen müssen. Das gilt für alle Ministerien.
Das gilt natürlich besonders für das BMF. Dort ist die
Bereitschaft zum Bürokratieabbau bis jetzt nicht so toll
gewesen. 60 Prozent der Weltsteuerliteratur kommt immerhin aus Deutschland. Das ist ein Rekord, auf den wir
nicht stolz sein sollten. Das müssen wir angehen. Da
müssen Vereinfachungen her. Das ist machbar und leistbar. Das werden wir in dieser Legislaturperiode vielleicht nicht mehr schaffen, aber spätestens in der nächsten intensiv angehen müssen. Das führt dann auch dazu,
hoffe ich, dass wir weitere technische Möglichkeiten
schaffen.
Wir sind ja sowieso auf dem digitalen Sektor unterwegs. Morgen wird über „Elena“ diskutiert; das ist sicherlich ebenso richtig wie die Gesundheitskarte. Die
Bundesgesundheitsministerin ist dabei, eine vernünftige
Gesundheitskarte zu schaffen. Wir werden den elektronischen Bürgerausweis bzw. die elektronische Bürgerkarte
weiterentwickeln: Es geht um die elektronische Signatur
etc. Das alles sind Maßnahmen, die am Ende des Tages
viel Bürokratie auch für die Bürgerinnen und Bürger beseitigen. Das wollen wir, und das sollten wir auch angehen.
({4})
Wir haben uns am Anfang dieser Legislaturperiode
ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich eine Senkung der
Bürokratielasten um 25 Prozent bis 2012 zu erreichen.
Ich bin eigentlich ganz optimistisch, dass uns dies gelingen kann. Wenn wir gemeinsam - da ist jede Fraktion in
diesem Deutschen Bundestag gefordert - auf diesem Gebiet weitermachen und auch lieb gewonnene Dinge aufgeben, dann haben wir, wie ich glaube, eine gute
Chance, dieses Ziel zu erreichen.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Hier sehe ich
gerade in der jetzigen Krise Potenziale. Es ist richtig,
dass diese Bundesregierung in der jetzigen Krise ein großes Investitionsprogramm plant. Dieses Investitionsprogramm muss aber so schnell wie möglich sprichwörtlich
auf die Straße gebracht werden. Wenn es uns nicht gelingt, Verfahren zu finden, damit die Mittel, die jetzt freigesetzt werden, auch investiert werden können, dann
greift das Programm zu spät.
({5})
Das ist dann auch unsere Schuld. Deshalb sind wir hier
gemeinsam gefordert, Lösungen zu finden. Ich glaube,
dass es deswegen notwendig sein wird, uns noch einmal
mit dem Vergaberecht zu beschäftigen. Viele Verfahren
dauern aufgrund des Vergaberechts schlicht viel zu
lange.
({6})
Es nützt uns gar nichts, wenn die Mittel von den Kommunen dann im Jahre 2010 oder 2011 abgerufen werden.
Sie müssen jetzt eingesetzt werden; denn jetzt ist die
Krise da, und nur jetzt helfen solche Maßnahmen. Lassen Sie uns deswegen bitte gemeinsam daran arbeiten,
das Vergaberecht zu entschlacken und zu verschlanken.
Ich glaube, dass wir gerade auf diesem Sektor Erfolge
haben, dass wir auf diesem Sektor gut zusammengearbeitet haben. Ich bin allen, die dabei mitgemacht haben,
dankbar. Ich wäre froh - ich bin ja Berichterstatter für diesen Bereich, seitdem ich im Deutschen Bundestag bin -,
wenn wir gemeinsam weitere Maßnahmen auf den Weg
bringen würden. Lassen Sie uns dafür kämpfen. Wir können so Unternehmen entlasten. Wir können so die Bürgerinnen und Bürger entlasten. Wir setzen damit Kräfte frei,
die dieses Land gerade in dieser Situation braucht.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Dr. Fuchs, Sie sind sicher auf einem richtigen Weg. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Richtung
stimmt. Allerdings wird das Ziel, den Mittelstand wirklich zu entlasten, durch den vorliegenden Gesetzentwurf
nur in sehr begrenztem Maße erreicht.
Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch
wenn wir uns deutlichere Entlastungen versprochen hätten.
({0})
- Ja, wir stimmen natürlich zu; denn die Richtung
stimmt, wie ich gesagt habe; aber Sie hätten viel mutiger
sein müssen, wenn Sie den Unternehmen tatsächlich
spürbar und nachhaltig helfen wollen.
Eigentlich legen Sie einen Placebogesetzentwurf vor.
Was darin steht, ist eigentlich keine so große Debatte
wert. Gerade jetzt, Dr. Fuchs, wäre doch eine deutliche
Entlastung des Mittelstandes unabdingbar notwendig.
Diese erreichen Sie mit diesem Gesetzentwurf aber ganz
sicherlich nicht.
({1})
Statt sich gegenseitig mit konjunkturellen Strohfeuern
zu überbieten - das erleben wir gerade im Augenblick -,
müssten Sie Maßnahmen ergreifen, die den Staat nichts
kosten, aber ganz erhebliche Erleichterungen für die Unternehmen mit sich bringen. Wenn Sie wirklich Bürokratie abbauen würden, wenn Sie die Unternehmen wirklich
über die ganze Palette der politischen Felder entlasten
würden, dann hätte das zwei Konsequenzen: zum einen,
dass die Unternehmen Kosten sparen, zum anderen, dass
Unternehmen in unserem Land schneller investieren,
wie Sie es ja angesprochen haben, und ausländische Unternehmen - auch das ist nicht zu unterschätzen - nicht
mehr so oft an Doppel- oder Mehrfachzuständigkeiten
scheitern, wie es heute leider der Fall ist.
Sie sprechen in Ihrem Gesetzentwurf von einer Entlastung in Höhe von 97 Millionen Euro. Diese Zahl
scheint mir, wenn ich alles nachrechne, viel zu hoch gegriffen. Ich will diesen Betrag auf der einen Seite aber
überhaupt nicht kleinreden.
Auf der anderen Seite sollten Sie das jedoch einmal
mit den Bürokratiekosten vergleichen, die bei der Berechnung und Abführung von Steuern und Sozialabgaben entstehen. Allein dort kommen wir auf einen Betrag
von jährlich circa 6 Milliarden Euro. Schon diese Diskrepanz zeigt, dass Sie beim Bürokratieabbau viel zu
mutlos sind. Wie Sie wissen, liegt das natürlich auch an
Schwierigkeiten innerhalb der Koalition - was uns aber
keinesfalls tröstet.
({2})
Sie haben Vorschläge von verschiedenen Seiten auf
dem Tisch. Der Industrie- und Handelskammertag hat
eine Liste von 32 Maßnahmen vorgelegt, die vom Arbeits- und Sozialrecht über das Handels- und Gewerberecht bis zum Umwelt- und Vergaberecht reichen. Von
der mittelständischen Wirtschaft werden Regulierungsmaßnahmen bei der Sozialversicherung, der Ausbau
elektronischer Meldeverfahren sowie der Abbau von
Meldepflichten allein zu statistischen Zwecken vorgeschlagen. Leider herrscht in Ihrem Gesetzentwurf auf allen diesen Gebieten weitgehend Fehlanzeige.
Herr Dr. Fuchs, ich will auf das von Ihnen angesprochene Vergaberecht eingehen. Dort müssen wir tatsächlich einiges tun. Wir müssen aber aufpassen, dass wir
das Vergaberecht nicht völlig schleifen; denn es ist notwendig.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Beispiel nennen, das wir bereits im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie angesprochen haben. Die verbindliche Einführung von Präqualifizierungssystemen
würde gerade dem Handwerk und dem Mittelstand ganz
wesentliche Erleichterungen bringen. Deswegen werden
wir auf diesem Punkt beharren. Wir müssen solche Systeme einführen, um den kleinen Unternehmen in Bezug
auf ihre Kosten zu helfen. Hier bitte ich Sie um Unterstützung. Wir haben das auch im Rahmen der Beratungen beantragt. Leider haben Sie es dort abgelehnt.
({3})
Mit Ihren Mittelstandsgesetzen haben Sie zwar einiges auf den Weg gebracht. Sie meinen, das seien große
Erfolge. Im Gegensatz dazu haben Sie aber Gesetze geschaffen, die einen viel größeren Bürokratieaufwand mit
sich bringen. Ich nenne zum Beispiel das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz, das zu erheblichen Mehrkosten führt, ohne die beabsichtigten Ziele auch nur annähernd zu erreichen.
Ich nenne den Gesundheitsfonds, der die Qualität des
deutschen Gesundheitswesens erheblich schwächt,
gleichzeitig aber zu deutlich höheren Beiträgen führt.
Dass Sie diese höheren Beiträge kurz nach Inkrafttreten
unter Einsatz von Steuermitteln wieder reduzieren müssen, ist ein politischer Skandal. Das werden wir immer
wieder anmahnen.
({4})
Ich nenne die Erbschaftsteuerreform, die viele Unternehmen dazu zwingt, mit erheblichen Kosten Unternehmensformen und Nachfolgeregelungen zu ändern, um
den Bestand des Unternehmens zu gewährleisten. Dieses
Geld würde gerade jetzt an anderer Stelle dringend gebraucht.
Mit all diesen Gesetzen haben Sie erheblich mehr Bürokratie eingeführt. Sie sollten endlich mutiger an die
Sache herangehen. Sie schaffen jetzt einige Maßnahmen.
Diesen werden wir zustimmen. Das ist aber keinesfalls
die Zustimmung zu einem großen Kurs. Da brauchen wir
etwas ganz anderes.
({5})
Reinhard Schultz ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bürokratieabbau ist immer ein sperriges
Thema; denn lieb gewordene Regeln werden natürlich
von denjenigen, die sie erfunden haben, und vor allen
Dingen von denjenigen, die sie verwalten, mit Zähnen
und Klauen verteidigt, sodass andere sich schwertun, sie
begründet abzuschaffen. Deshalb ist Bürokratieabbau
auch immer ein Bohren dicker Bretter und nicht auf einen Schlag zu erledigen.
Die Gesetzgebungsgeschichte allein dieser Wahlperiode zeigt - heute behandeln wir den Entwurf eines
Dritten Mittelstandsentlastungsgesetzes -, dass man imReinhard Schultz ({0})
mer wieder neue Anläufe braucht, um etwas zu erreichen. Man kann immer nur das erledigen, worüber man
im Augenblick Konsens erzielt hat. Anschließend geht
man den nächsten Schritt.
Herr Burgbacher, es ist richtig, dass vom DIHK
32 Maßnahmen vorgeschlagen wurden. Sie sind von der
Qualität her natürlich sehr unterschiedlich. Mit dem jetzt
zu verabschiedenden Gesetzentwurf werden wir allerdings 65 Maßnahmen für die Wirtschaft schaffen - und
damit mehr, als der DIHK gefordert hat. Eine rein quantitative Betrachtung zeigt also, dass wir deutlich auf der
Gewinnerseite sind.
({1})
Ich gebe natürlich zu, dass es weitere Möglichkeiten
gibt. Der Normenkontrollrat benennt in seinem Bürokratieabbaubericht 338 mögliche Maßnahmen, die zu einer
Entlastung bei den Bürokratiekosten in Höhe von
7,1 Milliarden Euro führen. Diese Koalition hat bereits
Bürokratielasten in einem Umfang von 6,4 Milliarden
Euro abgebaut. Das ist angesichts der relativ kurzen Zeit
eine gute Ausbeute. Wir brauchen an dieser Stelle also
nicht allzu sehr bescheiden zu sein.
Im Vergleich zum Ersten Mittelstandsentlastungsgesetz werden mit diesem Mittelstandsentlastungsgesetz
etwas größere und sperrigere Oschis - um es einmal
westfälisch auszudrücken - gehoben. Ich nenne beispielsweise den Bereich der Handwerkszählung, wo
ganz erheblich Kosten eingespart werden. Es werden
auch Belastungen, die sich im Alltag von Unternehmen
ergeben, abgebaut. Wir haben zahllose Verordnungen,
die ausschließlich irgendwelchen Erhebungs- und Anmeldungszwecken dienen, schlicht und einfach ersatzlos
gestrichen. Wir haben Aufbewahrungsfristen beispielsweise für Makler und Bauträger deutlich verkürzt. Durch
Anhebung der Körperschaftsteuerfreibeträge haben wir
auch im materiellen Bereich etwas für die Unternehmen
getan. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die
Pauschalierung der Erstattung des Mutterschaftsgeldes
an die Krankenkassen. Es handelt sich um ein breites
Feld von Maßnahmen, mit denen Bürger und Wirtschaft
entlastet werden. Das sollte man nicht ohne Not kleinreden.
Natürlich bleibt noch eine Menge zu tun. Laut Bürokratieabbaubericht haben wir in Deutschland eine bürokratische Belastung in Höhe von insgesamt 47,6 Milliarden Euro. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Davon
entfallen 22,5 Milliarden Euro auf Vorschriften, die auf
nationaler Ebene vom Gesetz- oder Verordnungsgeber
erlassen wurden. 25,1 Milliarden Euro entfallen auf
EU-Vorschriften. Auf der nationalen Ebene des Bürokratieabbaus haben wir erhebliche Fortschritte gemacht; ich
habe gerade darüber berichtet. Ich bin zuversichtlich,
dass wir bis 2009 einen Abbau der Bürokratiebelastung
in Höhe von 12,5 Prozent und bis 2011 in Höhe von
25 Prozent locker erreichen.
Schwierig ist der Bürokratieabbau auf europäischer
Ebene, sozusagen ein Fall für Stoiber. Man muss einmal
schauen, wie er das Problem löst. Man kann noch nicht
viel erkennen. Seitdem man dort mit dem Bürokratieabbau angefangen hat, sind mit Blick auf Deutschland Bürokratiekosten in Höhe von 0,5 Milliarden Euro vermieden worden. Das ist eine ganz andere Größenordnung im
Vergleich zu dem, was wir auf nationaler Ebene erreicht
haben. Wir sollten also einen größeren Schwerpunkt auf
Europa legen; denn die europäische Gesetzgebung
nimmt immer mehr zu, was wiederum mehr Bürokratiekosten verursacht. Dagegen kommen wir mit unserem
Bürokratieabbau nicht an. Deswegen muss das deutsche
Parlament zukünftig stärker einen Blick auf Europa werfen.
Auch ich bin der Meinung, dass unnötiges Bremsen im
Wirtschaftskreislauf das wirtschaftliche Wachstum hemmen und sich in einer konjunkturell schwierigen Lage erschwerend auswirken. Deswegen ist ständiger Bürokratieabbau immer auch ein Konjunkturprogramm; das ist gar
keine Frage. Mit Blick auf unser neues Konjunkturprogramm bin ich als der SPD-Sachwalter des Vergaberechts
damit einverstanden, bestimmte Schwellen anzuheben,
um schneller Aufträge im Baubereich und in anderen Bereichen herauszugeben. Allerdings habe ich durchaus ein
schlechtes Gewissen dabei. Denn das Abschaffen von
Wettbewerb in bestimmten Bereichen führt nicht automatisch dazu, dass kleine und mittelständische Unternehmen
die Hauptnutznießer dieser Vergaben sind.
({2})
Wenn die freihändige Vergabe direkt über den Tisch
durch einen tiefen Blick ins Auge geregelt wird, dann
gucken die meisten beteiligten Wirtschaftskreise in die
Röhre. Deswegen muss man sich genau anschauen, wie
man mit dieser Regelung im Rahmen der Umsetzung des
Konjunkturprogramms umgeht.
Überhaupt ist es so, dass wir nicht sagen können, die
ideale Gesellschaft würde mit null Bürokratie auskommen. Wir verfolgen nämlich bestimmte politische Ziele.
Wir wollen selbstverständlich Umweltschutz. Diesen erreichen wir aber nicht dadurch, dass wir Unternehmen
freistellen, von Zeit zu Zeit zu melden, ob sie etwas in
den Rhein oder in die Spree eingeleitet haben. Das wird
man schon mit ordentlichen Nachweisen kontrollieren
müssen.
Man kann zwar darüber streiten, wie viele Steuereinnahmen der Staat braucht. Aber dass das Entrichten von
Steuern über eine formal ordentliche Art und Weise in
Form einer Steuererklärung oder in Form einer Steuerbilanz abzuwickeln ist, wird keiner - auch nicht Herr
Fuchs - bestreiten.
Die FDP sagt, das einfachste Steuerrecht, ein Steuerrecht ohne jeden Ausnahmetatbestand wäre das Ideale,
weil dadurch Bürokratiekosten gespart würden, obwohl
sie genau weiß, dass der größte Teil der Gesellschaft
dann sofort auf die Barrikaden gehen und sagen würde:
Das ist zutiefst ungerecht, weil unsere besondere Lebenssituation, weil die Situation meiner speziellen Branche usw. nicht hinreichend berücksichtigt worden ist und
wir bei einer reinen Pauschalierung abgebügelt werden.
Deswegen tun wir uns mit der Abwägung zwischen Vereinfachung und Steuergerechtigkeit ja so schwer. Das
wird man nie auf einen Nenner bringen können.
Auch bei der Diskussion über die Erbschaftsteuer ist
die FDP nicht besonders ehrlich: Sie kritisiert die Erb21522
Reinhard Schultz ({3})
schaftsteuer, weil sie zu bürokratisch ist, obwohl sie sie
eigentlich abschaffen will - das ist die eigentliche Linie
der FDP. Wenn man es für einen gerechten Ansatz hält,
dass der Staat bei hohen leistungslos erworbenen Vermögen zugreifen darf, zum Beispiel für Bildungszwecke,
man aber Ausnahmen für den Unternehmensübergang
schaffen will, ist das nicht ganz stimmig. Letzteres ist
natürlich nicht ganz einfach. Dafür braucht man Nachweise, und das ist nun einmal bürokratisch; das ist doch
gar keine Frage. Wir hätten auf die Ausnahmen auch
verzichten können. Das wäre zwar völlig unbürokratisch, wirtschaftspolitisch aber Blödsinn gewesen. Das
Gute ist eben manchmal mit Bürokratieaufwand verbunden. Das wird man nicht verhindern können. Es wäre
wunderbar, wenn wir von den 47,6 Milliarden Euro, die
in Deutschland für Bürokratie aufgewendet werden,
25 Prozent einsparen könnten. Dann blieben aber immer
noch 75 Prozent, von denen der größte Teil wahrscheinlich völlig gerechtfertigt ist, da er zum Funktionieren des
Gemeinwesens beiträgt. Eine Gesellschaft ohne jede Bürokratie ist nämlich eine anarchische Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Kollegin Sabine Zimmermann hat nun das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik steht vor
der tiefsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Wir hören
täglich neue Hiobsbotschaften. Diese Wirtschaftskrise
wird Hunderttausende kleine und mittlere Unternehmen
treffen.
Bereits im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Unternehmenspleiten auf fast 30 000. In der Mehrzahl handelte es sich um mittelständische Unternehmen. Für dieses Jahr wird ein Anstieg auf 35 000 vorhergesagt.
Betroffen von den Unternehmenspleiten wäre auch eine
halbe Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
diese Zahlen sind eine Bankrotterklärung für die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung.
({0})
Sie haben in der Vergangenheit nur auf den Export
und die Kostensenkung bei den Unternehmen gesetzt
und die Binnennachfrage sträflich vernachlässigt. Diesen Geist der gescheiterten Politik atmet auch dieses
Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Keiner hat etwas
dagegen, wenn doppelte Meldepflichten abgeschafft
werden sollen, wie dieser Gesetzentwurf es vorsieht.
Wichtiger ist aber eine ausreichende Anzahl von Aufträgen für die Unternehmen. Gerade auf diesem Gebiet hat
die Regierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Was soll das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz bewirken? Um durchschnittlich 30 Euro pro Jahr soll ein
einzelnes Unternehmen in Deutschland entlastet werden.
Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass die Unternehmen mit 30 Euro in die Lage versetzt werden, neue Arbeitsplätze zu schaffen bzw. vorhandene Arbeitsplätze
zu sichern? Ich glaube das nicht. Nein, diese Regierung
macht keine Politik, die der Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen wirklich hilft.
Das gilt auch für die aktuellen Maßnahmen. Stichwort: Kreditversorgung des Mittelstandes. 480 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung dem Bankensektor
mit dem Argument zur Verfügung, dass die Kreditversorgung der Wirtschaft dadurch am Laufen gehalten
würde. Fakt ist: Die Zahl der Unternehmen, die Probleme haben, Kredite zu bekommen oder laufende Kredite zu verlängern, steigt. Am Montag beklagte ein
Manager der staatlichen KfW-Bankengruppe, die Bundeskanzlerin kündige lautstark eine 15-Milliarden-Hilfe
für den Mittelstand an, tatsächlich bleibe dieses Kreditprogramm wegen Konstruktionsfehlern aber weitgehend
wirkungslos.
Die Regierung hat es versäumt, die Binnennachfrage
zu stärken. Die Krise trifft Deutschland deswegen stärker als die anderen EU-Staaten. Das ist in allen Blättern
zu lesen und in allen Medienberichten zu hören. Um
kleinen und mittleren Unternehmen zu helfen, muss die
volkswirtschaftliche Nachfrage jetzt deutlich gestärkt
werden.
({1})
Gemessen daran sind die Maßnahmen der Bundesregierung völlig unzulänglich und gehen in die falsche Richtung.
Die Linke fordert ein Investitionsprogramm von mindestens 50 Milliarden Euro für Schulen, für einen ökologischen Wandel und die Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Dies würde zahlreiche neue Aufträge für
kleine und mittlere Unternehmen bedeuten, und bis zu
1 Million Arbeitsplätze könnten so geschaffen werden.
({2})
Denn denken Sie daran: Der Mittelstand ist das Rückgrat
unserer Wirtschaft. Das sagen auch Sie immer, Herr
Schultz.
In diesem Sinne: Überdenken Sie Ihre gesamte Mittelstandspolitik im Interesse der kleinen und kleinsten
Unternehmen bei uns in Deutschland.
Danke.
({3})
Kerstin Andreae ist die letzte Rednerin, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In diesem Gesetzentwurf steht im Prinzip nichts
Falsches.
({0})
Wer hat etwas dagegen, wenn Sie Schausteller von der
Verpflichtung, ein Umsatzsteuerheft zu führen, befreien
oder die Anzeigenpflicht bei der Aufstellung von Automaten abgeschafft wird?
({1})
- Ja, das ist was.
Wir freuen uns auch, dass Sie das machen. Aber ich
sage Ihnen ganz ehrlich: Wer derartig kurz springt, bekommt die Zustimmung der Grünen nicht. Wir enthalten
uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf. Sie
springen beim Dritten Mittelstandsentlastungsgesetz absolut zu kurz.
({2})
Woran krankt das Maßnahmenpaket der Bundesregierung insgesamt? Wir beschließen jetzt das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Immer wieder fällt das Stichwort Normenkontrollrat, und immer wieder wird die
Notwendigkeit genannt - wir alle sehen sie mehr oder
weniger deutlich -, die Bürokratiekosten abzubauen.
Aber das Problem ist doch, dass Sie hinsichtlich der
Grundstruktur, der Architektur des Normenkontrollrates
von Anfang an derartig vehemente Fehler im Hinblick
auf Befugnisse und Zuständigkeiten, im Hinblick darauf,
was der Normenkontrollrat wirklich prüft, gemacht haben. Er prüft ja nicht die Gesetzentwürfe, die von den
Koalitionsfraktionen kommen, sondern nur die, die von
der Regierungsbank kommen.
({3})
Er prüft keine Gesetze von vor 2007. Zu manchen Gesetzen bekommen wir gar nicht die Stellungnahme des Normenkontrollrates; das Stichwort Gesundheitsfonds ist
gefallen. Die Erbschaftsteuerreform wurde dem Normenkontrollrat jetzt nur vorgelegt, weil wir es im Ausschuss beantragt und dafür Ihre Zustimmung bekommen
haben. Die Grundarchitektur des Normenkontrollrates
ist falsch. Das haben wir immer kritisiert; das kritisieren
wir auch an dieser Stelle.
({4})
Sie sagen zu Recht, dass Bürokratieabbau ein sinnvolles Konjunkturpaket ist. Ja, das finde ich auch. Wenn wir
uns anschauen, was andere Länder durch Bürokratieabbau für die Unternehmen tatsächlich gemacht haben,
dann sieht man, dass sie deutlich mehr als wir machen.
Schauen Sie sich einmal an, was die Niederlande und
Österreich machen. Dort gibt es ganz andere Zielmarken
und ganz andere Werte, die definitiv in einer Legislaturperiode erreicht werden. Sie haben fünf statt vier Jahre
angesetzt, damit man nicht mehr selber dafür zuständig
ist. Das macht kein anderes Land in der EU, nur
Deutschland hat gesagt: Wir brauchen eine Legislatur
plus ein Jahr, um den Bürokratieabbau um 25 Prozent zu
erreichen. Das ist zu wenig; das ist zu kurz gesprungen.
Ich rate Ihnen dringend, sich das einmal anzusehen.
Ein Redner aus der Koalition - ich glaube, es war Herr
Fuchs - hat auf das Verhalten der einzelnen Ressorts und
die damit verbundenen Schwierigkeiten hingewiesen. In
den Niederlanden gibt es das Prinzip, dass erstens die
Bürokratieabbauziele in den Haushaltsplan integriert
werden und dass zweitens die Minister einmal im Jahr
im Plenum zu der Erreichung ihrer Ziele Stellung nehmen müssen. Dann wird Bürokratieabbau konkret. Dann
kann man auch entscheiden, dass eine bürokratische
Maßnahme sinnvoll ist. Ich stimme dem Kollegen
Schultz zu, dass es zum Beispiel im Umwelt- oder Sozialbereich bürokratische Maßnahmen gibt, die notwendig sind. Aber hier Stellung zu beziehen und dies zu begründen, wäre sinnvoll. Das scheint mir eine sehr kluge
Maßnahme zu sein, die die Niederlande gewählt haben.
Ich empfehle Ihnen dringend, dies zu übernehmen.
({5})
Jetzt haben wir den Normenkontrollrat. Er hat im
Sommer 2008 seinen ersten Jahresbericht geschrieben.
Dort steht Folgendes: Die Bundesregierung muss so
schnell wie möglich die Messung der bestehenden Bürokratiekosten abschließen und spätestens bis zum Herbst
ein Gesamtkonzept zum Bürokratieabbau auf den Tisch
legen. Damit war der Herbst 2008 gemeint und nicht der
Herbst 2009. Ich frage mich: Wo ist denn dieses Gesamtkonzept? Wenn Sie dem Bürokratieabbau derartig die
Fahne halten, wie Sie es tun, und es als konjunkturpolitische Maßnahme deklariert befürworten, dann legen Sie
doch ein Gesamtkonzept vor, wie Sie sich das vorstellen,
und zwar nicht in Form kleiner Trippelschritte wie in
den Mittelstandsentlastungsgesetzen, sondern als ein
großes, umfassendes Konzept, aus dem hervorgeht, wohin es mit dem Bürokratieabbau gehen soll. Dann wären
wir auch dabei. Aber bei der Abstimmung über diesen
Gesetzentwurf können wir uns maximal enthalten.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Mittel-
standsentlastungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11622, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf der Drucksache 16/10490 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kollegen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ih-
ren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf
angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d so-
wie den Zusatzpunkt 1 auf:
6 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lebenslagen in Deutschland - Dritter Armutsund Reichtumsbericht
- Drucksache 16/9915 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Strategiebericht - Sozialschutz und
soziale Eingliederung 2008 bis 2010
- Drucksache 16/10138 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von
Armut und sozialer Ausgrenzung 2003 bis 2005
Implementierungsbericht 2005
- Drucksache 15/5569 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sozialbericht 2005
- Drucksache 15/5955 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Programm für ein selbstbestimmtes Leben
ohne Armut - Eine Neuformulierung des Dritten Armuts- und Reichtumsberichtes
- Drucksache 16/10654 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Zum Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache eine halbe Stunde dauern. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Klaus Brandner, der für die Bundesregierung in dieses Thema einführt.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Es trifft sich gut, dass diese Debatte über
den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht gerade in
dieser Woche auf der Tagesordnung steht. Denn die Beschlüsse, die im Konjunkturpaket II für Familien mit
niedrigen Einkommen gefasst wurden, stehen in der Tat
in einem engen Zusammenhang mit den Ergebnissen
dieses Berichts.
Reden wir also zunächst über die Fakten. Fakt ist:
Kinder sind in Deutschland vor allem dann einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, wenn sie in Haushalten von
Arbeitslosen, Alleinerziehenden oder Zugewanderten
groß werden. Zwar senken Sozialtransfers wie das Arbeitslosengeld II, das Kinder- und das Erziehungsgeld
die Armutsrisikoquote von Haushalten mit Kindern erheblich, im Jahre 2005 um fast zwei Drittel, von 34 auf
12 Prozent - im europäischen Vergleich stehen wir deshalb recht gut da -, dennoch ist der Anteil zu hoch und
zu Recht Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.
Im vergangenen Jahr wurde dazu vor allem über die
Höhe der Kinderregelsätze für Grundsicherungs- und
Sozialhilfeempfänger diskutiert. Sie wissen: Bisher wird
der Regelsatz für Kinder vom Verbrauch eines Alleinstehenden abgeleitet. Das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales hat dazu eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - EVS - aus dem
Jahre 2003 zum Konsum von Paaren mit einem Kind
durchgeführt. Diese hat gezeigt, dass die Leistungen für
Kinder im derzeitigen System mit zwei Altersstufen den
statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben entsprechen
und zum Teil sogar darüber liegen. Differenziert man jedoch stärker nach dem Alter der Kinder, dann lässt sich
erkennen, dass für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren
mehr verbraucht wird, als der bisherige Regelsatz von
60 Prozent des Eckregelsatzes abdeckt.
Dieser Befund war für die Bundesregierung Anlass,
unverzüglich zu handeln. Wir haben beschlossen, durch
die Einführung einer dritten Altersstufe übergangsweise
eine Anpassung bis zur nächsten turnusmäßigen Überprüfung der Regelsätze im Jahr 2010/2011 vorzunehmen. Die zusätzliche Altersstufe kann nun zusammen
mit der Anpassung der Regelsätze entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes zum 1. Juli 2009
wirksam werden. Dabei gehen wir gegenüber den Vorjahren von einer deutlich höheren Anpassung bei den
Renten aus.
Haushalte im Hilfebezug nach SGB II, also der Bereich der Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und Haushalte
im Hilfebezug nach SGB XII, also Bezieher der Sozialhilfe, erhalten damit in der gegenwärtigen konjunkturell
kritischen Phase zusätzliches Einkommen. Konkret geht
es neben der Anhebung entsprechend der Erhöhung des
allgemeinen Rentenwertes um 35 Euro mehr pro Monat
für etwa 820 000 Kinder. Das ist für die betroffenen
Haushalte, wie ich meine, eine spürbare Verbesserung.
Darüber freuen wir uns.
Darüber hinaus haben wir bereits zum 1. Januar dieses Jahres im Rahmen des Familienleistungsgesetzes das
Schulbedarfspaket auf den Weg gebracht. Wir sagen:
Kinder von Eltern mit geringem Einkommen dürfen gerade beim Bildungserwerb nicht benachteiligt werden.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, erhalten bedürftige
Schulkinder bis zum zehnten Schuljahr ab sofort jeweils
zu Schuljahresbeginn 100 Euro.
({1})
- Darüber können wir noch reden.
({2})
Schließlich ist an einem Ergebnis des vorliegenden
Berichts nicht vorbeizukommen: Die Chance, aus eigener Arbeit ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, ist und bleibt der Königsweg zur Bekämpfung von
Armut. Vor Armut schützen kann Erwerbstätigkeit aber
nur dann, wenn auch existenzsichernde Löhne gezahlt
werden und wenn aufgrund der Erwerbsarbeit kein Bedarf mehr an zusätzlichen sozialen Leistungen entsteht.
Deshalb wollen wir Mindestlöhne einführen.
Die Vereinbarungen der letzten Wochen haben uns,
wie ich finde, ein gutes Stück vorangebracht. Durch die
Aufnahme von sechs weiteren Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und dadurch, dass für Leiharbeiter im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Lohnuntergrenze eingezogen wird, werden über 1,7 Millionen
Beschäftigte mehr als bisher vor Dumpinglöhnen geschützt.
({3})
Meine Damen und Herren, für die Bekämpfung von
Armut gilt das Gleiche wie für den Weg durch die gegenwärtige Krise: Es bedarf einer Richtung, klarer Ziele
und der Mobilisierung aller Kräfte. Die Bundesregierung
leistet dazu ihren Beitrag - einen guten Beitrag, wie ich
finde. Davon bin ich überzeugt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, ist der nächste
Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Staatssekretär Brandner, ich finde, der Dritte Armuts- und
Reichtumsbericht und die im Zusammenhang damit stehenden Aktions- und Strategieberichte werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Das Kernproblem besteht
meiner Meinung nach darin, dass entscheidende Begrifflichkeiten nicht geklärt sind. Das führt im Ergebnis dazu,
dass die Armutsdebatte nicht objektiv, sondern sehr politisiert geführt wird. Den Betroffenen hilft das aber nicht.
Letztlich - das muss man ganz deutlich sagen - ist der
Dritte Armuts- und Reichtumsbericht ein Dokument des
Scheiterns von zehn Jahren sozialdemokratischer Sozialpolitik.
({0})
Der Reihe nach: Es ist der Bundesregierung bis heute
nicht gelungen, ein stimmiges Konzept zur Definition
des Armutsbegriffes vorzulegen. Damit fehlt die Basis
für eine präzise Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Durch unterschiedliche Definitionen von Armut - es gibt
eine regelrechte Armutsskala - wird eine sachliche Armutsdebatte erschwert.
Im Folgenden nenne ich Ihnen beispielhaft Nettowerte für eine alleinstehende Person: Das soziokulturelle
Existenzminimum 2008 lag bei 7 140 Euro. Der Steuerfreibetrag 2008 betrug, analog zum Existenzminimum,
7 664 Euro. Der durchschnittliche ALG-II-Zahlbetrag
lag bei 8 172 Euro. Die Armutsrisikogrenze betrug nach
dem Dritten Armutsbericht 9 372 Euro, nach dem
Zweiten Armutsbericht lag die Armutsrisikogrenze bei
11 256 Euro.
Daran sieht man: Die Armutsrisikoschwelle ist relativ
beliebig. Im Dritten Armutsbericht wurde sie für eine
Einzelperson bei einem Nettomonatseinkommen von
781 Euro festgelegt, im Zweiten Armutsbericht bei einem Nettomonatseinkommen von 938 Euro. Dieser Unterschied zwischen den Armutsrisikoschwellen beruht
im Wesentlichen darauf, dass selbstgenutztes Eigentum
im Zweiten Armutsbericht noch als Einkommenskompo21526
nente berücksichtigt wurde. Herr Staatssekretär, ich will
es einmal auf den Punkt bringen: Man hat den Eindruck,
dass es der Regierung eher darum geht, die Entwicklung,
die zwischen den Berichten stattgefunden hat, zu verschleiern, als darum, sie transparent und erkennbar zu
machen.
({1})
Es darf daher nicht verwundern, dass auch die Zahl
der vom Armutsrisiko Betroffenen beliebig ermittelt
wird: Für 2005 wurde im Dritten Armutsbericht nach einer neuen Methode ermittelt, dass 13 Prozent der Bevölkerung vom Armutsrisiko betroffen sind. Das DIW hingegen ermittelte für 2005 nach der bisherigen Methode
ein Armutsrisiko von 18 Prozent.
Für uns ist festzuhalten: Im Dritten Armuts- und
Reichtumsbericht wird sehr deutlich, dass die Mittelschicht in unserem Lande der wahre Verlierer von zehn
Jahren sozialdemokratischer Sozialpolitik ist.
({2})
Die Mittelschicht schrumpft. Die von Armut neu Betroffenen rekrutieren sich aus ebendieser Mittelschicht.
({3})
Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist von 1998 bis
2006 von 37,4 Prozent auf 41,7 Prozent gestiegen. Das
ist deswegen schlecht, weil Arbeitslosigkeit das größte
Armutsrisiko darstellt.
({4})
Insgesamt muss man sagen: Armut weitet sich aus, und
das, obwohl seit 1998 die gesamten staatlichen Sozialausgaben von 605 Milliarden Euro auf mehr als 700 Milliarden Euro jährlich gestiegen sind. Allein im Bundeshaushalt sind die Sozialausgaben von 93 Milliarden Euro
im Jahr 1998 auf 140,8 Milliarden Euro im Jahr 2008 gestiegen. Das, Herr Staatssekretär Brandner, führt zwingend zu dem Schluss, dass die bisherige sozialdemokratische Konzeption von Sozialpolitik nicht erfolgreich
gewesen ist.
({5})
Erwähnenswert ist, dass der Dritte Armuts- und
Reichtumsbericht Hinweise enthält, wie man sinnvolle
Sozialpolitik betreiben kann. Sie haben es ja gesagt: Der
beste Schutz vor Armut ist ein Arbeitsplatz,
({6})
am allerbesten ist natürlich eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung.
Ich halte es jedoch für falsch, Herr Brandner, wenn in
diesem Zusammenhang immer wieder die Zahl der sogenannten Aufstocker beklagt wird, derjenigen, die trotz
Vollzeitarbeit nicht genügend verdienen, um aus dem
ALG-II-Bezug herauszukommen. Wir wissen, dass in
Vollzeit - ich betone: in Vollzeit - Beschäftigte oft nur für
einen Übergangszeitraum ergänzenden Transfer benötigen - jedenfalls wenn nicht niedrige Qualifikation und
hohe Zahl von Kindern zusammentreffen.
Mir erscheint es wichtig, dass möglichst viele Menschen einen Anreiz haben, sich eine Vollzeitbeschäftigung zu suchen. Hier versagt die Bundesregierung. Sie
sorgt nicht dafür, dass die Anrechnungsmechanismen
beim ALG II in einem Sinne geändert werden, dass sich
hier etwas verbessert. Dabei wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass für Menschen mit
niedrigem Einkommen ein Anreiz besteht, eine Teilzeitbeschäftigung zu suchen und mit ALG II aufzustocken.
So kann es nicht verwundern, dass die Zahl der Aufstocker nicht sinkt.
({7})
Im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht ist explizit
festgehalten - das will ich hervorheben -, dass die Arbeitnehmerüberlassung eine positive Wirkung auf die
Beschäftigung hat, dass es keinen weitverbreiteten Trend
gibt, vollzeitbeschäftigte Stammarbeitnehmer durch
Leiharbeitnehmer zu ersetzen.
Zum Schluss will ich sagen: Die Erfahrung mit der Erstellung und mit den Inhalten des Armuts- und Reichtumsberichtes zeigt, dass die Politisierung nicht sachdienlich ist. Das Zustandekommen dieses Berichtes spricht
Bände: Der Bundesarbeitsminister ist in einer Bundespressekonferenz vorgeprescht, ohne zuvor die Abstimmung im Kabinett gesucht zu haben. Für mich besonders
interessant ist, dass die Passage mit den Mindestlöhnen,
die Sie, Herr Brandner, noch einmal hochgehalten haben,
bei der abgestimmten Version auf Druck des Wirtschaftsministeriums gestrichen wurde.
({8})
Offensichtlich gibt es in der Bundesregierung große
Meinungsunterschiede, wie zu verfahren ist. Ich bin der
Meinung, wir sollten den Armutsbericht von einem neutralen, externen Gremium, vergleichbar dem Sachverständigenrat, erstellen lassen. Das würde die Diskussion
vom Kopf auf die Füße stellen und uns in die Lage versetzen, statt zu politisieren objektiv über Lösungen des
Problems nachzudenken.
Danke schön.
({9})
Maria Michalk ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über den von der Bundesregierung vorgelegten Bericht „Lebenslagen in Deutschland“ und über
zur Bekämpfung der Armut erforderliche Strategien debattieren, dann tun wir das in einer Zeit, in der es der
drohenden Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken gilt. Wirtschafts- und Sozialpolitik bilMaria Michalk
den eine Einheit; deswegen ist die Anbindung unserer
vielfältigen Überlegungen an die vorangegangene Debatte nicht verkehrt.
({0})
Wir sind uns doch einig, dass der Erhalt und die
Schaffung von Arbeitsplätzen von fundamentaler Bedeutung dafür sind, dass die Zahl der Menschen, die zur
Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, weiter sinkt. Der jeweilige
Armutsbericht ist eine der vielen Grundlagen für unsere
laufenden und künftigen Entscheidungen. Der Dritte Armutsbericht beruht - das möchte ich betonen - auf der
Datenbasis der Jahre 2004 und 2005. Das muss man wissen, wenn man sich die Zahlen genau anschaut.
Außerdem ist er nicht mit den zwei vorhergehenden
Berichten vergleichbar, die wir kennen; denn es wurden
andere Statistiken zugrunde gelegt. Auch das gehört zum
Verstehen dieses Zahlenwerkes. Die wachstumsstarken
Jahre 2006 und 2007, in denen die Arbeitslosigkeit bekanntermaßen maßgeblich gesunken ist, sind hier also
überhaupt nicht berücksichtigt. Die Arbeitslosigkeit ist
dabei in allen Regionen gesunken. Das muss man an dieser Stelle auch noch einmal betonen.
Es ist trotzdem wertvoll, diesen Bericht, die Grafiken
und die Kombinationen bzw. Schlussfolgerungen, die
daraus gezogen werden, vorliegen zu haben und mit dem
aktuellen Stand zu vergleichen.
Ausgangspunkte der nationalen Strategien für den Sozialschutz und für die soziale Eingliederung sind also der
Bericht, die Folgen der eingeleiteten Maßnahmen und
letztlich auch der Vergleich auf europäischer Ebene. Es
ist mir wichtig, auch das noch einmal zu betonen. Nach
den einheitlichen europäischen statistischen Vorgaben ist
nämlich arm - so definiert es die EU -, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient. Das sind in Deutschland 781 Euro netto.
Im Vergleich dazu: Reich ist in Deutschland ein Alleinlebender, der im Monat netto mehr als 3 418 Euro zur
Verfügung hat. Für Familien mit und ohne Kinder gilt
die adäquate Relation.
Uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist wichtig,
die Menschen, die mit ihrem Arbeitslohn zwischen diesen beiden Eckdaten liegen, die sogenannte Mittelschicht, nicht zu vergessen. Hierin bin ich mir mit meinem Kollegen Herrn Kolb einig.
({1})
Vor allem sie gehören zu den Leistungsträgern, die sicherstellen, dass unser Sozialstaat als Ganzes möglich ist
und funktioniert.
In dem Bericht wird gesagt, dass nach dieser Definition 13 Prozent der Deutschen arm sind. Weitere 13 Prozent bewahrt der Staat durch seine Sozialleistungen davor, in diese Gruppe zu fallen. Deshalb verfolgen wir
zwei Strategien:
Erstens. Vermeidung der Armut durch Arbeit, besonders durch Qualifizierung und durch gezielte Vermittlungsbemühungen, die nun im Rahmen des kürzlich beschlossenen persönlichen Budgets sehr genau auf die
individuellen und sehr spezifischen einzelnen Erfordernisse ausgerichtet werden können.
Zweitens. Der nachsorgende Staat organisiert, wenn
das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe nicht fruchtet und
keine Wirkung zeigt, dass den Betroffenen in ihrer konkreten Situation - wenn es sein muss, auch auf Dauer durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Ländern
und Kommunen geholfen wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, angesichts
der Tatsache, dass wir nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Jahre 2005, einem der
beiden Basisjahre für diesen Dritten Armuts- und Reichtumsbericht, insgesamt rund 5 Milliarden Euro mehr für
die Menschen ausgegeben haben und die Ausgaben trotz
der in den Folgejahren sinkenden Arbeitslosigkeit weiter
gestiegen sind, und zwar nicht aufgrund irgendwelcher
Verwaltungskosten, sondern durch Maßnahmen direkt für
die Menschen, ist belegt, dass die Bundesrepublik die Armutsvermeidung sehr ernst nimmt, dass sich unsere Gesellschaft als Ganze nach wie vor sehr verantwortlich mit
dieser Frage auseinandersetzt und dass sie hilft. Deshalb
finde ich manche Debatte sehr polemisch. Ich füge allerdings persönlich hinzu: Die Debatte muss geführt werden; sie darf auch nicht bagatellisiert werden.
Es gibt Not in unserem Land. Das ist unstrittig. Ein
menschenwürdiges Dasein für alle zu schaffen, ist ein
hoher Anspruch, durch den der Staat berechtigterweise
gefordert wird. Das gilt aber auch für das Mittun des
Einzelnen. Dafür, in welcher Form sich jeder Einzelne
sein Leben organisieren kann, um auch persönliches
Glück und Freude zu spüren und zu erfahren, gibt es bekanntlich kein generelles Rezept, sondern nur Erfahrungen aus vielen Generationen vor uns, die allerdings, so
finde ich, auch heute noch ihre Gültigkeit haben, wenn
sich die Rahmenbedingungen rundherum auch verändert
haben. Die alte Volksweisheit „Jeder ist seines Glückes
Schmied“ gilt meines Erachtens auch in der modernen
Welt und in einem Sozialstaat.
Es ist nachvollziehbar, wenn in dem aktuellen Sozialreport 2008, den jüngst die Volkssolidarität vorgestellt
hat, festgestellt wird, dass Ostdeutsche nicht mehr Sozialleistungen, sondern mehr Chancengleichheit fordern.
Das ist ein qualitativer Unterschied. Sie wollen, dass das
solidarische Sozialsystem erhalten wird und gesichert
bleibt, nicht aber ausgeraubt und dadurch unbezahlbar
wird. Genau dies wohnt den Beschlüssen der letzten
Jahre inne, von den arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen bis hin zu den anderen Reformen in unserem sozialen Sicherungssystem.
Wenn ein Mensch zufrieden ist, findet er auch inneren
Frieden. Ist er unzufrieden, hat er ein riesiges Problem,
seinen inneren Frieden zu finden. Dies strahlt auf das
Umfeld aus, was der Stimmung in unserem Land nicht
zuträglich ist. Deshalb sind Aussagen darüber, wie zufrieden der Einzelne mit der eigenen wirtschaftlichen
Lage ist, sehr wertvoll. Hier nenne ich noch einmal die
Daten: Im Jahr 2008 bewerteten 2 Prozent ihre wirtschaftliche Lage mit sehr gut, 24 Prozent mit gut,
34 Prozent mit teils gut, teils schlecht, 22 Prozent mit
schlecht und 7 Prozent mit sehr schlecht. 29 Prozent also
meinen, ihre wirtschaftliche Lage sei schlecht. Das ist
für die Politik in der Tat eine Herausforderung.
Fragt man aber, wie es den Leuten in unserem Land
insgesamt gehe, meint mehr als die Hälfte, es gehe ihnen
schlecht. Die eigene Situation wird also positiver als die
gesamtgesellschaftliche bewertet. Dies ist ein Problem
für unsere nach dem System der sozialen Marktwirtschaft organisierte Gesellschaft, in der der psychologische Faktor ein ausgesprochen wichtiges Moment darstellt. Die negative Bewertung treffen vor allem die
mittleren Altersgruppen der 25- bis 60-Jährigen, die mit
einer Verschlechterung ihrer Zukunftschancen rechnen.
Dieses psychologische Moment müssen wir in unserer
Armutsdebatte berücksichtigen. Deshalb gilt es einerseits, die mittleren Altersgruppen nicht zu überfordern
- wir sagen: wer arbeitet, muss netto mehr in der Tasche
haben und gleichzeitig selbst für später Vorsorge
treffen -, andererseits sind unsere sozialen Sicherungssysteme auch mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter zu stabilisieren.
Nach der amtlichen Erhebung lag das Risiko der Gesamtbevölkerung, einkommensarm zu sein, im Jahre
2005 bei 26 Prozent vor den Sozialtransfers. Nach den
Sozialtransfers verringerte sich dieses Risiko auf einen
Anteil von 13 Prozent. Hier schließt sich wieder der
Kreis. Daher ist wichtig: Wir müssen jedem Bundesbürger die Möglichkeit bieten, in Arbeit zu kommen, weil es
auch um die gefühlsbezogene Dimension geht, er sei
Teil dieser Gesellschaft, könne sich einbringen und mit
seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreiten;
wenn es nicht reiche, gebe es wegen der Möglichkeit der
Aufstockung kein Armutsrisiko. Dies muss ausgebaut
und strategisch verfolgt werden. Arbeitsplätze zu schaffen ist wichtig; das ist unsere Aufgabe für die Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort erhält die Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
nun vorliegenden Armutsbericht haben wir es schwarz
auf weiß: Im Zeitraum von 1998 bis 2005 ist die Armutsrisikoquote von 12 Prozent auf 18 Prozent gestiegen, bei den Kindern sogar von 16 Prozent auf
26 Prozent.
({0})
Im Klartext heißt dies, dass jedes vierte Kind in diesem
Land vom Armutsrisiko betroffen ist.
Insofern ist dieser Armutsbericht natürlich ein Armutszeugnis für die rot-grüne Politik.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD,
mir wäre es auch lieber, ich könnte die Schuld an dieser
Stelle eher der CDU/CSU und FDP zuschieben.
({2})
Aber Fakt ist natürlich, dass dieser Bericht Analysen aus
den Jahren zusammenfasst, in denen Ihre Regierungspolitik zum Tragen kam.
Dieser Bericht ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass
es in der Sozialpolitik nicht einfach ein „Weiter so“ geben darf; vielmehr braucht es einen klaren Kurswechsel.
({3})
Doch was hat das zuständige Sozialministerium gemacht? Statt aus dem Armutsbericht Lehren zu ziehen,
hat das zuständige Sozialministerium bei der Veröffentlichung vor allen Dingen eines versucht: statistische
Trickserei. Sie haben einfach eine andere statistische Berechnungsmethode zugrunde gelegt, um die Armutsrisikozahl herunterzurechnen, nach dem Motto „Simsalabim - Die Armut verschwind!“ Kindern, die bei der
Schulspeisung leer ausgehen oder die sich im Schuloder Sportunterricht schämen, weil sie sich keine neuen
Turnschuhe leisten können, helfen Ihre statistischen
Tricksereien aber kein bisschen weiter.
({4})
Konkret hat das Sozialministerium unter Olaf Scholz
Folgendes gemacht: Statt wie bisher auf die allseits anerkannte Methode des Sozio-oekonomischen Panels zurückzugreifen, haben Sie auf einmal die Datenerhebung
nach EU-SILC zugrunde gelegt. In der Fachwelt ist aber
längst bekannt, dass EU-SILC nicht sehr repräsentativ
ist. Dabei erfolgt die Datenerhebung nur auf Grundlage
eines schriftlichen Fragebogens, der ausschließlich in
deutscher Sprache vorliegt. Es wird nur derjenige statistisch erfasst, der sich zurückmeldet. Das Ergebnis ist
kein Wunder. Dreimal darf geraten werden, wer sich
überproportional zurückmeldet: nämlich die Besserqualifizierten. Menschen mit niedrigerer Qualifikation oder
Migrationshintergrund sind nach dieser Methode deutlich unterrepräsentiert. Damit wird die Armut auf eine
unseriöse Art und Weise heruntergespielt.
Herr Brandner, Sie werden jetzt sicherlich einwenden,
dass die endgültige Ausgabe des Berichts beide Zahlen
- sowohl nach EU-SILC als auch nach dem Sozio-oekonomischen Panel - nennt. Fakt ist aber: In den Pressematerialien und in allen Veröffentlichungen führen Sie
immer nur die Armutsrisikozahl auf, die Ihnen persönlich lieber ist. Ich finde, diese Trickserei ist nicht mehr
seriös. Ich würde sogar sagen: Das sind Taschenspielertricks, die die Tricks der Hütchenspieler bei Weitem
übertreffen.
({5})
Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht zeigt
noch etwas: Armut und Reichtum sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Denn in demselben Zeitraum, in
dem die Armut gestiegen ist, hat auch der private Reichtum zugenommen. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis von staatlicher Reichtumspflege.
Uns Linken wird immer schnell unterstellt, wir würden eine Neiddiskussion anzetteln. Wir haben kein Problem damit, dass es Reichtum gibt, aber wir sehen tatsächlich ein politisches Problem, wenn sich der extreme
Reichtum Weniger aus der wachsenden Armut Vieler
speist.
({6})
Wir haben auch etwas gegen eine Steuerpolitik, die
die Reichsten entlastet und dafür die Mitte zur Kasse bittet. Steuergeschenke an die Reichsten entziehen der öffentlichen Hand Geld. Dieses Geld fehlt den Rentnerinnen und Rentnern, Erwerbslosen und Kindern. Diese
Form von staatlicher Reichtumspflege ist mit der Linken
nicht zu machen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Ich bitte um eine schnelle Einigung, weil es sonst auf
Kosten der Redezeit geht.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Stöckel hat vielleicht gleich noch die Gelegenheit, etwas wettzumachen. Denn bislang waren die Beiträge der Vertreterin und des Vertreters der Regierungskoalition sehr kleinteilig angelegt, ohne Blick für die
großen Trends und die generelle Entwicklung.
({0})
- Auch unter Rot-Grün. Das stelle ich gar nicht in Abrede.
Auch Ihnen muss es doch Sorgen machen, dass es in
den letzten Jahren einen Trend zur Polarisierung gegeben hat, und zwar in Form einer Ausweitung der Zahl
derjenigen, die unter der Armutsrisikoquote liegen, und
der Zahl derjenigen, die zu den oberen Einkommensbeziehern gehören. Das heißt, es gibt einen Zuwachs an
Reichtum und Armut und eine schrumpfende Mittelschicht.
Das ist der generelle Befund, der sich auch in den Jahren der Großen Koalition relativ ungebrochen fortgesetzt
hat und sich wahrscheinlich, so fürchte ich, in diesem
Jahr vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weiter
fortsetzen wird.
Insgesamt sind die Reallöhne kaum gestiegen. Allerdings verzeichnet das oberste Viertel der Erwerbsabhängigen einen Lohnzuwachs von 10 Prozent. Das untere
Viertel hat weit über 10 Prozent Einkommensverluste erlitten. Das sind die Trends und Fakten, die Sie beleuchten müssen. Natürlich muss man dann auch auf
bestimmte Entscheidungen aus der rot-grünen Regierungsperiode schauen und gegebenenfalls nachsteuern.
In keinem anderen Land gab und gibt es ein solch starkes Wachstum des Niedriglohnsektors wie in Deutschland. Die steigende Zahl der Aufstocker ist dafür ein Indiz und erfordert eine Korrektur.
({1})
Die von mir beschriebene gegensätzliche Entwicklung wird noch dramatischer und deutlicher, wenn man
sich die Zahlen bei den Markteinkommen ansieht, also
ohne Transfereinkommen, Kindergeld, Rente usw. Allein das oberste Zehntel derjenigen, die Einkommen auf
dem Markt, also Zinsen, Kapitaleinkünfte, Einkünfte aus
selbstständiger Tätigkeit und Einkünfte aus lohnabhängiger Arbeit, erzielen, erzielt 40 Prozent sämtlicher
Markteinkünfte. Im Kontrast dazu - mehr Zahlen will
ich dann nicht nennen -: Die untere Hälfte derjenigen,
die Markteinkommen erzielen, erzielt nur 3 Prozent aller
Markteinkommen. Das macht eines deutlich: Ihre These
lautet, der beste Schutz vor Armut sei ein Arbeitsplatz.
Wenn man allerdings mit dem Arbeitsplatz nichts verdienen kann, dann stellt er natürlich keinen Schutz vor
Armut dar. Das ist das Problem, vor dem wir heute stehen und auf das Sie keine politische Antwort gegeben
haben.
({2})
Noch ein anderer Aspekt, den ich wegen der Kürze
der Zeit nur anreißen kann. Wir konzentrieren uns in dieser Debatte sehr stark auf Einkommensgrößen und Einkommen. Ein Vorteil des nun vorgelegten Dritten
Armuts- und Reichtumsberichts, aber auch der vorangegangenen Berichte ist, dass Lebenslagen mit in den
Blick genommen wurden. Diese sollten wir in der Debatte berücksichtigen. Einkommensarmut, Migrationshintergrund, Kinderreichtum, Bildungsarmut, Gesundheitsprobleme und schlechte Wohnsituation überlagern
sich. Wir haben es mit einem komplexen und vielschichtigen Problem zu tun, das es nicht erlaubt, sich nur auf
die Einkommensgrößen zu konzentrieren. Deswegen
darf die Diskussion nicht nur über Bildung gehen. Vielmehr müssen wir uns alle Facetten, die gesamte Breite
der Lebenslagen, anschauen. Dazu habe ich von Ihnen
noch nichts gehört. Sie müssen dorthin gehen, wo es
wehtut, und versuchen, alle Lebenslagen in den Blick zu
nehmen.
Wir fordern einen Mindestlohn zur Bekämpfung der
Einkommensarmut und einen Zuschuss für die Sozialversicherungsbeiträge im unteren Einkommensbereich.
Wir wollen neue, öffentlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Wir wollen eine wirkungsvolle
und keine so zahnlose Erbschaftsteuerreform, wie Sie sie
durchführen. Wir wollen ein vernünftiges Programm für
Menschen mit Migrationshintergrund, um bei bestimmten Gruppen, die ein enormes Armutsrisiko haben, handeln zu können. Ich sage Ihnen: Handeln Sie! Armut ist
teuer. Ein Land wie dieses kann sich allein schon aus
ökonomischen Gründen nicht so viel Armut leisten. Armut ist eine Wachstumsbremse. Deswegen wäre ein Programm gegen Armut eines der wirksamsten Konjunkturprogramme.
Vielen Dank.
({3})
Nun hat der Kollege Stöckel das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Mit dem Dritten Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung wird die seit dem
Regierungsantritt der SPD im Jahre 1998 begonnene Bestandsaufnahme der sozialen Lagen in Deutschland fortgesetzt. Markus Kurth, es geht in der Tat um die gemeinsam beschlossenen Berichte, aber auch um die
gemeinsame Politik, zumindest bis 2005. Die Berichte
machen deutlich, dass wir hinsichtlich der Armut und
Ausgrenzung in Deutschland mit einer umfassenden
Politik für einen aktivierenden und vorsorgenden
Sozialstaat - diese haben wir 1998 mit Bundeskanzler
Schröder begonnen - auf einem richtigen Weg sind. Dieser muss weitergegangen werden, bis alle Ziele erreicht
sind.
Wenn wir die Armut und Ausgrenzung in Deutschland erfolgreich bekämpfen wollen, brauchen wir das
Verantwortungsbewusstsein und das Engagement nicht
nur der Politik, sondern der ganzen Gesellschaft, von
den Betroffenen bis hin zu den Eliten, von den Akteuren
der Zivilgesellschaft, den sozialen Dienstleistern, den
Bildungspraktikern, den Gewerkschaften bis hin zu den
Chefetagen der Unternehmen. Nicht nur der Bund, der
viele Lasten übernommen hat, nein, auch die Bundesländer müssen ihre Zuständigkeit für Kinderbetreuung,
Schulen und Jugendhilfe verantwortlich wahrnehmen
und vor allem dafür sorgen, dass strukturschwache
Kommunen, die überdurchschnittlich mit sozialen Problemen konfrontiert sind, eine ausreichende Infrastruktur gerade für sozial Schwächere zur Verfügung stellen
können.
Da sind wir in einer gesamtstaatlichen Verantwortung. Wir erwarten auch mehr konzertierte Aktionen der
föderalen Ebenen zur Armutsbekämpfung, neue Wege
und neue Förderansätze; denn der Bildungsgipfel reicht
unserer Meinung nach nicht aus. Angesichts der nach
wie vor hohen sozialen Selektion in unseren Schulen,
der mangelnden Förderung, Ausstattung und der oftmals
mangelnden Motivation ist es ein Hohn, wenn Sozialverbände fordern, dass wir in der Grundsicherung die Kosten für privaten Nachhilfeunterricht übernehmen sollen.
Wenn etwa einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter
von einem Gericht ein Unterhaltsanspruch zugesprochen
wird, weil ihr mangels eines ausreichenden Grundschulganztagsangebots nicht zuzumuten ist, zu arbeiten, dann
spricht das Bände und zeigt die eigentlichen Herausforderungen.
Das Problem der Verfestigung von Armuts- und Benachteiligungslagen, der mangelnden Teilhabe und der
Vererbung von Armut wird nicht dadurch gelöst, dass
wir uns allein auf Forderungen nach höheren sozialen
Leistungen beschränken. Ich befürchte sogar, dass die
Benachteiligungslagen dadurch eher verfestigt werden.
Wir müssen weiterhin den Anspruch aufrechterhalten
und daran arbeiten, dass die ursächlichen Strukturen, vor
allem auch die Mentalitäten und die leider immer noch
weit verbreitete Kultur der bloßen Verwaltung von Armut und sozialer Ausgrenzung verändert werden. Wenn
uns die Fachleute bestätigen - das geht aus dem Dritten
Armuts- und Reichtumsbericht hervor -, dass sich gut
verdienende und qualifizierte Eliten immer mehr gegen
sozial schwächere Gruppen abschotten, wenn wir trotz
eines nachweislich funktionierenden Sozialstaats - wir
haben das vorhin gehört -, trotz stetig steigender Sozialausgaben und besserer Rechtsansprüche immer mehr gefühlte soziale Ungerechtigkeit und Demokratieverdrossenheit feststellen, dann sind wir alle aufgefordert, nicht
nur darüber nachzudenken, sondern auch konsequent zu
lernen und zu handeln.
Wir haben deshalb in den vergangenen Jahren in der
Regierungsverantwortung viele neue Ansätze und gesetzliche Rahmenbedingungen entwickelt, angefangen
bei der Frühförderung über die Familienleistungen und
Ganztagsschulprogramme, eine anerkennende Einwanderungs- und Integrationspolitik, eine auf Qualifizierung
und Teilhabe orientierte aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die Programme für soziale Städte bis hin zur Neuorientierung in der Gesundheits-, Pflege- und Behindertenpolitik auf mehr Prävention, Barrierefreiheit, Inklusion
und Selbstbestimmung. Wenn man allein die Inhaltsangabe des Sozialberichts 2005 liest, bekommt man einen
umfassenden Überblick über die Vielzahl der Maßnahmen und ganzheitlichen Konzepte, die wir in den zurückliegenden Jahren getroffen bzw. gestaltet haben und
die ihre Wirkung auch zunehmend entfalten. Wir bekennen uns selbstbewusst zu den bereits erreichten Erfolgen, ohne die Defizite zu beschönigen oder zu bestreiten,
dass wir vieles noch nicht erreicht haben. Wir leugnen
auch nicht die Risiken der zukünftigen Entwicklung.
Wenn wir feststellen, dass in dem Berichtszeitraum
die Schere bei Einkommen und Qualifizierung, bei gut
bezahlter und prekärer Arbeit weiter auseinandergeganRolf Stöckel
gen ist, wenn trotz steigender Einkommen aus Privatvermögen und Produktivkapital das Armutsrisiko gewachsen ist, wenn wir feststellen, dass die Benachteiligung
gerade von Frauen bei Beschäftigung und Einkommen
nicht überwunden ist, dann bekommt doch die sozialdemokratische Forderung nach guter Arbeit, die Forderung
nach staatlichen Mindestlöhnen, fairen Bedingungen bei
der Leiharbeit und gleichen Löhnen für gleiche Arbeit
erst recht ihre Bedeutung und Begründung. Wir werden
auch im Rahmen der harten Verhandlungen in der Großen Koalition in Zukunft deutlich machen, dass wir noch
nicht alles erreicht haben, was wir uns vorstellen.
Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass die Datenbasis bis 2005 die konjunkturelle Entwicklung und ihre
Auswirkung auf die Lebenslagen bis heute, insbesondere
den eklatanten Abbau der Arbeitslosigkeit in den
Jahren 2006 bis 2008, noch nicht berücksichtigen
konnte. Andererseits ergeben sich aus der weltweiten Finanzkrise und ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft neue Risiken, insbesondere für die Schwächsten
in unserer Gesellschaft. All das können wir noch gar
nicht absehen.
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.
Ich versuche, zum Schluss zu kommen.
({0})
Sie dürfen es nicht nur versuchen, sondern Sie müssen ihn tatsächlich erreichen.
In dem Bericht der Bundesregierung und dem Vortrag
von Staatssekretär Brandner ist deutlich geworden, dass
die Maßnahmen des beschlossenen Konjunkturpakets in
das Politikkonzept passen. Wir begrüßen diese Maßnahmen. Wir haben den Anspruch, dass die Qualität der Daten für die Sozialberichterstattung verbessert wird. Es
sind dazu einige Vorschläge gemacht worden. Weiterhin
wollen wir die Vergleichbarkeit der Daten verbessern.
Wir wollen vor allem, dass auf Länderebene und auf
der kommunalen Ebene - hier findet der Alltag der Menschen statt - nicht nur Berichte zu den sozialen Lagen
und zur Armut erstellt werden, sondern dass diese auch
mit den Bundesberichten vergleichbar werden. Wir dürfen auch nicht vergessen: Noch wichtiger, als eine gute
Diagnose zu haben, ist es, die richtige Therapie, das
heißt eine wirksame Politik, zu haben, um die Praxis der
Armutsbekämpfung zu verbessern.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/9915, 16/10138, 15/5569, 15/5955
und 16/10654 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag
auf Drucksache 16/11637 soll an dieselben Ausschüsse
wie die Vorlage auf Drucksache 16/9915 überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 a und 7 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Wolfgang Nešković, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rehabilitierung für die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und Entschädigung der Verurteilten
- Drucksache 16/10944 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Kerstin Andreae, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der nach
1945 in Deutschland wegen homosexueller
Handlungen Verurteilten
- Drucksache 16/11440 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll hierzu
eine halbstündige Aussprache stattfinden, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Das ist
offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dr. Höll für die Fraktion Die Linke das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist höchste Zeit, dass wir uns um das Schicksal von
Frauen und Männern kümmern, denen unglaubliches
Unrecht geschehen ist und deren Menschenwürde zutiefst verletzt wurde.
1956 wurde der Medizinstudent Hans Z. in Hamburg
wegen Vergehens gegen den § 175 StGB in 15 Fällen zu
zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht betonte,
dass Z. die Männer, mit denen er Sex hatte - ich
zitiere -, „noch tiefer in ihr Laster hineingetrieben“
habe. Strafverschärfend war damals, dass Z. seine
Schuld nicht einsah. Nach 16 Monaten Haft wurde Z.
auf Bewährung entlassen. Er verlor seinen Studienplatz
und arbeitete fortan als Hafenarbeiter.
1960 wurde er an der Hochschule für Bildende
Künste angenommen. Aber 1964, kurz vor Abschluss
seines Studiums, wurde er erneut nach § 175 verurteilt,
diesmal zu einer fünfmonatigen Bewährungsstrafe. Sein
Stipendium wurde gestrichen, und er musste wieder im
Hafen arbeiten.
Der Versuch, als Taxifahrer sein Geld zu verdienen,
scheiterte schließlich daran, dass sich das Verkehrsamt
weigerte, einem zweimal wegen des § 175 Vorbestraften
die Lizenz zum Taxifahren auszustellen. Beim Verlassen
des Verkehrsamtes wurde Z. von einem Lkw erfasst; er
verstarb.
Das geschah im Deutschland der frühen Nachkriegszeit. Die Liebe von Mann zu Mann wurde strafrechtlich
verfolgt, und die Liebe zwischen Frauen war nicht lebbar. Das war in beiden deutschen Staaten so. Wie mussten sich da wohl überlebende schwule Männer, die während des Nationalsozialismus wegen ihrer Liebe ins KZ
geworfen und mit dem Rosa Winkel stigmatisiert wurden, fühlen?
Erinnern wir uns: In beiden deutschen Staaten galt
nach dem Krieg der von den Nazis verschärfte § 175 - in
der Bundesrepublik bis 1969, in der DDR bis 1950. Bestrafungen waren menschenverachtende Realität: Etwa
50 000 Männer wurden im Westen und etwa 3 000 im
Osten Deutschlands verurteilt. Wer nach dem § 175 verfolgt wurde, verlor oft seine berufliche und infolgedessen seine bürgerliche Existenz.
Das christliche Familienideal im Westen hieß für die
Frau: Kinder, Küche, Kirche. Der treusorgende Ehemann war der Ernährer. Besonders zwischen 1955 und
1965 wurden Zehntausende Männer im Westen dafür bestraft, dass sie Männer liebten. Frauen, die Frauen liebten, wurden zwar nicht strafrechtlich verfolgt, aber diskriminiert. Auch sie hatten keinen Platz in der
Gesellschaft. Sie gingen zum Schein Ehen ein, maskierten sich.
Aber: In beiden deutschen Staaten galt die Würde homosexueller Männer und lesbischer Frauen bis weit in
die 60er-Jahre nichts. Erst 1968 bzw. 1969 wurde der
§ 175 in beiden deutschen Staaten stark liberalisiert.
Zwar unterschied sich die Homosexuellenpolitik - im
Westen galt das christliche Familienbild, im Osten das
staatssozialistische Familienideal -, doch in beiden Staaten hatte die Liebe von Hans Z. wie auch die lesbische
Liebe keinen Raum.
Es war überfällig, dass der Bundestag im Jahr 2002
die im Nationalsozialismus ergangenen Urteile nach den
§ § 175 und 175 a mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege aufgehoben hat und die
Verurteilten damit rehabilitierte.
Meine Fraktion, die Linke, und ich sagen: Begangenes Unrecht wird nie ungeschehen gemacht werden können. Aber wir können und müssen uns bei den lesbischen und schwulen Opfern dieser Verfolgung und
Diskriminierung entschuldigen und ihnen sagen, dass
die Würde des Menschen unantastbar ist.
({0})
Ich fordere gleichermaßen, die schwulen Männer, die
strafrechtlich verurteilt wurden, zu entschädigen. Das
gebietet auch unser Rechtsverständnis. Deshalb fordere
ich Sie auf, unserem Antrag zu folgen.
({1})
Der Bundestag hat im Jahr 2000 fast einstimmig die
Strafandrohung gegen homosexuelle Bürger als „Verletzung der Menschenwürde“ gebrandmarkt. Es gab damals nur vier Gegenstimmen aus der CDU/CSU. Ich
denke, wir müssen heute, nach acht Jahren, den zweiten
Schritt wagen und diesen Worten, diesem wichtigen Bekenntnis, Taten folgen lassen.
Ich bedanke mich.
({2})
Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist schon x-mal
Gegenstand der Verhandlungen in diesem Hause gewesen. Ich selber habe im Jahr 2000, im März und im Dezember, sowie im Jahr 2002 dazu geredet. Es ist raufund runtersubsumiert worden. Es darf nicht der Eindruck
entstehen, als würden wir uns heute auf Anträge der beiden Oppositionsparteien hin, der Linken und der Grünen, zum ersten Mal damit beschäftigen. Das wäre reine
Geschichtsklitterung.
({0})
Bevor ich auf den Inhalt dieser Anträge eingehe, will
ich feststellen, auch das zum x-ten Mal, dass die Homosexuellen viele Jahre kriminalisiert, stigmatisiert und in
ihrer persönlichen Entfaltung aufs Gröbste behindert
worden sind. Frau Höll, Sie haben eben gerade noch die
Kurve gekriegt, indem Sie gesagt haben, im Jahr 2000
habe der Bundestag diese Verhaltensweisen fast einstimmig bedauert. Das kann ich heute wiederholen, das kann
ich morgen wiederholen, das können wir noch x-mal
wiederholen; es wird dadurch nicht besser.
Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Was macht eigentlich der Deutsche Bundestag? Ich erwähne das Prinzip
der Gewaltenteilung. Vor wenigen Tagen war die FestDr. Jürgen Gehb
veranstaltung „100 Jahre Deutscher Richterbund“. Da
saß auch der rechtskundige Herr Montag von Ihnen - Sie
sind ebenfalls da, Herr Wieland ({1})
und klatschte eifrig in die Hände, als Frau Limbach in
ihrer Festrede darlegte, was die Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten voneinander bedeutet.
Der Deutsche Bundestag hat grundsätzlich Gesetze zu
verabschieden,
({2})
sie vielleicht zu verändern und auch aufzuheben. Seine
Aufgabe ist nicht, rechtskräftige Urteile aufzuheben.
Mit Blick auf Sie, Herr Beck, tue ich jetzt einmal etwas, was ich ganz selten tue. Herr Präsident, ich bitte
Sie, mich von der Geschäftsordnungspflicht, in freier
Rede zu sprechen - das ist gängig in diesem Haus -, zu
entbinden und mir zu erlauben, etwas abzulesen und zu
zitieren.
Damit, dass gelegentlich auch Hilfsmittel für die eigene Rede verwendet werden, sind Präsidenten immer
schon großzügig gewesen.
Sehr schön.
Der Antrag, der heute vorliegt, ist übrigens in ähnlicher Form im Jahr 2000 von der PDS - oder wie hieß sie
damals? Sie wechseln ja so oft -, jedenfalls von den Linken schon einmal eingebracht worden,
({0})
damals allerdings mit einem Petitum, das deutlich hinter
dem jetzigen zurückbleibt. Damals wollten Sie nur aus
dem Bundeszentralregister die Vorstrafen getilgt haben,
aber nicht, wie jetzt, die Urteile aufgehoben haben. Die
Entschädigung wollten Sie schon damals. Da hat die
Bundesregierung, der die Grünen angehört haben - in
dem Zusammenhang habe ich auch den Namen Beck
({1})
gelesen -, Folgendes als Begründung angeführt:
Allerdings würde eine Aufhebung von nachkonstitutionellen Urteilen nach § § 175 … gravierenden
verfassungsrechtlichen Einwänden begegnen:
({2})
Aus dem in Artikel 21 Abs. 2 Satz 2 GG normierten
Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass jede der drei
Staatsgewalten grundsätzlich verpflichtet ist, die
von den beiden anderen Staatsgewalten erlassenen
Staatsakte anzuerkennen und als rechtsgültig zu behandeln. … [Das Rechtsstaatsprinzip] enthält als
wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung von
Rechtssicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens,
sondern auch einen Abschluss, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist …
Hier folgt ein Verweis auf eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung.
Stünden rechtskräftige Urteile zur Disposition des
Gesetzgebers, so wäre die Sicherheit des Rechts
nicht mehr gewährleistet.
({3})
Nun könnte man an dieser Stelle eigentlich aufhören
und sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich erlaube mir
aber die Frage: Warum ändern Sie Ihre Meinung? Waren
Sie damals der Meinung, oder waren Sie es nicht?
({4})
Was hat sich eigentlich seitdem rechtstatsächlich geändert? Wenn Sie nun auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahre
1981 rekurrieren, kann ich nur entgegnen: Der Beschluss
der rot-grünen Regierung ist zu einem Zeitpunkt ergangen, als die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs schon 20 Jahre in der Welt war. Ich weiß von daher,
was Sie wollen. Ihre Diskussion ist weniger dem Völkerrecht geschuldet - das ist so ein bisschen Taschenspielerei, mehr nicht - als vielmehr natürlich dem heraufziehenden Wahlkampf und der Konkurrenz zwischen zwei
Oppositionsparteien. Nichts anderem!
({5})
Übrigens müsste man dann ja nach Ihrer Auffassung folgerichtig auch alle anderen Gerichtsurteile, die auf materiellem Recht beruhen, das inzwischen aufgehoben worden ist, aufheben können. Was für ein Tohuwabohu
würde das ergeben!
({6})
Im Übrigen muss man sagen - auch wir haben das
1981 gesagt -: Im heutigen Lichte sieht das ganz anders
aus. - Aber 1957 hat das Bundesverfassungsgericht, das
Sie ja sonst immer so in den Himmel heben, die Verfassungsmäßigkeit des § 175 noch bestätigt. Das Recht unterliegt natürlich ständigem Wandel. Deswegen haben
wir unser Bedauern ausgesprochen, und das ganze Haus
hat gesagt, wie es ist. Nur: Die Aufhebung von Urteilen
geht nicht.
Anstatt sich also auf solchen Nebenkriegsschauplätzen zu verheddern, Herr Beck, hätten Sie viel eher die
UN-Initiative unterstützen sollen, die unter der französischen Ratspräsidentschaft ergriffen worden ist, nämlich
eine weltweite Entkriminalisierung der Homosexuellen,
({7})
oder sich um kollektive Wiedergutmachung bemühen
sollen. Ich nenne nur das Stichwort Magnus-HirschfeldStiftung, für die ich mich ja hier eingesetzt habe. Das
Ganze ist an einer Person gescheitert, die ihren Platz bei
den Grünen hat. Damit müssen Sie fertig werden. Das
wäre ein lohnenswerter Ansatz gewesen. Den können
wir ja vielleicht wieder aufnehmen, anstatt hier die Aufhebung von Gerichtsurteilen durch die erste Gewalt zu
fordern.
Meine Damen und Herren, damit soll es sein Bewenden haben.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg
van Essen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Kollege Gehb hat viele der Gedanken
angesprochen, die ich in meinem Beitrag hier auch vortragen wollte.
Anfang der 90er-Jahre war ich Berichterstatter des
Deutschen Bundestages, als wir den § 175 viel zu spät
aufgehoben haben. Ich war auch Berichterstatter im
Jahre 2000, als wir uns einvernehmlich darauf geeinigt
haben, hinsichtlich des nachkonstitutionellen Rechts der
Bundesrepublik Deutschland eine andere Vorgehensweise als bei den Terrorurteilen des Naziregimes zu
wählen. Uns war es nämlich wichtig, beides unterschiedlich zu behandeln. Ich lege weiterhin Wert darauf, dass
wir das auch tun.
Ein zweiter Punkt, der mir bei der Betrachtung des
Sachverhaltes ganz außerordentlich wichtig ist: In meinem Beruf als Oberstaatsanwalt habe ich sehr viele Urteile aus den 50er-Jahren gesehen. Ich muss gestehen,
dass mir die Haare nicht nur bei den Urteilen nach § 175
zu Berge gestanden haben, sondern ich feststellen
musste, dass auch in vielen anderen Bereichen Urteile
gefällt worden sind, für die wir uns heute ehrlich schämen müssen. Ich will nicht nur die homosexuellen Menschen ansprechen, sondern in diesem Zusammenhang
beispielsweise auch den Straftatbestand der Kuppelei.
Schaut man sich einmal an, welche Urteile in diesem
Zusammenhang ergangen sind und welche gesellschaftliche Ächtung aufgrund dieses Paragrafen stattgefunden
hat, kommt man nicht umhin, zu sagen: Auch dafür müssen wir uns schämen.
({0})
Wer in diesem Zusammenhang eine Entscheidung
trifft, muss sich fragen lassen - gerade weil homosexuelle Menschen zu Recht sehr viel Wert darauf legen, dass
sie gleich behandelt werden -, warum wir hier gegebenenfalls eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen
herbeiführen, die beispielsweise wegen Verstoßes gegen
den Kuppeleiparagrafen verurteilt worden sind. Das
müssen sich heute auch alle Antragsteller fragen lassen.
Von daher rate ich uns, die Fragen - es stellen sich
viele Fragen; einige haben Sie angesprochen - in einem
Berichterstattergespräch sehr sorgfältig zu erörtern.
Mir liegt aber sehr daran - auch Sie haben es getan,
Herr Gehb -, bei der heutigen Debatte noch einmal das
zu wiederholen, was wir im Jahre 2000 Gott sei Dank
einvernehmlich im Bundestag erklärt haben. Die damalige Botschaft war außerordentlich wichtig. Es gab nur
sehr wenige Gegenstimmen. Der Bundestag hat mit ganz
großer Mehrheit festgestellt: Die Menschenwürde der
homosexuellen Menschen ist in der Bundesrepublik verletzt worden - nicht nur in der Bundesrepublik, sondern
in gleicher Weise auch in der DDR; Sie haben ja entsprechende Beispiele angeführt, Frau Höll.
Auf der einen Seite muss es die Grundlage unserer
Beratungen sein, dass wir uns der Verantwortung gegenüber diesen Menschen bewusst sind.
Auf der anderen Seite haben wir uns gerade auch im
Interesse der homosexuellen Menschen, die Wert auf
Gleichbehandlung legen, immer wieder zu vergewissern,
dass wir die Rechtsprinzipien unseres Staates nicht einseitig zugunsten einer Gruppe verändern.
Für meine Fraktion will ich den Menschen, die viel
erlitten haben, noch einmal unseren großen Respekt aussprechen. Deshalb werden wir die Diskussion über diese
Fragen verantwortungsbewusst führen.
Ich bleibe aber dabei: Wir haben das auch im Jahr
2000 getan. So, wie wir es im Jahr 2000 entschieden haben - das ist meine heutige Bewertung -, haben wir sehr
richtig gelegen.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. CarlChristian Dressel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, mich in weiten Teilen meinen geschätzten
Vorrednern Herrn Kollegen van Essen und Herrn Kollegen Gehb anschließen zu können.
Herr Kollege Gehb hat den richtigen Schwerpunkt gesetzt. Was wir jetzt tun können, ist, über Entschädigungen zu reden. Ich würde mich freuen, wenn gerade Sie
von den Grünen mit uns im Rechtsausschuss noch einmal intensiver über dieses Thema sprächen.
Wir wissen, dass es infolge der Verurteilungen aufgrund der Rechtssituation, wie wir sie bis 1969 in der
Bundesrepublik Deutschland hatten, immer noch sehr
viele traumatisierte Menschen gibt. Diesen Menschen zu
helfen und ihnen auch klarzumachen, dass sie unsere
Unterstützung haben, muss unser gemeinsames Ziel
sein.
Wir wissen: Niemand ist unfehlbar, auch der Rechtsstaat nicht. Der Rechtsstaat maßt sich auch nicht selbst an,
unfehlbar zu sein. Auch das Bundesverfassungsgericht ist
kein unfehlbares Verfassungsorgan, sondern ein Organ,
das dem Werteverständnis der Gesellschaft ebenso unterworfen ist wie alle anderen Verfassungsorgane. Daher ist
es vor 50 Jahren leider zu Entscheidungen gekommen,
die in den 60er-Jahren durch gesetzgeberisches Handeln
korrigiert und in den 90er-Jahren endlich auf eine vernünftige Position gestellt wurden.
Die Zielrichtung, die Diskriminierung homosexueller
Menschen in Deutschland zu beenden, verfolgte bereits
im Jahre 1922 der Radbruch’sche Entwurf für ein neues
Strafgesetzbuch. Dieser scheiterte an den Feinden der
Weimarer Republik.
1969 hatten wir endlich die Zielrichtung einer Reform.
Mit der eingetragenen Lebensgemeinschaft und dem
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben wir zu guter Letzt Gleichberechtigung im Partnerschaftsbereich
erreicht - seit 1. Januar dieses Jahres mit der Neuerung,
dass Lebenspartnerschaften genauso wie Ehen in allen
Ländern vor einem Standesbeamten geschlossen werden
können.
Ihnen von den Grünen unterstelle ich durchaus, dass
Sie etwas für die betroffenen Menschen tun möchten.
Daher rufe ich Sie nochmals auf: Unterhalten Sie sich
mit uns über das Thema Entschädigung! Allerdings
möchte ich Ihnen gern noch einen Hinweis auf das Prinzip der Gewaltenteilung geben. Da Sie in Ihrem Antrag
formulieren, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen und
die entsprechenden Urteile aufzuheben, muss ich Ihnen
sagen: Es ist weder Aufgabe des Deutschen Bundestages
noch Aufgabe der Bundesregierung, Urteile aufzuheben.
Und das ist gut so.
({0})
Wir sind keine Superrevisionsinstanz. Zum Glück haben
wir unabhängige Gerichte.
({1})
Die Bundesregierung ist nicht berufen, Urteile von unabhängigen Gerichten zu beurteilen.
({2})
- Herr Kollege, angesichts der Tatsache, dass Sie diese
Forderung in Ihren Antrag hineinschreiben, muss ich sagen, dass Sie das, was an dieser Stelle in den Jahren
2000 und 2002 wiederholt ausgeführt worden ist, nicht
begriffen haben. Als es in der laufenden Wahlperiode um
die Aufhebung von nachkonstitutionellen Urteilen ging,
haben wir wiederholt hier ausgeführt, dass es der Grundsatz der Gewaltenteilung auch in der Fassung, in der ihn
das Bundesverfassungsgericht formuliert, grundsätzlich
verbietet, dass eine Staatsgewalt die Handlungen einer
anderen Staatsgewalt, insbesondere die der Justiz, beeinflusst.
Man kann nicht oft genug auf die Erklärung hinweisen, die der Deutsche Bundestag im Jahr 2000 abgegeben hat. Ich zitiere wörtlich:
Der Deutsche Bundestag bekräftigt seine Überzeugung, dass die Ehre der homosexuellen Opfer des
NS-Regimes wiederhergestellt werden muss. Der
Deutsche Bundestag bedauert, dass die in der NSZeit verschärfte Fassung des § 175 im Strafrecht
der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert in Kraft blieb. In beiden Teilen Deutschlands
wurde eine Auseinandersetzung mit dem Verfolgungsschicksal der Homosexuellen verweigert.
Ich füge hinzu: Wichtig war, dass wir die Liberalisierung des Sexualstrafrechts bis 1994 - leider viel zu spät;
da stimme ich Ihnen, Herr van Essen, zu - umsetzen
konnten. Wichtig war auch, dass sich der Deutsche Bundestag dahin gehend geäußert hat, dass die frühere
Rechtssituation falsch war. Ich sage weiterhin: Wichtig
ist es, darüber zu sprechen, wie wir den betroffenen und
teilweise noch heute traumatisierten Menschen helfen
können. Wir sollten aber nicht ein halbes Jahr vor dem
nächsten Wahltag Schaukämpfe aufführen. Ich fordere
Sie zu einer ernsthaften Auseinandersetzung auf.
Mit Blick in Richtung PDS sage ich: Wenn ich höre,
dass man in der DDR etwas liberalisiert hätte, dann stellen sich auch mir die Nackenhaare auf. Denn in Bezug
auf diesen Staat kann ich nicht von Liberalisierung sprechen.
({3})
Meine Damen und Herren von den Grünen, diskutieren Sie ernsthaft mit uns! Es geht uns um die Menschen
und um die Sache. Ich hoffe, bei Ihnen ist es ebenso.
Danke sehr.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege Dressel, Sie wissen: Für ernsthafte Gespräche stehen wir, auch wenn es nur um kleine Fortschritte in der Sache geht, immer zur Verfügung. Den
von Ihnen angesprochenen Punkt Entschädigung finden
Sie in unserem Antrag wieder. Wir fordern darin, all den
Menschen, die in der Bundesrepublik oder in der DDR
wegen ihrer Homosexualität verfolgt und auf menschenrechtswidrige Art und Weise von diesen Staaten gepeinigt wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihnen diesen Schaden mit Entschädigungszahlungen
auszugleichen.
({0})
Volker Beck ({1})
- Nein: individuelle Entschädigung! Das ist ein ganz
wichtiger Punkt. Ich unterstütze Sie darin, an dieser
Stelle voranzukommen. Wir können sicherlich ein gutes
Ergebnis erreichen.
({2})
- Das ist unwahr! Und um individuelle Entschädigung
ging es bei dieser Stiftung damals gar nicht. Man muss
doch zuallererst den Betroffenen helfen!
({3})
- Wir unterstützen kleine Fortschritte. Deshalb bin ich
dafür, dass wir weitermachen.
({4})
- Frau Präsidentin, ich glaube, ich habe überwiegend das
Wort.
Ich denke, dass Ihre Begründung für die Ablehnung
einer Rehabilitierung nicht greift. Es geht ja nicht darum,
die Urteile mit der Begründung aufzuheben, dass die Gerichte Fehlurteile aufgrund einer belastbaren gesetzlichen Grundlage gefällt haben, sondern es geht darum,
dass die Gerichte auf Basis eines durch den Gesetzgeber
geschaffenen bzw. vom Bundestag belassenen Gesetzes
geurteilt haben, das in seiner Substanz menschenrechtswidrig war.
({5})
Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dreimal gesagt, und auch der UN-Menschenrechtsausschuss in Genf hat sich im Fall Toonen gegen
Australien zum Zivilpakt entsprechend geäußert.
({6})
Deshalb sollten wir das als Bundestag auch endlich sagen.
({7})
Wir hatten übrigens mit den gleichen Argumenten zu
tun - Sie waren noch nicht dabei -, als wir die NSUrteile nach § 175 aufgehoben haben. Damals hat uns
das Justizministerium zunächst gesagt, das gehe nicht,
weil das Bundesverfassungsgericht 1957 gesagt habe,
dieser Paragraf sei kein spezifisches NS-Unrecht.
({8})
Wenn man sich anschaut, was das Verfassungsgericht in
seiner Begründung seinerzeit formuliert hat - das ist
herzallerliebst -, dann sieht man, dass das keinen Bestand haben kann. Mit Erlaubnis der Präsidentin will ich
zitieren.
({9})
In dem Urteil heißt es so schön:
Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende
und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin …
Zieht man dazu die größere geschlechtliche Aggressivität des Mannes in Betracht, so macht schon das
evident, daß die Gefahr der Verbreitung der Homosexualität beim Manne weit größer ist als bei der
Frau.
Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich
schon durch ihren Körper daran erinnert, daß das
Sexualleben mit Lasten verbunden ist … So gelingt
der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen.
({10})
So das Bundesverfassungsgericht. Mit dieser Begründung hat man damals geurteilt. Ich bin froh, dass die
Verfassungsrichter heute genauso klar wie der Bundestag sagen: Da hat sich dieses Organ geirrt. - Deshalb ist
es auch kein Affront gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, wenn wir sagen: Die Rechtslage von damals war
Unrecht. Daher können die Urteile keinen Bestand haben. Den Menschen muss konkret und individuell geholfen werden.
({11})
Die Bilanz war einfach schrecklich. Ich will nur eine
Aktion nennen. In Frankfurt hat in den 50er-Jahren eine
Verfolgung Homosexueller stattgefunden, die man wie
folgt zusammengefasst hat:
Ein Neunzehnjähriger springt vom Goetheturm,
nachdem er eine gerichtliche Vorladung erhalten
hat, ein anderer flieht nach Südamerika, ein weiterer in die Schweiz, ein Zahntechniker und sein
Freund vergiften sich mit Leuchtgas. Insgesamt
werden sechs Selbstmorde bekannt. Viele der Beschuldigten verlieren ihre Stellung.
Ich finde, diesen dramatischen Ausschnitt aus der Realität unserer frühen Republik sollten wir zum Anlass
nehmen, um den Betroffenen endlich Recht widerfahren
zu lassen. Ich hoffe, wir kommen im Berichterstattergespräch weiter.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10944 und 16/11440 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes
zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 16/11609 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Atomgesetzes hat zwei Schwerpunkte.
Zum Ersten soll der Schutz kerntechnischer Anlagen und
der Schutz von Transporten radioaktiver Stoffe gegen
unbefugte Handlungen verstärkt werden. Zum Zweiten
- das hat die Öffentlichkeit in den letzten Tagen insbesondere in der betroffenen Region sehr beschäftigt - soll das
Bundesamt für Strahlenschutz auch per Gesetz mit der
Aufgabe betraut werden, die Schachtanlage Asse stillzulegen. Deshalb liegt Ihnen der neue § 57 b des Atomgesetzes vor, der ausdrücklich festlegt, dass für die Stilllegung der Schachtanlage Asse - nur darum geht es in der
Zukunft - die atomrechtlichen Vorschriften für Anlagen
des Bundes zur Endlagerung radioaktiver Abfälle anzuwenden sind. Das heißt, dass es für den notwendigen
Weiterbetrieb bis zur Stilllegung der Asse keines Planfeststellungsverfahrens nach § 9 b des Atomgesetzes einschließlich der dort vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung bedarf. Weiter ist mit der Novelle klargestellt, dass
das Bundesamt für Strahlenschutz, das auch die übrigen
Endlagerprojekte des Bundes betreut und über die entsprechende Fachkompetenz verfügt, auch für die Stilllegung der Asse zuständig ist.
In den letzten Tagen ist - auch durch Bemerkungen
beispielsweise der von mir ansonsten sehr geschätzten
Kollegin der Grünen aus dem Europäischen Parlament,
Frau Rebecca Harms - der Eindruck erweckt worden,
der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf würde mit dem Begriff „Stilllegung der Asse“ nicht die Option der Rückholung der dort eingelagerten rund 126 000 Fässer
Atommüll beinhalten. Ich muss das hier ausdrücklich
zurückweisen. Selbstverständlich lässt die Stilllegung
der Asse, so, wie wir sie jetzt im Atomgesetz festlegen,
alle Optionen offen. Ich kann nur davor warnen, das,
was in der Vergangenheit getan wurde, nämlich politische Vorgaben für das zu machen, was in der Asse zu geschehen hat, jetzt fortzusetzen und bloß die Vorzeichen
zu ändern.
Es geht darum, zu klären, welche Maßnahmen zur
Stilllegung der Asse für Mensch und Umwelt langfristig
die größtmögliche Sicherheit gewährleisten.
({0})
Wenn es uns möglich ist und wenn es langfristig die
beste Sicherheit für Mensch und Natur bedeutet, werden
wir den Atommüll aus der Asse selbstverständlich herausholen.
({1})
Aber es ist nicht fair, jetzt den Eindruck zu erwecken, als
könnte man dies bereits heute tun. Deswegen bitte ich
herzlich, dass wir gegenüber der Bevölkerung redlich
bleiben. Wir versuchen das; alle Institutionen arbeiten an
dieser Frage. Aber diese Frage ist schlicht und ergreifend zum heutigen Tag nicht zu beantworten. Allerdings
lege ich Wert auf die Feststellung, dass das jetzige
Atomgesetz für den Fall, dass es uns gelingt und es die
sicherste Methode ist, selbstverständlich die vollständige
Rückholung des Atommülls aus der Asse möglich
macht.
Lassen Sie mich ganz kurz zu zwei derzeit in der Öffentlichkeit diskutierten Kritikpunkten an der Sicherheit
der Asse Stellung nehmen. Das Erste betrifft die Frage
eines weiteren Einsturzes in einer Einlagerungskammer.
Ich sage hier deutlich, dass das Bundesumweltministerium das Bundesamt für Strahlenschutz in seiner Auffassung unterstützt, dass wir nicht zu einer schnellen Verfüllung dieser Kammer kommen sollten, sondern dass
wir andere Maßnahmen ergreifen müssen. Bei einem
Einsturz kann es passieren, dass die Druckwelle so groß
wird, dass der bisherige Pfropfen, der verhindert, dass
radioaktive Aerosole austreten, zerstört wird. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um ein solches Austreten zu
verhindern. Aber wir dürfen jetzt keine Maßnahmen ergreifen, die eine spätere Rückholung unmöglich machen.
Das ist unsere Position. Wir halten das für absolut richtig.
({2})
Zweitens. Dass es dort offensichtlich Einlagerungsbehälter gibt, bei denen immer noch nicht klar ist, welche
Stoffe dort im Jahr 1971 eingelagert worden sind - die
Behälter, die dort gefunden worden sind, enthalten Zinkkästen, andere sind bleiummantelt -, zeigt nochmals,
dass zum damaligen Zeitpunkt relativ fahrlässig mit diesem Thema umgegangen wurde. Mich wundert, dass
diese Behälter im Statusbericht des Niedersächsischen
Umweltministeriums nicht erwähnt worden sind. Das
zeigt, wie sorgfältig wir mit dem Thema umgehen müssen.
Ich halte allerdings auch nichts davon, dass wir jetzt
in die Öffentlichkeit alle möglichen Spekulationen tragen. Das Bundesamt für Strahlenschutz ist sich nicht sicher, woher diese Stoffe kommen. Es gibt durch die Befragung ehemaliger Mitarbeiter Hinweise, die das klären
können. Aber eine absolute Sicherheit haben wir noch
nicht. Wir gehen dem weiterhin nach. Ich finde, wir
müssen beim Umgang mit der Asse ein Höchstmaß an
Transparenz gewährleisten, aber auch immer klar sagen,
dass wir mit Vermutungen nicht viel weiterkommen.
Vielmehr brauchen wir qualifizierte Arbeit; daran, dass
sie dort geleistet wird, habe ich keinen Zweifel.
Von daher bitte ich herzlich darum, dass wir die Novelle zum Atomgesetz schnell beraten mögen. Wir haben
uns damit keinerlei Optionen verbaut, aber wir haben absolute Rechtssicherheit geschaffen. Ich glaube, das ist im
Interesse aller.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nun hat der Kollege Horst Meierhofer für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir Liberale sind davon überzeugt, dass die Sicherheit
der Bevölkerung in jeglichem Zusammenhang, was
kerntechnische Anlagen und deren friedliche Nutzung
betrifft, an oberster Stelle steht. Das gilt selbstverständlich auch für die Asse.
Wir sind daher der Meinung, dass man mit dem Gesetzentwurf etwas Vernünftiges auf den Weg bringt. Wir
werden das konstruktiv begleiten. Wir sind auch damit
einverstanden, dass sich das BfS und das Umweltministerium mit Ihnen an der Spitze, Herr Minister Gabriel,
dafür einsetzen werden, dass die nötige Transparenz geschaffen wird. Das hat mich an Ihren Ausführungen am
meisten gefreut. Es ist zum einen deshalb wichtig, damit
das Vertrauen, das an der einen oder anderen Stelle verloren ging, wieder zurückgewonnen werden kann. Es ist
zum anderen wichtig, damit nicht durch irgendwelche
Vermutungen und Anmerkungen von interessierten Kreisen - Sie haben es angesprochen - Halb- oder Unwahrheiten verbreitet werden, die etwas gefährden, was gar
nicht gefährdet zu werden braucht.
({0})
2008 hat es verstärkt seismische Ereignisse gegeben.
Das muss in der Tat untersucht werden. Es wird daraus
geschlossen, dass die Sohle auf 750 Meter akut einsturzgefährdet ist. Da dort etwa 6 000 Fässer mit radioaktivem Abfall lagern, ist es wichtig, dass genau untersucht
wird, was dort passiert. Das ist selbstverständlich, und es
wirft viele Fragen auf, die beantwortet werden müssen.
Ich glaube allerdings nicht - das werden wir vermutlich später noch von der Kollegin Kotting-Uhl von den
Grünen hören -, dass diese Fragen im Rahmen einer Anhörung geklärt werden können. Vielmehr müssen sie
vom BfS geklärt werden, weil das BfS dafür zuständig
ist. Nun ist es das Wichtigste, dass man nicht nur konkret, korrekt und richtig handelt, sondern dass man auch
schnell handelt, weil die Gefahren zum Teil als ernst eingeschätzt werden. Es geht nicht darum, ein Politikum
daraus zu machen; vielmehr müssen wir die Fragen, die
sich ergeben, denjenigen stellen, die dafür zuständig
sind.
({1})
Ich nenne ein paar Fragen, die wir stellen wollen bzw.
stellen müssen. Wie sieht es mit der Standfestigkeit des
Grubengebäudes aus? Ist sie bis 2014 und darüber hinaus gegeben, oder müssen die Einschätzungen, die man
bisher vorgenommen hat, aufgrund der seismischen Ereignisse revidiert werden? Wie akut ist die Gefahr eines
Anstiegs der Salzlösungszuflüsse? Muss man sich überlegen, ob man noch schneller handeln sollte? Was könnte
die Antwort sein? Gibt es Möglichkeiten, um die Standfestigkeit des Grubengebäudes zu verbessern? Was prüft
das Bundesumweltministerium in diesem Zusammenhang? Auch das halte ich für entscheidend. Oder sind all
diese Ereignisse aus der Vergangenheit in Anbetracht der
neuen seismischen Erkenntnisse hinfällig? Es stellt sich
die Frage - Sie haben es angesprochen -, wie man mit
den angeblich bleiummantelten Behältern - ich habe in
einer anderen Pressemitteilung gelesen, dass es sich um
Zink oder Ähnliches handelt - umgeht. All diese Fragen
beweisen, dass es egal ist, wer aus jetziger oder früherer
Sicht landespolitisch verantwortlich ist. Diese Fragen
müssen deswegen geklärt werden, weil wir im anderen
Fall nichts anderes als Verunsicherung und Angst in der
Bevölkerung bewirken. Darum muss gerade die Klärung
unser eigentliches Ziel sein.
({2})
Diese Fragen müssen beantwortet werden. Bisher
wissen wir leider relativ wenig. Ich glaube, dass wir in
der Pflicht stehen, diese Maßnahmen möglichst schnell
zu ergreifen. Ich glaube auch, dass wir mit diesem Gesetzentwurf einen Schritt nach vorne gehen können. Wir
als FDP stehen dieser Sache grundsätzlich sehr positiv
gegenüber.
Im Übrigen stehen wir einem weiteren Aspekt positiv
gegenüber: Es geht um den § 12 b, der vorsieht, dass
Personen, die in kerntechnischen Anlagen tätig sind,
überprüft werden, damit deren Zuverlässigkeit nicht anHorst Meierhofer
gezweifelt werden kann. Denn es ist klar, dass auch in
diesem Zusammenhang absolute Integrität geboten ist.
Wenn uns das gelingt, sind wir auf dem richtigen Weg.
Ich freue mich auf vernünftige Beratungen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gab heute im Umweltausschuss eine Diskussion
über die Frage, ob wir zu diesem Thema noch einmal
eine Anhörung durchführen sollten.
({0})
Die Koalition hat diesen Vorschlag gemeinsam mit der
FDP abgelehnt. Ich möchte coram publico begründen,
warum wir das getan haben: Wir haben schon zwei Anhörungen zum Thema Asse hinter uns. Außerdem sind
wir der festen Überzeugung, dass es sich hierbei nicht
um eine Diskussion darüber handelt, wie wir mit den
Problemen, die im Zusammenhang mit der Asse zweifellos vorhanden sind, technisch umgehen, sondern dass es
sich hierbei um eine formale Gesetzesänderung handelt.
Diese formale Gesetzesänderung hat zwei Zielrichtungen. Zum einen muss der personelle Sabotageschutz
geregelt werden, also die Überprüfung von Personen, die
zum Beispiel in Kernkraftwerken mit radioaktiven Stoffen zu tun haben. Es geht um die Frage: Wie kann man
die Überprüfung dieser Personen gewährleisten? Das ist
eine formale Angelegenheit, die in Reaktion auf die Terroranschläge notwendig geworden ist.
Zum anderen geht es um die Frage: Ist Bergrecht oder
Atomrecht anzuwenden? Auch dies ist im Zusammenhang mit der Asse eine formale Angelegenheit. Bisher
bestand Einigkeit, dass die Asse nach Bergrecht behandelt wird, wobei übrigens auch das Bergrecht - das füge
ich vorsichtshalber hinzu - nicht frei von atomrechtlichen Erwägungen ist. Das war auch die Einschätzung
des ehemaligen Bundesumweltministers Jürgen Trittin,
und so ist auch er damals mit diesem Thema umgegangen.
Wir haben dem Vorschlag, zu diesem Thema noch
eine Anhörung durchzuführen, auch deshalb nicht zugestimmt, weil wir allenthalben erleben, dass interessierte
Kreise versuchen, die Diskussionen über solche Gesetzesänderungen als Kampagne gegen die Kernenergie zu
instrumentalisieren. Das ist an dieser Stelle nicht geboten.
({1})
Es gibt in dieser Debatte durchaus die Chance, das
eine oder andere klarzustellen. Es hat uns sehr gefreut,
dass Sie, Herr Bundesumweltminister, diese Chance genutzt haben. An dieser Stelle nehme ich insbesondere
auf den Artikel, der in der letzten Woche auf Spiegel
Online erschienen ist, Bezug. Darin hieß es, die Asse
drohe einzustürzen und der notwendige Informationsfluss finde nicht statt. Das haben Sie in diversen Pressemeldungen richtiggestellt. Auch heute haben Sie zu diesem Thema wichtige Ausführungen gemacht. Der Union
ist daran gelegen, die Menschen über diese Problematik
so detailliert und so offen wie möglich zu informieren,
aber auch mögliche Lösungsansätze zu entwickeln.
({2})
Wie alle Kollegen, die mit diesem Thema befasst
sind, erhalte auch ich viele Briefe, in denen Forderungen
erhoben werden, was noch in dieses Gesetz aufzunehmen ist, weil es angeblich noch nicht berücksichtigt sei.
Eine dieser Forderungen lautet, die Option der Rückholbarkeit radioaktiver Abfälle aus der Asse im Gesetzestext ausdrücklich zu erwähnen. Auch dazu hat der Bundesumweltminister alles Wichtige gesagt und deutlich
gemacht, dass diese Option nicht ausgeschlossen ist.
({3})
- Weil bei den Grünen schon wieder Unruhe aufkommt,
sage ich ganz deutlich: Diese Option ist politisch und juristisch nicht ausgeschlossen. Ob sie technisch möglich
ist, das kann, wie ich glaube, niemand von uns hier im
Saal beurteilen. Hierzu fand übrigens schon mancher
Schriftwechsel statt. So hat zum Beispiel Staatssekretär
Machnig der Kollegin Pothmer von den Grünen bereits
versichert, dass die Rückholung als Option berücksichtigt ist. An dieser Stelle erübrigen sich also Ihre Fragen.
Ich denke, dass der Gesetzestext in der vorliegenden
Form das auch hergibt. Man kann das, wenn man gutwillig ist, aus dem Gesetzestext herauslesen, und zwar konkret aus § 9 b Abs. 4 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 des
Atomgesetzes. Ich wiederhole: wenn man gutwillig ist.
({4})
Eine andere Forderung, die häufig erhoben wird, lautet, die Annahme radioaktiver Abfälle und ihre Einlagerung in die Schachtanlage Asse II nicht nur bis zum Erlass des Planfeststellungsbeschlusses zur Stilllegung der
Schachtanlage Asse, sondern generell für unzulässig zu
erklären. Was soll das, wenn man den Schacht im Anschluss stilllegen will? Natürlich wird man in diesem
Fall keine Einlagerungen vornehmen. Ich gehe davon
aus, dass ein entsprechendes Verbot der Landesregierung
von Niedersachsen greift. Insofern glaube ich, dass man
sich darüber keine Sorgen machen muss.
Anders ist das, sollten einige versuchen, dieses
Thema dazu zu nutzen, die Diskussion über die Nutzung
der Kernenergie anzufachen. Unter dem Eindruck des
Gasstreites bekommt das Ganze nämlich eine andere
Akzentuierung. Wir marschieren momentan energiepolitisch in die Richtung, dass wir die Nutzung von Gas ausbauen, zum einen wegen des Emissionshandels, zum anderen weil wir einen Ausgleich dafür brauchen, dass der
Anteil der Windenergie steigt. Wir alle sind für die Förderung der erneuerbaren Energien; aber Windenergie
steht nun einmal nicht permanent zur Verfügung. Wir
werden deshalb den Ausbau der Nutzung von Gas fördern. Auch im Bereich KWK, den wir ebenfalls ausbauen, wird ein großer Teil der Anlagen mit Gas betrieben.
({5})
Die entscheidende Frage ist, wie wir die Versorgungssicherheit in diesem Land gewährleisten. Diese Frage
wird sich uns immer wieder stellen, wenn wir bis 2020
- darauf haben wir uns im Rahmen der Novellierung des
EEGs geeinigt - den Anteil der erneuerbaren Energien
auf 30 Prozent ausbauen: Wie sollen wir die übrigen
70 Prozent der Versorgung sicherstellen, und wie sollen
wir diese Energie umweltfreundlich erzeugen?
({6})
Diese Frage kann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch
unter Klimaschutz- und Umweltgesichtspunkten derzeit
nur die Union richtig beantworten. Natürlich ist das Interesse einiger groß, einen Aufhänger zu suchen, und sei er
noch so klein, gegen die Nutzung der Kernenergie in
Deutschland zu polemisieren. Doch was bringt es, wenn
wir für teures Geld Gas aus Russland beziehen und die
Russen statt auf ihr Gas auf Kohlekraftwerke und Kernkraftwerke setzen? Das ist eine Energiepolitik, die nicht
nur ökonomisch keinen Sinn macht. Anstatt Angriffsflächen zu suchen, Frau Kotting-Uhl - wir werden es ja sehen bei den folgenden Rednern -,
({7})
sollten wir ergebnisoffen darüber nachdenken, wie wir
dieser Republik einen Dienst tun, wie wir sie sinnvoll
mit Energie versorgen können. Wir wollen das. Deswegen werden wir diese Thematik immer wieder ansprechen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Lutz
Heilmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Asse bröselt, eine Hiobsbotschaft jagt die andere.
Kollege Meierhofer, für mich ist das sehr wohl ein Politikum. Was sonst ist es, wenn wir in diesem Hause über
einen Gesetzentwurf sprechen, mit dem die Missstände,
die in dieser wohlgemerkt staatlichen Einrichtung bestehen, neu geregelt werden sollen?
({0})
Genauso ist es ein Politikum, dass sich die Große Koalition immer noch nicht auf ein Umweltgesetzbuch einigen konnte. Das ist einfach ein Skandal.
({1})
Ich weiß, dass selbst Umweltverbände und die Grünen die vorliegende Novelle zum Atomgesetz im Grundsatz begrüßen. Schließlich wird die Asse II damit unter
das Dach des BfS gestellt und fällt endlich unter das
Atomgesetz. Doch ist das wirklich so? Schaffen Sie
nicht vielmehr eine Lex Asse, mit der Sie das Unheil irgendwie verwalten wollen? Setzen Sie damit die
Schutzaufgabe des Atomgesetzes nicht gar außer Kraft?
({2})
Schauen wir uns doch den fraglichen Paragrafen § 57 an.
Zuerst gab es § 57 a, in dem das Morsleben-Desaster
geregelt wurde. Fragwürdiges DDR-Recht wurde übernommen, um preiswert bundesdeutschen Atommüll loszuwerden. In einem § 57 b wollen Sie nun Asse II regeln. Weil Sie nicht wissen, was aus den Abfällen wird,
wie lange die Decken halten und wann die Grube abgesoffen sein wird,
({3})
wollen Sie die Asse II, außer im Falle der Stilllegung,
von einem Planfeststellungsverfahren, wie es nach § 9 b
des Atomgesetzes erforderlich wäre, freistellen. Sie tun
dies nicht ohne Grund; denn ein richtiges Planfeststellungsverfahren würde die Asse niemals überstehen. Mit
dem Schrottbergwerk werden die Anforderungen an ein
Endlager schließlich nicht im Entferntesten erfüllt. Ein
Langzeitsicherheitsnachweis würde nie erbracht werden
können.
({4})
Es wäre schnell klar, dass der Atommüll wieder heraus
muss.
Vor diesem Hintergrund befürchten gerade die Bürgerinitiativen, dass Sie hier jetzt schnell Fakten schaffen
wollen, indem etwa die Abfälle durch eine eigentlich
nicht notwendige Notverfüllung de facto von einer
Rückholbarkeit ausgeschlossen werden. Herr Minister,
ich möchte Ihnen ganz einfach ausdrücklich widersprechen. Sie sagen, dass sich die Rückholbarkeit ergibt. Warum schreiben Sie das dann nicht ganz einfach in den
Gesetzentwurf? Das wäre doch die sicherste Variante.
({5})
Insgesamt stellen Sie mit dem Gesetzentwurf die Logik
auf den Kopf. Anstatt die vorhandenen Atomanlagen daraufhin zu prüfen, ob sie den Regeln des Atomgesetzes
entsprechen, biegen Sie sich den Gesetzentwurf ganz im
Berlusconi’schen Sinne so zurecht, wie Sie ihn brauchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf - damit weiche ich prinzipiell von
der Meinung des Ministers ab - wird keine Rechtssicherheit geschaffen. Im Gegenteil: Die Bürgerinnen
und Bürger werden dadurch schlechter gestellt. Schließlich fällt durch den Wegfall des Planfeststellungsverfahrens auch die Pflicht der Betreiber unter den Tisch,
nachweisen zu müssen, wie sicher ihr Atommülllager
letztendlich ist. Wird das Gesetz beschlossen, dann kehrt
sich die Beweislast um. Dann müssen die Bürgerinnen
und Bürger nachweisen, dass von der Asse eine Gefahr
ausgeht. Ich sage Ihnen: Diese Beweislastumkehr ist unverantwortlich.
Die Verrenkungen, die Sie mit Ihren Notstandsgesetzen machen, haben übrigens auch ein Gutes.
({6})
Der Bevölkerung wird immer deutlicher, dass die
Atomtechnik ein Tanz auf dem Vulkan ist.
({7})
Kollege Nüßlein, wären Sie einmal nach Gorleben gekommen,
({8})
dann hätten Sie gesehen, wie die öffentliche Meinung
ist, wie die Bevölkerung darüber denkt.
({9})
Nur eines hilft, nämlich der schnellstmögliche Ausstieg aus der Atomwirtschaft. Ich muss klipp und klar sagen: Der rot-grüne Atomkonsens ist keine Gewähr dafür.
Er ist nicht mehr und nicht weniger als eine Bestandsgarantie für die Schrottmeiler von Brunsbüttel bis Krümmel. Die Hinterlassenschaften vergraben und verbuddeln das ist Ihr Motto. Das, was dabei herauskommt, erleben
wir gerade bei der Asse II.
({10})
Es ist ein Skandal, dass CDU und CSU angesichts dieser
Tatsache weiter für Atomkraft werben. Kollegin Dött,
ich habe hier manche schöne Rede von Ihnen zum
Thema Nachhaltigkeit gehört. Dieser Gesetzentwurf hat
damit gar nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun.
Kollege Heilmann, achten Sie bitte auf die Zeit.
Die Mehrheit der Bevölkerung durchschaut Ihre Politik. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie damit nicht
durchkommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister! Ich werde mich in den üblichen kurzen vier
Minuten auf die Änderungen des Atomgesetzes beschränken, die die Asse betreffen, und mich zur Datenproblematik dann im Umweltausschuss äußern.
Die Bundesregierung hat uns eine AtG-Novelle vorgelegt, deren Zielsetzung wir von den Grünen teilen. Wir
fordern seit zwei Jahren, die Asse unter das Atomrecht
zu stellen. Dafür ist dann auch das entsprechende Regelwerk erforderlich.
Der Gesetzentwurf kommt aber, gemessen an der Brisanz des Tatbestands, schon etwas schlampig daher. Es
ist doch nicht verwunderlich, Herr Minister, dass die Anwohner der Asse, die in den vergangenen Jahren so oft
beschwichtigt - um nicht zu sagen: belogen - wurden,
ein gut begründetes Misstrauen gegenüber allen Behörden entwickelt haben, die mit der Asse befasst sind, und
sich von Formulierungen wie „ist unverzüglich stillzulegen“ oder „für den Weiterbetrieb bedarf es keiner Planfeststellung“ verunsichert fühlen.
({0})
Bei normalen Verhältnissen wäre eine solche Formulierung kein Problem; deswegen unterstelle ich auch nichts.
An der Asse ist aber nun einmal nichts mehr normal. Das
ist doch ein Skandal; das wissen wir alle. Dieser Skandal
setzt sich aus Unbedarftheit, Verantwortungslosigkeit,
Nicht- und Desinformation, Vertuschung und Verleugnung, eventuell bis hin zu krimineller Energie zusammen. Für seine Behandlung ist nur noch Dreierlei zulässig: absolute Korrektheit, Transparenz und Vermeidung
jeglicher Zweideutigkeit.
({1})
Sie wussten genauso wie ich und viele andere, dass
die Abwicklung der Asse kein Spaßjob wird, weswegen
sich auch niemand darum gerissen hat. Der Job ist jetzt
in den richtigen Händen; aber er muss jetzt auch so erledigt werden, dass die Betroffenen vor Ort endlich wieder
Vertrauen fassen können.
({2})
Deshalb müssen missverständliche Formulierungen bereinigt werden. Es muss klargemacht werden, dass
„Stilllegung“ den Optionenvergleich umfasst. Es reicht
nicht, Herr Nüßlein, dass man mit gutem Willen herauslesen könne, dass es so gemeint sei; es ist nicht Aufgabe
eines Gesetzes, Gutwilligkeit vorauszusetzen. Es muss
klar sein, dass die Akzeptanz oder das Eingeständnis,
dass wir es hier mit einem Endlager ohne durchgeführtes
Planfeststellungsverfahren zu tun haben, keinen Präzedenzfall schafft. Schließlich müssen die Berichtspflicht
gegenüber dem Parlament, die Finanzierung und die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe „Optionenvergleich“
festgeschrieben werden.
Die Hiobsbotschaften aus der Asse reißen nicht ab:
im Sommer letzten Jahres die kontaminierten Laugen,
vor wenigen Tagen die einsturzgefährdete Kammer 4
und die Nässe bei Kammer 9 und gestern die Nachricht
von zehn bleiummantelten Fässern in Kammer 4, was
durchaus zu Sorge hinsichtlich des Inhalts dieser Fässer
veranlassen kann. Der heutige Versuch einer Entwarnung durch das Niedersächsische Umweltministerium
kann da nicht wirklich beruhigen, da sie auf Angaben
der damaligen Absender basiert, die nie kontrolliert wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie eindringlich, unseren Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu unterschreiben.
({3})
Wollen wir weiterhin monatlich oder wöchentlich über
die Presse erfahren, was gerade wieder mehr oder weniger zufällig an weiterer Brisanz in der Asse entdeckt
wird, oder wollen wir das Heft des Handelns endlich
selbst in die Hand nehmen und entscheiden, dass wir alles wissen wollen: warum was wann getan oder unterlassen wurde und was tatsächlich in die Asse eingelagert
wurde?
Befürchtungen, dass bei einem Untersuchungsausschuss Funktionsträgerinnen und Funktionsträger der
eigenen Partei in den Fokus geraten, sollten wir alle hintanstellen. Ich sage Ihnen: Ja, auch der Bundesumweltminister von 1998 bis 2005, der ein Grüner war, wird
scharf angeschaut werden. So what! Geht es uns um
Schutzzäune für unsere Parteimitglieder oder darum, einen Umgang mit der Asse zu entwickeln, der die Menschen vor Ort endlich wieder Vertrauen in die damit befassten Institutionen fassen lässt?
Herr Nüßlein, wir haben im Umweltausschuss keine
Anhörung zur Asse durchgeführt, sondern wir haben
eine gemeinsame Sitzung mit dem Forschungsausschuss
gehabt, in der Vertreter der Helmholtz-Gemeinschaft
kein Rederecht gehabt haben.
({4})
Das hat mit einer Anhörung nichts zu tun gehabt. Deswegen war unsere Forderung völlig richtig.
Lassen Sie uns jetzt Klarheit und Eindeutigkeit in die
Lex Asse des Atomgesetzes bringen, und fordern Sie mit
uns gemeinsam den Untersuchungsausschuss! Die Menschen vor Ort werden es Ihnen danken.
({5})
Das Wort hat der Kollege Christoph Pries für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die
10. Novelle zum Atomgesetz. Die Bedeutung der heutigen Debatte ergibt sich aus dem zweiten Teil des Gesetzes, dem Betreiberwechsel für die Schachtanlage
Asse II. Das Thema Asse brennt den Menschen im
Landkreis Wolfenbüttel unter den Nägeln. Vertreter der
Asse-Begleitgruppe sind heute extra nach Berlin gekommen, um unsere Debatte zu verfolgen. Im Namen der
SPD-Bundestagsfraktion begrüße ich sie ganz herzlich
im Deutschen Bundestag.
({0})
Mit der vorliegenden Novelle zum Atomgesetz zieht
die Bundesregierung einen Schlussstrich unter eine
30 Jahre währende Hängepartie. Am 31. Dezember 1978
endete die Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das
sogenannte Versuchsendlager Asse II. Insgesamt wurden
46 930 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Abfall im ehemaligen Salzbergwerk bei Remlingen eingelagert. Damals verkündeten alle Experten, das Grubengebäude sei trocken und standsicher. Die Schachtanlage
wurde sogar als Pilotprojekt für Gorleben gehandelt.
({1})
30 Jahre später haben sich alle wissenschaftlichen Voraussagen als falsch erwiesen.
({2})
Seit 1988 fließen täglich 12 000 Liter Salzlauge in die
Schachtanlage. Die Standsicherheit des Grubengebäudes
ist gefährdet. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat erst
am letzten Freitag beantragt, den Verschluss einer Einlagerungskammer wegen Einsturzgefahr zu verstärken.
Seit 2005 existiert ein radioaktiv kontaminierter Laugensumpf vor Einlagerungskammer 12.
Die Schachtanlage Asse ist ein Menetekel für die Unsicherheiten und Gefahren, die mit der Endlagerung radioaktiver Abfälle verbunden sind.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel im vorliegenden
Gesetzentwurf für die Asse klare Verhältnisse schafft:
Erstens. Seit 1. Januar 2009 ist das Bundesamt für
Strahlenschutz Betreiberin der Schachtanlage Asse. Die
Verantwortung in der Bundesregierung wechselt vom
Forschungs- auf das Umweltministerium. Damit wird
die politische Verantwortung dorthin übertragen, wo sich
auch die fachliche Kompetenz befindet.
Zweitens. Die Schachtanlage Asse wird in Zukunft
wie ein Endlager behandelt.
Drittens. Für die Stilllegung wird ein Planfeststellungsverfahren nach Atomrecht durchgeführt.
Um Gefahren für Menschen und Umwelt abzuwehren, wollen wir die Schachtanlage Asse II schnellstmöglich stilllegen. Bei der Schachtanlage Asse II gilt für die
SPD-Bundestagsfraktion derselbe Grundsatz, den wir in
der Endlagerfrage insgesamt vertreten: Sorgfalt und
Langzeitsicherheit gehen vor Schnelligkeit.
({4})
Das bedeutet: Im Rahmen des atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens wird der geplante ergebnisoffene
Optionenvergleich durchgeführt. Dieser umfasst auch
die Möglichkeit einer teilweisen oder vollständigen
Rückholung der eingelagerten Abfälle. - Es trifft nicht
zu, dass im Gesetzentwurf etwas Gegenteiliges festgeschrieben wird, wie Sie glauben machen wollten, Herr
Heilmann. - Es sind alle notwendigen Sicherungs- und
Stabilisierungsmaßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung eines ordnungsgemäßen atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens zu gewährleisten. Die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit wird zu jedem
Zeitpunkt der Entwicklung und Realisierung des Stilllegungskonzeptes gewährleistet. - Diese Ziele werden
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht.
Panikmache, wie sie derzeit vom Niedersächsischen
Umweltministerium betrieben wird,
({5})
hilft in dieser Situation überhaupt nicht. Sie vermittelt
eher den Eindruck einer politischen Retourkutsche, die
von eigenem Versagen ablenken soll.
({6})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger
Schritt in die richtige Richtung. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, das Problem Asse II im Interesse
von uns allen zu lösen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11609 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Grietje Staffelt, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Medienkompetenz Älterer stärken - Die digitale Kluft schließen
- Drucksache 16/11365 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, dass Sie auch mit diesem Vorschlag einverstan-
den sind. Es handelt sich um die Reden folgender Kolle-
ginnen und Kollegen: Philipp Mißfelder und Markus
Grübel für die Unionsfraktion, Angelika Graf und
Jürgen Kucharczyk für die SPD-Fraktion, Sibylle
Laurischk für die FDP-Fraktion, Dr. Lothar Bisky für die
Fraktion Die Linke und Britta Haßelmann für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vorschriften der
Zahlungsdiensterichtlinie ({1})
- Drucksachen 16/11613, 16/11640 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Albert
Rupprecht für die Unionsfraktion, Martin Gerster für die
SPD-Fraktion, Frank Schäffler für die FDP-Fraktion,
Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke und
Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Anlass für das Zahlungsdiensteumsetzungsgesetz ist
die Umsetzung der europäischen Zahlungsdiensterichtli-
nie in nationales Recht. Die Union begrüßt die grundsätz-
liche Idee hinter der Richtlinie und dem Gesetz: die
Schaffung eines modernen, einheitlichen Zahlungsver-
kehrsraums für unbare Zahlungen im europäischen
Binnenmarkt. Das ist die konsequente Ausweitung der
Wettbewerbsidee des Binnenmarktes auf den Zahlungs-
verkehr.
1) Anlage 23
Albert Rupprecht ({0})
Wir sind zuversichtlich, dass sich daraus positive Folgen für Verbraucher und Wirtschaft ergeben. Das Ziel ist,
dass die Nutzung von Zahlungsdiensten einfacher, sicherer und billiger wird. In welchem Umfang, wird sich in
der Praxis zeigen.
Den Binnenmarkt ausweiten und daraus Nutzen ziehen
ist die Grundidee des Vorhabens. Wir müssen Wert darauf
legen, dass dies auch erreicht wird. Das gilt für die Zahlungsdiensterichtlinie und für den Entwurf des Zahlungsdiensteumsetzungsgesetzes ({1}). Wir als deutscher Gesetzgeber müssen insbesondere den Gesetzentwurf darauf
prüfen: Was ist gut umgesetzt? Und was muss noch weiter
besprochen werden?
Wichtig ist: Das ZAG setzt nur einen Teil der Richtlinie
in deutsches Recht um. Es geht dabei um den aufsichtsrechtlichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie. Diese regelt das Verhältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und
Staat. Deshalb soll hier Hauptaugenmerk auf diesen Teil
gerichtet werden. Der zivilrechtliche Teil der EU-Richtlinie wird gesondert in einem anderen Gesetzgebungsverfahren umgesetzt. Dort wird es um das Verhältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden gehen.
Wie bringt uns die Zahlungsdiensterichtlinie dem Ziel
- mehr Wettbewerb - näher? Derzeit gibt es verschiedenste Dienstleister, die den Zahlungsverkehr in der EU
abwickeln. Wenn diese aber national fragmentiert agieren, herrscht wenig Wettbewerb. Deshalb ist es sinnvoll,
dass wir den Zahlungverkehrsraum einheitlich machen.
Die Richtlinie beinhaltet daher einige wesentlichen Elemente, um dies zu erreichen:
So gilt die Richtlinie für alle unbaren Zahlungsdienstleistungen innerhalb der EU. Erfasst werden Kreditinstitute ({2}) und Postscheckämter, im Internet sogenannte E-Geld-Institute, die Staaten selber und ihre
Zentralbanken. Für alle anderen, beispielsweise Kreditkartenunternehmen, wird die neue Kategorie des Zahlungsinstituts geschaffen. Die Richtlinie ermöglicht den
gleichen Marktzugang für alle zugelassenen Zahlungsdienstleister überall in der EU. Es gelten künftig klare
und gleiche Regeln für die Zulassung der Unternehmen in
der EU. Darüber hinaus werden eindeutige Zuständigkeiten und klare Kompetenzen für die mit der Aufsicht betrauten Behörden festgelegt. Und schlussendlich enthält
die Richtlinie weitgehende Regelungen zum Schutz der
Kunden und ihrer Gelder. Grundsätzlich sind diese Elemente der RL geeignet, den Zahlungsverkehrsraum zu
vereinheitlichen und Wettbewerb zu schaffen
Zentrale Elemente des deutschen ZAG sind entsprechend die Einführung der neuen Kategorie Zahlungsinstitute in Deutschland, die Einführung von Regeln für
die Aufsicht über diese Institute und die Einführung von
Regeln zum Schutz der Kundengelder.
Welche Punkte des Vorhabens sind besonders hervorzuheben? Zum einen werden nun alle Anbieter von Zahlungsdienstleistungen erfasst. Das ermöglicht gleichen
Marktzugang für alle, verstärkt den Wettbewerb und erhöht die Auswahl für die Verbraucher. Außerdem ermöglicht das einen hohen Verbraucherschutz bei allen Instituten gleichermaßen. Dazu gehört insbesondere die
insolvenzrechtliche Absicherung bei Zahlungsinstituten.
Denn bei diesen gibt es keine Einlagensicherung wie bei
Banken. Kundengelder werden dort strikt von anderen
Geldern getrennt. Dies gilt in Deutschland auch unterhalb von Summen von 600 Euro. Deutschland hat hier ein
Wahlrecht der EU-Richtlinie zugunsten der Kunden ausgelegt. Klare Befugnisse für die Aufsichtsbehörden in diesem Bereich sind ein weiterer Fortschritt durch das Gesetz.
Aber es bestehen auch noch offene Fragen, die diskutiert werden müssen. Das ZAG muss an das Jahressteuergesetz 2009 angepasst werden. Zusammen mit der Einführung des Bankenprivilegs bei der Gewerbesteuer für
Factoringunternehmen wurden diese auch einer Aufsicht
nach dem KWG unterstellt. Dies war zum Zeitpunkt des
Regierungsentwurfs des ZAG jedoch noch nicht bekannt.
Allerdings erbringen einige Zahlungsinstitute auch
Factoringleistungen. Deshalb ist zu klären, ob hier unnötige Doppelaufsicht vorliegt.
Die Frage nach einer unnötigen Doppelaufsicht stellt
sich auch an anderen Stellen, zum Beispiel bei Kreditinstituten, die keine Einlageinstitute sind. Dem sollten wir
nachgehen. Gibt es darüber hinaus Bereiche, in denen
das ZAG über die zugrunde liegende Richtlinie hinausgeht? Auch dies muss noch im Detail untersucht werden.
Wem gegenüber muss beispielsweise ein Zahlungsdienstleister seine Fähigkeit zur Teilnahme an einem Zahlungsdienstesystem darlegen? Nur gegenüber dem Systembetreiber oder auch gegenüber jedem anderen Teilnehmer?
Ist sichergestellt, dass reine Interbankenzahlungen nicht
vom Gesetz erfasst werden?
Es wird auch noch zu hinterfragen sein, ob die neuen
Zahlungsinstitute auf einigen Gebieten ungerechtfertigte
Vorteile genießen, zum Beispiel im Bereich der Kreditgewährung. Der Bundesrat hat darüber hinaus bereits Bedarf zur Klarstellung angemeldet, dass Zahlungen innerhalb von Konzernen oder Verbundgruppen nicht von ZAG
und Richtlinie betroffen sein sollen. Die Bundesregierung
scheint dies auch aufzunehmen. Die Prüfung ist auf jeden
Fall notwendig.
Ein weiterer Punkt ist noch anzusprechen: die SEPALastschrift. Sie ist zwar nicht Bestandteil des ZAG, aber
Teil der EU-Richtlinie und wird in Deutschland im zivilrechtlichen Teil umgesetzt. Die SEPA-Lastschrift ist jedoch ein wichtiges Thema für Banken, Verbraucher und
Unternehmen. Deswegen sollte es hier kurz erwähnt werden. Bei deren Umsetzung stehen wir in Deutschland vor
der Frage, wie es mit unserem gut funktionierenden und
kostengünstigen Lastschriftverfahren weitergehen soll.
Soll sich die SEPA-Lastschrift im Wettbewerb der Systeme
im Markt beweisen? Oder soll der Gesetzgeber bei der
Einführung nachhelfen? Ich denke, wir sollten mit dem
Thema sensibel umgehen und auch die Umsetzung des zivilrechtlichen Teils der Richtlinie genau prüfen.
Die Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie ist in
Deutschland auf einem guten Weg. Wenn wir die letzten
Detailpunkte in den kommenden Wochen sinnvoll lösen
können, wird der europäische Binnenmarkt um ein gutes
Stück erweitert und verbessert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Sprichwort sagt: Vorsicht ist besser als Nachsicht.
In Anwendung auf die Rolle der Banken im Zuge der Finanzmarktkrise müsste es heißen: Eine gute Aufsicht ist
besser als eine gute Absicht.
Im Bereich der Bankenaufsicht wurden mit Basel II
wichtige Schritte gemacht, weitere müssen folgen, wenn
wir die Finanzmärkte weltweit wieder in den Griff bekommen wollen. Dabei müssen wir über den europäischen
Rahmen hinaus denken - zum Beispiel wenn es um die zukünftige Rolle des Internationalen Währungsfonds geht
oder die Weiterentwicklung des Financial Stability Forums.
Auch auf europäischer Ebene gibt es in Aufsichtsfragen genug zu tun. Darum befassen wir uns heute mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf, der sich mit der aufsichtsrechtlichen Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie befasst.
Worum geht es? Zunächst einmal um nicht mehr - aber
auch nicht weniger - als die Schaffung eines neuen, europaweit einheitlichen Zulassungs- und Aufsichtsrahmens für alle Finanzdienstleistungen, die bargeldlosen
Geldtransfer beinhalten. Regelungsbedarf besteht vor allem im Bereich der so genannten Zahlungsinstitute, die
- anders als Kreditinstitute - keine Einlagen annehmen
und - anders als E-Geld-Institute - kein elektronisches
Geld ausgeben dürfen. Gerade hier soll die Umsetzung
der Richtlinie dazu beitragen, Markteintrittsbarrieren
abzubauen und gleiche Wettbewerbsbedingungen im
europäischen Binnenmarkt zu schaffen.
Es geht aber auch um Sicherheit aller Kunden, die auf
diese Dienste zurückgreifen. Anders als bei Kreditinstituten sind die von Zahlungsdiensten verwalteten Gelder
nämlich nicht durch eine Einlagensicherung geschützt.
Bei Geschäften mit Kreditkarten können sich Geldbeträge jedoch bis zu mehreren Wochen im Besitz der Kreditkarteninstitute befinden. Geht der Zahlungsdienstleister in die Insolvenz, wartet der Kunde möglicherweise
vergeblich auf sein Geld. Auch in diesem Bereich gilt es
deshalb, entsprechende Risiken rechtzeitig zu minimieren. Hier setzt der vorliegende Gesetzentwurf an. Mit ihm
werden Zahlungsinstitute, ähnlich wie Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute, bestimmten solvenzrechtlichen Vorschriften und aufsichtsrechtlichen Pflichten unterworfen. Diese sollen zukünftig der Kontrolle durch die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({0})
unterliegen. Um in Deutschland zugelassen zu werden,
müssen die Zahlungsinstitute angemessene Eigenmittel
vorhalten und besondere Sicherungsanforderungen für
den Fall einer Insolvenz erfüllen.
Wir können es jeden Tag in der Zeitung lesen: Vertrauen und Sicherheit sind im Umgang mit dem hochsensiblen Thema Finanzen derzeit Mangelware. Deshalb ist
mir umso wichtiger, dass der Gesetzentwurf ganz im
Sinne eines konsequenten Gläubigerschutzes steht: Er
garantiert, dass Gelder, die von Zahlungsinstituten zur
Weiterleitung entgegengenommen wurden, in vollem Umfang und unabhängig von ihrer Höhe abgesichert sein
müssen. Das ist ein notwendiger Fortschritt, dem wir uns
nicht verweigern dürfen. Je früher wir zu einer solchen
Regelung kommen, desto besser. Dies umso mehr, da die
Umsetzung der Zahlungsdienstleistungsrichtlinie einen
wichtigen Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung der
SEPA darstellt. Durch diesen einheitlichen europäischen
Raum für Zahlungsverkehr werden Überweisungen, Lastschriften und Kartenzahlungen innerhalb der Europäischen Union einfacher, sicherer und effizienter. Auch dies
kann nur in unser aller Interesse sein.
Bei aller Freude über den vorliegenden Entwurf aus
dem Haus von Peer Steinbrück habe ich mich über die
Stellungsnahme des Bundesrates zu diesem Gesetzesvorhaben doch sehr gewundert: Dort findet sich der Vorschlag, im Zuge der Richtlinienumsetzung auch das
Informationsfreiheitsgesetz zu ändern, um die Auskunftspflichten der BaFin einzuschränken, angeblich, um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu schützen. Zur Erinnerung: Dieses Gesetz haben seinerzeit wir unter
Gerhard Schröder 2005 auf den Weg gebracht. Es spricht
jedem Bürger grundsätzlich Anspruch auf Informationen
aus der öffentlichen Verwaltung zu. Und dies gilt ausdrücklich auch für Auskünfte aus dem Bereich Finanz-,
Wertpapier- und Versicherungsaufsicht. Schon heute
stellt das Gesetz jedoch sicher, dass Informationen nicht
erteilt werden müssen, wenn diese nachteilige Auswirkungen auf die Kontrollaufgabe der Behörde haben können. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind umfassend
geschützt. Für mich steht glasklar fest: Die Bürgerinnen
und Bürger haben ein Recht auf Einblick in das Handeln
der staatlichen Verwaltung. Ich sehe deshalb keinen
Grund, warum wir ausgerechnet hier die Uhr zurückdrehen sollten.
Dass entsprechende Vorschläge gerade jetzt und gerade aus Bayern kommen, lässt mich aufhorchen.
Schließlich regiert doch hier seit kurzem die Bürgerrechtspartei FDP mit. Ich zitiere den Kollegen Max
Stadler, der sich in seiner Rede vom 3. Juni 2005 folgendermaßen zum Informationsfreiheitsgesetz äußerte:
Sie gehen einen Schritt in die richtige Richtung.
Was Sie machen, ist aber nicht liberal und bürgerfreundlich genug. Wir wollen den Gesetzentwurf
nicht ablehnen, weil das Grundanliegen von uns
geteilt wird; aber wir können auch nicht zustimmen,
weil es wirklich nur eine Minimalregelung ist.
Damals wünschte sich der Kollege aus Passau für
seine Fraktion „ein großzügigeres und bürgerfreundlicheres Gesetz“. Offenbar ist die liberale Großzügigkeit in
Bayern mittlerweile versiegt.
Der vorliegende Gesetzentwurf unterstellt die neue
Kategorie der Zahlungsinstitute dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz ({0}) und setzt damit den aufsichtsrechtlichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie um. Ziel der
Zahlungsdiensterichtlinie ist die Schaffung des Einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums SEPA ({1}).
Dieses Projekt ist politisch gewollt und bürdet der Kreditwirtschaft enorme Kosten und Umstellungsaufwand
auf. Die öffentliche Hand zeigt sich bisher zögerlich bei
Zu Protokoll gegebene Reden
der Nutzung der SEPA-Produkte. Die Bundesregierung
hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDPFraktion ausgeführt, es sei nun im Rahmen eines marktgetriebenen Prozesses Aufgabe der Kreditwirtschaft, die
Endnutzer von den Vorteilen von SEPA zu überzeugen.
Die öffentliche Verwaltung sei nicht anders als andere
Endnutzer einzustufen. Bezüglich der Nutzung durch die
öffentliche Hand ist jedoch festzuhalten, dass sie mit über
50 Prozent des Zahlungsverkehrs maßgeblich verantwortlich für einen Erfolg des Projekts Einheitlicher EuroZahlungsverkehrsraum ist. Sie ist kein gewöhnlicher Nutzer, sondern muss bei der Umstellung auf SEPA vorangehen. Dann hätten die Banken auch Nutzer, auf die sie
verweisen könnten, wenn sie andere Kunden von den Vorteilen von SEPA überzeugen wollen. Dass die Bundesregierung es mit SEPA wirklich ernst meint, kann sie nur
zeigen, wenn sie ihre eigene Blockadehaltung überdenkt.
Bei der Schaffung der gesetzlichen Rahmenbedingungen muss das Grundprinzip sein, SEPA möglichst unbürokratisch einzuführen. Der vorliegende Gesetzentwurf
wird diesem Anspruch noch nicht gerecht. Er verursacht
Bürokratiekosten für die Wirtschaft in Höhe von 1,5 Millionen Euro durch insgesamt 34 neue Informationspflichten. So sollen Nichteinlagenkreditinstitute, die Zahlungsdienste erbringen, nun doppelt beaufsichtigt werden.
Ihnen drohen damit doppelte Eigenmittelberechnungen
und doppelte Kosten für die Beaufsichtigung durch die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht.
Wir müssen im Laufe der Gesetzesberatungen insgesamt prüfen, wo der Anwendungsbereich des ZAG
konkretisiert werden muss. Darüber hinaus haben die
Sachverständigen bereits auf einige Detailfragen hingewiesen, die noch nicht gelöst sind.
Bisher gilt in Deutschland und den meisten europäischen Ländern: Der Zahlungsverkehr ist ein Bankgeschäft. Nun will die Bundesregierung auch Institute
ohne Bankerlaubnis zum Zahlungs- und Kreditgeschäft
zulassen. Kreditkartenunternehmen, Mobilfunkbetreiber
und Einzelhandelsunternehmen sollen in den Zahlungsverkehr einsteigen dürfen, ohne mit einer Bank zusammenzuarbeiten. Ob Geld überweisen, Kredite vergeben
oder Kreditkarten verkaufen: Alles soll möglich sein ohne
Bankerlaubnis, ohne Bankkonto, ohne Bankaufsicht.
Was heißt das für Verbraucherinnen und Verbraucher?
Um diese Frage zu beantworten, greife ich drei zentrale
Probleme auf: die Kosten, die „Finanzaufsicht light“ und
die Haftung.
Zu den Kosten: Verbraucherschutzorganisationen kritisieren zu Recht die überhöhten Gebühren, die Kreditkartenunternehmen von Not leidenden Kundinnen und
Kunden erheben. Statt Armen und Migrantinnen und Migranten ein Bankkonto zu garantieren, will die Bundesregierung sie in die Schattenwirtschaft abschieben. In
manchen Stadtvierteln Englands sind bereits 30 Prozent
der Bevölkerung mangels Bankkonto auf überteuerte
Finanzshops angewiesen.
Geißel der Überschuldung sind dabei Kreditkarten.
70 Prozent der Überschuldung in den USA gehen allein
darauf zurück. Davon unberührt öffnet das vorliegende
Gesetz Tor und Pforte für Wucherzinsen und Umschuldungskarussells in Deutschland und Europa. Einer verantwortlichen Kreditvergabe spricht die Regierung
Hohn, obwohl gerade das eine Lehre aus der Finanzkrise
sein sollte.
Damit bin ich beim Problem der „Finanzaufsicht
light“. Das Gesetz sieht für Finanzshops deutlich niedrigere Standards vor als für zugelassene Banken. Zum Beispiel müssen Finanzshops viel geringere Eigenmittel vorhalten. Und obwohl sie Geldbeträge annehmen, um
Überweisungen auszuführen - bei Kreditkarten kann das
mehrere Wochen dauern -, fallen sie nicht einmal in die
Einlagensicherung. Zwar dürfen Mobilfunkbetreiber und
Einzelhandelsunternehmen nur als Nebentätigkeit Kredite vergeben, doch die Auflage bleibt eine unbestimmte
Grauzone. Statt Finanzshops eine Kreditvergabe mit
zwölfmonatiger Laufzeit einzuräumen, fordern Verbraucherschützer eine Höchstgrenze von vier Monaten. Denn
nur eine wirklich kurze Frist kann den möglichen Einstieg
in die Verschuldungsspirale abwenden. Für Verbraucherinnen und Verbraucher, die auf Finanzshops angewiesen
sind, bedeutet das Gesetz höhere Kosten und höhere Risiken.
Umso frappierender ist - ich komme zur Haftung -,
Verbraucherinnen und Verbrauchern die Beweislast aufzubürden. Wer seine Karte nicht genutzt oder keinen Auftrag gegeben hat, steht bei Instituten ohne Bankerlaubnis
selbst in der Beweispflicht. Festlegen soll das ein weiteres
Gesetz. Das Stornierungsrecht - bei Banken derzeit bis
sechs Wochen nach Buchung garantiert - soll bei den
Finanzshops komplett entfallen.
Wohin man auch schaut: Das vorliegende Gesetz dient
nicht den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Es dient
denen, die ohne Bankerlaubnis auf Kundenfang gehen.
Die Regierung will die Schattenwirtschaft hoffähig
machen - und das auf Kosten der Allgemeinheit. Das
Gesetz ist rückwärtsgewandt, weil es wider besseres
Wissen dereguliert statt reguliert. Besonders dreist dabei: Die Bundesregierung preist es als modern an. Doch
lassen wir uns nicht für dumm verkaufen! Für meine
Fraktion kann ich in aller Klarheit sagen: Dieses Gesetz
lehnen wir ab. Es gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.
Nun haben wir die Richtlinie über Zahlungsdienste im
Binnenmarkt ({0})
nach langem Vorlauf in der parlamentarischen Beratung.
Sie soll als Teil der Lissabonstrategie dazu beitragen,
Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu
machen. Die Richtlinie ist auch Teil der Bestrebungen der
EU-Kommission - im Auftrag der EU-Mitgliedstaaten -,
den einheitlichen Binnenmarkt im Bereich der Finanzdienstleistungen weiter zu vervollständigen. Diesem Ziel
stimmen wir grundsätzlich zu, auch wenn wir Ungleichgewichte sehen. Diese beziehen sich auf die unterschiedliche Berücksichtigung der Interessen der FinanzwirtZu Protokoll gegebene Reden
schaft und der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Bezeichnend ist, dass bei der Erstellung des Entwurfs der
Richtlinie Verbraucherschutzverbände nicht involviert
waren. Das zeigt einmal mehr, dass Verbraucherschutz
auf EU-Ebene immer noch nur eine untergeordnete Rolle
spielt.
Der grenzüberschreitende Zahlungsverkehr ist tragende Säule des Binnenmarktes; wichtig ist er auch in der
täglichen Realität vieler Menschen, die grenzüberschreitend reisen oder zeitweise in einem anderen EU-Land leben. Für sie ist beispielsweise die Möglichkeit einer
grenzüberschreitenden Lastschrift ein echter Fortschritt.
Auch deshalb befürworten wir grundsätzlich eine Harmonisierung im Zahlungsverkehr.
Die Richtlinie wurde auch deshalb in Angriff genommen, um schlummernde Effizienzgewinne im Bankensektor zu realisieren. Sie werden von der EU-Kommission
auf rund 10 Milliarden Euro geschätzt. Uns ist wichtig,
dass diese Effizienzgewinne auch den Verbraucherinnen
und Verbrauchern zugutekommen. Wir werden im parlamentarischen Verfahren besonderen Wert darauf legen,
dass die Bürgerinnen und Bürger einen fairen Anteil an
diesen Gewinnen erhalten.
An einer besonders heiklen Stelle ist erkennbar, dass
die Bundesregierung bei ihrem nun vorliegenden Umsetzungsvorschlag den Spielraum der Richtlinie nicht zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher genutzt
hat. Es geht um die Haftungsfragen bei EC- oder Kreditkarten. Bisher war der Selbstbehalt auf 150 Euro unbesehen weiterer Umstände beschränkt. Wenn also jemand
nach dem Diebstahl seiner Zahlungskarte nicht in der
Lage war, diese sofort sperren zu lassen, war der Selbstbehalt auf 150 Euro gedeckelt. Das ist nun aufgehoben.
Der Verbraucher muss nachweisen, dass er nicht in der
Lage war, die Zahlungskarte sperren zu lassen. Das ist
unter Umständen nur schwer zu leisten, umständlich und
offenbart wenig Zutrauen in die Redlichkeit der Kundinnen und Kunden. Wir werden im weiteren parlamentarischen Verfahren darauf drängen, diese und andere
Vorschriften zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher zu ändern.
Zu diskutieren wird auch sein, wie die Umstellung auf
SEPA erfolgt. Erfolgt das rein marktgetrieben? Oder
sieht man das als rein politisches Projekt, wo die Politik
die Verantwortung hat, den Systemwechsel durch ihre eigenen Möglichkeiten aktiv voranzutreiben? Fest steht jedenfalls, dass man sich nicht nur mit der Ausgestaltung
des neuen Zustands des Zahlungsverkehrs und der Aufsicht beschäftigen kann, sondern in unseren Beratungen
auch die Umstellungsfrage und faktische Hindernisse bei
der Umstellung berücksichtigt werden müssen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/11613 und 16/11640 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 22. Januar 2009,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.